Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte eine Bemerkung. Dem Protokoll der Sitzung des vergangenen Donnerstag entnehme ich, daß im Zusammenhang mit der Rede des Abgeordneten Wehner Zwischenrufe erfolgt sind, die, hätte ich sie gleich gehört und den Zwischenrufer feststellen können, zu Ordnungsrufen hätten führen müssen. Im Interesse eines guten Verlaufs der Debatte bitte ich alle Mitglieder des Hauses sehr herzlich, unerträgliche Schärfen und persönliche Beleidigungen zu vermeiden, die die Würde des Hauses verletzen und, wie zahlreiche Briefe beweisen, auf Ablehnung in der Bevölkerung stoßen.
Meine Damen und Herren, eine weitere Mitteilung. Bei der zweiten Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern am 27. Februar 1975 hat der Berichterstatter mehrere Berichtigungen vorgetragen, u. a. in Art. VIII § 8 in der 5. Zeile des Absatzes 2 a — Drucksache 7/3213 — die Worte „als Gruppenleiter" zu streichen. Das Haus hat das Gesetz mit den Berichtigungen verabschiedet. Bei der Erstellung und Überprüfung der Gesetzesfassung für die Zuleitung an den Bundesrat ist festgestellt worden, daß die beschlossene Streichung nicht erforderlich war, da der Ausschußantrag — Drucksache 7/3213 — bereits die fehlerfreie Fassung enthielt.Der Herr Vorsitzende des Innenausschusses hat mir mit Schreiben vom 14. März 1975 diesen Sachverhalt bestätigt. Das Haus ist, wie ich annehme, damit einverstanden, daß ich eine entsprechende Berichtigung der Gesetzesfassung veranlasse. — Kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Für den Abgeordneten Dr. Eyrich, der auf sein Mandat als stellvertretendes Mitglied im Richterwahlausschuß verzichtet hat, rückt gemäß § 5 Abs. 3 des Richterwahlgesetzes der Abgeordnete Dr. Kempfler aus der Reihe der nicht mehr Gewählten als stellvertretendes Mitglied des Abg. Erhard im Richterwahlausschuß nach.Der Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft hat mit Schreiben vom 17. März 1975 im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Wirtschaft und demBundesminister für Arbeit und Sozialordnung die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Gölter, Pfeifer, Dr. Waigel, Dr. Probst, Frau Benedix, Dr. Fuchs, Dr. Schäuble, Dr. Hornhues, Dr. Wagner , Gerster (Mainz), Dr. Blüm, von Bokkelberg und der Fraktion der CDU/CSU betr. Feststellung grundlegender Mängel an der Arbeitsweise des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung durch den Bundesrechnungshof — Drucksache 7/2985 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/3383 verteilt.Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 12. März 1975 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Vorlagen keine Bedenken erhoben hat:Verordnung des Rates zur Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie der Berichtigungskoeffizienten, die auf diese Dienst- und Versorgungsbezüge angewandt werden— Drucksache 7/2951 —Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in den Niederlanden dienstlich verwendet werden— Drucksache 7/3098 —Verordnung Nr. 3096/74 des Rates vom 3. Dezember 1974 zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Anlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in Italien dienstlich verwendet werdenDer Bundesrat hat in seiner Sitzung am 14. März 1975 beschlossen, zu den nachfolgenden Gesetzen einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen:Gesetz zu dem Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub
Gesetz zur Änderung des Bundes-SeuchengesetzesDer Bundesrat hat in der gleichen Sitzung beschlossen, hinsichtlich des Gesetzes über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter von Presse und Rundfunk zu verlangen, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/3374 verteilt.Der Vorsitzende des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit hat mit Schreiben vom 12. März 1975 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgende, bereits verkündete Vorlage keine Bedenken erhoben hat:Richtlinie des Rates zur zweiten Änderung der Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für zur Ernährung bestimmte Kakao- und Schokoladeerzeugnisse— Drucksache 7/3041 —Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Punkt II der Tagesordnung auf:Wahl des Wehrbeauftragten des BundestagesIch muß leider noch einmal die Prozedur wiederholen. Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten vom 26. Juni 1957 in Verbindung mit § 116 a der Geschäftsordnung wählt der Bundestag den Wehrbeauftragten in geheimer Wahl mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Stimmberechtigt sind bei dieser Wahl alle Mitglieder des Hauses. Eine Aussprache findet nicht statt. Es können deshalb nur Wahlvorschläge gemacht werden.
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Präsident Frau RengerDie Fraktion der Sozialdemokratischen Partei hat mit Schreiben vom 14. März 1975 den Abgeordneten Karl Wilhelm Berkhan benannt.Werden aus dem Hause noch weitere Wahlvorschläge gemacht? — Das ist nicht der Fall. Damit liegt dem Hause nur ein Wahlvorschlag vor.Ich habe festgestellt, daß der Vorgeschlagene die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten erfüllt.Nach § 54 a unserer Geschäftsordnung werden die amtlichen Stimmzettel nach Aufruf Ihres Namens vor Betreten der Wahlzelle ausgegeben.Zur Wahl steht nur der vorgeschlagene Kandidat. Auf dem Stimmzettel ist entweder der Kreis mit „Ja" oder der Kreis mit „Nein" anzukreuzen. Wer sich der Stimme enthalten will, gebe den Stimmzettel unverändert ab. IDie Verwendung anderer als der hier ausgegebenen amtlichen Stimmzettel macht die Stimme unweigerlich ungültig. Das gleiche gilt, wenn ein Stimmzettel den Namen eines nicht vorgeschlagenen Kandidaten oder sonstige Zusätze enthält.Ich darf nochmals darauf hinweisen, daß Sie den Stimmzettel in der Wahlzelle in den Wahlumschlag legen müssen, und darum bitten, die Wahlumschläge nicht zuzukleben. Wer den Stimmzettel außerhalb der Wahlzelle kennzeichnet oder in den Wahlumschlag legt, muß zurückgewiesen werden. Er verliert allerdings nicht das Recht, seine Stimmabgabe vorschriftsmäßig zu wiederholen.Meine Damen und Herren, ich eröffne hiermit die Wahl und bitte, mit dem Namensaufruf zu beginnen. Wegen der gleich stattfindenden Kabinettsitzung bitte ich, zuerst die Namen derjenigen Mitglieder des Hauses aufzurufen, die daran teilnahmen.Meine Damen und Herren, ich frage, ob ein Mitglied des Hauses seinen Stimmzettel noch nicht abgegeben hat. — Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Wahl und bitte die Damen und Herren Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir werden in der Zwischenzeit mit der Beratung der Einzelpläne des Haushaltsgesetzes 1975 beginnen.Ich rufe Punkt V der Tagesordnung auf:Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1975
— Drucksachen 7/2440, 7/2525, 7/2830 —Anträge und Berichte des Haushaltsausschusses
Wir kommen zunächst zumEinzelplan 01Bundespräsident und Bundespräsidialamt — Drucksache 7/3141 —Berichterstatter: Abgeordneter SimonWünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort begehrt? Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.Wer dem Einzelplan 01 in zweiter Lesung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.Ich rufe auf:Einzelplan 02Deutscher Bundestag— Drucksache 7/3142 —Berichterstatter: Abgeordneter WohlrabeDas Wort hat als Berichterstatter der Herr Abgeordnete Wohlrabe.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Aussprache zum Bundeshaushalt 1975 beginnt wie auch in den vergangenen Etatdebatten mit dem Haushalt des Deutschen Bundestages. Ich möchte hierzu, auch im Namen der Mitberichterstatter, der Herren Kollegen Dr. Bußmann und Kirst, folgende Erklärung abgeben:Der Etat des Deutschen Bundestages, also der Einzelplan 02, umfaßt diejenigen Ausgaben, die der deutsche Steuerzahler für sein Parlament, für die Verwaltung und für die vielfachen Funktionen des Bundestages aufzubringen hat. In den letzten Wochen haben einige Presseveröffentlichungen den Eindruck zu erwecken versucht, daß wir uns scheuten, in der Öffentlichkeit über die Ausgaben unseres eigenen Hauses, des Deutschen Bundestages, zu sprechen. Es wurde uns unterstellt, daß wir uns unter dem Mantel der Verschwiegenheit von Ausschußberatungen und von Zusatzvereinbarungen stillschweigend und einvernehmlich selbst bedienten. Diese Behauptung ist falsch. Sie ist schon deshalb unrichtig, weil — wie auch in den Jahren zuvor — durch die Präsidentin des Deutschen Bundestages oder durch Kollegen des Hauses auch in diesem Jahr zu den Ausgaben unseres Parlaments öffentlich gesprochen und beschlossen wurde.Unhaltbar sind auch die Behauptungen über unvertretbar hohe Ausgabensteigerungen. So beläuft sich im Etatjahr 1975 der Betrag, den wir für den Deutschen Bundestag auszugeben haben, nunmehr auf 228 Millionen DM. Eine Zahl, die isoliert betrachtet sicherlich recht hoch ist; wenn man aber bedenkt, meine Damen und Herren, daß dahinter 518 Abgeordnete stehen, die die politische Arbeit für unser Land, für mehr als 60 Millionen Bürger zu leisten haben, und wenn man bedenkt, daß diese 228 Millionen DM bei über 60 Millionen Einwohnern nur knapp 4 DM pro Bürger für die Arbeit des Deutschen Bundestages ausmachen, so glaube ich sagen zu können, daß dies eine Summe ist, die für alle draußen im Land und auch für uns hier im Hause durchaus vertretbar ist, vertretbar auch dann, wenn man an die vielfach gestiegenen Anforderungen an
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Wohlrabedie Leistungsfähigkeit des Bundestages sowie auch die am Deutschen Bundestag nicht spurlos vorübergegangenen Kostensteigerungen denkt. Die Steigerungsrate des Gesamthaushalts beläuft sich bekanntlich auf gut 11 %; die Steigerungsrate des Etats des Deutschen Bundestages beträgt jedoch nur 4,81% gegenüber dem Vorjahresansatz.Damit kann — und ich bitte alle Verantwortlichen und Interessierten draußen im Lande herzlich, diese Zahlen zur Kenntnis zu nehmen — von einem echten Sparhaushalt des Deutschen Bundestages gesprochen werden. Dieses Ergebnis konnte nicht zuletzt dadurch erreicht werden, daß auch in den Ausschußberatungen mit klarer Konsequenz der Rotstift angesetzt und auf diese Weise auch noch einmal rund 1,6 Millionen DM gespart werden konnten.Lassen Sie mich zur Untermauerung dieser Feststellungen einiges über die Entwicklung der wichtigsten Ausgabepositionen kurz sagen.Bei den Leistungen für Abgeordnete bleiben die Kostenpauschale, die Tagegeldpauschale und die Reisekostenpauschale unverändert. Auch die Kosten, die den Abgeordneten für die Beschäftigung von Mitarbeitern entstehen — jährlich bis zu 27 600 DM —, wurden nicht erhöht. Um sicherzustellen, daß den Mitgliedern des Hauses auch in Zukunft qualifizierte Mitarbeiter zur Verfügung stehen, wurde jedoch von diesem Jahr an vorgesehen, daß der Grundbetrag und die besonderen Leistungen wie Weihnachtsgeld, Verheiratetenzuschlag, Arbeitgeberanteil zur Renten- und Arbeitslosenversicherung sich um den gleichen Prozentsatz erhöhen, um den die Vergütungen der Angestellten im Bundesdienst durch Tarifverträge durchschnittlich erhöht werden.Ähnlich sparsam wurde im Personalbereich vorgegangen — einem Sorgenkind aller öffentlichen Verwaltungen, wie wir wissen. Der Stellenplan des Einzelplans 02 für das Jahr 1975 weist 14 Stellen — Beamten- und Angestelltenstellen — weniger aus als 1974. Es handelt sich hierbei um 8 Beamten- und 6 Angestelltenstellen, darunter auch aus dem höheren Dienst.Wir alle wissen, wie schwierig die Frage einer schnellen und erfolgreichen ärztlichen Betreuung im Deutschen Bundestag zu regeln war. Uns schien es erforderlich, nicht nur für die 518 Mitglieder des Deutschen Bundestages, sondern vor allem auch für unsere Mitarbeiter eine bessere Regelung zu erreichen. Deshalb hat der Haushaltsausschuß erstmalig den bisher auf Honorarbasis beschäftigten Vertragsarzt durch eine eigene Planstelle im Etat verankert. Wir versprechen uns davon, insbesondere in Notfällen, eine wesentliche Verbesserung der ärztlichen Betreuung.Bei den sächlichen Verwaltungsausgaben wurden entsprechend dem Beschluß des Haushaltsausschusses auch beim Deutschen Bundestag Titel für Geschäftsbedarf, Bücher und Zeitschriften auf den Vorjahresansatz festgesetzt. Dies gilt auch für die Parlamentsdrucksachen, die Haltung von Dienstfahrzeugen, die Bewirtschaftung der Grundstücke, Gebäude und Räume in Bonn und in Berlin sowie fürReisekostenvergütungen bei Dienstreisen ins In- und Ausland.Der in der letzten Zeit in die öffentliche Diskussion gekommene Ansatz für Post- und Fernmeldegebühren ist trotz ständig steigender Gebührensätze nur um 100 000 DM erhöht worden, und zwar für Abgeordnete und Mitarbeiter. Dies zwingt uns alle zu großer und äußerster Sparsamkeit.Die Ansätze für die Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bundestages blieben im wesentlichen unverändert. Zum Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gehören nicht nur die Publikationen des Hauses, sondern vor allem auch die Besucherbetreuung hier im Bundestag und im Reichstagsgebäude in Berlin. Bereits vor knapp vier Jahren wurde im Reichstag die historische Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte" eröffnet. Die Ausstellung hat seit dieser Zeit ein großes Publikum aus dem In- und Ausland angesprochen. Aus Anlaß der 25-Jahr-Feier der Bundesrepublik Deutschland wurde diese Ausstellung im vergangenen Jahr bis zur Gegenwart hin erweitert. Ihre Attraktivität ist dadurch weiter gestiegen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige Zahlen nennen, die den Besuch des Reichstages in Berlin zeigen: 1974 mehr als 100 000 Besucher des Reichstagsgebäudes, und mehr als 270 000 Besucher im gleichen Jahr für die Ausstellung. Wir können heute schon mit Befriedigung zum Ausdruck bringen: die organisatorische Erneuerung hat sich bewährt, das Interesse der Bürger steigt, der Reichstag ist kein Mausoleum mehr.Problematisch ist bis heute die Raumfrage für die Abgeordneten und unsere Mitarbeiter. Durch die Anmietung des Bürohauses „Tulpenfeld" soll eine Verbesserung erzielt werden. Wir wünschen uns, daß der Ausbau dieses Gebäudes zügig vorangeht und damit die immer noch unzureichend geregelte Raumfrage der Lösung nähergebracht wird: Jeder Abgeordnete muß sein eigenes Arbeitszimmer haben und sollte sich nicht, wie es heute noch oft der Fall ist, die 15 Quadratmeter mit einem oder zwei Mitarbeitern teilen müssen. Der Haushaltsausschuß hat in diesem Zusammenhang für Umbaumaßnahmen im „Tulpenfeld" 1,5 Millionen DM zur Verfügung gestellt.Kritiker werden mit Sicherheit auf die um 8,7 % erhöhten Zuschüsse an die Fraktionen des Deutschen Bundestages eingehen. Die Zuschüsse werden nunmehr 29,3 Millionen statt bisher 26,3 Millionen DM betragen. Bedenkt man jedoch, daß allein die Steigerung der Gehälter der Fraktionsangestellten -- der größte Ausgabeposten übrigens — in diesem Jahr rund 7 % ausmachen wird und auch die übrigen Kostensteigerungen an den Fraktionen nicht spurlos vorbeigegangen sind, so ist diese maßvolle Steigerung — immerhin noch weit unter der Steigerungsrate des Gesamthaushalts — durchaus vertretbar.Lassen Sie mich kurz noch zwei Randprobleme ansprechen, die jedoch für uns Abgeordnete nichtsdestoweniger von großer Bedeutung sind. Ich meine zum einen die Frage des immer mehr anschwellenden Stroms von Drucksachen, die sich tagtäglich über unseren Schreibtisch ergießen. Von den Kosten
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Wohlrabeeinmal abgesehen, stellen sich auf diese Weise informations- und büroorganisatorische Probleme. Hier wird es sicherlich lohnen, einmal über die Möglichkeiten zur Verringerung der Drucksachenzahlen nachzudenken.Das andere Thema, das ich gerne noch ansprechen würde, sind die nach wie vor unbefriedigend gelösten Restaurantprobleme.
Morgen, meine Damen und Herren — und ich bitte einmal um Aufmerksamkeit —, wird der Ältestenrat, nachdem dem bisherigen Pächter gekündigt worden ist, über einen neuen Pächter zu befinden haben. Ich kann nur hoffen, daß die zukünftige Regelung eine bessere Lösung als die alte bringt.
Zum Ende meiner Erklärung möchte ich nicht versäumen, meine Damen und Herren, auch in Ihrem Namen den Mitarbeitern in der Bundestagsverwaltung recht herzlich Dank zu sagen. Ich tue dies persönlich insbesondere bei den Mitarbeitern, die mir bei der Aufstellung dieses Einzelplanes und bei der Vorbereitung des Berichtes behilflich waren. In unser aller Namen, so glaube ich sagen zu können, bedanke ich mich bei allen, die so tüchtig für uns tätig gewesen sind, für ihre Arbeit, die sie für uns und mit uns zusammen geleistet haben. Ich hoffe, daß wir alle auch in Zukunft diese Unterstützung von den Mitarbeitern des Deutschen Bundestages erfahren werden.
Das ganze Haus dankt dem Herrn Berichterstatter. Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Wer dem Einzelplan 02 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig beschlossen.
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung gemäß § 59 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Scheu.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedaure den Beschluß des Ältestenrates, der in meiner Abwesenheit gefaßt wurde und nach dem zum Einzelplan 02 nicht gesprochen werden soll. Der Bundestag hat häufig genügend Zeit für uferlose und gewiß nicht immer der Sache dienende Debatten.
Er nimmt sich aber nicht einmal im Jahr bei der Haushaltsdebatte die Zeit, über sich selbst nachzudenken.
Ich hatte die Absicht, hier und heute als Christ den zahlreichen Christen in diesem Hause einiges zu sagen, habe mich aber natürlich dem Wunsch des Ältestenrates und dem Beschluß der Fraktion gefügt und beschränke mich auf eine kurze mündliche Erklärung nach § 59 unserer Geschäftsordnung.
Albert Schweitzer sagte:
Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen läßt, daß ihr Heil nicht in Maßnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht.
Viele Mitglieder dieses Hauses sind Christen. Wird in der Art, wie wir miteinander umgehen, spürbar, daß wir wirklich christliche Demokraten sind?
Diese Frage stelle ich mir und allen, die es angeht. Wie steht es in der täglichen Wirklichkeit mit praktiziertem, d. h. gelebtem Christentum in diesem Hause? Ich meine, es steht schlecht damit. Spielen wir Christen nicht dauernd das Spiel mit, wenn die andere Seite verteufelt oder lächerlich gemacht wird? Sind wir durch unser Mittun oder unser Schweigen nicht Hauptschuldige, wenn sich fast mit jeder Sitzung, und das besonders bei Grundsatzfragen, die häufig sogar Lebensfragen sind, Klüfte zwischen den Fraktionen und häufig sogar zwischen den Menschen auftun? Ich erinnere nur an den vergangenen Donnerstag.
— Bitte, das dürfen Sie mir gerne sagen! — Bis hinein in die Ausschußarbeit gehört es doch fast zum guten Ton, daß jede Seite schon deshalb zu Vorschlägen der anderen nein sagt,
weil sie von ihr stammen. Wo ist in diesen Dingen der Widerstand von uns Christen? Ich schließe mich in diese Fragen mit ein.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie einmal unterbrechen. In der Erklärung müssen Sie Ihre Haltung zur Stimmabgabe begründen. Ich bitte Sie, in diesem Sinne sehr kurz zu verfahren.
Ich werde mich sehr kurz fassen.Ich hätte in meiner Rede versucht, einige Ursachen dafür aufzudecken. Ich hoffe, Ihnen darüber noch etwas in die Fächer legen lassen zu können. Hier nur ein paar Stichworte: Könnten nicht Christen im Bundestag so wie im Capitol in Washington einen ethischen Kodex erarbeiten, der übrigens nach Watergate viel ernster genommen wird? Könnten nicht wenigstens wir Christen uns deutlich vom Egoismus schrankenloser Art abkehren? Müßten wir nicht christliche Maßstäbe an unsere politischen Reden, an unser Schreiben und Tun anlegen, wie Ehrlichkeit und ähnliche Begriffe? Oder könnten wir nicht beginnen, an die eigene Person die kritische Sonde anzulegen, anstatt immer zu versuchen, dem anderen Schuld zuzuschieben? Diese und viele andere Fragen hätte ich gerne sehr viel eingehender mit Ihnen behandelt und vielleicht auch diskutiert. Ich will mich aber jetzt auf diese Erklärung
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Scheubeschränken und nur noch eines zum Schluß feststellen.Wir glauben alle an die Kraft und die Möglichkeiten der negativen Minderheiten. Wir schrecken sogar vor ihnen zurück. Warum können wir nicht anfangen, auch einmal an positive Minderheiten zu glauben, die etwas umwandeln und ändern können?
Zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 59 wünscht der Herr Abgeordnete Schweitzer noch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der uns allen bekannten Geschäftslage bei der Haushaltsdebatte in diesem Jahr, die besonders schwierig ist, darf ich gemäß § 59 der Geschäftsordnung eine schriftliche Erklärung zu Protokoll geben *
Danke schön, Herr Abgeordneter!
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu dem Tagesordnungspunkt II zurück, da das Abstimmungsergebnis vorliegt.
Ich darf das Abstimmungsergebnis bekanntgeben. Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen 464, davon 418 Ja-Stimmen, 21 Nein-Stimmen, 21 Stimmenthaltungen, 4 ungültige Stimmen, mithin insgesamt 464.
Gewählt ist gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Bundestages, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages einschließlich der Mitglieder aus dem Lande Berlin beträgt 260. Damit ist der Abgeordnete Berkhan zum Wehrbeauftragten gewählt.
Ich frage Sie, Herr Abgeordneter: Nehmen Sie die Wahl an?
Frau Präsidentin, ich nehme die Wahl an.
Danke schön. Ich stelle hiermit fest, daß Herr Abgeordneter Berkhan die Wahl angenommen hat.
Ich darf Sie, Herr Abgeordneter, nunmehr fragen, ob Sie jetzt den Verzicht auf Ihr Mandat aussprechen wollen.
Hiermit lege ich mein Mandat zum Deutschen Bundestag nieder.
Das Haus hat dies für sein Protokoll hiermit zur Kenntnis genommen. Der
Siehe Anlage 3
Mandatsverzicht ist damit rechtskräftig. Ich stelle noch einmal fest, daß Herr Berkhan sein Mandat niedergelegt hat und zum Wehrbeauftragten gewählt ist.
Der Wehrbeauftragte hat nach § 14 Abs. 4 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Bundestages bei der Amtsübernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vorgeschriebenen Eid zu leisten.
Meine Damen und Herren, es wurde interfraktionell vereinbart, die Vereidigung unmittelbar im Anschluß an die Wahl vorzunehmen. Wir kommen daher jetzt zur
Vereidigung des Wehrbeauftragten des Bundestages
Ich bitte Sie, Herr Berkhan, den Eid zu leisten.
Berkhan, Wehrbeauftragter des Bundestages: Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Meine Damen und Herren, damit ist Herr Berkhan als Wehrbeauftragter vereidigt. Die Glückwünsche des ganzen Hauses begleiten ihn in sein neues Amt.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige wenige Worte zu dem scheidenden Wehrbeauftragten sagen.Mit der Wahl und Vereidigung des bisherigen Parlamentarischen Staatssekretärs Berkhan scheidet Herr Schultz nach fünfjähriger Tätigkeit heute aus dem Amt des Wehrbeauftragten des Bundestages aus. Bei seiner Wahl zum vierten Wehrbeauftragten erklärte der damalige Bundesminister der Verteidigung dieses Amt zu einer schlechthin unverzichtbaren Institution.Ich möchte hinzufügen, daß auch gerade durch die Amtsführung des bisherigen Wehrbeauftragten das Amt des Wehrbeauftragten an Ansehen gewonnen hat und diese Institution nicht mehr wegzudenken ist. Sie hat einen hohen Stellenwert in unserem Land.Die gesellschaftspolitisch bewegte Szenerie in der ersten Hälfte der siebziger Jahre spiegelt sich auch in den Berichten über die innere Situation der Bundeswehr wider, die der Wehrbeauftragte jedes Jahr dem Bundestag zur Stärkung seiner Kontrollfunktion im militärischen Bereich vorlegte. In diesen Berichten hat der Wehrbeauftragte deutlich gemacht, wie sehr dieses Amt sich der Tatsache bewußt ist, daß es dabei um die Aufgabe geht, Ansprechpartner der Soldaten und Informant des Bundestages zu sein. Der Wehrbeauftragte wacht über das Konzept der inneren Führung. Besonders deutlich geworden ist, daß die Bundeswehr uneingeschränkt ein integraler
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Präsident Frau RengerBestandteil unserer Gesellschaft ist. Die Soldaten sind Bürger in Uniform.Das besondere Verdienst des scheidenden Wehrbeauftragten ist es, auf die spezifischen Funktions- und Lebensbedingungen des soldatischen Alltags hingewiesen und die notwendigen Folgerungen gezogen zu haben. Sein Abschlußbericht wird sicherlich seinem Nachfolger wichtige Hinweise geben und dazu dienen, das Verhältnis zwischen Wehrbeauftragtem, Soldaten und Bundestag noch enger zu gestalten. Für die verdienstvolle und immer vom Vertrauen des Parlaments getragene Arbeit als Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages ist Herrn Schultz Dank und Anerkennung des ganzen Hauses auszusprechen.
Meine Damen und Herren, wir fahren nunmehr in den Beratungen fort. Ich rufe aufEinzelplan 03Bundesrat— Drucksache 7/3143 —Berichterstatter: Abgeordneter Schmitz
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Aussprache.Wer dem Einzelplan in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe nunmehr aufEinzelplan 04Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes— Drucksache 7/3144 — Berichterstatter:Abgeordneter EstersAbgeordneter Dr. Dübber Abgeordneter BaierWünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strauß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich einer Hoffnung Ausdruck geben, die sich eben erfüllt hat: daß der Herr Bundeskanzler uns an dieser Debatte persönlich die Ehre gibt.In der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht am 20. Februar habe ich darauf hingewiesen, daß wir jetzt den schwersten und gefährlichsten Rückschlag in unserer Wirtschaft seit der Währungsreform haben. Er drückt sich aus erstens durch wirtschaftliche Schrumpfung, Minuswachstum, zweitens durch immer noch anhaltende, gegenüber früher ungewöhnlich hohe Inflationsraten, für die auch höhere Inflationsraten in vergleichbaren Ländern keinen Trost geben, drittens vor allem durch die höchste Arbeitslosigkeit, seit es in den fünfziger Jahren durch die soziale Marktwirtschaft gelungen ist, Millionen Vertriebene und Flüchtlinge in Arbeit und Brot zu bringen.Verantwortlich dafür ist nach den Maßstäben der parlamentarischen Demokratie in erster Linie die Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien seit 1969.
Sie hatten versprochen, bei Ihnen werde es weder Rezession noch Arbeitslosigkeit geben. Es ist einfach nicht wahr, daß diese Erscheinungen nur oder hauptsächlich durch die sogenannte Ölkrise, durch die Preiserhöhung für Rohöl herbeigeführt oder sonstwie vom Ausland zu verantworten sind. Das gilt in besonderer Weise für die Arbeitslosigkeit, die sich bei anderer Einstellung der Regierungen in ihrer mittel- und längerfristigen Finanz- und Wirtschaftspolitik zu den in der Wirtschaft geltenden Gesetzmäßigkeiten und bei einer soliden, von jeder Hektik freien Konjunkturpolitik hätte vermeiden lassen.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Professor Kloten, hat im Januar — nicht im Oktober, wie ich fälschlicherweise das letztemal sagte — erklärt: „Die heutige Arbeitslosigkeit war ebenso vermeidbar wie die niedrige Zuwachsrate des realen Bruttosozialprodukts von knapp einem halben Prozent im Jahr 1974, aber sogar minus 5 % beim Vergleich der beiden letzten Quartale 1973 und 74." Er sagte zweitens: „Die gegenwärtige Situation ist die Auswirkung des Beginns einer Vertrauenskrise." Und drittens: „Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ist weder für die Finanzpolitik noch für die Einkommenspolitik als tragende Basis angewandt worden."Wer das leugnen will, der sehe sich die Investitionen in der Wirtschaft seit 1970 an. Schon am 27. Juni 1974 beklagte der Wirtschaftsminister in der Konzertierten Aktion: „Die realen Investitionen der Wirtschaft haben seit Beginn der siebziger Jahre nahezu stagniert." Hier liegt doch der entscheidende Grund für Arbeitslosigkeit und Wachstumsverluste, wobei Wachstum die Voraussetzung für die Erhaltung des gesetzlich beschlossenen sozialen Leistungsstandes ist.Schon aus saisonalen Gründen wird die jetzt erreichte Rekordzahl von Arbeitslosen und Kurzarbeitern, durch die zur Zeit noch jeder zehnte Arbeitnehmer unmittelbar betroffen ist, im Frühjahr und Sommer aller Wahrscheinlichkeit nach zurückgehen. Dafür braucht man nicht die Frühjahrsschwalben zu zählen.Aber wir werden im weiteren Verlauf des Jahres weit von den Verhältnissen am Arbeitsmarkt ent-
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Straußfernt bleiben, die die SPD/ FDP-Regierung im Januar 1969 bei ihrem Amtsantritt vorgefunden hat.
Damals warteten im Jahresdurchschnitt auf einen Arbeitssuchenden vier offene Stellen. Damals gab es nur eine statistische Arbeitslosigkeit von unter 1 %. Wir hatten damals Vollbeschäftigung mit erkennbarer Neigung zur Übervollbeschäftigung. Als dann infolge ständiger Vernachlässigung und Leugnung der Inflationsgefahr durch die Bundesregierung und bei fast zehn offenen Stellen auf jeden Arbeitssuchenden schließlich tatsächlich Übervollbeschäftigung entstand, redeten die Regierungvertreter von der Notwendigkeit der Sicherung der Vollbeschäftigung — als ob dies das hauptsächlich bedrohte Ziel gewesen wäre! — und redeten damit die Inflation geradezu herbei.Wer jetzt gegen die Kritik der Opposition wettert, lese einmal nach, was in den Jahren 1965/66 bei vergleichsweise erheblich besserer Wirtschaftslage die damalige Opposition an rüdesten Tönen von sich gegeben hat.
Ich darf in diesem Zusammenhang den Kollegen Dr. Alex Möller, der sicherlich nicht zu den lautstärksten Sprechern gehört, mit einigen Sätzen von damals — mit Genehmigung der Frau Präsidentin, wie ich hoffe — zitieren:Selbst wenn wir nicht wachsam und aufmerksam wären, das, was in Ihrem Lager vorgeht, veranlaßt uns, den Finger auf die Wunde zu legen und zum Ausdruck zu bringen: Ihre ganzen Manipulationen nützen nichts. Wir brauchen eine neue Regierung, einen neuen Bundeskanzler. Wir brauchen Minister, die nicht reden, sondern handeln.
Er sagte dann etwas später:
Angesichts des vorgelegten Haushaltsentwurfs, der in seiner Mischung von Unfertigkeit und Unsolidität eine Zumutung für das ganze Parlament darstellt,
kann man doch nur noch eine Feststellung ziehen: Die Finanz- und Haushaltspolitik hat ein Stadium an Unvermögen erreicht, das wirklich nicht mehr zu überbieten ist und bei dem Staat und Wirtschaft ernsthaft Schaden nehmen.
Und das wurde bei der damaligen Finanzlage gesagt!Wenn sich der Bundesbürger — so heißt es weiter —die Frage vorlegt: Wie ist dieses Wirtschaftswunderland in eine solche Finanzkatastrophe hineingeraten,
durch äußere, durch die Bundesregierung nicht zu verantwortende Ursachen
oder durch offensichtliches Verschulden der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition?, dann haben ihm meine bisherigen Ausführungen— schuld ist allein die Bundesregierung, meint er — eine klare Antwort gegeben.Noch etwas später heißt es:Meine Damen und Herren, es ist ja nicht das erste Mal, daß wir— von der SPD —davon gesprochen haben, daß eine solche Politik in eine Finanzkatastrophe hineinführt.
Sie müssen die Protokolle der letzten Jahre heranziehen, aus denen hervorgeht, daß wir immer wieder warnend gefordert haben, eine Politik zu betreiben, die nicht in diese Finanzkatastrophe hineinführt.
Die Zitate aus Reden des Kollegen Schiller will ich, weil er in der Zwischenzeit hier dafür nicht mehr heranziehbar ist, und auch aus Gründen der Kürze der Zeit heute nicht mehr verwenden. Sie sind aber ähnlich farbig.Man bekommt allmählich den Eindruck, als ob harte Kritik an der Politik der Regierung und ihrer Parteien — siehe auch die Äußerungen des Finanzministers Apel gegenüber Herrn Stoltenberg — zu einer Art Majestätsbeleidigung, zu einer Art Anschlag gegen die parlamentarische Demokratie und zu einem Verstoß gegen das Wohl des Volkes umgefälscht werden soll.
Das sind doch die ersten Ansätze autoritären Denkens:
„Wir haben die allein richtige Politik, und wer sie kritisiert, ist ein Feind der richtigen Politik, ein Feind des Volkes, ein Feind des Staates, ein Feind der parlamentarischen Demokratie." So einfach liegen die Dinge!Dieses Denken bedient sich ja auch häufig einer weitverzweigten Propagandamaschinerie. Wenn man die Kritiker der Regierungspolitik als Gefahr für den Staat und als Feinde des Volkes darstellen will, so ist das eine Verfälschung des demokratischen Auftrages und der Versuch einer Demontage der parlamentarischen Demokratie.
Ich darf in diesem Zusammenhang nun letztmalig eine kleine Blütenlese geben.
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StraußKurt Schumacher sagte in einer der berühmten ersten Debatten des Deutschen Bundestages: Man kann also als Opposition nicht die Ersatzpartei für die Regierung sein und die Verantwortung für etwas übernehmen, wofür die Verantwortung zu übernehmen sich manchmal Regierungsparteien gegebenenfalls scheuen werden.
Helmut Schmidt sagte am 30. November 1965:Es steht nirgendwo geschrieben, daß die Opposition dabei helfen soll, eine Regierung aus einer Zwickmühle herauszuholen, in die sie sich selbst hineinmanövriert hat.
Herbert Wehner, der dieses Haus schon durch manche Beiträge bereichert hat, erklärte am 2. Dezember 1965:Mit uns nicht! Wir sind mit Ihnen nicht zusammen, wir sind außerhalb von Ihnen! Wir gehören nicht zu Ihrer Regierung, wir opponieren gegen diese Regierung.— Er fuhr fort:Es ist Ihre Sache, meine Damen und Herren von dieser Bundesregierung und der sie tragenden Koalition — manchmal habe ich den Eindruck, Sie tragen sie nicht nur, sondern Sie schaukeln sie —,— ich könnte das auch durchaus auf heute anwenden —mit den Problemen fertig zu werden. Unsere Sache ist es, Ihnen die Chance zu geben, sich nicht auf uns berufen zu müssen. Tun Sie bitte, was Sie vermögen!
Am 23. November 1966:
Hier ist ein großes Wort, das Wort von der „Solidarität des Parlaments" gesprochen worden.
Wir werden uns dieses Wort merken ... Nur, meine Damen und Herren, jetzt ist nicht die Zeit, an irgendwelche Solidarität zu appellieren .. .
Was ist denn das? Wofür halten Sie uns denn! Wir sind doch anständige Leute;
wir waschen doch nicht anderer Leute Wäsche! ... Sie müssen den politischen Konkurs, den Sie erlitten haben, und seine Begleiterscheinungen selbst verantworten.
Schließlich von Bundesminister Matthöfer — es stammt aus derselben seriösen Quelle, aus der man gegen mich schöpft — die Aufforderung an seineGenossen: „Und wenn die unser Godesberger Programm vorlegen — was von der CDU kommt, wird abgelehnt" !
Fritz Erler hat es einmal als die Aufgabe der Opposition bezeichnet, der Regierung auf die Finger zu sehen, auf die Finger zu klopfen und ihre Ablösung zu betreiben.
Heute erleben wir, daß die SPD den arroganten Anspruch erhebt, die Erfüllung der Demokratie sei nur im Sozialismus möglich, und daß Sie — die einen radikaler, die anderen schrittweise — eine Umformung der Gesellschaft nach sozialistischem WunschVorbild betreibt.Hat nicht Willy Brandt am 21. August 1974, nach seiner Kanzlerschaft, gemäß einer Meldung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" davon gesprochen, innerhalb der SPD gebe es eine klare Unterscheidung zwischen dem, was jetzt möglich ist, und dem, wovon man die Bürger erst schrittweise überzeugen müsse?
Bei der Lektüre dieser Äußerung ist mir das Wortvon der „neuen Wahrheit" Egon Bahrs eingefallen.
Man hat seinerzeit in der Großen Koalition noch gemeinsam mit uns eine Deutschlandpolitik betrieben und in einstimmigen Entschließungen dieses Bundestages verabschiedet, als man schon die gegenteilige Deutschlandpolitik als „neue Wahrheit" im Herzen trug, aber nicht zu vertreten wagte, weil man dafür noch nicht die Mehrheit in diesem Hause für sich zu haben glaubte.
Das sind eben die Dinge, die uns das Recht geben, als parlamentarische Opposition auf die Finger zu sehen, auf die Finger zu klopfen und die Ablösung der Regierung mit legitimen Mitteln zu betreiben.
Hat nicht in der SPD eine vertrauliche Konferenz in Würzburg am 24./25. Januar dieses Jahres stattgefunden, auf der eine 120seitige Denkschrift „Godesberg und die Gegenwart" behandelt wurde? Diese Denkschrift enthält doch eine Fülle von Warnungen gegenüber den in der SPD sich verbreitenden Tendenzen, wie sie hauptsächlich — aber nicht nur! — von den Jungsozialisten vertreten werden, Tendenzen, die nicht der Sicherung der parlamentarischen Demokratie, sondern ihrer Umwandlung in eine Art Rätedemokratie mit imperativem Mandat unzweideutig dienen.In den letzten Tagen läuft — und wenn man mich draußen angreift, habe ich das Recht, hier zu antworten;
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10969
Straußman erwartet es sogar — in konzertierter Aktion eine Verfälschungs- und auch Verleumdungskampagne ungeheuren Ausmaßes gegen mich.
Ihre Methoden sind vielfältig, raffiniert, zum Teil schäbig, auf alle Fälle rücksichtslos; sie stammen aus dem Instrumentarium der psychologischen Kriegführung.
Ich frage jetzt nicht, was ist richtig, was ist falsch von den aus meiner Rede wiedergegebenen Worten; das frage ich gar nicht. Ich zitiere — und berufe mich dabei auf das angebliche Wortprotokoll — zwei daraus immer wieder herangezogene Sätze:Wir müssen die Auseinandersetzung hier imGrundsätzlichen führen. Da können wir nichtgenug an allgemeiner Konfrontierung schaffen.Ich habe mich nie für eine totale oder obstruktive Opposition ausgesprochen, werde aber das, was ich unter diesen Äußerungen hier verstanden habe — auch wenn sie so wiedergegeben worden sind —, ganz deutlich sagen: Ich habe in diesem Hohen Hause fünf Jahre vor Fehlern und Versäumnissen gewarnt,
Vorschläge gemacht und Lösungen empfohlen, z. B. das steuerliche Inflationslastenausgleichsgesetz ab 1. Januar 1974 statt der verkorksten Steuer-Scheinreform zum 1. Januar 1975.
Ich habe mich in meiner Fraktion dafür eingesetzt, daß auch dieses von uns auf dem Gesetzgebungsweg ein wenig verbesserte Werk — es ist nur wenig verbessert und weist zahlreiche strukturelle Fehler und Schwächen auf — von der CDU/CSU-Opposition angenommen wird, damit der Bürger nicht noch ein weiteres Jahr auf eine steuerliche Entlastung — die zum Teil eingetreten ist — zu warten hat.Wir haben befürchtet, daß die katastrophale Finanzlage — wir sprechen ja nur von Zerrüttung der Finanzen, noch nicht von der Finanzkatastrophe —, die sich im Laufe des Jahres 1975 entwickelt, steuerliche Entlastungen im Jahre 1976 überhaupt nicht mehr möglich machen würde, der Unfug einer progressiven Explosion der Lohnsteuer mit ihren verhängnisvollen Auswirkungen auf die Arbeitnehmereinkommen sich weiterhin ausbreiten würde und daß dies in Verbindung mit unvermeidbaren Lohnforderungen zu einer neuen Eskalation mit inflationären Wirkungen führen würde.Wir haben ein besseres Konjunkturprogramm vorgeschlagen — ich nehme es persönlich auf meine eigene Kappe — als die hektischen Methoden der Bundesregierung mit Bestrafung der Investitionen durch eine besondere Steuer und kurz darauf wieder mit einer finanziellen Belohnung derselben. Das ist von mir in der Kieler Rede, in einem Artikel des „Handelsblatts" und hier in diesem Hohen Hause vorgetragen worden. Sie wissen doch, worum es sich handelt und was ich mit diesem besseren Konjunkturprogramm meine; wir haben uns ja eingehend darüber unterhalten.Die Zahl unserer früheren Vorschläge umfaßt eine stattliche Reihe. Wir haben auch den Mut gehabt, die Regierung zu unterstützen, und haben vor gefährlichen Steuersenkungen mit dem Mut zur Unpopularität in den Jahren 1969 und 1970 gewarnt. Wir haben reihenweise Vorschläge für eine sparsame Haushaltsgestaltung gemacht.
Wir haben am 6. November 1974 — ich war dabei in meiner Fraktion federführend — als Signale für den Ernst der Lage und als Hilfe für die Regierung einen befristeten Stopp aller finanzwirksamen Anträge von uns aus vorgenommen und dieses Angebot an die Regierungsparteien gestern ohne Frist in unserer Fraktion verlängert. In meinen Reden vor dem Hohen Hause bin ich ohne Billigung meiner Fraktion an kooperativer Haltung sogar noch weit darüber hinausgegangen.
Wir haben am 5. November 1974 Kürzungsvorschläge zum Haushalt 1975 in Höhe von 3,2 Milliarden DM vorgelegt. Wir haben Alternativen zur Krankenhausfinanzierung, zur Städtebauförderung, zum Betriebsverfassungsgesetz und auf anderen Gebieten vorgelegt.Allerdings haben wir mit unseren Mahnungen, Warnungen und Vorschlägen große Enttäuschungen erlebt, weil die Regierungsparteien nicht das Maß an Bereitschaft zur Kooperation mit der Opposition bewiesen haben, das bei ihren verbalen Bekundungen über gemeinsame Verantwortung hätte erwartet werden dürfen.
Alle unsere Vorstöße und Vorschläge sind ohne überzeugende Argumentation — aus Besserwisserei, Rechthaberei, zum Teil aber auch in ausgesprochener Verhöhnung der CDU/CSU — zurückgewiesen worden.Ich darf hier auch daran erinnern, daß wir bei dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung keine obstruktive Opposition betrieben und von der uns zustehenden Fristeinrede angesichts des skandalösen Gesetzgebungsverfahrens, in dem Milliarden in wenigen Stunden verplant, verfügt und zur Ausgabe freigestellt werden mußten, keinen Gebrauch gemacht haben, weil das eine Verzögerung von Monaten bei einem geordneten Gesetzgebungsverfahren, wie man es bei einem solchen Ausgabenvolumen fordern kann, mit sich gebracht hätte. Das ist doch die Wahrheit!Aber ich scheue mich nicht, zu sagen: Es gibt eine grundsätzliche Auseinandersetzung, bei der die Konfrontation unvermeidlich ist; ihre Unterlassung wäre ein semantischer und moralischer Betrug am Bundesbürger.
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10970 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
StraußKonfrontation heißt nicht Obstruktion, Konfrontation heißt nicht Sabotage, heißt nicht Destruktion; Konfrontation heißt Gegenüberstellung klarer Fronten, wie ich sie im Einvernehmen mit allen Mitgliedern meiner Fraktion gefordert habe.
Wenn wir unsere Entschlossenheit, die persönliche Freiheit und die individuelle Autonomie des Menschen gegen Zukunftsutopien einer sozialistischen Gesellschaftsordnung und gegen kollektivistische Lösungen mit aller Entschiedenheit verteidigen, dann meinen wir es ernst.
Wenn wir vor einer Umfunktionierung vielleicht gut gemeinter deutscher Ostpolitik in sowjetische Westpolitik warnen und von der Regierung — leider vergeblich — Auskunft über den Stand der Verhandlungen in Genf verlangen, dann meinen wir es ernst. Und die Vorgänge, die sich in diesen Tagen in einem Lande Südwesteuropas abspielen, sprechen eine deutliche Sprache, auf welcher Bahn sich die gesamte europäische Staatenlandschaft befindet, wenn sich die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft
nicht bald zu einer kraftvollen Gemeinschaft, zu einer echten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Großorganisation zusammenschließen.
Hier gibt es eben leider nicht die klare Gemeinsamkeit. Hier gibt es nur das Einstehen für die Grundwerte unserer Verfassung und die Lebensrechte unserer Nation so, wie wir die Zukunft unserer Gesellschaft sehen und wie wir die Stellung unseres Landes gegenüber seiner Umwelt geregelt und gesichert wissen wollen. Wer diese Sprache in den letzten Tagen, wie erlebt, diffamiert, denunziert und verleumdet, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß nur ein Ertappter so laut — mit Schaum vor dem Munde — brüllt.
Die Wahrheit ist eben schwerer zu ertragen, als die falsche Gemeinsamkeit zu ertragen ist.
Hätten Sie, meine Damen und Herren von der SPD — das richte ich gerade an die führende Schicht —, innerhalb Ihrer Partei rechtzeitig die Konfrontation herbeigeführt, wäre sie uns zwischen den Demokraten dieses Hauses erspart geblieben!
Lassen Sie mich nach diesem angesichts der Ereignisse unvermeidlichen Exkurs — aber bei einer Debatte über den Kanzlerhaushalt steht das ganze Spektrum der politischen Probleme zur Diskussion — zu einigen wirtschafts- und finanzpolitischen Problemen zurückkehren. Selbst der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Fraktion kann nicht mehr umhin, den wahren Grund für Rezession und Arbeitslosigkeit zu nennen. In der „Deutschen Zeitung" sagte er am 7. März wörtlich, daß die gegenwärtig fehlenden 1,2 Millionen Arbeitsplätze allein durch die Inflation verlorengegangen sind.
Da die Inflationsrate — wenn man das Wort in diesem Zusammenhang überhaupt in den Mund nehmen darf — im Herbst 1969 je nach dem statistischen Index, den man zugrunde legt, zwischen 1,8 und 2,4 lag, kann doch damit nur die Politik gemeint sein, die nach dem Herbst 1969 zu diesen Erscheinungen geführt hat.
An dieser Entwicklung — auch an der inflationsbedingten hohen Arbeitslosigkeit — tragen Sie, Herr Bundeskanzler, ein gerüttelt Maß an persönlicher — und kontinuierlicher — Verantwortung. Sie bezeichneten im Herbst 1971, damals noch als forscher Verteidigungsminister, die Preisstabilität als bloßes Modewort; Sie erklärten damals: „Mich kümmert die Sorge um die Preise nicht so wie andere." Sie verkündeten seit mehr als 2 1/2 Jahren die zur Irreführung der Öffentlichkeit führende oder bestimmte These, 5 % Inflation seien leichter zu ertragen als 5 % Arbeitslosigkeit. Sie versuchten damit, den falschen Eindruck zu erwecken, als sei die Inflation der Preis für die Vollbeschäftigung. Sie sagten sogar noch im November 1974, schon als Kanzler, man werde 1975 noch erfahren, wie richtig Ihre These von den 5 % lieber so als 5 % so sei. Die Arbeitnehmer haben es ja tatsächlich erfahren. Als Folge der Inflationspolitik der letzten Jahre haben wir jetzt nicht nur anhaltende Preissteigerungsraten von rund 6 %, sondern zugleich den traurigen Rekord von über 5 % Arbeitslosen und zusätzlich weiteren fast 5 °/o Kurzarbeitern. Auch wenn diese Zahl, wie wir selbst erwarten, selbstverständlich im Zuge des saisonalen Aufschwunges zurückgehen wird, die strukturellen Probleme der Verformungen und Verwerfungen innerhalb unserer Wirtschaft bleiben nach wie vor erhalten und werden von Ihnen leider nicht einmal angepackt, geschweige denn gelöst.In Ihrem „Capital"-Interview, Herr Bundeskanzler, vom Dezember 1974 heißt es wörtlich:Wer den Preisanstieg innerhalb einer Volkswirtschaft dämpfen will, nimmt gleichzeitig auch gewisse Dämpfungswirkungen in bezug auf die Gesamtbeschäftigung in Kauf.Das ist doch eine zynische Formulierung. Zuerst schlagen Sie die Warnungen vor der Inflation in den Wind und bezichtigen uns, als ob wir Arbeitslosigkeit zur Disziplinierung der Arbeitnehmer beabsichtigten; dann verkünden Sie, das bißchen Inflation müsse für die Erhaltung der Vollbeschäftigung eben in Kauf genommen werden, dann erkennen Sie endlich, daß die Inflation zu einer Gefahr für die Arbeitsplätze wird, dann treffen Sie zu spät und unzulänglich Stabilisierungsmaßnahmen — siehe öffentliche Haushalte —, und dann spielen Sie den Helden und sagen, unsere Stabilisierungspolitik führt aber zu einer gewissen Arbeitslosigkeit, das müßten die Arbeitnehmer in Kauf nehmen. Das ist die Gedankenkette, die wir in den letzten Jahren erlebt haben.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10971
StraußDamit geben Sie doch zu, daß CDU und CSU mit ihren jahrelangen Warnungen recht hatten. Bei rechtzeitiger und zulänglicher Stabilitätspolitik wäre dieser Ablauf nicht eingetreten.
Ich möchte hier hinzufügen: Wir hätten eine niedrigere Geldentwertungsrate — ich habe nie die Utopie einer totalen Preisstabilität als Möglichkeit einer CDU/CSU-Politik vertreten, weder als wir in der Regierung waren noch als wir in der Opposition waren —, wir hätten ein, wenn auch bescheidenes, aber reales Wachstum — vom nominalen Wachstum haben wir nicht viel —, wir hätten normale Vollbeschäftigung, und wir hätten schließlich keine Zerrüttung der Staatsfinanzen.
So wurden durch falsche Versprechungen, durch die wiederholten Versuche, die Gefahren für die Arbeitsplätze zu verharmlosen und zu verniedlichen, die Arbeitnehmer für dumm verkauft. An diesem bösen Spiel waren Sie, Herr Bundeskanzler, mit der Autorität Ihres Amtes bis in die jüngste Zeit hinein maßgebend beteiligt. Einige Beispiele: Als die Wirtschaftsforschungsinstitute im letzten Herbst eine Million Arbeitslose für den jetzigen Winter als unvermeidlich darstellten, sprachen Sie empört von Schwarzmalerei. Am 23. Oktober 1974 versprachen Sie — mitten in den Landtagswahlkämpfen —, Sie würden es nicht zu einer Million Arbeitsloser kommen lassen.
Das ist es ja, was uns immer wieder beunruhigt, daß hier immer wieder rein verbale Kraftakte mit einer Art Coué-Effekt in Anspruch genommen werden, so wie damals Ihr Vorgänger sagte: 4 % Preissteigerungen kommen nicht in Frage; dann wird es ernst, dann greife ich persönlich ein. Genau dasselbe Spiel treiben doch Sie als Nachfolger mit ähnlichen Akten der Selbstermahnung und der Selbstermutigung ohne realen Hintergrund.
Nach den Wahlen nahmen Sie das Versprechen zurück und sagten: Eine Million, aber nur im Exremfall, d. h. also bei besonders ungünstigen Witterungsbedingungen. Für diesen Winter kann man das Feigenblatt besonders ungünstiger Witterungsbedingungen wahrlich nicht in Anspruch nehmen.
— Abwarten ist gut, aber Sie haben anscheinend einen falschen Kalender erwischt, nämlich den Kalender, der mit der Zeitrechnung des Jahres eins mit der Wahl Willy Brandts zum Kanzler beginnt.
Jetzt wird auch von Ihnen auf der Regierungsseite als das entscheidende Mittel zur Überwindung der Arbeitslosigkeit die Wiederbelebung der privaten Investitionen verkündet. SPD und Teile der FDP — ich meine damit die Teile, die mehr dem linken Lager angehören — entdecken die Bedeutung von privater Wirtschaft und privaten Unternehmern, die Notwendigkeit hinreichender Erträge als Voraussetzung für die Sicherheit der Arbeitsplätze. Erträge und Gewinne werden auf einmal nicht mehr als kapitalistische Profite denunziert. Vor noch gar nicht langer Zeit waren von der Regierung und der SPD die Unternehmer und die sonstig Selbständigen verteufelt worden. Siehe die Aktion „Gelber Punkt", für die auch Sie, Herr Bundeskanzler, da Sie damals schon Finanzminister waren und von der Sache doch viel verstehen mußten, mitverantwortlich sind. Damals haben Sie doch behauptet, die Profitsucht der Unternehmer sei die Hauptursache für die Inflation Das sogenannte Stabilitätsprogramm der Regierung vom Mai 1973 legte das Schwergewicht allzu einseitig auf die Zurückdrängung der privaten Investitionen. Wir haben doch damals davor gewarnt. Wenn wir eine „diabolische Politik der Obstruktion" trieben, dann hätten wir Sie in den Jahren ermutigt: „Gehen Sie nur weiter so auf diesem Wege; dann erreichen Sie nämlich das Ziel, das wir durch unsere Opposition verhindern wollten, die Wirtschaftslage, in die wir eingetreten sind, und die Finanzlage, die unausweichlich gewisse alternative Entscheidungen verlangt!Im Sommer 1973 hieß es in Zeitungsanzeigen der Bundesregierung — hören Sie —: „Und hier liegt das Übel: Unsere Wirtschaft wird stärker beansprucht, als ihr auf Dauer guttun kann. Alle müssen herunter vom Gaspedal und auf die Bremse treten. Die Unternehmer müssen empfindliche Steuern zahlen, wenn sie nicht bereit sind, ihre Investitionen aufzuschieben."Noch im letzten Sommer, als der starke Konjunkturabschwung sichtbar wurde, wurden durch die sogenannte Steuerreform in der Hauptsache die Unternehmer durch die Neuregelung der einheitswertabhängigen Steuern und die Beseitigung der Abzugsfähigkeit der Vermögenssteuer mit 2,5 Milliarden DM pro Jahr zusätzlich auf Dauer belastet, und damit wurde ihre Investitionstätigkeit ebenso eingeschränkt wie ihr Vertrauen in die Zukunft betroffen. Aber jetzt wird von Ihnen die Erkenntnis verbreitet, daß die privaten Investitionen von heute die Arbeitsplätze von morgen sind. Mit Zeitungsanzeigen und Broschüren unter der Überschrift „Jetzt investieren, jetzt lohnt es sich" wird für die Inanspruchnahme der 7 1/2 %igen Investitionszulage geworben. Das ist doch ein geradezu typisches Beispiel für die kurzatmige Hektik und fast neurotische Unausgeglichenheit Ihrer Konjunkturpolitik.
Wir leugnen ja gar nicht einen vielleicht sogar länger anhaltenden Strohfeuereffekt dieses Konjunkturprogramms, das wir als das mit Abstand zweitbeste sogar durch unsere Stimmen in diesem Hause unterstützt haben, dessen Verabschiedung wir zeitlich erleichtert haben. Aber wir fürchten, daß die hektische Politik des „stop and go" im Bereich der privaten Investitionen — rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln — das verlorengegangene Vertrauen als Voraussetzung für einen dauerhaften Aufschwung eher weiter zerstört als ernsthaft neu schafft. Hier wird viel Geld ausgege-
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10972 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Straußben, auch für Investitionen, die die großen Unternehmen auf Grund ihrer seit Jahren festliegenden Investitionspläne auch ohne diese Zulage getätigt hätten. Aber das seit Jahren zerstörte Vertrauen in die Zukunft wird durch die nur für ein halbes Jahr geltende Zulage bestimmt nicht wieder herbeigeführt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wann wird denn endlich die Bundesregierung die Prüfung des sogenannten Verlustrücktrages beenden? Der Bundesrat hat sich dafür ausgesprochen, weil die Länderregierungen die Verantwortung ernst nehmen, gleichgültig, von welchen Parteien sie getragen werden. Der Bundeswirtschaftsminister ist dafür; die Bundesregierung läßt verlauten, daß sie ernsthaft auf eine Prüfung einzugehen bereit sei. Wie lange brauchen Sie denn noch zum Prüfen? Im November letzten Jahres haben wir den Vorschlag in der Öffentlichkeit gemacht. Jetzt haben wir Mitte März. Soviel wir wissen, ist Herr Friderichs dafür, ist Herr Apel dagegen. Herr Schmidt schwebt in höheren Regionen.
Die FDP hat doch selbst die Notwendigkeit dieses Verlustrücktrages als eines schnell wirksamen Mittels zur Liquiditätsverbesserung und damit zur Verbesserung sowohl der Investitionsbereitschaft als auch der Investitionsfähigkeit unterstrichen.Das verspielte Vertrauen wiederzugewinnen, ist nur möglich mit einer vollen Offenlegung der tatsächlichen Situation und nicht mit einem Offenbarungseid in Miniraten. Haben Sie doch endlich einmal den Mut, die wirklichen Gründe für Inflation, Arbeitslosigkeit, Rezession und ramponierte Staatsfinanzen offen zuzugeben! Versteckt sagen Sie es ja schon in dem Kommuniqué über die gemeinsame Sitzung von Parteirat, Parteivorstand und Kontrollkommission der SPD am 11. November 1974 in Berlin. Dort heißt es: „Wer das Unmögliche will, gefährdet das heute Mögliche." Diese Feststellung, die sich wie ein Satz aus einem konservativen Parteiprogramm liest, kann ich nur unterstreichen. Aber die Erkenntnis ist doch erst gekommen, nachdem Ihnen das Wasser am Hals stand. Diese Erkenntnis haben wir hier fünf Jahre ohne jede Aufnahmefähigkeit auf Ihrer Seite vertreten; wir haben nur Hohn und Spott und Ablehnung dafür gefunden. Die SPD/ FDP-Koalition hat doch seit 1969 konsequent gegen diese Erkenntnis verstoßen; sie vermochte die Grenzlinie zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, dem Wirklichen und dem Unwirklichen nicht zu erkennen, nicht richtig zu ziehen. Jetzt muß der Bevölkerung endlich einmal konkret gesagt werden, wo Unmögliches gewollt und wo deshalb das Mögliche gefährdet oder unmöglich gemacht worden ist und wie es weitergehen soll; denn Sie sind ja nicht im Herbst 1974 an die Regierung gekommen, sondern im Herbst 1969.Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben doch in einer Sitzung Ihrer Partei erklärt, es sei die Aufgabe der SPD, sich ein größtmögliches Realitätsbewußtsein zu erwerben. Meinen Sie nicht, da hätte Ihre Partei noch lange in die Schule gehen müssen, bevor sie die Regierungsverantwortung auf sich nehmen konnte, wenn sie es nach fünf Jahren Regierungstätigkeit noch als ihre Hauptaufgabe ansieht — angesprochen von Helmut Schmidt —, sich ein größeres Realitätsbewußtsein zu eigen zu machen?
Ich komme nochmals auf die Auseinandersetzung der letzten Tage aus diesem Anlaß zu sprechen. Hier werden mir folgende Äußerungen in den Mund gelegt:Wir würden Gefahr laufen, wenn wir vorschlagen, es muß jetzt konkret geschehen a, b, c, d usw., daß die es nicht tun. Lieber eine weitere Inflationierung, weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nehmen, als das anzuwenden, was wir als Rezept für notwendig halten, mit der Maßgabe, daß die sagen: „Seht, solange wir da sind, ist unser Leiden ja nicht gar so schlimm. Wenn die anderen hinkommen, die muten Euch eine Roßkur zu." So weit sind wir noch nicht.
Es muß wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, politisch mit unseren Vorstellungen, Warnungen, Vorschlägen gehört zu werden.Ich zitiere das jetzt einmal wörtlich so, wie es veröffentlicht worden ist. Ich rede auch nicht davon, wieweit die einzelnen Sätze hier korrekt wiedergegeben werden
oder infolge der Unzuverlässigkeit der Technik
— oh, ich laufe nicht davon; haben Sie keine Angst — in holpriger Sprache, die mir nicht zu eigen ist, zitiert werden.
Es ist aber — lassen Sie mich das sehr deutlich sagen — ein Schwindel, es grenzt an Wahlbetrug, an dem sich leider auch der Herr Ministerpräsident Kühn jetzt mit seinen Inseraten beteiligt,
wenn die SPD mit ihrer Wahlkampfanzeige mir die Absicht der Krise und den Willen zur Krise unterstellt.
Ich habe klipp und klar gesagt — und der bisherige Ablauf der Diskussionen in den letzten fünfeinhalb Jahren spricht für die Richtigkeit dieser meiner Auffassung —: Wenn wir Alternativen anbieten, werden sie nach sattsam gemachten Erfahrungen abgelehnt. Mehr noch: unsere Alternativen — siehe Vorschlag, Steuersenkungen 1969 und 1970 nicht vorzunehmen — wurden in demagogischer Weise zur Aufwiegelung der Arbeitnehmer draußen im Lande gegen uns benutzt.
Die Bundesregierung hat doch damals, bis kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen,
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Straußden Eindruck aufrechterhalten, als kämen die Steuersenkungen am 1. Juli 1970.
Die Wahlen waren vorbei, und es hieß: April, April; die Konjunkturlage erlaubt die Senkung der Steuern nicht, wie man sie noch am 5. Juni 1970 vorgeschlagen und am 18. Juni 1970 dann in diesem Hause abgelehnt hat.
Diese Äußerungen können nicht anders verstanden werden, als daß die Bundesregierung lieber weitere Inflationierung, weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nimmt als die Rezepte anzuwenden,
die wir von der Opposition für notwendig halten und oft genug vorgeschlagen haben.
Es ist und bleibt nicht nur meine Meinung im Alleingang, sondern unsere gemeinsame Meinung in der CDU/CSU,
daß wir erst, wenn die Lage noch schlechter geworden ist — das gilt jetzt vor allen Dingen auf dem Gebiet der Finanzen
— nein, dafür sorgen Sie — Aussicht haben, mit unseren Vorstellungen, Warnungen und Vorschlägen gehört zu werden.
Wir sind doch nicht Ersatzregierung. Sie verschweigen doch ernsthafte Auskünfte, wie es finanziell nach dem Jahre 1975 weitergehen soll. Verlangen Sie denn von uns, daß wir in der Öffentlichkeit vorschlagen sollen, was Sie tun müßten, und daß wir den Mut für das aufbringen, was zu tun Sie sich weigern?
Ich habe das vorher schon einmal zitiert.
Wer das anders auslegt, ist ein Fälscher, Verleumder und Nachrichtenschwindler.
Schonungslose Offenheit ist vor allem in der Finanzpolitik erforderlich. Die Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden, Bahn und Post wird sich in diesem Jahr um 50 bis 60 Milliarden DM erhöhen. Allein die Verzinsung dieser Mehrverschuldung macht so viel aus, wie der Mehrertrag der Anhebung der Mehrwertsteuer um einen ganzen Punkt bedeuten würde.
In nur zwei Jahren — 1974 und 1975 — verschuldetsich der Bund — ohne Bahn und Post — zur Finanzierung seiner Ausgaben genauso hoch wie in den 20 Jahren von 1949 bis 1969.
Ich möchte Sie, Herr Finanzminister, hier ernsthaft bitten, diesen faulen Zauber — ich kann auch sagen: fleißigen Zauber nicht zu wiederholen, den Sie mir das letzte Mal entgegengehalten haben, als ob die Altschulden, nämlich Auslandsschulden, Umstellungsausgleichsforderungen im Zusammenhang mit der Währungsreform, in Höhe von etwa 14 Milliarden hier herangezogen werden könnten. Die erste Bundesregierung und die auf sie folgenden Bundesregierungen haben an Neuschuldenaufnahme von 1949 bis 1969 31 Milliarden DM auf sich genommen — in zwei Jahrzehnten, und das machen S i e in zwei Jahren!
Auf der Grundlage der beschlossenen Programme und Gesetze werden die Defizite ab 1976 noch höher. Auch eine Konjunkturbelebung ändert daran nichts. Das Berliner Institut DIW sagt in seinem Wochenbericht vom 6. März:Die öffentlichen Ausgaben und Einnahmen klaffen gegenwärtig so weit auseinander, daß die Lücke sich weder im Gefolge einer günstigen konjunkturellen Entwicklung noch durch sparsame Haushaltsführung schließen wird.Da haben wir doch das Recht, zu fragen: Was machen Sie denn dann, um mit diesem Problem fertig zu werden?
Das wollen wir hier wissen.Der Grund liegt doch nicht in der sogenannten Steuerreform mit dem behaupteten, mittlerweile fragwürdig gewordenen Ausfall von 14 Milliarden DM. Das ist doch nur eine Teilerstattung dessen, was durch inflationär bedingte Entwicklung der Lohnsteuer vorher kassiert und gleich ausgegeben worden ist. Sie liegt im inflationären Anstieg der Staatsausgaben und ihrem Anteil am Sozialprodukt seit 1969, verstärkt seit der Übernahme des Finanzministeriums durch Herrn Schmidt. Im Jahr 1969 nahm der Staat — Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung — von jeder in der Volkswirtschaft verdienten Mark 37 Pfennig in Anspruch. Als Herr Schmidt in die Rheindorfer Straße zog — nach Schiller —, waren es 39 Pfennig. 1974 waren es 43 Pfennig, und 1975 werden es voraussichtlich schon 45 Pfennig sein —
genausoviel wie im ersten Entwurf des SPD-Langzeitprogramms unter Vorsitz des heutigen Bundeskanzlers als langfristiges Ziel erst für 1985 angestrebt worden ist. Hier zeichnet sich doch eine Entwicklung ab, Herr Bundeskanzler, bei der man eine Klärung der Ansichten und eine Klärung der Fronten, auch auf dem Wege der klaren Gegenüberstellung, verlangen muß. Wollen wir auf diesem Wege fortfahren und den Privatspielraum des verfügbaren
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10974 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
StraußEinkommens immer stärker einschränken und die Staatsquote immer stärker ausdehnen? Das ist doch eine Weichenstellung, über die man nicht durch Zahlentricks oder verbale Schauspiele hinwegkommen kann.
Die „Welt" schreibt vorgestern, unter dem Motto, alles werde besser, schöner, größer, würden die Folgen von Versprechungen verdrängt und verharmlost. Die „Welt" gebraucht den bekannten Vergleich: Aus dem Regierungslager, schreibt Herr Gillies, stammt das Gleichnis vom Fensterputzer, der aus dem 87. Stockwerk eines Wolkenkratzers abstürzte, weil er Warnungen mißachtete und sich nicht anschnallte. Als er an der dritten Etage vorbeiflog, murmelte er: Was die Meckerer da oben nur wollen, bisher ist noch alles gutgegangen!
Schon 1975 stößt der Staat mit seinen Schulden an die Grenzen des kapitalmarktpolitisch und finanzpolitisch Vertretbaren und muß laufende Ausgaben mit der Geheimwaffe der 10 Milliarden DM aus dem Stabilitätskeller der Bundesbank finanzieren. Genau das Gegenteil haben Sie der Öffentlichkeit und diesem Hause versprochen.
Die eigentlichen Probleme kommen aber erst nach 1975. Allein beim Bund ist ein Defizit von über 30 Milliarden DM zu erwarten. Würde dieses Defizit voll mit Schuldenaufnahmen finanziert, so wäre das durch das Grundgesetz verboten. Der Bund würde in einem Jahr dann genausoviel Schulden aufnehmen wie in den 20 Jahren von 1949 bis 1969.
Dazu brauchte Herr Apel in den beiden letzten Jahren noch zwei Jahre; im Jahr 1976 schafft er es in einem Jahr. Glauben Sie wirklich, Sie könnten die Schuldenlawine einfach so vor sich herschieben, Jahr für Jahr größer werden lassen, allen Dementis zum Trotz? Sie finden doch keinen wirklichen, seriösen Experten, der den von Ihnen verschuldeten Zwang zur Notwendigkeit einschneidender Belastungen der Bürger ab 1976 leugnen würde. Ich brauche mich hier nur auf den gleichen Bericht des Berliner Institutes zu berufen. Aber selbst Herr Apel hat mehrfach zugegeben, daß für den von der Regierung noch im letzten Jahr beschlossenen Finanzplan für die Jahre bis 1978 das Geld nicht da ist. So in dem Interview „Journalisten fragen — Politiker antworten". Und er hat Steuererhöhungen nicht ausgeschlossen. Er hat verharmlosend gemeint, in erster Linie seien es Ausgabenkürzungen. Jetzt haben wir aus dem Bundesrat von ihm gehört: „Sparen, sparen, sparen!" Oh, welch eine konservative, reaktionäre Einstellung! Früher hätte man sie beinahe als Anfall einer faschistoiden Rückständigkeit bei den anderen Parteien bezeichnet. Im Vorwort zum Finanzplan schrieb Herr Apel wörtlich — im Finanzplan! —, daß die Ausgaben schon auf das Wesentliche und Notwendige beschränkt seien, ohne dabei Leistungsansprüche einzuschränken, die den Bürgern gesetzlich zugesichert sind. Wenn ereinerseits sagt, das Geld für die Erfüllung des Finanzplans sei gar nicht vorhanden, und andererseits kurz vorher gesagt hat, der Finanzplan streiche schon alle Ausgaben auf das unumgänglich Notwendige und Lebenswichtige zusammen — wie sollen denn diese beiden Angaben für jemanden, der noch zu denken vermag und über das normale Einmaleins verfügt, in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können?
Der Regierungssprecher im Deutschlandfunk am letzten Sonntag: „Harte politische Entscheidungen stehen als Folge der Finanzlage bevor." Herr Apel hatte in der „Welt am Sonntag", vorletzte Ausgabe, zu der Frage, ob es Steuererhöhungen gibt, nicht Stellung nehmen wollen. Genauso hat er sich gedrückt, als er dem „Münchner Merkur" Auskunft auf dieselbe Frage geben sollte. Wenn das Vertrauen wiederhergestellt werden soll, muß die Regierung die Wahrheit über die wirkliche Finanzlage und ihre Entwicklung in schonungsloser Offenheit darlegen. Das ist die erste Voraussetzung zur Behebung der Vertrauenskrise und zu einer verantwortlichen Zusammenarbeit aller in diesem Hause vertretenen politischen Parteien, um dieser Krise Herr zu werden.
Was Politiker des zweiten Gliedes wie Herr Haehser, Herr Porzner, Graf Lambsdorff sagen, es gebe im Jahr 1976 keine Steuererhöhungen, das interessiert uns nicht. Wir wollen von den Verantwortlichen der ersten Etage, von Herrn Schmidt und Herrn Apel, hören, was sie auf diesem Gebiete vorhaben und wie sie sich die Lösung dieses Problemes vorstellen.
Sie wissen doch genausogut wie wir — aber Sie müssen es sagen, weil Sie die Mehrheit haben und Sie die verfassungsmäßige Verantwortung dafür tragen —, daß entweder Steuererhöhungen und bzw. oder einschneidende Abstriche an beschlossenen Leistungen oder dann nur eine Politik der permanenten Geldschöpfung mit trabender Inflation und unübersehbaren destruktiven Folgen für unser gesellschaftliches Gefüge die möglichen Alternativen sind. Das sollte doch hier einmal gesagt werden statt des verwirrenden Zahlenspiels mit verbalen Ausreden, wie wir sie seit Jahr und Tag nunmehr hören.
Die Finanzlage der Sozialversicherung kann hier nur mit einem Wort erwähnt werden; es werden andere darüber sprechen. Aber unsere Forderung auf Klarheit in der finanziellen Entwicklung erstreckt sich sowohl auf die fiskalischen Instanzen in Bund, Ländern und Gemeinden wie auf die parafiskalischen der Sozialversicherungen. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wurden zuletzt am 1. Januar dieses Jahres erhöht. Das reicht doch bei weitem nicht aus. Der Bund muß mit 3 Milliarden DM zusätzlich einspringen. Es bleibt völlig offen, ob die 3 Milliarden DM ausreichen — nach Meinung des Bundesrechnungshofes offensichtlich nicht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10975
StraußBei der Krankenversicherung steigen die Kosten und Beiträge explosionsartig an. Hier werden auf dem Wege natürlich der Selbstverwaltung die Beiträge jeweils durch Beschlüsse der örtlichen Gremien erhöht; dann braucht die Bundesregierung sich nicht mit diesem Problem zu befassen.
Die Entlastung der Rentenversicherung und die Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung führt aber am Ende mit der Erhöhung der Beiträge zu genau demselben Ergebnis. Darüber wird ein weiterer Redner von uns sich äußern.Wie die Entwicklung bei der gesetzlichen Rentenversicherung ist, mag einer späteren Prüfung vorbehalten bleiben.Ich will hier nicht die Debatte zur Steuerreform, die bei der Erörterung des Jahreswirtschaftsberichts geführt worden ist, wiederholen. Wir sind keine Trittbrettfahrer; diese Reform überlassen wir Ihnen gerne. Wir legen nur Wert auf die Feststellung, daß wir die gleichmacherische Änderung des Systems in der Abzugsfähigkeit der Sonderausgaben verhindert haben und auch in Zukunft, wenn wir können, verhindern werden, weil das nur zu einer Mehrbelastung eines Großteils unserer fleißig arbeitenden Bürger und ihrer Ehefrauen führt.
Ich habe von der Mehrbelastung der Wirtschaft durch die sogenannte Steuerreform bereits gesprochen. Diese Steuerreform ist aber ein Torso mit neuen Ungerechtigkeiten und Komplizierungen. Der neue Einkommensteuertarif hat doch gerade bei den unteren und mittleren Einkommen eine steilere Progression als der alte Tarif. Die Lohnsteuerzahler werden im Laufe des Jahres Milliarden D-Mark an Steuern mehr zahlen, die dann erst später zum Teil erstattet werden. Die Reform der Kraftfahrzeugsteuer ist begraben worden, die Reform der Körperschaftsteuer liegt auf Eis, die Vereinheitlichung der Sparförderung fand nicht statt, und Ihre Pläne zur Vermögensbildung sind allmählich nur mehr Gegenstand kabarettreifer Erörterungen in der Offentlichkeit geworden. Die Opposition ist nicht bereit, für diese Bilanz die Verantwortung mit zu übernehmen, auch nicht als Trittbrettfahrer.Eine Feststellung möchte ich treffen, Herr Bundeskanzler. Durch die früher erfolgten Anhebungen vieler Verbrauchsteuern im Werte von 8 Milliarden DM in einem Jahr, durch diese Art einer verkorksten und verplemperten Steuerreform, ferner durch die von Ihnen ja doch in Erwägung gezogene Erhöhung der Mehrwertsteuer in einer vorausschaubaren Zukunft nur zur Deckung Ihrer Defizite haben Sie den Spielraum für eine echte Steuerreform für eine nicht näher nennbare Zahl von Jahren verschwendet und verplempert.
Das ist die traurige Bilanz; denn dieses Geld hätten wir gebraucht, um eine echte Steuerreform durchführen zu können. Es bleibt Ihnen doch der Spielraum dann einfach nicht mehr dafür.Schonungslose Offenheit in der Finanzpolitik heißt auch, daß sich der Bundeskanzler Schmidt von den Praktiken des Finanzministers Schmidt lossagt und seinem Nachfolger verbietet, was er selbst getan hat, nämlich in Nacht-und-Nebel-Aktionen am Parlament vorbei Milliardenbeträge an Steuergeldern auszugeben.
Nach den Feststellungen des Rechnungshofes verstießen fast drei Viertel der ohne parlamentarische Genehmigung in Höhe von etwa 3 Milliarden DM weder im Haushalt noch in einem Nachtragshaushalt gemachten über- und außerplanmäßigen Ausgaben der Jahre 1972 und 1973 gegen Verfassung und Haushaltsrecht.
Für dieses skandalöse Sich-Hinwegsetzen über die Grundrechte des Parlaments trägt der damalige Bundesfinanzminister Helmut Schmidt allein die volle Verantwortung.
Er verfügte über die Steuergelder der Bürger, wie ein absoluter Monarch in Serenissimi Zeiten über die Staatskasse verfügt hat.
Wir haben in dem Zusammenhang Verfassungsklage erhoben. Angesichts dieses Tatbestandes allerdings, Herr Bundeskanzler, können wir in dieser Debatte über Ihre Ausführungen über das Rollenverständnis der Verfassungsrichter nicht hinweggehen; denn diese Ihre Aussagen sind schon wieder eine Art präventiver Einschüchterung, weil sie hier Grund haben, ein schlechtes Gewissen zu haben. Selbst die regierungsfreundliche Presse hat diese Ihre Ausführungen herb kritisiert. Ich will damit nicht das Recht zu sachlicher Kritik an Entscheidungen des Verfassungsgerichts in Frage stellen. Auch für uns gab es Urteile, die uns nicht paßten; man wäre ein Heuchler, wollte man das leugnen. Aber im Kern geht es bei Ihren Angriffen zum Rollenverständnis um die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht dazu da sei, politische Entscheidungen der parlamentarischen Mehrheit zu ändern. Ja, das Verfassungsgericht ist, wenn wir eines behalten wollen, auch dafür da. Sonst brauchen wir nämlich keines.
Das Verfassungsgericht hat auch das Recht, solche Entscheidungen aufzuheben und nicht nur etwa bei Gesetzen zweitklassiger Bedeutung, wie dem Eisenbahnwegekreuzungsgesetz, die Verfassungsmäßigkeit der Zuständigkeitsregelung zu prüfen.
Wer so argumentiert, der spricht sich für die Abschaffung aus. Solange das Verfassungsgericht besteht, wird es ja nur mit den Gesetzen und Beschlüssen der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit befaßt werden. Auch diese ist an die Artikel der Ver-
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StraußFassung gebunden. Das muß durch ein unabhängiges Gericht kontrolliert werden. Was sollen schließlich Redensarten aus dem Munde der Propagandisten von SPD und FDP wie „Prozeßhansel" oder „Mißbrauch des Verfassungsgerichts"? Wenn ein zuständiges Verfassungsorgan oder eine nach dem Gesetz dafür zuständige Institution dieses Gericht in einer Frage, für die dieses Gericht kompetent ist, anruft, ist das doch ein völlig zulässiges rechtsstaatliches Verfahren, das nicht mit solchen Ausdrücken in den Dunstkreis gar noch des Illegalen, Sabotageartigen oder Obstruktiven hineingezerrt werden darf.
Dasselbe gilt auch für Ihre damaligen Äußerungen, die Anrufung des Verfassungsgerichts zur Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages sei ein Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland gewesen. Diese Ihre Denkweise hat ja eine Vorgeschichte. Und in dem Zusammenhang haben wir hier ja auch die eigenartige Informationspolitik des Herrn Staatssekretärs Bölling erlebt — sicherlich auftragsgemäß —; denn zu der Behauptung der CDU-Abgeordneten Lenz und Vogel, Bundeskanzler Schmidt habe sich in die Reihe derer gestellt, die offen oder versteckt das Verfassungsgericht angreifen, und seine Bemerkungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit könnten als Versuch mißverstanden werden, das Karlsruher Gericht unter Druck zu setzen, hat Bölling in der Fernsehsendung „Panorama" erklärt, hier handele es sich um eine mutwillige Verdrehung der Aussagen:Der Bundeskanzler hat über jeden Zweifel klar gemacht, daß an der Verfassung des Karlsruher Gerichtes nicht gebastelt werden dürfe und daß er sich im Vorfeld des Urteils über § 218 nicht äußern werde. Die Bemerkung des Kanzlers, daß die Richter das Recht auszulegen und, wenn der Gesetzgeber sie im Stich lasse, vielfach auch selber Recht zu setzen hätten, kann nur von denen als Pressionsversuch mißverstanden werden, denen aus parteipolitischen Gründen an einem solchen Mißverständnis gelegen ist.
Wer den Text der Äußerungen des Kanzlers liest, der merkt sofort, daß Herr Bölling hier zum Gegenstand seiner regierungsamtlichen Polemik Äußerungen des Kanzlers macht, die von Vogel und Lenz überhaupt nicht kritisiert worden sind, sich aber ausschweigt zu dem, was Gegenstand der Kritik der beiden CDU-Abgeordneten gewesen ist. Das kann man in anderen Kreisen machen, Herr Bölling, in denen Sie früher verkehrt haben, als Sie das Amerika-Bild in Deutschland in eigenartiger Weise darstellten.
Ich könnte sehr wohl zur Glaubhaftmachung dessen, was Konfrontierung im grundsätzlichen bedeutet, auch auf dem Sektor Bildungspolitik einiges beitragen; ich will es wegen der Kürze der Zeit hier unterlassen. Aber wenn in den nur geringfügig geänderten Rahmenrichtlinien z. B. in Nordrhein-Westfalen 1973 als Lehrziel für alle Klassen stand: Fähigkeit zum Widerstand gegen nicht akzeptierte Herrschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Zwänge, Fähigkeit und Bereitschaft, eigene Gefühle, Widerstände und Bedürfnisse, die der Anpassung an gesellschaftliche Zwänge entgegenstehen, als Triebkräfte für politische Veränderungen einzusetzen, wenn dort steht: Kenntnis und Entwicklung von Innovationsverfahren oder Widerstandstechniken —
das ist doch die Handreichung für die Radikalen, das ist ein Mißbrauch unserer Kinder, die für die Eltern und für sich da sind und nicht für die Gesellschaft und für den Staat.
Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen noch ganz wenige grundsätzliche Bemerkungen machen. Bei der Debatte über die innere Sicherheit haben wir ein merkwürdiges Spiel von Doppelstrategie erlebt. Zuerst sprach der Staatsmann Helmut Schmidt, und dann sprach der Parteivorsitzende Willy Brandt — mit schön verteilten Rollen und mit Zukunftsperspektiven, die wir sorgfältig verfolgen werden. Auch das ist eine Art Doppelstrategie. Der Parteivorsitzende der SPD hat von den gesellschaftlichen Problemen gesprochen, die man lösen müsse, wenn man dieser Gesellschaft ein festes Sicherheitsgefüge geben wolle. Die Politik der von SPD und FDP getragenen Bundesregierung hat dieser Gesellschaft nicht ein Mehr an Geborgenheit, nicht ein Mehr an Zukunftssicherheit, nicht ein Mehr an Vertrauenskraft gegeben, sondern ein Weniger. Sie hat nicht zuletzt bei den jungen Menschen eine seelische und materielle Zukunftsangst geschaffen, die sich durch Fortsetzung der gegenwärtigen Politik zu einer unübersehbaren Belastung auswirken muß.
Dieselben, die versprochen haben, bis zum Jahre 1975 den Numerus clausus überhaupt aufzuheben, müssen doch heute sehen, daß sie mit ihrer Propaganda, die höchsten Abiturientenzahlen seien ein Beweis für die höchste Bildungsqualität, für die höchste Qualität der Bildungspolitik eines Landes, mit der Propaganda, daß der eigentliche Mensch der Zukunft erst beim Abiturienten beginne, doch einen Stau vor den Toren unserer Hochschulen hervorgerufen haben. Dieser Stau führt ja heute schon zu ganz gefährlichen Zuständen; denn wenn diese Menschen jahrelang keine Aussicht haben, den gewünschten Beruf zu ergreifen, dann werden sie sehr leicht nützliches Verbrauchsmaterial für die Entwicklungen, über die wir am letzten Donnerstag gesprochen haben. Noch mehr fürchte ich aber, daß nach dem Stau vor den Toren der Hochschulen der Stau vor den Toren der Berufswelt kommen wird.
Und haben nicht die Regierungskoalition und die Bundesregierung entweder ihr Unvermögen oder ihren mangelnden Willen in der Debatte am letzten Freitag bekundet, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ernsthaft, auch in diesem Zusammenhang
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Straußlanger gesellschaftspolitischer Perspektiven, wirklich anzugehen?
Wir werden jedenfalls nicht aufhören, die Dinge im Lande beim richtigen Namen zu nennen.
Wir werden nicht aufhören, Solidarität zu üben, wo Solidarität nicht zur verbalen Beschwichtigung und psychologischen Beschwörung, sondern mit dem Ernst zur wirklichen Lösung der Probleme und mit dem Mut zur Unpopularität in der Übernahme der Regierungsverantwortung gehandhabt wird. Eine funktionsfähige Opposition ist auch dann notwendig, wenn die Regierung nicht funktionsfähig ist.
Das böse Wort von der Nichtregierbarkeit der Bundesrepublik durch die CDU/CSU ist doch nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver von der Regierungsunfähigkeit der Regierungsparteien, vornehmlich der SPD.
Künstliche Aufregung, heuchlerische Empörung, Verdrehung der Zusammenhänge, Verfälschung der Sinngehalte sind die Methoden derer, die mit den Sachproblemen nicht fertig werden und deshalb dauernd von uns auch in der grundsätzlichen Konfrontation gestellt werden müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Beifall, den die Fraktion der Opposition dem Kollegen Strauß in gewohnter Manier gespendet hat, könnte es uns ermöglichen, die Debatte etwas abzukürzen, weil dieser Beifall zeigt, daß es Zeitverschwendung wäre, ein Versuch am untauglichen Objekt, noch weiter zu versuchen, zwischen dem Herrn, der eben gesprochen hat, und seiner Partei bzw. seiner Schwesterpartei zu differenzieren.
Mit Phonstärke haben Sie uns bewiesen: Strauß ist die Union — Union ist Strauß. Wir nehmen das zur Kenntnis und die Bürger im Lande sicher auch.
Dabei muß es dahingestellt bleiben, wieweit das bei Ihnen Überzeugung oder nur mangelnder Mut zur Distanzierung ist.
Ich will gar nicht von dem Ausmaß der Selbstverleugnung sprechen — um das sehr vorsichtig zu formulieren —, das wohl einige Kollegen aus der CDU/CSU, die Gegenstand der Sonthofener Betrachtungen des CSU-Vorsitzenden gewesen sind, bei dieser Verhaltensweise hier heute aufbringen müssen.
Dies ist allerdings ja fast nicht mehr nur Privatsache. Mir fällt dabei ein Sprichwort ein, das ich jetzt aber nicht zitiere, weil mir der Kollege Strauß einen Ordnungsruf nicht wert ist.
Herr Abgeordneter, ich hoffe, daß Sie grundsätzlich jedem Ordnungsruf aus dem Wege gehen.
Verehrter Herr Präsident, dies habe ich bisher ohne große Mühe, wie ich mir zu sagen erlaube, erreicht. Aber es gibt ja Situationen, in denen man sich überlegt: Soll man es vielleicht riskieren, um gewisse Dinge deutlich zu machen? So war diese Bemerkung gemeint.
— Das gehört so zur Sache wie das, was Sie immer sagen.
— Sie sitzen leider so weit hinten, daß ich Ihre sicher sehr bedeutenden Zwischenrufe akustisch nicht verstehen kann.Ich wollte sagen — das ist jetzt sehr ernst gemeint —:
Mich hat diese Rede von Sonthofen überhaupt nicht überrascht,
denn ich habe mir den Herrn nicht anders vorgestellt und Ihre Politik insgesamt eigentlich auch nicht.
Das ist doch nur ein unfreiwilliges Eingeständnis —auf Tonband und Papier — dessen, was Sie hierseit fünf Jahren bewußt oder unbewußt praktizieren.
Es hat bei Ihnen — das ist im Protokoll nachzulesen — eine gewisse Empörung ausgelöst, als ich im Dezember bei der endgültigen Verabschiedung der Gesetze zum Konjunkturprogramm sinngemäß sagte: Damit verdeutlicht diese Regierung, damit verdeutlichen wir, daß wir nicht Brüning spielen wollen. Ich habe damals hinzugefügt, wir hätten Veranlassung, diese Feststellung mit der Warnung zu verbinden, daß Sie nicht in die Rolle anderer Zeitgenossen — ich habe das bewußt so vorsichtig ausgedrückt, und ich bleibe bei dieser Formulierung — geraten mögen. Ich glaube, was wir inzwischen erfahren haben, ist doch eine Bestätigung dafür, daß
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Kirstdiese Warnung von damals, die Sie zum Teil empört hat, nur allzu berechtigt gewesen ist.Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich nun zu dem zentralen Punkt — daran kann man sicher viele Bemerkungen auch zu allgemeinen politischen Fragen aufhängen — der Auseinandersetzung über diesen Haushalt, der auch in der Rede des ersten Sprechers der Opposition eine wesentliche Rolle gespielt hat, kommen, nämlich zu dem Vorwurf der Zerrüttung der Finanzen, dem Vorwurf des Finanzchaos. Wer die Protokolle dieses Hohen Hauses verfolgt, wird feststellen, daß nicht nur Herr Strauß, sondern die gesamte Opposition seit fünf Jahren als die Propheten dieses sogenannten Finanzchaos agieren. Seit 1970 hat man uns hier seitens der Opposition Jahr für Jahr ein solches Finanzchaos eingeredet.
— Herr Kollege, ich muß Ihnen sagen, wenn Sie glauben, dieses herbeigeredete und — so muß man manchmal ja fast fragen — taktisch herbeigesehnte Finanzchaos jetzt am Zipfel greifen zu können, dann täuschen Sie sich. Das will ich Ihnen gerne beweisen.
— Das tue ich. Das ist auch besser, als dauernd Ihren Zwischenrufen zuzuhören.
Sicher befindet sich die Bundesrepublik — das leugnet gar niemand, und wir haben auch keinen Grund, das zu leugnen — in einer schwierigen, gewiß auch ungewöhnlichen, aber keineswegs chaotischen Haushaltslage, die durch das Erfordernis dokumentiert wird, zum Ausgleich des Bundeshaushalts 1975 knapp 23 Milliarden DM Nettokreditaufnahme zu veranschlagen. Dies ist, wie gesagt, ungewohnt, deshalb schockiert es vielleicht, aber es ist weder ein Zeichen für Chaos, noch ist es unvertretbar.Diese sprunghafte Steigerung — das ist zugegeben, daß es eine sprunghafte Steigerung ist — muß man im Zusammenhang sehen. Sprunghaft kann es eben nur als Folge einer zurückhaltenden Schuldenpolitik dieser Regierung in den vergangenen Jahren sein. Das mag man dann als Grundlage des Vergleichs nicht außer acht lassen. Wer uns hier sprunghaftes Ansteigen vorwirft und ein solches kritisiert, der bestrafte ja nachträglich die Finanzpolitik der Jahre 1970 und 1973.
Lassen Sie uns doch einmal sehen, wie denn das in den vergangenen Jahren war.
Nun ist Herr Strauß, wie er das immer zu tun pflegt, schon zehn Minuten nach Ende seiner Rede verschwunden,
aber wir vermissen ihn gar nicht.
Es fällt mir nur auf, weil ich zunächst einmal feststellen möchte, daß in den ersten beiden Jahren, in denen Herr Strauß Finanzminister in diesem Lande war — und das ist ja eine der Möglichkeiten, die er sich für sein Comeback vorstellt —,
— ich habe von einer der Möglichkeiten gesprochen— 1967 6,6 Milliarden DM,
1968 5,8 Milliarden DM Kredite aufgenommen wurden — in einer Lage, von der Sie ja selbst behaupten, daß sie wirtschaftlich nicht schlechter war als die gegenwärtige — das Oho war also verfehlt —; das bleibt immerhin einmal festzustellen. In nur zwei Jahren — 1967 und 1968 — hat Herr Strauß bei einem Haushaltsvolumen, das damals genau 50 O/o des heutigen Haushaltsvolumens betrug, 12,4 Milliarden DM Schulden gemacht.
Dies sind mehr, als diese Regierung in den vier Jahren 1970, 1971, 1972 und 1973 insgesamt gemacht hat. Da waren das nämlich 9,2 Milliarden DM, d. h. ungefähr so viel wie im Jahre 1974.
— Was anderes habe ich auch gar nicht gesagt, Herr Leicht.
— Darf ich Ihnen Nachhilfeunterricht geben: 1970, 1971, 1972 und 1973 sind vier Jahre, stimmt's?
— Ich habe doch soeben gesagt, Herr Leicht, diese 12,4 Milliarden DM waren mehr als in den ersten vier Jahren dieser Regierung — 1970, 1971, 1972, 1973: 9,2 Milliarden DM — zusammen, und dann kommt 1974 dazu. Das hatte ich schon gesagt, als Sie Ihren Zwischenruf machten.
— 9,4 Milliarden DM, das sei unbestritten, Herr Kollege Leicht.
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Kirst— Zu 1975 komme ich gleich. — Aber dabei darf nicht vergessen werden, daß allein der Bund im gleichen Zeitraum — 1970 bis 1974 — 7 bis 8 Milliarden DM an Reserven bei der Bundesbank bilden konnte, die uns heute sehr zupaß kommen, inzwischen allerdings, wie Sie wissen, zu einem erheblichen Teil in Anspruch genommen worden sind.Meine Damen und Herren, ich sage das ja nicht aus Spaß, sondern um klarzustellen, daß eine solche Finanzierungssituation absolut nichts Ungewöhnliches ist.
Wir werden im Jahre 1975 mit einer Nettokreditaufnahme von 14,3 % arbeiten müssen. Aber die Zahlen von 1967 und 1968, die ich vorher nannte, und zwar 8,9 und 7,6 %, waren auch schon ganz schön.
Meine Damen und Herren, wir bekennen uns ganz ausdrücklich — —
— Herr Schröder, ich hätte Ihnen mehr zugetraut! — Wir bekennen uns ganz ausdrücklich zu der eigenen politischen Verantwortung, aber wir entlassen die Opposition in diesem Hause nicht aus ihrer ganz glasklaren Mitverantwortung für diese Notwendigkeit; das werde ich Ihnen jetzt vorführen.
Es gibt nur zwei Gründe — nur zwei! — für die Zunahme der Staatsverschuldung im Jahre 1975; der eine ist die Steuerreform, der zweite ist die wirtschaftliche Entwicklung.
Insoweit sind wir uns sicher sogar einig.Meine Damen und Herren, ich habe nicht die Absicht, hier im einzelnen eine Steuerreform-Debatte zu führen; das kann bei der Behandlung des Einzelplans 08 — wenn dafür noch ein unstillbares Bedürfnis bestehen sollte — gewiß geschehen. Dann wird zugleich nachzuweisen sein, daß auch das, was der Kollege Strauß dazu gesagt hat, natürlich nicht stichhaltig war.
Fest steht, daß das Ausmaß des Steuerausfalls alleinfür den Bund bei 7 bis 8 Milliarden DM liegen wird.
— Auch in diesem Jahr, Herr Kollege Schröder. So entspricht dies wiederum den Steuerschätzungen, die in den Haushalt eingegangen sind.Dabei darf ich daran erinnern, daß am Anfang der Wahlperiode, vor vier Jahren, eine Konzeption einer aufkommensneutralen Steuerreform vorhanden war. Aber wir wissen alle, daß sich diese Konzeption im Laufe der Jahre geändert hat, und heute müssen wir mit einem Ausfall von 13 bis 15 Milliarden DM — in dieser unumstrittenen Größenordnung — rechnen.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition: Wer in diesem Hause nachweisen kann, daß er gegen den genannten Steuerausfall gestimmt oder auch nur gesprochen hätte, der möge hierher-kommen und das sagen. Das bringt eben keiner von Ihnen fertig, und darin liegt Ihre Mitverantwortung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder ?
Meinem alten Landsmann Schröder selbstverständlich besonders gern!
Herr Kollege Kirst, würden Sie diesem Hause und der deutschen Öffentlichkeit gegenüber zugeben, daß der weitaus größere Anteil der geschätzten Steuermindereinnahme auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Monate zurückzuführen ist und nicht eine Auswirkung der sogenannten Steuerreform ist?
Verehrter Kollege Schröder, wenn Sie unsere gemeinsame hanseatische Zurückhaltung kultivieren würden, wären Sie etwas geduldiger gewesen. Darauf komme ich nämlich noch. Aber auch dabei werden Sie in Ihrer Fraktion nicht gut aussehen.
Bleiben wir also dabei: Es gibt niemanden in diesem Hause — weder von uns noch von Ihnen —, der auch nur mit einer Spur von Gerechtigkeit den Anspruch darauf erheben kann, an diesem Steuerausfall unschuldig zu sein, im Gegenteil; insofern ist Herr Strauß hier ja heute Kronzeuge gewesen, — um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen. Der Unterschied zwischen der Regierungskoalition und der Opposition besteht nur darin —
— in diesem Punkt nur, Herr Möller —,
daß Sie diesen Steuerausfall ein Jahr früher haben wollten und daß wir dann eben schon 1974 so hohe Kreditaufnahmen — höher als 9,5 Milliarden DM! — nötig gehabt hätten.
Sie haben doch mit Ihrem sogenannten Inflationsentlastungsgesetz, das in Wirklichkeit ein Steuer-
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10980 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Kirstreformverhinderungs- und Inflationsförderungsgesetz gewesen ist, den finanzpolitischen Preis für die Steuerreform — wenn ich es einmal so sagen darf — verdorben; das ist doch der Zusammenhang gewesen.
— Entschuldigen Sie, verehrter Herr Kollege Möller, daran habe ich im Moment nicht gedacht. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß Sie mir widersprechen wollten. Selbstverständlich galt mein Einwurf dem Kollegen Möller aus Lübeck. Aber ich wollte das mit der Hansestadt nicht schon wieder bringen; deshalb habe ich ihn nicht weiter klassifiziert.Meine Damen und Herren, diese Antiinflationsgesetze der CDU/CSU hätten, wie gesagt, nur die Steuerreform verhindert. Und darüber hinaus haben Sie ja mit Ihrer CDU-Mehrheit im Bundesrat als Preis für die Zustimmung zur Steuerreform den Steuerausfall noch einmal ungefähr um weitere 2 Milliarden DM heraufgetrieben. Dies also, um es noch einmal zu sagen, wird Ihnen als Mitverantwortung nicht erlassen werden können; da gibt es kein Herausmogeln. Das werden Sie vielleicht eine Zeitlang — ich hätte beinahe gesagt: in einem Dunstkreis — verschwinden lassen können, aber es wird nicht lange dauern, dann wird auch die Bevölkerung merken, daß es so und nicht anders war.Lassen Sie mich, bevor ich das Thema „Steuerreform" verlasse, in diesem Zusammenhang noch einen anderen Punkt ansprechen. Ich habe ja eben von den Ausfallzahlen gesprochen, sowohl von den Ausfallzahlen insgesamt als auch von den Ausfallzahlen, wie wir sie bei der Aufstellung des Bundeshaushaltes berücksichtigt haben. In diesem Unterschied kommt der ungeschmälerte Anspruch des Bundes auf Erfüllung der Revisionsklausel auf Mark und Pfennig durch die Länder zum Ausdruck, und die FDP unterstützt die Bundesregierung voll und ganz bei der beharrlichen Durchsetzung dieses Anspruchs.
— Und es wäre gut, Herr Möller , wenn wir dabei auch Ihre Unterstützung hier im Bundestag hätten; das wäre ein Stück praktischer Solidarität der Demokraten hier in diesem Hause.
Ich komme auf diesen Begriff am Schluß noch einmal zurück.Wenn die Länder — und ich sage das ganz unterschiedslos, auch wenn ich auf der Bundesratsbank den Finanzsenator des Landes Hamburg sehe — hier nicht vertragstreu sind, ist dies eine gefährliche Erschütterung des Prinzips des kooperativen Föderalismus. Deswegen sollten wir uns bei allem sonstigen parteipolitischen Streit hier intern dafür einsetzen.
Nun komme ich, Herr Kollege Schröder , zu dem Punkt, den Sie vorhin schon angesprochen haben. Ich bestreite gar nicht — und das wissen Sie ja aus dem Haushaltsausschuß so gut wie ich —, daß ein zweiter Faktor die wirtschaftliche Entwicklung ist. Das schlägt sich nieder einmal in einer Reduktion des Steueraufkommens in drei Etappen von Juli über November bis März um etwa 8 Milliarden DM — ich nenne hier einmal runde Zahlen —, und das schlägt sich zum anderen nieder in der Notwendigkeit, der Bundesanstalt für Arbeit teils als Darlehen, teils in Form von Zuschüssen 3,1 Milliarden DM zur Verfügung zu stellen; dies alles ist ja auch Gegenstand von Änderungsanträgen der Koalitionsparteien in der zweiten Lesung.Nun gibt es sicher sehr komplexe binnen- und außenwirtschaftliche Zusammenhänge, Erklärungen und Gründe für die wirtschaftlichen Verhältnisse, für die wirtschaftliche Lage. Aber ich sage Ihnen ganz offen —
— ich glaube, das tue ich immer —: Wir müssen hier doch auch ganz entschieden den Preis für den allerdings ja unbestreitbaren Erfolg im Kampf um die Tendenzwende an der Preisfront sehen. Wir haben die damit verbundenen Risiken nie verschwiegen. Aber — und hier komme ich wieder zur gemeinsamen Verantwortung — wo bleibt eigentlich zunächst einmal ein Wort der Anerkennung für die Leistung im Kampf um mehr Preisstabilität, die in den letzten anderthalb Jahren erreicht worden ist? Das ist auch heute wieder von Herrn Strauß abgewertet worden, und er behauptet, bei ihm wäre es noch weniger gewesen.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Bitte, Herr Althammer!
Herr Kollege Kirst, möchten Sie wirklich, nachdem Sie zunächst einmal die Preissteigerungsrate auf 8 % getrieben haben, noch einen Dank dafür, daß Sie wieder auf 6 % heruntergekommen sind?
Herr Althammer, erstens waren es nicht 8 %, und zweitens — darauf komme ich gleich noch haben nicht wir die Preise hinaufgetrieben.
Wir machen ja die Preise nicht. Aber Sie patentierter Marktwirtschaftler werden ja nie begreifen,
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Kirstdaß in einer Marktwirtschaft nicht der Staat die Preise macht.
Dabei ist doch wohl — das darf man in aller Unbescheidenheit sagen; ich will Sie hier nicht mit Statistiken langweilen — diese Preisentwicklung in den letzten anderthalb Jahren im internationalen Vergleich zu sehen. Wir leben nun einmal nicht auf einer Insel der Seligen, isoliert von allen weltwirtschaftlichen Zusammenhängen. Wir können unser Land auch nicht in den Weltraum schießen. Wir leben in dieser Verbindung, in dieser internationalen Verflechtung. So gesehen ist dieser Erfolg ein neues kleines deutsches Wunder. Das sollten wir einmal anerkennen!
Wo sind denn die Propheten gewesen, die uns 10 % und mehr an Preissteigerungen für 1974 und 1975 prophezeit und,
wenn ich an Herrn Strauß denke,
gewünscht haben?
Wie würde denn von diesem Platz aus, den manche ja auch noch mit einem Laufsteg für Kandidatenkür verwechseln, agiert, getobt und gerast werden, wenn wir wirklich diese 10 oder 11 % Preissteigerungsrate heute hätten?
Das muß man sich doch einmal vorstellen. Das Bekenntnis zur Preisstabilität darf eben nicht nur ein Lippenbekenntnis gewesen sein. Wer hat denn mehr von Inflation gefaselt als Sie? Und wer hat etwas dagegen getan? Wir!
Sonthofen beweist doch letzten Endes: Ihnen ist die wirtschaftliche Entwicklung im Prinzip egal. Sie brauchen nur einen Punkt, an dem Sie Ihre Panikmache, Hysterie und Angstmacherei aufhängen können.
-- Das ist die reine sachliche Wahrheit, Herr Kollege Möller. — Bitte schön!
— Ich bin ja gerade dabei.Dazu gehört auch — ich muß das noch einmal bringen, weil der Herr Strauß dies heute wieder genüßlich ausgewalzt hat — dieses Wort von der —ich formuliere es jetzt einmal so — Inflationsschuldlüge. Etwas anderes ist das hier nicht. Das ersetzt für Sie das, was für andere in Weimar die Dolchstoßlegende gewesen ist.
Das hat Herr Strauß hier heute wieder kultiviert.
— Ich will nicht rätseln, wie Sie das eine und das andere meinen, Herr Carstens.Diese Regierung hat Inflation weder gewollt noch bewirkt noch fatalistisch in Kauf genommen.
Aber als es galt, Herr Althammer, die ersten Schritte zur Abwehr zu tun, da haben Sie und da hat Ihr Vorturner gepaßt. Ich erinnere nur an den Streit um die Aufwertung 1969.
Diese von Ihnen monatelang zum Nachteil der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung verschleppte Maßnahme mußte die erste sozialliberale Regierung als erste nachholen.
Wo waren Sie 1970 bei unseren Konjunkturdämpfungsmaßnahmen? Ich erinnere nur an ein Wort, bei dem Sie mir damals in unseren Auseinandersetzungen nicht widersprechen konnten,
nämlich das Wort vom stabilitätspolitischen Suppenkasper, den Sie hier bei unseren Maßnahmen gegen die Preisentwicklung nach 1969 dauernd gespielt haben.
Es ist doch nicht so, daß wir das nicht gesehen haben, Herr Carstens. Wir haben genau gewußt, daß die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Herbst 1969 in diesem Lande schwieriger werden würde, als sie vorher war — aus vielfachen Gründen. Das war uns ganz klar. Aber wir haben auf die Frage, die sich danach für uns stellte — sollen wir nun, weil wir wissen, es wird schwieriger, resignieren und Sie weiter regieren lassen und auf wichtige andere politische Vorhaben verzichten? —, eine klare politische Antwort gegeben.
Schon in der vorigen Legislaturperiode hat mich dieser Zitatenkrieg gestört. Er wurde ja seinerzeit noch viel mehr kultiviert. Ich habe damals gesagt: Falsche Zitate von damals werden dadurch nicht
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10982 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Kirstrichtiger, daß sie heute andere wiederholen. Damit will ich es hinsichtlich dieses Punktes bewenden lassen. Der ganz entscheidende Punkt, den Sie leugnen, besteht ja darin: Erfolg konnte eine Politik der Geldentwertungs- und Inflationsbekämpfung — die Inflation war bis zum Frühjahr/ Sommer 1973 primär importiert — erst haben, nachdem es damals politisch möglich war — und Sie wissen genauso wie wir, daß es früher politisch nicht möglich war —, eine fast lückenlose außenwirtschaftliche Absicherung aufzubauen. Bis dahin haben wir — wenn Sie so wollen — nachts die Dämme gegen die Geldentwertung gebaut, und tagsüber haben uns die Fluten der hereinströmenden Auslandsgelder diese Dämme wieder unterspült und eingerissen. Das ist die ganze Wahrheit der Jahre 1970, 1971, 1972, 1973 über die wirtschaftliche Entwicklung — und nicht Ihre Inflationsschuldlüge. Das muß hier einmal ganz deutlich ausgesprochen werden.
Auch das wird die Bevölkerung mit der Zeit begreifen. Deshalb wiederholen wir es ständig.
— Es bleibt richtig, während Ihre unwahren Beschuldigungen durch Wiederholen nicht wahrer werden, Herr Professor Carstens.
Lassen Sie mich nur noch ein Beispiel bringen. Ich will hier ja weder die Jahreswirtschaftsdebatte wiederholen noch der morgen möglicherweise statt-findenden Wirtschaftsdebatte vorgreifen. Ein tolles Beispiel für die krause Argumentation von Herrn Strauß haben wir doch wieder erlebt. Er hat davon gesprochen, daß diese Regierung —und das war der Zeitpunkt, von dem ich eben sprach — erst die Investitionen bestraft habe, um sie jetzt zu belohnen. Das kann man doch nur sagen, wenn man nicht begreift oder nicht begreifen will, daß unterschiedliche Situationen eben unterschiedliche Reaktionen verlangen.
Um es einmal einfach zu sagen — vielleicht begreifen Sie es dann —: Für den Regen brauche ich einen Regenschirm und für die Sonne einen Sonnenschirm. Das ist doch ein Unterschied.
Aber das wollen Sie eben nicht begreifen.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder ?
Bitte!
Herr Kollege Kirst, da Sie gerade von Wahrheiten und Unwahrheiten sprechen und der Opposition leider kein Apparat zur Verfügung steht, so daß man gelegentlich Behauptungen etwas länger nachprüfen muß, möchte ich Sie hier noch einmal fragen: Bestätigen Sie mir den Tatbestand, daß die Bundesregierung die Auswirkungen dessen, was Sie als Steuerreform bezeichnen, bereits voll im Entwurf des Haushaltsplanes, der uns im September vergangenen Jahres vorgelegt wurde, berücksichtigt hatte und daß demgemäß die zweimal veränderten Steuerschätzungen — mit den damit verbundenen Mindereinnahmen in Höhe von 13 Milliarden DM, die allein auf den Bundeshaushalt entfallen — ausschließlich auf die konjunkturelle Entwicklung zurückzuführen sind und gar nichts mit der sogenannten Steuerreform zu tun haben?
Herr Kollege Schröder, ich verstehe nicht ganz, warum Sie so langsam nachkommen.
— Ich habe sie im Kopf; da ist alles viel leichter. Herr Kollege Schröder, ich habe gar nichts anderes gesagt, sondern nur dargestellt, wie es ist: Gesamtausfall durch die Steuerreform zwischen 13 und 15 Milliarden DM; das werden wir am Ende genau wissen. Davon, auch bei voller Anwendung der Revisionsklausel, zu Lasten des Bundes so 7 bis 8 Milliarden DM. Das war in den Steuerschätzungen, die der Regierungsvorlage zugrunde lagen, enthalten. Das habe ich gar nicht bestritten. Deshalb waren wir in der Nettokreditaufnahme im Regierungsentwurf ja aber auch schon bei 15,6 Milliarden DM.Was jetzt dazugekommen ist, habe ich vor zehn Minuten — wenn Sie nicht Zahlen gesucht hätten, hätten Sie es hören können — ganz deutlich gesagt: daß aus wirtschaftlichen Gründen die Steuerschätzungen noch einmal um etwa 8 Milliarden DM zurückgenommen werden mußten. Ich habe zusätzlich noch die 3 Milliarden DM Haushaltsanforderung für- die BfA erwähnt. Sie können das sicherlich nachher im Protokoll nachlesen. In dieser nüchternen Analyse der Zahlen sind wir uns völlig einig.Was mir nur wichtig war festzuhalten — das wollte ich jetzt ohnehin gerade sagen —: die gemeinsame politische Verantwortung für die Ursachen, sowohl für die Steuerreform als auch für den Weg der wirtschaftlichen Stabilisierung. Das muß man immer wieder betonen, und alles andere von Ihnen ist nichts anderes als eine feige Flucht aus der Mitverantwortung.
Aber selbstverständlich würde das nicht genügen, wenn nicht diese Nettokreditaufnahme unter jedem denkbaren Aspekt für das Jahr 1975 — und über das Jahr 1975 reden wir heute — auch vertretbar wäre. Sie ist vertretbar, z. B. kapitalmarktpolitisch Ich glaube, das werden nicht einmal Sie bestreiten Das anerkennt die Bundesbank, das anerkennt diE Fachpresse. Wir haben es hier doch unter anderem damit zu tun, daß jede Sache ihre zwei Seiten, ihre gute und ihre schlechte Seite hat. Der Wirtschaftsminister hätte es derzeit konjunkturpolitisch sicher
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Kirstlich lieber, wenn auch die Verbraucher etwas mehr kauften. Wir wissen, daß das etwas anders ist. Das bewirkt eine größere Sparquote. Nebenbei: Ein gutes politisches Zeichen, daß Ihre Verunsicherungskampagne auch nur eine begrenzte Wirkung hat; denn Sparen heißt auch vertrauen.
Diese hohe Sparkapitalbildung — und da sind sich, wie gesagt, alle Fachleute einig, und zwar nicht nur in bezug auf den Bund; damit Sie nicht kommen, ich sähe nur einen Teil; wir wissen, daß Bahn und Post dazukommen, wir wissen, daß die Länder und die Gemeinden dazukommen - ermöglicht es, das zu machen.
Nach allen Beurteilungen wird das, was dann übrigbleibt, Herr Kollege Möller, ausreichen, um den privaten Bedarf, z. B. für Investitionen am Kapitalmarkt, zu decken. Das ist Punkt a.Punkt b: Diese Kreditaufnahme ist auch finanzpolitisch absolut vertretbar. Sie erreicht mit 14,3 % einen durchaus vertretbaren Rahmen, und sie führt weder im Jahre 1975 noch in den folgenden Jahren zu einer unvertretbaren Zunahme des Schuldendienstes.
Da werden uns Länder und Gemeinden allerdings beneiden: Wir werden im Jahre 1975 einen Schuldendienst von weniger als 5 % haben. Das darf man vielleicht gar nicht so laut sagen, damit die Länder und Gemeinden das nicht hören. Aber das ist eben auch ein Erfolg der zurückhaltenden Finanzierungspolitik der vergangenen Jahre.
Die Kreditaufnahme ist auch verfassungsrechtlich absolut zulässig. Wir haben den Spielraum, den uns die Verfassung läßt, noch nicht ausgenutzt. Da ginge noch etwas rein. Wir brauchen das nicht.Schließlich möchte ich, gerade und besonders für uns Liberale, für uns Freie Demokraten, sagen — es ist keine Erkenntnis von heute, indem ich aus der Not eine Tugend mache; das habe ich schon vor vier Jahren gesagt —: Auch gesellschaftspolitisch scheint es uns richtiger und besser zu sein, daß in dem verfassungsrechtlich, kapitalmarktpolitisch, finanzpolitisch vertretbaren Rahmen der Bürger dem Staat Gelder für Investitionen — und nur darum handelt es sich, und wer hier behauptet, wir würden laufende Ausgaben damit finanzieren, der sagt schlicht und einfach die Unwahrheit ,
Gelder für Investitionen, die ja nicht nur für den Tag sind, sondern die auch für kommende Generationen bestimmt sind,
daß der Bürger dafür Gelder auf dem Wege über Anleihen zur Verfügung stellt, die auch seiner eigenen Vermögensbildung dienen, und nicht über Steuern in einem Maße, das nicht erforderlich ist, weil Steuern endgültig weg sind.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schröder ?
Bitte sehr!
Herr Kollege Kirst, würden Sie dann den Bürgern einmal sagen, wie hoch die Steigerungsrate bei den Investitionen in den letzten zwei bis drei Haushaltsjahren war?
Diese Steigerungsrate ist sicher nicht besonders hoch, aber sie entspricht im Prinzip der allgemeinen Steigerungsrate des Haushalts.
Im Zusammenhang mit den Steuern fiel mir noch ein Punkt zur Konjunkturpolitik ein — da Sie mich gerade fragten, Herr Schröder —, den ich vorhin vergessen habe: Ihr einziger Beitrag zur Konjunkturpolitik in den Jahren um 1970 war doch der, daß Sie draußen im Lande herumgelaufen sind und die Bevölkerung z. B. damit verunsichert haben, daß Sie sagten: Diesen Konjunkturzuschlag — den wir damals erhoben haben, rückzahlbar —, den kriegt ihr nicht wieder!
Jeder weiß, daß das eine unwahre Unterstellung war und daß die Bürger den Konjunkturzuschlag wiedergekriegt haben. Das als Qualitätsbeweis Ihrer Argumentation draußen im Lande!
Ich sage aber auch ganz offen — und da gibt es sicher gar keine Meinungsverschiedenheiten —: Dies kann natürlich kein Rezept sein für viele Jahre hindurch.
Darüber gibt es gar keine Diskussion.
Aber sicher notfalls auch für mehr als ein oder zwei Jahre, aufgebaut auf dem finanzpolitischen Status, auf dem wir aufbauen können.Und nun kommt die Opposition und verlangt mit Anträgen und in Argumentationen: Wir wollen die Wahrheit, wir wollen Klarheit, wir wollen wissen.
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10984 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Kirstwie es 1976 weitergeht! — Das werden Sie zu derZeit erfahren, zu der es angebracht und möglich ist,
nämlich wenn diese Regierung den Haushalt 1976 und die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung vorlegt.
Herr Abgeordneter Kirst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Bitte sehr!
Herr Kollege Kirst, nachdem Sie eben gesagt haben, Sie halten eine so hohe Neuverschuldungsrate wenigstens in den nächsten Jahren für möglich und vertretbar, darf ich Sie fragen: Gehen Sie dann davon aus, daß wir keinen Konjunkturaufschwung erleben, oder nehmen Sie an, daß das auch in Zeiten eines Konjunkturaufschwungs vertretbar ist?
Herr Kollege Althammer, ich habe ja nicht gesagt, daß es so kommt. Ich habe nur eine Abgrenzung gemacht. Ich habe gesagt — so können Sie es im Protokoll nachlesen —, das ist kein Rezept für viele Jahre, es ist aber notfalls auch für mehr als ein oder zwei Jahre, für einen begrenzten Zeitraum, vertretbar.Nur, Herr Althammer — und das berührt auch diese Frage; ich hätte es ohnehin so gesagt —: Wenn wir einmal ganz ruhig und nüchtern überlegen, wie die Dinge sind, dann werden Sie doch wohl zugeben, daß der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage — die Sie da stellen und die wir auch gern selbst beantwortet hätten, das gebe ich Ihnen zu — eben einfach in einer im Moment nicht mit Sicherheit abschätzbaren wirtschaftlichen Entwicklung liegt. Das heißt also, die Regierung muß, bevor sie den Haushalt 1976 aufstellt und die mittelfristige Finanzplanung fortschreibt, ein größeres Maß an Gewißheit über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung haben. Ich glaube, das wäre doch eine Einsicht, der selbst Sie zustimmen könnten, wobei wir sicherlich gemeinsam der Hoffnung sind, daß der wirtschaftliche Aufschwung in Stabilität, wie er von uns programmiert worden ist, langsam aber sicher — wir wollten ja auch keine Überstürzung, weil wir den Stabilisierungserfolg an der Preisfront nicht wieder gefährden wollten — funktioniert, zumindest dann funktioniert, wenn nicht Wünsche der Opposition, daß die Wirtschaft hier boykottieren möge, sich erfüllen. Aber ich halte die Wirtschaft im eigenen Interesse für vernünftiger, als manche Leute dies zumindest in ihren Reden im stillen Kämmerlein von Sonthofen zum Ausdruck bringen.
Ich sagte, daß dies von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt, und das wissen auch Sie, Herr Althammer. Wir haben gemeinsam, glaube ich, die Fragen im Haushaltsauschuß gestellt. Es ist zur Zeit eine ziemlich einfache Rechnung: 1 % Bruttosozialprodukt nominell mehr bedeutet rund 2,5 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen, verteilt knapp 50 °/o Bund, das übrige Länder und Gemeinden. Das ist ein Anhaltspunkt. Da kann man natürlich Alternativen und Modelle rechnen, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß alles von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängt.Wir haben die Diskussion in den vergangenen Jahren unter falschen Aspekten geführt. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, daß hier gesagt wurde, mit der Haushalts- und Finanzpolitik beeinflusse man entscheidend die Konjunkturpolitik; wir kennen diese Auseinandersetzungen noch. Aber jetzt haben wir doch wohl alle gemeinsam gelernt: umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die wirtschaftliche Entwicklung beeinflußt eben ganz enorm die Möglichkeiten der Haushalts- und Finanzpolitik. Das ist doch wohl ganz richtig. Das hat doch wohl inzwischen auch der, der es vorher nicht wußte, festgestellt.Ich würde — ich sage das jetzt als persönliche Meinung — der Regierung möglicherweise die Empfehlung geben, die Vorlage des Haushalts 1976 nicht unbedingt schon im September 1975 vorzunehmen, wenn man vielleicht meint, bei einer etwas späteren Vorlage verbindlichere Grundlagen für die zukünftige Beurteilung zu haben.Aber ich sage auch das, was jetzt kommt, ganz klar und ganz offen. Wie immer die wirtschaftliche Lage sich entwickelt, eines steht fest, und darüber gibt es ja auch keinen Zweifel, Herr Althammer, und das haben wir gemeinsam im Haushaltsausschuß praktiziert: äußerste Sparsamkeit für die öffentlichen Finanzen bleibt in den kommenden Jahren Trumpf. Davon beißt die Maus keinen Faden ab, was immer die wirtschaftliche Entwicklung bringt. Wir haben die zweifellos sprudelnden Steuereinnahmen der Jahre der Vergangenheit, als ja die Steuerschätzungen umgekehrt immer nach oben korrigiert werden konnten, gut angelegt. Ich kann das hier jetzt im einzelnen nicht ausführen. Das wird sicherlich gleich Kollege Ehrenberg im einzelnen noch tun. Wir haben sie gut angelegt zum Ausbau und zur Sicherung des sozialen und demokratischen Rechtsstaates, in dem wir leben. Wir haben damit die Atempause auch für eine finanzpolitische Konsolidierungsphase gewonnen.
Wenn man über unser Land redet, über die Zustände in diesem Land, dann sollte man sich bewußt sein, in welchem Land, in was für einem Land man lebt. Diese Bundesrepublik ist weder ein Entwicklungsland noch ein Notstandsgebiet noch ein Elendsgebiet.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10985
KirstAndererseits müssen wir uns darauf einstellen, wünschenswerte weitere Verbesserungen eben über einen längeren Zeitraum zu verteilen. Wir begrüßen sicherlich den gestrigen Beschluß der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, auf weitere ausgabenwirksame Anträge zu verzichten.
Wir hoffen, Herr Jenninger, dieses Angebot ist ehrlicher gemeint als jenes mit doppeltem Boden vom November 1969.
— Ich sage ja: wir hoffen; wir werden sehen. Wirsehen die Risiken. — Ich sehe die rote Lampe; ichwill mich bemühen, sehr schnell zu Ende zu kommen.Regierung und Koalition werden unter den Aspekten, die ich eben genannt habe, rechtzeitig handeln, um die weitere Entwicklung der Finanzen für 1976 so solide zu gestalten, wie der Haushalt 1975 ist, trotz der erschreckend wirkenden, aber im Grunde grundsoliden hohen Nettokreditaufnahme.
Dieser Haushalt ist ein Spiegelbild eines gesunden Landes als Folge einer gesunden Politik. Wir werden uns in den nächsten Tagen noch darüber auseinandersetzen, wenn Sie Vorschläge dazu machen sollten — sie fehlen ja immer —, wo man sparen könnte. Sie beschränken sich auf Augenwischerei, indem Sie meinen, man könnte dadurch sparen, daß man die Ansätze für gesetzlich und vertraglich festgelegte Positionen ändert. Damit sparen Sie keinen Pfennig, wenn Sie nicht den Mut haben, Gesetze und Verträge zu ändern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist hier in den letzten Wochen und Monaten — lassen Sie mich damit zum Schluß kommen — von der „Solidarität der Demokraten" gesprochen worden. Meine Partei, die FDP, ist nicht nur zur Solidarität der Demokraten bereit, sondern sie praktiziert sie auch. Aber diese Solidarität darf sich nicht als Lippenbekenntnis erweisen, und man muß sich draußen im Lande genauso benehmen, wie hier in diesem Hause.
Im übrigen haben Sie seit 1969 zunächst einmal die totale Konfrontation gesucht, weil Sie aus Ihrem damaligen und wohl auch noch heutigen Verständnis als Quasi-Staatspartei heraus nicht begreifen können, daß man auch ohne Sie regieren kann. Das ist und bleibt der tiefenpsychologische Schlüssel für die verkrampfte politische Situation in diesem Lande.
Scheinbar war das nach dem klaren Ergebnis derBundestagswahl von 1972 etwas gelöst. Nach demSturz von Barzel aber ist davon leider nichts mehr übriggeblieben.Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Land braucht keinen selbsternannten politischen Messias.
Es braucht in dieser Zeit, die, das wissen wir, auch wenn wir die Augen nach außen richten, unter welchen Aspekten auch immer, nicht frei von Gefahren ist, eine klare, entschlossene, realistische und von den Prinzipien des freiheitlichen parlamentarischen und sozialen Rechtsstaates erfüllte Führung. Die FDP sieht diese Voraussetzungen in Kanzler und Vizekanzler, in dem Gespann Schmidt /Genscher, erfüllt
und stimmt daher dem Etat des Bundeskanzleramtes uneingeschränkt zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg. Für ihn sind 60 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Kirst hat hier einleitend, ich glaube, zu Recht die Sonthofener Rede des Abgeordneten Strauß ein „Dokument der oppositionellen Praxis" genannt. Dieses Dokument gilt tatsächlich nicht nur für Herrn Strauß; es gilt für die gesamte CDU/CSU-Fraktion, wie die Einleitung der Haushaltsdebatte durch Herrn Strauß bewiesen hat.
Herr Strauß hat seine Einleitung mit einer Skizzierung der Wirtschaftslage begonnen. Eine Analyse wird man das, was hier vorgebracht wurde, wohl nicht nennen können. Es war eine Schilderung der wirtschaftlichen Situation, wie sie sich aus dem Dunstkreis von Sonthofen ergibt, aber nicht wie sie sich objektiv von den Fakten her darbietet. Herr Strauß sagte einleitend zur Wirtschaftssituation, daß der schwere Rückschlag, wie er die Konjunkturschwäche, in der sich die Bundesrepublik befindet, bezeichnet, allein der Bundesregierung zur Last zu legen sei. Sie allein sei dafür verantwortlich, daß sich in dieser schwierigen weltwirtschaftlichen Situation Preissteigerungsraten und Arbeitsmarktziffern nach oben bewegen. Herr Strauß sagte zusätzlich, die Ölkrise sei nur ein Vorwand, sie habe gar nicht die Bedeutung, die man ihr zuschreibe, sondern es komme nach seiner Meinung vor allen Dingen auf die Einstellung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Situation, der Wirtschaft gegenüber an; darauf seien die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückzuführen. Man muß Herrn Strauß doch sehr bitten, sich einmal über die wirtschaftliche Situation in der Welt zu informieren, nicht in der Zeitung „Die Welt", sondern in der Welt rund um uns herum.
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Dr. EhrenbergDenn auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, es nicht gern hören, auch wenn Sie immer versuchen, den Blick möglichst nur auf den eigenen Nabel zu lenken und allein die Tatbestände der Bundesrepublik anzusprechen, kann unter ernst zu nehmenden Leuten doch wohl kein Zweifel daran bestehen, daß eine Volkswirtschaft, die mehr als ein Fünftel ihres Sozialprodukts über den Weltmarkt austauscht — das ist ein Exportanteil, den außer den Niederlanden keine Industrienation mehr aufzuweisen hat —, viel empfindlicher und viel sensibler auf alle Veränderungen des Weltmarktes reagiert als andere, weniger exportorientierte Volkswirtschaften und daß man in einer solchen exportorientierten Volkswirtschaft nicht so tun kann, als hätte es sich bei den explosionsartigen Veränderungen des Weltmarktes um irgend etwas außerhalb unserer Sphäre gehandelt. Das sollte sich auch bis Passau und Sonthofen herumsprechen können.Herr Strauß hat sich auf den Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Herrn Kloten, berufen, der angeblich auch der Bundesregierung die Schuld gegeben habe. Ich muß Herrn Strauß empfehlen, das Jahresgutachten des Sachverständigenrates nochmals zu lesen.
Ich will hier die Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht nicht wiederholen, aber eine Stelle, meine Damen und Herren von der Opposition, ist wirklich der Lektüre wert. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren. Der Sachverständigenrat sagt in Ziffer 32 seines Gutachtens:Durch die gegenwärtigen Schwierigkeiten hindurch kann man sehen, daß die Wirtschaft unseres Landes in einem guten Zustand ist. All dies sollte ausreichen, die Belastungsprobe auch in ihrem Höhepunkt, der im kommenden Winter zu erwarten ist, mit Erfolg zu bestehen.Das, Herr Strauß, ist die entscheidende Aussage des Jahresgutachtens 1974/75, und diese Aussage sollten Sie sich gelegentlich auch ansehen und nicht hier einige Nebenbemerkungen — außerhalb des Gutachtens — von Mitgliedern des Sachverständigenrates gegen die Bundesregierung verwenden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Höcherl?
Des Abgeordneten Höcherl gerne.
Herr Dr. Ehrenberg, wie können Sie denn ausgerechnet den Export hier für Ihre Argumentation zitieren, wo uns doch gerade der Export im letzten Jahr über alle Fehler und alle Mängel der binnenwirtschaftlichen Situation hinweggeholfen hat?
Verehrter Herr Höcherl, ich habe davon gesprochen, daß diese Bundesrepublik Deutschland mehr als ein Fünftel ihres Sozialprodukts über den Weltmarkt austauscht und daß uns diese Exportorientierung besonders anfällig, besonders empfindlich für Veränderungen des Weltmarkts macht. Das wird doch nun niemand, der ökonomische Verhältnisse übersieht, abstreiten können.
Das ist keineswegs, Herr Höcherl, eine Gegenaussage dazu, daß im Jahre 1974 die Exportindustrie eine starke Stütze dieser Konjunktur war. Aber Sie wissen, hoffe ich, auch — ich nehme an, daß Sie es wissen —, daß sich die Auftragsziffern der Exportindustrie gerade jetzt sehr abzuschwächen beginnen, daß glücklicherweise gerade zu diesem Zeitpunkt die von der Bundesregierung in Gang gesetzte Konjunkturbelebung zu wirken beginnt, daß steigende Aufträge aus dem Inland ein Gegengewicht gegen sich abschwächende Exportziffern bilden. Insofern steht das nicht in einem Widerspruch zueinander.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Höcherl?
Herr Dr. Ehrenberg, Sie sehen schon Schwalben, wo andere noch keine Spatzen gesehen haben.
Herr Abgeordneter Höcherl, das war eigentlich keine Frage.
Aber ich will trotzdem antworten, weil ich glaube, daß die vereinzelten Frühjahrsschwalben, die beispielsweise auch auf der Handwerksmesse in München deutlich sichtbar waren — auf der Handwerksmesse in München ist die Stimmung nicht schlecht — sich bis zum Frühsommer zu einem ganzen Schwarm verdichtet haben werden.
— Herr Kollege Schäfer, dem von mir so sehr geschätzten Abgeordneten Höcherl würde ich nicht unterstellen, daß er auf die Krisentheorie von Franz Josef Strauß eingeht. Das würde ich wirklich nicht tun. Da muß ich ihn nun in Schutz nehmen.
Aber ich muß noch etwas zu den Ausführungen des Herrn Strauß sagen — ich weiß nicht, woher er die Legitimation dazu nahm; aber er hat es in diesem Hause versucht —, weil er sich zu der Behauptung verstiegen hat, wenn die CDU/CSU — gemeint hat er natürlich sich selber -- regierte, dann wäre es natürlich möglich gewesen, weniger Arbeitslosig-
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Dr. Ehrenbergkeit, geringere Preissteigerungsraten und noch alles mögliche andere besser zu haben.
— Das haben Sie bewiesen, verehrter Herr Stücklen, zu Zeiten einer Weltmarktidylle, wie sie weit, weit in grauer Vorzeit hinter uns liegt. Das haben Sie nicht bewiesen und das können Sie nicht beweisen unter den Bedingungen des seit 1973 völlig veränderten Weltmarkts.
Es würde Ihrer Redlichkeit gut zu Gesichte stehen, diese veränderten Weltmarktbedingungen endlich zur Kenntnis zu nehmen und nicht immer wieder so zu tun, als wäre das nicht so. Herr Kollege Kirst hat auch das schon gesagt: Wir haben keine Insel der Seligen, die wir uns kaufen können. Wir stehen einem völlig anderen weltwirtschaftlichen Zusammenhang gegenüber, als er beispielsweise Anfang der sechziger Jahre vorhanden war. Sie können doch nicht ableugnen — ich hatte es gar nicht vor, aber auf Grund dieses Zwischenrufs muß ich noch einmal darauf hinweisen —: Seit Jahren — ich wiederhole: seit Jahren — befindet sich die Bundesrepublik Deutschland in jenem traurigen internationalen Geleitzug der Preissteigerungen unverrückbar und fest auf dem ehrenvollen letzten Platz. Da befand sie sich nicht in Zeiten der Weltmarktidylle Anfang der sechziger Jahre; dort lagen wir im guten Mittelfeld, vielleicht sogar ein Stück oben.
— Auch das hatten Sie, vorübergehend, verehrter Herr Stücklen.
— Nein, von Herrn Abgeordneten Breidbach möchte ich keine Zwischenfrage.Herr Stücklen, ich kann Ihnen nicht ersparen, einige Ziffern zu nennen. Wie gesagt, ich hatte es nicht vor. Aber wenn Sie darauf hinweisen, dann muß man dazu etwas sagen, das vielleicht auch die Ohren des Herrn Strauß erreicht. Sie sagen, Sie hätten niedrigere Preissteigerungsraten. Um wieviel mehr wollen Sie sich denn noch von den Preissteigerungsraten des Weltmarkts entfernen? Bei durchschnittlich 6 °/o hat die Stabilitätspolitik dieser Bundesregierung es erreicht, die Preissteigerungsraten zu stabilisieren.
12 % in Washington, 18 % in Paris, 28 % in Japan— alles nicht sozialdemokratisch regierte Länder; alles Regierungen, die Ihnen von Ihrer Grundlage her sehr viel näher stehen als den Sozialdemokraten.
Wir haben eine Nation, die eng in den Weltmarkt verflochten ist und auch Sie, Herr Carstens, können sich nicht aus diesem Weltmarkt absetzen. Das kann niemand. Das kann auch niemand wollen,
weil die Wirkungen dann für uns viel stärker werden.
— Herr Stücklen, auch wenn Sie „Ausreden!" schreien, verwischt das nicht die Fakten, die so sind, und die Sie jederzeit in der internationalen Statistik, in der Weltpresse, überall in der Welt nachlesen können. Nur glauben Sie nicht diese Fakten. Sie halten es für Ausreden.Hier gab es einen Zwischenruf, der sagte: ,,Stabilitätspolitik auf Kosten der Arbeitslosigkeit!" Auch Herr Strauß hat das, wenn auch etwas versteckter, so dargestellt.
— Das sind keine Fakten, Herr Breidbach. Das entspricht nicht der Wahrheit, auch wenn es sich Ihnen so darstellt. Vielleicht denken Sie einmal darüber nach, wie es um den Arbeitsmarkt in dieser Republik aussähe, wenn es die erfolgreiche Stabilitätspolitik der Bundesregierung nicht gegeben hätte.Der verehrte Kollege Höcherl hat in seiner Zwischenfrage eben mit Recht darauf hingewiesen, wie stark die Konjunktur des Jahres 1974 durch den Export gestützt worden ist. Wie hätte es aber im Jahre 1974 auf den Weltmärkten um unsere Wettbewerbsfähigkeit ohne diese erfolgreiche Stabilitätspolitik ausgesehen? Mit dieser Stabilitätspolitik sind ja nicht nur die Preissteigerungsraten beim Lebenshaltungskostenindex, sondern auch — das sollten Sie eigentlich auch wissen — die Kostensteigerungen der Industrie gebremst worden. Dieser gebremste Kostenanstieg hat zusammen mit der Präzisionsarbeit der deutschen Arbeitnehmer und der Einsatzbereitschaft, die deutsche Arbeitnehmer auch unter schwierigen Verhältnissen immer wieder gezeigt haben, die hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten. Ohne diese Stütze der Exportkonjunktur, die wiederum von der erfolgreichen Stabilitätspolitik nicht unabhängig ist, hätte es auf den Arbeitsmärkten der Republik noch viel problematischer als ohnehin ausgesehen. Das sollten Sie bei Ihren Aussagen über Zusammenhänge von Stabilitäts- und Arbeitsmarktpolitik immer deutlich vor Augen haben. Ich bin zu einigem Nachhilfeunterricht, falls Sie sich nicht selber sachkundig machen wollen, gerne bereit.
— Sie brauchen mir nicht nachzusagen, von hohen Exportzuwachsraten geredet zu haben. Daß sich die Exportzuwachsraten verlangsamen müssen, hat z. B. Herr Strauß, als er auf die strukturellen Schwierig-
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Dr. Ehrenbergkeiten hinwies, die uns nach Überwindung dieser Konjunkturschwäche ins Haus stehen, in aller Deutlichkeit gesagt. Was er gesagt hat, stimmt diesmal auch. Er hat nur versäumt, hinzuzufügen, daß diese strukturellen Schwierigkeiten in erster Linie Ergebnisse seiner eigenen Finanzpolitik, seiner Verhinderung einer rechtzeitigen Aufwertung der Deutschen Mark sind.Strukturen verändern sich nicht in Monaten. Strukturen wachsen über Jahre hinweg, und Strukturen sind auch nur über Jahre hinweg zu ändern. Hinter diesem Schutz falscher Wechselkurse haben sich Strukturen herausgebildet, die uns im nächsten Konjunkturaufschwung allerdings erhebliche Schwierigkeiten bereiten werden. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien sind darauf eingestellt, diesen strukturellen Schwierigkeiten mit einer konsequenten und zielgerichteten Strukturpolitik, die ja in der zweiten Hälfte der 60er Jahre unter unserer Regierungsbeteiligung überhaupt erst erfunden worden ist, gezielt und nachdrücklich zu begegnen.Woher rühren die strukturellen Schwierigkeiten? Sie liegen genau dort begründet, wo auch die Ursache für das liegt, was Herr Strauß der Bundesregierung jetzt zum Vorwurf macht, wenn er von dem nicht bewältigten Stau an den deutschen Hochschulen spricht. Wo kommt dieser Stau denn her? Er kommt aus der Zeit der Finanzpolitik des Herrn Strauß, als die damalige Bundesregierung es versäumt hat, rechtzeitig das zu tun, was notwendig war, rechtzeitig Hochschulen, Krankenhäuser und anderes zu bauen.
Diese Versäumnisse einer Finanzpolitik, die auf ihren ausgeglichenen Haushalt stolz war, aber die nötigen Zukunftsinvestitionen unterlassen hat, kann man uns hier nicht als Beispiel hinstellen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Pfeifer?
Nein, das tue ich nicht.
Meine Damen und Herren, es ist und bleibt das Recht eines Redners, Zwischenfragen anzunehmen oder abzulehnen.
Den Nachhilfeunterricht, 1 den die Opposition braucht, kann sie gern erhalten. Nachhilfeunterricht auf dem Weg über Zwischenfragen kann aber wohl kaum gegeben werden.
— Genau deshalb ist es so, verehrter Herr Kollege,
weil in diesem Bereich vor 1970 zu wenig investiert worden ist. Tun Sie doch nicht so, als ob Investitionen in Monaten durchführbar seien!
Öffentliche Investitionen brauchen Jahre, um ihre Erfolge zu zeigen.
Wenn man früher damit angefangen hätte, hätte man auch früher ein ausgeglicheneres Bild an den Hochschulen. Den Nachhilfeunterricht können Sie gern gratis und franko haben.
Jetzt würde ich, meine Damen und Herren, gern zum Thema zurückkehren, auch wenn Sie hier noch so viel unqualifiziert dazwischenrufen; das stört mich überhaupt nicht.
— Das fehlt gerade noch; der Zwischenruf hat Sie
eindeutig „qualifiziert" ; den brauchen Sie nicht mehr.
Darauf habe ich gewartet. Wenn Sie zur Sache nichts mehr wissen, fangen Sie damit an, selbstverständlich.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch um etwas mehr Ruhe.
Kehren wir zu der Schilderung der wirtschaftlichen Situation zurück, wie Herr Strauß sie uns hier darzustellen versucht hat, und stellen wir dem den internationalen Hintergrund dieser Situation entgegen. Dann kann wohl ohne jede Überheblichkeit gesagt werden, daß sich die Bundesrepublik in einer Position der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Stabilität — im Vergleich mit unseren Handelspartnern gleicher Entwicklungsstufe — befindet, einer Position, der in der ganzen Welt Respekt bekundet wird. Ich erwarte
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Dr. Ehrenbergvon der Opposition nicht Respekt, aber doch wenigstens ein Stückchen Anerkennung dieser Fakten,
ein bißchen Anerkennung der Fakten.
Im Anschluß an das Konjunkturprogramm der Bundesregierung und im Anschluß an die nahtlos auf eine zureichende Geldversorgung abgestimmte Bundesbankpolitik können die Startpositionen für die wirtschaftliche Entwicklung 1975 durchaus als gute Startpositionen bezeichnet werden. Wir haben die Preissteigerungsrate bei 6 % stabilisiert. Wir haben monatlich mehr als 1 Milliarde DM zusätzlicher Kaufkraft aus der Steuerreform als wirksame Nachfrageimpulse auf den Märkten dieses Landes.Wir haben mit den beiden Sonderprogrammen des Jahres 1974 einen kräftigen, konjunkturbelebenden Anstieg der öffentlichen Investionen — verstärkt durch die Mittel aus dem Konjunkturprogramm -- herbeigeführt.Diese Politik — zusammen mit der sorgfältig abgestimmten Bundesbankpolitik — hat zu einer soliden Verfassung der Aktien- und Rentenmärkte geführt, die ebenfalls eine entscheidende und sehr gute Ausgangsbasis für die kommende Wirtschaftsentwicklung ist.Es müßte Sie vielleicht doch ein wenig stutzig machen, daß selbst die „Bild"-Zeitung — sonst doch in Panikmache ebenso geübt wie Herr Strauß — gestern unter Bezugnahme auf ein Interview mit Herrn Kloten, auf den sich Herr Strauß in anderer Weise berufen hat, auf der ersten Seite eine Überschrift mit dem Titel „Aufschwung in der zweiten Jahreshälfte" gebracht hat. In diesem Interview sagt Herr Kloten sehr deutlich, wie die Startpositionen der Wirtschaft sind. Wenn die gleiche „Bild"-Zeitung auf der zweiten Seite die Überschrift bringt „Plötzlich purzeln die Preise", so sagt auch das vielleicht, da dort der Bundesregierung gewiß nicht leichtfertig Lob gespendet wird
— das wäre bei diesem Blatt zum ersten Mal -, etwas darüber aus, daß die besseren Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik selbst von der „Bild"-Zeitung nicht mehr verschwiegen werden können.
-- Um so besser, dann wird das auch eintreten; verlassen Sie sich darauf.
Es wird in den nächsten Monaten für die wirtschaftliche Entwicklung entscheidend darauf ankommen, die sichtbaren Belebungszeichen der Konjunktur nicht erlahmen zu lassen, alle Investitionsmöglichkeiten im öffentlichen und gewerblichen Sektor voll wahrzunehmen und die positive Ertragsentwicklung voll zu nutzen.
Der Bundeshaushalt 1975 mit seiner relativ hohen und von Ihnen so beanstandeten Kreditfinanzierung wird wesentlich zur Konjunkturstützung und damit zur positiven wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Natürlich — das hat auch Herr Kollege Kirst schon gesagt -- befreit diese konjunkturelle Situation des Haushalts 1975 den Bundesfinanzminister nicht davon, an den Haushalt 1976 besonders strenge Maßstäbe der Sparsamkeit anzulegen. Doch wir haben keinen Grund, nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln, daß dies geschehen wird.Meine Damen und Herren von der Opposition, wir müssen hier auch etwas zu den Schein- oder zu den Nicht-Alternativen sagen; echte Alternativen vermissen wir bei Ihnen, haben wir von Ihnen nicht bekommen.
Es ist auch etwas zu sagen über die Oppositionsrolle, wie Herr Strauß sie hier an Meinungen aus der SPD-Fraktion zu der Zeit, als sie noch Opposition war, zitiert hat. Herr Strauß scheint immer nur sehr vereinzelt zu lesen und sich lediglich Fakten der Vergangenheit aus dem Zusammenhang herausgreifen, wie sie ihm gefallen. Denn wenn er gerade Alex Möller in diesem Zusammenhang angesprochen hat, sollten Herr Strauß und die anderen langjährigen Parlamentarier der CDU/CSU doch wohl noch sehr deutlich zweierlei in Erinnerung haben: erstens, daß es Alex Möller war, der das Instrument der mittelfristigen Finanzplanung aus seiner Rolle als finanzpolitischer Sprecher der damaligen Opposition heraus entwickelt hat.
Dies war ein konstruktives Oppositionsverhalten, das dann sehr konkret Eingang in das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der Großen Koalition gefunden hat.Meine Damen und Herren, Sie üben sich ja seit fünfeinhalb Jahren in Opposition. Können Sie irgendein Feld nennen, auf dem auch nur vergleichsweise eine ähnlich konstruktive Arbeit von Ihnen vorzuweisen ist?
Zweitens war es wiederum Alex Möller —
— Ich habe dieses Beispiel hier nur herausgegriffen, weil Herr Strauß ausgerechnet Herrn Möller in dieser Form angesprochen hat. — Es ist in den Zeiten der Minderheitsregierung Ihrer Fraktion von Oktober 1966 bis Ende November 1966 gewesen — damals stellten Sie eine Minderheitsregierung, weil Sie an Haushaltsschwierigkeiten die Koalition hatten zerbrechen lassen —,
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Dr. Ehrenbergals wiederum Alex Möller aus der Oppositionsrolle her die Vorschläge für den dann in der Großen Koalition praktizierten Stabilitätshaushalt entwickelt hat.
Dies ist eine Oppositionsrolle, die Sie sich vielleicht einmal zum Beispiel für eine konstruktive Arbeit nehmen könnten, anstatt auf die Krisentheorien von Herrn Strauß in voller Linie einzuschwenken.
— Es ist von der mittelfristigen Finanzplanung nichts „zurückgedreht" worden! Kommen Sie doch nicht mit solchen Märchen, wie sie auch Herr Strauß ständig zur Steuerreform gebracht hat. Es sei eine „miserable Steuerreform", hat Herr Strauß gesagt. Diese Steuerreform ist nicht —(Zurufe von der CDU/CSU: Das hat HerrFredersdorf gesagt!)— Vielleicht hat es Herr Fredersdorf auch gesagt;
hier hat es jedenfalls vorhin Herr Strauß gesagt. Und wenn er es von Herrn Fredersdorf übernommen hat,
so war Herr Fredersdorf vielleicht der Meinung, wir hätten eine Steuerreform für die Steuerbeamten zu machen. Nein, wir haben eine Reform für die Steuerzahler gemacht, und zwar für die Steuerzahler der kleinen und mittleren Einkommensgruppen, nicht für die Steuerbeamten!
— Warten Sie ab! Nachdem Sie in der ersten Unmutswelle, dieser künstlich hochgeputschten Unmutsquelle über die Steuerreform,
von ihr abgerückt waren, sind Sie schon wieder dabei, sich dranzuhängen, um ein wenig von den Erfolgen dieser Reform vielleicht mit Unterstützung Ihrer publizistischen Hilfstruppen doch noch abbekommen zu können.
Anders ist Ihre Haltung ja gar nicht zu erklären.
Die Alternativen der Opposition? Es hat der Kollege Kirst schon darauf hingewiesen, daß sich Jahr für Jahr stereotyp in schöner Regelmäßigkeit wiederholt, daß Sie das Finanzchaos, die Zerrüttung derStaatsfinanzen, überhaupt den Untergang und praktisch den Staatsbankrott voraussagen.
Beispielsweise hat Herr Strauß 1971 gesagt: Eine Folge der gescheiterten Innenpolitik der Regierung ist eine Finanzkrise ohne Beispiel in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
So Herr Strauß schon 1971.
— Nun, hören Sie doch noch ein bißchen mehr den Worten Ihres eigentlichen Fraktionsvorsitzenden zu, die ich Ihnen jetzt vorlesen will. 1972 hat Herr Strauß gesagt: Zunehmende Zerrüttung der Staatsfinanzen steht fest. Und er orakelte, die Finanzkrise würde zum Staatschaos ausufern. Und auch Herr Filbinger hat sich hier eingeschlossen. Herr Filbinger sprach 1972 davon, die Staatsfinanzen seien in einen Zustand chaotischer Unordnung geraten.
— 1972 schon, Herr Stücklen,
Und die Reihe geht weiter. Auch Herr Stoltenberg hat sich da eingeschaltet und von einer bedrohlichen Verschärfung der Finanzkrise 1972 gesprochen.
So geht das hin, so geht das her, so zieht sich das hin von Jahr zu Jahr, Jahr für Jahr.
— Jahr für Jahr sagen Sie das Finanzchaos, sagen Sie den Staatsbankrott voraus, und er tritt nicht ein.
Und die Regierungsparteien sind sich ganz sicher, daß auch diesmal, auch 1975/76 und in den folgenden Jahren, das von Ihnen vorausgesagte Finanzchaos nicht eintreten wird.
Es wird auch in den Folgejahren nicht eintreten, solange diese sozialliberale Koalition die Verantwortung in diesem Staate hat; solange Sie, meine Damen und Herren, nicht in diese Verantwortung zurückkehren, wird es kein Finanzchaos geben.
Niemand, der lesen und hören kann, wird ernsthaft bezweifeln, wie es um die Staatsfinanzen stünde, wenn man Ihrer Vielzahl von finanzwirk-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10991
Dr. Ehrenbergsauren Anträgen stattgegeben hätte. Ich will angesichts des gegenwärtigen „Autofrühlings" — da wurden vorhin die Schwalben zitiert — gar nicht wiederholen, was alles an Vorschlägen Sie gemacht haben, was ganz schnell und ad hoc von der Regierung gemacht werden sollte: Erhöhung der Kilometerpauschale, Senkung der Mehrwertsteuer für Mineralöl, Wiederherstellung der Abzugsfähigkeit von Schuldzinsen bei Kraftfahrzeugkrediten, Senkung der Mineralölsteuer und Wegfall der Mehrwertsteuer bei Gebrauchtwagen — eine ganze lange Liste finanzwirksamer Vorschläge der Opposition. Wie sähe der Haushalt des Bundes heute aus, wenn wir diesen oppositionellen Vorschlägen gefolgt wären?
— Ach, das haben Sie alles nicht ernst genommen, was Sie damals vorgeschlagen haben? Gut, streichen wir es ab, erledigt; dann wissen wir, wie wir mit Ihren künftigen Vorschlägen umzugehen haben.
Ich will gar nicht auf die Vorschläge Ihrer verehrten Kollegin Wex z. B. mit der Partnerschaftsrente und den sich daraus ergebenden Milliardenbeträgen eingehen, nachdem Herr Strauß hier auch die Finanzierung der Rentenversicherung mit angesprochen hat. Reden Sie darüber doch erst einmal in der eigenen Fraktion, bevor hier solche Vorschläge gemacht werden!
Daß der Bundesaushalt 1975 nicht zu einer Finanzzerrüttung führt, wissen Sie ohnehin. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das nur ein Teil der Konfliktstrategie, wie sie Herr Strauß ausgegeben hat, ein Teil der Verelendungstheorie,
die allein ja nach Ihrer Ansicht erst dazu führen kann, daß Sie wieder an die Regierung kommen. Denn — auch darauf hat Herr Kollege Kirst schon hingewiesen, aber, ich glaube, es ist notwendig, es hier zu wiederholen — auch Sie wissen oder sollten jedenfalls wissen, daß sich die Gesamtverschuldung der Bundesrepublik im internationalen Vergleich auch 1975 auf einem ausgesprochen niedrigen Niveau bewegen wird. Sie wissen auch, daß die Neuverschuldung, wie sie im Haushalt vorgesehen ist, notwendig ist, um den angestrebten stabilitätsgerechten Aufschwung in Gang zu bringen, daß hier ein bewährtes konjunkturpolitisches Konzept befolgt wird, um auf einen neuen stabilitätsgerechten Aufschwung zu kommen. Nur mit dieser Kreditfinanzierung kann die sich aufzeigende deflatorische Lücke im Haushalt geschlossen und der Arbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.Wenn Sie das freilich nicht wollen, wenn Sie statt dessen eine Deflationspolitik Brüningscher Auflage wollen, dann sollten Sie das hier klar und deutlich sagen und sich nicht darauf beschränken, die Bundesregierung wegen der hohen Kreditfinanzierung zu kritisieren.
Wenn sie sagten, daß Sie diese Art Politik wollen, wüßte der Bürger draußen im Lande, woran er ist, dann wüßte er, daß Sie voll — aber Sie sind es ja auch, Sie geben es nur noch nicht ganz zu, in den meisten Äußerungen aber doch —auf die neue Krisen- und Verelendungstheorie von Sonthofen eingeschwenkt sind.Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen das nicht ersparen. Ich kann Ihnen das um so weniger ersparen, als Herr Strauß eine Vielzahl von Interpretationskünsten anwendet, um von diesem Sonthofener Papier herunterzukommen. Sie hätten vor einer Woche hier die große Chance gehabt, von diesem Weg abzurücken. Diese Chance ist vertan. Die Kandidatenreden der vergangenen Woche haben lediglich die Machtverhältnisse in den sogenannten Schwesterparteien deutlich gemacht, sonst nichts.
Sie haben deutlich gemacht, und Herr Strauß hat das vielfach bestätigt, daß er jedenfalls der Meinung ist, er könne das Schicksal dieses Volkes in neue Bahnen lenken, neue Bahnen, vor denen uns Gott und der Wähler bewahren mögen, kann ich nur sagen.
Sie, meine Damen und Herren, werden den Schirm mit tragen müssen, den der CDU-Vorsitzende für den Abgeordneten Strauß hier aufgespannt hat. Ich frage mich: Werden Sie einen Schirm finden, der groß genug ist, um all das, was an Sonthofener Reden noch vom Himmel kommen wird, wirklich auffangen zu können?
Dieses Manuskript von Sonthofen, nicht autorisiert vom Redner, aber in seinem Inhalt auch in keiner überzeugenden Weise dementiert, sagt in aller Klarheit, was Herr Strauß und — nach dem, was Sie alle inzwischen dazu gesagt haben — was auch diese CDU/CSU-Fraktion wollen. Damit die Bürger im Lande das auch wirklich wissen, will ich jene Stelle, die Herr Strauß hier so ganz schnell vorgelesen, als scheinbares Dementi vorgetragen hat, ganz langsam und verständlich vorlesen,
damit Sie auch alle hören, wirklich hören, falls Sie es nicht nachgelesen haben, auf was Sie sich dabei eingelassen haben. Es heißt dort — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —:
Lieber eine weitere Inflationierung,
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10992 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. Ehrenbergweitere Steigerung der Arbeitslosigkeit,
weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen
in Kauf nehmen, als das anzuwenden, was wir als Rezept für notwendig halten.
So steht das dort als der Wille des Herrn Strauß und als niemandes anderen Wille.
Herr Abgeordneter Dr. Ehrenberg, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Wagner ?
Diese Frage gestatte ich, aber hören Sie bitte erst noch den nächsten Absatz an, und fragen Sie dann zu beiden. Vielleicht erläutert der nächste Absatz schon Ihre Frage.
Sonst stellen Sie die Frage zu beiden Absätzen.
Es heißt nämlich dann weiter in dieser Rede:
Es muß wesentlich tiefer sinken — —
Ich darf wiederholen — Herr Breidbach, hören Sie zu —:
Es muß wesentlich tiefer sinken —
— Ich lese die Worte Ihres Vorsitzenden vor, falls Sie das nicht gemerkt haben sollten.
Es muß wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, politisch mit unseren Vorstellungen, Warnungen, Vorschlägen gehört zu werden.
Es muß also eine Art Offenbarungseid und ein Schock im öffentlichen Bewußtsein erfolgen.
Hören Sie bitte auch den nächsten Satz wörtlich. Gesagt hat das Herr Strauß:
Wir können uns gar nicht wünschen, daß dies jetzt aufgefangen wird.
Jetzt versuchen Sie das mit einer Frage zu interpretieren. Bitte sehr!
— Er hat sich doch dazu gemeldet.
Herr Kollege Ehrenberg, wann wollen Sie endlich zur Kenntnis nehmen, was sich aus dem Text klar ergibt und von Herrn Strauß auch mehrfach klargestellt worden ist, nämlich daß dieser Satz — lieber weitere Inflationierung, weitere Arbeitslosigkeit usw. in Kauf nehmen, als unsere Rezepte zu akzeptieren — nur eine Charakterisierung der Politik der Bundesregierung der SPD und der FDP ist und nach dem Zusammenhang auch nur sein kann?
Herr Kollege Wagner, so wie Sie das eben gesagt haben,
so interpretiert Herr Strauß hinterher diesen Text.
Sie können damit nicht abstreiten, daß dieser Text anders lautet. Es ergibt sich aus keinem Zusammenhang, daß Herr Strauß die Regierung gemeint hat.
Er hat sich und diese Fraktion gemeint, die hier vor mir sitzt, und niemand anders.
Mit noch so vielen Interpretationskünsten
und unqualifizierten persönlichen Verunglimpfungen werden Sie davon nicht ablenken können.
— Wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, kommen Sie darauf zurück. Das werden Sie noch lange tun. Bitte sehr!
Persönliche Verunglimpfungen wurden hier oben nicht gehört. Ich werde das Protokoll nachprüfen.
Herr Abgeordneter Schröder möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10993
Herr Kollege Ehrenberg, können Sie dem Hause mitteilen, wer diesen in einer Gazette erschienenen Text autorisiert hat?
Wollen Sie mir gegenüber damit zum Ausdruck bringen, daß Veröffentlichungen in dieser Gazette stets und ständig den Wahrheitsgehalt und den Sinngehalt dessen wiedergegeben haben, was der Betreffende geäußert hat?
Ich werde mich hier nicht zu dem Wahrheitsgehalt deutscher Gazetten äußern.
— Nein, darum geht es überhaupt nicht, Es geht darum, daß der Abgeordnete Strauß selber — und ich habe das vor diesem Zitat ausdrücklich vorgetragen diesen Text zwar nicht autorisiert, aber auch
in keiner Weise dementiert hat. Darum geht es.
Von diesem nicht dementierten Text können wir ja wohl mit Fug und Recht als seiner Meinungsäußerung ausgehen.
Es geht hier nicht mehr um Interpretationskünste, sondern es geht um einen vorliegenden Text, der nicht dementiert worden ist. Von diesem Text ausgehend, muß man in aller Deutlichkeit feststellen — —
— Sehr lange, so lange, bis Sie selber merken, wie untragbar der Vorsitzende der CSU für diese Gesamtfraktion in diesem Hause ist — so lange!
— Nein, das wird nicht so sein; denn über eines, meine Damen und Herren von der Opposition — der Herr Breidbach wird das in seinem Wahlkreis sehr bald sehr deutlich merken —,
werden Sie sich keinerlei Täuschungen hingeben dürfen: daß jemand, der so spricht, wie Herr Strauß es hier getan hat, die Legitimation verloren hat, Wahrer des sozialen Rechtsstaates zu sein. Wer diese Krisen- und Verelendungstheorien in die Welt setzt, der wird sich sehr schwer tun — —
— Verehrter Herr von Bismarck, das ist das Niveau des Herrn Strauß, nicht meines.
Das ist nicht mein Niveau, sondern Herrn Strauß' Niveau, und das müssen Sie ertragen, nicht ich.
'Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich bitte doch um etwas Ruhe.
Ich will Sie Ihrem Schicksal mit Herrn Strauß überlassen. Ich kann Ihnen nur empfehlen,
diese Rede fern der Interpretationskünste durch Herrn Strauß wirklich sorgfältig und im vollen Text nachzulesen. Tun Sie das. Vielleicht sollten wir dieses Thema dann noch einmal besprechen.
— Ach, Sie haben sie sicher selber. Herr Strauß wird ja auch nicht damit zurückhalten.
Dürfen wir, nachdem deutlich gemacht worden ist, wohin die Reise ginge, wenn Sie die Regierungsverantwortung in dieser Zeit hätten,
dann zurückkehren zum Einzelplan 04?
— Herr Zeitel, Herr Strauß hat diese Interpretationskünste selber vorgenommen. Ich hätte sie sonst nicht gebracht. Aber sie mußten ja irgendwann einmal klargestellt werden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, auch wenn Sie es nicht gerne hören, auch wenn es Ihnen sehr schwer fällt, dabei zuzuhören: Ich kann Ihnen nicht ersparen, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Debatte um den Einzelplan 04, um den Etat des Bundeskanzlers, ein legitimer Ort ist,
um
aus der Sicht der Regierungsparteien etwas Grundsätzliches zur Arbeit der Bundesregierung zu sagen.
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10994 Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. Ehrenberg— Auch Herr Strauß; Sie haben auch schon eingestimmt in den Chor dieser Leute. Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch um etwas mehr Ruhe.
Meine Damen und Herren, vielleicht können Sie sich überwinden, einmal zehn Minuten lang etwas über die Arbeit dieser Bundesregierung zu hören.
Es muß Ihnen furchtbar unangenehm sein, etwas über die Arbeit der Bundesregierung zu hören. Das muß ich wirklich sagen.
Meine Damen und Herren, ich bitte nun wirklich um Aufmerksamkeit für den Redner.
Auch wenn Sie noch so unruhig sind: Ich erspare Ihnen diesen Leistungskatalog der Bundesregierung nicht.
Sie werden ihn anhören müssen.
— Nach diesen Unruhen sind Zwischenfragen überflüssig. Ich lasse keine mehr zu. — Sie werden diesen Leistungskatalog anhören müssen, ob es Ihnen recht ist oder nicht.
— Es muß Ihnen sehr weh tun, in diesem Hause über konkrete Arbeit zu reden; sonst wäre diese Unruhe ja wohl nicht erklärbar.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nochmals um Ruhe. Der Herr Redner hat 60 Minuten angemeldet. Da er ständig unterbrochen wird, werde ich ihm zum Ausgleich eine noch längere Redezeit zugestehen müssen.
Ich bitte Sie also im Interesse der Beschleunigung der Arbeit um etwas Zurückhaltung bei Ihren Zwischenrufen.
Zu diesem honorigen Angebot des Präsidenten kann ich nur sagen: Das hat die CDU/CSU-Fraktion davon, wenn sie so unruhig ist!
— Sie scheinen noch mehr Verlängerung zu wollen.
Meine Damen und Herren, der Leistungskatalog der sozialliberalen Bundesregierung
ist lang, umfassend und vorzeigbar.
An der Spitze dieser Arbeit stand das Bemühen um mehr Sicherheit,
mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität.
— Nur aus der Sonthofener Ecke kann so ein Vorwurf kommen, diese Regierung habe sich um mehr Arbeitslosigkeit bemüht.
Ein bißchen mehr Respekt vor diesem Problem sollten Sie selbst auf der Oppositionsbank empfinden können.
Ein bißchen mehr Respekt, Herr Nordlohne aus Südoldenburg; dort ist die Arbeitslosenquote hoch genug, daß Sie in dieser Frage anhören sollten, was geschehen ist.
- Sie wissen es leider nicht, sonst würden Sienicht so infam hier diese Unterstellungen aussprechen.
Sie müssen schon anhören, daß in der Außen- und in der Innenpolitik, in der äußeren und in der inneren Sicherheit diese Bundesregierung eine vorbildliche Arbeit geleistet hat.
Wenn Herr Strauß hier von der Doppelstrategie in der Sicherheitsdebatte gesprochen hat, dann muß ich doch Sie alle, meine Damen und Herren von der Opposition, einmal bitten,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10995
Dr. Ehrenbergin den Protokollen der vergangenen Woche nachzulesen, welche konkreten Sicherheitsvorschläge denn beispielsweise Herr Dregger und Herr Kohl gemacht haben. Herr Dregger kann sich zwar auf die Oppositionsrolle zurückziehen, Herr Ministerpräsident Kohl aber nicht; er ist nicht in der Opposition, er regiert verantwortlich ein Bundesland. Von ihm wären konkrete Vorschläge zu erwarten gewesen; sie sind nicht gekommen. So muß Ihnen also hier noch einmal gesagt werden, daß diese sozialliberale Bundesregierung schon im Oktober 1970 ein Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung verabschiedet hat und daß die Ausgaben für das Bundeskriminalamt von 1969 bis 1974 von knapp 30 auf 150 Millionen DM, also um mehr als das Fünffache, erhöht worden sind.
— Ach, sollten wir diese Kosten sparen, sollte das Ihr Zwischenruf besagen? Eine merkwürdige Art der Einsparung von Kosten, glaube ich! Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß der Bundesfinanzminister und die Bundesregierung gerade den so wichtigen Etat innere Sicherheit ausdrücklich von allen Sparmaßnahmen ausgenommen und ihn statt dessen, wie die Situation es erfordert, kräftig aufgestockt haben. Das nehmen Sie bitte zur Kenntnis.
Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, was alles auf dem Gebiet der inneren Sicherheit nach dem im März 1972 verabschiedeten Schwerpunktprogramm an Maßnahmen getan worden ist. Ich will die lange Reihe hier gar nicht aufzählen. Aber es muß doch hingewiesen werden auf die Richtlinien über die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste, der Polizei- und der Justizorgane, auf die erhöhten Haushaltsmittel für eine Personalverstärkung und die Einrichtung von EDV-Anlagen im Bereich des Bundesamts für Verfassungsschutz, auf das neue Bundesgrenzschutzgesetz mit den Erweiterungen der Funktion des Bundesgrenzschutzes. Ich will die Liste nicht weiter fortsetzen. Dieses Bemühen macht deutlich, daß die Bundesregierung die politische, die soziale und die wirtschaftliche Sicherheit bei allen ihren Bemühungen beachtet hat und weiterhin beachten wird.Aber, meine Damen und Herren, die innere Verfassung eines Staates ist vor allem dadurch geprägt, daß sich der arbeitende Mensch mit dem identifizieren kann, was der Staat ihm an Sicherheit gegen die Wechselfälle des Lebens geben kann. Darum ist bei dieser Debatte auch auf den Komplex der sozialen Sicherheit einzugehen, gerade. auch weil Herr Strauß eingangs darauf hingewiesen hat, daß diese Bundesregierung nicht seit 1974, sondern seit 1969 eine Bundesregierung der sozialliberalen Koalition ist und Verantwortung trägt. Darum ist es notwendig, einige der Schwerpunkte dieser Arbeit seit 1969 hier herauszustellen.Ich muß Sie daran erinnern: Bis 1969 — 24 Jahre nach Kriegsende — mußten die Kriegsopfer immer wieder um eine Anpassung ihrer Renten kämpfen.Wir haben diese Leistungen dynamisiert, was dazu geführt hat, daß sie von 1970 bis jetzt um 111 % erhöht worden sind. Wir müssen weiter daran erinnern:Noch 1969 war die soziale Krankenversicherung ein closed shop für viele Gruppen von Arbeitnehmern.
Erst wir haben sie für alle Angestellten geöffnet.Noch 1969 wurde man von der Krankenkasse ausgesteuert, wenn man länger als 18 Monate krank war. Heute zahlt die Krankenkasse zeitlich unbegrenzt den Aufenthalt im Krankenhaus.
— Ach, wollen Sie das deshalb unterlassen, verehrter Herr Kollege? Sagen Sie das bitte den Arbeitnehmern in diesem Lande, daß Sie die Abschaffung der Aussteuerung nicht gewollt haben!
Noch vor sechs Jahren verlor man beim Arbeitsplatzwechsel den Anspruch auf die betriebliche Altersversorgung. Jetzt sind die Betriebsrenten gesichert, auch wenn man den Arbeitgeber wechselt oder der Betrieb Konkurs anmeldet.Noch 1969 wurden Arbeitnehmer doppelt bestraft, wenn der sie beschäftigende Betrieb Konkurs anmelden mußte, weil sie ihren Arbeitsplatz und oft auch die Lohnansprüche verloren. Wir haben mit der Einführung des Konkursausfallgeldes dieses Problem gelöst.Noch 1969 hatten die Mieter in unserem Lande keinen Schutz vor ungerechtfertigten Mieterhöhungen und Kündigungen. Jetzt ist Mieterschutz Dauerrecht geworden.Noch 1969 konnten Selbständige nicht Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung werden, konnten Landwirte der gesetzlichen Krankenversicherung nicht angehören. Heute steht die Rentenversicherung auch für Selbständige offen, und Landwirte genießen den vollen Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung.Noch 1969 wirkte die starre Altersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung wie ein Fallbeil zwischen Arbeitsleben und Rentenleben. Mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze haben wir den Spielraum für die Arbeitnehmer individuell erheblich erweitert.Noch 1969 wirkten die unzulänglichen Regelungen des Kindergeldes und der steuerlichen Berücksichtigung in Form von Freibeträgen zugunsten der begüterten Schichten in diesem Lande. Wir haben mit einer zweckgerichteten Kindergeldregelung gleiche Beträge für jedes Kind in jeder Einkommensgruppe in diesem Lande geschaffen.
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10996 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. EhrenbergDas war nur ein kleiner Ausschnitt aus dem langen Leistungskatalog der Bundesregierung, ein Ausschnitt, den Sie nicht gerne hören. Sie würden noch viel weniger gerne hören, wenn man den gesamten Katalog hier vorlegte. Es wird bei der Beratung der Einzeletats Gelegenheit genug sein, Stück für Stück darauf zurückzukommen, um damit Stück für Stück den Bürgern in diesem Lande deutlich zu machen, daß hier sehr gezielt und sehr konkret, abgestellt auf die individuelle Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, eine positive und zukunftsorientierte Arbeit von der Bundesregierung geleistet worden ist.
Stellt man diesen Leistungskatalog der Bundesregierung
und den Nichtleistungskatalog der Opposition einander gegenüber,
nimmt man die präzisen Aussagen der Bundesregierung und der Bundesbank zur Wirtschafts- und Finanzsituation
und stellt dagegen den dichten Qualm, den Sie bei diesem Thema verbreiten, wertet man Lautstärke gegen Argumente,
dann kann man zusammenfassen, wie es um die Position der Regierung und um die Position der Opposition in diesem Lande wirklich steht, und folgendes feststellen:Erstens. Zu der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung gibt es keine Alternative.
— Sie hätten ja bei der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht und auch heute Gelegenheit gehabt, eine solche Alternative vorzustellen.
Wo ist sie denn?
Meine Damen und Herren, in den Hauptstädten der Welt wird mit Respekt und Anerkennung von den politischen Leistungen der Bundesregierung gesprochen. Unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik wird in den führenden Zeitungen der Welt den eigenen Regierungen als nachahmenswertes Beispiel empfohlen, und auch in der Bundesrepublik selbst hat niemand, weder die Opposition — dann müßte sie es ja zeigen — noch sonst jemand, ein alternatives Konzept auch nur in Umrissen bisher erkennbar werden lassen.Zweitens. Das politische, soziale und wirtschaftliche Klima in unserem Lande ist stabil. Die extremen Parteien an den äußeren Flügeln der hier im Hause vertretenen Parteien haben bei jeder der letzten Wahlen eine eindeutige Absage erhalten, so eindeutig, daß sie politisch nicht existent sind.
Ein deutscher Kommentar zu dieser Tatsache, geschrieben in der „Zeit" am 14. März 1975 — ich darf zum letztenmal mit Genehmigung des Präsidenten zitieren;
— hören Sie bitte, was „Die Zeit", eine angesehene Zeitung in diesem Lande, schreibt! —, lautet:Die Bundesrepublik hat in diesen Krisenmonaten ihre Reifeprüfung bestanden.
Vorübergehende Wirtschaftskrisen können diesen Staat nicht mehr erschüttern. Seine Bürger haben inzwischen sehr wohl begriffen, daß er ihnen noch mehr zu bieten hat als nur ständig wachsenden Wohlstand.Es wäre Ihnen sehr zu empfehlen, meine Damen und Herren von der Opposition, über diesen „Zeit"- Artikel ein wenig nachzudenken. Das Klima in diesem Lande könnte vielleicht etwas besser werden, wenn dieses Nachdenken Früchte trüge.
Drittens und letztens. Die CDU/CSU hat bis heute einen weiten Weg zurückgelegt,
einen Weg der letzten Monate, der letzten Jahre, den mein Kollege Olaf Sund berechtigterweise unter die Überschrift gestellt hat: „Vom Ahlener zum Sonthofener Programm."
Meine Damen und Herren, es ist die große Hoffnung aller Demokraten in diesem Lande, daß die CDU den Weg zurück zu den Grundsätzen des Ahlener Programms wiederfinden und dieser Weg zurück nicht so lange dauern wird wie die jüngste Entwicklung.
Hoffnung gibt mir eine Stimme aus Ihren eigenen Reihen. Am 17. März hat, diesmal in der „Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht, der Vorsitzende der Jungen Union, Mattias Wissmann, gefordert — ich zitiere wörtlich —, daß die CDU „endlich ihren Führungsanspruch durch eine von festen Grundsätzen getragene Alternativkonzeption untermauern"
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10997
Dr. Ehrenbergmüsse. Meine Damen und Herren, deutlicher den Beweis dafür anzutreten, daß es bis jetzt dieses Alternativkonzept nicht gibt, war mir nicht möglich, und ich kann nur hoffen, daß diese Mahnung des Vorsitzenden der Jungen Union an Ihre Adresse nicht ungehört bleibt.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Freiherr von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen, Herr Ehrenberg, jetzt 60 Minuten sorgfältig zugehört: Zu dem eigentlichen Thema, zu dem wir heute zusammen sind, nämlich nach den Konzepten und Zielen dieser Regierung zu fragen, um von daher ein Urteil darüber zu gewinnen, ob die Mittel hier richtig angelegt sind, habe ich in dieser Stunde nichts gehört.
Ich habe nur noch eine Bemerkung zu machen, Herr Ehrenberg: Ich bedauere es, daß Sie sich Ihrem Parteifreund Kühn in seiner demagogischen Verfälschung von Zitaten angeschlossen haben,
von der weder Sie noch Herr Kühn glauben sollten, daß die Bürger Sie Ihnen auch nur noch kurze Zeit abnehmen werden.
Ich möchte mich dem Haushalt zuwenden.
Dieser Haushalt bezeugt die Finanzkrise unseres Staates. Die Finanzkrise aber ist die Folge langfristiger Strukturprobleme.
Diese Strukturprobleme sind es, denen wir uns zuzuwenden haben und die uns zu einer Umstellung zwingen. Die Zeit eines regelmäßigen und auskömmlichen Wachstums ist bis auf weiteres vorbei. Wir können heute schon zufrieden sein, wenn es gelingt, das Erreichte zu erhalten. Die Ansprüche, die an den Staat gestellt werden, und das Leistungsvermögen der öffentlichen Hand geraten in ein immer gefährlicheres Ungleichgewicht zueinander. Mit anderen Worten: Wir leben über unsere Verhältnisse.Die Verantwortung dafür aber trägt nicht der Bürger, sondern die politische Führung.
Denn sie ist es, die immer wieder Erwartungen erzeugt, immer neue Leistungen in Aussicht stellt, ohne daß sie eine Rechnung über die Kosten und die Folgen aufmacht.
Das ist eine Politik des Scheinfortschritts. Der Zweck ist der nächste Wahlsieg, das Mittel sind Versprechungen.
Eine Abhilfe aber ist nur zu erwarten, wenn sich alle miteinander im Denken und Handeln umstellen: Staat, gesellschaftliche Gruppen und die Bürger. Nur, die Signale müssen von der Regierung kommen, Herr Bundeskanzler.
Der Bürger muß vorbereitet werden auf das, was kommt. Darauf hat er Anspruch. Darauf ist aber auch die politische Führung angewiesen. Denn ohne Verständnis und Hilfe des Bürgers wird sie ihre Aufgabe gar nicht erfüllen können.
Nun wollen alle demokratischen Kräfte in diesem Lande mithelfen, die Probleme zu lösen, und zwar ohne Rücksicht darauf, wer sie verursacht hat. Aber Ihrem Haushalt können wir nicht zustimmen; denn Ihre Regierung verweigert der Öffentlichkeit die Wahrheit und Klarheit, die sie ihr schuldet.
Sie haben es unterlassen, vor der Offentlichkeit darzulegen, daß, warum und wo Rechte mit Pflichten, Ansprüche mit Leistungen und also Freiheit mit Verantwortung zusammenhängen.Die jüngste Drucksache Ihrer Regierung, genannt „Arbeitsbericht '75" und geschmückt mit Ihrem Vorwort und Ihrem Bild, spricht nun wieder vor allem davon, daß alles besser, schöner und größer werde. Mehr Rechte, günstigere Bedingungen, größere Sicherheit, stärkere Vorsorge, neue Hilfen und immer wieder und immer mehr Rechte, das ist der wesentliche Inhalt dieser Schrift. Mir scheint, daß ist auch der Grundton Ihrer Politik. Oder, wie neulich in der von Herrn Ehrenberg mit Recht soeben zitierten Zeitung „Die Zeit", die Ihnen ja durchaus wohlgesonnen ist, zu lesen war — ich zitiere — „Wir schaffen das moderne Deutschland, koste es, was es wolle."
Dem Bürger wird alles geliefert und gemacht. Er selbst braucht nichts mehr zu tun. Probleme gibt es nach dieser Weltschau nicht. Wer Probleme beim Namen nennt, ist ein Panikmacher. Allenfalls gibt es vorübergehende Engpässe. Oder es sind Einflüsse des Auslands, an denen die Regierung unschuldig ist. Im übrigen geht alles weiter bergauf. Wir sind die Spitzenreiter der Welt, obwohl das, was wir alle wissen, gerade in den zentralen Gebieten, der Vollbeschäftigung und dem Wachstum, nicht stimmt.
Die Regierung verspricht Angenehmes, verschweigt Unangenehmes. Das Presse- und Informationsamt ist eine Werbeagentur für Volksbeglükkung.
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10998 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. von WeizsäckerDie Regierung selbst aber betreibt ein Krisenmanagement ohne Konzept und Ziel. Die langfristigen Probleme lassen Sie treiben. Deshalb gilt Ihrem Haushalt unser Nein.Nun wissen wir, Herr Bundeskanzler, natürlich sehr wohl, daß Regieren schwer ist. Wir wissen, daß niemand Patentrezepte besitzt. Als Opposition stehen wir zur Mitverantwortung für das öffentliche Wohl. Auch wollen wir später in einem Land Regierungsverantwortung übernehmen, das bis dahin nicht vollends unregierbar gemacht worden sein darf.
Deshalb versagen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, auch nicht die Unterstützung dort, wo Ihre Politik es uns erlaubt. Ich denke dabei an wesentliche Teile Ihrer Ausführungen zur inneren Sicherheit am vergangenen Donnerstagvormittag; freilich nicht an Ihren Beitrag am Donnerstagnachmittag, mit dem Sie Ihrem eigenen Appell zur Sachlichkeit nachträglich den Boden entzogen haben.
Sie haben sich voll engagiert. Sie haben manche Fehler vermieden, und — was mehr ist Sie haben manche Fehler auch offen eingestanden. Das gilt es, positiv zu registrieren.Die Unterstützung gilt auch wichtigen Teilen der Außenpolitik, etwa im Bereich der Außenwirtschaftspolitik, und, um ein jüngstes Beispiel dafür zu nennen, Ihren Verhandlungen in Dublin für die Europäische Gemeinschaft.
Gerade weil die außenpolitische Szenerie mehr als bisher durch außenwirtschaftliche Aufgaben gekennzeichnet ist, kommt dem deutschen Beitrag in der Welt eine wachsende Bedeutung zu. Nur wenn wir unsere internationale Mitverantwortung wahrnehmen, werden wir auch in der Lage sein, die deutschen Interessen zu schützen.Sie haben sich in den ersten zehn Monaten Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, oft an die deutsche Öffentlichkeit mit Erklärungen über die Ursachen und Folgen der gigantischen internationalen Umverteilung gewandt, die mit der Preis- und Produktionspolitik der ölfördernden Länder zusammenhängt. Kein verantwortlicher Politiker wird auch nur für einen Augenblick die bedeutenden Auswirkungen dieser und anderer weltweiter Probleme auf unsere eigene Gesellschaft unterschätzen. Freilich scheint mir die Attitüde nicht angängig, mit der Sie über allzu viele Probleme zu Hause hinweggehen, und die sich etwa so ausdrücken läßt: „Was geht mich das provinzielle Gerede zu Hause an? Ich mache Weltpolitik!"
Denn aktive Beiträge zur internationalen Politik sind ja mit Zumutungen an die Adresse der eigenen Bürger verbunden. Nur allzuoft beruht die außenpolitische Schwäche einer Regierung gerade auf ihrer Manövrierunfähigkeit zu Hause. Also müssen wirlernen, unsere eigenen Interessen besser zu verstehen. Nur beginnt das nicht in der weiten Welt, sondern in der eigenen Gesellschaft.
Eine Regierung, die heute den Schwerpunkt ihres Befähigungsnachweises in der Außenpolitik sucht, drückt sich um den schwereren Teil der Bewährungsprobe, nämlich den zu Hause, herum.Nun schätzen Sie es nicht, Herr Bundeskanzler, ein „Macher" genannt zu werden, der ohne Konzept und Ziel und ohne Sinn für Analyse sei; das kann ich gut verstehen. Sie selbst haben ja, wie jeder hier weiß, wesentlich analytische Beiträge etwa zur weltpolitischen und strategischen Lage unseres Vaterlandes vorgelegt. Sie haben sich mehrfach für eine fundierte wissenschaftliche Vorausschau als Führungsnotwendigkeit und gegen pragmatisches Durchwursteln ausgesprochen. Sie gehen ja auch, wie man hört, gern der Analyse meisterlicher Schachpartien nach. Aber seit Sie Regierungschef sind, fallen Sie Ihren früheren Erkenntnissen immer wieder mit Wort und Tat in den Rücken.
Man braucht nur Ihr jüngstes Interview im amerikanischen Fernsehen nachzulesen. Dort sprachen Sie sich über den bewußten Wechsel aus, den Sie gegenüber der Regierung Brandt herbeiführen wollten, und Sie sagten dazu, an Stelle derer, die eine Situation gut analysierten, hätten Sie die Leute gewollt, die „gewohnt sind. das Ding zu machen".
Dabei hatten Sie doch selbst noch auf dem SPD- Parteitag 1971 in Bonn gesagt:Regierungspolitik kann schon lange nicht mehr von der Hand in den Mund leben. Sie kann nicht ad hoc reagieren. Sie muß analysieren und sich der fundierten Vorausschau bedienen.Was nennen Sie eigentlich „das Ding machen"? „To do the thing", glaube ich, hieß es auf englisch. Das wird man an Hand Ihrer Regierungserklärung und des Arbeitsberichtes Ihrer Regierung konkret überprüfen müssen.Der erste Schwerpunkt Ihrer Regierungserklärung war bekanntlich die Steuerreform. Über dieses Jahrhundertwerk ist heute schon genug gesagt worden. Jedenfalls hat Ihr Finanzminister Apel hier bewiesen, was er kann, nämlich nicht das Ding zu machen, sondern das Ding kaputtzumachen.
Freilich sollte niemand verkennen, daß es Ihr Erbe war, das er zu übernehmen hatte.
Der zweite Schwerpunkt Ihrer Regierungserklärung war die Mitbestimmung. Für Anfang dieses Jahres war das Inkrafttreten des neuen Gesetzes ausdrücklich angekündigt. Aber das einzige, was passierte, war, daß die „Macher" Ihrer Regierung einen Entwurf vorlegten, der das in der Geschichte dieses Parlaments wohl einmalige Schicksal erlebte,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 10999
Dr. von Weizsäckerdaß er auf die einhellige Ablehnung aller beteiligten Kreise der Gesellschaft stieß.
Heute weiß niemand, wie es weitergehen soll. Das ist äußerst bedenklich. Denn die Mitbestimmung ist nun einmal eine Grundbedingung für Partnerschaft an Stelle von einseitiger Herrschaft oder von Klassenkampf. Mitbestimmung verlangt Arbeitsbedingungen und ein Unternehmensrecht, in denen der freie Bürger mitverantwortlich beteiligt ist, in denen er also selbst Rechte und Pflichten der Mitbestimmung erlebt und wahrnimmt.Die Vermögensbildung, ein weiterer Punkt des Arbeitsberichts Ihrer Regierung, ist von der Bildfläche ganz verschwunden. Es ist gar nicht lange her, daß Sie auf einem Parteitag der SPD einmal sagten, entweder käme qua Gesetzgebung zum Thema Steuerreform überhaupt nichts zustande oder es käme etwas einschließlich Vermögensbildung zustande. Sie bekannten sich dazu, ein ganz leidenschaftlich überzeugter Anhänger einer über die reine Sparförderung hinausgehenden Vermögensbildung zu sein. Zu sehen ist davon weit und breit nichts. Teils fiel die Vermögensbildung der Inflation zum Opfer, teils der Uneinigkeit in Ihrer Partei und Koalition.
Die jüngste Leistung Ihrer Regierung war die Investitionszulage vom Dezember 1974, die, wie wir wissen, einseitig zur Vermögensbildung bei Großunternehmen beiträgt.
Ein weiterer Schwerpunkt Ihres Regierungsprogramms war die berufliche Bildung. Sie haben damals gute Ziele genannt, gezeigt aber hat Ihre Regierung am Beispiel der beruflichen Bildung nur, daß sie nicht einig ist und nicht handeln kann. Dank des endlosen Tauziehens in der Koalition liegt dem Bundestag bis heute noch kein Entwurf vor.
Wie wenig es Ihrer Regierung gelungen ist, wirklich einen Kompromiß in der Sache zu finden, zeigt allein die Tatsache, daß anläßlich der Vorlage des Gesetzentwurfes die beiden streitenden Minister Ihres Kabinetts — sie sind jetzt beide nicht da
unabhängig voneinander — und zwar mit einstündigem Abstand — Pressekonferenzen abhielten und sich dabei in zentralen Punkten widersprachen.
Die Bundesländer werden, wenn ich richtig unterrichtet bin, heute überhaupt das erste Mal zum Entwurf gehört. Dabei ist die Jugendarbeitslosigkeit, die mit den Versäumnissen der Koalitionsregierung im beruflichen Bildungswesen unmittelbar zusammenhängt, das dringlichste aktuelle Problem.Ein besonderes Kapitel in Ihrem Arbeitsbericht nehmen die sozialen Leistungen des Staates ein. Dies ist nun in der Tat ein Thema von schlechthin zentraler Bedeutung. Wir bekennen uns mit Genugtuung dazu, daß es in der Nachkriegszeit gelungen ist, durch gemeinsame Anstrengungen ein vorbildliches System sozialer Sicherheit zu schaffen. Dieses System bietet die entscheidende Voraussetzung für die Freiheit des Bürgers.
Darüber hinaus ermöglicht das System eine dynamische Wirtschaft. Unser Arbeits- und Sozialrecht erklärt die vergleichsweise hohe Fähigkeit zu notwendigen Strukturänderungen; es erklärt die Bereitschaft des deutschen Arbeitnehmers zur Zusammenarbeit beim technischen Fortschritt. Deshalb ist jede Anstrengung erforderlich, um dieses System zu erhalten.Um so ernster können die langfristigen Folgen sein, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, die Probleme gerade in diesem Bereich treiben lassen. Denn die Leistungsfähigkeit unserer sozialen Einrichtungen ist schweren Belastungen ausgesetzt. Stagnierendes Wachstum, Arbeitslosigkeit und neue Leistungsverpflichtungen führen zu einer Anspannung ohnegleichen. Die Grenze der Belastbarkeit der Beitragszahler ist erreicht.Das erste, was jeder Bürger in diesem Land verlangen kann, ist eine ungeschminkte Darstellung der Lage.
Aber Ihre Regierung gibt sie nicht. Statt dessen erklärte Ihr Kabinettskollege Arendt z. B. im Januar bei der Debatte über das Sozialbudget hier im Hause, der gegenwärtige Beitragssatz in der Rentenversicherung von 18 % sei selbst bei vorsichtiger Schätzung ausreichend, damit sie bis Ende 1988 leistungsfähig bleibt. Das ist — um es noch vorsichtiger auszudrücken — eine Irreführung der Offentlichkeit.
Denn schon heute kann die Beitragsgrenze doch nur gehalten werden, wenn die Kosten, die im Rentenbereich anfallen, von der Rentenversicherung teilweise auf andere Kassen verlagert werden, z. B. auf die Krankenkassen.
Als Bundesregierung erklären Sie einfach: Wir sind es nicht, die den Bürger höher belasten; das überlassen wir den Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen. — Dieses Verfahren ist aber unseriös und gefährlich.
Der Bürger wird es auf die Dauer weder Ihnen noch Herrn Arendt abnehmen. Denn er, der Bürger, zahlt ja nun einmal alles aus einer, nämlich aus seiner Kasse. Für ihn sind Steuerbelastungen und Steigerungen der Sozialabgaben Abzüge aus ein und derselben Lohntüte. Und er weiß auch, daß dies
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11000 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. von Weizsäckerauf Grund einer durchaus einheitlichen Verantwortung dieser Ihrer Bundesregierung geschieht.
Auch im Gesundheitswesen lassen Sie die Dinge treiben. Dort steigen — es war hier schon die Rede davon — die Krankenversicherungskosten zur Zeit doppelt so schnell wie das Bruttosozialprodukt und die Einkommen. Niemand in Ihrer Regierung wagt sich wirklich an alle Beteiligten, Interessenten und Gruppen heran, um rechtzeitig einem Chaos zu steuern. Das aber wird ganz unvermeidlich sein, wenn wir nicht bald Leistungsvermögen und Leistungsfähigkeit besser miteinander in Einklang bringen. Ihre Regierung operiert auch hier ohne Konzept und Ziel, ja sie versagt sich einer nüchternen Bestandsaufnahme, die doch der notwendige Ausgangspunkt zu gemeinsamem Handeln wäre.
Ich möchte aber diesen Bereich noch etwas allgemeiner darstellen. Wer Ihrer Regierung gegenüber auf den Anstieg der Sozialabgaben und auf die Notwendigkeit einer Bestandsaufnahme hinweist, dem schallt es alsbald entgegen, er betriebe soziale Demontage. So Ihre Sprecher im Januar im Bundestag hier,
so Herr Apel am vergangenen Freitag im Bundesrat. Eine solche Reaktion ist nicht nur abwegig, sondern sie ist vor allem verantwortungslos.
Denn die Frage ist ja doch in Wirklichkeit die, ob auf die Dauer soziale Demontage nicht gerade darin besteht, daß man Gefahren verschweigt, die offenbar auf unser soziales Leistungsvermögen zukommen. Die Frage ist, ob man nicht gerade dadurch neue soziale Ungerechtigkeiten entstehen läßt, daß man einfach alle einmal eingeführten Besitzstände tabuisiert, anstatt sie einer laufenden Kontrolle zu unterwerfen.
Wenn wir danach verlangen, dann deshalb, weil wir keinen Augenblick vergessen, daß unser System der sozialen Sicherheit von uns eingeführt wurde, um ein menschenwürdiges Leben gemeinschaftlich zu sichern. In der modernen Massengesellschaft kann dem einzelnen nicht zugemutet werden, die großen Risiken des Lebens selbst zu tragen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die Sicherung möglichst gleicher Chancen erfordert es. Kein Mensch denkt daran, dies rückgängig zu machen, am allerwenigsten die Unionsparteien, unter deren Führung die wesentlichen sozialpolitischen Entscheidungen in der Nachkriegszeit getroffen worden sind.
Aber wir leben nun einmal in einer Welt des ständigen Wandels. Wenn sich Bevölkerung und Beschäftigung, Ausbildungsstand und Leistungsvermögen, Technik und Wirtschaft unaufhörlich verändern, dann bedürfen eben auch manche Besitzstände der Überprüfung.
Denn wir müssen uns laufend vergewissern, ob das Gemeinwesen sie wirtschaftlich tragen kann, ob sie den heutigen Erfordernissen sozialer Gerechtigkeit entsprechen und welche Auswirkungen sie auf den Menschen haben. Das ist häufig unbequem, ja auf Anhieb sogar zunächst unpopulär, aber es ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit,
was ich dem Sprecher gerne sagen möchte, der hier mit „Aha!" reagiert hat.Wir haben — dies sei nur als ein Beispiel genannt — um der notwendigen Chancengerechtigkeit willen das kostenfreie Studium eingerichtet. Aber wäre es nicht gerade aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit gegenüber der großen Zahl der Steuerzahler geboten, diejenigen, die dieses Nulltarif-Studium in den Stand setzt, lebenslang ein überdurchschnittliches Einkommen zu erzielen, später auch zur Rückzahlung von Studienkosten an die Gemeinschaftskasse der Steuerzahler heranzuziehen?
Meine Damen und Herren, je größer die Probleme sind, desto notwendiger ist es, zu wissen, worauf die Regierung langfristig hinaus will. Das eben ist es jedoch, was wir bei Ihnen, Herr Bundeskanzler, nicht wissen. Sie können ja nicht im Ernst glauben, daß die Finanz- und Beschäftigungskrisen und die Gefährdung unseres sozialen Leistungssystems nur so eine kleine Magenverstimmung darstellen, gegen die man kurzfristig Gesundheitstee verordnet, um dann zu den alten Konsumgewohnheiten wieder zurückzukehren.Wir sind uns vermutlich auch darin einig, daß Kassandra kein Erfolgsmodell für einen demokratischen Politiker ist. Auch mit der bloßen Predigt des Konsumverzichts ist es in einem freiheitlichen Gemeinwesen nicht getan. Der Aufruf zur Askese zeigt ja noch kein verständliches Ziel, er entwickelt noch keine motivierende Kraft für das freie Bürgerdasein. Aber um diese Motivierung geht es doch wohl auch Ihnen — oder nicht? Bescheidung der materiellen Ansprüche ist nötig, aber doch im Zusammenhang mit und als Folge von Werten, von Wünschen und Zielen des Bürgers, die wir eben anders zu beschreiben haben als durch bloße Enthaltsamkeit.
Was sind diese Werte und Ziele des Bürgers? Welches Gewicht mißt Ihre Regierung dieser Frage überhaupt zu? Wollen Sie einen Beitrag dazu leisten, und wenn ja, welchen?Sie haben sich, Herr Bundeskanzler, seit Ihrem Regierungsantritt mehrfach gegen den Vorwurf des Pragmatismus gewehrt. Wir müssen uns darüber verständigen, glaube ich, was wir mit diesem Begriff meinen. Pragmatismus hat nach meiner Überzeugung sein volles Recht als Absage an eine innerweltliche menschengeschaffene Heilslehre. Pragma-
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Dr. von Weizsäckertismus darf freilich nicht zum Deckmantel für Technokratie oder Opportunismus werden.Nun haben Sie mehrfach Ihren Pragmatismus auf Kant zurückgeführt. Danach — so sagten Sie — sei Politik pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwekken. Ihnen gehe es darum, feststehende sittliche Grundsätze auf wechselnde Situationen anzuwenden. Ich habe auch jüngst im „Vorwärts" Ihren dort abgedruckten Beitrag zu diesem Thema mit Vergnügen gelesen — was ich nicht von allen Artikeln des „Vorwärts" sagen möchte.
Aber die eigentlichen Antworten sind Sie uns doch noch schuldig und erst recht die Anwendung solcher Antworten auf Ihre Politik. Denn Kant, Herr Bundeskanzler, ist ja nun einmal der klassische Vertreter einer Gesinnungsethik. Er ist der ideale Kronzeuge für einen Pragmatismus, der in bezug auf die konkreten Inhalte der Werte noch gar nichts aussagt. Sittlichkeit setzt nach Kant Freiheit voraus, Freiheit als moralische Selbstgesetzgebung des Menschen. Es genügt nicht, sich in dieser Freiheit einfach auf Kant zu berufen, sondern nun müssen die Wertentscheidungen getroffen, nun müssen die Konsequenzen für die Politik sichtbar gemacht werden — von Ihnen!Sie stellen sich in diesem selben „Vorwärts"-Aufsatz die Frage, ob Ihre Ideen für eine gerechte Gestaltung der Gesellschaft zu verwirklichen seien oder ob nicht die Hindernisse dagegen, die Interessen des Status quo oder die Denkgewohnheiten der Wähler zu mächtig und gar nicht überwindbar seien.Ich möchte bezweifeln, daß eine politische Führung berechtigt ist, die politischen Schwierigkeiten, vor denen sie steht, auf die Denkgewohnheiten der Wähler abzuwälzen.
Damit weicht die Führung ja doch der eigenen Verantwortung für diese Gewohnheiten aus. Auch unterschätzt sie, wie ich meine, die Vernunft des Wählers. Was sind denn seine Denkgewohnheiten und seine Wünsche?Der Bürger unseres Landes ist zunächst interessiert an Gesundheit, an Sicherheit, an Gerechtigkeit in der Verteilung der Chancen und Güter des Lebens und an Wohlstand — an einem Wohlstand, der nicht selbst das Glück ist, aber doch die Voraussetzung für ein freies Leben bietet. Es spielen also materielle Wünsche eine große Rolle.Wie verhält sich dieser Bürger zum Gemeinwesen? Zunächst nimmt er, was er bekommt. Warum soll er auch nicht in Anspruch nehmen, was „kostenlos" zu haben ist, wenn die Regierung ihm das Anspruchsdenken zum Nulltarif förmlich anerzieht?
Soll er für den Staat sparsam und sorgsam sein, wo andere es nicht sind und wo insbesondere der Staat gar nicht mit gutem Beispiel vorangeht?
Denken wir nur an die Entwicklung im öffentlichen Dienst seit 1969!Andererseits weiß der Bürger aus seinem privaten Haushalt doch recht gut, daß er nur das ausgeben kann, was er einnimmt. Er braucht nicht Volkswirtschaft studiert zu haben, um zu wissen, daß dieser Staat unter Ihrer Regierung über seine Verhältnisse zu leben sich angewöhnt hat
und daß über kurz oder lang schwerwiegende Eingriffe bevorstehen.
Nun wartet er darauf, wann Sie ihn darüber zu informieren gedenken, wie Sie die Finanzprobleme lösen werden:
durch Ausgabenkürzungen, durch Steuererhöhungen oder durch immer neue und größere Schuldenhaushalte, die nur um den Preis der großen Inflation und damit der fundamentalsten sozialen Ungerechtigkeit zu haben waren.
Der Burger ahnt diese Gefahren. Manches davon hat er in der Vergangenheit schon erfahren. Deshalb ist er daran interessiert, daß in der Politik rechtzeitig Maßstäbe der Vernunft und der Wirtschaftlichkeit angewandt werden.
Er will ungeschminkte Vorhersagen und langfristige Zielsetzungen hören, und zwar von der amtierenden Regierung.
Er will sie auch dann hören, wenn sie eingefahrenen Gewohnheiten widersprechen. Er hat gar nicht die Sucht nach immer neuen Versprechungen. Ein Beweis dafür ist auch, daß immer mehr Menschen zur Umorientierung auf Selbsthilfe, auf Rücksichtnahme und Wirtschaftlichkeit fähig und bereit sind; denn sie spüren ja ganz gut, daß damit langfristig die eigenen Interessen besser zu sichern sind als nur durch den entfesselten Kampf ständig wachsender Ansprüche bei kleinerem oder stagnierendem Wachstum.
-- Nur, die Initiative dazu kann ja nicht von ihm, sondern muß von Ihnen ausgehen, Herr von Bülow, bzw. von Ihrem Bundeskanzler.
Etwas anderes und noch Wichtigeres kommt noch hinzu. Von materiellen Ansprüchen allein kann der Mensch auf die Dauer nicht leben; er braucht eine weitergehende Orientierung. Er sucht verständliche Antworten auf Fragen nach dem Sinn und Ziel seines freien Bürgerdaseins. Der gemeinsame Wieder-
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11002 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. von Weizsäckeraufbau nach dem Krieg lieferte eine solche Orientierung; wir schlossen ihn mit großem materiellen Erfolg ab. Aber damit, weiterführende Aufgaben und Ziele vor allem für die junge Generation zu entwickeln, sind wir Älteren alle miteinander nicht so gut fertig geworden.Nun haben Sie, Herr Bundeskanzler, in der Sicherheitsdebatte eine Art von Alleinvertretungsanspruch der Koalitionsparteien für die geistige Auseinandersetzung und für die Aufgabe der Integration der jungen Generation angemeldet. Das ist einfach abwegig.
Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für die Entstehung der Probleme zwischen den Generationen, und gemeinsam — wenn auch im demokratischen Wettbewerb untereinander — bemühen wir uns, Aufgaben und Ziele für jung und alt über den Tag hinaus verständlich zu machen. Wenn Sie Monopolansprüche anmelden, setzen Sie Ihren Anteil der Jugend mit der ganzen Jugend in Deutschland gleich. Aber die laufenden Wahlen sollten Ihnen Beweis genug dafür sein, daß sich die junge Generation im ganzen dafür nicht hergibt.
Im übrigen: Wer setzt sich denn dort, wo nicht nur Argumente, sondern auch Farbbeutel und Steine durch den Hörsaal fliegen, z. B. im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin, mit diesem Teil der Jugend auseinander? Als ich neulich dort war, wußte mir keiner zu erzählen, daß Sie dort in den letzten Jahren gesichtet worden wären. Wohl aber nutzten Sie, wenn es stimmt, was das „Sonntagsblatt" berichtet hat, die nur allzu verständliche Erregung der Berliner Bevölkerung nach der Ermordung des Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann bei einer Rede am Funkturm dazu aus, einfach über die Studenten als solche pauschal und undifferenziert herzufallen, um damit besonderen Beifall zu erringen. Erwarten Sie, daß damit Glaubwürdigkeit der Jugend gegenüber erzielt wird? Wenn die Zeitungsmeldung falsch war, dann bitte ich Sie, sie hier richtigzustellen.Nein, die Fragen nach den Werten und Zielen für jung und alt, Werten, die jenseits der nur materiellen Ansprüche liegen, bewegen und betreffen uns seit Jahren, und zwar alle miteinander. Die technokratisch organisierte und materiell orientierte Gesellschaft beantwortet sie nicht. Ich möchte dafür drei Beispiele nennen:Wir investieren immer mehr Geld und Technik in die Krankheitsbekämpfung, aber die Aufgabe einer Pflege im menschlichen Sinn lösen wir immer schlechter. Finanzieller und technischer Fortschritt in der Versorgung genügt eben nicht, vielmehr geht es darüber hinaus um die Pflege und Betreuung von Mensch zu Mensch. Wir brauchen also personale und soziale Dienste, die die materiellen Leistungen ergänzen.
Die Zahl der Kranken, der Isolierten, der Einsamen und Hilfsbedürftigen wächst immer mehr. Erfreulicherweise steigen aber auch die Angebote jüngerer und älterer Bürger für solche sozialen Dienstleistungen. Mehr Menschen bieten sich zur Zeit dafür an, als kurzfristig ausgebildet und eingesetzt werden können. Welches Leitbild und welche politischen und organisatorischen Maßnahmen treffen Sie mit Ihrer Regierung dafür?Ein nächstes Beispiel. Wir basteln immer neue Bildungsstrukturen, aber was für ein Mensch dabei herauskommt, wissen wir immer weniger. Welchen konzeptionellen Beitrag zur Vereinfachung des Bildungssystems, zur Orientierung der Bildung an der späteren Beschäftigung, vor allem aber zur Menschlichkeit und Kinderfreundlichkeit dieses Bildungswesens leistet Ihre politische Führung?
Chancengerechtigkeit wollen wir alle.
— Warten Sie es nur ab, ich komme noch darauf zurück, und dann werden Sie vielleicht nicht mehr so laut dazwischenrufen.
Nirgends, wo der junge Mensch chancengerecht heranwachsen soll, geht es ideal zu, weder in den Schulen und Hochschulen noch in den Betrieben, noch in den Familien. Also müssen diese Lebensbereiche — und das heißt, in allererster Linie die Familie — über ihre Mitwirkungsaufgabe bei der Bildung und Erziehung gründlicher informiert, sie müssen besser dafür instand gesetzt werden.Wir haben, wie Sie wissen, ein Erziehungsgeld vorgeschlagen. Es soll in der ersten Lebensphase der Kinder denjenigen Müttern zugute kommen, denen sonst aus sozialen Gründen die Unterbrechung des Berufs nicht zuzumuten wäre.
- Augenblick mal, warten Sie es nur ab. Sie rufen immer zu früh dazwischen.Ein typischer Fall von staatlich geförderter Selbsthilfe ist das. Für uns Menschen ist es nämlich viel gesünder und trägt zur Selbstverwirklichung viel mehr bei, wenn wir solche Tätigkeiten in der Familie selbst übernehmen, anstatt sie gemacht zu bekommen.
Für den Staat aber, Herr von Bülow, wird es auf die Dauer billiger, das Erziehungsgeld zu zahlen, als die Kleinstkinder berufstätiger Eltern in teuren Heimen betreuen zu müssen
oder gar die Kinder versorgen zu müssen, welche lebenslange Schäden hinnehmen müssen, weil sie nämlich in der ersten Lebensphase die Mutter entbehren mußten.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11003
Dr. von WeizsäckerVor allem aber ist das Recht auf gleiche Chancen für das Kind zunächst sein Recht auf seine Mutter und seine Familie.
Wer es ernst meint mit der Chancengerechtigkeit, muß die Familie besser ausbilden und sichern, nicht aber sie problematisieren.
Nun haben Sie, Herr Bundeskanzler, in einer internen Parteibewertung oder Parteischelte oder wie man das nennen soll —
sie war in der „Frankfurter Rundschau" nachzulesen — erklärt, im hessischen Wahlkampf hätten Sie sich um die Beantwortung von Fragen nach den Rahmenrichtlinien herumgedrückt und sie den örtlichen Kandidaten — vielleicht waren Sie das —
überlassen, weil Ihnen das Ganze nicht geheuer gewesen sei. Wenn Sie sich nur ausschweigen, dann lassen Sie die Dinge treiben.
Verhindern Sie, daß in sozialdemokratisch geführten Ländern immer von neuem Kinder auf den Schulen gegen ihre Eltern aufgewiegelt werden!
Erklären Sie hier, Herr Bundeskanzler, ob die groteske Behauptung in der einleitenden Begründung zum Gesetzentwurf Ihrer Regierung über die Neuregelung des elterlichen Sorgerechts Ihrer Vorstellung entspricht, daß das Kleinkind ebenso wie der Heranwachsende Objekt elterlicher Fremdbestimmung sei!
Setzen Sie durch, daß der einstmals gemeinsame Ministerpräsidentenerlaß bald effektiv und einheitlich zur Anwendung kommt! Es gilt doch zu verhindern, daß in irgendeinem Bundesland unsere Kinder durch radikale Lehrer zur Intoleranz erzogen werden können.
Weiter möchte ich fragen: Was haben Sie bisher getan, um der unmittelbar bevorstehenden Ehescheidungsreform eine Gestalt zu geben, die das Wohl der minderjährigen Kinder auch wirklich berücksichtigt?
Wenn Sie sich für die junge Generation so lebhaft, wie Sie sagen, einsetzen, was tun Sie dann, um eine Fristenautomatik im Scheidungsrecht zu verhindern, so daß z. B. eine Ehefrau demnächst gegen eine Kündigung ihrer Wohnung besser geschützt sein wird als gegen eine Kündigung ihrer Ehe?
Die Leidtragenden sind wiederum in erster Linie die Kinder. Sind Sie bereit, sich dafür einzusetzen, daß im Gesetzestext selbst steht: Die Ehe ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt? Oder wollen Sie auch hier ohne Leitbild auskommen?
Ein drittes Beispiel betrifft die Verteilungskämpfe in unserer Gesellschaft, in denen sich die Gruppen immer verbissener um höhere Anteile eines kleiner werdenden Kuchens streiten.
Dadurch wird die Atmosphäre gefährdet, und beim Menschen wächst die Zukunftsangst, vor allem bei den Schwachen in der Gesellschaft, deren Schutz doch die wichtigste Aufgabe des Staates sein soll.Ohne Reform kann die freie Gesellschaft nicht überleben; denn die Bedingungen der Freiheit, die Aufgaben und die Kräfte in der Gesellschaft unterliegen einem ständigen Wandel. Deshalb setzen Reformen zunächst die Fähigkeit voraus, diese Wandlungen beim Namen zu nennen. Das aber ist es, was wir bei Ihnen vermissen, und zwar schon seit Ihrer Regierungserklärung. Wer sind denn die Starken? Wer sind die Schwachen? Ich meine, nicht zur Zeit der Gründung der SPD oder am Ende des Krieges, sondern heute.Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben bei Ihrem Amtsantritt erklärt, Ihre große Aufgabe sei es, die Arbeitnehmer in den Staat zu integrieren. Zahlreiche Äußerungen von Ihnen und Ihren Kollegen in der SPD-Führung verweisen immer wieder auf den traditionellen Anspruch einer Arbeiterpartei, nämlich die vielen Arbeitnehmer gegen die kleine Klasse der Kapitalisten zu schützen. Herr Brandt hat noch letzte Woche von dieser Stelle aus einen Monopolanspruch seiner Partei für die Interessenvertretung der breiten arbeitenden Schichten unseres Volkes angemeldet. Sind eigentlich unsere großen Städte, von denen sich nun eine nach der anderen mehrheitlich zur CDU bekennt, von arbeitenden Menschen oder von kapitalistischen Faulenzern bewohnt?
Ihr Bild von der Gesellschaft wird noch immer zu sehr von einer traditionellen Parteirhetorik gekennzeichnet. Sie wissen doch ganz gut, daß wir längst eine Arbeitnehmergesellschaft sind. Die Arbeitnehmer sind die bei weitem größte und wichtigste Gruppe in der Bevölkerung. Natürlich bedürfen sie des Schutzes, vor allem vor der Arbeitslosigkeit und vor den Risiken des Lebens. Aber diese Arbeitnehmer sind doch nicht die Außenstehenden in einem von anderen beherrschten System; sie sind selber seine Träger. Es ist einfach Vulgärmarxismus, das Monopolkapital als beherrschende Kraft unserer heutigen Gesellschaft zu kennzeichnen — das können Sie übrigens auch in der „Neuen Gesellschaft" nachlesen —, und es ist eine Illusion, Unruhen in Gegenwart und Zukunft dort zu erwarten, wo sie der orthodoxe Marxist bis heute theoretisch fordert, nämlich im Spannungsfeld von Kapital und Arbeit.
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11004 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. von WeizsäckerDie Starken in der heutigen Gesellschaft sind Kapital und Arbeit zusammen oder genauer: die großen Arbeitgeber und die großen Gewerkschaften miteinander. Gemeinsam führen sie die materiell orientierte, die gut ausgebildete und die wohl organisierte Männergesellschaft der gewerblichen Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes an.Natürlich gibt es heftigen Streit unter den Tarifparteien um Prozente und Rahmenbedingungen. Am Ende aber siegen doch nicht die Kapitalisten gegen die Arbeitnehmer oder umgekehrt. Gewinner sind vielmehr die Tarifpartner zusammen, und zwar in starken Branchen und in günstigen Regionen zu Lasten der schwachen Branchen und Regionen.
Die Mächtigen diktieren praktisch gemeinsam dem Rest der Gesellschaft die sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen.
Und heute siegen letztlich nicht selten die Beschäftigten gegen die Unbeschäftigten.Dieser Rest, die Schwachen in der Gesellschaft, ist eine gewaltige Zahl, vielleicht die Mehrheit. Aber sie lassen sich nicht organisieren wie große Tarifparteien. In ihrem Alter, in ihrem Geschlecht, in ihren Aufgaben, in ihren Interessen und Beschwerden sind sie nicht auf einen Nenner zu bringen. Was sie eint, ist, daß sie zusammen die Klasse der Abhängigen bilden: Rentner; ältere Arbeitnehmer; Angelernte und Ungelernte vor allem in der jungen Generation, die den psychosozialen Gefahren der Arbeitslosigkeit mehr als alle anderen ausgesetzt sind; die auf Teilzeitarbeit angewiesenen Frauen, die sich besonders schwer tun in einer Beschäftigungskrise; die Hausfrauen, jene letzten Idealisten der Nation, von denen wir kostenlose Dienste und Betreuung erwarten;
große Teile der Selbständigen im Handwerk, im Handel und in der Industrie, die von der Wirtschaftspolitik dieser Regierung besonders schwer getroffen sind;
schließlich die Bewohner zurückgebliebener Regionen.Aber auch die Gastarbeiter gehören dazu, über die Herr Apel neulich jene enthüllende Bemerkung in der „Bild-Zeitung" machte, als er sagte, die Deutschen seien eben nicht bereit, bestimmte Arbeiten zu machen; deshalb bedürfe es zwar der Gastarbeiter, aber man werde sie um eine Million reduzieren.
Ist das Ihr pragmatisches Handeln auf sittlicher Grundlage?
Nein, man kann eben nicht in guten Zeiten Gastarbeiter für sich arbeiten lassen, um ihnen dann inschlechten Zeiten die Lasten auf die Schultern zu packen.
Alles andere wäre Opportunismus, der nicht nur unmoralisch ist, sondern auch unseren langfristigen eigenen Interessen widerspricht.
Schließlich gehören auch viele Kinder zu den Schwachen. Der Numerus clausus und der Kampf um die Notendurchschnitte schon im frühen Alter vermitteln ihnen das Bild einer vernagelten Welt. Sie sind bewegt von der Frage: Wozu bin ich da? Werde ich überhaupt gebraucht, und wofür? Natürlich trifft Sie, Herr Bundeskanzler, dafür die Verantwortung nicht allein. Wir tragen sie alle miteinander.
Aber wo ist bei Ihnen als dem Regierungschef dieses Landes in Ihrer Regierungserklärung, in Ihren Reden hier im Haus oder in der Begründung für die Verwendung der Mittel, über die wir heute beschließen, von diesen Fragen überhaupt die Rede? Welche Zeichen setzen Sie? Wo sind hier Ihr langfristiges Konzept und Ziel?
Meine Damen und Herren, vor einem knappen Jahr machte die SPD Sie, Herr Bundeskanzler, zum Regierungschef, um dem Verfall des öffentlichen Ansehens der Koalitionsregierung entgegenzuwirken.
Wir wissen ja, wie das zustande kam. Ihre Aufgabe lautete, als Kanzler die Wiederwahl der SPD zu ermöglichen. Das war ein politisch völlig verständlicher Auftrag und dazu natürlich auch demokratisch völlig legitim.
Nicht irgend jemand anderes, sondern die SPD hat Sie zum Kanzler vorgeschlagen, und dort sind Sie nun auch stellvertretender Parteivorsitzender.Nun hat es da allerhand Ärger mit dieser Ihrer Partei gegeben. In Anbetracht von Guilleaume, Wienand und anderen versuchten Sie es zunächst mit der Devise: Was geht mich meine Partei an? Ich regiere. Das ließ sich natürlich auf die Dauer nicht durchhalten. Sie haben dann in der schon erwähnten internen Rede Ihrer Partei die Skandale, die Verfilzungen und die Brutstätten von Ämterpatronage, vor allem im Ruhrgebiet, beim Namen genannt, und das ehrt Sie.
— Lesen Sie es doch in der „Frankfurter Rundschau" nach!
Dann haben Sie Ihrer Partei gesagt, der Bundeskanzler verfüge über ein sehr viel höheres Ansehen bei
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Dr. von Weizsäckerden Wählern als die eigene Partei, und deshalb solle sich die SPD danach richten.Nur funktioniert das natürlich auch nicht. Denn Sie haben nun einmal die Verantwortung für Ihre Partei, deren Exponent Sie sind. Die Schwierigkeiten in der Entscheidungsfähigkeit Ihrer Regierung und der Rückgang des SPD-Ansehens beim Wähler — siehe sämtliche Landtagswahlen — sind nun einmal vor allem Ihr Problem als Kanzler. Doppelstrategie, von der heute hier schon mehrfach die Rede war, vordemonstriert in der Sicherheitsdebatte letzte Woche, Doppelstrategie macht auf die Dauer das Ganze nur unglaubwürdiger.
Wenn Ministerpräsident Kühn unser Land für unregierbar erklärt, wenn die SPD nicht mehr regiert, oder wenn Herr Wehner die Opposition als demokratische Alternative immer wieder in die Nähe von Neonazis rückt, dann fällt das in den Augen der Bevölkerung nicht auf uns, sondern auf Sie zurück.
Dasselbe gilt für die erstaunliche Kette von Äußerungen Ihres Parteivorsitzenden Brandt. Dies alles waren ja seine Worte: Er wollte die Betriebe mobilisieren — gegen uns, also gegen Verfassungsorgane. Das anständige Deutschland stehe hinter ihm. Die Demokratie fange mit seiner Regierung erst richtig an.
Vollendet sei die Demokratie im Sozialismus. Die SPD sei der Hauptfeind der Extremisten, weil sie so besonders gerecht und friedlich sei. Die Unionsparteien könnten die freiheitliche Substanz in diesem Lande gar nicht vertreten. Und dann rief er uns hier am letzten Donnerstag noch zu, wir sollten anständig zuhören, wenn der Vorsitzende spricht.
Nein, dieser Mann ist nicht der Vorsitzende hier im Parlament. Aber er war einmal Regierungschef und als solcher in der Welt geachtet.
Um so mehr ist es bestürzend, wie dieser Mann das Augenmaß verliert.
Schlimmer aber ist, daß die SPD gerade den Namen dieses Mannes dazu benützen möchte, um ihr Bedürfnis nach Polarisierung und nach Verwandlung des politischen Gegners in einen Feind zu befriedigen. Das ist Ihr Problem, Herr Bundeskanzler; denn Sie singen ja die Oberstimme in diesem doppelstrategischen Duett.
Doppelstrategie funktioniert auf die Dauer nie. Nicht nur hat Brandt neulich schon so schön gesagt, wer sich mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, anlege, bekomme es mit ihm zu tun.
Der Wähler weiß natürlich auch, wer Schmidt wählt, der wählt auch Brandt und Wehner, der wählt auch Jochen Steffen und Girgensohn und auch die Jusos.
Der wählt die Jusos mit allen ihren Flügeln, auch mit dem Stamokap-Flügel.Die Probleme, vor denen wir stehen — ich komme damit zum Schluß —, sind für solche Taktiken und Tricks zu ernst. Der Bürger in unserem Lande weiß das ganz gut. Deshalb will er auch gar nicht wissen, wer am besten polemisieren, wer die meisten undemokratischen Monopolansprüche stellen und wer die besten Pappkameraden aufbauen kann. Was er wissen will, ist, wer die Aufgaben beim Namen nennt und Lösungsvorschläge macht.
Er weiß, daß Lösungen nur dann erfolgreich sein werden, wenn er — der Bürger — tätig mithilft. Er weiß, daß unsere Gesellschaft, die durch Freiheit und Wohlstand gekennzeichnet ist, nicht mit Ansprüchen und Rechten allein die Zukunft meistern wird, sondern nur durch seine eigene stärkere soziale Orientierung, durch seine Mitbeteiligung und seine Mitverantwortung. — Mit Ihren Zwischenrufen werden Sie diesem Bürger den Weg dazu nicht weisen.
Ich wiederhole: Immer mehr Menschen sind zu dieser Hilfe und Selbsthilfe bereit. Es ist die Aufgabe der politischen Führung, diese Bereitschaft zu nutzen, zu steuern und bei der öffentlichen Hand mit gutem Beispiel voranzugehen.
Davon hängt es ab, ob wir mit Beschäftigungskrise und Stagnation der Realeinkommen, mit Verteilungskämpfen und Besitzständen, mit den Mißverhältnissen von Ansprüchen und Leistungen, mit der Krise der politischen Prioritäten und auch mit der Suche der Menschen nach Orientierung und nach Werten und Zielen fertig werden. Darauf hat Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, bisher keine Antwort gegeben.
Wir fordern Sie auf, sie zu liefern. Nach heutiger Sicht fehlt sie. Deshalb gilt Ihrer Politik und gilt Ihrem Haushalt unser Nein.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat festgelegt, daß wir eine einstündige Mittagspause einschieben.
Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
Meine Damen und Herren, wir fahren in den Beratungen fort. Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine Haushaltsdebatte ist ein hervorragendes Angebot für das Parlament wie für die Bürger im Lande, für unseren Souverän und an ihn, sich jeweils neu zu orientieren über die Position, die die Parteien und die Fraktionen im Parlament zur gegenwärtigen Situation einnehmen. Der Souverän, der Mensch im Lande, der Bürger, in dessen Diensten wir alle — alle Parteien und alle Mitglieder dieses Hauses — stehen, hat auch ein Recht darauf, zu hören, gesagt zu bekommen: Welche Position nimmt welche Partei zu welchem Problem ein. Er, der Souverän, der Bürger des Landes, hat das Regierungsprogramm vorliegen. Er kennt es. Er weiß, was die Regierung will. Er weiß, was jene Fraktionen wollen, die diese Regierung tragen. Er, der Souverän, der Bürger, unser Herr, erwartet, daß die Opposition ihren Standpunkt danebenstellt.Wenn ich die Debatte bisher als einer jener vielen im Lande, von denen Herr von Weizsäcker sprach, jener vielen Millionen, die nicht Volkswirtschaft und auch nichts anderes studiert haben, recht verstanden habe, kann der Bürger bisher zwar die Position der Koalition, zwar die Position der Regierung genau, deutlich und akkurat erkennen,
er kann dies aber nicht von der Opposition.
Er weiß bis jetzt — jedenfalls geht es mir wie vielen anderen so, und ich bin sicher, daß es vielen von Ihnen auch so geht nichts über die Stellung der Opposition. Denn die an sich bedenkenswerte Rede des Herrn von Weizsäcker, über die nachzudenken in vielen Passagen sich lohnen wird, war ja, wenn ich alles bisher Erlebte hier recht einordne und recht verstehe, keine Rede von der CDU/CSU, sondern eine Rede des Herrn von Weizsäcker.
Herr von Weizsäcker, ich will Ihnen gerne froh bekennen, daß ich Ihnen mein Kompliment mache für diesen Gedanken. Viele sind nachdenkenswert. In vielen Bereichen würden. Sie jedenfalls mich, diesen Menschen, der nur auf sich hat schießen lassen dürfen und nur schwer hat arbeiten müssen, sehr bereit finden zum Debattieren, und Sie würden ihn in mancher Passage auch jetzt schon bereit finden zur Zusammenarbeit, zum Reden über dies. Aber der Sinn einer Haushaltsdebatte ist doch nicht allein, große, hervorragende Ideen zu entwickeln, sondern konkret danebenzustellen: Souverän, Bürger des Landes, dies halten wir dann und wann mit diesen oder jenen Mitteln für machbar, und das wollen wir dann machen.
Wenn es dann um einige Einzelheiten geht, über die jedenfalls ich, Herr von Weizsäcker, mit Ihnen nachzudenken bereit bin, treffe ich Sie an einer Station, die die Koalition bereits abhaken kann. In diesem Hause — ich hoffe, auch in unserem Lande — wird es doch niemanden geben, der nicht für mehr menschliches Miteinander, für mehr brüderliches und schwesterliches Miteinander, unabhängig von der Nationalität, sein wird. Mein Freund und Kollege hat in seiner Erklärung heute morgen eben diesen Appell an uns alle aus seiner Überzeugung richten wollen. Nur, die Politik im Lande besteht ja nicht darin, sie ist auch gar nicht so zu machen, sie darf auch nicht so begreifbar sein, daß wir dies alles philosophisch als Hoffnung und Ziel nebeneinanderordnen, untereinanderschreiben und dann verkünden. Die Politik ist das mühsame Geschäft — aber ich bin sicher, das sage ich im Augenblick einem, der es längst anders erlebt hat —, Steinehen für Steinchen zusammenzutragen, um dieses Ergebnis zuwege zu bringen.Da reden Sie unter anderem — begrüßenswerter-weise — von der Lage der ausländischen Arbeitnehmer in unserem Lande. Wer, verehrter Herr von Weizsäcker, wer, meine Damen und Herren, hat denn eigentlich die ersten notwendigen und richtigen Schritte auf diesem Wege getan? Ausländer, Menschen, die uns helfen, unser Sozialprodukt zu erhalten oder zu vergrößern, gibt es doch in unserer Bundesrepublik Deutschland nicht erst seit 1966. Ausländische Arbeitnehmerkollegen gibt es in der Wirtschaft schon sehr viel länger. Aber die ausländischen Mitarbeiter mußten warten, bis diese Regierung die Regierungsgeschäfte übernahm, um beispielsweise sichergestellt zu bekommen, daß ein Wohnraum gesetzlich vorgeschrieben wird, der in jedem Falle menschenwürdig ist.
Wenn es also um die Detailverwirklichung geht, dann wird man auf solche Punkte treffen. Wenn es an die Verwirklichung von Details dieser philosophischen Rede geht, dann wird man auf die Punkte treffen, bei denen man der sozialliberalen Koalition bescheinigen muß — auch wenn man sie nicht wählt —, daß sie genau in dem Sinne, den Sie beschworen haben, längst vor dieser Beschwörung nachhaltig und im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv geworden ist.
Ich wäre auch sehr dankbar, wenn wir nachdenken könnten über Formeln und Zusammenhänge wie etwa die: Soziale Besitzstände sollten besser laufend kontrolliert und nicht tabuiert werden. — Das klingt natürlich recht phantastisch, und das wird uns möglicherweise in der Zukunft auch nicht erspart bleiben, weil Politik nicht allein mit dem Hunger nach Popularität — auch nicht eine solche Debatte, auch nicht eine einzelne Rede, sei sie noch so gleißend schön und habe sie noch so hervorragende Formulierungen — gemacht werden kann. Wir müssen aber dann, meine Damen und Herren, wenn wir so oder so ähnlich reden, denen, die etwas nicht mehr bekommen, worauf sie bisher Anspruch hat-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11007
Schmitt
ten — und was ja nach Lage der Dinge wohl auch richtig ist --, sagen, warum das so ist und zu wessen Lasten dies geht. Wenn man das nicht dazusagt, Herr von Weizsäcker, bleibt die Weisheit Halbweisheit, weil nicht andeutungsweise verwirklichbar.
Ich erinnere mich an eines meiner ersten Erlebnisse in diesem Hause. In der 6. Legislaturperiode war vor Auflösung des Parlaments — wenn ich das von draußen richtig beobachtet habe — das Gesetz über die Einführung der flexiblen Altersgrenze einstimmig verabschiedet worden. Das Parlament wurde aufgelöst, und der 7. Deutsche Bundestag — das jetzige Parlament — wurde gewählt. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen, aber, meine Damen und Herren von der Opposition, verehrter Herr von Weizsäcker, bei der Verabschiedung in der 6. Legislaturperiode war in dieses Gesetz keine Begrenzung der Einkommen eingebaut. Jedermann hätte verdienen können, was immer er wollte; seine Rente hätte er daneben bekommen. Es wäre hier, Herr von Weizsäcker, vor wenigen Monaten — oder, wenn Sie so wollen, vor kurzer Zeit ein neuer Besitzstand geschaffen worden.
— Sie haben beim Zustandekommen des Gesetzes zugestimmt. Denken Sie nun bitte nicht über meine Formel nach, sondern über die Ihres Parteifreundes; die werden Sie sicher ohnehin für wichtiger halten.— Die Koalition hat eben vor dem Hintergrund des Gemäldes der Besitzstände und ihrer dauerhaften Sicherung und wachsenden Faszination nachgedacht und in der 7. Legislaturperiode gegen Ihre Stimmen dann eine Einkommensregelung eingebaut, die genau dem Rechnung trägt, was Sie hier fordern, wogegen Sie damals jedoch waren.
Ich erinnere mich an eine nachfolgende Debatte im Augenblick kann ich nicht genau sagen, welche es war —, in der Sie, Herr von Weizsäcker, dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt genau an dieser Ecke heftige Vorwürfe machten und ihn ins Gebet nahmen, weil dies nicht jene Lebensqualität sei, von der wir zwar redeten, die Sie aber verwirklichen wollten. Nun aber kommt derselbe Herr von Weizsäcker und sagt in einem großangelegten Referat, mit sehr viel Beifall aufgenommen, dies müsse doch zum Prinzip werden. Wo bleibt da die Logik, die wir alle unserem Souverän schuldig sind?
Sie reden an einer anderen Stelle von einem Vorwurf gegenüber der Regierung und der Koalition — der Koalition wird ja nur vorgeworfen — —
— Vielleicht hören Sie mir desto besser zu, dann gleicht sich das ein wenig aus!
Der Regierung Vorwürfe zu machen, ist zwar nicht die Pflicht, aber das gute Recht der Opposition. Die Vorwürfe richteten sich, wenn ich das alles richtig verstanden habe, dagegen, daß die Mitbestimmung zwar versprochen, aber noch nicht verwirklicht sei. Ich bin froh und bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie sagen, Herr von Weizsäcker: Die Mitbestimmung ist ein bedeutendes gesellschaftliches Problem; wir müssen die Antwort darauf finden. Ich bin gespannt, wie die Abstimmung ausgehen wird, wenn das kommt, was ja irgendwann gewiß vorgelegt wird.
Ich fürchte, daß diese Art Vorwurf, der an sich, wenn ich das richtig sehe, in die Philosophie und das Konzept der Gesamtüberlegung nur auf dem Weg des Zwanges einzubringen war — sonst paßte er gar nicht hinein , ein wenig mehr aus der Sorge entstanden ist, die Verwirklichung der Mitbestimmung könnte sich um ein paar Wochen oder Monate verzögern, als aus der Sorge darüber, daß diese Koalition, die Sozialdemokraten und die Freien Demokraten, die modernen Freien Demokraten,
die es in dieser Frage natürlicherweise schwerhaben, etwas zu Wege bringt, was die Unionsparteien allein und ohne koaliert zu sein nicht zu Wege bringen können,
jedenfalls bisher nicht zu Wege gebracht haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke ? — Bitte!
Herr Kollege Schmidt, wenn es so ist, wie Sie gerade sagten, können Sie mir dann die Frage beantworten, warum die Freien Demokraten sachverständige Verfassungsrechtler bestellt haben, die diesen Mitbestimmungsentwurf in der Luft zerrissen haben?
Ich denke, jeder Parlamentarier wird sich über die Verfassungsrechtlichkeit dessen vergewissern und orientieren, was er politisch anstrebt.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das auch zumindest so bedächten.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Franke? Bitte!
Herr Kollege Schmidt, wenn dem so ist, können Sie mir dann die
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11008 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Franke
Frage beantworten, weshalb auch die von der Regierung bestellten Verfassungsrechtler diesen Mitbestimmungsentwurf nicht für verfassungsgemäß halten?
Warum eigentlich darf eine Regierung nicht das Recht haben, heute klüger zu sein als gestern?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Grafen Lambsdorff? — Bitte!
Herr Kollege Schmidt, könnten Sie vielleicht einmal den Kollegen Franke fragen, ob er sich die Bestellung von Gutachtern immer so vorstellt, daß man nur jemanden aussucht, der die eigene bereits vorhandene Meinung bloß bestätigt?
Ich würde Ihnen, verehrter Graf Lambsdorff, auf diese Frage gern mit meinem ganz allgemeinen Gebet zu Gutachtern antworten; aber diese Stätte ist mir zu würdig dazu. Das Geheimnis der Gutachter und des Gutachtens liegt tatsächlich in dieser Sphäre, damit aber auch ihr Risiko.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, immer weiter so!
Herr Kollege Schmidt, haben Sie nicht auch den Eindruck, daß die Gutachter der Freien Demokraten, Professor Zacher und Professor Mestmäcker, deshalb von Graf Lambsdorff bestellt worden sind?
Ich habe nicht den Eindruck
— wenn Sie mir zuhören wollen, haben wir vielleicht alle noch ein bißchen Freude , daß man bei Gutachtern darauf achten muß, daß sie gutachten, damit jemand gut abschneidet.
Ich würde Ihnen, Herr von Weizsäcker, in einer anderen Sphäre folgen können, die Sie vortragen oder anstreben oder anleuchten, daß man darüber nachdenken muß, ob man Stipendien, die Studierende heute für eine manchmal recht lange Zeit erhalten, nicht in irgendeiner Form im Verlauf ihres Lebens zurückerwarten darf oder kann. Ich persönlich würde so etwas denken können.Ich bin, was Ihre Sorgen über die Verteilungskämpfe anbetrifft, die nach Ihrer Meinung härter werden, aus meinem Erlebnis konträr anderer Meinung. Ich halte es auch für einen großartigen Gewinn dieser Regierung, den nur sie und nicht ihre Vorgängerinnen, jedenfalls nicht jene Vorgängerinnen, die unter der Führung Ihrer politischen Freunde standen, zu Wege zu bringen in der Lage war, nämlich jene wichtige atmosphärische Voraussetzung zwischen den Verantwortungsträgern und den Teilverantwortungsträgern zu schaffen, jeweils auf das große Ganze Rücksicht zu nehmen. Ein Ergebnis dieser Bemühungen der Mitglieder dieser Bundesregierung — diese Bemühungen sind nicht katalogisierbar und nicht festschreibbar —, mit den Verbänden der Wirtschaft, den Gewerkschaften und allen anderen Teilverantwortungsträgern in Kontakt zu bleiben, ist eben ein anderes Ringen im Verteilungskampf.
Ich weiß aus anderer Erfahrung — und ich denke, Sie werden es beobachten —, daß noch nie zuvor in einer so kurzen Zeit wie der Zeit der Regierungen Willy Brandts, Helmut Schmidts und ihrer freien demokratischen Partner Regierungschefs oder Minister beispielsweise den Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes so oft besucht haben.
Noch nie zuvor ist auch auf diesem und auf anderem Wege jene atmosphärische Voraussetzung, die für ein gedeihliches und vernünftiges Miteinander unerläßlich ist, so gepflegt und so nachhaltig verfolgt worden.Ich wäre noch froher, Herr von Weizsäcker, hätte am Ende Ihrer Gedanken — an die Adresse des Souveräns gerichtet — die Konsequenz, das Handeln der Opposition gestanden. Dann wüßte er von heute an, was Sie eigentlich wollen. Wenn die Debatte so weiterläuft wie bisher, wird der Souverän, der Bürger im Lande aber auch weiterhin immer nur die erste Strophe Ihrer Hymne kennen: Sie sind gut, Sie sind überlegen, Sie sind ganz famos und wissen alles besser und schneller. Wenn Sie ständig singen, daß sie ausgezeichnet sind, müßten Sie dem Bürger aber auch die zweite Strophe vorsingen und sagen, was Sie denn auszeichnet, welche Idee, welches Werkzeug, welches Programm, welcher Plan. Vor allem müßten Sie auch sagen, welche Persönlichkeit aus der Vielzahl Ihrer Führungsanwärter dem Bürger gegenübergestellt werden soll. Dann hätte die Debatte in der Tat einen großen Sinn gehabt.
— Wenn Sie an das Mikrophon gehen, haben wiralle etwas von Ihren Äußerungen. Sonst haben wir
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allein die Freude — und die steht uns doch gar nicht zu.
Ich hatte mir ein paar Bemerkungen über den eigentlichen roten Faden aufgeschrieben, der bis dahin durch die Debatte lief, Bemerkungen über die Probleme unserer Wirtschaft und unserer Wirtschaftspolitik. Ganz ohne Zweifel ist in dem Lande, in dem wir leben, die Voraussetzung für vieles andere — wie Herr Kirst uns heute morgen beschrieben hat —, daß sich unserer Wirtschaft in einem kontinuierlichen, sicheren Wachstum befindet. Da reden wir nun hier in diesem Parlament, und wir werfen uns vor und wir klagen uns an — nein, das ist nicht richtig: Sie werfen uns vor und Sie klagen uns an, daß das mit der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik alles ganz schlimm sei; das, was gemacht werde, sei natürlich ganz falsch, und wenn überhaupt etwas Richtiges daran sei, komme es viel zu spät.
Sie wissen, daß ich im Lande der schweren Arbeit lebe. Ich lege großen Wert darauf, mit meinen Arbeitgebern häufig in Kontakt zu sein. Diese können Sie selbst dann, wenn sie Sie wählen, in diesen Punkten nicht mehr verstehen. Da ist der Mensch der Arbeit froh, glücklich und stolz darauf, daß wir Sieger im Kampf gegen die Inflation geworden sind, und Sie tun hier so, als sei das gar nichts.
— Ich komme gleich auf 1966, seien Sie doch geduldig. Ich bin ja auch in der Geschichte groß geworden und habe sie erlebt. Ich hoffe, Sie haben sie so in Erinnerung wie ich: so logisch, so klar und so nüchtern.
Da ist der Mensch, wie gesagt, nun stolz darauf, und dann sagen Sie ihm: Dies alles ist nichts. Und wenn wir uns mit Vergleichbarem um uns herum vergleichen, um einen Leistungswettbewerb zu veranstalten, dann sagen Sie, die Sie doch wohl sehr hohen Wert auf Leistung und Leistungswettbewerb legen, das sei im Grunde gar nicht zulässig; denn selbst holländischen Käse kauften wir in Deutschland, und die Anzüge müßten wir auch hier kaufen. Meine Damen und Herren, zumindest die Sachverständigen unter Ihnen wissen mit absoluter Sicherheit um die Wirklichkeit unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen Sorgen, die wir haben.
Es wäre ja ganz schlimm und ganz töricht, daran vorbeizudenken. Sie wissen um die Tatsache, daß dies, was wir erleben — es ist Ihnen schon oft gesagt worden, aber ich meine, es muß Ihnen auch noch oft gesagt werden, schon deswegen, weil ichüberzeugt bin, daß selbst das, was im neuen Teil der Bibel steht und schon bald 2 000 Jahre alt ist, Ihnen nicht einmal allen bekannt ist, obwohl Sie sich eine christliche Fraktion nennen; schon deshalb muß es Ihnen noch oft gesagt werden —,
daß das, was auf diese Volkswirtschaft wirkt, nur zum Teil von uns beherrschbar ist.
— Haben Sie einen Augenblick Geduld, er kommt gleich wieder.
Das, was jetzt ist, meine Damen und Herren, istweitgehend aus der Entwicklung der Volkswirtschaften um uns herum in uns hineinwirkend, und Sie— ausgerechnet Sie! — klagen uns an dieser Stelle an, Sie, die Sie 1966 ohne Wirkungen von draußen und ohne die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge,
allein aus der Binnensitutation, eine dreiviertel Million Arbeitslose produziert haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer diese Erfahrung hat, wer die Erfahrung der Regierung und wer die Erfahrung der Opposition hat, wer die Erfahrung hat, wie sie jede Partei und jede Fraktion in diesem Hause hier haben, der sollte die Schwierigkeiten, die ohne Zweifel bestehen, nicht so darstellen, als seien sie mit linker und leichter Hand und mit einem nur gewollten oder gewünschten Rezept von heute auf morgen behebbar. Wir sind es unseren Bürgern schuldig,
zu sagen, wie die Lage ist, und wir sagen es. Wir sind es unseren Bürgern schuldig, zu sagen, was wir zu ihrem Wohle zu tun gedenken, zu tun gedacht haben und verwirklichen werden. Sie würden den gleichen Bürgern, in deren Dienst Sie stehen, einen guten Dienst erweisen, wenn Sie nicht nur anklagten, sondern auch sagten, welche Mittel, welche Ideen und welches Instrument sie anwenden würden.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe keine vorbereitete Rede zur Verfügung, sondern möchte spontan auf einige Diskussionsbeiträge antworten, die wirBundeskanzler Schmidtheute gehört haben. Die Ausführungen, die mein Freund Adolf Schmidt, der an der Spitze der durch eine Reihe von Jahren, nicht erst eine Reihe von Monaten leidgeprüften Bergarbeiter steht, soeben gemacht hat, geben mir Veranlassung, als erstes auf einen Punkt zurückzukommen, den Ihr zweiter Redner aufgebracht hat. Da war, wenn ich es richtig verstanden habe, die Rede davon, daß angeblich die Mächtigen auf der Arbeitnehmerseite und die Mächtigen auf der Seite des Kapitals sich auf Kosten aller Schwachen in der Gesellschaft einigten. Es tut mir leid, dem kann ich auch nicht zu einem kleinen Teil zustimmen, wenngleich es theoretisch nicht auszuschließen ist, daß solche Gefahren eintreten könnten, und wenngleich es Länder gibt, in denen solche Gefahren vielleicht eher greifbar sind als hier. Ich wäre dankbar, wenn sich derjenige, der dies ausgesprochen hat, darüber Klarheit verschaffte, daß die Macht der organisierten Arbeitnehmerschaft nichts anderes als Gegenmacht — dringend notwendige Gegenmacht — ist, um Macht in unserer Gesellschaft auszubalancieren.
Aber es mag gut sein, auf solche theoretische Gefahr hingewiesen zu haben. Nun darf man sich dabei nicht so weit steigern, daß man behauptet, sie einigten sich auf Kosten der Mehrheit, und die wirtschaftlich Schwachen seien die Mehrheit in unserem Volk, und die Mächtigen einigten sich gar „auf Kosten der Rentner". Herr von Weizsäcker, Jahr für Jahr für Jahr sind die Renten in Deutschland um über 11 % — in der realen Kaufkraft stärker als die Realnettoeinkommen der Arbeitnehmer — erhöht worden. Reden Sie nicht solche Dinge, die Sie selber nicht durchgearbeitet haben!
Derselbe Redner hat sich — wie ich denke, mit Recht — gegen das überhandnehmende Anspruchsdenken gewehrt. Ich selber habe das viele Male auch getan, auch hier vor diesem Hause; in dem Punkt gibt es keine Meinungsverschiedenheit. Aber auch hier bitte ich dann, im eigenen Denken mit sich selbst stimmig zu bleiben und dann auch die Konsequenz für sich selbst zu ziehen. Sie haben innerhalb derselben Rede für eine Reihe von Gruppen zusätzliche Leistungen verlangt; sie haben unter anderem ein Erziehungsgeld verlangt, das bisher im Katalog unserer staatlichen Leistungsgesetze nicht vorhanden ist. Man muß mit sich selbst stimmig denken, Herr Kollege!Und der dritte Punkt zu demselben Thema: Ich will es nicht mit Stolz sagen — obwohl ich es so sagen könnte und meine Freunde in meiner Partei es vielleicht so gern hören würden —, aber mit tiefer innerer Befriedigung über das, was wir getan haben, kann ich sagen, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands über viele Jahrzehnte und gemeinsam mit den Freien Demokraten in den letzten fünf Jahren für die sozial Schwachen in unserer Gesellschaft an vielen einzelnen Punkten sehr viel mehr getan hat, als Ihre Partei gefordert hatte.
Ich räume ein, daß Sie in einigen Punkten dann auch einmal mehr gefordert hatten, als zu verwirklichen war.
Das muß nicht heißen, daß es dann nicht eines späteren Tages verwirklicht werden kann.Ich möchte ein paar Bemerkungen zu dem wirtschaftspolitischen Gemälde machen, das hier entrollt wurde und zu dem dann auch der zweite Redner der Oppositionsfraktion einiges beigetragen hat. Sie haben gesehen, daß die gemeinsame Konjunkturpolitik, die die Bundestagsmehrheit, d. h. Gesetzgebungsmehrheit, die Regierung, die Deutsche Bundesbank treiben, u. a. im Laufe der letzten zehn oder zwölf Wochen sowohl die langfristigen Zinsen als auch die kurzfristigen wesentlich hat sinken lassen. Ich stimme übrigens an dieser Stelle ausdrücklich der Deutschen Bundesbank bei, die von den privaten Banken in Deutschland verlangt, dies nun auch gegenüber ihren Kunden durchschlagen zu lassen.
Wir haben in den ersten Wochen und Monaten dieses Jahres die Verhandlungen bei den Lohnbewegungen des Jahres 1975 zwischen den angeblich zu mächtigen Gewerkschaften und ihren Tarifpartnern erlebt. Ich spreche von der Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden und ihrem Partner, ich spreche von der Industriegewerkschaft Metall und ihrem Partner Gesamtmetall, ich spreche von den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und ihren Partnern, den öffentlichen Dienstgebern. Ich darf darauf hinweisen, daß hier drei große Gewerkschaften — die mit einigen Ausnahmen und Abschwächungen, aber im Grunde doch seit 1949 überaus verantwortungsbewußt gehandelt haben — in einer der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage angemessenen Weise zu Lohnabschlüssen gekommen sind, die allerdings gemeinsam mit der Zinssenkung, gemeinsam mit der Investitionszulage, die jemand heute morgen hat verniedlichen und belächeln wollen, insgesamt an vielen Stellen dieser Volkswirtschaft die Erwartungen in bezug auf den wirtschaftlichen Ablauf dieses Jahres zum Positiven hin verändert haben. Ich spreche nicht nur von den Meinungsumfragen etwa im Ruhrgebiet oder in Nordrhein-Westfalen oder in der ganzen Bundesrepublik. Das können Sie ja von vier Wochen zu vier Wochen verfolgen, wie sich die Erwartungen zum Positiven hin verschieben. Ich spreche auch von Unternehmensleitungen — von Leitungen ganz großer Unternehmen —, mit denen ich selber in Kontakt gestanden habe.Es tun mir leid, daß Sie anders als unter der Apostrophierung „die Mächtigen" über die tragende Rolle der Organisationen der Arbeitnehmer in unserem Lande, über die Gewerkschaften, nicht haben reden mögen; Sie beide nicht. Wenn es wahr ist — das zwar wird der Herr Abgeordnete Strauß nicht bestätigen, wohl aber andere hier im Deutschen Bundestag, insbesondere solche, die selbst unternehme-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
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Bundeskanzler Schmidtrisch tätig sind —, daß die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Lande während einer Weltrezession, die gekoppelt ist mit einer Weltinflation, mit einer Revolution der 01- und Rohstoffpreise, wenn es wahr ist, daß in einer solchen weltweiten gefährlichen Situation in puncto Preisentwicklung oder Inflationsrate, in puncto Beschäftigung, in puncto Nettorealeinkommen, in puncto Devisenbilanz, in puncto Währungsreserven, in puncto Konjunkturausgleichsrücklage, wenn es wahr ist, daß in allen diesen Punkten die deutsche Volkswirtschaft relativ gut abgeschnitten hat, wenn es wahr ist, daß wir inzwischen von allen Staaten der Welt in die Spitzengruppe des realen Nettolohns der Arbeitnehmer eingetreten sind — wenn die gegenwärtigen Wechselkurse so bestehenblieben, sogar ganz an der Spitze stünden; ich nehme allerdings nicht an, daß der Dollar auf die Dauer so niedrig bleibt —, dann habe ich mir immer wieder die Frage vorgelegt: Woran liegt das eigentlich? Es kann doch nicht daran liegen, daß die deutschen Ingenieure tüchtiger sind als die englischen. Es kann doch nicht daran liegen, daß die deutschen Arbeiter fleißiger wären als die in Frankreich oder in Belgien. Es kann doch nicht daran liegen, daß die deutschen Unternehmer oder die deutsche Regierung oder der Deutsche Bundestag oder wer immer grundsätzlich tüchtiger wären als andere. Ich jedenfalls wäre nicht so vermessen.
Ich ware auch nicht so vermessen wie einer Ihrer Redner, der heute morgen in abgeschwächter Form — an einem anderen Ort in sehr viel deutlicherer Form -- die Bundesrepublik Deutschland wirtschaftlich und militärisch zur Führungsmacht in Europa machen wollte. Ich halte das alles nicht für richtig. Aber ich frage mich: Wie kommt es, daß etwa in dem einen unserer industriellen Nachbarländer im letzten Jahr pro Arbeitnehmer 350 % von den Streiktagen stattgefunden haben, die bei uns waren, in dem nächsten industriellen Nachbarland 400 % des Ausmaßes an Streiks wie bei uns, in dem nächsten europäischen industriellen Nachbarland über 1 000 % der Streiktage bei uns, im nächsten industriellen Nachbarland in Europa über 2 000 %, wie kommt es, daß wir gleichwohl in unserem Land, wo die Waffe des Streiks relativ selten angewandt wird, nur dann, wenn die Verantwortlichen den Eindruck gewannen, es sei nun wirklich nötig, das letzte Mittel anzuwenden — und sie haben dem ja nicht abgeschworen, es steht ihnen zur Verfügung, es ist auch durchaus verfassungsgemäß, daß es ihnen zur Verfügung steht und von ihnen benutzt wird , wie kommt es, daß wir und unsere Arbeitnehmer trotz dieses ungewöhnlichen maßvollen Einsatzes dieses letzten Mittels im gewerkschaftlichen Lohnkampf in den Netto reallöhnen — weil Sie auch von den Sozialversicherungsbeiträgen gesprochen haben: die sind dann schon abgezogen, Herr Kollege — so sehr viel besser abschneiden als jene anderen Länder, in denen so viel gestreikt wird? Ich finde, Sie sollten anerkennen, daß dieser enorme Aufstieg im Lebensstandard, nicht nur in den letzten fünf Jahren,sondern in den letzten 25 Jahren eine bedeutende Wurzel in der Tatsache hat, daß Hans Böckler und andere damals 1949 eine entscheidende Konsequenz aus der leidvollen politischen Erfahrung der Gewerkschaftsbewegung der ersten deutschen Demokratie gezogen und eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung aufgebaut haben.
Diese Gewerkschaftsbewegung hat sich in der Tat, wenn Sie alles in allem nehmen, in gleicher Weise am Gesamtwohl wie auch am Wohl der in der Gewerkschaftsbewegung organisierten Arbeitnehmer orientiert und insgesamt eben sehr viel mehr sozialen Frieden — —
— Es muß ja wohl kein Fehler sein, Herr Mertes — ich nehme Ihren Zwischenruf auf und unterstelle, daß er historisch zutrifft —, wenn ein Sozialdemokrat an irgendeiner Stelle mit Konrad Adenauer übereinstimmt. Konrad Adenauer war ein großer Mann. Der war damals für die paritätische Mitbestimmung, die Sie seither aber mehr als 20 Jahre lang verweigern, meine Damen und Herren von der Christlich Demokratischen Union.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Gerhard Schröder im Augenblick im Saal ist. Gerhard Schröder war damals Fraktionsgeschäftsführer, so ungefähr das, was Herr Reddemann heute ist.
Aber Gerhard Schröder hat in jenen Jahren ein anderes Format bewiesen. Lesen Sie einmal die Reden nach, die der damalige Geschäftsführer der CDU/ CSU-Fraktion über die Notwendigkeit gehalten hat, die paritätische Mitbestimmung auf die Großunternehmen der gesamten Industrie auszudehnen und nicht nur auf Kohle und Stahl. Sie jedoch haben sich über 20 Jahre lang dagegen gewehrt; jetzt macht sich einer Ihrer prominent christlichen Exponenten sogar darüber lustig, daß wir mit dem Gesetzgebungsvorhaben noch nicht ganz fertig sind.
Dies ist das zweite Gesetzgebungsvorhaben zur Mitbestimmung. Die Sozialdemokratische Partei hat erstmalig 1968 einen vollständigen Gesetzentwurf zu diesem Zweck hier eingebracht, der auf das Nein der damaligen christlich-demokratischen Fraktion gestoßen ist.
In der Großen Koalition war es eben nicht möglich, Mitbestimmung zu machen. Es ist in der sozialliberalen Koalition zugegebenerweise — ich stimme meinem Freunde Adolf Schmidt zu — schwierig, aber es ist möglich und es wird gemacht werden. Und Sie, Herr von Weizsäcker, Sie persönlich kom-
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Bundeskanzler Schmidtmen dann in dieselbe Lage, in der Sie schon einmal waren, als es um die Ostverträge ging,
wo Ihnen eigentlich Ihr Gewissen ein anderes Abstimmungsverhalten nahegelegt hat, als Sie hinterher einzunehmen gewagt haben.
Nun ist zweifellos gleichwertige und gleichgewichtige Mitbestimmung der Arbeitnehmer- und der Kapitalanteilseignerseite ein verwickeltes Problem, und es war gut, daß der Ausschuß des Bundestages, der ja diesen Gesetzentwurf schon vorliegen hat, aus allen möglichen Himmelsrichtungen insbesondere Verfassungsrechtsexperten zu sich gebeten und sie angehört hat
— Sie müssen auch einmal ein Verdienst haben dürfen; ich würde das anerkennen -
um herauszufinden, ob nicht vielleicht in dem einen oder anderen Punkte ein verfassungsrechtliches Bedenken bestehen könnte. Wir sind jetzt dabei, die Konsequenzen aus diesen Hearings zu bedenken und gedanklich zu verarbeiten.
Das gibt mir Gelegenheit, eine in dem polemischen Wasserfall des Herrn Abgeordneten Strauß repetierte Bemerkung aufzugreifen. Bei Herrn Strauß war ja auch von dem Verfassungsgericht und von der inneren Einstellung dieser Gesetzgebungskoalition und dieser Bundesregierung gegenüber dem Verfassungsgericht die Rede. Sie haben die oft repetierte Behauptung erneut wiederholt, der vorige Finanzminister habe gegen das Grundgesetz verstoßen. Ich habe Ihnen seinerzeit monatelang von diesem Platz aus als Finanzminister empfohlen: Wenn Sie jener Meinung sein sollten, so sollten Sie doch endlich die Klage in Karlsruhe einbringen. Sie konnten sich dem schließlich nicht entziehen. Ihre Klage liegt dort seit einem dreiviertel Jahr. Ihre Begründung aber, Herr Abgeordneter, für die Klage, die eingereicht ist, fehlt ebenfalls seit diesem dreiviertel .Jahr. Sie waren bisher nicht in der Lage, sie zu substantiieren. Aber ich kann diesen Prozeß in Ruhe und Gelassenheit abwarten; denn ich weiß, daß die Regierungen, denen ich angehört habe — auch die vorige Bundesregierung unter der Führung unseres Kollegen Brandt, in der ich Finanzminister war —, die ständige Staatspraxis der vorangegangenen Jahre, einschließlich der vorangegangenen Praxis des Finanzministers Strauß, befolgt haben.Nun eine allgemeine Bemerkung zum Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht hat eine tragende Funktion in unserem Staatsleben. Es gibt niemanden unter uns, der sich von der Meinung, von der Rechtsüberzeugung ausnehmen dürfte oder wollte, daß Urteile des Verfassungsgerichtes gelten müssen, genauso wie Gesetze gelten müssen, die ordnungsgemäß zustande gekommen sind. Genauso wie Gesetze, die ordnungsgemäß zustande gekommen sind, gescholten und kritisiert werden, genauso steht es jedem Staatsbürger frei, auch Urteile des Verfassungsgerichtes zu kritisieren oder — wie man unter Juristen etwas feiner sagt — zu schelten.
Urteilsschelte ist genauso legitim wie Gesetzeskritik durch diejenigen, die eine andere Sicht der Lage haben.Nur, der Abgeordnete Strauß, der bei dieser Passage seiner Rede auf mich persönlich abhob, hat übersehen, daß ich gegenwärtig und seit langer, langer Zeit keinen Anlaß genommen habe — er wäre vielleicht gegeben gewesen — zu irgendwelcher Urteilsschelte; sondern ich hatte mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß das Verfassungsgericht, wenn ich mir die letzten Urteile ansehe, vielleicht gut beraten wäre, sich Gedanken zu machen über die Zweckmäßigkeit von etwas mehr Zurückhaltung bei der Schaffung von Richterrecht. Eine abstrakte, nicht auf irgendein konkretes Urteil gemünzte Bemerkung.
— Das letzte Urteil war damals noch gar nicht einmal ergangen.
Es war gefällt, aber noch nicht verkündet.
— Sie mögen das glauben oder nicht. Ich stehe hier und behaupte: Es ist mein Recht wie das Recht von 60 Millionen Bürgern, solche Kritik zu üben.
Es war der Spitzenredner Ihrer Fraktion, der heute morgen behauptet hat, daß Kritik vielleicht sogar schon als — na, wie war das Wort? — Majestätsbeleidigung angesehen werde. Auch ein Gericht muß in einer demokratischen Gesellschaft Kritik aushalten können. Ich darf Ihnen dazu zitieren, was der Führer der Opposition in ein paar Jahren der Muße, als er nicht mehr Staatssekretär, aber noch nicht Abgeordneter des Deutschen Bundestages war, in einem sorgfältig geplanten und sorgfältig redigierten Buch geschrieben hat. Das Buch heißt „Politische Führung", 1971 erschienen. Da schreibt der Professor des Rechtes Carstens das Folgende:Wenn eine Maßnahme zweckmäßig und nützlich ist und wenn sie nach Auffassung der Regierung mit den fundamentalen Geboten unseres Grundgesetzes in Einklang steht, dann sollte man sich nicht davon abhalten lassen, sie zu ergreifen, weil das Verfassungsgericht sie möglicherweise für ungültig erklären könnte oder weil es eine ähnliche Maßnahme vor Jahren schon für ungültig erklärt hat. Man sollte auch dem Verfassungsgericht die Chance geben, hinzuzuler-
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Bundeskanzler Schmidtnen und etwaige Fehler, die es früher gemacht hat, zu korrigieren.
Ich selbst verfüge nicht über das zweifellos großeMaß an Rechtswissen und an Bildung auf dem rechtsphilosophischen oder verfassungsrechtlichen Gebiet,
über das der Führer der Opposition verfügt. Ich will nur ausdrücklich feststellen: Das, was der Professor Carstens damals sagte — und es ist jedermanns Recht, seine Meinung zu ändern, auch an Hand von konkreten Fällen zu ändern , war das Recht des Staatsbürgers Carstens. Dasselbe Recht haben wir anderen auch, meine Damen und Herren.
Ich muß auf ein paar Bemerkungen zurückkommen, die zur wirtschaftlichen Entwicklung gemacht worden sind. Ich habe gelesen, wie sich der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kohl, jüngst zur wirtschaftlichen Lage öffentlich eingelassen hat. Er ist heute nicht unter uns. Dafür werden wir sicherlich morgen Herrn Stoltenberg bekommen. Denn es kann ja nicht sein, daß nach zwei Strauß-Reden und einer Kohl-Rede nicht mindestens eine Stoltenberg-Rede folgt, nicht wahr?
hat jüngst in einer wirtschaftspolitischen Passage einer öffentlichen Rede gesagt: Wir hier in Deutschland wollen keine italienischen Verhältnisse.
Das bezog sich auf Inflation und Arbeitslosigkeit. An dieser Bemerkung — wir hier in Deutschland wollen keine italienischen Verhältnisse — will ich keine Geschmackskritik dahin gehend üben, daß man die eigenen Kollegen in der EG nicht auf solche direkte Weise zum Negativvorbild stempeln sollte.
Nur darf ich die Zwischenrufer auf den Oppositionsbänken daran erinnern, daß in Italien allerdings ihre engsten parteilichen und politischen Kollegen seit 1945 regieren und niemand anders.
Ich zitiere den Ministerpräsidenten Kohl allerdings nicht, um diese eben gemachte Bemerkung daran anzuknüpfen, sondern aus einem anderen Grunde. Er hat offenbar verstanden, daß die wirtschaftliche Lage in unserem Lande, einstweilen jedenfalls, sehr vielbesser ist als in dem Lande, das er apostrophiert hat.
— Nein, das war nicht 1969, sondern das ist vor wenigen Wochen im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz gewesen. Er hätte ja auch andere Länder nennen können. Vielleicht wäre es ihm sogar leichter gewesen und mir jetzt schwerer gefallen, darauf einzugehen, wenn er das von einer sozialdemokratischen Regierung geführte England oder das von einer sozialdemokratischen Regierung geleitete Dänemark genannt hätte.
Worauf es mir hier ankommt, ist, daß Sie da, wo Sie glauben, daß es gut paßt, selbstverständlich die Beispiele aus den uns vergleichbaren Industriegesellschaften des Auslandes heranziehen. Das muß man allerdings auch. Adolf Schmidt hat einen sehr richtigen Hinweis eben ausgesprochen, indem er gesagt hat: Sie können doch nicht im Ernst die Weltwirtschaftsrezession des Jahres 1974/75 mit der rein deutschen Wirtschaftsrezession des Jahres 1966/67 vergleichen; die letztere war eine von Ihnen hausgemachte Sache. Die erstere ist allerdings eine Sache, die den ganzen Erdball umspannt.
Nun werde ich allerdings auf diesem Punkt noch einmal herumbohren.
— Den Zwischenruf — nicht der Ihre, Herr Mertes, aber der andere, den ich dort gehört habe, den die Präsidentin offenbar nicht gehört hat — werde ich mir merken.
-- Nein, der Ihre nicht, aber der da.
Die Sache ist so, daß auf der ganzen Welt seit 1970 als Folge des Krieges in Südostasien eine große Aufblähung der Geldmenge entstanden ist, nicht durch deutsche Schuld, sondern weil wir unter einem Wechselkurssystem, das Sie noch vertraglich kontrahiert hatten, gezwungen waren, die Zahlungsbilanzdefizite anderer Staaten durch Schaffung von D-Mark zu finanzieren.
Wir waren diejenigen, die dieses System fester Wechselkurse mit einseitiger Interventionsverpflichtung — aller anderen, nur nicht der Vereinigten Staaten von Amerika — mit viel Glück, aber auch mit etwas Geschick durch ein anderes haben ersetzen können. Da war aber das größte Unglück, was die Liquiditätsaufblähung auf der Welt angeht und damit was die Preisauftriebe angeht, schon geschehen. Dann kamen die Ölpreisexplosion und die Rohstoff-
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Bundeskanzler Schmidtpreisexplosion. Dies alles hat in allen Industriestaaten der Welt und sogar in den erdölexportierenden Überschußländern, in den neuen Sterntaler-Ländern, zu Inflationsraten geführt, die sie früher nicht kannten, in der Bundesrepublik Deutschland aber nur zu der geringsten innerhalb sämtlicher Industriestaaten der Welt.
Ich verstehe wohl, daß ein wirtschaftspolitischer Polemiker vergißt, diese Tatsache wenigstens beiläufig zu konstatieren, nämlich als eine entscheidende Tatsache. Bei dem Versuch einer abwägenden und allen Grundpositionen dem Anschein nach gerecht werden sollenden Rede, wie wir sie zuletzt vor der Mittagspause gehört haben, muß ich dies nicht nur vermissen, sondern die Abwesenheit solcher, die Sache erhellenden Feststellungen als ein Stück, Herr Kollege von Weizsäcker, intellektuelle Unredlichkeit empfinden.
Ich komme zurück auf die Bemerkung über die Rolle der Gewerkschaften. Ich habe oft genug vor diesem Hause über die Rolle der Unternehmer gesprochen, die in meinen Augen eine unverzichtbare Rolle spielen. Ich mache nicht den Fehler, das, was im Hause Flick und vor jenen beiden Söhnen aus dort geschieht, damit ein Erbe ausgezahlt werden kann, etwa als symptomatisch oder typisch für das deutsche Unternehmertum anzusehen. Diesen Fehler mache ich nicht. Ich muß deshalb heute nicht wiederholen, was ich zu dem Thema gesagt habe. Aber zu den Gewerkschaften und zum Gesamtverhalten der Tarifpartner darf ich Ihnen eine ausländische Stimme zitieren. Die „Le Monde" schreibt vor wenigen Tagen in einem großen Aufsatz über die erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung in diesem Lande: „Ein besseres Fingerspitzengefühl in der Konjunkturpolitik" — was sie uns attestierten in dem langen Aufsatz — „ist allein natürlich noch keine hinreichende Erklärung dafür, warum die Deutschen besser als die anderen die Krise überstehen. Der soziale Konsens, jenes Verhalten, wie sich ein ganzes Volk als Einheit sieht und sich für eine große Sache oder zu einer großen Antwort auf eine Herausforderung mobilisiert fühlt, ist ohne jeden Zweifel ein entscheidender Faktor der deutschen wirtschaftlichen Gesundheit."
Damit bin ich bei dem zweiten Faktor, den ich nennen wollte: warum eigentlich ist es möglich gewesen, daß wir unter all diesen wirtschaftspolitischen Kriterien, unter all den Kriterien, unter denen man die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft heutzutage mißt, so relativ günstig abschneiden? Der zweite Punkt ist der: Neben der Einheitsgewerkschaft und ihrem, weil Einheitsgewerkschaft, möglich gewordenen verantwortungsbewußten Handeln — da hat nicht einer dem anderen das Wasser abgegraben, und wenn die Lokomotivführer aufhörten zu streiken, kamen nicht die Schlafwagenschaffner, und wenn die aufhörten, die Fahrkartenknipser, und die Eisenbahn fuhr immer noch nicht; dies hat es ja seit Kriegsende in Deutschland nie geben können — ist der andere Faktor, daß Sie genauso wie die Freien Demokraten und natürlich wie wir Sozialdemokraten diese große gesellschaftsbildende, gesellschaftstragende, staatstragende Kraft der deutschen Einheitsgewerkschaftsbewegung richtig eingeschätzt haben, daß wir sie als Gesetzgeber honoriert haben, auf vielen Feldern — vom Betriebsverfassungsgesetz und von der Mitbestimmung bei Kohle und Stahl angefangen, jedes Jahr ein Stück weiter.
Dieser Vorsprung an sozialpolitischem Ausgleich, dieser Vorsprung an sozialer Sicherheit, dieses immer enger Knüpfen des Netzes der sozialen Sicherheit ist der andere entscheidende Grund dafür, warum diese Volkswirtschaft leistungsfähiger ist als andere.
Und natürlich — wir wollen uns nicht ganz verleugnen hat die Konjunktur-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mehrheit dieses Hauses und der Bundesregierung in den letzten Jahren daran auch ihren Anteil gehabt.
Ich lese Jürgen Eick, von jedermann sicherlich gleich hoch als Autorität eingeschätzt, der vor wenigen Wochen, nachdem er sich mit anderen Ländern beschäftigt hat, schrieb:Der Bundesrepublik ist es statt dessen gelungen, mit den viel gelästerten Mitteln klassischer Notenbankpolitik ... eine Wende in der Inflationsdynamik herbeizuführen und den Satz der Preissteigerungen und damit der Geldentwertung auf 6 % herabzudrücken. ... Einsame Spitze unter allen Industrienationen ...Eicks langer Aufsatz schließt mit dem Wort: „Und der nächste Aufschwung kommt bestimmt. Die Bundesrepublik Deutschland ist dafür bestens präpariert." — Das ist ja nun nicht der „Vorwärts", Herr Kollege von Weizsäcker, sondern es ist die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", eigentlich mehr dem Lager zugerechnet, dem Sie selber auch angehören.Ich komme auf Ihre Unterscheidung zwischen Gewissensethik und Verantwortungsethik noch einmal ausdrücklich zurück. Aber Sie sollten sich prüfen, ob Sie als Person es eigentlich verantworten wollen, daß die Tatsachen, von denen Sie verlangt haben, sie sollten klar dargelegt werden, derart entstellt werden, wenn sie doch in Wirklichkeit anders sind,
ganz abgesehen davon, daß die nachdenklichen Kollegen in diesem Hause — zu denen ich Sie zähle — auch darüber nachdenken müssen, wie wahr eigentlich eine Sache ist, die man fünf Jahre lang behauptet, obwohl die Lage sich geändert hat. Ich zitiere aus dem Jahre 1973. — Nein, noch viel früher; ich kann für die letzten fünf Jahre zitieren und belegen, daß der Abgeordnete Strauß jedes Jahr von Finanzkrise geredet hat.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11015
Bundeskanzler SchmidtEr hat für 1973 gesagt: „Die Finanzierung wird immer unsolider bis hin zum Bankrott."
1974 hat er gesagt: „beispiellose Schuldenlawine".
1975 sagt er dasselbe — auch Herr von Weizsäcker —,
was er alle Jahre vorher gesagt hat. Wer soll Ihnen eigentlich glauben, daß bei dieser völlig veränderten Lage die alten Diagnosen von 1970 heute noch genauso stimmen?
Die Wahrheit ist, daß Sie unabhängig von der jeweiligen Lage immer „Chaos" und „Krise" gerufen haben. Das ist Ihre eigene innere propagandistische — „Strategie" will ich nicht sagen — Masche; so würde ich sagen.
Der hohe moralische Anspruch, mit dem der zweite Redner der Opposition heute gesprochen hat, den ich ihm zubillige und von dem ich nichts abstreichen will, verpflichtet ihn — Herr Kollege von Weizsäcker —, keine Behauptung, die aus jener Quelle kommt, ungeprüft selbst zu zitieren.
Einige von den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion waren etwas großzügiger als der eben durch fünf oder sechs Jahre zitierte Abgeordnete Strauß, einige von ihnen haben ihre Prognosen über die „Krise" oder das „Chaos" auch mit Zahlen ausgestattet. Ich zitiere: Im Jahre 1971 haben Sie behauptet, die Nettokreditaufnahme des Jahres 1971 werde 6,5 Milliarden DM betragen. Damit haben sie erst einmal versucht, Beängstigung und Unruhe, mindestens aber doch wohl Unbequemlichkeit zu schaffen. Tatsächlich hatten sie sich um ungefähr 400 % vertan. Das Ist waren nicht 6,5 Milliarden DM, sondern 1,4 Milliarden DM am Ende des Jahres. Im nächsten Jahr haben Sie prognostiziert einmal 10 Milliarden DM Nettokreditaufnahme und dann ein anderer von Ihnen, ein paar Tage später, 12 bis 13 Milliarden DM. Sie haben sich wiederum um viele hundert Prozent vertan bei ihren Negativprognosen. Statt 13 Milliarden DM waren es 3,9 Milliarden DM.
Im Jahre 1973 hat sich dann kein Prophet gefunden, dafür aber im Jahre 1974. Da haben Sie prognostiziert: 17 bis 18 Milliarden DM Kreditaufnahme, und tatsächlich waren es dann hinterher 9,4 Milliarden DM, das heißt die Hälfte.
Ich würde Ihnen empfehlen, Herr Abgeordneter von Weizsäcker: Machen Sie es mit der Hälfte von dem, was Sie hier vortragen, dann liegen Sie gerade noch richtig!
Das Ganze ist allerdings nur verständlich, wenn man es auf dem Hintergrund des Sonthofener Programms zu verstehen versucht.
Es ist nur verständlich, wenn man sich den Satz selber ins Bewußtsein hebt, der da lautete: „Wir können uns gar nicht wünschen, daß dies jetzt aufgefangen wird."
Ich werfe den Nachdenklichen unter Ihnen vor, daß sie genausowenig wie der Ministerpräsident Kohl sich von solchen Motivationen eindeutig haben absetzen können.
Ich werfe den Nachdenklichen unter Ihnen vor,
daß Sie sich nicht haben absetzen können von dem Satz aus Sonthofen: „Wir müssen sie so weit treiben, daß sie ein Haushaltssicherungsgesetz vorlegen oder den Staatsbankrott erklären müssen."
— Herr von Weizsäcker, das nennen Sie reinen Wein einschenken?!
Eine letzte Bemerkung zu Ihrem ersten Diskussionsredner, dem Abgeordneten Strauß. Man kann diesem Katarakt gegenüber nicht alle Punkte aufgreifen. Aber abschließend will ich mich zur Hälfte identifizieren mit einem klugen deutschen Kommentator. Fritz Ulrich Fack schrieb gestern auf der Seite 1 der FAZ in einem abwägenden, langen Kommentar über die Fähigkeiten des Abgeordneten Strauß — sehr wohlwollend, wie mir schien — es sei merkwürdig genug, daß in der Offentlichkeit die Loyalitätsmängel bei dem eben genannten Bundestagskollegen, z. B. in der Sonthofener Rede zutage tretend, mit Achselzucken übergangen würden.— Mir scheint, nicht nur in der Offentlichkeit, sondern auch in seiner eigenen Fraktion.Der letzte Satz, auf den es mir hierbei ankommt, lautet:Strauß hat Qualitäten, die diesen Anspruch— nämlich seinen Führungsanspruch —stützen, ohne diesen Anspruch voll zu tragen; er hat Defekte, die ihn in einer zweiten Position als besser plaziert erscheinen lassen.Ich mache mir dies zur Hälfte zu eigen, sagte ich.Er hat Qualitäten, er hat Defekte; was ich bezweifle,ist die Sache mit der zweiten Position. In Wirklich-
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11016 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Bundeskanzler Schmidtkeit: Welche zweite Position immer Sie ihm im Staate geben würden, tatsächlich hätte er eben doch die erste Position — siehe die Rednerordnung und siehe die Einlassung des Herrn Abgeordneten von Weizsäcker heute morgen.
— Das klingt — ich gebe es zu — weniger nach Sonthofen, es klingt mehr nach Vilshofen, was Sie im Augenblick bieten.
Mir bleibt übrig, auf einige der Nachdenken auslösenden Bemerkungen Ihres zweiten Redners einzugehen. Herr von Weizsäcker hat beklagt, daß es bisher in Sachen Vermögensbildung noch nicht zur Vorlage eines Gesetzentwurfs für eine große Lösung gekommen sei. Ich darf Sie daran erinnern, daß ich — von demselben Pult aus sprechend — vor zehn Monaten in einer Regierungserklärung angekündigt habe, daß dies in einer solchen Frist nicht möglich ist; ich sagte, ich hätte mich davon überzeugt. Das bedeutet, wir haben das vor zehn Monaten gesehen. Es ist Ihr gutes Recht, es heute wieder anzumahnen, aber das dürfen Sie dann nicht mit dem Satz verbinden, wir würden Ihnen keinen klaren Wein einschenken; das haben wir doch — ich sagte es — schon vor zehn Monaten getan und gesagt:
Es ist gegenwärtig nicht möglich.Ebensowenig ist es gegenwärtig möglich — etwa für das nächste Jahr die Idee mit dem Carry back in das Steuergesetz hineinzuschreiben. Ich will nicht vor dem Hause ausführlich wiederholen, was ich hier schon einmal gesagt habe, nämlich daß die Bundesregierung im Prinzip, in begrenztem Umfang — wenn es sich um kleinere Unternehmen handelt — dafür ist, daß das jedoch nach allen Richtungen geprüft werden muß, auch wegen des Ausfalls an öffentlichen Finanzen der sofort einträte, wenn wir so etwas einführten, meine Damen und Herren. Sie können doch nicht auf der einen Seite behaupten, wir hätten eine Finanzkrise, hätten eine Haushaltskrise, und auf der anderen Seite Anträge stellen, die dieses Defizit noch vergrößern; das paßt doch nicht zusammen!
Diese Bundesregierung hat wie die vorige zu keinem Zeitpunkt verschwiegen, daß sie auf ökonomischein Felde Sorgen habe. Das will ich auch heute nicht verschweigen, genausowenig wie dies Adolf Schmidt heute getan hat und wie es die HerrenBundesminister Apel und Friderichs morgen tun würden. Wir haben Sorgen mit den öffentlichen Finanzen, auch denen der Länder und der Gemeinden. Wir haben große Sorgen gehabt, was die Preise angeht; die Inflationsraten sind Gott sei Dank jetzt wesentlich gedämpft. Wir haben große Sorgen hinsichtlich der Beschäftigung. Wir haben gegenwärtig eine
saisonunbereinigte Arbeitslosenquote von 5,2 % und saisonbereinigt eine solche von 3,7 %.
Diese beiden Quoten — ich nenne sie beide, weil vorhin der Kollege Strauß ausdrücklich auf den Winter und seine Auswirkungen zu sprechen kam —, diese beiden Zahlen nebeneinander lassen Sie erkennen, wie, wenn sonst wirtschaftspolitisch nichts wirksam würde, der Saisonwechsel allein die Beschäftigungslage sich im Laufe der nächsten Monate entwickeln lassen würde. Das zu erkennen setzt gar keine große prognostische Kraft voraus.Ich will nicht verschweigen, daß eine saisonbereinigte Arbeitslosigkeit von 3,7 % oder eine nicht bereinigte von 5,2 % mir und meinen Freunden und ebenso dem Wirtschaftsminister und seinen Freunden in seiner Partei seit langer Zeit — das war ja vorhersehbar — Sorgen macht.Aber der Abgeordnete Strauß sollte doch nun nicht so tun, als ob er von der von mir für den öffentlichen Gebrauch ein wenig unkomplizierter als im Seminar dargestellten Phillips-Kurve, nämlich des in jedem Land gegebenen Zusammenhangs zwischen Inflationsraten und Arbeitslosigkeit oder Beschäftigungsraten, als ob er darüber nie etwas gehört hätte oder daß sie für Deutschland nicht gelte. Die Phillips-Kurve gilt für jedes Land. Natürlich haben auch die sehr starken Preisdämpfungen, die wir vorgenommen haben, zusätzlich zu der abflauenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt beigetragen. Ich wäre unehrlich, wenn ich das leugnete. Aber es ist ja wohl heute ganz deutlich geworden, daß man diese 6 % Preisanstieg pro Jahr in der Tat leichter ertragen kann als 3,7 oder 5,2 % Arbeitslosigkeit.
Ich will hier nur einige Bereiche in der Bundesrepublik Deutschland nennen — wir haben uns viele Jahre lang Mühe gegeben, bis wir die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung" gegen Ihren Widerstand haben durchsetzen können —: Rheinland-Pfalz, Saarland mit 6 % Arbeitslosen, Schleswig-Holstein mit einer über dem Durchschnitt liegenden Zahl, Nordbayern mit über 7 %.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11017
Bundeskanzler Schmidt— Mag sein, Niedersachsen, Südbayern! Es gibt eine Reihe von Gebieten.
— Die Gründe liegen darin, daß Sie sich aus einer übertriebenen föderativen Grundauffassung 20 Jahre lang dagegen gewehrt haben, das, was notwendig ist, als Gemeinschaftsaufgabe durchzuführen.
Es tut mir leid, daß ich auch auf eine unter dem durchschnittlich gehaltenen Niveau der Rede des zweiten Oppositionssprechers liegende Bemerkung zurückkommen muß. Herr von Weizsäcker hat gesagt, Minister Apel habe die Steuerreform kaputtgemacht; es sei in Wirklichkeit sein Vorgänger gewesen.
Beides kam vor. Ich nehme an, daß er Apel für die Steuerreform nicht größere Verantwortung zuschieben will als sich selbst und allen übrigen Kollegen im Deutschen Bundestag, die diese Gesetze gemeinsam so beschlossen haben,
und zwar nachdem der famose Ministerpräsident Stoltenberg, statt Ihrer im Vermittlungsausschuß das große Wort führend, für eine maßgebliche Verteuerung der ganzen Steuerreform gesorgt hatte.
Im übrigen will ich dem Abgeordneten Strauß in aller Gelassenheit sagen, daß Sie mit hämischen, mit Ihren herabsetzenden Bemerkungen über die Steuer- und Kindergeldreform
— die letztere vergessen Sie am liebsten, so wie auch der Kollege von Weizsäcker das Kindergeld tunlichst weggelassen hat — in den Betrieben, bei den Belegschaften inzwischen keinen Boden und keine Resonanz mehr finden.
Wir müssen einräumen: wir haben das am Anfang nicht richtig erklärt, so daß es jeder hätte verstehen können. Das ist unsere Schuld, das ist unser Fehler; das müssen wir eingestehen. Aber inzwischen haben die Menschen selber rechnen können, weil sie das Geld ja in die Hand bekommen haben.
— Es ist so, daß gut 80 % aller deutschen Arbeitnehmer netto mehr in ihre Tasche. kriegten als vorher. Infolgedessen war es gut, sehr gut.
Der zweite Redner der Opposition hat mir vorgeworfen, ich tummelte mich, was er durchaus anerkenne, zwar erfolgreich auf dem Felde der Europaoder der Weltpolitik, vernachlässigte aber darüber etwas die inneren Probleme.
— Ja, das stimmt.
— Sie haben ausnahmsweise etwas Richtiges gesagt. Ich bin der dritte Redner der SPD.Herr von Weizsäcker, ich weiß nicht, ob es Ihnen hätte auffallen müssen, aber den Wirtschaftspolitikern Ihrer Fraktion mußte es klar sein, daß die Beherrschung der Weltrezession, zu der wir vieles beitragen — nicht nur auf nationalem Feld —, natürlich dringlich nach einem abgestimmten ökonomischen Verhalten der großen Partner der Weltwirtschaft insbesondere auf dem Felde der Rohölpreise und der übrigen Rohstoffpreise verlangt. Ein solches Verhalten einzuleiten, hat — das gebe ich Ihnen zu — diese Bundesregierung und schon ihre Vorgängerin unter Brandt /Scheel allerdings viel Mühe gekostet; denn zunächst einmal war weder auf der Seite der OPEC- Staaten noch auf der Seite einiger unserer engsten europäischen Freunde und Partner noch auf der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika die Bereitschaft vorhanden, zum Zwecke des Kompromisses aufeinander zuzugehen. Dies hat also viel Arbeit gekostet. Man hätte sie auch in etwas anderes stekken können. Nur die binnnenwirtschaftlichen Bemühungen um Konjunkturaufschwung allein hätten ja nicht ausgereicht, weil die Weltrezession als Ganzes konzertiert bekämpft werden muß, und zwar unter Einschluß, wie ich hoffe, kooperativen Verhaltens auch der erdölproduzierenden neuen Überschußländer.Sie haben dann in einem weiteren Punkt erwähnt, es müßte doch nun endlich ein Teil der studentischen Förderung auf rückzahlbare Kredite umgestellt werden. Adolf Schmidt hat Ihnen zugestimmt; ich habe mit dem Kopf genickt. Das ist aber doch seit langer Zeit unsere gemeinsame Meinung. Und es ist nicht nur unsere Meinung, sondern wir haben dies, nachdem wir es in der Regierungserklärung im Mai vorigen Jahres gesagt hatten, auch sogar schon in ein Gesetz hineingeschrieben und sind dabei, diese Regelung noch auszudehnen. Das ist doch nichts Neues. Darüber hat ja sogar der Bundestag schon in dritter Lesung beschlossen. Sie sollten nicht Sachen, die abgehakt sind, hier als offene Probleme darstellen. Vielleicht haben Sie es übersehen; dann will ich es Ihnen nicht nachtragen.
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11018 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Bundeskanzler SchmidtSie wie dies abgehakt worden ist und so wie die Steuer- und Kindergeldreform abgehakt und durchgeführt worden ist, so sind inzwischen auch — seit jener Regierungserklärung sind mittlerweile zehn Monate vergangen — die Vorarbeiten im Schoße der Bundesregierung für die Reform der beruflichen Bildung so weit gediehen, daß Sie sicher sein können, daß Sie sich, bevor Sie in die Sommerpause gehen und nachdem der Bundesrat den Gesetzentwurf beraten haben wird, mit dem Gesetzentwurf hier auseinanderzusetzen haben werden. Nach meinem persönlichen Urteil haben wir es hier mit einem guten Gesetz zu tun, das nicht sieben Schritte auf einmal zu machen versucht, das aber einen ganz wesentlichen Schritt tut, der für die Zukunft von Bedeutung ist.
Wir haben in der Zwischenzeit die betriebliche Altersversorgung ausgebaut. Wir haben in der Zwischenzeit das landwirtschaftliche Altersgeld dynamisiert. Alles das geschah in zehn Monaten. Wir haben das soziale Mietrecht zum Dauerrecht gemacht. Wir haben mehr Wohngeld ermöglicht. Seit dem 1. Januar ist das neue Lebensmittelrecht, ein Kernstück der modernen Gesundheitspolitik, in Kraft. Wir haben vorige Woche über eine große Zahl von durchgeführten, verwirklichten Anstrengungen auf dem Felde der Verstärkung der Organe der inneren Sicherheit gesprochen. Wir haben eine Energiepolitik betrieben, um die uns viele Staaten der Welt beneiden.
Wir haben eine Sache noch nicht zustande gebracht — ich beziehe mich hier auf den Umweltschutz —, weil Sie sich bisher nicht entschließen können, der Verfassungsänderung zuzustimmen. Wir brauchen aber Ihre Stimmen; allein können wir dies nicht beschließen.
Das Hochschulrahmengesetz, von dem Sie, Herr Kollege, auch sprachen, ist bisher an einer großen Zahl von Einsprüchen der sogenannten B-Länder im Bundesrat hängengeblieben. Wir stehen mitten in Verhandlungen im Vermittlungsausschuß. Ich kann nur hoffen, daß es dort vernünftige Einigungen gibt. Wenn allerdings bei dieser Gelegenheit das Thema Studienreform ganz unter den Tisch geschoben werden sollte, dann werde ich persönlich es außerordentlich schwer finden, einem solchen Gesetzentwurf zuzustimmen.
Das sind ein paar wenige Punkte zur Antwort auf die immer wiederholte Frage: Was tun Sie denn eigentlich? Zum Teil war die Frage auch so formuliert, daß nach dem Menschenbild oder nach der Grundkonzeption gefragt wurde. Ich denke, daß wohl jeder von uns ein persönliches Menschenbild hat — die Älteren, die darüber nachgedacht haben, sicherlich mehr als die Jüngeren, die erst noch dabei sind, darüber nachzudenken —, aber ich denke auch, Herr von Weizsäcker, daß Sie, der Sie — liebenswürdigerweise — hier ausführen, Sie hätten meine Bücher, meine Aufsätze und — vielleicht — auch die Rede, die ich in der Jakobi-Kirche Ende des vorigen Jahres in Hamburg hielt, gelesen, daß sie keinen Zweifel daran haben, daß ich nicht zu denjenigen gehöre, die ihr persönliches Menschenbild, ihre persönliche Moralphilosophie oder Moraltheologie oder ihre persönlichen sozialethischen Uberzeugungen zur Maxime für alle machen wollen — ich nicht! Ich weiß, daß wir in einer — wie nennt man das heute — pluralistischen, in einer vielfältigen, offenen Gesellschaft leben, einer Gesellschaft, die evangelische und katholische Christen, Juden und Freidenker vielerlei Spielarten umfaßt, die alle miteinander leben und handeln und in Frieden miteinander leben wollen. Ich weiß — und Sie wissen es auch —, wie in unserer gemeinsamen Kirche seit Jahr und Tag um ein neues sozialethisches Konzept gerungen wird, ohne daß es dort hat gefunden werden können — und das verlangen Sie dann jetzo vom Bundeskanzler?!
Ich kann Ihnen nur meine persönliche Meinung sagen, die Sie ja kennen, weil Sie sich liebenswerterweise mit meinen Darlegungen zu dem Thema, die ich nicht im Bundestag gemacht habe — ich glaube nicht, daß der Bundestag der Ort ist, wo persönliche Bekenntnisse abgegeben werden sollten, jedenfalls in der Regel nicht —, beschäftigt haben. Ich bin Ihnen dafür dankbar. Sie werden daraus erkennen, daß es bei mir vielleicht ein bißchen anders akzentuiert ist als bei Ihnen. Bei mir gehört eben als ganz wesentlicher Faktor das dazu, was im Godesberger Grundsatzprogramm meiner eigenen Partei steht.
Aber Sie werden andererseits mir recht geben müssen, daß es in einer Partei, die sich den seit Jahrhunderten auseinanderstrebenden Erkenntnissen, wie sie einerseits im Bereich des katholischen Naturrechts oder im Bereich der päpstlichen Sozialenzykliken anzutreffen sind, gegenübersieht und die andererseits in allerletzter Zeit noch ein paar Schwierigkeiten hat, sich von den Obrigkeitstraditionen der Preußisch-Unierten Kirche zu lösen, naturgemäß mindestens so schwer sein muß wie im Deutschen Bundestag, ein gemeinsames, gar noch für alle verbindliches Menschenbild aufzurichten. Ich denke, daß es für den Politiker darauf nicht so sehr ankommt wie darauf, daß man ihn in seinem praktischen Handeln, in seinem mitmenschlichen Handeln als Menschen oder, wenn Sie so wollen, als Christen erkennen kann.
Wenn Sie die persönliche Fußnote — auch nur für mich gesprochen — nach dem — entschuldigen Sie!
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11019
Bundeskanzler Schmidt— geschmacklosen Vergleich einer Ehe mit einem Mietverhältnis noch hören wollen:
Ich allerdings teile Ihre persönliche Meinung, daß die Ehe im Prinzip auf Dauer oder Dauerhaftigkeit angelegt ist.
— Ich spreche in diesem Punkt für meine Person.
Der Abgeordnete von Weizsäcker hat sich sodann mit Kant und Marx und kritischem Realismus beschäftigt und hat — dem gegenwärtigen Redner gegenüber vielleicht abschwächend — darauf hingewiesen, Immanuel Kant sei doch nun der Gesinnungsethiker par exellence gewesen. Das kann man sehr wohl so sagen; dem stimme ich zu. Aber das muß ja nicht heißen und kann auch für Herrn von Weizsäcker nicht heißen, alle philosophischen und sittlichen Erkenntnisse Kants beiseite zu schieben. Für meine persönliche Position — da Sie hier nach persönlichen Bekenntnissen fragen; es wird, wie ich annehme, im Deutschen Bundestag nicht so häufig wieder vorkommen, daß persönliche philosophische Positionen erfragt und dann auch genannt werden müssen —, für mich als Politiker, als politischen Menschen kommt nur das in Betracht, was Max Weber „Verantwortungsethik" genannt hat:
daß der politisch entscheidende Mensch, der politisch handelnde Mensch nach Abwägung — oder, wie Weber ja sagt, nach Abwägung „mit Augenmaß" trotz „Leidenschaft" —
verantworten muß, was an Folgen aus seinem Handeln entsteht, nicht nur die von ihm erstrebten Ziele, sondern auch das, was an anderen Folgen, an Nebenfolgen, an Gegenwirkungen, also das, was insgesamt an Folgen aus seinem Handeln entsteht. Das muß er verantworten, und er muß sich prüfen, ob er einen solchen Komplex von Folgen, die er sich ja in nüchterner, in kritischer Analyse zunächst einmal vorstellen muß, ehe er sie sittlich bewertet, auf sich nehmen kann. Wenn er sich die Gesamtfolgen, die er auslöst, vorgestellt hat, die guten wie die schlechten, und zum Ergebnis kommt, daß er von seiner eigenen sittlichen Überzeugung her legitimiert ist, sie zu verantworten, dann soll er sie verantworten.Sie, Herr Kollege, müssen z. B. die Folgen dessen verantworten, daß Sie — zugegebenerweise in einer sehr viel größeren geistigen und sprachlichen Zucht als andere — dazu beigetragen haben, die Konzeptionen des Vorsitzenden der CSU öffentlich zu legitimieren.
Wenn ich Sie richtig verstehe, war das nicht durchgängig Ihre Absicht. Aber prüfen Sie sich, wenn Sie gegen Schluß Ihrer Rede sagen, es komme beim Abwägen der Parteien darauf an, wer — so wörtlich Ihre Rede -- die besseren Lösungsvorschläge mache. Sie selbst haben doch heute keine gemacht.
Und vor Ihnen und vorige Woche hat einer gesprochen, der ausdrücklich sagt: wir wollen auch keine Vorschläge machen. Das ist ja eine denkbare andere Strategie;
und insofern hat Adolf Schmidt recht: Es war keine vollständige Deckung zwischen dem Abgeordneten Strauß und dem Abgeordneten von Weizsäcker. Aber der Abgeordnete von Weizsäcker muß wissen, daß sein Verzicht auf konkrete Vorschläge allerdings der Maxime des Sonthofener Programms entspricht.
Am Schluß habe ich mich persönlich von Ihnen berührt gefühlt; ich weiß nicht, ob Sie das wollten, Herr Kollege. An einer Stelle habe ich mich persönlich berührt gefühlt, und zwar nicht im angenehmen Sinne. Sie haben mir eine Einstellung unterlegt, die Sie so formuliert haben: Na ja, Sie, der Bundeskanzler, denken wohl: was geht mich meine eigene Partei an, ich regiere ja.
Ich habe dazu zu sagen: Ich bin seit 25 Jahren gewohnt, politische Aufträge von Sozialdemokraten und von der Sozialdemokratischen Partei zu empfangen, Ich habe diesen Auftrag bekommen, weil ich Sozialdemokrat bin. Wir Sozialdemokraten und die Freien Demokraten werden gemeinsam diesen Auftrag auch erfüllen.
Gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher, gemeinsam mit Wolfgang Mischnick, gemeinsam mit Willy Brandt und gemeinsam mit Herbert Wehner: Wir werden den Auftrag erfüllen.
Die deutsche Sozialdemokratie kämpft gemeinsam mit der Freien Demokratischen Partei auf legitime Weise um die Aufrechterhaltung der Gesetzgebungs- und der Regierungsmacht in ihrer Hand.
Ebenso deutlich will ich hinzufügen: Diese Bundesregierung, ihre Minister und ihr Kanzler, sorgen und arbeiten für das ganze Volk, für die ganze Gesellschaft und ebenso für den Staat als Ganzes.
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11020 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Carstens.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat versucht, in der Rede, die er hier soeben gehalten hat, sich mit den Ausführungen meines Kollegen von Weizsäcker heute vormittag auseinanderzusetzen. Aber ich muß sagen, es ist bei einem Versuch geblieben. Ich möchte diesen Versuch — ohne unfair sein zu wollen — als einen untauglichen Versuch qualifizieren.
Herr Bundeskanzler, Sie haben den entscheidenden Punkt der Rede des Herrn von Weizsäcker in Ihrer Antwort verfehlt. Herr von Weizsäcker verlangt von Ihnen keine Bekenntnisse über Ihren persönlichen Glauben, über Ihre persönliche Haltung zum Menschen und über Ihre Vorstellungen vom Bild des Menschen, sondern er verlangt von Ihnenund wie ich glaube, mit vollem Recht — als dem Chef der Bundesregierung, daß Sie diesem Parlament und der deutschen Offentlichkeit sagen, welche Ziele und Wertvorstellungen diese Bundesregierung mit ihrer Politik verfolgt. Auf diese Aufforderung des Kollegen von Weizsäcker sind Sie in Ihrer Antwort nicht eingegangen. Deswegen muß ich Ihnen leider sagen, daß der Vorwurf intellektueller Unredlichkeit, den Sie gegen Herrn von Weizsäcker erhoben haben, insoweit eindeutig auf Sie zurückfällt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich dann wieder aufs Prophezeien verlegt und haben uns prophezeit, daß wir hier in Kürze über das Gesetz zur Mitbestimmung in den Großbetrieben abstimmen würden. Ich muß Ihnen sagen, ich bin von der Art, wie Sie zu prophezeien pflegen, anfänglich immer stark beeindruckt gewesen,
weil hier doch ein Mann steht, der das, was er sagt, mit großem Engagement vorträgt, und unwillkürlich ist man als ein unvoreingenommener Zuhörer geneigt, das zu glauben, was ein Mann mit einem derartigen persönlichen Engagement sagt. Nur, Herr Bundeskanzler, nachdem ich mir nun mehrere Jahre lang in der Zeit, in der ich dem Hohen Hause angehöre, habe anhören müssen, was Sie alles prophezeit haben, da ist mir doch zweifelhaft geworden, ob man auf Ihre Prophezeiungen tatsächlich bauen kann.
Um Sie selbst an einige Ihrer Prophezeiungen aus der Zeit, seitdem Sie Bundeskanzler sind, zu erinnern, darf ich Ihnen ein paar Ihrer Zitate entgegenhalten:Unsere Arbeitsplätze sind sicher.Dies sagten Sie in der Regierungserklärung vom 17. Mai 1974.4,5 % Arbeitslosigkeit würde ich für unerträglich halten.
Dies sagten Sie am 2. August 1974 in der „Hamburger Morgenpost".Ich würde zu jedwedem Zeitpunkt glauben, daß wir in Deutschland eine Arbeitslosigkeit von 5 % nicht hinnehmen dürfen.Dies sagten Sie im „Spiegel" am 19. August 1974.
Dann sagten Sie schließlich:Die Bundesregierung der sozialliberalen Koalition ist ein Garant dafür, daß es keine Massenarbeitslosigkeit geben wird.Dies sagten Sie am 27. Mai 1974 im SPD-Pressedienst.Herr Bundeskanzler, ich empfehle Ihnen in Ihrem eigenen Interesse etwas mehr Zurückhaltung bei Prognosen und bei Prophezeiungen dieser Art, vor allen Dingen, wenn diese Prognosen und diese Prophezeiungen mit einem so großen Aufwand an Selbstbewußtsein und Kraftentfaltung verbunden sind.
Herr Bundeskanzler, Sie haben dann auf Ihr eigenes verfassungswidriges Verhalten in der Zeit, in der Sie Finanzminister waren, abgehoben und haben gesagt, daß der Prozeß, den die CDU/CSU-Fraktion gegen Sie angestrengt habe, sich so in die Länge ziehe. Das tut er in der Tat; das bedaure ich selbst auch ganz außerordentlich. Herr Bundeskanzler, ist es Ihnen aber eigentlich entgangen, daß sich inzwischen eine andere Instanz zu Wort gemeldet hat, die genau dieselben Vorwürfe gegen Sie erhebt, die die CDU/CSU-Fraktion in diesem Zusammenhang gegen Sie erhebt, nämlich der Bundesrechnungshof?
Ich meine, der Bundesrechnungshof und das, was er sagt, sollte Ihnen vielleicht zu denken geben. Ich würde an Ihrer Stelle dem Ausgang des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht mit einiger Beklemmung entgegensehen.
Dann komme ich aber zu einem anderen Punkte, der, wie ich glaube, noch wichtiger ist, nämlich zu der Frage der Urteilsschelte gegenüber Urteilen unseres höchsten deutschen Gerichts. Sie haben die Liebenswürdigkeit gehabt, Herr Bundeskanzler, mich mit einem Buch zu zitieren, das ich 1971 geschrieben habe. Sie haben mich durchaus richtig zitiert. Ich habe mich damals in meiner Eigenschaft als Universitätslehrer der Rechte kritisch mit Urteilen des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt.
Ich meine, Herr Bundeskanzler, Sie dürfen hier den Unterschied nicht verkennen. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein Bürger unseres Landes, ein Hochschullehrer, ein Journalist oder wer immer sich kritisch mit den Urteilen des Bundesverfassungs-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11021
Dr. Carstens
Berichts auseinandersetzt oder ob Sie, der Bundeskanzler oder die Bundesregierung, das tun;
denn das Bundesverfassungsgericht ist in der Lage, sich nicht wehren zu können, wenn es gescholten wird. Wenn Sie, der Bundeskanzler oder die Bundesregierung es schelten, könnte leicht der Eindruck entstehen, als wollten Sie das Bundesverfassungsgericht unter Druck setzen. Diesen Eindruck sollten Sie unter allen Umständen vermeiden.
Wenn Sie sich schon für meine Schriften interessieren, Herr Bundeskanzler, bin ich gerne bereit, Ihnen ein Buch zu schicken, was ich in den 50er Jahren über das amerikanische Verfassungsrecht geschrieben habe.
Darin können Sie lesen, daß der amerikanische Präsident Roosevelt auch einmal den Versuch gemacht hat, das amerikanische Verfassungsgericht unter Druck zu setzen. Das ist ihm sehr schlecht bekommen.Ich möchte also sehr dringend darum bitten, Herr Bundeskanzler,
daß Sie mit wie auch immer gearteten Formulierungen davon Abstand nehmen, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu schelten. Sie könnten sich sonst dem Vorwurf aussetzen, Sie wollten das Gericht unter Druck setzen.
Ich möchte schließlich noch auf die Bemerkungen des Bundeskanzlers zu den Ausführungen meines Kollegen Strauß in Sonthofen eingehen. Der Herr Kollege Ehrenberg und der Herr Bundeskanzler haben sich eingehend damit beschäftigt. Übrigens, Herr Kollege Ehrenberg, Sie in einer so geschmacklosen Weise, wie ich das selten erlebt habe.
Als ich mir diese Rede nach vielen anderen Reden, die ich schon von Ihnen gehört habe, nun auch noch habe anhören müssen, habe ich mich gefragt, ob es nicht irgend so etwas wie eine „Ehrenbergzulage" für diejenigen Kollegen unseres Parlaments geben sollte, die sich Ihre Reden anhören müssen, Herr Kollege Ehrenberg.
Es gibt eine Lärmzulage für Arbeitnehmer, die unter besonders lauten Bedingungen arbeiten müssen.
Aber das ist ja lange nicht so schlimm, als sich das anhören zu müssen, was Sie an niedrigem Niveau, Geschmacklosigkeit und Demagogie in einer einstündigen Rede von sich gegeben haben.
Aber ich muß auch an Ihre Adresse, Herr Bundeskanzler, sagen,
daß eine Auseinandersetzung mit dem Text, den der „Spiegel" abgedruckt hat, kein Ersatz für einen Beitrag der Regierung zur Debatte über ihren eigenen Haushalt ist.
Es kommt hinzu, daß Sie und Ihre Freunde, die dieses Thema jetzt so außerordentlich auszuschlachten versuchen, wie Sie selber ganz genau wisssen, aus einer unzuverlässigen Quelle schöpfen.
Herr Kollege Strauß hat erklärt, daß die Wiedergabe seiner Rede im „Spiegel" unvollständig und teilweise unrichtig sei.
— Herr Kollege Strauß hat hier erklärt,
was er zu diesen Themen wirklich gesagt hat.
Ich meine, Sie sollten sich mit dem auseinandersetzen,
was der Kollege Strauß hier erklärt hat, und nicht mit irgend etwas, was ihm zugeschrieben wird und wovon Sie nicht wissen, daß er es gesagt hat.
Ich finde, daß das, was Sie betreiben,
in der Tat den Vorwurf der intellektuellen Unredlichkeit verdient.
— Herr Kollege Gallus, Sie waren nicht gut zu verstehen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Haushalt des Bundeskanzlers und zu der Auseinandersetzung machen, in der wir jetzt stehen.
Es ist die Pflicht der parlamentarischen Opposition, im Rahmen der Behandlung des Haushalts des Bundeskanzlers die Anmerkungen zu machen, die sie für wichtig und richtig hält. Niemand, insbesondere
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11022 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. Carstens
nicht die Regierung und die Regierungskoalition, hat ihr darüber Vorschriften zu machen.
In den Bereichen, in denen Fortschritte zu verzeichnen sind, werden wir sie nicht verschweigen. Aber dort, wo die Bundesregierung Versäumnisse und Fehler zu verantworten hat, muß sie sich, gerade auch in den Stunden der Beratung ihres Haushalts, ihrer Verantwortung stellen.Hier ist soviel die Rede gewesen von den sozialpolitischen Gesetzen, die in diesem Bundestag verabschiedet worden sind. Die Fraktion der CDU/CSU hat diese sozialpolitischen Gesetze mitgetragen, und ein wichtiger Teil der Initiativen zu diesen Gesetzen geht auf die CDU/CSU-Fraktion zurück.
Gemeinsam haben wir das Siebzehnte Rentenanpassungsgesetz verabschiedet. Das Fundament dieser Entscheidung aber ist das von der CDU/CSU 1957 durchgesetzte Prinzip der dynamischen Rente.
Die Vorziehung der Anpassung um ein halbes Jahr ist das Verdienst der CDU/CSU.
Sie hat diese Regelung 1972 gegen einen ursprünglich starken Widerstand der Koalition durchgesetzt. Die Erhöhung der Renten aus der Kriegsopferversorgung erfolgte mit den Stimmen der CDU/CSU. Das zukünftige halbjährliche Vorziehen der Anpassung ist auf den beharrlichen parlamentarischen Druck der CDU/CSU zurückzuführen.
Der Reform der betrieblichen Altersversorgung haben wir ebenso zugestimmt wie der Verbesserung der Altershilfe für Landwirte, um nur einige Beispiele zu nennen.Hier und in anderen Bereichen haben alle Fraktionen dieses Hauses durch gemeinsames Handeln die soziale Sicherung der Betroffenen verbessert. Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich wiederholt darauf berufen, daß Sie auf den Grundlagen aufbauen, die die CDU/CSU in der Zeit ihrer Regierungsverantwortung, teilweise allerdings unter den schweren Bedingungen der Nachkriegszeit und häufig gegen Ihren erbitterten Widerstand, gelegt hat.Auch in der Außenpolitik — mein Kollege von Weizsäcker hat es gesagt — verkennen wir nicht die Bemühungen der Regierung um die Festigung des nordatlantischen Bündnisses und um die Fortsetzung der europäischen Einigung. Allerdings muß doch wohl hinzugefügt werden, daß in den vorangehenden Jahren dieser aus SPD und FDP gebildeten Koalitionsregierung die Ostpolitik ein einseitiges Übergewicht hatte, wobei die Westpolitik und die Politik der europäischen Integration in schwerwiegender Weise vernachlässigt wurde.Ebenso haben wir es begrüßt, daß wir uns mit dem Bundesverteidigungsminister über die Änderung derWehrstruktur einigen konnten, so daß einseitige deutsche Vorleistungen auf dem Gebiet der Truppenreduzierung im Bereich der Wiener Konferenz verhindert wurden. Der Bundesverteidigungsminister hat sich dadurch dem Druck aus den Reihen der Fraktionen von SPD und FDP entziehen können.Aber, meine Damen und Herren, in vier wichtigen Bereichen der Politik müssen sich die Regierung und die Regierungskoalition schwere Versäumnisse entgegenhalten lassen. Ich meine die Bereiche der inneren Sicherheit, der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Ostpolitik und dessen, was die Regierung ihre Reformpolitik nennt.Über die wirtschaftliche Lage ist viel gesprochen worden. Aber in den Debattenbeiträgen des Bundeskanzlers und der Mitglieder der Koalition wird doch immer wieder der Versuch gemacht, die entscheidenden Tatbestände zu verwischen.
Ich möchte Sie an den Unterschied erinnern dürfen, meine Damen und Herren, der zwischen dem Zeitpunkt, in dem Sie die Regierung im Jahre 1969 übernommen haben, und dem heutigen Zeitpunkt besteht. Damals, 1969, als die CDU/CSU die Regierungsgeschäfte in Ihre Hände legte, wies der Bundeshaushalt einen Überschuß von 1,7 Milliarden DM aus.
Die Arbeitslosigkeit lag unter 1 %.
Die Preissteigerungen betrugen weniger als 2 %.
Das Bruttosozialprodukt war im Jahre 1969 real um 8 % gewachsen. Heute weist der Bundeshaushalt ein Defizit von 22 Milliarden DM aus.
— Das hören Sie nicht gern. Aber das sind Tatsachen, die ich Ihnen in die Erinnerung zurückrufen möchte.
Die Arbeitslosigkeit übersteigt 5 %;
hinzuzurechnen sind noch 4 % Kurzarbeiter. 1969 gab es in der ganzen Bundesrepublik Deutschland 1 500 Kurzarbeiter.
Die Preissteigerungsrate lag im vergangenen Jahr bei 7 %, und der Zuwachs des realen Sozialprodukts war in der zweiten Hälfte des letzten Jahres negativ. So, meine Damen und Herren, sieht das moderne Deutschland aus, das Sie 1969 zu schaffen versprochen haben.
Nun wird immer wieder in einer gebetsmühlenartigen Technik von seiten der Regierung, der Regierungskoalition das Argument wiederholt: Wir
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11023
Dr. Carstens
sind daran völlig unschuldig; das Ausland ist schuld.
— Meine Damen und Herren und Herr Kollege Ehrenberg, diese Behauptung ist unrichtig. Zu den Zuständen, die sich in unserem Lande entwickelt haben, haben interne Ursachen, sogenannte hausgemachte Ursachen
zu einem wesentlichen Teil mit beigetragen. Die Bundesbank, auf deren Urteil Sie sich ja immer so gern beziehen, hat dies ausdrücklich mehrfach bestätigt.
Ich will Ihnen die wichtigsten von Ihnen zu vertretenden Ursachen nennen.
Sie haben eine Inflationsmentalität in diesem Lande geschaffen,
indem Sie von der Garantie der Vollbeschäftigung in einem Zeitpunkt sprachen, wo wir uns bereits im Stadium der Überbeschäftigung befanden und wo es angebracht gewesen wäre, der Inflation entgegenzutreten.
Sie haben die Bundeshaushalte in einer weit über das stabilitätsgerechte Maß hinausgehenden Weise aufgebläht und ausgedehnt: um 10, 11, 12 bis zu 14 % von einem Jahr zum anderen.
Sie haben im Bereich des öffentlichen Dienstes Lohn- und Gehaltssteigerungen akzeptiert,
die stabilitätswidrig waren, die nach Ihrer eigenen Erklärung stabilitätswidrig waren.
Das sind die Vorwürfe, die Sie sich anrechnen lassen müssen. Da können Sie landauf, landab noch so viel von den Ölscheichs sprechen, wie Sie wollen. Die deutsche Bevölkerung erinnert diese Tatsachen, von denen ich spreche, sehr genau und macht Sie, meine Herren von der Regierungskoalition, und Sie, meine Herren von der Bundesregierung, dafür verantwortlich.
Der zweite Bereich, in dem man der Regierung schwere Versäumnisse vorwerfen muß, ist der Bereich der Ostpolitik. Die Regierung hat in den Jahren 1970, 1971 und 1972, als sie auf die Politik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten einschwenkte, die eigenen deutschen Forderungen nicht nachdrücklich genug vertreten. So kam es dazu, daß in den Verträgen von 1970 und 1972 die Position Berlins ungenügend abgesichert wurde. Die Frage der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit wurde ausgeklammert. Die Forderung nach mehr menschlichen Erleichterungen im Verkehr zwischen Ost und West wurde nicht durchgesetzt.Jetzt, nachdem der Osten seinerseits seine Forderungen durchgesetzt hat, kämpft die Bundesregierung einen mühevollen und weitgehend leider vergeblichen Kampf, das, was sie vor drei oder vier Jahren versäumte, möglichst nachträglich noch durchzusetzen. Sie kämpft jetzt den Kampf um die Errichtung neuer Dienststellen in Berlin und um die Einbeziehung Berlins in die Ostverträge, — alles Dinge, die sie in den Jahren hätte durchsetzen müssen, als sie die entscheidenden Forderungen der jeweiligen Gegenseite erfüllte.
Entgegen den von den Herren Brandt und Bahr und anderen genährten Hoffnungen und Erwartungen setzt die DDR ihre offensive Politik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland fort. Die legitimen Versuche der Bundesregierung, weitere Dienststellen nach Berlin zu verlegen, werden im „Neuen Deutschland" als Gewaltdiplomatie angeprangert.Alles in allem muß man sagen, daß die Entspannungspolitik der Koalition auf Illusionen aufgebaut war. Diese Illusionen bezogen sich besonders auf die Ziele der östlichen Entspannungspolitik. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten verfolgten und verfolgen mit ihrer Entspannungspolitik immer zugleich auch offensive, auf Ausdehnung ihres politischen Einflusses gerichtete Ziele. Diese Tatsache verkannt, bagatellisiert oder geleugnet zu haben, ist der schwerste Fehler, den man der von SPD und FDP geführten Politik anlasten muß.
Dieser Fehldeutung hat sich die Union von Anfang an mit Entschiedenheit entgegengestellt. Sie hat auch in jüngster Zeit darauf hingewiesen, daß die KSZE zu einer weiteren Verschiebung des Kräfteverhältnisses zum Nachteil des Westens führen wird, wenn der Westen sich nicht mit seinen wesentlichen Forderungen durchsetzt. Die Union — ich habe es oft gesagt, ich wiederhole es — ist nicht gegen eine Politik der Entspannung im Ost-West-Verhältnis, aber sie ist für eine ausgewogene und realistische Politik, an der es die Regierung weitgehend hat fehlen lassen.Über den Komplex der inneren Sicherheit hat hier vor diesem Hohen Hause in der vergangenen Woche eine Debatte stattgefunden.
Ich will das damals Gesagte nicht wiederholen. Ich will nur noch einmal ganz deutlich machen, was die CDU/CSU der Regierung und der Regierungskoalition auf diesem Gebiete vorwirft.Herr Kollege Ehrenberg hat von der Verstärkung der EDV-Anlage beim Bundeskriminalamt und von anderen technischen Dingen gesprochen, die als solche nützlich sind, die aber den Kern unserer Kritik überhaupt nicht berühren. Wir halten SPD und FDPDr. Carstens
— ich nehme hier die FDP in vollem Umfang mit in die Verantwortung hinein — ihre Schul- und Bildungspolitik in den von ihnen regierten Ländern vor, in denen eine ständige Propaganda gegen unseren freiheitlichen Rechtsstaat und gegen unsere freiheitliche soziale Wirtschaftsordnung geduldet, ja veranlaßt wurde.
— Natürlich stimmt das. Lesen Sie doch die hessischen und nordrhein-westfälischen Rahmenrichtlinien einmal durch!
Lesen Sie das Gutachten Ihres Parteifreundes Nipperdey zu diesen Rahmenrichtlinien! Sie werden das Notwendige daraus entnehmen.
Zweitens. SPD und FDP haben in den von ihnen regierten Ländern geduldet, daß an einigen Universitäten eine Terrorherrschaft linksradikaler politischer Gruppen errichtet wurde, die noch heute fortbesteht.
Drittens. Politiker aus Kreisen der SPD, aber auch aus Kreisen der Jungdemokraten, verharmlosen die Schreckenstaten der Terroristen, indem sie mehr oder minder deutlich sagen, daß diejenigen Politiker, die dem Terror mit größerer Schärfe, aber selbstverständlich mit rechtsstaatlichen Mitteln entgegentreten wollen, noch gefährlicher für die Demokratie seien. Zu ihnen gehört leider auch der Vorsitzende der SPD, Herr Willy Brandt.
— Natürlich! Das tut er ja pausenlos. Das hat er hier in der letzten Sitzung auch getan. Sagen Sie nicht „Pfui", sondern widerlegen Sie doch den Inhalt dessen, was ich hier sage.
Einige Politiker aus den Reihen der SPD gehen in ihrer beschönigenden Stellungnahme gegenüber dem Terror noch einen Schritt weiter. Damit kein Zweifel entstehen kann, zitiere ich noch einmal im vollen Wortlaut den Vorsitzenden der SPD in Schleswig-Holstein, Jochen Steffen.
Er sagte am 7. Oktober 1972 auf dem Landesparteitag der SPD in Schleswig-Holstein — ich zitiere —:Aber eines dürfen denkende Menschen doch nicht übersehen, daß nämlich aller Terror nicht aus sich selbst geboren wurde, sondern das Kind unerträglicher Verhältnisse, amoralischer Machtausübung und Terror von „Oben" ist.
Ich meine, daß hier ganz klar der Versuch gemacht wird, den Terror zu rechtfertigen.
Und im übrigen irrt Herr Jochen Steffen, wenn er glaubt, daß die Terroristen in unserem Lande Kinder unerträglicher Verhältnisse seien. Man kann im Gegenteil eher feststellen, daß viele von ihnen aus ausgesprochen wohlhabenden Familien stammen.
Möglicherweise ist es ihnen zu gut gegangen, aber gewiß nicht unerträglich schlecht.
Die zweite Äußerung von Herrn Jochen Steffen datiert vom Januar 1975. Da Herr Kollege Brandt mich beschuldigt, falsch zu zitieren, wiederhole ich auch sie noch einmal im vollen Wortlaut. Jochen Steffen spricht von den zeitgenössischen Anarchisten und sagt dann:Bei den Anarchisten ist nur eines völlig klar. Das ist ihre sehr sympathische Zielvorstellung. Sie wollen eine auf Recht und Freiheit gegründete Gesellschaft ohne Gewalt.
Hier irrt Herr Steffen ebenfalls in fundamentaler Weise. Welche Ziele zeitgenössische Anarchisten verfolgen, ist völlig unklar. Klar ist nur, daß sie sich zur Erreichung dieser Ziele verbrecherischer Mittel bedienen.
Ich kann daher nicht umhin, zu wiederholen, was ich schon mehrfach früher gesagt habe:
Herr Steffen, der Vorsitzende der SPD in SchleswigHolstein, gibt durch diesen zitierten Satz
seine. Sympathie für die Ziele der in der Bundesrepublik Deutschland aktiven Terrorbanden zu erkennen. Das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen, darum kommen Sie nicht herum.
— Sorgen Sie doch dafür, daß Herr Steffen bessere Artikel schreibt, aber greifen Sie nicht mich an, wenn ich ihn zitiere, meine Damen und Herren!
Schließlich — das ist der fünfte Vorwurf, und ich wiederhole ihn in aller Form — hat diese Bundesregierung, diese Koalition, bis heute nichts Wirksames gegen den illegalen Verkehr der Anwälte mit ihren Klienten, den einsitzenden Häftlingen der Baader-Meinhof-Bande, unternommen.
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Dr. Carstens
Das ist ein schwerer Vorwurf, den Sie sich alle vorhalten müssen. Ändern Sie Ihren Standpunkt, ergreifen Sie hier endlich die Initiative!
Besonders deutlich aber schließlich, meine Damen und Herren, ist das Versagen der Regierung von SPD und FDP in dem Bereich, den man — und den insbesondere die Regierung selbst — als Reformpolitik bezeichnet. Mit großen Versprechungen trat sie im Wahlkampf 1969 und 1972 auf.
Der Himmel an der Ruhr sollte blau werden, die Hälfte aller Schüler sollte das Abitur machen, ein Viertel sollte die Universität besuchen, Vermögen und Einkommen sollten gleichmäßiger verteilt werden, die Lebensqualität sollte verbessert werden, die öffentliche Armut beseitigt werden, und was dergleichen schöne Versprechungen mehr gewesen sind.
Jetzt muß man feststellen, daß die Reformpolitik der Regierung überall da gescheitert ist, wo sie den Versuch machte, etwas Neues zu schaffen. Erfolgreich war diese Politik im wesentlichen nur da, wo sie Ansätze fortführte und auf Grundlagen aufbaute, die ihre Vorgängerinnen, die CDU/CSU-Regierungen, gelegt hatten.
Dazu rechne ich den großen sozialpolitischen Bereich, von dem ich gerade gesprochen habe. Aber da, wo Bundesregierung und Koalition versuchten, neue Wege zu gehen, sind sie mit ihren Plänen durchweg gescheitert. Teils mußten sie die beabsichtigten Reformen überhaupt zurückziehen, in anderen Fällen legten sie Reformprojekte vor, die sich bei näherer Betrachtung als undurchführbar oder den Interessen der Betroffenen abträglich, teilweise sogar als verfassungswidrig erwiesen; ich denke an die erweiterte Mitbestimmung, an das Bodenrecht und die berufliche Bildung. Da, wo es der Regierung gelang, ihre Reformgesetze durch den Bundestag zu bringen, stellten sich schwere Mängel und schwerwiegende Bedenken ein. Das Hochschulrechtsrahmengesetz, welches der Bundestag verabschiedet hat, würde, wenn es in der vorliegenden Form in Kraft träte, sicherstellen, daß die deutschen Hochschulen auf Dauer funktionsunfähig wären,
und davor sollten wir unsere Hochschulen bewahren.
Ebenso negativ sind die Wirkungen der Steuerreform zu bewerten. Herr Bundeskanzler, Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß die meisten Bürger unseres Landes inzwischen die Segnungen dieser Steuerreform erkannt hätten. Das ist keineswegs der Fall. Die Empörung darüber, daß gerade diejenigen Gruppen, die entlastet werden sollten, belastet worden sind,
hält an, und bei denjenigen, die entlastet worden sind, wird durch eine Erhöhung der Sozialabgaben und der Sozialversicherungsbeiträge das, was sie an Steuern sparen, an anderer Stelle wieder einkassiert.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch um etwas mehr Ruhe.
Meine Damen und Herren, ich bitte grundsätzlich um Ruhe. Ich habe es heute vormittag zugunsten des Kollegen Dr. Ehrenberg getan, ich tue es jetzt zugunsten des Kollegen Dr. Carstens.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie außerdem bitten: Erschöpfen Sie sich noch nicht zu schnell, Sie werden noch mehr Gelegenheit finden, gegen das zu protestieren, was ich jetzt sagen werde.Einen Grund dafür, daß die Reformen der Regierung in so kläglicher Weise verlaufen, muß man sicher in der Uneinigkeit innerhalb der Regierung, zwischen den beiden Regierungsparteien, aber auch innerhalb der Regierungsparteien selbst sehen. Bei der beruflichen Bildung z. B. berührt es doch allmählich peinlich, daß der Regierungssprecher jede Woche von neuem ankündigt, über den Gesetzentwurf sei praktisch eine Einigung erzielt, und kurz danach hört der erstaunte Bürger von Herrn Genscher oder auch Herrn Friderichs, daß von einer Einigung überhaupt keine Rede sein könne. Ich meine, Herr Bundeskanzler, hier versagen Sie auch in der Führungsfunktion, die Ihnen obliegt.
Eine weitere Erklärung für die Fehlschläge der sozialistischen Reformpolitik dieser Regierung sehe ich allerdings darin, daß die Regierungskoalition ihre Projekte meist mit einer unangemessenen Eile durch das Parlament zu peitschen versucht. Das gilt besonders für die Steuerreform. Die CDU/CSU hatte eine Senkung der inflationsbedingten Steuererhöhung bei den kleinen und mittleren Einkommen verlangt.
Das war ein in sich geschlossenes Projekt, welches man in zwei bis drei Monaten im Parlament hätte verabschieden können. Der entscheidende Fehler der Koalition lag darin, daß sie dieses Vorhaben mit dem großen Steuerreformprojekt verbunden hat, das sie selbst als ein Jahrhundertwerk plakatierte und dessen sachgerechte Behandlung eher zwei bis drei Jahre als zwei bis drei Monate erfordert hätte. So müssen Sie sich wegen der unverantwortlichen Hektik, mit der Sie dieses Projekt durch den Bundestag — ich kann nur sagen: gejagt haben,
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anrechnen lassen, was an Fehlern und schweren, ungerechtfertigten Belastungen für Millionen von Steuerzahlern in dieses Gesetz eingegangen ist.
Ich meine, meine Damen und Herren, neben diesen auf der Hand liegenden Gründen für die Unfähigkeit der Regierung und der Regierungskoalition zu Reformen gibt es Gründe, die in einer noch tieferen Schicht zu liegen scheinen. Ich möchte die Frage stellen, ob deutsche Sozialisten nach ihrem eigenen Selbstverständnis überhaupt in der Lage sind, Reformen zu verwirklichen,
die dem Menschen zugute kommen.
— Ja, das ist Ihnen peinlich; das kann ich durchaus verstehen. — Wenn ich von deutschen Sozialisten spreche, so meine ich SPD und Teile der FDP, die auf dem Boden des Sozialismus stehen.
Herr Kollege Schmidt nannte sie soeben die „moderne FDP" ; das ist ein Ausdruck, der den Tatbestand beschönigend umschreibt, den ich hier gerade festgestellt habe.
Meine Damen und Herren, die Unfähigkeit der deutschen Sozialisten zu Reformen
: Haben Sie schon einmal einem Sozialdemokraten wirklich zugehört?)
ergibt sich nach meiner Auffassung aus einer Reihe von ganz klar zutage tretenden Gründen. Die deutschen Sozialisten gehen von einer falschen Analyse der Wirklichkeit aus,
nämlich von der Vorstellung, daß unsere Gesellschaft durch Klassenkämpfe und Ausbeutung charakterisiert sei.
Die Stellung der angeblich Ausgebeuteten hat sich dagegen in den letzten Jahrzehnten, und zwar besonders in der Zeit, als die CDU/CSU regierte, kontinuierlich verbessert, und sie würde sich noch heute kontinuierlich verbessern, wenn nicht durch die von SPD und FDP zu verantwortende Wirtschaftspolitikeine Rezession und leider eine Arbeitslosenzahl von über einer Million eingetreten wäre.
Zweitens lassen sich die deutschen Sozialisten von der falschen Zielvorstellung leiten, möglichst weitgehend und möglichst schnell die Lebensverhältnisse der Staatsbürger aneinander anzugleichen. Damit verstoßen die deutschen Sozialisten gegen ein elementares Gebot sozialer Gerechtigkeit,
daß nämlich Unterschiede in der Leistung auch ihren Ausdruck in einem unterschiedlichen Entgelt für die Leistung finden sollten.
Weiter bedienen sich die deutschen Sozialisten falscher Methoden zur Realisierung ihrer Zielvorstellungen.
— Ich rede von den deutschen Sozialisten.
— Ich werde Ihnen gleich sagen, wer das ist. — Sie glauben das Heil darin zu sehen, daß der Einfluß des Staates, des Kollektivs, erweitert wird.
Sie können doch jedes Reformprojekt nehmen, was uns in den letzten Jahren auf den Tisch gelegt worden ist; immer fing es damit an, daß zunächst einmal ein riesiger staatlicher Apparat geschaffen werden mußte!
— Vielleicht erinnern Sie sich, Herr Kollege Ehrenberg, noch an Herrn von Dohnanyi, der im Zusammenhang mit seinem Projekt zur beruflichen Bildung allein 3 000 neue Planstellen schaffen wollte.
Viertens zerstören die Sozialisten bei ihren Reformversuchen natürlich gewachsene Bindungen, auf denen das Zusammenleben der Menschen in unserem Lande beruht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reuschenbach?
Ich möchte keine Zwischenfragen annehmen.
Meine Damen und Herren, auch für das, was ich eben sagte, gibt es ungezählte Beispiele. Herr Kollege von Weizsäcker hat heute morgen auf die Be-
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gründung zum Gesetzentwurf über die Neuregelung des elterlichen Sorgerechts hingewiesen, worin es heißt, daß schon das Kleinkind Objekt elterlicher Fremdbestimmung sei. Hier wird also das, was in natürlichem Bewußtsein der meisten Menschen Mutterliebe heißt, auf die Formel „elterliche Fremdbestimmung" reduziert.Herr Bundeskanzler, wenn Sie das, was mein Kollege von Weizsäcker über die Erleichterung der Scheidung gesagt hat, als geschmacklos empfinden, dann möchte ich Ihnen sagen, daß Sie dieses Urteil über diejenigen fällen sollten, die derartige Gesetzentwürfe hier vorlegen und vertreten.
Wir wissen, daß in Nordrhein-Westfalen und in Hessen die Sozialisten in ihrer Schulpolitik noch einen Schritt weitergehen, daß sie dort zum aktiven Widerstand gegen Herrschaftsverhältnisse ohne Rücksicht auf die in unserem Staat geltenden Rechtsnormen auffordern und sich dadurch in Widerspruch zu unserer rechtsstaatlichen Ordnung setzen. An einigen Rundfunkanstalten sieht es nicht besser aus.
Ich zitiere aus dem „Flensburger Tageblatt" vom 12. März dieses Jahres:Kritik an der inneren Situation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland hat der neue Programmdirektor Fernsehen des NDR, Friedrich Wilhelm Räuker, geübt. Vor der Hermann-Ehlers-Akademie in Kiel meinte Räuker, der neo-marxistische Einfluß in den Anstalten habe zugenommen. Systemgegner unter den Redakteuren äußerten sich in den Kultur- und 3. Fernsehprogrammen, aber nicht nur dort.
Zwar seien die offenen Angriffe gegen die Verfassung selten, doch würden einzelne konstituierende Normen dieses Staates pausenlos angegriffen.
Nun besteht allerdings unter deutschen Sozialdemokraten
eine merkwürdige Unsicherheit darüber, ob sie Sozialisten sind oder nicht.
Ich erinnere mich lebhaft an eine Debatte, die wir vor ungefähr einem Jahr hier geführt haben, als es um die Frage der Behandlung von Verfassungsgegnern ging. Damals bekannten sich Herr Kollege Brandt, seinerzeit noch Bundeskanzler, Herr vonOertzen, Herr Osswald und andere sozialdemokratische Sprecher als Sozialisten.
Ich meine mich auch nicht zu täuschen, wenn ich noch vor ein paar Monaten Herrn Apel hätte sagen hören, er sei stolz darauf, ein freiheitlicher Sozialist zu sein.
Aber in den letzten Monaten konnte man plötzlich andere Töne hören. Der jetzige Bundeskanzler verwahrte sich in einem Interview mit einer amerikanischen Rundfunktstation auf das entschiedenste dagegen, als Sozialist bezeichnet zu werden.
Er sei Sozialdemokrat, meinte er. Und unser so sehr geschätzter Kollege Ehrenberg
erklärte in einem ZDF-Gespräch am 2. Januar dieses Jahres — ich möchte sagen, im Ton einer gewissen Entrüstung —, daß man mit Sozialismus und Marxismus die Freiheit auf die Dauer nicht würde erhalten können.
Aber am gleichen Tage, am 2. Januar 1975, sagte der Bundeskanzler wieder,
er möchte den Rat einer durchgearbeiteten marxistischen Konzeption zur Anwendung auf gegenwärtige Probleme nicht entbehren.
Meine Damen und Herren, hier zeigt sich eine tiefgreifende Verlegenheit der Deutschen Sozialdemokraten, deren inneres Gewissen sie offenbar von Zeit zu Zeit dazu treibt, sich als Sozialisten zu bekennen, die es dann aber aus Gründen der Opportunität für besser halten, dieses Bekenntnis nicht allzuoft auszusprechen.
Sechstens. Eine weitere Erklärung für das Scheitern vieler Reformprojekte ist darin zu sehen, daß die Sozialisten eine falsche und gefährliche Grundvorstellung von dem Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft haben. Sie sehen die Gesellschaft als den wichtigeren Verband an; ihr soll sich der Staat unterordnen, während es in Wahrheit darauf ankommt, daß sich der Staat gegenüber der Gesellschaft und ihren Gruppen durchsetzt. Nicht vom Staat droht heute dem einzelnen Menschen Gefahr für seine Freiheit. Wer uns das einzureden versucht, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Gefahr droht dem einzelnen vielmehr durch das Überhandneh-
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men der Macht einzelner Gruppen. Es ist die Aufgabe des Staates, den Menschen davor zu schützen.
Deswegen ist das Wort von der „Demokratisierung der Gesellschaft" ebenso verfehlt wie die These des Godesberger Programms, daß Demokratie erst durch den Sozialismus vollendet werde.
Ich sage: Im Gegenteil, der demokratische Rechtsstaat muß die oberste Autorität auch gegenüber sozialistischen Forderungen und natürlich erst recht gegenüber sozialistischen Irrlehren bleiben.
Dies ist der zweite Punkt, in dem sich die Vorstellungen der Regierung und der CDU/CSU fundamental voneinander unterscheiden. Den Versuchen, ein sozialistisches System in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen, werden wir den entschiedensten Widerstand entgegensetzen.
Siebentens. Der letzte Grund, den ich erwähnen möchte, ist die Verflechtung der SPD mit bestimmten Gruppeninteressen.
Ich spreche hier nicht gegen die Gewerkschaften, denen eine wichtige Funktion in unserer Wirtschaftsordnung zukommt. Ich unterstreiche das, was über die verantwortungsvolle Haltung einzelner Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen der letzten Zeit gesagt worden ist.
Die Behandlung des Wahlverfahrens in der Regierungsvorlage zur Mitbestimmung ist aber der klassische Beweis für eine ungute Verquickung von Parteiinteressen der SPD mit den Interessen einzelner Gruppen.
Es gibt für das indirekte Wahlverfahren, das Wahlverfahren durch Zwischenschaltung von Wahlmännern, keinen anderen Grund als den, daß man durch dieses Wahlverfahren bestimmte gewerkschaftliche Funktionäre bevorzugen und ihre Chancen, gewählt zu werden, verbessern wollte, und zwar gegen den erklärten Willen der weit überwiegenden Mehrheit der Arbeitnehmer.
Es bleibt ein bemerkenswertes Faktum, daß die FDP bis vor wenigen Wochen dieses Wahlverfahren vollinhaltlich mit getragen hat
und erst in der letzten Phase der Beratungen entdeckt haben will, daß es sich hier um ein unliberales Verfahren handelt.
Ein Wort an Sie persönlich, Herr Bundeskanzler. Die Schwierigkeiten, in denen wir uns auf vielen Gebieten der Politik befinden, sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Sie innerhalb Ihrer Koalition, aber vor allem auch innerhalb Ihrer eigenen Partei nicht über genügend Durchsetzungskraft verfügen. Wir haben alle noch in Erinnerung, daß Sie es wochenlang zugelassen haben, wie sich die beiden Minister Rohde und Friderichs öffentlich über das Konzept zur beruflichen Bildung stritten.Über die ständigen Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition über den Entwurf zur Mitbestimmung brauche ich nicht zu sprechen. In fundamentalen ordnungspolitischen Bereichen ist die Koalition zerstritten.Schlimmer stehen die Dinge allerdings noch bei Ihrem Verhältnis zu Ihrer eigenen Partei. Es reicht nicht aus, Herr Bundeskanzler, wenn Sie hier kraftvolle Bekenntnisse zu Ihrer Partei abgeben, die dann von Ihren Fraktionsfreunden mit lautem Beifall quittiert werden. Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß große Teile Ihrer Partei eine völlig andere politische Linie verfolgen als Sie. Die Vorgänge auf dem letzten Juso-Kongreß sprechen dafür eine beredte Sprache.Ein weiteres Beispiel für Ihre mangelnde Autorität sehe ich in der Sicherheitsdebatte der vergangenen Woche. Während Sie zutreffend sagten, daß seit den Tagen der außerparlamentarischen Opposition des Jahres 1968 in unserem Lande zu vieles verharmlost und bagatellisiert worden sei, vertrat der Vorsitzende Ihrer Partei, Herr Brandt, genau den entgegengesetzten Standpunkt.
Das Auseinanderfallen der Aussage des Bundeskanzlers und der Aussage seines Parteivorsitzenden in einer so wichtigen Frage ist eine Erscheinung, ein Tatbestand, der nicht zur Autorität dieser Regierung beiträgt und der nicht geeignet ist, dazu beizutragen, daß die schweren Probleme, vor denen wir stehen, gelöst werden.
Meine Damen und Herren, demgegenüber hat die CDU/CSU, als sie im Bund regierte, den Nachweis geführt, daß sie fähig ist, die entscheidenden Fragen der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsplatzsicherung, der Preisstabilität und der inneren Sicherheit auf der Grundlage und mit den Mitteln unserer freiheitlichen, sozialen Rechts- und Wirtschaftsordnung zu lösen.
Die Bürger sehen in der Sicherung des Bewährtendie unabdingbare Voraussetzung für notwendige Reformen. Für die Bereiche Familie, Beruf, Freizeit und
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die anderen gesellschaftspolitischen Bereiche erwartet die Mehrzahl unserer Bürger sinnvolle Verbesserungen, aber keine sozialistischen Utopien.
Die Bürger unseres Landes können sich darauf verlassen, daß die CDU/CSU alles in ihren Kräften Stehende tun wird,
um die Bundesrepublik Deutschland vor dem Versuch zu bewahren, ihre innere Ordnung nach einem sozialistischem Modell zu gestalten.
Das gilt für alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens: die Wirtschaftspolitik, die Steuerpolitik, die Sozialpolitik, die Bildungspolitik, die Familienpolitik und die Gesundheitspolitik. In jedem dieser Bereiche würden die Verwirklichung der sozialistischen Leitbilder
den einzelnen Bürger seiner Entfaltungsmöglichkeiten berauben und Grundlagen in Frage stellen, auf denen unser Gemeinwesen beruht. Das ist in der Tat das entscheidende Thema der 70er Jahre unseres Jahrhunderts: Wollen wir den Weg in den Sozialismus gehen, oder wollen wir unsere freiheitliche Grundordnung, in deren Mittelpunkt das Wohl des einzelnen Menschen steht, erhalten?!
Die SPD will den Sozialismus, in ihm will sie die Demokratie vollenden. Wir sehen in dieser Zielsetzung eine große, unserem Land von innen drohende Gefahr, und wir sind angetreten, dieses Ziel zu vereiteln.
Darin liegt der geschichtliche Kern unserer Auseinandersetzung mit der SPD und — da sich die FDP an die Seite der SPD stellt — auch unsere Auseinandersetzung mit der FDP.
Die Bürger in unserem Lande haben das verstanden. Alle Vernebelungsversuche der Herren Brandt und Kühn und die Ablenkungsmanöver der führenden FDP-Politiker vermögen daran nichts zu ändern.
Die Mehrheit der Bürger in unserem Lande mißtraut dem Sozialismus
und seinen ideologischen und letztlich menschenfeindlichen Thesen — und ich glaube, zu Recht. Indem Maß, wie sie verstehen, daß es um diese Fragegeht, werden sie uns, der CDU/CSU, helfen, die Regierungskoalition
in Düsseldorf und in Bonn abzulösen.
Meine Damen und Herren, ich würde Ihnen doch ganz allgemein raten, die Debatte in Zukunft mit etwas mehr Ruhe anzuhören; es geht dann um vieles schneller. In der Demokratie muß man auch andere Meinungen ertragen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bangemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt einen Unterschied zwischen politischer Praxis und politischer Theorie, zwischen politischem Handeln und der politischen Rechtfertigung. Die Union hat den großen Vorteil, diesen Unterschied hier heute personell demonstriert zu haben: von Weizsäcker — das war politische Theorie —, Strauß und Carstens — das war die politische Praxis der Union.
Meine Damen und Herren, wenn Doppelstrategie das Ganze unglaubwürdig macht, wie Herr von Weizsäcker vielleicht mit Recht gesagt hat, dann fragt sich doch derjenige, der an Demokratie interessiert ist, was es bedeuten kann, wenn nicht einmal Herr Strauß von seinen Äußerungen abrückt, sondern sie in philologischer Manier interpretiert, Stilfragen, Stilunterschiede heranzieht, um zu behaupten, das könne er nicht gesagt haben, anstatt zu sagen: Ich habe es nicht gesagt. Warum sagen Sie das nicht?
Und wenn dann Herr von Weizsäcker in einer sicher bedenkenswerten Rede dazu keine Stellung nimmt, bleibt diese politische Rechtfertigung eines politischen Handelns, Herr von Weizsäcker, weit hinter Ihren eigenen moralischen Maßstäben zurück.
Ich habe Ihrer Rede sehr aufmerksam zugehört. Ich gehöre zu denjenigen, die Ihnen auch zubilligen, daß das, was Sie sagen, Ihrer eigenen Überzeugung entspricht. Ich halte Ihre Rede auch in Teilen für bedenkenswert, wenngleich sie sicher nicht ausreicht, Sie nun auch noch mit in den Kreis der Kanzlerkandidaten aufnehmen zu lassen.
— Ja, nun, meine Damen und Herren, das ist die Schwierigkeit, vor der wir im Augenblick stehen. Wenn jemand von Ihnen eine Rede hält, hat man immer die Frage im Hinterkopf: Ist das auch noch einer?
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Dr. BangemannEs mag sicher auch richtig sein, Herr von Weizsäcker, daß der, der die SPD wählt, die ganze SPD wählt. Das ist richtig. Aber trifft das nicht für Sie auch zu? Ist es nicht auch richtig, daß, wer von Weizsäcker und Leisler Kiep wählt, damit auch Herrn Strauß und Herrn Dregger wählt?
Meine Damen und Herren, diese Auseinandersetzung um politische Theorie und Rechtfertigung politischen Handelns ist sicher nicht akademisch. Im Vergleich dessen, was man zur Rechtfertigung seines politischen Handelns sagt, mit dem, was man tatsächlich tut, wird natürlich auch deutlich, wie glaubwürdig man ist, und wird auch deutlich, wie weit man das, was man politisch tut, so rechtfertigen kann, daß es in der Öffentlichkeit abgenommen wird. Und auch in der Art und Weise, wie man den politischen Gegner — den politischen Feind, muß man manchmal sagen — charakterisiert und zu analysieren versucht, wird deutlich, wie die eigene Position ist.Ich habe hier für die liberale Fraktion zu sprechen. In dieser Fraktion gibt es keinen sozialistischen Teil, Herr Carstens; deswegen brauche ich zum Problem des Sozialismus von unserer Fraktion aus nicht Stellung zu nehmen. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie behaupten, daß der Sozialismus nur eine lebensfeindliche, menschenfeindliche Politik betreiben kann, verlassen Sie das Maß an politischer Toleranz, das in diesem Hause gegenüber allen Fraktionen notwendig ist.
Es ist sicher auch richtig, daß Pragmatismus nicht ausreicht, um Politik zu rechtfertigen. Aber genauso schwierig ist es, als Pragmatiker zu erkennen, daß man auch dann vor einem Werthintergrund agiert, wenn man glaubt, nur pragmatisch zu handeln, und das ist eine viel größere Gefahr. Die eigentliche Gefahr besteht nicht dann, wenn man sich über seinen Werthintergrund klar ist, sondern die eigentliche Gefahr für politisches Handeln besteht dann, wenn man glaubt, pragmatisch zu handeln, und dabei in Wahrheit einer Ideologie erliegt, die man nicht erkennt.Und, Herr von Weizsäcker, es ist auch notwendig, daß politische Handlungen und politische Haltungen alternativ sein können, alternativ sein müssen; sie brauchen auch einen unterschiedlichen Werthintergrund. Ich bestreite nicht, daß das, was Sie gesagt haben, eine denkbare Weise, Politik zu machen, sein kann. Aber auf der anderen Seite müssen Sie dann vor dem Hintergrund, den Sie selber skizziert haben, vor dem Hintergrund auch des christlichen Engagements, mit dem Sie hier sicher gesprochen haben, Ihrem eigenen Fraktionsvorsitzenden sagen, daß man dann anderen Parteien, anderen Fraktionen einen anderen Werthintergrund als denkbare und mögliche Alternative von Politik zugestehen muß, soweit und solange sich diese Politik im Rahmen der Verfassung hält. Diesen Nachweis, Herr Carstens, müssen Sie führen, wenn Sie Positionen der Regierung als prinzipiell unmöglich, als unmenschlich, angreifen wollen, den Nachweis, daß sich das nicht im Rahmen der Verfassung hält. Und das haben Sie nicht getan.
Meine Damen und Herren, das ist doch das Problem, vor dem Sie stehen, das Problem, daß Sie selbst in allem, was Sie sagen und tun — auch Sie, Herr Carstens —, diesem Anspruch, den Herr von Weizsäcker hier dargestellt hat, gerecht werden müssen. So leid es mir für Herrn von Weizsäcker tut, der mit großer Ehrlichkeit das hier vorgetragen hat, ich habe den Verdacht, wir alle haben den Verdacht, daß der Sandkuchen von Sonthofen hier mit Zuckerguß überzogen worden ist, damit er genießbar wird.
Das ist eben das, was Ihnen die Öffentlichkeit nicht abnehmen wird; denn die Distanz, Herr von Weizsäcker, zwischen Sonthofen und Loccum ist zu groß, als daß Sie sie überbrücken könnten.
Wenn diese gegenseitige Toleranz Wesenselement von Demokratie ist, dann muß man eben den Mut haben, seine eigene Meinung auch einmal zu relativieren; dann darf man nicht mit dem Absolutheitsanspruch auftreten, mit dem Sie hier heute, Herr Professor Carstens, aufgetreten sind, übrigens auch in dem, was Sie an Kritik zur Rede des Kollegen Ehrenberg gesagt haben. Ich fand, über Fragen des Stils sollten sich nicht diejenigen unterhalten, die miteinander streiten. Das sollte man anderen überlassen, wenn man nicht den naheliegenden Vorwurf rechtfertigen will, man wolle sich nicht inhaltlich mit dem auseinandersetzen, sondern allein an der Art der Auseinandersetzung seine eigene Kritik aufbauen.
— Nein, das tue ich nicht. Ich mache hier nicht eine derartige Kritik, wie sie Herr Professor Carstens gemacht hat, sondern ich versuche, mich inhaltlich mit dem auseinanderzusetzen, was er gesagt hat. Der Verdacht ist eben da, wenn er sagt, Sozialisten seien unfähig, menschliche Reformen zustande zu bringen, daß er diesen Standpunkt gegenseitiger Tolerenz verlassen hat, daß er einen Anspruch verlassen hat, den man in der Demokratie nicht aufgeben sollte: daß man sich auch irren kann. Herr Professor Carstens gibt diesen Anspruch auf, und damit bewertet und beurteilt er selbst seine eigene Position, nicht ich, der ich das jetzt ausführe.Verteidigung der Toleranz — das ist auch ein Thema in der Auseinandersetzung mit Terroristen ist eine Aufgabe politischer Praxis und nicht nur politischer Theorie. Hier kann sich niemand hinstellen und eine andere Fraktion und eine andere große
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11031
Dr. BangemannPartei in dieser Weise angreifen, wie Sie das getan haben, Herr Professor Carstens, ohne sich den Vorwurf zuzuziehen, von politischer Toleranz wohl zu reden, aber in der politischen Praxis diese Toleranz nicht zu beachten. Das ist das, was man Ihnen entgegenhalten muß.
Wir, die Liberalen, haben den Kampf gegen Terroristen und gegen diejenigen, die die Demokratie bedrohen, immer als Kampf an zwei Fronten aufgefaßt:
Einmal an der Front gegenüber denjenigen, die glauben, mit Gewalt politische Reformen, politische Vorstellungen durchsetzen zu können; das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Verteidigung des Rechtsstaates gegen seine Feinde heißt eben auch, daß diese Verteidigung mit rechtsstaatlichen Mitteln durchgeführt werden muß, wenn sich der Rechtsstaat in seiner Verteidigung nicht selbst aufheben will; das ist die andere Seite der Medaille. Der Satz: „Der Zweck heiligt die Mittel" kann und darf nicht die Maxime demokratischen Handelns sein, weder für die Regierung noch für die Opposition.
Deswegen steht hier nicht zur Debatte, was Herr Strauß heute morgen glaubte behaupten zu müssen, daß Kritik nicht mehr zugelassen sei. Sie haben ausführlich Gelegenheit gehabt, auch in einer solchen Debatte und in dem, was Sie im übrigen tun können, zu kritisieren. Darum geht es nicht.
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Aber Herr Strauß scheint diese Selbstverständlichkeit offenbar gar nicht mehr zu bemerken.
— Sie haben auch die letzten fünf Jahre reden können, wenn Sie da waren.Es geht also nicht um den Versuch, Kritik abzutöten, sondern es geht um den Versuch, statt kritischer Opposition zerstörerische Opposition zu betreiben. Das ist das, was man abwehren muß; denn das richtet sich nicht allein gegen eine Regierung. Das Schicksal einer Regierung mag eine temporäre politische Frage sein. Das Schicksal einer Regierung ist auch eine Frage, die nicht unmittelbar zu den Wesenselementen unserer Demokratie gehört. Wenn man aber glaubt, in seiner Kritik an einer Regierung auch die Elemente dieser Demokratie mit angreifen zu müssen, wenn man glaubt, um die Macht zu erreichen, Not und Chaos in Kauf nehmen zu müssen, wie Sie gesagt haben,
dann betreibt man zerstörerische und nicht nur oppositionelle Kritik.
Toleranz heißt nämlich auch, Herr Strauß, eine Verpflichtung zum gemeinsamen Handeln für gemeinsame Zwecke. Und diese Verpflichtung sind Sie nicht mehr bereit zu übernehmen.
In solchem gemeinsamen Handeln, meine Damen und Herren, und nur in solchem gemeinsamen Handeln entstehen die Grundlagen für gesellschaftliches und menschliches Zusammenleben, von dem Herr von Weizsäcker gesprochen hat.
Das allein kann auch die Rechtfertigung staatlichen Handelns sein. Staat ist kein Selbstzweck. Nach dem Staat zu rufen um des Staates willen, das ist die Verfehlung menschlichen Zusammenlebens; das ist nicht die Erkennntnis dessen, was menschliches Zusammenleben konstitutiert.Der Staat ist auch nicht, Herr Professor Carstens, ein über den einzelnen oder die Gesellschaft sich heraushebendes für sich existierendes Wesen mit eigenen Rechtfertigungskriterien, mit einer eigenen Moral. Das ist in der Tat ein prinzipieller Unterschied zwischen Staatsauffassungen, die wir, die Liberalen, geprägt und mitgestaltet haben, und Ihren eigenen, die Sie hier offenbar demonstriert haben. Hegel begründet in seiner Rechtsphilosophie den konservativen Dualismus zwischen Gesellschaft als eihem System der Bedürfnisse und dem Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee. Ganz offenbar stehen Sie vor dem Hintergrund dieser Staatsidee, wenn Sie Ihre Ausführungen zum Staat machen. Der Liberalismus und auch der Sozialismus haben dies schon früher als Rationalisierung eines Machtanspruches entlarvt.
Das ist nichts anderes gewesen, meine Damen und Herren, als das, was vor einer konstitutionellen Demokratie jeder Potentat betrieben hat, seine persönliche Autorität und Macht zu rechtfertigen, indem er auf einen ihm allein zugänglichen Kodex von Normen zurückgegriffen hat.
Wenn Sie so Staat verstehen, dann verstehen Sie ihn eben nicht in einem demokratischen Sinne, dann verstehen Sie ihn jedenfalls nicht, so will ich mich jetzt einschränken, wie Liberale und wie auch Sozialisten Staat verstehen.
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11032 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. BangemannZum liberalen Kampf, meine Damen und Herren, muß man auch einen Blick in die Geschichte werfen, und da verstehe ich manchen Ton von Überheblichkeit und Selbstbewußtsein nicht, den Ihre Sprecher immer in diese Debatte hineintragen. Wo haben sich denn in der Vergangenheit Konservative daran beteiligt, diesen demokratischen Staat zu erreichen, in dem wir heute leben?
Das waren doch in erster Linie Liberale, die dafür gesorgt haben, daß wir in diesem Staate mit einem Grundgesetz leben können, das, wie Sie selbst sicher auch zugeben werden, diesen Ansprüchen der Demokratie Genüge leistet.
Im Kampf, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU-Fraktion, wenn es darum geht, Menschlichkeit und Demokratie durchzusetzen, waren, jedenfalls in der Vergangenheit, Ihre Vorväter nie auf dem Schlachtfeld zu erblicken. Nur bei den Siegesfeiern haben sie sich eingestellt.
So ist es auch heute. Man kann sich doch wirklich nur mit einer gewissen Ironie anhören, was Herr von Weizsäcker zur Reformpolitik gesagt hat, auch zur Reformpolitik dieser Regierung. Meine Damen und Herren, wenn man sich einmal anschaut, mit wieviel Anstrengungen und Mühen, damals unter Demontage eines jetzt wieder aufgepäppelten Kanzlerkandidaten, des Herrn Kohl, Sie zur paritätischen Mitbestimmung in Ihrem Programm gekommen sind, — —
— Was heißt denn da „Lümmelei"?
Ich bitte Sie! Wenn ich Sie an Ihre Leiden erinnere,Herr Kollege, dann tue ich das in christlicher Demut.
Was berechtigt Sie denn eigentlich dazu, dieser Regierung vorzuwerfen, sie sei nicht entschieden genug dabei, Reformen durchzusetzen? Was von Ihren eigenen Vorstellungen über Reformen berechtigt Sie dazu? Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf zur Mitbestimmung, wo Sie das alles im Wahlverfahren so schön regeln, was eben so ungeheuer kompliziert ist? Wo ist er denn?
Wo ist er denn, meine Damen und Herren?
— Geben Sie sich da keinen Illusionen hin:
Diese Mitbestimmung, meine Damen und Herren von der Opposition, wird Sie in diesem Bundestag noch beschäftigen, und dann kommt die Stunde der Wahrheit. Dann können Sie Ihre ganze soziale Emphase in die Abstimmung legen, und dann wollen wir einmal sehen, wer für die Schwachen eintritt, Herr von Weizsäcker.
Das möchte ich doch einmal erleben — Sie sagen ja selbst, daß diese mächtigen Gruppen eine Position in unserem Staat errungen haben, die zu Bedenken Anlaß gibt —: Wo liegen Sie denn in dem erbitterten Kampf mit Arbeitgeberverbänden? Wo ist denn das festzustellen? Bezahlen nicht diese Leute Ihre Anzeigen? Wo ist denn Ihr Kampf mit diesen Verbänden?
Das ist die Heuchelei, von der Sie sich lossagen müssen, wenn Sie in diesem Hause ernst genommen werden wollen.
Sie können nicht mit dem Pfund der Stimmen der Schwachen, die Sie hofieren, immer wieder das Geld der Mächtigen bekommen wollen. Das ist eine Heuchelei.
— Herr Strauß, ich zähle Sie in dem Zusammenhang nicht zu den Schwachen.
Natürlich gehört zu einem demokratischen Staat auch die Verpflichtung zur Achtung vor den demokratischen Institutionen.
Das betrifft auch das Bundesverfassungsgericht.
Herr Abgeordneter Bangemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breidbach?
Bitte sehr.
Herr Kollege Bangemann, nachdem Sie von der Anzeigenunterstützung der Industrie für die Christlich-Demokratische Union gesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob es stimmt, daß 50 % Ihrer Gesamteinnahmen aus Spenden der Industrie bestehen.
Nein, das stimmt nicht.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11033
Dr. BangemannHerr Breidbach, das stimmt nicht. Ich habe Ihre Frage beantwortet. Darf ich in meinem Gedankengang zum Bundesverfassungsgericht jetzt vielleicht fortfahren?
— Ich habe die Antwort gegeben: Es stimmt nicht, was Herr Breidbach gesagt hat.
— Sie können das ja alles nachlesen. Sie brauchen ja nur im Bundesanzeiger die Rechnungslegung nachzulesen, zu der Parteien verpflichtet sind, und dann außerdem noch nachzuschauen, wie oft bei Ihnen der Name „Anonym" auftaucht. Das brauchen Sie nur nachzuschauen.
Das Bundesverfassungsgericht ist eine Institution unseres demokratischen Rechtsstaats.
Dieses Bundesverfassungsgericht kann also in seiner Position niemals durch jemanden, der diese demokratische Institution ernst nehmen will, angegriffen werden. Das heißt aber nicht, daß man sich in einer politischen Diskussion über ein Urteil dieses Bundesverfassungsgerichts nicht kritisch unterhalten und auseinandersetzen kann.
Das ist auch notwendig, insbesondere bei dem Urteil zu § 218; denn das haben ja nicht wir, die Parlamentarier gesagt, sondern das steht in dem Minderheitenvotum des Ersten Senats drin.
Diese Bedenken verfassungsrechtlicher Art — nicht einmal sachlicher Art; darüber könnte man ja auch noch diskutieren — gegen die Kompetenz und Position des Bundesverfassungsgerichts stammen doch nicht von uns, sondern sie stammen von der Minderheit des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts selbst.
Herr Abgeordneter Dr. Bangemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breidbach und des Abgeordneten Dr. Lenz?
Da ich vermute, daß mich der Abgeordnete Dr. Lenz zum Bundesverfassungsgerichts fragen wird, Herr Breidbach aber nicht, gestatte ich nur die Zwischenfrage von Herrn Lenz.
Aber Herr Lenz, wenn Sie sich so leicht abschrecken lassen, wie wollen Sie dann je die Regierung übernehmen?
Diese Diskussion über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann ein sehr gutes Ergebnis haben, das Ergebnis nämlich, daß sich das Selbstverständnis dieses Gerichtes etwa dem des amerikanischen Gerichtes, von dem Herr Professor Carstens gesprochen hat, annähert. Das wäre sehr gut. Das würde uns auch eine völlig unnütze Diskussion über das Wahlverfahren ersparen. Ich halte es für außerordentlich bedenklich, wenn anläßlich dieses Urteils hier und da eine Diskussion über das Verfahren der Wahl zum Bundesverfassungsgericht entsteht. Darüber darf kein Zweifel herrschen: Dieses Wahlverfahren ist so angelegt, daß jeder Richter die Chance hat, zu einem Selbstverständnis zu kommen, das ihm ein unparteiisches Urteil gestattet. Wir führen die Diskussion so, daß dieses Selbstverständnis in diesem Gericht wachsen kann.Wir müssen uns aber auch bei der Debatte, die Sie noch einmal aufgegriffen haben, Herr Professor Carstens, über staatliches Handeln im Sinne von innerer Sicherheit daran erinnern, daß staatliches Handeln durch die Werte beschränkt wird, die unsere demokratische Gesellschaft konstituieren. Ich meine, Sie haben dem Kollegen Brandt, der in einer sehr, sehr guten Rede dazu etwas gesagt hat, unrecht getan. Sie haben ihm unrecht getan, weil er dieser Diskussion über die Frage, ob man einer Erpressung durch Terroristen nachgeben soll oder nicht, eine Dimension gegeben hat, die sie eigentlich auf den Kern dessen, was zu entscheiden war, zurückgeführt hat, nämlich daß sich ein demokratischer Rechtsstaat, der diesen Grundwert des menschlichen Lebens nicht in allen Situationen schützt, auch in einer Situation der Ohnmacht — wie Willy Brandt das genannt hat , aufgibt. Dieser Erkenntnis, meine Damen und Herren, sollten Sie sich anschließen, weil das staatliches Handeln so begründen kann, daß es auch demokratischen Ansprüchen genügt.
Dieser Werthintergrund, von dem Herr von Weizsäcker gesprochen hat, ist im Grunde ein Werthintergrund von Individualpositionen. Das ist eine Bestätigung auch der Liberalen und der Auffassung von Werthintergrund politischen Handelns heute. Ich glaube auch, daß es da einen fundamentalen Unterschied zwischen Konservativismus, Sozialismus und Liberalismus gibt.
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11034 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. Bangemann— Herr Mertes, ich würde Ihnen zugestehen: In einem weiteren Sinne sind auch Sie liberal, d. h. in dem weiteren Sinne: liberal gleich sympathisch.
Aber das heißt nicht, Herr Mertes, daß Sie in einem politischen Sinne zu den Liberalen zu zählen sind. Ich werde Ihnen gleich nachweisen, warum das bei Ihnen nicht möglich ist. Dabei unterscheide ich mich von dem Kollegen Professor Carstens in dem Punkt, daß ich, Herr Professor Carstens, mit meinem Urteil, nämlich daß Herr Mertes nicht ein Liberaler ist, eben keine despektierliche Meinung von Herrn Mertes, verbinde. Das ist ein großer Unterschied zu dem, was Sie beispielsweise über den Sozialismus gesagt haben.
— Ah, ich bedanke mich sehr dafür. Dann würden Sie mich wohl zum liberalen Teil der Liberalen zählen. Vielen Dank.Dieser fundamentale Unterschied zwischen den Positionen der Konservativen, der Liberalen und der Sozialisten besteht nicht hinsichtlich der Anerkennung des Grundsatzes, daß menschliche, moralische und politische Momente, Situationen des Individuums in der Politik die ausschlaggebende Rolle spielen müssen, sondern der Unterschied liegt darin, daß der Sozialismus sagt: Der einzelne kommt zu sich selbst, verwirklicht sich selbst nur in der Gesellschaft. Sozietät ist also für einen Sozialisten das principium fundamentalis der Individualität. Das ist ein ganz gewichtiger Unterschied zum Liberalismus, auch zu dem, wie ich glaube, was man zu konservativen Grundanschauungen zählen kann. Der Konservativismus geht davon nämlich nicht aus; aber er bezieht in seine Vorstellung von Individualität immer wieder das sein, was vorgegeben ist, was in der Gesellschaft oder in staatlichen Organisationsstrukturen an Moral vorhanden ist. Er versucht, den einzelnen in diese Moralvorstellungen zu bringen, ihn zu adaptieren.Das ist sehr schön deutlich geworden bei einer Bemerkung von Herrn Strauß, der auch ab und zu von sich behauptet, er sei ein Liberaler. Aber das nehme ich eigentlich mehr als eine Erinnerung an etwas, was er vielleicht einmal hätte werden können, aber nicht geworden ist.
— Herr Strauß, ich denke dabei an eine Bemerkung, die Sie zu etwas gemacht haben, was in den Rahmenrichtlinien von Nordrhein-Westfalen steht. Sie haben das kritisch zitiert und gesagt, es sei wohl das Ende einer demokratischen Gesellschaft und Haltung, wenn dort zum Widerstand gegen gesellschaftlichen Zwang aufgefordert werde und wenn Bereitschaft zu Innovation gefordert werde.
Das sei — haben Sie gesagt — Handreichung für Terroristen.
Wenn man sich das einmal vor Augen hält — lassen Sie mich, Herr Mertes, jetzt erst einmal den Gedanken zu Ende führen —, daß hier Widerstand gegen gesellschaftlichen Zwang und Bereitschaft zur Innovation als undemokratisch charakterisiert werden, ja gar als terroristische Anweisung, dann, muß man sagen, besteht in der Tat ein himmelweiter Unterschied zwischen einem Konservativen und einem Liberalen.
Denn, Herr Strauß — und das gilt auch für Sozialisten —, Widerstand gegen gesellschaftlichen Zwang und Bereitschaft zur Innovation machen nicht den Terroristen, sondern machen den kritischen Demokraten aus.
Sie wollen das auch eigentlich gar nicht in diesem Sinne heranziehen, sondern was Sie wollen, Herr Strauß, ist etwas, was viel, viel gefährlicher ist als ein Meinungsunterschied zwischen uns und Ihnen: Sie wollen Grenzen verwischen. Sie wollen die Grenze verwischen, die zwischen einem kritischen Demokraten und einem Terroristen besteht, und das machen Sie bewußt.
Diese Verwischung von Grenzen ist zunächst einmal Aufgabe von Rationalität. Rationalität besteht eben in der Fähigkeit, unterscheiden zu können zwischen terroristischer Gewalttat und kritischer Anteilnahme des Bürgers am politischen Geschehen. Diese Verwischung der Grenzen ist aber auch Verletzung von Toleranz. Herr von Weizsäcker, von Toleranz kann man nicht nur reden, sondern Toleranz muß man üben.
Wer den Grundwert „menschliches Leben" in jeder Situation verteidigen will, der muß sich auch gegen alle Versuche zur Wehr setzen, Meinungen totzuschlagen. Denn menschliches Leben besteht auch darin, daß jemand seine Meinung äußern kann. Manchmal, Herr Dregger, hat man das Gefühl, daß bei aller Berechtigung einer Debatte um innere Sicherheit, um polizeiliche Maßnahmen, die unsere Innenminister wirklich mit großer Effizienz durchge-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11035
Dr. Bangemannführt haben, bei dieser Debatte auch eine Grenze verwischt wird und daß mit dieser Gewährleistung von innerer Sicherheit etwas aufgegeben werden soll, was zum Inhalt von Meinungsfreiheit gehört. Das ist ein Weg, den die Liberalen nicht mitgehen werden. Denn wer sich gegen Gewalt verteidigen will, wer innere Sicherheit herstellen will, der will das, weil er Demokratie will, und Meinungsfreiheit gehört zur Demokratie. Die Hatz auf Andersdenkende, Herr Dregger, gehört nicht zur Demokratie.
Wer leugnet denn, Herr Strauß, daß es in der Industriegesellschaft auch Zwänge gibt, denen der einzelne entkommen muß, wenn er zu menschlichem Leben kommen will? Wer leugnet das?
Herr Abgeordneter Bangemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Strauß?
Das würde jetzt eine Benachteiligung des Abgeordneten Lenz sein, aber ich will es trotzdem gestatten. Bitte sehr!
Herr Abgeordneter Strauß zu einer Zwischenfrage!
Sind Sie sich bewußt, Herr Kollege Bangemann, daß Sie vorher das mir von Ihnen in den Mund gelegte Zitat durch Weglassen entstellt und damit den Sinn verfälscht haben?
Denn ich habe heute gesagt — als Auszug aus den Richtlinien für den politischen Unterricht in Nordrhein-Westfalen 1973; die ursprüngliche Fassung, jetzt kaum geändert —: „Kenntnis und Entwicklung von Innovationsverfahren" das steht nicht zur Diskussion — „oder Widerstandstechniken". Ich habe im Anschluß daran gesagt: das ist die Handreichung für Radikale.
Aber, Herr Strauß, sind Sie sich denn nicht bewußt, daß Sie jetzt in Perfektion demonstriert haben, was wir Ihnen vorwerfen,
nämlich die Verwischung von Grenzen? Hier wird nicht von Innovationsverfahren gesprochen, die darin bestehen können, Bomben zu basteln, und hier wird auch nicht von Widerstandstechniken gesprochen, die darin bestehen könnten, Terrorakte auszuüben, sondern hier wird versucht, Herr Strauß, Verfahren und Techniken vorzuschlagen und zu entwickeln, die den Bürger dieser modernen Industriegesellschaft in die Lage versetzen sollen, sich gegen die vielfältigen Zwänge dieser Gesellschaft zur Wehr zu setzen, z. B. auch dagegen, worunter Sie angeblich leiden, nämlich z. B. einer falschen Berichterstattung. Eine Widerstandstechnik, die man lernen muß, Herr Strauß, besteht auch darin, nicht allem aufzusitzen,was in einer Zeitung geschrieben wird. Das ist z. B. eine Widerstandstechnik.
Das ist das Problem, und daran entscheidet sich auch die Frage, wie sehr Sie eine moderne Gesellschaft wollen, ob Sie Modernität als einen Grundsatz Ihrer Politik anerkennen. Denn diese Zwänge sind nicht allein ein Merkmal des kapitalistischen Systems. Diese Zwänge entstehen durch eine Entwicklung der Technik, durch Arbeitsteilung, durch eine weite Entfernung des Menschen von seinen natürlichen Ressourcen. Das ist eine Situation, die man überall in der Welt, jedenfalls in einem entwickelten Industrieland, vorfindet, ob es nun sozialistisch, kapitalistisch, kommunistisch oder wie auch immer sich gesellschaftlich organisiert.Der Widerstand gegen diesen Zwang beseitigt den Krebsschaden, den der einzelne in einer solchen modernen Industriegesellschaft erleiden kann, den nämlich, zur Konformität gezwungen zu werden. Das ist die eigentliche Gefahr, in der wir heute in unserer Gesellschaft leben, daß technische Entwicklungen, gesellschaftliche Strukturierungen, z. B. das Problem der Gruppen, zur Konformität zwingen, daß der einzelne nicht mehr als einzelner gewertet wird, sondern nur noch als Mitglied einer Organisation, als Mitglied einer Gruppe.Da muß ich zu dem, was der Bundeskanzler zu den Gewerkschaften gesagt hat, eine Anerkennung machen. Denn die Position der Gegenmacht, die hier Gewerkschaften zugeschrieben worden ist, ist eine Position in einer unbefriedigenden Situation und deswegen nur eine Notlösung.
Jede Organisation, jeder große Verband lebt in einer für ihn charakteristischen Gefahr, der Gefahr nämlich, das Handeln für den einzelnen, für den, für den er eintreten will, so zu prolongieren, daß der einzelne zur Mündigkeit unfähig gemacht wird durch die Betreuung der Organisation.
— War das ein Aufruf an Ihre Fraktion? Ich kann dem nur zustimmen. Ich kann auch die Mitglieder Ihrer Fraktion, soweit sie hier versammelt sind, nur bitten, mir da genau zuzuhören.
— Wie Ihr Zwischenruf beweist, tun Sie es aber.Diese Macht von Organisationen, von gesellschaftlichen Verbänden, ist in der Tat die Herausforderung an jede Partei, an jeden, der heute für Individualität eintreten will. Das kann man nicht dadurch bewerkstelligen, daß man das von der Charakteristik und der Auseinandersetzung mit Machtproblemen abhängig macht. Denn Macht --und das ist vielleicht ein Charakteristikum für Liberale ist einem Liberalen immer unheimlich — auch Macht, die zu einem menschlichen Zweck aus-11036 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn. Mittwoch. den 19 März 1975Dr. Bangemanngeübt werden soll, die dazu beitragen soll, den Menschen zu emanzipieren. Denn die wahre menschliche Freiheit, jedenfalls im Verständnis eines Liberalen, besteht darin, daß ein Mensch in seinen eigenen, für ihn eigentümlichen Grundwerten geachtet und nicht nach Mitgliedschaftsrechten berechnet und gewertet wird und nicht nur dann etwas gilt in seinem Selbstverständnis, wenn er Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe ist.
Deswegen haben wir hier unsere Bedenken, wenn man von Gegenmachtpositionen spricht, ohne einzubeziehen, daß eine solche Position auch geräumt werden muß, wenn es an der Zeit ist, wenn die Mündigkeit des einzelnen das erfordert.
— Das ist ein Problem, Herr Professor Carstens, das Sie mit einigen Worten angesprochen haben, bei denen man anfangen kann, darüber nachzudenken, ob Sie nicht möglicherweise recht haben.
Übrigens habe ich das nicht erst vor einigen Wochen gesagt, sondern schon vor einigen Monaten; insofern können Sie jedenfalls keine Prioritätsrechte für sich in Anspruch nehmen. Das ist auch ein Problem, das wir befriedigend lösen werden.
— Selbstverständlich gilt das heute noch. Sie werden das bei der Diskussion über den Enwurf, den wir gemeinsam mit den Sozialdemokraten vorlegen werden, sehen. Und alles das, was Sie hier veranstalten, ist ja nicht eigentlich die Bemühung um eine vernünftige Mitbestimmungsregelung, sondern die Bemühung darum, a) einen Zwiespalt, einen Kampf in die Koalition hineinzutragen und b) auf diese Weise die Mitbestimmung überhaupt zu verhindern.
— Wenn Sie das nicht wollen, dann legen Sie doch endlich einmal Ihren Gesetzentwurf hierhin, damit wir gemeinsam darüber abstimmen können!
— Das ist nicht eine Frage der Regierung, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit, eine Frage der Überbrückung von Theorie und Praxis politischen Handelns. Was Herr von Weizsäcker hier gesagt hat, berechtigt Sie nicht nur, sondern verpflichtet Sie geradezu, einen Mitbestimmungsentwurf vorzulegen.
Meine Damen und Herren, dieser Grundwert Individualität, der den Werthintergrund liberalerPolitik ausmacht, steht in einem polaren Verhältnis zu dem Wert gesellschaftlicher Normen, zu dem, was in einer Gesellschaft vom einzelnen verlangt wird. Aber bei der Entscheidung in diesem polaren Gegensatz werden sich jedenfalls Liberale für den Vorrang des einzelnen, für den Vorrang von Individualität entscheiden. Ich will damit nicht behaupten, daß der einzelne als ein autonomes Wesen ohne Sozialbindung existieren könne, daß er auch losgelöst von sozialen Zwängen und Vorurteilen sein eigenes Leben leben könne. Aber täuschen Sie sich nicht: In einer solchen polaren Situation zwischen zwei Werten gibt es keinen faulen Kompromiß. Hier gibt es nur die Entscheidung für den Vorrang der Gruppe, der Gesellschaft oder für den Vorrang des einzelnen, des Individuums. Wir entscheiden uns für den Vorrang des einzelnen, für den Vorrang des Individuums. Das macht unsere Liberalität aus.Die radikale Hinwendung zu diesem Grundwert heißt auch, meine Damen und Herren, Anerkennung von offener Gesellschaft, heißt Anerkennung von Pluralismus, heißt auch Anerkennung von Innovation; denn Reformen — Erneuerung — sind notwendig, um eine solche Gesellschaft offenzuhalten. Und das heißt auch, daß das, was hier von Herrn von Weizsäcker zu unseren Reformen gesagt worden ist, nur dann richtig gewertet werden kann, wenn Sie diese Offenheit auch im Sinne haben. Dazu gehört eine nüchterne Bestandsaufnahme dessen, was ist, Herr von Weizsäcker.
Ich will Ihnen jetzt sagen, an welchem Punkt — es ist nur ein Beispiel — ich das Gefühl nicht losgeworden bin, daß Herr von Weizsäcker in der moralischen Postulierung an Wirklichkeiten vorbeigegangen ist, nämlich bei der Beurteilung dessen, was wir unternommen haben, um Kindern, kleinen Kindern, unmündigen Kindern, die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln. Es gibt in diesem Saal sicher niemanden, der nicht den Wert einer personalen Beziehung zwischen Eltern, einer Mutter, einem Vater, und deren Kind anerkennt. Ich würde das nicht bestreiten, Herr von Weizsäcker. Ich würde das nicht in Zweifel ziehen. Aber es gibt eben sehr viele in diesem Raum, die sehen, daß Eltern, daß Mütter nicht bereit, nicht in der Lage sind, diese personale Beziehung herzustellen. Und um deren Kinder geht es uns bei dem, was wir gemacht haben. Es geht darum, die Wirklichkeit, die anders ist als ein moralisches Postulat, zu erkennen und politisch zu gestalten, und nicht darum, nur ein moralisches Postulat aufzustellen und an der Wirklichkeit vorbeizugehen.
Offene Gesellschaft heißt auch Freiheit, Freiheit auch in einem durchaus formalen Sinn. Es ist jetzt vielleicht ein wenig aus der Mode, davon zu sprechen, daß Freiheit nicht nur inhaltlich verstanden werden muß und kann, sondern schlicht und einfach auch die Entscheidungsmöglichkeit ist. Das heißt, daß der einzelne die Möglichkeit haben muß, tradierte
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11037
Dr. BangemannMoral- und Verfahrensvorstellungen durch seine individuelle Entscheidung zu durchbrechen.Bei diesem Kampf, tradierte Moralvorstellungen zu durchbrechen, findet man sehr selten Unterstützung, Freundschaft und Hilfe durch das, was man eben Konservativismus nennen muß. Das ist gar nichts Abwertendes. Es muß eine konservative Partei geben; denn es gibt konservative Menschen in unserem Staat, in unserer Gesellschaft. Sie müssen die Möglichkeit haben, eine konservative Partei zu wählen, und die bieten die CDU und die CSU diesen Menschen. Es muß auch eine sozialistische Partei geben. Zwischen demokratischem Sozialismus und Sozialismus besteht sicher ein Unterschied. Dazu wird sicher noch einer der Kollegen aus der sozialistischen Fraktion etwas sagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?
Herr Kollege Bangemann, sind Sie sich darüber im klaren, daß ihre Charakterisierung der Individualität, von der SPD aus gesehen, nicht nur konservativ, sondern sogar rechtskonservativ ist?
Herr Mertes, im Gegensatz vielleicht zu Ihnen, der sich darum bemüht, sich von anderen Vorstellungen abzuheben, geht es mir gar nicht so sehr darum, die liberale Position im Blick
auf das zu sehen, was andere machen und wollen. Es geht mir vielmehr darum, eine eigenständige, aus unserem liberalen Verständnis heraus geprägte Wertvorstellung von Politik hier darzustellen, damit deutlich wird, was Liberalismus ist, und damit vielen Ihrer Fraktionskollegen der Mut genommen wird, sich in der Öffentlichkeit als Liberale zu bezeichnen und z. B. bei der falschen Gelegenheit zum falschen Augenblick mit dem falschen Akzent nach der Todesstrafe zu rufen.
Meine Damen und Herren, Liberalismus, das ist keine Schönwetter-Philosophie. Der Liberale bewährt sich in einer solchen Situation der Emotionalität und setzt sich zur Wehr gegen ein Vorurteil und beugt sich nicht einer öffentlichen Emotionalität gegen besseres Sachwissen, sondern er steht das durch. Auch das macht ein wenig den Liberalen aus. Gestatten Sie uns doch den Stolz auf diese Position.
Das Letzte ist, meine Damen und Herren: Ich spreche hier von einem Werthintergrund unserer Politik, die auch in dem deutlich wird, was diese Regierung tut.
Liberale Politik muß auch geprägt sein von dem
Ideal, dem Grundsatz der Humanität. Das bedeutet:
dies ist ein Ensemble von menschlicher Kreatürlichkeit und menschlicher Kreativität. Diejenigen Kulturpessimisten, die nur auf die menschliche Kreatürlichkeit schauen, die glauben, der Mensch sei nur grausam, sei aus den ihm gesetzten Fesseln nicht zu befreien, haben auch etwas gegen Demokratisierung; denn sie glauben nicht, daß der Mensch dazu in der Lage ist; sie sind pessimistisch. Diejenigen aber, die nicht nur an die Kreatürlichkeit des Menschen glauben oder darum wissen, sondern die auch an die Kreativität des Menschen glauben, meine Damen und Herren, die verstehen das Wort „Demokratisierung" nicht als Schimpfwort, sondern als eine Aufforderung, eine bessere, gerechtere, demokratischere und humanere Zukunft zu gestalten.
Deshalb warne ich alle diejenigen, die meinen, das Wort „Demokratisierung" in den Schmutz ziehen zu müssen; denn damit verschütten sie eine Möglichkeit menschlicher Existenz, die wir heute noch nicht voll ausschöpfen können, die wir uns aber erhalten müssen.
Das gilt auch, mein Damen und Herren, bezüglich dieser Frage des „blauen Himmels", die hier ironisch angeschnitten worden ist. Zur menschlichen Kreativität gehört auch das Denken an morgen, zur menschlichen Kreativität gehört der Mut, auch einmal eine Forderung aufzustellen, die sich vielleicht erst morgen oder übermorgen erfüllen kann; denn sie müssen ja diejenigen, die diese Forderung tragen wollen, motivieren, das durchzusetzen.
Nun machen Sie doch nicht den Fehler, den Menschen von seinen Möglichkeiten dadurch abzuschneiden, daß Sie ihm nicht zutrauen, menschlicher zu leben, gerechtere Verhältnisse schaffen zu können! Diesen Fehler machen Sie, wenn Sie sich gegen Demokratisierung wenden.
Meine Damen und Herren, wenn Humanität nicht ein leeres Ideal bleiben soll, dann bedarf es der Hinwendung zum einzelnen Menschen. Das heißt nun einmal auch für die Opposition: praktische Politik. Wir verlangen ja nicht von Ihnen, daß Sie uns Alternativen frei Haus liefern, die wir dann übernehmen. Aber was wir von Ihnen verlangen, ist, daß Sie sich den Schwierigkeiten der praktischen Politik genauso zuwenden, wie das die Regierung tut. Denn, meine Damen und Herren, eine Opposition ohne Alternativen ist keine Alternative zur Regierung.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst mit einigen der Ausführungen des Herrn Kollegen Carstens befassen, der ja wohl so will ich es einschätzen — wie
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11038 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Wehnerjeder Redner der CDU/CSU auch hier unter Beweis zu stellen hatte, daß er und wie er die Krisenherbeiführungs- und -heraufbeschwörungs-Strategie des Herrn Strauß durch Bemäntelung verteidigt. Das war ja alles, was heute hier geleistet worden ist.
So haben Sie sich streng, gestreng gegen meinen Kollegen Ehrenberg mit einem Wortaufwand gewandt, den dessen Darstellungen nicht nur nicht verdienen, sondern wo wir Sie auch scharf zurückweisen müssen. Sie können nicht jeden von uns hier einfach in einer Weise beuteln, als sei das Ihr Vorrecht.
— Jawohl! Ich stelle mich vor andere. Das tun nicht alle, wenn es einen anderen angeht. Aber das gehört bei mir zur Solidarität, und da können Sie blöken, wie Sie wollen.
Der Herr Carstens hat sich darin versucht, zu erläutern, daß und welche Gesetze — er ist dabei im Ansatz steckengeblieben — die Zustimmung der CDU/CSU gefunden hätten. Das ist doch gar kein Streitpunkt. Das verwehrt Ihnen ja niemand, daß Sie schließlich Gesetzen zustimmen, auch wenn Sie sie, wie es bei manchen der Fall gewesen ist, jahrelang nicht nur nicht gewollt, sondern verzögert haben. Es ist Ihr gutes Recht, am Schluß mitzustimmen, weil Sie sich davon einen Vorteil versprechen. Aber, bitte, dann bleiben Sie auch bei dem, was Sie tatsächlich getan haben!Hier wollen Sie sich plötzlich die Rentenreform nicht nur an den Hut stecken — an den alten Hut des Herrn Strauß paßte das vielleicht —; nein, Sie wollen die Rentenreform sozusagen initiiert haben. Haben Sie die Sache mit dem „Baby-Jahr" ganz vergessen? Wir haben sie nicht vergessen, und es sollte mir leid tun, wenn Frauen im sogenannten Jahr der Frau vergessen hätten, daß die CDU/CSU im Jahre 1972 das, was damals salopp das „Baby-Jahr" genannt worden ist, aus der Rentenreform herausgestimmt hat.
So ist es gewesen. Heute reden Sie von Familie undvon Kindern und von Partnerschaftsrente. Damalshaben Sie diesen konkreten Punkt niedergestimmt.
Genauso haben Sie damals den Grundbetrag aus dem Text der Ausschußfassung herausgebracht.
Der Grundbetrag wäre die Chance gewesen, einigenMillionen Frauen, die älter geworden sind unddenen es nicht mehr möglich ist, die entsprechendenVoraussetzungen für eine einigermaßen ordentliche Altersrente zu erfüllen. Frauen, die in jüngeren Jahren und häufig bis über die Mitte ihres Lebens hinweg in anderen sozialen Verhältnissen gelebt haben, die aber durch Krieg, durch Vertreibung und durch anderes zu Erwerbsarbeit ohne Berufsausbildung gezwungen worden sind, haben Sie kaltblütig den Grundbetrag gestrichen. Der Grundbetrag mußte heraus, und er kam auch heraus. Das werden wir Ihnen nie vergessen.
Auch wenn Sie mit Zirkus herumgehen, und Ihre ansprechenden Damen — Sie haben ansprechende Damen, das gebe ich zu — sagen: Aber jetzt kommen wir mit der Partnerschaftsrente, werden wir sehr mißtrauisch gegenüber Ihrer Potenz auf diesem Gebiet sein.
Nun hat der Herr Carstens auch einiges über die Sorgen in bezug auf die Weiterentwicklung der europäischen Einigung gesagt. Ich muß offen sagen, ohne mich hierüber zu verbreiten: Wo befänden sich denn die Vorschläge, auf die er sich z. B. beruft und die auch wir nicht nur fördern, sondern die ohne uns überhaupt nicht auf die Tagesordnung gekommen wären, etwa der Vorschlag, in nicht zu ferner Zeit die Direktwahl des Europäischen Parlaments, das jetzt eine Art Ersatzdasein führt, zu ermöglichen? Hier müssen Sie sich anderswo umsehen. Wir sind nicht für Symbole; wir sind für wirkliche Fähigkeiten, die einem solchen Parlament zugeschrieben werden müssen. Darum ist es gegangen.
Jedenfalls wäre das ohne die konstruktiven Bemühungen der sozialliberalen Regierungskoalition alles nicht möglich.Dann haben Sie dazu einen netten, frommen Wunsch; Sie wollen zeigen: irgendwo sind Sie ganz unentbehrlich für diese unsere Regierung und unsere Parlamentskoalition. Das findet sich dort, wo der Herr Carstens ein wenig stockend über die Verteidigungsfragen und die Stellung zum Verteidigungsminister geredet hat. Das ist ein Wunschdenken. Für uns ist die Verteidigungspolitik Bestandteil der Bündnispolitik,
und innerhalb dieser bemühen wir uns, das politische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland für das Zustandebringen von Truppenverminderung und Rüstungsbegrenzung und für Schritte hin zur Abrüstung einzusetzen. Das wissen wir, das wissen Sie, und das haben wir nie geleugnet. Wir brauchen keine Belehrungen darüber, wie wichtig die Bündnispolitik ist. Das haben wir Ihnen auch längst klargemacht.
Dann ist Herr Carstens auf das Lieblingsthema zu sprechen gekommen: auf die wirtschaftliche Lage
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11039
Wehnerund das, was man daraus machen kann, wenn man sich nach der Gebrauchsanweisung des Herrn Strauß richtet. Sie malten wieder Ihr Schreckgemälde von einem Deutschland, das in Ihren Wunschvorstellungen bestehen mag, von einem Deutschland, von dem Sie meinen, jetzt liege es sozusagen krisengeschüttelt und reif zur Übernahme durch die Damen und Herren der Unionsparteien auf der Fläche.
Sie schildern die Situation so, als ob es sich nur um eine Rezession im nationalen Ausmaß und aus nationalen Gründen handle. Haben Sie sich jemals mit der diesjährigen Botschaft an die Nation des amerikanischen Präsidenten befaßt, in der er zweimal eindringlich gesagt hat, es dürfe und werde nicht wieder so kommen wie in den 30er Jahren? Die Krise von damals haben wir in Deutschland mit Massenarbeitslosigkeit und mit zwölf Jahren NS-Diktatur einschließlich Krieg bezahlt. Der amerikanische Präsident hat Ihnen aber eine Lehre gegeben — und dies als Präsident eines sehr großen westlichen Staates und unseres wichtigsten Verbündeten. Er sagte:In keiner Zeit unserer Geschichte in Friedenszeiten ist die Lage der Nation stärker von der Lage der Welt abhängig gewesen. Die wirtschaftliche Notlage ist weltweit. Wir werden sie im eigenen Lande nicht beheben können, wenn wir nicht helfen, die tiefgreifenden wirtschaftlichen Störungen in anderen Ländern zu beseitigen.Das ist eine andere Sprache als die, mit der Sie hier wirkungsvoll mit so einer Art von Florettchen — oder was Sie dafür halten — Ihre Thesen verfechten zu können glauben.
Uns möchte der Aschermittwochsredner aus der Nibelungenhalle — die Rede in der Nibelungenhalle ist ja noch die mildere Form; nachdem man die Sonthofener Form kennt, weiß man ja, welche verschiedenen Auflagen dieses Herrn es gibt — glauben machen, man könnte das alles sozusagen national verantwortbar machen. Weil Ihnen das, was ist, nicht reicht, geht die CDU herum und verbreitet z. B. solche „100 000-DM-Scheine". Ein solcher Propagandaschein trägt zwar offiziell das Impressum: Herausgeber: Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands in Hessen; aber dies ist die Frucht Ihrer Krisenhetze. Weil die Krise in der Tat nicht groß genug ist, machen Sie solche schauerliche Propaganda.
Wer die wirkliche Inflation, die große Inflation erlebt hat, wer damals erlebt hat, daß ein 4-Pfund-Brot 2 Billionen Mark gekostet hat,
der muß über diesen Mißbrauch der Gefühle von Menschen nicht nur entsetzt, sondern auch empört sein.
Und dann war da noch jenes andere Kapitel, in dem Herr Carstens das angesprochen hat, was er Ostpolitik nennt. Schade, darüber müßte man bei einer anderen Gelegenheit einmal ernsthafter reden, als es im Rahmen von Aktuellen Stunden oder so möglich zu sein scheint. Selbst wenn von Ihrer Seite und auch von Ihrem Fraktionsvorsitzenden noch so oft beteuert wird — wie es heute auch geschehen ist —, Sie seien nicht gegen eine Politik der Entspannung im Ost-West-Bereich und -Verhältnis: In Wirklichkeit weiden Sie sich an jeder Schwierigkeit, und manche von diesen Schwierigkeiten erzeugen Sie sogar selbst mit! Das ist eben das Schwierige.
Das ist das, was dieses Verhältnis so schwierig macht.
Und da komme ich dann zu dem Lieblingskapitel — immer noch — innere Sicherheit, sowohl in den Ausführungen des Herrn Carstens als auch von Ihnen selbst. Da hat nun der Herr Kollege Carstens eine Liste mit Behauptungen über Personen vorgetragen, die ihm in diesem Hause nicht widersprechen können. Deswegen verwahren wir uns schärfstens gegen diese Art von Denunziation von Personen, deren Ausführungen gefälscht werden, damit Sie sie hier sozusagen geistig abrichten können.
Hier wird doch versucht, meine Damen und Herren, im Geiste mitzumarschieren. — Marschiert im Geiste mit Herrn Franz Josef Strauß mit!
— Er hat ja nicht nur Sonthofen. Ich hoffe, er wird nicht auch noch die Chuzpe finden und sagen,
daß das nicht autorisiert sei, was in der Ausgabe der berühmten Illustrierten „Quick" vom 13. März gestanden hat — wörtlich, wörtlich Herr Strauß:In der SPD sympathisieren weite Teile mit den Thesen und Methoden der Anarchisten.Punkt.
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11040 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Wehner— Ja, ja, lesen Sie einmal. Sie werden das noch bereuen, diese Hetze. -
Es heißt da weiter:
Die Stunde der Abrechnung mit der Regierung ist jetzt da.Punkt.
— Ja, ja, er hat sich verrechnet, auch Strauß kann sich verrechnen. — Jetzt kommt der dritte Satz:Sie hat Angst, wegen des Falles Lorenz mit Baader-Meinhof in Zusammenhang gebracht zu werden.
Das ist der schurkige dritte Satz des Herrn Franz Josef Strauß in „Quick" vom 13. dieses Monats, meine Damen und Herren. Das war an dem Tage, an dem wir hier debattierten. Und dann kommt der nächste Satz:Dabei ist das letztere für die Entführung von Lorenz ursächlich.
- Ja, ja. — Wer die Fähigkeit hat, diese unglaublichen Verdächtigungen, die schlimmer sind als im Streit ausgestoßene, wirklich zu verstehen, muß sich vor so viel bewußter Krisenprovokationsmentalität schütteln.
Und da reicht es natürlich nicht. Das ist eine verächtliche Bemühung, die wir schärfstens zurückweisen.
— Natürlich! Ich verteidige die demokratischen Rechte einer großen alten Partei gegen diese unglaubliche, verleumderische Verhetzung.
Was die Sicherheitspolitik angeht, so bringe ich Ihnen, meine Damen und Herren, in Erinnerung, daß wir hier vor einer Woche eine Drucksache — die Drucksache 7/3357 — eingebracht haben, der Sie kaum Beachtung geschenkt haben. Ich hoffe, es geht diesem Entschließungsantrag der beiden Fraktionen der Koalition in den Ausschüssen nicht ähnlich wie manchem anderen Entschließungsantrag. Da steckt eine Menge drin, und. da sollten wir auch miteinander um das ringen, was zweckmäßigerweise zur Erhöhung der inneren Sicherheit getan werden kann. Denn niemand — weder Sie noch wir — kann behaupten, es sei alles so, daß gar nichts passieren kann.
— Na, gut, das sage ich Ihnen ja. — Also ist es ein Grund, darüber zu sprechen, notfalls auch zu streiten. Unsere Auffassung,
die darin zum Ausdruck kommt, ist, daß zur Abwehr des Terrorismus neben der vollen Anwendung der staatlichen Machtmittel des Bundes und der Länder auch die geistige Auseinandersetzung mit allen Formen des Extremismus und der Gewalt gehört — das ist unser Standpunkt —, genauso wie weder die Anwendung von Gewalt noch die Rechtfertigung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele hingenommen werden darf.
Aber Sie haben eine Mehrpolarität in Ihrer sehr multilateralen Fraktion und Partei; unter diesem Zwang stehen Sie.
Da hat am 26. Februar — es ist gar nicht so lange her — einer, der früher hier saß, der lange Jahre Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU gewesen ist, aber nicht mehr seit 1973 — was sein Recht und auch Ihr gutes Recht ist, das geändert zu haben —, in Mülheim an der Ruhr gesagt:Auch in der Rezession dürfen wir nicht vergessen: Die Bundesrepublik Deutschland steht in manchen sozialen und wirtschaftlichen Fragen besser da als andere, weil es uns gelungen ist, hierzulande eine herausragende Sozialqualität des Staates und der Gesellschaft zu schaffen. Unsere bessere Lage wird nur bleiben, wenn wir weiter gesellschaftspolitisch initiativ sind.— Nun gut, das ist unsere Meinung, und da entsteht die Frage, wer wirklich gesellschaftspolitisch initiativ und auch durchsetzungsfähig ist. Wenn Sie da mit uns konkurrieren wollen, bitte sehr, das wäre eine gute Sache. Nur paßt dies nicht mit dem zusammen, was hier heute von anderen schon wiederholt aus dem Munde des Herrn Strauß zitiert worden ist. Das will ich nicht noch einmal bringen; das ist ja schon genügend.
Wollen Sie es gerne hören?
— Wunderbar, dann bringe ich es auch noch einmal; ich wüßte nicht, was ich lieber täte, als Ihnen einen solchen Wunsch vom Munde abzulesen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11041
WehnerErstens einmal: „In der politischen Großwetterlage, in der wirtschaftlichen Großwetterlage dürfen wir jetzt nicht aus der Deckung herausgehen."
— Das wissen Sie doch, Herr Strauß. Die Fortsetzung — das, was Sie dann dazu noch gesagt haben — kennen Sie. — Jetzt also nicht aus der Deckung heraus — bloß nicht! —,
und dann:Ich will überhaupt nicht im kleinen sagen, was wir uns vorstellen mit der Krankenhausfinanzierung, mit der Berufsausbildung, mit der Sanierung der öffentlich-rechtlichen Krankenkassen usw. Wir müssen bei unserer Auseinandersetzung, aber auch in der Analyse der Lage die psychologischen Faktoren vor die materiellen Faktoren setzen.
— Ja, sehen Sie, wunderbar, wie Sie das alles verifizieren!Denn die Krise muß so groß werden, daß das, was wir für die Sanierung für notwendig halten, dann auf einem psychologisch besseren Boden beginnen kann als noch heute. Wir müssen schlechthin von dem— und dann kommt dieses köstliche Wort —Axiom ausgehen: die können Wirtschaft, Gesellschaft und Staat nicht mehr in Ordnung bringen.Das könnte ich hier noch eine Viertelstunde fortsetzen, aber das ginge auf Kosten meiner Redezeit, meine sehr verehrten Herren Kollegen von der CDU/CSU.
— O nein, warum mit solchen Abkürzungen reden?Das ist eben der Strauß. Das braucht man gar nicht.
Die Bemerkungen, die Herr Kollege Carstens im Namen der CDU/CSU-Fraktion über unangemessene Hektik und ähnliches bei der Gesetzgebung gemacht hat, enthalten manches, was nicht nur bedenkenswert wäre. Dazu nur eines, weil dort z. B. die Steuerreform nun als „sogenannte" bezeichnet wird. Das ist wie früher mit der DDR: in Anführungsstrichen. Vorher hatten Sie noch Flugblätter,
da stand — um mit Herrn Stoltenberg zu reden — in den ersten Erklärungen, das sei doch eine ganz erhebliche Verbesserung. Jetzt nennen Sie sie nur noch „sogenannte". Und da wird dann gesagt, was die CDU alles schon im Sommer 1973 vorweg hätte haben wollen usw.
Ich muß Ihnen nur folgendes sagen: Wenn wir dem Drängen der vielstimmigen CDU/CSU nicht widerstanden hätten,
dann wäre das Gegenteil von Stabilität, das Gegenteil der trotz mancher Unzulänglichkeiten vorhandenen Ansätze zu sozial gerechteren Steuersätzen eingetreten. Das ist es, was wir jedenfalls an Terrain gehalten haben.
Und dann kommt ein Versuch, an den werde ich noch, falls ich es erlebe, in zehn Jahren denken, weil der so köstlich war. Es ging also darum, was die deutschen Sozialisten nach dem Urteil des Herrn— und hier muß ich sagen: Professor — Carstens an Unfähigkeit zur Verwirklichung von Reformen haben, die den Menschen nützen.
Das war neckisch, muß ich sagen. Das ist profunde Unkenntnis sowohl der Grundgedanken der Sozialdemokraten, als auch der gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten, was Sie hier zusammengereimt haben und was man im Protokoll nachlesen kann; ich brauche es nicht zu wiederholen. Herr Carstens— der jetzt nicht hier sein kann, er hat eine andere Verpflichtung und hat mich das vorher wissen lassen; das wird mich nicht hindern können, und er hat das sicher auch gewußt, einiges zur Sache zu sagen —, Sie sind noch oder vielleicht Sie sind wieder das wäre ein Phänomen, um mit Herrn Kiesinger zu sprechen; warum denn nicht auch das? — so, wie Kurt Schumacher Sie 1952, bevor er die Augen für immer schloß, gezeichnet hat, und das lese ich Ihnen jetzt vor.
— Ich hoffe, daß mir jedenfalls diese Frau Präsidentin die Genehmigung gibt.
Da heißt es:Die schwerste Versündigung am deutschen Volk ist nicht von der alliierten Seite selbst, sondern von den Parteien der heutigen Regierung— der damaligen also —erfolgt, als sie die Formel aufstellten „Christentum oder Marxismus", nach der das eine das andere ausschließen soll. Das ist die Zerreißung auch des Volkes der Bundesrepublik in zwei Teile. Es ist unmöglich, daß der eine Teil bestimmt, wer Christ und was unter Marxismus zu verstehen ist.Ich habe damals erlebt, wie Schumacher das als sozusagen Letztes aufschrieb. Das war ein schreckliches Erlebnis, und das hat dem Mann das Herz gebrochen. Sie zitieren ihn heute gelegentlich; das zitieren Sie nie.
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11042 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
WehnerAber ich setze noch ein wenig fort:Die Grundlage des Antimarxismus ist völlige Unwissenheit und Unkenntnis der Materie. Die sogenannten Antimarxisten von heute übernehmen die Propagandaformeln, mit denen die Hitlerdiktatur zur Macht gekommen ist. Sie haben ihnen geistig nichts Neues hinzugefügt. Sie appellieren dementsprechend auch an die alten Instinkte der zwölf Jahre und erhoffen sich hieraus, eine Antipathie gegen die Sozialdemokratie neu zu erwecken.Und dann sagt er seine eigene Auffassung:Der Marxismus ist eine Methode der soziologischen, politischen Erkenntnis und kein Gebäude von dogmatischen Lehrsätzen.
— Seine persönliche Wertung, die ich nicht völlig teile. Ich rede ja hier über das, was Sie mit Marxismus anprangern wollen. Da fährt er nämlich fort:Jetzt herseht die Methode, alles als kommunistisch hinstellen zu wollen, was die Sozialdemokratie an selbständiger und entschiedener Vertretung der Interessen des arbeitenden Volkes zeigt. Das ist dieselbe Methode, mit der Hitler und Goebbels jeden Versuch, sich gegen ihre Diktatur aufzubäumen, als Kommunismus abzutun versuchten.Und nun erbitte ich einen Ordnungsruf à conto dieses Zitats von Schumacher.
Sie sinnieren immer noch über das Verhältnis, das in unserem Denken und in unserem politischen Handeln Staat und Gesellschaft haben. Ich habe das vor einer Woche hier versucht; da waren Sie schon ausgezogen. Ich will Sie jetzt nicht damit peinigen.
Im Rahmen unseres Grundgesetzes, meine Damen und Herren, mit Hilfe der gleichen staatsbürgerlichen Rechte, die alle bei uns haben, gleiche soziale Chancen zu schaffen und zu gewährleisten, das ist unsere Auffassung von der Transformation der gleichen staatsbürgerlichen Rechte in gleiche soziale Chancen für die, die mit uns dafür kämpfen. Das ist eine im Rahmen unseres Grundgesetzes erlaubte Position. Dies ist die sozialdemokratische Position, oder, wenn Sie wollen, die der demokratischen Sozialisten in Deutschland.Und weil Sie sich hier so gegen Demokratisierung verwahren: In diesem Raum, meine Damen und Herren, hat an dem Tage, an dem 25 Jahre Grundgesetz begangen wurden, der Bundespräsident den denkwürdigen Satz gesagt: „Das Grundgesetz hat uns auf den Weg der Demokratisierung gebracht." Das ist auch mein Verständnis dafür. Sie müssen überlegen, ob Sie dann nicht bei solcher feierlichen Stunde gleich lauthals brüllen;
denn das darf doch nicht sein, daß ein Bundespräsident so etwas sagt, was Sie dann ein Jahr darauf in der Weise, wie Sie es nun tun, disqualifizieren.
— Das ist auch gut, dann kommt man wenigstens durch.Was dem Staate vorgegeben ist, das finden Sie in unserem Godesberger Programm. Wir sind nämlich nicht der Meinung, daß der Staat über alles zu herrschen und über alles zu befinden hat. Wir, die wir für die Demokratie streiten, tun das, weil sie die allgemeine Staats- und Lebensordnung werden muß, weil sie allein Ausdruck der Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Eigenverantwortung ist. Wir haben gesagt, daß das Leben des Menschen, seine Würde und sein Gewissen dem Staate vorgegeben sind, und haben dann erklärt, wozu der Staat Vorbedingungen schaffen muß. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Das können Sie nicht leugnen. Wenn Sie der Meinung sind, es wäre anders —
— Es kann sein, daß wir das irgendwo „abgeschrieben" haben, nur waren das dann sehr ehrwürdige Pandekten, aus denen wir das abgeschrieben haben.
Es waren ja nicht gerade die Zehn Gebote, aber es streitet nicht gegen die Zehn Gebote und gegen ähnliche ehrwürdige Schriften.
-- Wenn jemand solche Zwischenrufe macht, denke ich daran, daß heute in der Abstimmungsurne einer der ungültigen Zettel die Bezeichnung trug: „UdSSR-Agent Wehner". Es gibt also mindestens einen in diesem Bundestag, der glaubte, sich diese Schamlosigkeit zumindest in der Wahlkabine leisten zu können.
- Setzen Sie einen Untersuchungsausschuß ein.Das rate ich Ihnen, dann haben Sie wieder einmal einen Untersuchungsausschuß.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11043
WehnerMeine Damen und Herren, der Herr Strauß hat mich heute morgen unvollständig — um es sehr höflich zu sagen — zitiert, und zwar in bezug auf die Opposition in ihrer Rolle als Alternative. Ich habe im Plenum des Bundestages am 2. Dezember 1965, nachzulesen im Protokoll der 10. Sitzung des damaligen Bundestages, gesagt:Nun, meine Damen und Herren, zu Ihrem Ruf nach der Alternative zur Regierungspolitik. Die Aufgabe der Opposition ist es, hier die Forderungen und Vorschläge zu vertreten, von denen Sie, die Opposition, überzeugt ist, daß sie dem Wohle des Volkes dienen oder Schaden von ihm abwenden können ...Das ist unsere Aufgabe. Die Regierung ebensowie die parlamentarische Opposition stehen hierin der Verantwortung gegenüber dem Ganzen.Und dann:Je deutlicher wir — ich meine jetzt die parlamentarische Opposition — es machen, daß unsere Forderungen und Vorschläge den Notwendigkeiten entsprechen, wie wir sie sehen — die sind der Kritik unterworfen, unsere Ansichten und Einsichten wie auch die Ihren —, um so mehr werden wir damit — das ist wohl klar — die Regierung bedrängen. Es fällt mir schwer, aber ich sage es heute noch einmal. Das ist unser gemeinsamer Staat, und niemand drängt uns wieder an den Rand dieses Staates oder gar aus diesem Staat hinaus .. Niemand kann aber auch sozusagen für uns reden. Das tun wir selbst; denn wir sind die— ich habe die damalige Zahl genannt —von 13 Millionen Deutschen gewählten Volksvertreter und sind verantwortlich — wie Sie auch — dem ganzen Volk gegenüber, dem Grundgesetz gegenüber.Das wäre also das vollständige Zitat gewesen, sehr verehrter Herr Kollege Strauß, und das ist sicher eine andere Auffassung vom demokratischen Miteinander und Gegeneinander, als es die ist, die in Ihren Sonthofener Thesen und auch sonst, z. B. in „Quick" vom 13., zu finden ist.Ich danke Ihnen sehr herzlich, allen zusammen, für Ihre Geduld.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schröder .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An sich sollte dieses die Stunde sein, in der die allgemeine politische Aussprache langsam in eine Debatte über den Einzelplan 04 überführt wird, der offiziell seit heute morgen auf der Tagesordnung steht.
Aber Sie werden Verständnis dafür haben,
daß ich einiges Weniges von dem, was vorweg geäußert worden ist, nicht unwidersprochen lassen darf; denn der Herr Kollege Wehner hat in der ihm eigenen Art wieder einmal nicht nur unterschwellig, sondern in einer sehr offenen Art und Weise Unterstellungen, um nicht zu sagen: Verleumdungen ausgespritzt, die ich als jüngeres Mitglied dieses Hauses jedenfalls nicht bereit bin unwidersprochen hinzunehmen.
Herr Wehner, als Ihre Vokabel, diese böse Vokabel von der Krisenhetze und dem Krisenherbeireden, fiel, da fühlte ich mich erinnert an eine Rede, die Sie vor einigen Jahren im Sächsischen Landtag einmal gehalten haben und aus der ich mit Genehmigung der Frau Präsidentin nur einen einzigen Satz zitieren darf.
Sie haben damals erklärt:
Und das Geschrei der Bürgerlichen in Deutschland, unterstützt durch die sozialdemokratische Presse, beweist die schlotternde Todesangst dieser bankrotten bürgerlichen Gesellschaft.
Sie haben noch ein zweites böses Wort benutzt, auch wenn Sie Kurt Schumacher dabei zitiert haben, den ich sehr verehre und schätze:
von den angeblichen Instinkten, die wir in Anlehnung an den Nationalsozialismus mobilisieren wollten. Herr Wehner, nehmen Sie zur Kenntnis, daß in dieser Opposition eine große Anzahl von jüngeren Kollegen sitzt, die noch nicht einmal vom physischen Alter her das Dritte Reich miterlebt haben, und wir verbitten uns mit allen uns zur Verfügung stehenden politischen und geistigen Kräften, daß Sie uns auch nur im entferntesten in eine Assoziation zum Dritten Reich und zum Nationalsozialismus stellen.
Die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union haben nicht das Problem — wie Herr Bangemann es so schön formuliert hat — der Verwischung der Grenzen nach Rechts, der Verwischung der Grenzen zum Nationalsozialismus.
Aber Sie sind es, die das Problem der Verwischung zum Linksextremismus und zum Linksradikalismus haben, der nicht mehr auf dem Boden dieser verfassungsmäßigen Ordnung steht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Oetting?
Nein, Frau Präsidentin.
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11044 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Schröder
Wenn hier verschiedentlich davon gesprochen worden ist, wir, der Kollege Strauß und andere, würden die Grenzen von kritischen Demokraten einerseits und Terroristen und Extremisten andererseits absichtlich verwischen, dann frage ich mich: Was bedeutet denn eigentlich beispielsweise jener Beschluß des Hamburgischen FDP-Parteitages — lieber Herr Kollege Kirst, ich weiß, daß Sie persönlich dagegen gekämpft haben —, in dem die Kommunisten als kritische Demokraten tituliert worden sind?
Was bedeutet denn jener Beschluß auf dem JusoKongreß in Wiesbaden, in dem es wörtlich heißt:Wenn zur Durchsetzung der Reform eben keine Mehrheiten in den Parlamenten vorhanden sind, dann müssen auch andere außerparlamentarische Wege beschritten werden, um diese Reformen durchzusetzen.Und was bedeutet denn jene Stellungnahme, von der sich zwar einige Herren distanziert haben, der Judos zu dem Vorgehen der Polizei in Berlin? Und was bedeutet denn jene Stellungnahme von Herrn Brandt mit der angeblich kalkulierten Hysterie einerseits und jener kleinen Gruppe von irregeleiteten Nihilisten auf der anderen Seite? Das ist doch konkret Verwischung der Grenzen zwischen kritischen Demokraten einerseits und Extremismus andererseits.
Noch ein Zweites zu der angeblichen Krisenhetze. Meine Damen und Herren, wer hat denn eigentlich die jetzige wirtschaftliche Situation herbeigeführt? Wollen Sie sich denn im Ernst hinstellen und 6,5 % Inflation, 5,4 % Arbeitslosigkeit, 4,8 °/o Kurzarbeiter — d. h. daß 10 % in unserem Lande gegenwärtig keiner vollen Beschäftigung nachgehen können —, wollen Sie sich hinstellen, ein Wachstum von nur 0,1 %, wollen Sie sich hinstellen, 4 000 Insolvenzen und Betriebsstillegungen, wollen Sie sich hinstellen, eine Nettokreditaufnahme aller öffentlichen Hände von 50 bis 60 Milliarden DM etwa als wirtschaftlich und finanziell normal zu bezeichnen?
Meine Damen und Herren, das ist doch mindestens eine tiefe Rezession, wenn nicht eine ernsthafte wirtschaftliche Krise, in der wir uns befinden.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang, um einige der weiteren Umdrehungen zurechtzurücken, noch einen kurzen Rückgriff auf das, was der von mir sehr geschätzte Kollege Kirst heute morgen ausgeführt hat. Meine Damen und Herren, ich begreife so langsam, warum Sie einen gewissen Komplex haben und ständig davon reden, daß wir sagen müßten, was wir eigentlich wollen. Das ist offensichtlich der Komplex, das ist das Trauma, das Sie haben, zu befürchten, ab nächstes Jahr nicht mehr die Regierungsverantwortung in diesem Hause zu tragen. Nur das ist doch der Hintergrund.Der Kollege Kirst hat den Versuch gemacht — und andere auch —, den Spieß umzudrehen, sozusagen uns die Verantwortung zuzuschieben, als ob wir diejenigen wären, die für diese wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten, von denen ich hier gesprochen habe, die Verantwortung haben; er hat auch heute morgen den Versuch gemacht, uns in die Mitverantwortung zu ziehen. Ich darf noch einmal auf die konkreten Punkte — und sie führen uns dann ja zu dem eigentlichen Gegenstand, nämlich den Haushalt — zurückkommen. Sie haben davon gesprochen, daß die schlechte Entwicklung der Steuereinnahmen und die damit verbundene hohe Nettokreditaufnahme vor allem die Folge der Steuerreform sei. Sie haben gesagt, hier stünden wir in der vollen Mitverantwortung.Meine Damen und Herren, niemand von uns will sich aus der Mitverantwortung für die sogenannte Steuerreform herausmogeln. Aber, Herr Kollege Kirst, ich habe heute morgen schon einmal in einer Zwischenfrage darauf aufmerksam gemacht, daß das, was an Auswirkungen aus der sogenannten Steuerreform im Haushaltsplan seinen Niederschlag gefunden hat, bereits im Entwurf der Regierung, der uns im September vergangenen Jahres vorgelegt wurde, berücksichtigt war. Dennoch, trotz dieser Auswirkungen der sogenannten Steuerreform, sah der damalige Regierungsentwurf einen Anstieg der Steuereinnahmen des Bundes von 119 auf 135 Milliarden DM vor. Wenn in der Zwischenzeit, seit der Vorlage des Regierungsentwurfs bis zum heutigen Tage, diese Steuerschätzungen allein für den Bund um 13 Milliarden DM reduziert werden mußten, dann ist das ausschließlich die Folge der verfehlten wirtschafts- und konjunkturpolitischen Maßnahmen dieser Regierung — und von nichts anderem.
Ein Zweites in diesem Zusammenhang. Sie haben gemeint, die hohe Nettoverschuldung könne man ja auch damit rechtfertigen, daß sie zur Abdeckung staatlicher Aufgaben, investiver Leistungen, gebraucht würde. Sie haben verschwiegen, lieber Herr Kollege Kirst, daß trotz dieses massiven Anstiegs der Nettokreditaufnahme
die Investitionsquote am Bundeshaushalt in den letzten Jahren sogenannter sozialliberaler Regierung von Jahr zu Jahr zurückgegangen ist, so daß diese Kredit-Mittel für konsumtive Aufgaben verwandt werden müssen.Lassen Sie mich, bevor ich auf den Einzelplan 04 zu sprechen komme, noch ein allerletztes Wort an den Kollegen Schmidt aus Wattenscheid richten. Herr Kollege Schmidt, Sie haben, wenn ich das heute nachmittag richtig notiert habe, hier geäußert: Wir — und damit waren ja wohl die Regierung und die Koalition gemeint — haben die Inflation besiegt. Meine Damen und Herren, ich habe ja ein gewisses Verständnis dafür, wenn sich die regierungsoffizielle Propaganda hinstellt und landauf, landab verkündet, mit der Inflation sei das gar nicht so schlimm. Aber wenn ein verantwortlicher Gewerkschaftsrepräsentant und Gewerkschaftsführer vor dem Forum dieses Hauses erklärt: wir haben die Inflation besiegt!, und damit die Gefahren und die Probleme der Inflation in diesem Ausmaß bagatellisiert und verharmlost, dann habe ich dafür nicht das geringste Verständnis.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11045
Schröder
Die Auswirkungen der Inflation bestehen ja nicht nur in der Vernichtung von Geld, Sach- und Vermögenswerten. Die Bundesbank hat hier einmal Zahlen vorgelegt, an die Sie sicher nicht mehr so gern erinnert werden möchten. Allein im Jahre 1973 — das ist die letzte mir erinnerliche Zahl — betrug die Substanzvernichtung auf den Spar- und Wertpapierkonten der Bürger unseres Landes 40 Milliarden DM. Das ist jedoch nur die eine Seite.Die andere Seite ist, daß die Inflation immer dann, wenn man sie nicht bekämpft — und das hat diese Regierung jahrelang nicht getan —, zwangsläufig auch zur Arbeitslosigkeit führen muß. Das ist genau die Situation, in der wir uns befinden. Deshalb kann man es gar nicht oft genug sagen: es hat in den ganzen zurückliegenden Jahren in den wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen in diesem Hause und draußen im Lande kein törichteres Argument gegeben, ich hätte beinahe gesagt: kein dümmeres Argument gegeben als jenes berühmt-berüchtigte von den 5 °/o Inflation, die ihm lieber seien als 5 °/o Arbeitslosigkeit. Heute haben wir beides, und sogar noch auf einem höheren Niveau.
Nun zum Einzelplan 04! Ich beginne mit der Feststellung, daß ich auf das äußerste darüber verwundert bin, daß dieser so reichlich bewunderte „Macher und Manager", der jetzt an der Spitze des Bundeskanzleramtes steht, diese Reformruine bzw. diesen Augiasstall — jetzt habe ich nicht etwa Franz Josef Strauß zitiert, sondern den der ÖTV angehörenden Personalratsvorsitzenden des Bundeskanzleramtes in einem Artikel des DGB-Organs „Welt der Arbeit" — bisher ohne irgendeine Veränderung des desolaten Zustandes weiterführt, in dem die Herren Brandt und Ehmke das Kanzleramt hinterlassen haben. Manchmal frage ich mich in dem Zusammenhang ohnehin, wieso dieser Bundeskanzler eigentlich die in der freien Wirtschaft angesehene Vokabel eines „Machers und Managers" verdient. Ich kann an Machertum bisher nur feststellen, daß er in der Tat der hauptverantwortliche Macher für die Inflation, für die Arbeitslosigkeit und für die beinahe totale Staatsverschuldung ist.
Die Grundlage der Struktur und der Arbeitsweise des Bundeskanzleramtes ist immer noch Ehmkes Konzept vom 8. März 1970 über „Organisation, Personalstruktur und Unterbringung des Bundeskanzleramtes", das nicht nur jene hinlänglich bekannte Personalaufblähung zur Folge hatte — ich darf Sie daran erinnern: im Jahre 1966 hatte das Bundeskanzleramt noch 219 Mitarbeiter, 1970 nach dem „Machtwechsel" erfolgte fast eine Verdoppelung auf 395 und heute sind es 431 Stellen —, sondern vor allem die Funktion des Bundeskanzleramtes von einem Generalsekretariat Globkescher Prägung, d. h, einer echten Führungs- und Koordinierungsstelle für den Kanzler und die Bundesregierung, zu einer Mini-Bundesverwaltung mit allumfassender Planungs- und Kontrollkompetenz gegenüber allen anderen Bundesministerien machen wollte. DiesesKonzept, das der bereits von mir zitierte Personalratsvorsitzende in dem erwähnten „Welt der Arbeit"-Artikel als — ich zitiere wörtlich — „Vorstellung eines 14jährigen Bürolehrlings" — damit war Herr Ehmke gemeint —
„von einem vermeintlich effizienten Kanzleramt" titulierte, mußte scheitern, weil sich die natürliche und traditionelle Stellung des Bundeskanzleramtes im Gesamtgefüge der Exekutivspitze in dieser Weise gar nicht umfunktionieren läßt. Nach wie vor müssen nämlich alle Sachaufgaben — ob von großer oder geringer politischer Bedeutung — in den jeweiligen Ressorts vorbereitet werden. Nach wie vor wird der Geschäftsgang des Bundeskanzleramtes im wesentlichen von den federführenden Ressorts bestimmt. Auch die umfangreichen personellen Verstärkungen des Bundeskanzleramtes konnten und können daran nichts ändern. Im Gegenteil, durch Doppelarbeit wird die Entscheidungsschnelligkeit und Übersichtsfähigkeit des Kabinetts sogar beeinträchtigt. Hier ist der „Deutschen Zeitung — Christ und Welt" aus der letzten Woche zuzustimmen, als sie schrieb: „Was mit dem atemberaubenden Anstieg der Beamten anwuchs, war nicht die Gescheitheit der amtlichen Offenbarung, sondern die Summe der Fehlleistungen."
Von diesem Tatbestand leite ich meine Feststellung ab, die der Personalrat des Bundeskanzleramtes im übrigen voll teilt, daß dieses Amt eine ca. 40 °/oige Personalüberkapazität hat. Dieser Tatbestand der unnützen Personalaufblähung ist auch — wir haben das ausführlich dargelegt, wie Sie alle wissen — die eigentliche Ursache beispielsweise für den Fall Guillaume. Ohne Rücksicht auf fachliche Qualifikation wurden neben anderen linientreue Parteifunktionäre in das Kanzleramt eingeschleust in der irrigen Meinung, man könne damit die ganze übrige Bundesverwaltung in Bonn schon unter die richtige Kontrolle bringen und erfolgreiche Politik betreiben.
Die Folge war statt dessen, Herr Kollege Geiger, wie die schon zitierte „Deutsche Zeitung" an gleicher Stelle weiter schrieb, daß wegen der parteilichen Korsettstangen — ich zitiere —eine parteipolitisch gelenkte Personalpolitik dazu geführt hat, daß in den oberen Etagen der Ministerien — und damit auch des Bundeskanzleramtes — die korrigierende Distanz zu den auf Effekt bedachten Politikern seitens der Verwaltung verlorengegangen ist. Parteilichkeit überwuchert die Sachkunde.Meine Damen und Herren, wie stark die parteipolitischen Gesichtspunkte in der Personalpolitik des Bundeskanzleramtes eine Rolle spielen, zeigt beispielhaft die Besetzung der Abteilungsleiterstelle der Abteilung 3, die nämlich gemäß interner Koalitionsabsprache der FDP zusteht. Da die FDP aber offensichtlich keinen qualifizierten Mann aufbieten kann, ist diese für die Koordinierung der Wirt-
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11046 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Schröder
schafts- und Finanzpolitik zuständige Abteilungsleiterstelle seit Monaten unbesetzt.
Meine Damen und Herren, ich kann es aus diesem Grunde auch nur als Zumutung empfinden, wenn wir vor einigen Tagen in der Presse lesen mußten, daß der Haushaltsausschuß im Zusammenhang mit der Beauftragung von Staatssekretär Schüler als Koordinator der Sicherheitsdienste neun weitere Planstellen genehmigen soll — und eine Stellenanhebung von B 6 nach B 9 am Rande auch noch. Die für die Sicherheitsfragen zuständige Gruppe 07 im Kanzleramt umfaßt jetzt schon 17 Mitarbeiter. Diese Gruppe soll in Zukunft ja keine Parallelarbeit zum Bundesinnenministerium oder zum Bundesverteidigungsministerium bzw. zum BfV oder MAD leisten, auch keine Kontrolle über diese ausüben, geschweige denn Einzelanweisungen geben, sondern es sollen die in den Ressorts und in den Diensten geleistete Arbeit an der Spitze abgestimmt und koordiniert und diese Koordinierungsbeschlüsse dann in den jeweiligen Einrichtungen ausgeführt werden. Wenn dazu nun in der Tat noch einige wenige Arbeitskräfte erforderlich sein sollten, dann bitte durch Einsparung an anderer Stelle dieses völlig übersetzten Amtes! Zusätzliche Planstellen können wir jedenfalls unter gar keinen Umständen genehmigen.Und wieso man uns bei gleicher Tätigkeit eine Stellenanhebung von B 6 nach B 9 unterjubeln will, ist mir schlicht unerklärlich, es sei denn, man will damit diesem Mann,
der laut Guillaume-Bericht — ich zitiere jetzt wörtlich — „für die übereilte und ungerechtfertigte Einstellung des Herrn Guillaume mitverantwortlich ist", nachträglich eine Anerkennung für seine „hervorragenden" Tätigkeiten in puncto Sicherheitsüberprüfung aussprechen.
In diesem Zusammenhang auch noch ein Wort zu dem politischen Charakter dieser Stellen in der Sicherheitsgruppe 07. Wir gehen davon aus, daß es sich ebenso wie bei den Stellen in den Sicherheitsdiensten hier bis zu den A 16-Stellen um politische Beamte handelt. Im übrigen möchte ich bei dieser Gelegenheit allen Tendenzen, im Zusammenhang mit der Personalausweitung in der Sicherheitsgruppe etwa eine eigene Abteilung zusätzlich zu errichten, eine ganz klare Absage erteilen. Diesen Parkinson lassen wir uns bei der Gelegenheit nicht unterjubeln.Ein konkretes Feld für Personaleinsparung ist auch die sogenannte Planungsabteilung mit ihren 31 Stellen. Diese Planungsabteilung ist für die Opposition nicht nur deshalb ein ausgesprochenes Ärgernis, weil sie quasi als Außenstelle der „Baracke" vor allem eine ideologische Spielwiese für junge Politologen und Soziologen auf Staatskosten ist —
bis hin zu einer einseitigen Auswahl von Instituten, Gutachtern und Honorarberatern mit teilweise horrenden Vergütungen und bis hin zu einer Zweckentfremdung von Haushaltsmitteln wie etwa Reisekostenabrechnungen für die Teilnahme an Juso-Kongressen. Das allein macht diese Planungsabteilung für uns schon anrüchig genug. — Mit vielen dieser Feststellungen habe ich mich seinerzeit auch in völliger Übereinstimmung mit meinem Mitberichterstatter in der Mehrheitsfraktion befunden. Aber das eigentliche Problem liegt hier wesentlich tiefer.
Diese Planungsabteilung ist eine Fehlkonstruktion. Sie ist ein Fremdkörper im Bundeskanzleramt,
ja in der gesamten Bundesregierung, da sie nicht in die Programm-, Aufgaben- und Finanzplanung der Ressorts eingegliedert ist.
Politische Planung hat aber nur dann einen Sinn, wenn der Regierung und dem Bundeskanzler ein integriertes Ziel-, Maßnahmen- und Finanzierungsverfahren angeboten werden können. Die Ehmkesche Fehlleistung, meine Damen und Herren, die Schmidt und Schüler bisher nicht korrigiert haben, lag also in der Errichtung einer neben den operativen Abteilungen stehenden besonderen Planungsabteilung. Hier liegt die eigentliche Ursache für die von mir apostrophierte Reformruine Bundeskanzleramt. Denn politische Planung, auch langfristige Planung, ist natürlich für jede Regierung und jeden Kanzler erforderlich; nur, der Ehmkesche Denk- und Organisationsansatz, meine Damen und Herren, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt und ist gescheitert.An den politischen Folgen tragen Sie, meine Damen und Herren, jetzt. Denn hier liegt eine der Ursachen Ihrer geschichtlichen Fehlleistung, sogenannte Reformen ohne Rücksicht auf ihre Finanzierbarkeit in die Wege zu leiten und nun als Ruinen zu hinterlassen.Ich darf hier noch einmal den Personalratsvorsitzenden im Bundeskanzleramt, der gleichzeitig auch ÖTV-Mitglied ist, zitieren:Zu substantieller Planung mit materiellem Inhalt ist diese Planungsabteilung weder nach dem Konzept noch nach der Organisation in der Lage. Die Organisationseinheiten stehen mehr oder weniger zusammenhanglos nebeneinander und sind schon von ihrer Aufgabenstellung her zu einer politischen Planung im echten Sinne außerstande.Meine Damen und Herren, wahrlich eine vernichtende Kritik eines Intimkenners der Verhältnisse im Bundeskanzleramt! Daß das ein Macher und Manager nicht erkennt und ändert, ist mir rätselhaft. Im Grunde genommen wissen Sie doch unter dem Aspekt der Regierungsführung mit dieser Abteilung überhaupt nichts mehr anzufangen. Sie setzen ledig-
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Schröder
lieh das Management einer Fehlentscheidung fort. Das ist uns, der Opposition, angesichts der gegenwärtigen Finanzlage einfach zu kostspielig, meine Damen und Herren.
Deshalb unsere Anträge, die entsprechenden Stellen und die Sachmittel zu streichen. Wir könnten allein dadurch 2,6 Millionen DM einsparen.Aber nicht nur die Sicherheitsgruppe und die sogenannte Planungsabteilung sind personell überbelegt bzw. überflüssig, auch die Ständige Vertretung in Ost-Berlin ist ein Beispiel personeller Überbesetzung. Keineswegs war es erforderlich, die Stellenzahl von 64 im vergangenen Jahr schlagartig auf 85 in diesem Jahr zu erhöhen, was einer Ausweitung von 33 % entspricht. Hier hat man den alten Trick angewandt, die zweifelsohne notwendige Verbesserung einer bestimmten Aufgabe, nämlich der Rechtshilfe, dazu zu benutzen, gleich alle übrigen Aufgabenbereiche der Vertretung personell mit aufzustocken.Aber auch hier, meine Damen und Herren, liegt das Kernproblem wesentlich tiefer, nämlich in der Frage: Was ist eigentlich die Funktion dieser Ständigen Vertretung in Ost-Berlin? Herr Gaus möchte sie zur zentralen Initiativ-, Schalt- und Koordinierungsstelle der innerdeutschen Politik der Bundesregierung machen. Das ist aus seiner Sicht verständlich. Nur kann und darf dies doch nicht die Aufgabe der Vertretung sein — bei allem guten Willen! Auch unsere EWG-Politik in Brüssel wird doch nicht durch unsere dortige Ständige Vertretung gemacht, sondern hier in Bonn. Meine Damen und Herren, die innerdeutsche Politik muß hier in Bonn bestimmt werden.
Die Ständige Vertretung ist nur eines von mehreren Ausführungsorganen. Nur, wer macht denn die innerdeutsche Politik hier in Bonn eigentlich?
Der farb- und einflußlose innerdeutsche Minister? Der Außenminister? Die jeweiligen Fachminister wie für Inneres oder Verkehr?
Alle sind sie ganz sicher mit Teilbereichen befaßt und ressortzuständig. Doch von einer echten Koordinierung des Kanzleramts, die hier wirklich geboten wäre, ist wahrlich nicht viel zu merken. In diese Lücke stößt die Ständige Vertretung und legitimiert sich mit einer entsprechenden Stellenausweitung.Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren, beantragen wir, hier sechs Stellen wieder zu streichen.Noch ein allerletztes Wort zum Neubau des Bundeskanzleramts, das uns auch kostenmäßig zu überrollen droht. Zwar verdoppelt sich die Nutzfläche des Kanzleramts im Neubau und steigen die Büroflächen um ungefähr ein Drittel gegenüber den bisherigen Räumlichkeiten; aber auf der anderen Seite werden wir mit dem Neubau eine Kostenexplosion erleben, die Ergebnisse anderer Neubauten von Bundesministerien in Bonn noch weit in den Schatten stellen wird. So steigen die gesamten Bewirtschaftungskosten, die jetzt zirka 600 000 DM jährlich betragen, in Zukunft auf 2,5 Millionen DM pro Jahr.
Die jährlichen Instandsetzungskosten werden sich ebenfalls fast verdoppeln. Für den Betrieb dieser komplizierten technischen Anlagen hat die Bundesbaudirektion 18 Mann zusätzlichen technischen Personals berechnet. Als unbedingt erforderlich werden auch ca. 3 bis 4 Monteure erachtet, da sonst die Anlage nicht in Ordnung gehalten werden kann. Auch dies, meine Damen und Herren, ist wieder ein — wenn auch vielleicht vergleichsweise nur kleines — Beispiel dafür, wie man unter sogenannter sozialliberaler Ägide ohne Rücksicht auf finanzielle Auswirkungen geplant und darauflos gewirtschaftet hat. Ein letztes Beispiel für die „Sparsamkeit" im Kanzleramt, meine Damen und Herren! Gilt für die Schreibkräfte in den Bonner Ministerien der Schlüssel 1 : 8, im Ausnahmefall 1 : 6, was die Verteilung Schreibkraft zu Diktierendem anbelangt, und geht man im Kanzleramt von 180 Diktierenden aus, so ergibt sich bei dem günstigen Schlüssel ein Bedarf von 30 Schreibkräften; tatsächlich sind es aber 50. Auch hier könnte man doch einmal ein konkretes Zeichen von Sparsamkeit setzen.Ich komme zum Schluß.
In der reformeuphorischen Regierungserklärungvom 28. Oktober 1969 hieß es noch — ich zitiere —:Das Bundeskanzleramt und die Ministerien werden in ihren Strukturen und damit auch in ihrer Arbeit modernisiert.Was ist aus dieser hochtrabenden Ankündigung geworden? Nun, was das Bundeskanzleramt anbelangt, meine Damen und Herren, so ist es zwar kräftig personell aufgebläht worden, hat entsprechend viele rote Blutkörperchen erhalten, doch hat dies die Durchblutung leider nicht gefördert. Der Macher an der Spitze hat das Management der Fehlentscheidung und der Fehlkonstruktion bisher nicht behoben. Also nicht nur in der Politik, auch in der Administration eine Reformruine als Ergebnis sechsjähriger sogenannter sozialliberaler Politik!
Nicht nur die Politik des Kanzlers, auch Organisationsstruktur, Personalaufblähung und Ausgabenexplosion des Bundeskanzleramts veranlassen uns, bei der Schlußabstimmung diesem Etat, meine Damen und Herren, ein überzeugendes, ein klares und ein eindeutiges Nein entgegenzusetzen!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Haase .
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11048 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Sie rufen: Noch einer. Kommen Sie doch vor, verehrte Freunde von der sozialdemokratischen Fraktion, und erwidern Sie auf die Ausführungen des Kollegen Schröder! Sie kommen ja nicht! Sie zwingen uns ja, hintereinander hier aufzutreten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Schröder hat dankenswerterweise — —
Sie kommen gleich dran, Herr Kollege Wehner!
Herr Kollege Schröder hat dankenswerterweise im wesentlichen das zurückgewiesen, verehrter Herr Kollege W e h n er , was in Ihrer vorausgegangenen Rede geeignet war, die Opposition erneut zu beleidigen.
Dabei ist aber ein Punkt vergessen worden. Herr Kollege Wehner, Sie haben sich mit großer Vehemenz und mit Blickrichtung auf die Opposition dagegen verwahrt — meines Erachtens mit Recht —, daß bei der heutigen Wahl des Wehrbeauftragten ein Abgeordneter Sie als „Sowjetagent" klassifiziert hat. Das ist eine große Geschmacklosigkeit. Nur,1 Herr Kollege Wehner, warum immer gleich mit Blickrichtung auf die Opposition?
Kehren Sie doch einmal in Ihrem eigenen Haus!
Lieber Herr Wehner, Sie haben doch Veranlassung dazu. Die Abstimmung um den Wehrbeauftragten hat doch deutlich gezeigt, daß die Zahl der Widersacher in Ihren eigenen Reihen erheblich ist.
Schauen Sie doch mal in Ihrer eigenen Fraktion nach, wenn Sie Kollegen zu finden versuchen, die Ihnen nicht wohl gesonnen sind, und erst dann wenden Sie sich an die Opposition! Das ist mal wieder so ein Stück von Ihnen: flugs etwas aufzugreifen und auf die Leute einzudreschen, ganz gleich, wer es auch gewesen sein mag!
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Schröder hat uns deutlich gemacht, was unser verehrter Macher im Kanzleramt alles zu verantworten hat, also nicht nur Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Inflation und Zerrüttung der Staatsfinanzen, sondern auch einen Augiasstall im Kanzleramt — um mit der „Welt der Arbeit" zu sprechen; ich habe es wohl noch richtig im Ohr —, einen Augiasstall, der ja beträchtliche Ausmaße angenommen hat. Es wäre zu wünschen, daß recht bald ein Herkules kommt, um ihn auszumisten.
Aber nicht weit von diesem „Ställchen" ist ja noch eine andere Institution, für die unser verehrter Bundeskanzler die Verantwortung trägt, und das ist das Presseamt. Wir sind gezwungen, auch dazu einige Bemerkungen zu machen. Wer gehofft hatte, daß unter der Verantwortung unseres großen „Machers" — er ist nicht da — die Informationspolitik der Bundesregierung eine Wende zum Besseren erfahren würde, der ist bitter enttäuscht worden. Unter Brandt — fragen Sie einmal die Journalisten; die können es Ihnen alle bestätigen — waren die Regierungssprecher
ja, ja -- meist unzulänglich informiert.
— Herr Wehner, was drückt Sie denn schon wieder?
— Nicht doch, Herr Wehner! Es ist meine Aufgabe als Berichterstatter, zu dieser Sache zu reden.
— Dann muß man doch als Opposition — das haben Sie uns auch vorexerziert — die Finger auf die Wunden legen. Das tue ich; das ist meine Pflicht.
--- Reden Sie von den Wahlergebnissen?
Meine Damen und Herren, ich wiederhole: unter Herrn Brandt hatte man den Eindruck, daß die Regierungssprecher gelegentlich nicht informiert waren. Aber unter dem gegenwärtigen Kanzler müssen wir feststellen, daß sie kaum noch informiert sind. Die Unterrichtung der Presse und damit der Bevölkerung wird immer unzureichender. Unser verehrter Kollege Ahlers, Herr Kollege Wehner— Sie sehen, daß ich hier keine Haaseschen Buhmänner aufbaue; Ahlers ist ja besonders sachkundig, auch nach Ihrer Ansicht; denn er war ja doch, soweit ich mich erinnern kann, einmal Pressesprecher einer sozialliberalen Regierung —, hat jüngst in einem Artikel im „Stern" scharfe Kritik an der Informationspolitik der Bundesregierung geübt. Das sollten wir uns einmal anhören.
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Haase
— Herr von Bülow, Sie sind sonst ein so gescheiter Mann. Ich dachte, Sie wollten hier etwas Sachgerechtes einbringen.
— Gut! — Der Herr Kollege Ahlers ließ uns wissen, daß es für denjenigen — das ist doch sehr aufschlußreich —, der sich um die Entwicklung der gesamtdeutschen Politik kümmert, inzwischen interessanter geworden sei, das „Neue Deutschland" zu lesen,
als die Verlautbarungen der Bundesregierung.
Kollege Ahlers beklagte weiter, daß die Pressepolitik den Regierungssprechern nicht leichtgemacht würde, da der Rahmen dessen, was diese zu wissen bekämen, wesentlich enger sei als bei all ihren Vorgängern seit der Zeit Konrad Adenauers. Wörtlich schreibt Ahlers:Der Bundeskanzler und seine Mitarbeiter halten nicht viel von einem engen Kontakt mit der Presse. Helmut Schmidt freut sich sogar, wenn Bonner Journalisten darüber klagen, daß sie nicht genügend informiert werden. Und je schlechter die Wahlen ausfallen, desto spärlicher werden die Informationen.Meine Damen und Herren, an dieser Stelle scheint es angebracht zu sein, in Erinnerung zu bringen, daß diese Koalition seinerzeit mit dem guten Vorsatz angetreten ist, Öffentlichkeitsarbeit als Beitrag zur Demokratie durch Information leisten zu wollen. In der Regierungserklärung vom 17. Mai 1974, nachdem Willy Brandt davongeschickt worden war, bekundete Kanzler Schmidt:Unser demokratischer Staat lebt vom Engagement des Bürgers, der verantwortlich mitdenkt, der mitbestimmt und mitentscheidet.Diese Aussage impliziert die Feststellung, daß der Bürger auch erfährt, welche Entscheidungen aus welchen Gründen und mit welcher Zielrichtung seitens der Bundesregierung getroffen werden.Aber statt Einzelheiten zum Zwecke seiner Meinungsbildung zu erfahren, hat der Bürger höchstens die Chance, Propaganda serviert zu bekommen. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler scheint nicht fähig zu sein, die guten Möglichkeiten, die das Presseamt ihm vermittelt, sachgerecht zu nutzen. Er treibt das Amt zusehends in die Rolle einer Werbeagentur zur Herstellung von Propagandamaterial,
das in erster Linie in die allfälligen Landtagswahlkämpfe gepumpt werden soll und das die Steuerzahler sechsstellige Summen kostet.
Alois Rummel sagt weiter:
„Dingsbums"! —
sowie die Boulevardzeitung für Lohnabhängige „Wir". In der Broschüre „Unser Staat" aus Müllers Politmühle — ein Vierfarbendruck, der 48 Seiten umfaßt — sollen die Probleme unseres Landes vorgestellt werden. Man versucht zu sagen, wie wir diese Probleme mit Hilfe unserer, ach so tüchtigen Regierung lösen werden. Aber in Wirklichkeit singt die von einer SPD-Agentur fabrizierte und natürlich aus Steuergeldern finanzierte Broschüre das hohe Lied unserer Linkskoalition in Bonn, stellt unseren Macherkanzler und seine Kabinettsmitglieder in geschönten Lebensläufen und bunten Bildern vor und durcheilt lobhudelnd die Bonner Ressorts. Meine Damen und Herren, all das würde ich ja gar nicht einmal so sehr beklagen. Aber diese Schrift — und hier hört der Scherz auf — heißt „Unser Staat".
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In diesem Machwerk kommt die Opposition überhaupt nicht vor, mit keinem Wort!
— Ja, „hört, hört" !
Ich meine, Sie können ja über Ihre Regierung so viel schreiben, wie Sie wollen.
Eines muß ich in diesem Zusammenhang aber sagenHerr Kollege Wehner, Sie reden ja manchmal mit Bezug auf uns davon, wer die anmaßende Staatspartei sei —: Wenn Sie schon von unserem Staat sprechen, dann von allen politischen Kräften, die in dieser Republik mitwirken.
Sie haben zwar Zeilen gefunden, Alte-KämpferNostalgie zu betreiben, mit Bildchen vom Parteitag 1892, und eine Fahne zeigen Sie uns da: Einigkeit macht stark. Das ist ja alles schön und gut, nur, das allein ist nicht unser Staat, und das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben.
Nun, nicht ganz so plump, aber in der Sache doch eindeutig, ist „Dingsbums",Wohlrabe [CDU/CSU]: Bums! Bums! kannman da nur sagen!)die heile Welt der Linksjunioren. Von diesen 500 000 gedruckten „Dingsbums"
aus dem Presseamt wurden zur Erleuchtung des Wählers im Zusammenhang mit den Landtagswahlen in Hessen und Bayern je 150 000 Stück in diesen Bundesländern unter die Leute gebracht.
Meine Damen und Herren, dann wäre noch etwas zu einer Geschmacksfrage zu sagen. „Dingsbums" ist ja, meine Damen und Herren, ein regierungsamtliches Dokument,
die Bundesrepublik Deutschland steht dahinter. Es ist eben daher eine Stilfrage, ob man hier im Ton der „St. Pauli-Nachrichten" junge Damen bemüht, ihre intimsten Erfahrungen in den Dienst der sozialliberalen Koalition zu stellen.
-- Meine Herren, das ist eine Stil- und Geschmacksfrage, aber über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten.
Kommen wir zu Punkt drei Ihrer Elaborate, zu der in vier Millionen Exemplaren gedruckten sozialliberalen Boulevard-Zeitung für Lohnabhängige mit dem Titel „Wir". Sie war in erster Linie der Imagepflege der Regierung beim „kleinen Mann" gewidmet, aber bei Licht betrachtet war diese Informationsschrift ebenfalls nichts anderes als ein Wahlkampforgan zur Unterstützung der Bonner Linkskoalition in sechs Landtagswahlkämpfen.Auch in dem Zusammenhang mit „Wir" taucht wieder ein Problem auf: Die Sache ist recht liederlich aufgezogen worden, denn es stellte sich jüngst heraus — wie die Presse berichtet , daß auf Einspruch der NPD einer Weiterverbreitung dieses Druckstücks nicht mehr gestattet wurde.
Ich will mich jeden Kommentars dazu enthalten. Angeblich gibt die NPD eine Zeitung gleichen Namens heraus,
aber das weiß man im Hause Bölling anscheinend nicht. Auf alle Fälle: Mehrere hunderttausend Mark Steuergelder wurden auch in diesem Fall zum Fenster hinausgeworfen.
Meine Damen und Herren, diese Art, parteipolitische Werbung zu betreiben und mit Millionenaufwand in Landtagswahlkämpfe einzugreifen, scheint selbst unserem Kollegen Ahlers unerträglich und veranlaßte ihn, am 20. Februar 1975 zu folgender Bemerkung, wiederum in der von uns geschätzten Zeitschrift „Stern". Conrad Ahlers sagte wörtlich:Die Bundesregierung hat in diesem Millionenspiel mit einem lange Zeit eingehaltenen Prinzip gebrochen, das ist wichtig zu wissen —nämlich Informationsarbeit in angemessener Frist vor einem Wahltermin einzustellen, um dem Vorwurf eines parteipolitischen Mißbrauchs von Steuergeldern zu entgehen.
Nun, meine Damen und Herren, ich weiß nicht, welcher Kollege hierauf erwidern wird. Ich kann mir vorstellen, Sie werden 'sagen: Wenn wir das beherzigen wollten, dann könnten wir überhaupt jede Werbung einstellen. Meine Damen und Herren, was früheren Bundespressechefs möglich war, nämlich sich zumindest einer gewissen parteipolitischen Zurückhaltung zu befleißigen, sollte sich auch jetzt ermöglichen lassen. Ahlers fährt fort:Diese Skrupel und Bedenken der verantwortwortlichen Leute im Presseamt wurden aber von den Ereignissen überrollt, insbesondere von dem Arger über die Steuerreform. Gebieterisch verlangten Abgeordnete und Funktionäre der Regierungsparteien wirksame Public-RelationsMaßnahmen.Soweit Conrad Ahlers, der ja seine Pappenheimer kennt.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Entwicklung sieht sich die Opposition gezwungen, ihre Kürzungsanträge bei der Inlandswerbung des Presse-
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amtes aus den vergangenen Jahren erneut zu stellen, und beantragt daher, bei Kap. 04 03 im Tit.531 01 2 Millionen DM, bei Tit. 531 03 Öffentlichkeitsarbeit Inland 3 Millionen DM zu streichen und die so durch Kürzung erzielten 5 Millionen DM bei Tit. 531 04 — Ausland — zuzulegen.Meine Damen und Herren, ich muß bei dieser Gelegenheit aber doch noch ein besonderes typisches Beispiel für die Unzulänglichkeiten regierungsamtlicher Werbung ansprechen. Es handelt sich um die informationspolitische Behandlung der jüngst in Kraft getretenen Steuerreform, des Jahrhundertwerks der Sozialliberalen. Mit dem Geschichtchen über die Nacht, da das Pferd ihn trat,
mag der Bundesfinanzminister seine heimische Unterbezirkskonferenz in Barmbek beeindrucken.
Nur, Tatsache ist doch, daß Herr Apel über die Auswirkungen der geplanten Steueränderungen beizeiten unterrichtet worden ist. Mehrfach sind ihm von sachkundigen Beamten seines Hauses Hinweise auf die kritischen Punkte der sogenannten Reform vorgetragen worden, und auch die Ubersicht negativer Aspekte zur Reform, die sein Parteifreund Fredersdorf vom Steuerbeamtenbund im September 1974 vorlegte, machte allen Sachkennern deutlich, daß bei diesem Vorhaben von einer wirklichen Reform, die sowohl mehr Gerechtigkeit schafft als auch das Steuersystem einfacher gestaltet, keine Rede mehr sein konnte.Alle Warnungen wurden jedoch zurückgewiesen, und dem Personal der Steuerverwaltung drohte Herr Minister an, im Falle der Fortsetzung der Kritik an dem geplanten Jahrhundertwerk die Beamten in der Öffentlichkeit anzuschwärzen. Opposition, Sachverständige und Teile der Presse hatten das Fiasko der Reform rechtzeitig diagnostiziert; aber gefragt waren bei Tische des Herrn Ministers nur die entlastenden und wahlwirksamen politischen Aspekte des Vorhabens.Statt die Steuerbürger auf die Tücken der Reform vorzubereiten und allzu große Entlastungshoffnungen durch eine sinnvolle Information zu zerstreuen, ließ man die Monate zwischen der überhasteten Verabschiedung im Parlament und jener furchtbaren Steuerdämmerung am 1. Januar 1975 ungenutzt verstreichen. Mehr noch, die Damen und Herren der Bundesregierung überboten sich in den Monaten vor dem Jahreswechsel gegenseitig im Anheizen der Begehrlichkeit und im Hochjubeln der Erwartungen der Steuerbürger. Frau Focke inserierte für über 3 Millionen DM, um ihren Anteil am Jahrhundertwerk der staunenden Öffentlichkeit gebührend zu verdeutlichen und ja nicht unter den Scheffel zu kommen. Der Herr Bundesminister der Finanzen ließ mehrere hunderttausend Broschüren unter die Leute bringen, die weniger der Sachinformation der Steuerzahler dienten denn dein höheren Lob der Wohltaten des Hans Apel und seiner Partei gewidmet waren. Im Rahmen dieser ersten Volksaufklärungswelle wurden fast 6 Millionen DM zum Fenster hinausgeworfen.
Als dann für den Arger und die Verwirrung der Bevölkerung in erster Linie eine lückenhafte und verspätete Informationspolitik verantwortlich gemacht werden mußte, —
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
— wurde eiligst zur Entlastung der ins Wanken geratenen Regierungsfront und als letzte Zuflucht der vom Pferd Getretenen eine zweite Aufklärungswelle inszeniert, die sich jedoch gleichfalls als Fiasko auswies.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Biermann?
Bitte sehr, Herr Biermann!
Herr Kollege Haase, können Sie sich dann, wenn Sie diese Steuerreform in dieser Weise verdammen, noch vorstellen, daß ausgerechnet Ihre Partei in meinem Wahlkreis damit Reklame macht, sie habe dieses große Werk vollbracht?
Lieber Kollege Biermann, wenn Sie genau hingehört haben: Ich habe ja hier gar nicht die Aufgabe, zum Inhalt der Steuerreform zu sprechen, sondern lediglich die Aufgabe
- nein, hören Sie einmal hin — etwas zur Behandlung der Informationspolitik im Zusammenhang mit der Steuerreform auszuführen.
Und, Herr Biermann, diese Informationspolitik ist so schlecht, daß sogar der Kanzler aus der Haut gefahren ist und die Art und Weise gerügt hat, wie man die Bevölkerung auf diese Sache vorbereitet hat. Darum geht es mir!
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Biermann?
Nein, Die rote Lampe leuchtet schon.
Selbst der Bundeskanzler, Herr Biermann, kam nicht umhin, den Dilettantismus, der hier zutage
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11052 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
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trat, heftig zu rügen, und Ihr Kollege Hubert Weber bescheinigte der Regierung, in den Monaten seit der Verabschiedung der neuen Steuergesetzgebung nichts getan zu haben, um die Bürger auf die Reform ausreichend vorzubereiten.Ich komme zum Schluß.
Ja, ja, ich weiß! Das wird Sie noch besonders freuen; das liegt auch uns am Herzen.Besonderen Anteil am Versagen hat sich hier der stellvertretende Sprecher der Bundesregierung, Armin Grünwald, wieder einmal eingehandelt. Als der für Wirtschaftsfragen zuständige Werbeberater der Regierung ist er in erster Linie dafür verantwortlich, daß die Bundesregierung es verabsäumte, dem Steuerzahler von vornherein reinen Wein einzuschenken. Herr Grünwald ist es zuzuschreiben, wenn sich heute viele Steuerzahler geprellt fühlen und das Trauerspiel um die Reform zu einem politischen Lehrstück dafür wurde, wie man sogenannte Reformen informationspolitisch um keinen Preis behandeln sollte. Wenn zudem Herr Grünwald jüngst vor Journalisten offenbarte — auch das ist sehr interessant —, zwischen ihm und Amtschef Bölling gebe es nicht einmal schlechte Kommunikation, sondern überhaupt keine,
so ist man geneigt zu fragen, wer denn an einer weiteren Mitarbeit des stellvertretenden Regierungssprechers gegenwärtig überhaupt noch interessiert ist. Ich glaube. allen Beteiligten wäre sicher gedient, wenn Armin Grünwald in den Ruhestand einträte und seine Stelle eingespart würde.
Die Regierung soll den Bürger informieren über Ziele und Wege ihrer Politik. Sie soll ihn informieren, mit welchen Mitteln sie glaubt, den Problemen am besten gerecht werden zu können. Dazu bedarf es keiner Volksaufklärung und Propaganda, sondern sachgerechter Information. Diesem Informationsauftrag ist auch die Regierung Schmidt bisher nicht im entferntesten gerecht geworden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dübber.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es wird mir schwerfallen, dasselbe Niveau an Heiterkeit zu halten wie mein Vorredner.
Ich muß leider zu ernsteren Dingen zurückkehren.Ich bitte, dem CDU-Antrag, der Ihnen auf Drucksache 7%3387 vorliegt, auf Streichung von 6 Planstellen bei unserer Vertretung in Ost-Berlin nicht zuzustimmen. Ich kann mir eigentlich schwer vorstellen, Herr Kollege Schröder, daß Sie das, was Sie hier an Zweifeln über die Rolle unserer Vertretung in Ost-Berlin geäußert haben, selber ernst nehmen. Sie wissen so gut wie ich und wie wir alle — das können Sie jeden Tag in den Zeitungen lesen —, daß, wenn zwischen Ost-Berlin und Bonn verhandelt wird, die fachlichen Kontakte über die Fachministerien laufen. Diese Ministerien in Bonn und in Ost-Berlin unterhalten unmittelbare Kontakte, natürlich unter Beteiligung der Ständigen Vertretung. Die Ständige Vertretung hat weder den Ehrgeiz noch die Kompetenz noch auch die personellen Möglichkeiten, sich an die Stelle zum Beispiel des Verkehrsoder des Postministeriums zu setzen. Überdies haben wir auch noch ein Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen.
Unsere Vertretung in Ost-Berlin ist dort noch kein Jahr tätig. Sie arbeitet seit neun Monaten und hat seitdem 5 000 Rechtsschutzfälle bearbeitet; jeden Monat kommen 600 weitere hinzu. Das sind im einzelnen vor allem Angelegenheiten der Familienzusammenführung, auch der Eheschließung, Angelegenheiten des Reise- und Besucherverkehrs, der Hilfestellung bei der Beschaffung von Urkunden, auch in Renten- und Grundstücksangelegenheiten, der Mithilfe bei der Regelung von Erbschaftsfragen, und schließlich — das ist doch wohl anerkannt wichtig — der Betreuung von etwa 300 in Straf- und Untersuchungshaftanstalten der DDR befindlichen Bewohnern der Bundesrepublik einschließlich West-Berlins.Für diese Arbeit kommt die Ständige Vertretung im Augenblick mit einem Ist-Stand von 71 Mitarbeitern aus. Das Stellensoll beträgt 98.
Wenn sie weitere 13 Stellen besetzen will, nämlich von 85 auf 98, braucht die Bundesregierung dazu die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestages. Auf diese Weise ist sichergestellt, daß der Personalzuwachs unter der Kontrolle des Parlaments bleibt.Dies übrigens ist am 12. Dezember im Haushaltsausschuß auch mit Zustimmung der Opposition beschlossen worden. Aus diesem Grunde erscheint mir der Antrag der CDU/CSU in der Sache unerklärlich. Wir können nur vermuten, daß es andere Gründe als die der Sparsamkeit sind, die zu einer Reduzierung der Tätigkeit der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin führen sollen.Meine Damen und Herren, wenn die Opposition auf diesem Gebiet Sparsamkeit für notwendig hält und sie forcieren will, dann kann ich Ihre Aufmerksamkeit nur auf ganze Subkulturen von Zuwendungsempfängern lenken, die seit 20 Jahren die DDR erforschen, aber ebenso lange nicht drüben gewesen sind.
Bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin wird die Arbeit nicht nicht bloß auf Papier und nicht am Schreibtisch,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11053
Dr. Dübbersondern da wird die Arbeit vor Ort geleistet. Arbeit, die den Menschen hilft, wollen wir intensiviert sehen und nicht eingeschränkt.Ich bitte, den Antrag der CDU/CSU zu diesem Punkt abzulehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Esters.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Haase, ich kann eines nicht verstehen, nämlich daß Sie sich wundern, wenn bei Ihnen etwas deutlich zurückgeschlagen wird. In der 155. Sitzung weist das Protokoll z. B. aus: „Zurufe von der CDU/CSU: Wie im Sächsischen Landtag! — Zurufe von der CDU/CSU: Sie Kommunist! — Sie alter Bolschewist!" usw. Sie können sich doch vorstellen,
wenn dies in dieser deutlichen Form von Ihnen hier gerufen wird, daß derjenige, dem es zugerufen wird, auch das Recht haben muß, entsprechend zurückzuschlagen.
Ich weiß genau, daß dann, wenn der Kollege Haase in diesem Hause gesprochen hat, eine gewisse Atmosphäre geschaffen ist, die es nicht immer zuläßt, zu den sachlichen Dingen so zurückzukehren, wie man es eigentlich vorgehabt hat.
Daß in jedem Jahr die Informationspolitik der Bundesregierung einer harten Prüfung durch die Opposition unterzogen wird, wissen wir. Dies ist auch in der Vergangenheit so gewesen. Es ist allerdings nicht zu bestreiten, daß es heute, bedingt durch eine komplizierte und für den einzelnen schwerer zu verstehende internationale Wirtschaftslage und daraus resultierender Abhängigkeiten unserer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung schwieriger geworden ist, der Informationspflicht einer Regierung den Bürger gegenüber zu genügen, wenn der Auftrag des Haushaltsgesetzes, nämlich „die deutsche Bevölkerung über die politischen Ziele und die Arbeit der Bundesregierung zu unterrichten", wirksam erfüllt werden soll; denn Information über die Arbeit der Bundesregierung bedeutet zuerst einmal, durch breit gestreute und wirkungsvolle Aufklärung dem Bürger die Entscheidungsgrundlagen politischen Handelns als Ausgangsposition seiner eigenen Entscheidungen, die er in der Demokratie zu treffen hat, zu verdeutlichen. Der Herr Kollege Haase hat dankenswerterweise auf das Zitat aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 17. Mai 1974 hingewiesen.Die Bundesregierung hat darüber hinaus die Pflicht, den Bürger über die Rechte und Chancen, die ihm die Politik bietet, zu informieren. Was nützt beispielsweise das Sozialhilfegesetz, wenn der betroffene Bürger weiterhin davon ausgeht, Sozialhilfe sei ein Almosen, daß er vom Staat erbetteln müßte? Was nützt die Verbesserung des Wohngeldgesetzes, wenn dem Bürger die Information darüber fehlt, ob und auf welche Weise er selbst Wohngeld beziehen kann? Nicht ganz ohne Bedeutung dürfte sein, wenn die Zahl der Wohngeldempfänger auf 1,6 Millionen angestiegen ist, daß das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung seit einigen Jahren eine auflagenstarke Informationsschrift veröffentlicht hat.
Servicefunktionen für den Bürger hat die Bundesregierung in diesem Falle zu leisten.Kennzeichnend für die Bemühungen des Presseamtes ist, die Information über die Arbeit der Bundesregierung mit direktem Nutzen für den Bürger zu verbinden. Diese Entwicklung wird auch daran deutlich, daß der Titel 531 01, der für die Form der bürgernahen Öffentlichkeitsarbeit nicht nutzbar ist, seit 1973 zugunsten des Titels 531 03 völlig stagniert. Den Schwerpunkt der Inlandsöffentlichkeitsarbeit bilden seither auf die Bedürfnisse des Bürgers zugeschnittene Servicepublikationen, die nicht nur über die Entscheidungen und Gesetze informieren, sondern dem einzelnen auch praktische Hinweise geben, diese Gesetze für sich zu nutzen.In diese bürgernahen Servicebereich gehören auch die Anzeigen des Presse- und Informationsamts, wie die in diesen Tagen erschienenen Informationsanzeigen zur Steuerklassenwahl und zum Kindergeld, deren Veröffentlichung ja auch der Forderung der Opposition entspricht, die Bürger so umfassend wie möglich über die Auswirkungen der Steuerreform zu informieren.
— In meinem Wahlkreis war es so, Herr Kollege,daß die CDU/CSU sich ungefähr bis Mitte Januar
damit aufblähte: Wir haben die Steuererleichterungen für Sie geschaffen.
Seit Mitte Februar, als Sie irgendwie meinten, den Rückwärtsgang einschalten zu müssen, kamen dann die Plakate heraus, damit hätten Sie nichts zu tun. Jetzt tut es Ihnen wahrscheinlich wieder außerordentlich leid, daß Sie hier umgeschaltet haben.
Herr Kollege Haase hat dann noch angesprochen, daß die Öffentlichkeitsarbeit Inland in den Landtagswahlkämpfen eine nicht unwesentliche Rolle spiele.
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11054 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
EstersEs ist natürlich primär atmophärisch bedingt, daß das Presse- und Informationsamt in diesen Zeiten wesentlich häufiger dem Vorwurf der Opposition begegnet,
es betreibe Wahlpropaganda zugunsten der Koalitionsparteien.
— Ja, auch. — Auch in Wahlzeiten wird das Presseamt nicht darauf verzichten können, über die Entscheidungen der Bundesregierung so wirkungsvoll wie möglich zu informieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Baier?
Herr Kollege Baier.
Herr Kollege Esters, aber wie erklären Sie sich, daß diese Broschüren nur in den Ländern verteilt werden, in denen Landtagswahlkämpfe und anschließend Landtagswahlen stattfinden?
Herr Kollege Baier, die Broschüren kommen grundsätzlich in allen Ländern zur Verteilung.
— Wenn Sie sich, Herr Kollege Baier, den Verteiler- und Empfängerschlüssel des Presseamtes ansehen, dann werden Sie feststellen, daß die Bedienung entsprechend der Nachfrage
— und danach geht es; ja, natürlich — erfolgt.
Die derzeitige Situation erfordert darüber hinaus eine besonders intensive Information der Bevölkerung, wenn verhindert werden soll, daß vielfache Versuche, Angst und Hysterie zu erzeugen, den sozialen Frieden und den sicherlich von uns allen angestrebten wirtschaftlichen Aufschwung nicht gefährden sollen. Im Interesse derer, die um Arbeitsplätze Sorge haben, halte ich es für legitim, Panikmache zurückzuweisen.
Ebenso legitim ist es aber auch, gelegentlich einmal auf unzureichende Informationen einzelner Landesregierungen nüchtern und sachlich zu antworten, so wenn beispielsweise die Bayerische Staatsregierung
Leistungen des Bundes mit schöner und regelmäßiger
Selbstverständlichkeit auf ihre Fahnen schreibt.
Allerdings ist nicht damit zu rechnen, daß die Bundesregierung einmal so weit gehen wird wie die Regierung eines sehr nördlichen Bundeslandes, die unter der ein wenig parteiischen Überschrift „Rote Federn — rote Märchen" eine Anzeigenserie veröffentlicht, die einer politischen Partei doch wohl eher ansteht als einer Regierung, von deren Öffentlichkeitsarbeit die Haushaltsgesetze ebenso wie das Bundesverfassungsgericht eine gewisse Zurückhaltung verlangen. Stellen Sie sich einmal vor, meine Damen und Herren, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hätte eine Anzeigenserie unter dem Titel „Schwarze Seelen, schwarze Legenden" gestreut. Was wäre dann hier heute los gewesen!
Ich bin der Meinung, daß die Öffentlichkeitsarbeit Inland des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung heute stärker als vor 1969, als es beispielsweise noch die Mobilwerbung und die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise finanzierte
— das kann ich mir denken, ja, das kann ich mir denken! —, ihrer Informationspflicht dem Bürger gegenüber nachkommt.
Die Opposition führt die Landtagswahlen — dies auch in diesem Zusammenhang — bewußt bundespolitisch. Angesichts dieser Tatsache ist es selbstverständlich, daß das Bundespresseamt die bundespolitischen Planungen und Aktionen nicht auf Bonn beschränken kann und hier unter Verschluß hält. Die Bundesregierung hat das Recht und die Pflicht, ihre Politik dort zu verteidigen, wo sie angegriffen wird,
und Unterstützung da zu suchen, wo sie sie findet.
Herr Kollege, einen Augenblick bitte. Sie geben sich große Mühe. Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Nehmen Sie bitte die Plätze ein. Es ist sehr schwer für den Redner, sich verständlich zu machen. Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen und Ruhe zu halten. Geben Sie dem Redner die Chance, gehört zu werden.
Der Herr Kollege Schröder hat es nicht unterlassen können, nachdem Herr Seemann schon im ZDF-Magazin erschienen war, ihn auch hier zu Wort kommen zu lassen. Er hat wieder einmal von der Personalaufblähung im Bundeskanzleramt gesprochen.
Ich möchte sagen: erwartungsgemäß.
Bei den Zahlenangaben allerdings läßt er unberücksichtigt, daß es in der Zeit der Großen Koalition ein Bundesratsministerium gab. Die bis 1969 dort geführten Stellen sind dann zuständigkeitshalber zum Kanzleramt übertragen worden. Ein erheblicher Aufgaben- und Stellenzuwachs ist damit wohl nicht bestreitbar.
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Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11055
EstersDie von Ihnen, Herr Kollege Schröder, genannte Gruppe 07 hat heute 17 Stellen. Dabei handelt es sich aber nicht um neue Stellen, sondern um Umsetzungen aus dem Kapitel 04. Auch hier sollten wir dann etwas ehrlicher sein.Die Bewirtschaftung des Bundeskanzleramtes wird zweifellos einen erheblichen finanziellen Aufwand erfordern. Das gilt übrigens für jedes moderne Verwaltungsgebäude, das in den letzten Jahren fertiggestellt worden ist. Das neue Kanzleramt macht hier sicherlich keine Ausnahme. Es fällt aber auch nicht aus dem Rahmen, den wir insgesamt antreffen. Der Repräsentationsaufwand ist maßvoll. Die Zweckmäßigkeit und Funktionalität sind die maßgebenden Gestaltungsprinzipien. Wir werden, Herr Kollege Schröder, dafür Sorge zu tragen haben, daß das Amt alle Möglichkeiten zur Kosteneinsparung nutzt.Ihre Auslassungen, Herr Kollege Schröder, über die Planungsabteilung haben mich allerdings insofern etwas enttäuscht, als Sie als Mitberichterstatter nicht gemerkt haben, daß die Planungsabteilung Organisationseinheiten verändert hat, und zwar seit ungefähr einem Jahr. Sie haben Organisationseinheiten aufgezählt, die es gar nicht mehr gibt. Dies erklärt sich vielleicht daraus, daß Sie sich auf Herrn Seemann berufen, der, was Sie wohl nicht bemerkt haben, über eine zurückliegende Zeit und nicht über die augenblicklichen Verhältnisse geschrieben hat.Auf eine Anfrage des Kollegen Schmidt nach der Planungsabteilung hat im November 1967 der damalige Parlamentarische Staatssekretär von und zu Guttenberg geantwortet:Die Planungsabteilung hat unter anderem die Aufgabe, Problembereiche, die für die Gestaltung unserer politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technologischen Zukunft von Bedeutung sind, zu analysieren, Empfehlungen für eine künftige Gestaltung auszuarbeiten und auf diese Weise die politischen Entscheidungen des Regierungschefs vorzubereiten.
Guttenberg weiter:
Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich die Arbeit des Planungsstabes thematisch nicht im einzelnen ausbreiten kann. Politische Planung ist Stabsarbeit, die sich ihrem Wesen nach nicht vor der Öffentlichkeit vollzieht.Herr Schröder, Sie sehen, die Informationen, die die Opposition heute hat, sind von dieser Regierung in ganz starkem Maße erweitert worden.Andererseits haben Sie aber einem Redakteur des „Bayernkurier" in der letzten Zeit einige Informationen zugesteckt und dabei auch die entsprechenden Namen genannt; dabei ging es darum, daß mit horrenden Kosten externe Gutachter beschäftigt würden. Einer Ihrer Haupteinwände richtet sich ja gerade gegen die Beschäftigung externer Gutachter.Ich möchte Ihnen einmal an einigen Beispielen sagen, was seinerzeit, nämlich 1967/1968, dort in Auftrag gegeben wurde. Dort wurde in Auftrag gegeben, Herr Kollege Schröder: „Möglichkeiten undGrenzen der Großen Koalition" für 217 441 DM. Dort wurde in Auftrag gegeben: „Gesellschaftspolitische Grundlagen der längerfristigen Sicherung des wirt schaftlichen Wachstums" für 185 000 DM. Herr Kollege Schröder, damals waren 1,2 Millionen verfügbar, heute sind es nur 1,4 Millionen DM. Sie können nicht davon sprechen, daß es hier zu hohe Steigerungsraten gegeben hat.Wenn Sie dann die externen Gutachter besonders ansprechen ich nenne aus Fairneßgründen hier weder Institute noch Namen —, möchte ich allerdings einen nennen. Nämlich: der Herr Zeitel, mittlerweile Kollege, hat den Kanzler Kiesinger seinerzeit beraten, und zwar vom 1. September 1967 bis zum 30. September 1969, zu einem monatlichen Honorar von 2400 DM. Heute, Herr Kollege Schröder, zahlt die Planungsabteilung an die von Ihnen dem „Bayernkurier" namentlich genannten Personen 1200 DM pro Monat für die gleiche jährliche Sitzungszahl, also die Hälfte weniger. Hier ist Sparsamkeit am Platze, und es gibt nicht, wie Sie sagen, horrende Ausgaben.
Die Planungsabteilung verdient es insgesamt, aus diesem Bereich der öffentlichen Diskussion herausgehalten zu werden. Ich bin mir natürlich klar darüber, Herr Kollege Schröder, daß Sie ein politisches Interesse daran haben, daß diese Planungsabteilung verschwindet. Genau dies wollen die Koalitionsfraktionen nicht.
Wir lehnen die Anträge der Opposition zum Einzelplan 04 ab. Namens der Fraktionen von SPD und FDP beantrage ich namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen. Darf ich annehmen, daß der Antrag auf namentliche Abstimmung über Einzelplan 04 in der zweiten Lesung sich nicht auf die Änderungsanträge bezieht.
Also nur zum Einzelplan 04. Dann kommen wir zunächst zu den Änderungsanträgen. Es liegen uns die Anträge der Fraktion der CDU/CSU auf den Drucksachen 7/3387 und 7/3388 vor. Darf ich davon ausgehen, daß über jeden Antrag insgesamt abgestimmt werden kann, also keine Einzelabstimmung nötig ist? — Das ist der Fall.Dann bitte ich nunmehr zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 7/3387. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. -Gegenprobe! — Das letzte war die Mehrheit. Enthaltungen? — Keine. Der Antrag ist abgelehnt.Ich rufe den Antrag auf Drucksache 7/3388 auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Der Antrag ist abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Einzelplan 04 in zweiter Lesung. Es ist namentliche
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11056 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Vizepräsident Frau FunckeAbstimmung verlangt. Meine Damen und Herren, wir haben zwei Urnen. Ich bitte jeden, mit seiner Karte an die nächstliegende Urne zu gehen.
Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Einzelplan 04 bekannt. Es wurden 424 uneingeschränkt stimmberechtigte Stimmen abgegeben. Davon haben mit Ja für den Einzelplan 04 — 254 gestimmt, mit Nein 170; es gab keine Enthaltungen und keine ungültigen Stimmen. Von den Berliner Abgeordneten wurden 20 Stimmen abgegeben, von ihnen haben 13 mit Ja und 7 mit Nein gestimmt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 424 und 20 Berliner Abgeordnete; davonja: 254 und 13 Berliner Abgeordnete,nein: 170 und 7 Berliner Abgeordnete.JaSPDAdams Ahlers Dr. AhrensAmling Anbuhl Dr. ApelArendt Dr. Arndt (Hamburg) AugsteinBaackBäuerle Barche BahrDr. BardensBatzBecker Dr. Beermann BehrendtBiermann BlankDr. Böhme BörnerFrau von Bothmer BrandtBrandt BredlBrückBuchstallerBüchler
Büchner
Dr. von Bülow BuschfortDr. BußmannColletConradi Coppik Dr. CorterierFrau Däubler-Gmelin Dr. von Dohnanyi DürrEckerlandDr. EhmkeDr. EhrenbergFrau Eilers Dr. EmmerlichDr. EndersEngholm Dr. EpplerEstersEwenDr. Farthmann FellermaierFiebigDr. FischerFlämigFrau Dr. Focke Franke FrehseeFriedrich GanselGeigerGerlach Gerstl (Passau) GertzenDr. Geßner Glombig Dr. Glotz Gnädinger GrobeckerGrunenbergDr. Haack Haase
Haase HaehserDr. Haenschke Halfmeier HansenHauckDr. Hauff HenkeHeroldHofmann Dr. Holtz HornFrau HuberHuonker ImmerJahn Jaschke JaunichDr. Jens Junghans JunkerKaffkaKernKoblitzKonradKratzDr. Kreutzmann Krockert Kulawig LambinusLange LattmannDr. Lauritzen LautenschlagerLemp LendersFrau Dr. LepsiusLiedtkeLöbbertDr. LohmarLutzMahne MarquardtMarschallMatthöferFrau MeermannDr. Meinecke Meinicke (Oberhausen) MetzgerMöhringDr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möll Müller
Müller
Müller
Müller
Dr. Müller-EmmertNagel NeumannDr.-Ing. OettingOffergeldFrau Dr. OrthFreiherr Ostman von der LeyePawelczykPeiterDr. PennerPensky PeterPolkehnPorznerRapp
Rappe RavensFrau Dr. RehlenReiserFrau Renger ReuschenbachRichter Rohde RosenthalSander SaxowskiDr. Schachtschabel Schäfer
Dr. Schäfer SchefflerScheuFrau SchimschokSchinzelSchlagaSchluckebierDr. Schmidt Schmidt (Hamburg) Schmidt (München) Schmidt (Niederselters) Schmidt (Wattenscheid) Schmidt (Würgendorf)Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchonhofenSchreiberSchulte
SchwabeDr. SchweitzerDr. Schwencke Dr. Schwenk (Stade) SeefeldSeibert SimonSimpfendörferDr. SperlingSpilleckeStahl
Frau Steinhauer SuckSundTietjenFrau Dr. Timm TönjesUrbaniakVahlbergVitDr. Vogel VogelsangWalkhoff WaltematheWaltherDr. Weber WehnerWende WendtDr. Wernitzr Westphal Wiefel Wilhelm Wimmer WischnewskiDr. de With Wittmann WolfWolfram Wrede WürtzWüster Wuttke Wuwer Zander Zebisch ZeitlerBerliner AbgeordneteBühlingDr. Dübber EgertFrau Grützmann HeyenLöfflerMattickDr. Schellenberg Frau Schlei Schwedler Sieglerschmidt WurcheFDPDr. AchenbachDr. Böger ChristEngelhard ErtlFrau Funcke GallusGeldnerGenscher GraaffGrünerDr. Hirsch HoffieJungKirstKleinertKrallDr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff LogemannFrau LüdemannDr. Dr. h. c. Maihofer Mertes MischnickMoerschOlleschOpitzRonneburger
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11057
Vizepräsident von Hasselvon SchoelerSpitzmüllerDr. VohrerDr. Wolfgramm WurbsZywietzBerliner Abgeordnete HoppeNeinCDU/CSUDr. Abelein Dr. AignerDr. Althammer Dr. ArnoldDr. Artzinger BaierDr. Becher
Dr. Becker
Frau Benedix BenzBewerungeBiecheleBiehleDr. von Bismarckvon Bockelberg Böhm
BraunBremerBremmBurgerCarstens
Dr. CzajaDammvan Delden Dr. Dollinger Dr. Dregger EigenEilers EngelsbergerErnestiDr. EversEy .Freiher von FircksFranke
Dr. FranzDr. FrühDr. FuchsGeisenhofer Gerlach
Gerster GierensteinDr. GötzDr. GruhlHaase Dr. HäfeleHärzschelDr. Hammans Handlosvon HasselHauser Dr. Hauser (Sasbach)Dr. HeckHöcherlHöslDr. Hornhues HorstmeierFrau Hürland Dr. HupkaHussingDr. JaegerJäger
Dr. Jahn Dr. Jahn (Münster)Dr. Jenninger Dr. JobstJostenKatzerDr. KempflerKiechle KiepDr. Klein
Dr. KliesingDr. Köhler KrampeDr. KraskeDr. Kunz LagershausenLampersbachLeicht LemmrichDr. Lenz
LinkLöher Dr. LudaLücker Dr. MarxMaucherDr. MendeDr. Mertes MickDr. MikatDr. MiltnerMöller
Müller
Mursch
Dr. NarjesFrau Dr. NeumeisterNiegel NordlohneDr.-Ing. OldenstädtOrgaß Frau PackPfeffermannPfeifer Picard PohlmannDr. PrasslerRainer ReddemannFrau Dr. Riede Dr. Riedl (München)Dr. RitgenDr. Ritz Röhner RollmannRommerskirchenRusseSauer
Sauter
Dr. SchäubleFrau Schleicher SchmidhuberSchmidt Schmitt (Lockweiler) Schmitz (Baesweiler) SchmöleDr. SchneiderFrau Schroeder Dr. Schröder (Düsseldorf) Schröder (Luneburg) Schröder (Wilhelminenhof) Schulte (Schwäbisch Gmünd) Dr. Schulze-VorbergDr. SchwörerSeiters SickSolkeDr. Freiherr Spies von BüllesheimSpilker SpringorumDr. SprungStahlbergDr. StavenhagenStrauß StücklenSusset de TerraThürkTillmann Frau TüblerVeharFrau VerhülsdonkVogel
VolmerDr. WaffenschmidtDr. Wagner
Dr. WallmannWawrzikWeber
Dr. Freiherr von Weizsäcker WernerWissebachDr. Wittmann Dr. WörnerFrau Dr. WolfDr. Wulff Dr. Zeitel ZeyerZieglerZinkBerliner AbgeordneteFrau Berger
Dr. Gradl Kunz
Müller
Frau Pieser Sträßmeir WohlrabeDamit ist der Einzelplan 04 in zweiter Lesung angenommen.
Ich rufe auf:
hier: Einzelplan 05Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts— Drucksache 7/3145 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. BußmannIch danke dem Herrn Berichterstatter für seinen Bericht. — Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort zur Ergänzung? — Das ist nicht der Fall..Wir treten in die Aussprache zum Einzelplan 05 — Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — ein. Das Wort hat der Abgeordnete Picard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir einige wenige Bemerkungen zum Einzelplan 05, die aus der Sicht eines Mitglieds des Haushaltsausschusses gemacht werden sollen und die nicht den Anspruch erheben, eine besondere außenpolitische Bedeutung zu haben. Die Bemerkungen haben sich aus den Haushaltsberatungen ergeben.Das Auswärtige Amt ist seit einigen Jahren bemüht, eine Personalreserve aufzubauen. Wir bedauern, daß die gegenwärtige Finanzlage einen zügigen Ausbau dieser Personalreserve nicht erlaubt. Wir sehen die außerordentlichen Schwierigkeiten, die darin bestehen, daß das Personal im auswärtigen Dienst durch die Personalenge zu unbeweglich ist, als daß man allen Anforderungen gerecht werden könnte. Wir hoffen, daß sich die Bundesregierung in diesem Fall weiter und vielleicht etwas verstärkter, als es bisher geschehen konnte, darum bemüht, die Personalreserve aufzubauen.Zweite Bemerkung. Wir stellen seit Jahren bei Bauten im Ausland in aller Regel eine allzu langsame Durchführung fest, die zu erheblichen Verteuerungen führt. Wir sind der Auffassung, daß intensiver, als es bisher geschehen ist, darüber nachgedacht werden muß, wie man eine Beschleunigung der Bauten im Ausland erreichen kann. Es geht nach unserem Verständnis nicht an, daß durch diesen sehr langsamen Ablauf hinterher teilweise Verteuerungen von 50, 80 oder gar 100 % festzustellen sind und
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11058 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Picardwir im Haushalt einfach nachzuvollziehen haben, was unserer Meinung nach mindestens zum Teil vermeidbar ist. Vielleicht läßt sich das bisherige Verfahren dadurch verändern, daß man mehr als in der Vergangenheit üblich Architekten und Baufirmen des jeweiligen Gastlandes einsetzt und nicht alles zentral von hier aus zu machen bemüht ist. Eine dritte Bemerkung. Wir haben erhebliche Schwierigkeiten bei den Wohnungen für die Mitglieder des auswärtigen Dienstes insbesondere beim Wechsel von einem Dienstort zum anderen. Wir meinen, daß stärker, als bis jetzt geübt, Dienstwohnungen nicht angemietet, sondern gekauft werden sollten. Nach meinen Erfahrungen, auch jüngsten Erfahrungen, in einer Reihe von Botschaften im Ausland trifft das Bedenken, das immer geäußert wird, nicht zu, daß die Angehörigen des auswärtigen Dienstes nicht bereit seien, eine vorhandene Dienstwohnung zu beziehen. Im Gegenteil, sie wären in vielen Fällen dankbar dafür, wenn sie nicht Monate in einem Hotel zubringen müßten, um dann eine teure Dienstwohnung zu finden.Eine vierte Bemerkung zum Bereich der auswärtigen Kulturpolitik. Wir sagen entschieden ja zu der Vielfalt der Mittlerorganisationen im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik.
Wir sind nicht der Auffassung, daß eine Zusammenfassung in einer großen Organisation, ganz gleich, welcher, zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber insbesondere nicht beim Goethe-Institut, eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation mit sich brächte.
Wir meinen, daß die Vielfalt der Mittlerorganisationen im auswärtigen Kulturbereich dem föderalistischen und freiheitlichen Aufbau unseres Staates entspricht und bisher in einer hervorragenden Weise und sehr wirkungsvoll vom kulturellen und sozialen Leben in der Bundesrepublik im Ausland Kenntnis gegeben hat.
Wir möchten deshalb sehr, sehr dringend davor warnen, übereilt oder aus irgendwelchen vielleicht nicht sachbezogenen Gründen eine Konzentration in einer oder in wenigen Organisationen vorzunehmen und das, was sich bewährt hat, einfach willkürlich zu verändern.
Man wird sicher im Laufe des Jahres an Hand des Berichts der Enquete-Kommission Auswärtige Kulturpolitik dieses Hohen Hauses über das, was ich jetzt sehr dezidiert gesagt habe, diskutieren können. Wir meinen aber, daß, auch wenn dieser Bericht noch nicht vorliegt, eine stärkere Koordinierung innerhalb der Mittlerorganisationen möglich ist. Wir bedauern eigentlich, daß die Versuche der Mittlerorganisationen, diese Koordinierung voranzutreiben, vom Auswärtigen Amt nicht gefördert, sondern geradezu inhibiert worden sind.Wir sind des weiteren der Auffassung, wenn in der auswärtigen Kulturpolitik beklagt wird, daß eine mangelnde Koordinierung oder Konzentration vorhanden sei, dann möge man bitte erst einmal im Bereich der Regierung endlich mit dieser Koordinierung oder Konzentration anfangen. Von der berühmten Kulturmilliarde ist ja im Auswärtigen Amt weniger als die Hälfte verankert. Das bedeutet, daß die Hälfte dessen, was es an kulturpolitischen Aktivitäten im Ausland gibt, sich über andere Häuser vollzieht und daß im Auswärtigen Amt keine hinreichende Entscheidungsbefugnis ruht.
Wir meinen deshalb, man sollte endlich darangehen — dies ist ja ein Vorschlag, den schon der Zwischenbericht der Enquete-Kommission enthält —, die Position des Auswärtigen Amtes in diesem Bereich gegenüber anderen Häusern eindeutig abzugrenzen und zu verstärken. Die Koordinierung innerhalb der Bundesregierung erscheint mir dringend nötig. Das würde bedeuten: Die Zusammenfassung aller kulturpolitischen Aktivitäten im Ausland in e i n e m Hause, nämlich im Auswärtigen Amt. Man sollte in diesem Zusammenhang vielleicht anmerken, daß die kulturpolitischen Aktivitäten im Inland auch in einem Hause konzentriert werden sollten. Hier böte sich das Innenministerium an. Auf diesem Gebiet gibt es ja eine in ähnlicher Weise beklagenswerte unterschiedliche Kompetenz.Wir meinen weiter, daß im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik der Personalaustausch zwischen den Mittlerorganisationen einerseit und zwischen der einen oder anderen Mittlerorganisation und dem auswärtigen Dienst andererseits möglich sein muß und auch praktiziert werden sollte.Eine weitere Anmerkung erlaube ich mir zu den Kultur- und Presseattachés. Ich glaube nicht, daß es eine höchst wirksame Übung ist, wenn Kulturattachés und Presseattachés ausschließlich aus dem Kreis der Karrierebeamten kommen. Wir haben einige sehr bekannte und angesehene Kultur- und Presseattachés, die Ausnahmefälle darstellen. In diesen Fällen sind Angehörige des auswärtigen Dienstes als Outsider in diese zwei Bereiche gekommen. Wir sollten dies auch in Zukunft weiter pflegen und nicht meinen, daß der Kulturattaché oder der Presseattaché ein Mann sein müsse, der aus dem auswärtigen Dienst selber stammt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Aber gern!
Herr Kollege, Sie haben vorhin die Kulturinstitute angesprochen. Sind Sie nicht der Meinung, daß hier personell einiges zu verbessern wäre, wenn man z. B. feststellt, daß der letzte Leiter des Goetheinstituts in Rom einen Abend über die Bundesrepublik Deutschland unter dem Thema „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?" veranstaltet hat?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11059
Herr Kollege Dr. Althammer, ich wollte in meinen Bemerkungen noch auf so manche kulturpolitischen Aktivitäten draußen im Ausland eingehen. Das kommt noch.
Ich bin nicht der Auffassung, daß wir hier das Interesse des eigenen Landes und sein Ansehen völlig unberücksichtigt lassen können. Freiheit der Kunst zwingt noch nicht zu einer staatlichen Förderung. Kunst und Kultur im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik müssen natürlich, sofern Anspruch auf Förderung besteht oder erhoben werden kann, die Interessen und das Ansehen des eigenen Landes im Ausland berücksichtigen. Es gibt zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit — diese hatte ich nicht im Auge —, bei denen das nicht geschehen ist. Wir sind eigentlich sehr dankbar für die Haltung des Auswärtigen Amtes, in dem einen Fall im nachhinein und in dem anderen Fall im vorhinein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Friedrich?
Bitte sehr, Herr Kollege Friedrich!
Meinen Sie also, daß man, wie ich gerade hier gehört habe, einen Schriftsteller wie Erich Kästner in der internationalen Arbeit von der Förderung ausschließen sollte?
Herr Kollege Friedrich, ich bin nicht der Meinung, daß man eine Zensur üben sollte. Ich habe deutlich gesagt, daß das Ansehen und das Interesse des eigenen Landes in der Repräsentation unseres Landes im Ausland die Richtschnur für unser Verhalten sein müssen. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Man kann dann in dem einen oder in dem anderen Fall so oder anders entscheiden. Eine Grundlage muß aber gegeben sein. Ich bin durchaus der Meinung, Herr Kollege Friedrich, daß man die Freiheit der Kultur in diesem Lande draußen repräsentieren muß. Sonst könnten wir uns draußen nicht als freie Gesellschaft repräsentieren. Ob man Deutschland aber ausgerechnet unter dem Schlagwort „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?" darstellen muß, ist sehr fraglich. Dieses Schlagwort hat für uns beide eine ganz andere Bedeutung als für jemanden im Ausland, der unser Land noch nicht kennt und dem wir es erst nahe-bringen wollen.Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den deutschen Schulen im Ausland machen. Fast ein Drittel der Mittel, die im Haushalt für auswärtige Kulturpolitik verankert sind, wird durch die deutschen Schulen im Ausland verbraucht. Der Etat der deutschen Schulen im Ausland wächst relativ stark, stärker als der übrige Etat. Wir geraten in die Gefahr, daß der Etat auswärtige Kulturpolitik bewegungsunfähig wird — allein durch die deutschen Schulen im Ausland.Nun verkennt niemand den Wert, den kulturpolitischen Wert der deutschen Schulen; aber er ist beschränkt, nämlich auf die Schüler und -- mittelbar — auf die Eltern. Eine weitere Ausstrahlungskraft haben die deutschen Schulen selten, insbesondere dann nicht, wenn es sogenannte Expertenschulen sind, die ja im wesentlichen oder ausschließlich Kinder von deutschen Staatsbürgern unterrichten.Diese Diskussion möchten wir nicht nur anregen, sondern auch fortgeführt sehen: deutsche Expertenkinder genössen, wenn sie nicht im Ausland, sondern im Inland wären, natürlich hier durch irgendein Bundesland eine schulische Versorgung. Wir sind der Auffassung, daß man intensiv darüber nachdenken muß. Wir regen an, einen Gedanken, der meines Wissens in der Enquete-Kommission ebenfalls erörtert wird, weiter zu verfolgen, nämlich den, die Bundesländer insoweit an der Finanzierung der deutschen Schulen im Ausland zu beteiligen. Es ist nicht Aufgabe des Bundes, deutsche Staatsbürger und deren Kinder schulisch zu versorgen; das ist Aufgabe der Länder. Das ist zwar eine sehr schwierige Frage; aber ich glaube, daß man bei einer hinreichenden Begründung hier gemeinsam mit den Bundesländern zu einer Lösung kommen kann.Von den deutschen Schulen im Ausland komme ich zu einer Bemerkung zu den deutschen Lehrern. Die deutschen Lehrer klagen darüber — meiner Ansicht nach mit Recht; immerhin läuft das jetzt seit 20 Jahren —, daß sie für die Aufgabe draußen nicht hinreichend vorbereitet sind, daß sie zu lange Zeit brauchen, um den an sie gestellten Aufgaben in einem Gastland, das sie in der Regel vorher nicht gekannt haben, gerecht zu werden. Und kaum haben sie sich richtig eingewöhnt, sind sie gezwungen, darüber nachzudenken, was sie tun, wenn sie wieder zurückkommen. Wir sind der Meinung, daß eine hinreichende, gute, gründliche Vorbereitung der deutschen Lehrer zwar ein bißchen Geld kostet, aber im Grunde effektiver ist als das seitherige Verfahren. Wir meinen auch, daß darüber nachzudenken ist, ob es denn bei den bisherigen Entsendungszeiten bleiben muß oder ob man nicht eine größere Zahl von Ausnahmen, als das bis jetzt üblich ist, machen muß.Eine Anmerkung dazu: Kein deutscher Lehrer im Ausland versteht, daß er dort von seinem Heimatland Zeugnis geben soll, daß er dort Deutsch, Deutschkunde, über das soziale und kulturelle Leben unterrichtet, aber kein Wahlrecht hat. Es ist für mich unverständlich, daß es diesem Hohen Hause noch immer nicht gelungen ist, das Wahlrecht für die deutschen Lehrer im Ausland zu erreichen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Abschluß zwar keine Anregung geben, aber doch eine Feststellung treffen. Wir haben aus dem Gesamtetat des Jahres 1975 einen Beitrag von 886 Millionen DM an die Vereinten Nationen zu leisten. Das sind nicht nur Leistungen des Auswärtigen Amts, sondern das sind auch Entwicklungshilfeleistungen, Zahlungen an die Sonderorganisationen wie UNESCO usw. Vor zwei Jahren, als wir noch
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11060 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Picardnicht Mitglied waren, betrug unsere Beitragsleistung nur 500 Millionen DM, wobei aber zu sagen ist, daß der Mitgliedsbeitrag nur den wesentlich kleineren Teil der Steigerungsrate ausmacht. Wenn man die Entwicklung der Vereinten Nationen, die Vertretung unserer Interessen und ihre Berücksichtigung dort verfolgt, muß man — so scheint mir — ernsthaft darüber nachdenken, ob ein solcher Beitrag unter Berücksichtigung der eigenen Interessen und unter Berücksichtigung der Charta der Vereinten Nationen, die ja Ziele enthält, die wir für unser eigenes Land und für andere Völker mit allem Nachdruck verfolgen, vertretbar ist.
Ich persönlich wage das mindestens mit einem Fragezeichen zu versehen.
Ich habe gesagt, ich spreche nicht zur Außenpolitik. Ich habe vielmehr nur Bemerkungen zum Haushaltsplan gemacht. Ungeachtet der bei vielen Gelegenheiten deutlich gewordenen unterschiedlichen Auffassungen in der auswärtigen Politik gehen wir nicht immer auf Konfrontation aus. Selbstverständlich, Herr Minister, sind wir mit einer Reihe von Maßnahmen, die Sie treffen, und mit einer Reihe von Verhaltensweisen einverstanden. Aber Sie sind als Vizekanzler und als Außenminister in einem so hohen Ausmaß an der allgemeinen Politik beteiligt, daß wir es für selbstverständlich halten, bei der Übung zu bleiben: Opposition ist Opposition.) Wir wollen das in Zukunft, wenn wir die Regierung zu übernehmen haben, besser machen. Heute: ein Nein zu Ihrem Etat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bußmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es hätte ja im Anschluß an die Ausführungen des Herrn Kollegen Picard eigentlich nahegelegen, sich zumindest zu enthalten; aber darüber wollen wir keinen Streit anfangen.Nur ganz kurz einige Bemerkungen zu dem, was gesagt worden ist, zunächst einmal zu einem Problem, das uns alle angeht, weil das Parlament seinerzeit eine Enquete-Kommssion eingesetzt hat, um die Probleme der auswärtigen Kulturpolitik zu klären. Diese Enquete-Komission wird wohl im Laufe dieses Sommers ihren Bericht vorlegen, und wir Sozialdemokraten möchten sie hier nicht durch eine einseitige Erklärung binden.Wir halten es auch für richtig, daß das Amt in seinem eigenen Interesse an die Mittlerorganisationen auf dem Gebiet der Kulturpolitik bestimmte Forderungen heranträgt. Soweit und solange diese Forderungen darauf gerichtet sind, daß Doppelarbeiten vermieden werden, daß Geld nur einfachund nicht doppelt und dreifach ausgeben wird, daß eine Rationalisierung im Sinne besserer Vertretung unserer auswärtigen Kulturpolitik verfolgt wird, solange die Wünsche des Auswärtigen Amtes dahin gehen, sollte man auch akzeptieren, daß unter Umständen organisatorische Veränderungen im Bereich der Mittlerorganisationen eintreten.Wir haben gestern und vorgestern aus den Zeitungen etwa ersehen können, daß es mit unserem Beitrag bei der derzeitigen Moskauer Ausstellung gar nicht zum Besten steht. Das ist ja keine reine Industrie- und Verkaufsausstellung, sondern sie soll auch das deutsche Leben repräsentieren, so wie der Bürger lebt und wie die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland sind. Das Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart hat den deutschen Bürger mit seinen Fahrzeugen jedenfalls ausreichend repräsentiert gesehen, wenn dort ein Mercedes 4,5 Liter vorgeführt wurde. Das stellt sicherlich nicht das dar, was über unser Land, über seine Menschen und deren Lebensverhältnisse gesagt werden sollte. Das heißt, hier sollte man sich einmal besonders ansehen, ob es richtig ist, daß sich ein einzelnes Institut ausschließlich mit Ausstellungen beschäftigt, ob hier nicht eine Zusammenfassung mit anderen Dingen, mit anderen Organisationen notwendig wäre, damit das ganze Spektrum dessen, was auswärtige Kulturpolitik ist — Verbreitung des Bildes von Deutschland, von seinen Menschen im Ausland —, erfaßt wird.Noch eine Bemerkung zum Problem der Personalreserve: Es ist richtig, der Bundestag hat seinerzeit gesagt, das Auswärtige Amt braucht, damit seine Diplomaten draußen die ausreichende Vorlaufzeit und Ausbildung für den diplomatischen Dienst haben, eine Personalreserve für die im diplomatischen Dienst ausgewiesenen Stellen von etwa 8 %; dann gibt es einen Vorlauf in der Zeit der Ausbildung, dann können sich die Leute hier für ihre spätere Tätigkeit ausbilden. Hier kommen nun die allgemeinen wirtschaftlichen und haushaltsmäßigen Schwierigkeiten. Wir alle haben ja Gott sei Dank in diesem Jahr zum erstenmal damit angefangen, den Trend zurückzudrehen; zum erstenmal gehen die Personalausgaben im Bund insgesamt zwar geringfügig, aber doch um etwa 0,5 % zurück, wenn wir die 500 Stellenstreichungen dieses Jahres sehen und wenn wir die kw-, also die künftig wegfallenden Stellen sehen, die insgesamt im Bundeshaushalt im Laufe des Haushaltsjahres 1975 anfallen. Dem konnte sich auch das Auswärtige Amt nicht entziehen. Es ist eine Stagnation des Personals, ja; wenn keine dringenden neuen Forderungen hinzukommen, werden wir am Ende des Jahres auf Grund der Einsparauflage drei Stellen weniger haben als zu Anfang des Jahres.
Es könnten natürlich neue Aufgaben hinzukommen, die zwingend eine Nachforderung mit sich bringen. Nichtsdestoweniger müssen wir hier auch im auswärtigen Dienst auf äußerste Sparsamkeit achten und darauf dringen, daß der Apparat sich nicht aus-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11061
Dr. Bußmannweitet. Das Auswärtige Amt hat jetzt auch einige hervorragende Möglichkeiten, selbst zu rationalisieren. Wir haben die Reform der Auslandsbesoldung vor kurzem im Parlament verabschiedet, und die große Legationskasse des auswärtigen Dienstes, wo so viele Stellen sind, kann vielleicht jetzt von einigen entlastet werden, damit diese Leute anderswo eingesetzt werden können.Was unsere Schulen im Ausland anbetrifft, so liegt das voll in der Kompetenz des Bundes, und die Mittel dafür — das ist richtig, Herr Kollege Picard — können nicht beliebig vermehrt werden. Allerdings müssen wir uns an eines erinnern: sie sollten dann auch nicht irgendwo ausgegeben werden, wo nicht Ausland ist. Wir haben einen Ministerpräsidenten in diesem Lande, im Schwarzwald, nein, in Baden-Württemberg, der Herr Filbinger, der glaubt, im eigenen Land und in eigener Souveränität auswärtige Politik machen zu können. Er gründet nicht nur auf Kosten des Bundes deutsch-französische Gymnasien. Er versucht sogar, auswärtige Kulturpolitik zu betreiben, indem er auswärtige Universitätsgründungen anregt, wobei er gewissermaßen Geschäftsführung ohne Auftrag vornimmt
und zweifellos in die Kompetenzen des Bundes eingreift.
Die Aufgabe kann durchaus sinnvoll sein. Aber wenn sich der Herr etwas mehr um die Angelegenheiten des Landes, dessen Ministerpräsident er ist, bekümmerte und weniger die Lust in die Weite hätte, um dort auswärtige Kulturpolitik und im eigentlichen Sinne — —
— Gewiß! Herr Kühn ist Vorsitzender der FriedrichEbert-Stiftung. Aber dem ist es noch nicht eingefallen, auf Madagaskar deutsche Universitäten zu gründen. Das war bisher Herrn Filbinger vorbehalten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes ?
Ja, bitte!
Herr Kollege Bußmann, ist Ihnen bekannt, daß Ministerpräsident Filbinger als Vorgänger des Herrn Regierenden Bürgermeisters Schütz der Beauftragte der Bundesrepublik Deutschland für die deutschfranzösischen Kulturbeziehungen ist?
Natürlich.
— Sie müssen es ja ganz genau wissen. — Natürlich war er der Beauftragte für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Nur war es einmalig in der Geschichte der deutsch-französischen Kulturbeziehungen, daß ein Beauftragter, der gleichzeitig Ministerpräsident ist, für sein Schulsystem und für seine Schulen in seinem Lande Beträge aus dem Haushalt „Auswärtige Kulturpolitik" abzweigte.
Das hat Herr Schütz allerdings nicht getan, obgleich es dort ein französisches Gymnasium von großer Tradition als Neugründung eventuell hätte geben können; das wissen Sie ja. Herr Schütz, Herr Kühn oder irgendein anderer Ministerpräsident hat es bisher auch nicht für sinnvoll gehalten, als Reisender in Kulturpolitik Versprechungen zu machen, die darauf hinauslaufen, große Bildungsprojekte anderswo und nicht in seinem Lande zu installieren.
Jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen. Wir haben im Haushaltsausschuß auch ein anderes Problem in der Hand gehabt. Dieses Problem war der Ausbau der Universitäten in diesem Lande und insbesondere der Ausbau der medizinischen Fakultäten. Dabei, haben wir z. B. festgestellt, daß die medizinischen Fakultäten über lange Zeiten hinweg eine zurückgehende Studentenzahl hatten. Inzwischen hat das wieder angezogen. Aber im Lande dieses Herrn Filbinger ist es nach wie vor so,
daß die Zahl der medizinischen Studienplätze an den Universitäten zurückgeht. Wenn der Herr Filbinger sich ein bißchen darum kümmerte und etwas weniger um die auswärtige Kulturpolitik, wäre das vielleicht eine großartige Sache.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Czaja?
Oh ja!
Herr Kollege, haben Sie auch nur irgendeinen Schimmer eines Beweises dafür, daß Ministerpräsident Filbinger finanzielle Mittel für die Universität in Persien angeboten hat, oder müssen Sie nicht vielmehr zugeben, daß er jungen deutschen Wissenschaftlern auf Wunsch des Kaiserreiches Persien die Möglichkeit geben wollte, dort, so wie es die dortige Regierung wünschte, in deutsch-persischer Kooperation wissenschaftlich tätig zu werden, und warum beanstanden Sie das?
Herr Filbinger hat Geschäftsführung ohne Auftrag betrieben in dem Sinne, daß er Bestellungen in Auftrag gab und die Bezah-
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Dr. Bußmannlung der Rechnungen anderen zuwies. Das ist gar keine Frage.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sauer?
Bitte schön!
Herr Kollege, würden Sie mir nicht recht geben, daß im Vergleich zu Frankfurt und Berlin die Universitäten Heidelberg und Freiburg heute in einem hervorragenden Zustand sind, gerade unter dem Ministerpräsidenten Filbinger?
Das gehört nicht zum Thema, das gebe ich zu; aber ich bin angesprochen. — Dann soll sich Herr Ministerpräsident Filbinger doch einmal darum bekümmern, daß ein wirklicher Notstand an den medizinischen Fakultäten dieses Landes besteht. Herr von Weizsäcker war es, der heute beklagte, in welcher Weise unsere jungen Leute unter Leistungsdruck gesetzt werden, weil der Numerus clausus an den Schulen sie zwingt, groteske Notendurchschnitte zu erzielen, um etwa in diesen ganz engen Fächern zugelassen zu werden. Und was hat der Herr Filbinger getan? Er hat jedenfalls nicht genügend Obacht darauf gegeben, daß an den Universitäten seines Landes die Studienzahl nicht in dem Maße zurückging,
wie es gegen Sinn und Vernunft war. Lassen Sie sich doch ,von Ihren Kollegen im Haushaltsausschuß aufklären! Die Dinge liegen auch schriftlich vor. Sie können es im einzelnen für die Universitäten dieses Landes verfolgen, und vielleicht, wenn Sie aus dem Lande sind, können Sie auch die Ursachen dafür finden, wieso eigentlich die Entwicklung in diesem Lande so extrem verlaufen ist. Das wäre doch ganz interessant.
Gestatten Sie noch eine Zusatzfrage des Herrn Kollegen Sauer?
Herr Kollege, haben Sie nicht bemerkt oder wollten Sie nicht bemerken, daß ich auf den inneren Zustand der Universitäten Heidelberg und Freiburg im Vergleich zu Berlin und Frankfurt angespielt habe?
Ich habe nicht auf den inneren Zustand angespielt, ich habe darauf angespielt, wie sehr das Land über seine Aufsichtsinstanzen einwirken kann. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben. Hier die Kollegen, der Kollege Althammer und ich und all die Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, haben z. B. beschlossen, was der Herr Filbinger längst hätte tun können. Wenn das so weitergeht und im nächsten Jahr die ausreichende Kontrolle des Landesrechnungshofes nicht vorliegt und die sinnvolle Verwendung von Mitteln im Sinne von Vermehrung der Studienplätze nicht erfolgt, können wir die Mittel für den Hochschulbau nicht mehr im bisherigen Maße bewilligen. Das wäre eine Möglichkeit für Herrn Filbinger gewesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Czaja?
Herr Kollege, können Sie widerlegen, daß das Land Baden-Württemberg pro Kopf der Bevölkerung die meisten Hochschul- und Universitätsplätze aller Länder der Bundesrepublik Deutschland hat, und würden Sie sich, wenn Sie das nicht widerlegen können, bei Ihren SPD-Kollegen aus Baden-Württemberg, die auch im Landtag Ausführungen dazu gemacht haben, informieren?
Dr. :Bußmann : Herr Czaja, das sagt ja nichts gegen die rückläufige Bewegung an den Universitäten im Fach Medizin, die ich angeführt habe.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Althammer. Ich glaube, dann fahren wir fort in der Diskussion.
Herr Kollege, weil Sie mich schon angesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen nicht bekannt ist, daß das Problem der fehlenden Studienplätze im Bereich der Medizin keineswegs mit dem Lande Baden-Württemberg zu tun hat, sondern daß das von uns generell behandelt wurde.
Natürlich, es ist generell behandelt worden.
Aber, Herr Althammer, ich wollte ja auch keine ausgedehnte Diskussion darüber. Ich bin eingegangen auf die besonderen kulturpolitischen Aktivitäten des Ministerpräsidenten Filbinger in Teheran und als Beauftragter für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Dann habe ich angeführt: Wenn sich der Herr Filbinger etwas intensiver um Mißstände in seinem eigenen Lande gekümmert hätte, stünden wir im Fach Medizin besser da. Daß sich das so ausgedehnt —, na, ja, fragen wir Herrn Czaja, der weiß auch, warum. Ich möchte dieses Thema aber jetzt nicht weiter verfolgen; meine Zeit ist auch fast abgelaufen.
— Ich bin auf Herrn Filbinger eingegangen. Ich binnicht gegen Universitäten, die mit unserer Hilfe imAusland gefördert werden. Aber hier sitzt die ver-
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Dr. Bußmannantwortliche Stelle; sie ist nicht in der Staatskanzlei in Stuttgart. Das müssen Sie doch einsehen.
Ich will nicht weiter auf diese Dinge eingehen.Ich habe die Personalreserve angesprochen und unsere Haltung zum Problem des Abschlußberichtes der Enquete-Kommission für auswärtige Politik. Ich kann nur sagen: Die sozialdemokratische und die freie demokratische Fraktion — für diese spricht niemand mehr — werden diesem Haushalt zustimmen, nicht nur wegen der Korrektheit des Zahlenmaterials, sondern auch wegen der Vernünftigkeit der Außenpolitik, die dahintersteht.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache zum Einzelplan 05.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 05, Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das ist eine eindeutige Mehrheit für die Annahme.
Ich rufe den Einzelplan 06 auf und verbinde damit wie üblich den Aufruf des Einzelplans 36:
Einzelplan 06
Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern
— Drucksache 7/3146 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Riedl Abgeordneter Möller (Lübeck) Abgeordneter Dr. von Bülow
Einzelplan 36
Zivile Verteidigung
— Drucksache 7/3166 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Möller
Ich danke den Berichterstattern. Wünschen die Berichterstatter als Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Riedl .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesministers des Innern 1975, den wir jetzt in dieser etwas späten Stunde zu beraten haben, schließt in der Gesamtsumme mit 2,219 Milliarden DM ab. Die Steigerungsrate gegenüber 1974 beträgt bescheidenerweise nur rund 3,2 %. Sie liegt deutlich unter der Steigerungsrate des Gesamthaushalts.Der Anteil der Personalkosten beträgt rund 51,4 %, der der Investitionen nur 21,2 % und der des konsumtiven Bereichs 27,4 %. Diese wenigen Zahlen beweisen, daß dieser Einzelplan 06 in seiner Struktur vorrangig ein Verwaltungshaushalt ist, bei dem der disponible Bereich sehr eng angelegt ist.Die Ausgabenschwerpunkte liegen im Bereich des Umweltschutzes, in der Sportförderung, in der kulturellen Förderung, bei der politischen Bildung, im Bereich der Vertriebenen und Flüchtlinge, zu dem mein Kollege Dr. Czaja noch sprechen wird, und im Bereich innere Sicherheit. Wir waren uns im Haushaltsausschuß der Bedeutung der einzelnen Aufgabenbereiche beim Einzelplan 06 bewußt, und wir haben den Minister seitens der CDU/CSU in dieser Hinsicht weitgehend unterstützen können; denn es handelt sich um Aufgaben, die für das Staatsganze von wesentlicher Bedeutung sind.Dennoch kann man sich verständlicherweise nicht kritiklos mit allem einverstanden erklären, was letztlich seinen Niederschlag im geschriebenen Text des zur Debatte stehenden Einzelplanes gfunden hat. Lassen Sie mich deshalb aus der Sicht meiner Fraktion einige Anmerkungen machen.Erstens. Die für die Umweltpolitik bereitgestellten rund 353 Millionen DM zuzüglich der 295 Millionen DM aus ERP-Mitteln und insbesondere der hohe Anteil an Forschungsmitteln daran verlangen, daß 1975 deutliche Fortschritte bei der Verbesserung der Umweltbedingungen auch nach draußen sichtbar werden. Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung werden von uns zwar durchaus anerkannt; mit der Verabschiedung von Gesetzesvorhaben allein — ich nenne jetzt beispielsweise das Abfallbeseitigungsgesetz oder das Immissionsschutzgesetz — ist es nicht getan. Die Ausführungsvorschriften müssen nach unserer Auffassung, Herr Minister, zügiger folgen, um die Umweltbedingungen verbindlich und spürbar zu verbessern. Wir haben den Eindruck, daß Ankündigungen und Tatsachen kongruenter werden müssen.Darüber hinaus sollte der Bund nicht zögern, sich im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Kompetenz mehr den investiven Bereichen des Umweltschutzes zuzuwenden. Als ermunterndes Beispiel darf ich auf das im Haushalt bereits enthaltene Rhein-BodenseeSanierungsprogramm hinweisen, mit dem der Bund den Anliegerländern mit einem Betrag von 150 Millionen DM in fünf Jahren eine Anstoßfinanzierung zur Reinhaltung des Rheins und des Bodensees gewährt hat.Modellvorhaben im stark rückständigen Abfallbeseitigungsbereich müssen ebenfalls baldmöglichst folgen. Daß dabei der Schwerpunkt bei der Wiederverwendung des Mülls im Rohstoffkreislauf gesetzt werden muß, verstehen wir von selbst. Diese Aufforderung, Herr Minister, darf aber bitte nicht so verstanden werden, daß jetzt von Ihnen Mehranforderungen an den Haushalt kommen, sondern wir erwarten, daß die vorhandenen beträchtlichen Forschungsmittel umgeschichtet werden.Wir sind der Meinung — da bin ich auch mit meinem Kollegen Walther von der SPD und dem Kol-
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Dr. Riedl
legen von der FDP in Übereinstimmung —, daß wir im Umweltsbereich seitens Ihres Hauses viel zuviel forschen und noch viel zuwenig praktische Arbeit leisten. Wir hoffen, daß das im Jahre 1975 besser wird.Das Parlament erwartet aber auch in zunehmendem Maße sichtbare Anstöße vom Umweltbundesamt, das in diesem Jahre mit 93 neuen Stellen rechnen kann. Und damit auch hier Klarheit besteht: Eine weitere Verwaltungsbehörde wollen wir nicht. Wir wollen eine wissenschaftliche Einrichtung, die der Regierung die wissenschaftlichen Erkenntnisse zuarbeitet, die sie sich zur Zeit mit sehr viel Geld draußen auf dem Markte beschaffen muß.Auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit undauch dieser Bereich schlägt sich im Einzelplan 06 nieder — wird von uns zügiges Handeln bei der Genehmigung von neuen Kernkraftwerken unter absoluter Priorität der Sicherheit der Bürger erwartet. Wir haben den Eindruck, daß es beim jetzigen Tempo und vor allem bei der jetzigen Organisation der Genehmigungspraxis kaum erreichbar sein wird, den Ankündigungen in der Fortschreibung der Bundesregierung zum Energieprogramm zu entsprechen, wonach nämlich im Jahre 1985 45 % der gesamten Stromerzeugung in der Bundesrepublik Deutschland — das sind etwa 45 000 bis 50 000 Megawatt über Kernkraftwerke abgedeckt werden sollen. Zur Zeit sind es lediglich 4 %; das sind etwa 2 300 Megawatt.Das Parlament und insbesondere meine Fraktion erwarten, daß die Bundesregierung schnellstens ihre Forschungskapazitäten neu organisiert. Das Geld dafür ist vorhanden.Umweltschutz ist auch in der jetzigen schwierigen finanziellen und energiepolitischen Situation eine Herausforderung an uns alle. Ich hoffe, Herr Minister, daß Sie diesen Hinweis entsprechend in Ihrem Hause in die Tat umsetzen. Wir wollen auch den Sachverständigenrat für Umweltfragen ermutigen, nachhaltig mit Vorschlägen in das Räderwerk der Verwaltung einzugreifen.Zweitens. Im Bereich des Sports, meine sehr verehrten Damen und Herren wir haben ja vor kurzem hier eine Sportdebatte gehabt; ich kann mich deshalb verhältnismäßig kurz fassen --, ist allerdings die Aussage angebracht, daß der Staat seinen Beitrag für einen Erfolg voll erbracht hat. Mit Staat meine ich hier Bund, Länder und Gemeinden. Die finanzielle Ausstattung für den Sport ist auch im Haushalt 1975 so, daß — aus unserer Sicht gesehen der Bund seinen finanziellen Verpflichtungen voll nachkommen kann. Dies wird auch in Kreisen des Sports bestätigt. Aber es ist unbestrittenermaßen die Aufgabe des Sports, diesen Aufwand entsprechend zu rechtfertigen.Der Sport ist angesprochen, wenn es beispielsweise um die Vorbereitung von Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen — wie 1976 in Montreal -- geht. Wir müssen vom Sport erwarten, daß er alle Kraft auf die Verbesserung der sportlichen Leistungen konzentriert. Wir alle machen uns auch im Haushaltsausschuß und im Sportausschuß Gedanken darüber, daß ausgerechnet in den Sportarten, wo wir hochmoderne Leistungszentren haben und wo die Technik praktisch nicht mehr zu überbieten ist, die Leistungen nachlassen und die Zahl der Medaillen geringer wird. Hier ist etwas faul, aber nicht auf unserer Seite, sondern auf seiten des Sports. Hier muß der Sport, insbesondere auch im Hinblick auf eine bessere Motivation, die entsprechenden Konsequenzen ziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Blick in den Haushalt zeigt auch — und ich komme auf dieses Thema nochmals zu sprechen; wir haben es schon im Vorjahr abgehandelt , daß jetzt zum erstenmal im Haushalt keine Mittel mehr für den Goldenen Plan ausgewiesen sind. Ich verhehle meine Kritik an den Ländern erneut nicht, die im Grunde genommen daran schuld sind, daß diese außerordentlich segensreiche Finanzierungsquelle für unsere Vereine nicht mehr fließen kann. Ich halte es für ganz unglücklich, daß wir seitens des Bundes örtliche Sportanlagen für den Breitensport seit diesem Haushaltsjahr, seit dem 1. Januar 1975, nur noch im Zonenrandgebiet fördern können. Wenn es uns nicht gelingt, die fehlende Mitfinanzierung von Sportstätten seitens des Bundes durch erhöhte Anstrengungen der nunmehr allein zuständigen Länder auszugleichen, so müssen Wege gefunden werden, hier zu differenzierteren Formen der Bundesmitfinanzierung zu kommen.
Drittens. Im Haushalt 1975 findet sich, wie bereits im Haushalt 1974, wiederum nur ein Leertitel für die schon in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers 1972 angekündigte Deutsche Nationalstiftung. Ich meine Herr Minister, daß genug Ankündigungen erfolgt sind und daß nun endlich Taten folgen müssen. Ich hoffe zuversichtlich, daß es der Bundesregierung und den Ländern bei allen gebotenen Rücksichtnahmen gelingt, noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für die Errichtung der Nationalstiftung — und zwar in Berlin; das ist die erklärte Meinung meiner Fraktion — zu schaffen, damit sie 1976 ihre Arbeit tatsächlich aufnehmen kann.
Wir stellen mit Bedauern fest, meine Damen und Herren, daß im Haushaltsausschuß ein entsprechender Antrag der CDU/CSU von der Koalition abgelehnt worden ist.
Viertens. Lassen Sie mich auch ein Wort zur Situation beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sagen. Sie alle erinnern sich der Schwierigkeiten in Zirndorf, die dadurch beseitigt werden konnten, daß 1974 durch Beschluß des Haushaltsausschusses 17 neue Planstellen für die Spruchinstanzen geschaffen wurden. Flankierend haben sich nunmehr auch die Innenminister der Länder über ein neues Verfahren zur Verteilung der Asylsuchenden geeinigt. Eigentlich war es längst Zeit, daß dies erfolgen konnte. Hierdurch ist sowohl im
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Dr. Riedl
Asylverfahren als auch im Lager Zirndorf eine spürbare Entlastung eingetreten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Zahl der Asylsuchenden seit 1974 wieder ständig steigt. Wir bitten die Bundesregierung, alles zu tun, damit sich die gebesserten Verhältnisse nicht wieder allmählich verschlechtern.
Fünftens. Soweit es sich um diese relativ übersichtlichen und politisch unbestrittenen Bereiche handelt, könnte die CDU/CSU ihre Zustimmung zu diesem Haushalt sicher mit guten Gründen nicht verweigern. Anders ist dies allerdings im Bereich der inneren Sicherheit. Hierzu lassen Sie mich einige Ausführungen machen.Diese Opposition hat ihre gerade im Bereich des Bundesministeriums des Innern in den vergangenen Jahren immer wieder konstruktiven Beiträge geleistet.
Sie war und ist bereit, durch ein zustimmendes Votum eine gute Politik mit zu tragen. Außer 1974 — der Herr Minister Genscher, der leider nicht hier ist, wird das sicherlich noch in Erinnerung haben — hat die CDU/CSU dem Einzelplan 06 immer zugestimmt. Auch die großen Gesetzgebungsvorhaben im Bereich der inneren Sicherheit sind von uns mitgetragen und zu einem Anliegen aller Parteien gemacht worden: Verfassungsschutzänderungsgesetz, Bundesgrenzschutzgesetz, Bundeskriminalamtsgesetz und Waffengesetz. Bei diesem Haushalt und bei diesem Minister ist uns dies zu unserem Bedauern aber leider nicht möglich.Ich betone, unsere Kritik richtet sich nicht gegen die Ansätze im Haushalt, sondern sie richtet sich gegen den politischen Inhalt und den Geist, mit dem diese Regierung und dieser Minister Sicherheitspolitik betreiben.
Gerade beim Kernstück des Einzelplans 06, der inneren Sicherheit, befällt uns tiefes Unbehagen, obwohl der Bundesinnenminister in der Sicherheitsdebatte am 13. März 1975 Erfolgsbilanzen über die Steigerung von Mitteln und Stellen im Sicherheitsbereich genannt hat. Diese werden von uns, ich sagte es schon, nicht bestritten. Aber auch dies ist das Ergebnis gemeinsamer Arbeit von Regierung, Opposition und nicht zuletzt der Länder.Sie, Herr Minister Maihofer, haben von politischer Herkunft und langjähriger eigener Aussage daran kaum ein originäres Verdienst. Sie haben jahrelang als Professor ein politisches Programm der sogenannten Demokratisierung und Humanisierung der Gesellschaft vertreten, das schon frühzeitig Ihre Einstellung zur streitbaren Demokratie, insbesondere zu den Fragen der inneren Sicherheit, belastete. In den Jahren 1962 und 1963 erschienen Ihre Beiträge über politische Justiz in den kommunistisch beeinflußten „Blättern für deutsche und internationale Politik". Anfang der sechziger Jahre tauchte der heutige Bundesinnenminister unter den Gegenern der Notstandsgesetzgebung auf, und wenig später erkor der Professor Maihofer die Liberalisierung des Strafrechts zu seinem Anliegen, das er an führender Stelle im Kreis der sogenannten Alternativprofessoren betrieb. Sie, Herr Minister, gehören unbestrittenermaßen zu denen, die durch ihre Radikalkritik an Institutionen und Regelungen unseres Staates das Klima für die Studentenrevolte und ihre extremistischen Auswirkungen in unserer Zeit mit geschaffen haben. Der Professor Maihofer ist dafür in einschlägigen Studentenkreisen noch heute ein echtes Gütezeichen, und Ihre Einstellung zu diesen Fragen, Herr Minister, hat sich in den letzten Jahren — es ehrt Sie, daß Sie das gar nicht bestreiten — nicht wesentlich geändert.
Für Sie reduziert sich, wie in der Rede vor dem Bundeskriminalamt am 15. Juli 1974 geäußert, moderne Kriminalpolitik auf Resozialisierung. Damit aber, Herr Minister, geraten Sie in schwere Bedrängnis, wenn es sich, wie beispielsweise bei den anarchistischen Gewalttätern der Baader-Meinhof-Bande oder der Bande „Bewegung des 2. Juni" herausstellt, daß jeglicher Ansatz für eine Resozialisierung zum Scheitern verurteilt ist, weil diese Täter fanatisch ihr Ziel, nämlich die Revolution, im Auge haben und nicht die Resozialisierung.
Ja, Herr Kollege, das kann er nicht bestreiten; denn diese Rede hat er vor dem Bundeskriminalamt gehalten. Wenn Sie mir Ihre Heimatadresse geben, schicke ich Ihnen diese Rede gerne zu. Dann können Sie das am Wochenende einmal nachlesen.
-- Ich gebe die Hoffnung nie auf, wenn es darum geht die Auffassung ehrenwerter Kollegen zu ver- bessern.So, Herr Minister, wie Sie nicht bereit sind, auf Grund dieser Erfahrungen Ihr Konzept einer liberalistischen Kriminalpolitik zu revidieren, sind Sie auch nicht geneigt, die Gefahren, die Von seiten des politischen Extremismus in der Bundesrepublik drohen, realistisch zu sehen und als für die innere Sicherheit zuständiger Minister alles zu unternehmen, urn dieser Gefahr wirkungsvoll zu begegnen. Sie führen nach wie vor den Chor der Verharmloser an.Im Zusammenhang mit der Vorlage des Verfassungsschutzberichts 1973 erklärten Sie wörtlich:Weder der Rechtsextremismus noch der Linksextremismus stellt gegenwärtig eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.Sie erklärten im WDR II am 11. 7. 1974 wörtlich — Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung darf ich zitieren —:Wir haben einen erheblichen Rückgang an terroristischen Aktivitäten, sowohl der schweren als auch der leichteren Gewalttätigkeiten von terroristischen Organisationen.
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Dr. Riedl
Als Begründung gaben Sie weiter an, das hänge nicht nur mit erheblichen Sicherheitsvorkehrungen zusammen, sondern auch damit — wörtlich -,daß die Zellen solcher terroristischer Aktivitäten doch ganz erheblich geschrumpft sind.Das alles, Herr Minister, steht in direktem Widerspruch zu dem gleichzeitig vorgelegten Verfassungsschutzbericht, den ich im einzelnen hier gar nicht zu zitieren brauche und nicht zitieren kann. Erstens kennen Sie ihn, und zweitens reicht leider die Zeit dazu nicht aus.Das in vielen Beispielen deutlich gewordene distanzierte Verhältnis des Bundesinnenministers zu den elementaren Belangen der inneren Sicherheit dieses Staates macht die Problematik seiner politischen Verantwortlichkeit für diesen Bereich offenkundig. Wenn der Minister, statt die Frage eines möglichen Verbots radikaler Gruppen auch nur zu prüfen, dies kategorisch ablehnt, weil er die Radikalen angeblich in der politischen Auseinandersetzung bekämpfen will, so weckt er Zweifel an seiner Redlichkeit, wenn er diese Auseinandersetzung nicht nur verabsäumt, sondern häufig genug um Verständnis für die gesellschaftskritische Motivation der Radikalen wirbt. Ein Innenminister, der wie Herr Maihofer in diesem Zusammenhang von „schändlichen Versäumnissen in der politischen Bildung" spricht — das haben Sie geäußert in der Frankfurter Rundschau vom 5. 8. 1974 —, wird unglaubwürdig im Hinblick auf die Belange der inneren Sicherheit, wenn unter der Verantwortung seines Ministeriums die Bundeszentrale für politische Bildung entgegen ihrem Auftrag — der wörtlich heißt, „demokratisches Bewußtsein zu festigen" — Systemveränderern, die den hohen Stellenwert der politischen Bildung erkannt haben, den „Marsch durch die Institutionen", wie es so schön heißt, ermöglicht. Herr Minister, Ihr Konzept eines sozialen Liberalismus bzw. eines liberalen Sozialismus in einer menschlicheren Gesellschaft bedingt offenbar eine derartige Toleranzgrenze gegenüber Gegnern und Kritikern dieses Staates, daß Sie Ihrer Aufgabe als Verfassungsminister nicht gerecht werden können, wenn Sie gleichzeitig freiheits- und demokratiefeindliche Theorien zu integrieren versuchen, so wie es in Ihrem Buch „Demokratie im Sozialismus" nachzulesen ist.Den Belangen der inneren Sicherheit können Sie als verantwortlicher Minister nach unserer Auffassung nicht entsprechen, und deshalb können wir Ihnen die Zustimmung zu diesem Haushalt nicht geben.Während der Amtsführung des jetzigen Ministers kann der Bürger draußen im Lande das ungute Gefühl nicht loswerden, daß den Feinden unseres Staates und der demokratischen Grundordnung nicht entschlossen genug entgegengetreten wird.
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Schäfer[Tübingen] [SPD] : Wären Sie doch bei derPost geblieben!)— Das würde ihnen so passen, Herr Schäfer.Die Steigerungsraten beim Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesgrenzschutz vermögen über die wahre Haltung dieser Regierung und dieses Ministers zum Problem der Abwehr von Verfassungsfeinden nicht hinwegzutäuschen. Solange Herr Nollau, Ihr Protektionskind, Herr Wehner,
an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz steht, muß die Seriosität des Verfassungsschutzes und damit das Vertrauen in diese so wichtige Institution angezweifelt werden. Und, Herr Minister Maihofer, ich frage Sie: Was muß eigentlich noch geschehen, bis dieser Mann endlich gegangen wird?
Ein weiteres negatives Kernstück Ihrer Amtsführung ist die Behandlung des Komplexes der Beschäftigung Radikaler im öffentlichen Dienst. Was ist denn aus dem guten Ansatzpunkt des sogenannten Ministerpräsidentenbeschlusses vom Januar 1972, der in Zusammenfassung das geltende Recht beinhaltet und der von allen Ministerpräsidenten einschließlich des gescheiterten Bundeskanzlers Brandt getragen worden ist, eigentlich geworden? Geben Sie doch auch hier heute abend dazu eine klare Antwort!Die Wahrheit ist, daß der Widerstand in Ihren eigenen Reihen Sie gezungen hat, Stück für Stück von der gemeinsamen Basis abzurücken. Sie präsentieren uns jetzt einen Gesetzentwurf, der, gelinde gesagt, die Dinge auf den Kopf stellt.
Es ist doch geradezu abenteuerlich, Herr Schäfer, feststellen zu müssen, daß ein überzeugendes Indiz für die verfassungsfeindliche Gesinnung eines Bewerbers
— hören Sie es sich nur an, damit Sie sich draußen auch richtig informiert äußern können —, nämlich seine Zugehörigkeit zu extremistischen Organisationen, für die Ablehnung letztlich nicht ausreichen soll, sondern dem Staat die Beweislast dafür auferlegt wird, daß ein Angehöriger einer offensichtlich gegen die demokratische Grundordnung gerichteten Organisation damit auch verfassungsfeindlich handelt. Solange Sie, Herr Minister, und diese Regierung sich nicht eindeutig und unmißverständlich von solchen Gedanken distanzieren und dies auch nicht in den kommenden Gesetzesvorhaben zum Ausdruck bringen — wir erwarten auch einige Antworten heute abend auf die an Sie gestellten Fragen --,
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Dr. Riedl
können wir von der CDU/CSU dem Haushalt des Bundesministers des Innern nicht zustimmen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Walther.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Riedl hat in der Tat mein Bedauern über das, was er für seine Fraktion sagen mußte. Verehrter Herr Kollege Dr. Riedl, Sie mußten hier eine Ablehnung begründen, von der Sie doch selber nicht überzeugt sind.
Sie sind hier doch nach der Sonthofener Handlungsanweisung verfahren: Nur anklagen und warnen, aber keine konkreten Rezepte nennen!
Sie haben sich damit Ihrem großen Vorsitzenden gebeugt.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition — wir haben das im vergangenen Jahr schon erlebt —, auf dem Minister Maihofer herumhacken, dann habe ich den Eindruck: Er ist in der Tat Ihr Lieblingsfeind aus den Reihen der Liberalen, weil er zu jenen gehört, die das Bündnis der Liberalen mit den Sozialdemokraten für historisch halten.
Meine Damen und Herren, ich erkläre hier für meine Fraktion: Dieser Minister hat unser volles Vertrauen
und hat in seiner Amtszeit gezeigt, was er kann.
Er hat beispielsweise in den so schwierigen Stunden der so schlimmen Berliner Ereignisse gezeigt, daß er gerade auf dem Gebiet der inneren Sicherheit auf der Höhe ist.Was lehnen Sie denn hier ab, meine Damen und Herren von der Opposition? Sie lehnen in der Tat all das ab, was sich zahlenmäßig im Kapitel innere Sicherheit niederschlägt. Wir haben in der letzten Woche ausführlich über den Zusammenhang zwischen innerer Sicherheit, Reformfähigkeit und Reformwilligkeit einer Gesellschaft gesprochen und auch darauf hingewiesen, daß Leute, die Sonthofener Doktrinen verkünden, die Angst-, Panik- und Verleumdungstheorie zur Maxime ihrer marktstrategischen Überlegungen machen, kein Rezept zur Überwindung terroristischer und anarchistischer Aktivitäten haben,
ja, diese möglicherweise für die Durchsetzung ihrer Absichten sogar dringend benötigen.
Meine Damen und Herren, heute darf ich darauf hinweisen, daß wir mit den Mitteln des Jahres 1975 einen weiteren Schritt zur Verbesserung des polizeitechnischen Teils der inneren Sicherheit machen. Erneut verstärken wir das Bundeskriminalamt um weitere 35 Stellen. Damit entfernen wir uns auch weiter von dem desolaten Zustand, mit dem diese Regierung das Amt 1969 von der CDU üernommen hatte.
Damals waren es genau 933 Stellen, und es standen 22 Millionen DM zur Verfügung.
Von modernen Mitteln und Methoden der Verbrechensbekämpfung war überhaupt keine Spur. 2 242 Stellen und über 135 Millionen DM werden es mit den Mitteln des Jahres 1975 sein. Die modernsten elektronischen und andere Hilfsmittel stehen zur Verfügung, und manche Erfolge zeichnen sich ab. Beispielsweise wäre auch der Schlag gegen die Reste der Baader-Meinhof-Terroristen erfolgreicher gewesen — möglicherweise ,
wenn nicht einer der CDU-Länderinnenminister ineinem Anfall von Profilneurose streng vertraulicheInformationen zu früh öffentlich ausposaunt hätte.
Meine Damen und Herren, das hat doch nichts mit Wahlen zu tun. Wenn Sie hier von Wahlen reden; ich rede heute abend zu der Sache, die hier ansteht.Da wollte der kleine Mann aus Rheinland-Pfalz mal einmal der Größte sein, und schon war er der Dümmste. Der krampfhafte Versuch der Opposition, diese Fehlleistung zu vertuschen, ist ein Beweis für das schlechte Gewissen der Parteifreunde des Herrn Schwarz.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich frage Sie: Wie lange wollen Sie eigentlich noch einen Mann schützen, dessen Redseligkeit ein Sicherheitsrisiko darstellt?
Dieser Vorfall ist ein Beweis für meine These: Die Opposition redet in einer Art und Weise von innerer Sicherheit, die tatsächlich Unsicherheit erzeugt. Die Fakten dafür, daß unsere Bürger wirklich ruhiger schlafen können, schafft die Koalition.
Meine Damen und Herren, den Bundesgrenzschutz bauen wir weiter als Bundespolizei aus.
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11068 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
WaltherIn diesem Haushalt schaffen wir die Voraussetzung dafür, daß das Konzept der realen Ausrichtung des Bundesgrenzschutzes als Bundespolizei voll zum Tragen kommen kann.Seien wir doch ehrlich: Zu den Zeiten der CDU- Innenminister war der Bundesgrenzschutz doch mehr oder weniger eine paramilitärische Einrichtung, nicht Fell und nicht Fleisch, keine Polizei und keine Bundeswehr. Da wurde dauernd ausgebildet und ausgebildet, und keiner wußte genau wofür. Das war frustrierend und prägte den Geist der Truppe.
Seit der Amtszeit von Minister Genscher hat sich das stetig geändert. Der Geist der Truppe hat sich gewandelt. Die Beamten fühlen sich bald wirklich als Polizisten. Die Zeiten, da Länder-Polizisten mitleidig auf ihre Kollegen beim Bundesgrenzschutz herabschauten, gehören bald der Vergangenheit an.Dieser Wandel drückt sich auch in steigenden Personalzahlen aus. Hatten wir vor ein oder zwei Jahren noch rund 19 000 Vollzugsbeamte beim BGS, so sind es jetzt 20 600. In diesem Jahr werden noch 1 000 dazukommen. Sie sehen also, auch dieser Teil der inneren Sicherheit ist bei der Koalition in guten Händen.Meine Damen und Herren, unbestritten — das hat der Eschenburg-Bericht gezeigt - gibt es noch den einen oder anderen Mangel beim Verfassungsschutz. Aber wenn hier — und der Kollege Riedl hat das getan — die Opposition den Zeigefinger hebt,
sollte sie nicht vergessen, daß wir es auch hier zumindest personell zu einem großen Teil mit ihrem Erbe und ihrer Hinterlassenschaft zu tun haben.
Wenn Sie sich einmal die Führungscrew des Bundesamts für Verfassungsschutz ansehen, dann werden Sie feststellen: Da gibt es 30 mehr oder weniger der CDU/CSU zugerichtete Parteilose, da gibt es 17 CDU/CSU-Angehörige, da gibt es 5 SPD-Mitglieder und 2 der FDP. Sie müssen aber den Trennungsstrich der Führungscrew schon ziemlich tief unten ansetzen, wenn Sie überhaupt einen Sozialdemokraten finden wollen.
Aber lieber Herr Haase, Sie wissen das dochauch. Sie sind doch nicht so unschuldig, wie Sie jetzt auf einmal tun. Wenn Sie also nach den Gründen suchen, finden Sie sie auch dort, wo wir es mit überkommenen, überstandenen, übernommenen Personalstrukturen zu tun haben.Nun noch eine letzte Bemerkung zu diesem Komplex: Um fast 14 % steigen wiederum die Ausgaben für die innere Sicherheit auf nunmehr 1,025 Milliarden DM.
— Die läßt sich natürlich nicht nur in Prozentzahlen ausrechnen. Aber Sie werden mir zugeben: Ohne die nötigen Mittel können Sie sachlich das nicht tun, was für die innere Sicherheit notwendig ist.
Was lehnen Sie weiter mit diesem Haushalt ab, meine Damen und Herren von der Opposition? Sie lehnen den Umweltschutz ab. Der Umweltschutz, das hat der Kollege Riedl hier ausgeführt, bleibt trotz allen Fleißes des Parlaments eine Daueraufgabe.
— Aber Entschuldigung, Sie haben hier gesagt, daß Sie diesen Einzelplan des Bundesinnenministers ablehnen. Schauen Sie: Das ist doch dieselbe Geschichte wie mit der Schwangerschaft; eine halbe gibt es nicht. Sie können nicht halb ablehnen und halb annehmen.
Sie lehnen den Einzelplan 06 ab, und damit lehnen Sie auch die Ansätze für den Umweltschutz ab, ob Ihnen das paßt oder ob Ihnen das nicht paßt.
Meine Damen und Herren, der Umweltschutz bleibt also trotz allen Fleißes des Parlaments eine Daueraufgabe. Vieles ist gesetzlich geregelt. Wenn die Reformverhinderungsmaschine des Bundesrates endlich ein vernünftiges Räderwerk bekommt, werden wir möglicherweise auf dem Gebiet des Wasserrechts demnächst noch die fehlenden Gesetzesregelungen hinzubekommen.
— Aber, entschuldigen Sie, Herr Kollege Hupka! Wir haben auf EG-Ebene, auf Europaratsebene schon einheitliche Normen für die Wassergüte gesetzt bekommen, und Sie wollen hier in diesem Lande von Föderalismus reden!
Auch wenn Sie es nicht gern hören: es wird langsam Zeit, daß sich die Opposition auf diesem Gebiet endlich einmal an ihre Verantwortung erinnert und ihre Blockadespezialisten in den Bundesländern zur Aufgabe ihrer destruktiven Haltung bewegt.
— Ich sage Ihnen: Erfüllen Sie endlich ihr Wahlversprechen von 1972!Nun hat der Kollege Riedl hier dankenswerte Überlegungen darüber angestellt, wie sich der
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Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11069
WaltherBund im investiven Bereich besser beteiligen könnte. Nur dies gilt genauso für das, was im Hinblick auf den Breitensport gesagt worden ist —, dem stehen nun einmal, ob wir es gerne hören oder nicht, verfassungsrechtliche Grenzen entgegen. Der Bund ist für das, was Sie hier ansprachen, im wesentlichen nicht zuständig. Rhein und Bodensee sind Ausnahmen, weil wir es hierbei mit länderüberschreitenden Regelung zu tun haben.Das Umweltbundesamt hat seine Arbeit aufgenommen. Hinzu kommen 93 neue Stellen, so daß zusammen 376 Beschäftigte in Berlin tätig sein werden. Jetzt gilt es, diesem Amt noch mehr als bisher konkrete Aufgaben zuzuweisen und Doppelarbeit mit dem Ministerium zu vermeiden. Jetzt müßten aber auch — ich meine, Herr Minister, dies sagen zu dürfen und sagen zu sollen — die Umweltschutzabteilungen des Hauses neu organisiert und, wenn es im Interesse einer größeren Effizienz liegen sollte, auch schmerzliche personalpolitische Entscheidungen getroffen werden. Doppelarbeit in Bonn und in Berlin können und sollten wir uns nicht leisten.659 Millionen DM stehen im Bundeshaushalt und im ERP-Wirtschaftsplan für Zwecke des Umweltschutzes, soweit der Bund zuständig ist, zur Verfügung. Das sind 38 Millionen DM mehr als 1974. Damit läßt sich wiederum eine Menge in die Wege leiten. Bei allem, was bei uns noch verbesserungsfähig und verbesserungswürdig ist: wir wollen in aller Bescheidenheit nicht vergessen, daß unser Land auf vielen Feldern des Umweltschutzes führend in der Welt ist, und das soll auch so bleiben.
Nun hat Herr Kollege Dr. Riedl hier das Wort „Sportförderung" aufgenommen. Ich will nicht wieder einen Streit darüber anfangen, ob sie diese auch ablehnen und wie es in diesem Punkt mit der halben Ablehnung und der halben Nichtablehnung steht, darf aber so viel sagen: Kontinuierlich steigen hier jährlich die Ansätze. Das Netz der Bundesleistungszentren wird immer dichter und wird 1975 mit 22 einen neuen Höchststand erreicht haben. Damit ist das Programm solcher Leistungszentren nahezu erfüllt. Jetzt unterstützen wir die Länder bei der Errichtung von Landesleistungszentren, um so im Laufe der Zeit ein immer dichteres Netz von Sportstätten für Leistungszentren zu knüpfen. 41 werden es 1975 sein. Auch bei der Anstellung von Bundestrainern zeigt sich der Bund nicht knauserig. Bis auf den DFB bezahlt der Bund — das wissen die meisten nicht — sämtliche Bundestrainer, nämlich 88 im Jahre 1975.
— Außer Helmut Schön; das habe ich gesagt, Herr Kollege. Am Bund also liegt es nicht, wenn der Spitzensport in der Bundesrepublik international nicht immer eine sehr bedeutende Rolle spielt.Nun haben Sie, Herr Kollege Riedl, über Ihren Propagandaantrag im Haushaltsausschuß wegen desStandorts der Deutschen Nationalstiftung gesprochen.
— Entschuldigen Sie, das war ein Propagandaantrag a la Wohlrabe!
Denn Sie wissen doch genausogut wie ich, daß der Haushaltsausschuß keine Entscheidung über eine solche Standortfrage treffen kann.
Sie haben also diesen Antrag wider besseres Wissen gestellt, und deshalb war er ein reiner Propagandaantrag.
Ich sage noch einmal: Die Standortfrage hat sich nach dem Konzept, nicht aber das Konzept nach der Standortfrage zu richten. Daß die Erarbeitung eines Konzepts schwierig ist, weiß jeder, dem bekannt ist, wie schwierig die Beziehungen zwischen Bund und Ländern gerade auf dem Gebiet der Kultur und der Kunst sind.Aus dem, was ich hier kurz darlegen durfte, ersehen Sie, daß dieser Haushalt eine Reihe von positiven Aspekten aufweist. Ich hätte mir gewünscht, die Opposition hätte hier nicht nach fadenscheinigen Aufhängern gesucht, um diesen Einzelplan abzulehnen. Ich hätte mir gewünscht, daß auch die Opposition das Positive in diesem Haushalt durch ihre Zustimmung anerkannt hätte. Nun, wir werden auch ohne diese Zustimmung leben können. Wir können jedenfalls mit dem, was wir in diesem Einzelplan verabschieden, vor unseren Wählern gut bestehen.
Das Wort hat Herr Bundesminister Professor Maihofer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf einige der freundlichen Anregungen von Herrn Riedl eingehen, die er zu Beginn seines Beitrages hier vorgetragen hat und die auch Herr Walther soeben noch einmal unterstrichen hat.Zunächst einmal bin ich wirklich der Meinung, daß die Sanierung, wie wir sie im Bodenseegebiet durch Ländervertragsvereinbarungen auf den Weg gebracht haben, ein Modellbeispiel für das ist, was geschehen maßte. Dort sind 150 Millionen DM investiert worden; nur durch sie konnte dieses Gebiet eigentlich überhaupt saniert werden. Ich bin sicher, daß wir auch in anderen Gewässerproblemgebieten ebenso verfahren müßten, allerdings nicht auf dem Wege über das föderative Instrument der staatsvertraglichen Vereinbarung, sondern auf dem Wege über die Verabschiedung der Gesetze — das haben vor allem Sie als Opposition in der Hand —, die wir Ihnen vorgelegt haben. Das Wasserhaus-
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Bundesminister Dr. Dr. h. c. Maihoferhaltsgesetz und die entsprechenden Folgegesetze geben uns, wie Sie ja wissen, die erforderlichen Instrumente hoffentlich bald in die Hand.Zweitens. Was das Thema der Reaktorsicherheit angeht, so kann ich Ihnen nur zustimmen, wenn Sie sagen, daß es dort allerdings — darauf möchte ich hier abheben — nicht nur ein technologisches Problem — schon das ist sehr groß , sondern auch ein politisches Problem gibt. Das zeigt uns jedes Genehmigungsverfahren — wie zuletzt etwa das in Wyhl. Wir werden uns auf der einen Seite überlegen müssen, ob wir uns hier nicht neuer Verfahrensweisen — Stichwort: Verbandsklage — zu bedienen haben werden, um die Überfülle der Verwaltungsverfahren, die in jedem Einzelfall auf uns zukommen, rechtsstaatlich überhaupt noch bewältigen zu können. Andererseits müssen wir aber vor allem eines tun, nämlich versuchen, den geradezu zum Volksaufstand geratenen Widerstand der Bevölkerung abzubauen, und zwar durch eine schonungslose Aufklärung der Bevölkerung über die Chancen der Entwicklung im Bereich der Atomenergie auf der einen Seite und über die Risiken auf der anderen Seite, die im Bereich der Reaktorsicherheit auftreten. Wir haben entsprechende Vorbereitungen ja schon eingeleitet. Es ist aber noch viel zu tun. Wenn wir hier nicht entsprechende Vorarbeit im Sinne der Aufklärung leisten, wird die Nutzung der Atomenergie, wie ich meine, nicht etwa an technologischen, sondern an politischen Problemen scheitern.
Drittens. Im Bereich des Sports — ich will hier gar keine große Leistungsbilanz ziehen — ist sicher das Zentralproblem, wie wir — über das Programm der Bundesleistungszentren und das Programm der Landesleistungszentren hinausgehend — mit einem zusätzlichen Stützpunktsystem vor allem bei den Vereinen, die die Leistungsspitze in der Bundesrepublik verkörpern — manchmal finden sich diese Vereine bei einem Bundesleistungs- oder Landesleistungszentrum, manchmal aber auch irgendwo im freien Feld —, Talente ausfindig machen können, d. h. wie wir die Talentförderung an die Orte tragen, an denen wir das höchste sportliche Potential an Talenten mobilisieren können. Das alles unter der Voraussetzung, die ich hier noch einmal bekräftigen möchte, daß wir in unserem politischen System mit den unserem System eigenen Möglichkeiten unseren Sportlern in der internationalen Konkurrenz die gleichen fairen Chancen schaffen müssen, wie andere — seien es nun Staatssportländer, seien es nun Universitätssportländer — es in der übrigen Welt tun. Von da her glaube ich auch, daß das bedauerliche Wegfallen des Goldenen Plans — über diese ehrliche Bemerkung, Herr Riedl, habe ich mich gefreut — über den Ausbau dieses Stützpunktsystems vielleich wieder aufgefangen werden kann.Vierte und letzte Bemerkung zu diesem ersten Teil. Daß die Nationalstiftung noch nicht weiter ist, liegt hauptsächlich daran — ich sage es hier ganz offen —, daß wir, obgleich der Bund in der Zwischenzeit zahllose Gespräche, auch mit den Vertretern der verschiedensten Kulturorganisationen, über die Errichtung einer solchen Nationalstiftung, über die Konzeption, über die Organisation geführt hat, bis heute keine offizielle Reaktion aus den Ländern haben. Dies, obwohl wir seit einem Jahre immer wieder darauf gedrängt haben, daß die Länder zu dem Gesetzentwurf einer Nationalstiftung Stellung nehmen, einem Gesetzentwurf, den wir ihnen auch zugeschickt haben. Ich hoffe da können Sie wirklich etwas Gutes tun; denn es sind auch die Länder Ihrer politischen Couleur —, daß es doch den vereinten Anstrengungen — wenn es Ihnen, ebenso wie uns, mit dieser Nationalstiftung ernst ist — gelingen müßte, den im Jahre 1976 vorgesehenen Haushaltsansatz von 25 Millionen DM in eine solche künftige Nationalstiftung einzubringen. Jedenfalls geht mein hartnäckiger Wille dahin, das auf jeden Fall noch in diesem Jahr — allerdings nicht ohne Ihren Beistand; denn nur mit dem der Opposition und vor allem dem der von der Opposition regierten Länder kann das gelingen durchzusetzen. Ich hoffe, daß sich hier am Ende die Vernunft durchsetzt, um dieses große Werk auf den Weg zu bringen.Nun aber zu den unfreundlicheren Bemerkungen. Herr Riedl, hier bin ich nun wirklich erschreckt über das, was Sie hier hier gesagt haben. Wenn es für mich nach dem bedrückenden Ausgang der Sicherheitsdebatte noch eines Beweises bedurft hätte, was eigentlich von der Solidarität der Demokraten zu halten ist und was Sie in der CSU eigentlich mit der Konfrontation in der Politik meinen, dann ist mir dies heute endgültig aufgegangen.
Was soll das heißen: Es fehle dieser Regierung und gar dem Minister an dem Geist, der hier für die Verteidigung der inneren Sicherheit vorausgesetzt wird. Ich will nun überhaupt nicht mehr aufzählen, was da an Sicherheitsprogrammen — mit all den materiellen und personellen Leistungen, die einfach nicht wegzudiskutieren sind — verwirklicht worden ist. Ich möchte in aller Unbescheidenheit darauf hinweisen, daß alles, was hier seit Jahr und Tag geschieht auch in den zehn Monaten, in denen ich dieses Amt innehabe —, bei jedem Erkennen der Sicherheitslage und bei jedem Handeln, das diese fordert, in voller Übereinstimmung mit den Ländern Schritt für Schritt geschehen ist und daß es geradezu eine unglaubliche Sache ist, hier den Bund — wo er eher ein Übermaß als ein Untermaß getan hat auf die Anklagebank schieben zu wollen.
Ich will, obwohl es mich jucken würde, mich dem Drang versagen, Ihnen hier einmal in allen Einzelheiten zu sagen, wo wir gedrängt und nochmals gedrängt haben, um das, was nun alles glücklich auf dem Wege ist, auf den Weg zu bringen. Glücklicherweise ist es am Ende immer so gewesen, daß es in voller Abstimmung zwischen Bund und Ländern in den letzten Monaten gelungen ist— weit über das hinaus, was die Öffentlichkeit heute weiß , hier alles nur Denkbare zu tun, um gegen die terroristischen Gewaltverbrechen mit polizeilichen Maßnahmen vorzugehen.
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Bundesminister Dr. Dr. h. c. MaihoferEine zweite Bemerkung auch hier. Ich weiß nicht, ob Sie eigentlich wissen, wovon Sie reden, wenn Sie mich nun hier in dieser Debatte anklagen, dem Minister fehle der richtige Geist,
daß ich auch einer jener Alternativ-Professoren gewesen sei. Das ist nun wirklich eine wunderliche Bemerkung, und meine 16 anderen Kollegen werden sich über diese Bemerkung freuen. Sie haben offenbar nicht bemerkt, daß zwei Drittel des Allgemeinen Teils dieses Strafgesetzbuches, das Sie in diesem Bundestag beschlossen haben, Wort für Wort aus der Arbeit der Alternativprofessoren stammen
und daß die Alternativprofessoren ja nun nicht etwa einer liberalistischen Kriminalpolitik — wie gibt es denn so was? —,
sondern der modernen Schule der Verbrechensbekämpfung anhängen, für die der Satz gilt: Die Kriminalpolitik ist die Ultima ratio der Sozialpolitik und nichts anderes. Was ist daran eigentlich? Es gibt heute in unserem Lande keinen ernst zu nehmenden Wissenschaftler, der nicht auf dem Boden dieser modernen Schule der Verbrechensbekämpfung stünde.
Daß Sie bei einem, der politisch motivierte Gewaltverbrechen begeht, nicht in einem engeren Sinne zu einer Resozialisierung kommen können, das ist eine Binsenweisheit für alle, die sich seit Jahren mit der Reform des politischen Strafrechts beschäftigen. Das ist beim Hochverrat so, das ist beim Landesverrat so; da können Sie nirgendwo von Resozialisierung reden.
Aber das ist für jeden Fachmann eine bare Selbstverständlichkeit. Daß Sie mit politischen Terroristen keine politische Auseinandersetzung führen können, sondern nur mit juristischen Maßnahmen vorgehen müssen, bei denen vor allem der Sicherheitsaspekt vor dem Wiedereingliederungsaspekt stehen muß,
das ist doch nicht Ihre Erfindung, das können Sie in jeder Debatte zur Reform des politischen Strafrechts nachlesen, an der ich selber als einer der engagiertesten Exponenten der Wissenschaft seit 1952 teilgenommen habe.
Aber ich will mich gar nicht ereifern. Ich bin nur etwas verbittert darüber, daß es, unter Demokraten solche Debatten wie diese hier heute abend überhaupt gibt.
Ich bin auch verbittert darüber, daß Sie ausgerechnet mich hier in den Chor der Verharmloser reihen wollen und sich dabei nun wiederum einer bewährten Taktik bedienen, indem Sie zwar aus dem Verfassungsschutzbericht zitieren, aber unterschlagen, daß ich ausdrücklich — und zwar von meiner eigenen Hand eingesetzt — von einzelnen hochgefährlichen terroristischen Aktivitäten gesprochen habe, und das mit Bedacht, denn diese hatten wir damals, 1974, obwohl wir und das können Sie wieder nicht bestreiten — in der allgemeinen Kriminalität, ja selbst in der politischen Gewaltkriminalität in jenem Jahr zahlenmäßig einen Rückgang hatten. Trotzdem habe ich es für notwendig gehalten, auf diese damals wie heute für mich hochgefährlichen terroristischen Aktivitäten hinzuweisen.Ein Weiteres zur politischen Bildung: Wenn Sie sagen, es gebe da schändliche Versäumnisse —„schändliche" haben Sie nicht gesagt, aber „schreckliche" oder so etwas ähnliches — bei der politischen Bildung, dann kann ich nur sagen, davon bin ich in der Tat überzeugt.
Nur, entweder wissen Sie nicht, was Sie hier sagen, oder Sie sagen etwas wider besseres Wissen. Erkundigen Sie sich bei Ihren Kollegen im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung. Denn was tun wir seit mehreren Sitzungen? Wir machen in einem ehrlichen, pluralistischen Wettstreit der politischen Meinungen den Versuch, hier eine Konzeption politischer Bildung zu erarbeiten, in deren Mittelpunkt Verfassungsschutz durch Verfassungsaufklärung — also geistige Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus — steht.
— Entschuldigen Sie, ich bin zehn Monate in diesem Amt, und Sie können mich anklagen, für was Sie wollen, aber doch nicht dafür, daß ich nun ausgerechnet auf dem Felde der politischen Bildung zu wenig getan hätte, auf dem ich ohnehin vorher schon leidenschaftlich tätig war. Ich versuche, die Sache durch eine großangelegte empirische Enquete über den Linksextremismus voranzubringen, eine Enquete, die es bisher nie gegeben hat, auch nicht in den Jahren, in denen die CDU regierte; da hat sie eine über den Rechtsextremismus gemacht, aber nie eine über den Linksextremismus. Das habe ich schon in den ersten Monaten meiner Amtsführung auf den Weg gebracht. Genauso habe ich versucht, der politischen Bildungsarbeit einen hohen Stellenwert in meiner Arbeit insgesamt zu geben. Dafür haben Sie die Geschmacklosigkeit, mir die als ein besonderes Armutszeugnis anzulasten.
Anderes möchte ich mir versagen.
— Das lohnt sich sehr wohl.
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11072 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Bundesminister Dr. Dr. h. c. MaihoferEine vierte und letzte Bemerkung lasse ich mir nicht entgehen. Sie sagen, der Gesetzentwurf für die, wie Sie sagen, Radikalen im öffentlichen Dienst stelle die Dinge auf den Kopf. Dabei verschweigen Sie, daß ich diesen Gesetzentwurf im Amt vorgefunden habe. Das ist ein Gesetzentwurf, den ich zusammen mit Herrn Kollegen Genscher auf den Weg gebracht habe. Aber was Sie hier behaupten, ist wirklich ein starkes Stück; denn was bringt dieser Gesetzentwurf? Der einzige wirkliche Unterschied zu Ihren Vorschlägen liegt nicht etwa darin, daß wir die Treuepflicht vor das Parteienprivileg stellen; das tun wir nämlich beide. Wir sagen auch beide, Verfassungsfeinde haben keinen Platz im öffentlichen Dienst. Der Unterschied liegt ausschließlich darin, daß wir für die Beweisverfahren auf dem Boden unserer rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahren bleiben und Sie ihn verlassen.
Auch für uns bedeutet die Mitgliedschaft oder gar Funktionärseigenschaft in einer Partei, die nach den Erkenntnissen etwa der Innenminister verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, ein in der Person des Bewerbers liegender Umstand, der Zweifel an seiner Verfassungstreue begründet. Das können Sie nachlesen sowohl in der Begründung, die Herr Genscher im Bundesrat gegeben hat, wie in der meinen hier in diesem Hause seinerzeit in der stundenlangen Debatte über diesen Entwurf.Der einzige Unterschied — und da werden wir in der Tat von der Linie des Rechtsstaates nicht abweichen — ist der, daß Sie sagen: Wenn jemand Parteimitglied oder Funktionär einer extremistischen Organisation ist, dann bedeutet das, daß nunmehr an den Bewerber — auch Sie sagen: Einzelfallprüfung — die gesamte Beweislast übergeht, daß er sich von diesen Zweifeln zu reinigen hat,
während wir sagen: Die Behörde wie der Bewerber haben alles zu tun, Zweifel an dieser Verfassungstreue aufzuklären. Wenn die Zweifel bestehen bleiben, muß der Bewerber abgelehnt werden. Im letzteren sind wir uns wieder einig.Ihre Lösung bedeutet, eine Behörde, die in ihren Dossiers klare Aussagen des Bewerbers über seine Reden, über sein Tun hat,
die ihn entlasten würden und die gerichtsverwertbar sind, könnte nach Ihrer Meinung sagen: Was kümmert uns das? Der Bewerber hat sich von dem Verdacht zu befreien. Die Behörde hat damit nichts zu schaffen. Und das ist rechtsstaatlich unannehmbar.
Dies ist der einzige wirkliche Unterschied zwischen dem Entwurf der Oppositionsländer und dem unseren. Das ist ein künstlicher Unterschied, den Sie hier aufbauschen, um politisches Kapital daraus zu schlagen.
Wenn Sie es ehrlich mit der Solidarität der Demokraten meinen, wie Sie sagen, dann müßten Sie schon morgen auf die Grundlage unseres Entwurfs übergehen, so wie er von uns interpretiert worden ist; denn er entspricht voll allen rechtsstaatlichen Erfordernissen und zugleich allen sicherheitspolitischen Notwendigkeiten. Aber ich sehe es auch an Ihrem Beitrag: Sie wollen ihn zum Vehikel der Polemik. Sie werden hier einen Evergreen für weitere Studentengenerationen schaffen
und damit genau denen in die Hände spielen, die wir gemeinsam in der geistigen Auseinandersetzung bekämpfen wollen.
Herr Riedl — und damit möchte ich schließen —: ich finde es wirklich beklemmend, ja, erschreckend, daß Sie auch heute noch nicht dazu durchgedrungen sind, daß in der Sicherheitspolitik die Parteipolitik überhaupt nichts zu schaffen hat.
Daß Sie das nicht begriffen haben, disqualifiziert Sie als Partei oder Fraktion mehr als alles andere.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Czaja.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Anfang der liberalsozialen Koalition am 30. Oktober 1969 hat Ihr Vorgänger, Herr Dr. Maihofer, Herr Genscher, hier von dieser Stelle erklärt, daß schon wegen seiner eigenen Schicksalsverbundenheit mit den Betroffenen, wie er ausdrücklich sagte, die liberalsoziale Koalition und ihre Regierungen „sich in der Wahrnehmung der Belange der Vertriebenen von niemandem überbieten" lassen. Die kulturellen und Eingliederungsförderungen haben Sie und Herr Genscher, vor allem aber die liberalsoziale Koalition, fortbestehen lassen. Sie, Herr Maihofer, stehen für die liberalsoziale Koalition. Sie können natürlich sagen, Sie hätten nur zehn Monate gewirkt. Sie stehen hier nicht in erster Linie als Maihofer, Sie stehen hier als der Vertreter einer politischen Linie eines Ministeriums und der Kontinuität dieser Politik in den letzten fünfeinhalb Jahren.
Beim Haushalt müssen Sie sich als politischer Repräsentant dieser Kontinuität kritisieren lassen. Wirkönnen nichts dafür, daß die liberalsozialen Regie-
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Dr. Czajarungen so häufig wechseln, daß Sie erst zehn Monate im Amt sind.
Wenn Sie sich auch schon diskret auf das vorbereitet haben, was ich sagen werde, so werden Sie die Tatsachen der Unterlassung doch sehr schwer widerlegen können. Die unübertroffenen Fürsprecher: Zuerst suchte man diesen Menschen, für die Sie Fürsprecher sein wollen, die angestammte Heimat abzuschreiben und über Ostdeutschland zu verfügen. Beim Bundesverfassungsgericht bestreitet man das, was Ihnen der neben Ihnen sitzende Justizminister ausdrücklich bestätigen wird. Aber was man dort vorträgt, Herr Verfassungsminister, das sagt man leider nicht. Es wäre aber Ihre Aufgabe in der Verteidigung der Verfassung. -- Dies müßte ununterbrochen in der breiten deutschen Öffentlichkeit gesagt werden, und man sagt dies auch nicht genügend in Warschau, Prag und Moskau. Eine Reihe namhafter Professoren hat mir gesagt, das sei eine doppelzüngige Art, die Rechtslage Deutschlands und der Deutschen zu vertreten. Wir haben das zu kritisieren.
Der Verfassungsminister sorgt auch in keiner Weise dafür, daß die verbindliche Festlegung der Rechtslage Deutschlands und der Deutschen im Karlsruher Urteil allen Mächten notifiziert wird. Der Verfassungsminister, der ja nach dem Urteil besonders darauf zu achten hätte, daß keine Rechtsposition Deutschlands, und zwar ganz Deutschlands, gemindert wird, wehrt sich nicht gegen die Diskrepanz, daß die Bundesregierung auf der einen Seite das Verbot des gewaltsamen Gebietswandels im Einklang mit dem Völkerrecht zwar gegen die in Not handelnden Israelis anwendet, sich aber zur Anwendung der gleichen Norm auf Deutschland völlig ausschweigt.Vor allem aber haben Sie die personalen Rechte der Deutschen nicht gewahrt und wahren sie nicht. Die Rechtsposition einer Million deutscher Staatsangehöriger in den Oder-Neiße-Gebieten wird — und das geht den Verfassungsminister und damit den über die Staatsangehörigkeitsfragen wachenden Minister vorrangig an — leichtfertig und fahrlässig ununterbrochen verletzt.
Die Verfassungsminister, Sie und Ihr Vorgänger, haben die Behandlung von über einer Million deutscher Staatsangehöriger als ausschließlich polnische Staatsangehörige durch die Verwaltungsmacht Polen nicht angefochten. Sogar im Kontext des Vertrages, in der mit der Bundesregierung abgesprochenen „Information", haben die Verfassungsminister — das muß ich mit tiefem Bedauern sagen — hingenommen, daß die deutschen Staatsangehörigen nicht einmal als deutsche Staatsangehörige bezeichnet werden. Herr Minister, die schrecklichen Folgen der Massenausbürgerung in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hätten doch unseren Verfassungsministern die Augen für die Folgen öffnen müssen.Der weltweit angesehene Völkerrechtler Verdross — bei aller Vorbereitung werden Sie mir das nicht widerlegen können — bezeichnet in seinem Lehrbuch, das in alle Weltsprachen übersetzt ist und im Einklang mit der Staatenpraxis steht, Verträge, die die Schutzpflicht für die eigenen Staatsangehörigen preisgeben, als unsittlich und unwirksam.
Als für Staatsangehörigkeitsfragen zuständiger Minister und Fürsprecher der Vertriebenen haben Sie vom Auswärtigen Amt nicht die Anwendung aller legalen Mittel zur Durchsetzung der Schutzpflicht verlangt. Zwar sagen Sie, man täte ja alles. Aber die Ergebnisse dieser Schutzpflicht werden immer schlechter. Sie wehren sich nicht gegen hohe finanzielle Leistungen an Staaten, die täglich die Menschenrechte Hunderttausender Deutscher brechen. Sie fordern nicht, daß die dem Parlament zugesagten Folgerungen aus dem Bruch der Vertragsgrundlagen gezogen werden.Vor wenigen Jahren noch haben die führenden Vertreter der Regierungsparteien, insbesondere der SPD, die Ostdeutschen emotional aufgeputscht. Zitate dafür liegen in großer Zahl bereit: Wer Deutschland nicht in den Grenzen von 1937 fordere — so Herr Brandt oder Herr Wehner —, begehe ein Verbrechen an Deutschland, an der Menschlichkeit, er sei meineidig, ehrlos und ein Strolch. So deren Worte. Und: Um jeden Quadratmeter Deutschlands werde man mit allen politischen Mitteln ringen.Bei den Verhandlungen hat man aber weder um Quadratmeter noch um Menschen gerungen.
Herr Brandt hat die Unglaubwürdigkeiten der alten Zusagen ganz klargelegt, indem er verkündete, daß alles schon längst verloren gewesen sei, als noch die Vertreter der SPD zum Kampf um Quadratmeter aufriefen.
Sie sagen, Herr Minister, die Aufgaben Ihrer Abteilung für Vertriebene gingen zurück. Aber auf den Schreibtischen der Abgeordneten und der in der Förderung beschnittenen Verbände türmen sich die Leidensbriefe der Aussiedlungsbewerber und ihrer Angehörigen.
Einem Petenten schrieb Ihr Haus — das können Sie trotz aller Vorbereitungen nicht widerlegen —: „In den Ausreiseangelegenheiten Ihrer Angehörigen kann ich Ihnen" — so der Verfassungsminister — „leider nicht behilflich sein."
Hier hätte eine ganze Gruppe Ihrer Beamten Aufgaben zur Vorbereitung für Tausende von Verbalnoten des Auswärtigen Amtes in Einzelfällen treffen sollen.Frühere Regierungen haben in Moskau in Tausenden von Fällen wirksam interveniert.
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11074 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. CzajaSie aber überlassen die Arbeit karitativen Organisationen, die keine Hoheitsrechte haben und die mit Hilfskräften für diese Aufgaben sorgen müssen, für die Sie amtliche Kräfte einsetzen müßten.
Ihr Haus verzögert dauernd die Antworten auf Anfragen über die Lage der Aussiedler bei uns um viele Monate. Die letzte Anfrage ist überhaupt noch nicht beantwortet. Sie haben eben keine ausreichenden Unterlagen mehr über den zu betreuenden Kreis.Der Bundeskanzler will, wie er jetzt in dem Bericht zur Lage der Nation erklärte, die Heimat Kants, Lasalles und Hauptmanns in Ostpreußen und Schlesien in ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland stetig genannt wissen. Aber der Kanzler selbst und der Verfassungsminister lassen es zu, daß auch die für den Amtsverkehr notwendigen verfassungskonformen Karten- und Bezeichnungsrichtlinien aufgehoben worden sind. Weder der Bundeskanzler noch der Innenminister wehren sich dagegen, daß der innerdeutsche Minister gegenüber Ortsbezeichnungen selbst im amtlichen Verkehr völlig gleichgültig ist. Der Wirrwarr in den Personenstandsurkunden bezüglich der Geburtsorte in Deutschland müßte Ihnen eigentlich als zuständigem Minister längst aufgefallen sein. Wenn Sie aber die Bezeichnungsrichtlinien aufheben, Herr Verfassungsminister, was erwarten Sie dann in dieser Frage vom Ausland? Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS hat die Aufhebung der Bezeichnungsrichtlinien offiziell und dankbar begrüßt. Der Verfassungsminister der Bundesrepublik Deutschland aber rührt sich nicht.
In den Dienstzimmern mancher NATO-Stäbe hängen Karten mit den Grenzen des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937, denen das Bundesverfassungsgericht rechtliche Qualität bestätigt hat. Herr Bundesminister, Sie können aber hier erklären, ob in Ihrem Dienstzimmer und im Dienstzimmer des innerdeutschen Ministers eine Karte hängt, die — getreu dem Bundesverfassungsgerichtsurteil — das einheitliche Staatsgebiet des ganzen Deutschland, dem nach diesem Urteil die Bundesrepublik als nicht abtrennbarer Teil zugehört, zeigt, und ob das einheitliche Staatsgebiet visuell im öffentlichen Bewußtsein gehalten und nach außen beharrlich vertreten wird. Diese Frage können Sie ja beantworten.
Sie haben der Abteilung für Vertriebene im Ministerium ihre Selbständigkeit genommen. Sie sorgen unzureichend für die Fortsetzung der Eingliederung. Die Angleichung der Unterhaltshilfe an die Lebenshaltungskosten erfolgte mit großen Verzögerungen gegenüber den Renten. Sie können auch nicht Höchstzahlen eines kleinen Teils selbständiger Kriegsschadensrentner nennen und darüber hinwegzutäuschen versuchen, daß reine Unterhaltshilfeempfänger in den meisten Fällen weniger als die Sozialhilfe erhalten.Sie haben in 51/2 Jahren eine einzige große Novelle zum Lastenausgleich zustande gebracht, frühere Regierungen zwei bis drei in einer Legislaturperiode. Die Vertriebenen wollen sicher nicht die Inflation anheizen. Sie halten jetzt still. Aber sie werden es nicht zulassen, daß in einer stabileren Zukunft der ganze Lastenausgleich — und das versuchen Sie — dort abgeblockt wird, wo frühere Regierungen auch für die Vertriebenen an den Schluß eine beachtliche Tat setzen wollten.Eine Hauptentschädigung in Höhe von 8 % des Schadens im Durchschnitt kann auf Dauer nicht bleiben, um so weniger — und auch das ist eine echte Aufgabe des Verfassungsministers hinsichtlich der Schutzpflichten für die Grundrechte —, als man nichts gegen die völkerrechtswidrige Fortdauer der Konfiskation zivilen deutschen Vermögens tut — nach der Normalisierung.Die Darlehensaufnahme des Lastenausgleichsfonds wird in einer Zeit höchster Zinssätze von der Regierung verdoppelt. Sie belasten den Fonds mit Zinslasten, statt vermehrte Leistungen für die Betroffenen zu schaffen. Ihr Haus plant keine volkswirtschaftlich sinnvolle Abwicklung des Lastenausgleichs in der letzten Phase, insbesondere für junge Erben.Dagegen finanziert die Regierung Schulbuchempfehlungen, die deutsche Leistungen in den östlichen Teilen Deutschlands und Europas wahrheitswidrig minimalisieren und die Massenvertreibung nicht als Unrecht, sondern wertfrei als notwendige Folge des verlorenen Krieges bezeichnen.
So hätte man auch die Taten der Janitscharen einmal bezeichnen können.
Sie bemühen sich in den Verhandlungen mit dem Ostblock nicht um ein Gleichgewicht zwischen vielen Milliarden DM Finanzhilfen und Dutzenden Milliarden DM Bürgschaften für Warenkredite einerseits und den Leistungen für die vertriebenen Deutschen sowie Forderungen hinsichtlich ihres völkerrechtswidrig konfiszierten Eigentums im Werte von 300 Milliarden DM andererseits.Im übrigen gelangten die Entschädigungen für die fremden Opfer, beispielsweise für die polnischen Opfer deutscher Gewalt — wie hier auf unsere Frage bestätigt wurde —, bisher nicht an die ausländischen Betroffenen im Ostblock. Aber wieder verhandelt man nicht über individuelle Teilleistungen an Betroffene, insbesondere auch deutsche Rentner, wie frühere Regierungen bei der Kriegsopferteilversorgung, sondern über Pauschalsummen für die kommunistische Planwirtschaft. Und dies wird den ärmsten deutschen Rentnern in den Oder-Neiße-Gebieten entzogen. Wo bleibt da Ihre Fürsprache als unübertroffener Fürsprecher der Vertriebenen?
Sie wehren nicht den Versuchen, Gott sei Dank nicht der Spitze, aber einzelner. Da muß ich in den zehn Monaten allerdings einen Wandel feststellen: Ihre Spitze und die Spitze unter Ihnen hat das etwas
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Dr. Czajaabgestellt. Aber vorher haben einzelne verbandsfeindliche Beamte Ihres Hauses versucht, die Vertriebenenverbände auch aus der Kulturarbeit zu verdrängen. Ich hoffe, daß das Abstellen dieser Tendenz durch Sie jetzt auch wirklich anhält, wenn es auf Entscheidungen ankommt. Sie werden sehen: ich werde diese Ihre Aufgaben, auch das, was geleistet worden ist, objektiv beurteilen. Wir werden es aber nicht gestatten, daß die überregionale Pflege des Kulturguts der Mitarbeit der einen großen Unterbau besitzenden Vertriebenenorganisationen völlig entzogen und nur Einrichtungen zugeführt wird, die keinen Unterbau haben.Aber der Bericht zur Lage der Nation behandelt mit eisigem Schweigen das, was sogar noch Herr Brandt in seinen Berichten zur Lage der Nation als großartige Leistungen für das Geistesleben der Vertriebenen versprochen hat. Wo bleibt Ihre Fürsprache beim innerdeutschen Ministerium, wenn es in krasser Ungleichheit für hauptamtliche Mitarbeiter des Bundes der Vertriebenen die niedrigen Anstellungsgruppen streicht und für ostdeutsche Wochen kein Geld hat, wohl aber für die uferlosen Gehälter beim Kuratorium Unteilbares Deutschland genügend Mittel zur Verfügung hat?
Die angeblich gesteigerten Projektmittel werden -- und wo bleibt da der Fürsprecher? — sogar für Gedenktage der Vertreibung und der Rettung von Millionen Menschen, ich muß schon sagen, in schäbiger Weise versagt. Andere Organisationen verweist man nicht auf die Zahl der Mitglieder, die doch auf Orts-, Kreis- und Landesebene betreut werden müssen.
Damit werden Sie uns nicht mundtot machen. Aber Sie verbittern — gerade Sie in Schleswig-Holstein, und das möchte ich jetzt ganz deutlich sagen, Herr Gansel — die Menschen, von denen Herr Brandt noch 1971 gesagt hat, daß sie unser besonderes Verständnis verdienen und am meisten durch Krieg und Vertreibung betroffen sind. Sie beweisen, wie glaubwürdig oder unglaubwürdig diese Worte sein sollen.
Die Dokumentation der Vertreibungsverbrechen — hier möchte ich einen kleinen Fortschritt feststellen, Herr Bundesinnenminister — wollte man vorzeitig beenden, und einen Zwischenbericht hat man mit einem unzulässigen Gemeinstempel — ohne jeden Rechtsgrund, das werden sie zugeben — versehen. Denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfen doch nicht geheimgehalten werden. Ich glaube, daß hier ein kleiner Wandel in Ihrem Hause zu verzeichnen ist und daß man versuchen will, andere Wege einzuschlagen. Aber der „unübertroffene Fürsprecher" der Vertriebenen sieht leider jetzt noch nicht die Diskrepanz, daß einerseits — ich freue mich, daß der Justizminister neben Ihnen sitzt — deutscherseits Material gegen des Mordes verdächtige Deutsche vom Ostblock entgegengenommen wird, aber andererseits in doppelter Moral und unter krasser Verletzung der Gleichheit und Reziprozität der Justizminister die Überreichung von Material an das gleiche Ausland wegen Mordes an Deutschen als „wenig sinnvoll" — so wörtlich — bezeichnet.
Herr Verfassungsminister, hier wäre eine gute Aufgabe, auch Fürsprache einzulegen für eine Gleichheitsbehandlung gleicher Tatbestände. Denn Mord an Deutschen ist ebenso ein Verbrechen wie Mord Deutscher an anderen.Seit Beginn der liberalsozialen Koalition haben Sie eine historische Chance verpaßt. Sie haben die Chance verpaßt, die Erfahrung, die Sachkunde und die notwendige Mitverantwortung, vor allem aber das Vertrauen der Ostdeutschen für einen echten Ausgleich mit den Nachbarn zu nutzen. Herr Gansel, Sie können sich auch von Ihren Kollegen in Hessen belehren lassen, daß jetzt in einem Rundschreiben diese Kollegen aufgefordert werden, nach dem schweren Eklat der hessischen Wahlen die Vertriebenenversammlung wieder zu besuchen und sich dort offiziell begrüßen zu lassen. Machen Sie das auch in Schleswig-Holstein, dann wird es Ihnen in fünf Jahren vielleicht besser gehen.In einem Wirtschaftunternehmen könnte man nicht ein Fünftel der Belegschaft, die Leben und Denken der Geschäftspartner kennen, aus den Beziehungen ausschalten. Im Staat, wo die Regierung aber eine besondere Treuepflicht gegenüber den Bürgern hat, tut man das. Die Ergebnisse waren wie vorausgesagt. Aber vor allem wurde das Vertrauen der Vertriebenen in Ihre Parteien zerstört. Das ist ihre eigene schwere, Sie auch wählermäßig belastende, aber auch große politische Schuld. — Gerade Sie, Herr Gansel, merken gar nicht -- oder vielleicht merken Sie es doch —, wie Sie die ständigen Einmischungen des Ostblocks in die Solidarität unserer Nation und die Freiheit unserer staatlichen Rechtsgemeinschaft dabei stärken.Doch die Staatstreue und die Treue der Vertriebenen zu Deutschland kann dies nicht erschüttern. Die Vertriebenen bekennen sich dazu, daß die eine deutsche Staatsangehörigkeit auch unwandelbare Pflichten für das ganze, fortbestehende rechtsfähige Deutschland und für die Grundrechte der Deutschen auferlegt. Im Einklang mit dem vollen Wortlaut des geltenden Deutschlandvertrages und den Normen des Völkerrechts stehen die deutschen Heimatvertriebenen zum Offenhalten der ganzen deutschen Frage bis zu einem Friedensvertrag.
Keine fremden und falschen Auslegungen eines gemeinsamen Vertragswillens können uns an der Treue zur Verfassung und an der Treue zu den Normen des Völkerrechts hindern.Sie und Ihre Regierung behaupten ja, daß Sie rechtzeitig und offensichtlich nach Treu und Glauben während der Verhandlungen gekennzeichnet haben, was im Widerspruch zu fundamentalen Normen des innerstaatlichen Rechts und der Vertrags-
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11076 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Dr. Czajaabschlußkompetenzen steht. Bei heutigen ausländischen Entstellungen des deutschen Vertragswillens schweigt man sich aber leider aus. Ich möchte hoffen, daß das der Verfassungsminister in Zukunft nicht tut.Unser Rechtsstandpunkt hat aber auch eine Grundlage in einer tiefen politischen Überzeugung: im geschichtlichen und nationalen Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Deutschen. Dieser Standpunkt ist offen nach einer politischen und föderal strukturierten Einigung Europas, die auch zur Befriedung in umstrittenen Gebieten führen kann. Es ist unsere Pflicht, dafür den langen Atem zu behalten.Meine Damen und Herren, das Versagen dieser Regierungen in der ganzen deutschen Frage wird vor der Geschichte seine Verurteilung erfahren.
Der abschnittsweise Offenbarungseid der verfehlten Deutschland- und Ostpolitik wird Ihnen nicht erspart bleiben.
Man kann mit Propaganda dem, der versagt, für kurze Zeit den Mantel des Friedensheiligen umhänge, aber vor der Geschichte kann man ihn nicht zum Staatsmann machen.
Bereiten Sie sich wenigstens einen erträglichen Abgang dadurch vor, daß Sie schon jetzt die Trümmer der Konkursmasse vor weiterem Abbröckeln sichern und wenigstens diese Trümmer ungeschmälert ihren Nachfolgern überlassen! Die Pflicht, die Konkursmasse zu schützen, obliegt Ihnen ebenso wie anderen Parteien. Beginnen Sie endlich die stetige Verbitterung der Vertriebenen aufzuarbeiten, die ununterbrochenen Diskriminierungen, Ihre Abstinenz in der Verteidigung ihres guten Rufes.
Der Osten greift sie an, Herr Gansel, weil die Leiden der Vertriebenen das einseitige Bild von ausschließlich deutschem Unrecht erschüttern. Ihre Parteien werden diese Menschen für sich für einen neuen Anfang brauchen.
Vor allem aber braucht unser Staat ihre zähe Mitarbeit und ihre Sachkunde.Die Fraktion der Christlich Demokratischen und Christlich Sozialen Union jedenfalls bekennt sich zu dieser Solidarität mit den Opfern der Vertreibung.
Das Wort hat der Abgeordnete Hofmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, auf das, was Herr Dr. Czaja hier ausgeführt hat, im Namen meiner Fraktion und auch im Namen der Fraktion der FDP zu antworten.
Für die Vertriebenen und Flüchtlinge sind die Haushalte 06 und 27 maßgebend. Herr Czaja hat dies alles hier vermengt. Mir sei gestattet, darauf zu erwidern.
Meine Damen und Herren, es ist die alte Platte gewesen; es kam nichts Neues.
Herr Dr. Czaja, Sie greifen den Minister an, Sie greifen die Regierung an, sagen aber nicht, was Sie anders gemacht haben wollten.
Und die Niedrigkeit, mit der Sie das tun, bringt Ihnen auch kein Ansehen bei den Exilregierungen, mit denen Sie verhandeln.
Ich darf auf die einzelnen Vorwürfe eingehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Präsidentin, keiner meiner Kollegen hat Herrn Dr. Czaja unterbrochen. Ich bitte, daß dieses Verfahren auch bei mir angewandt wird.
Zuerst sucht man — so heißt es in den Ausführungen des Herrn Dr. Czaja — diesen Menschen die angestammte Heimat abzuschreiben. Meine Damen und Herren, wo bleibt denn der Beweis für diese unglaubliche Behauptung? Wie wollten Sie denn diese Unverfrorenheit überhaupt beweisen? Wie würden Sie es denn anders machen? Und heißt das, wenn Sie da sagen, wir hätten die Heimat dieser Leute abgeschrieben, daß Sie deren Heimat wieder zurückhaben wollen? Dann müßten Sie sagen, wie und wodurch. Dann haben Sie doch den Mut, das auszuführen!
Mit diesen pauschalen Unterstellungen können Sie weder das, was durch und nach dem zweiten Weltkrieg geschehen ist, aus der Welt schaffen noch den Menschen helfen.
Dann zu dem anderen Vorwurf. Ich kann gar nicht auf alles eingehen, meine Damen und Herren, das wäre unmöglich;
denn all das, was hier schon x-mal gesagt wurde,ist von uns x-mal beantwortet worden. Aber der
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HofmannVorwurf an den Minister, er habe der Abteilung für Vertriebene im Ministerium die Selbständigkeit genommen, veranlaßt mich zu der Frage: Herr Dr. Czaja, wollen Sie denn nun endlich die Integration der Vertriebenen oder nicht? Wollen Sie die Vertriebenen als ewig eigenständige Gruppe mit einem immer kleiner werdenden Einfluß belassen? Oder wollen Sie die für sie noch anstehenden Aufgaben nicht von allen in der Bundesrepublik wahrgenommen sehen?
Herr Dr. Czaja, Sie beklagen die Angleichung der Unterhaltshilfe und übersehen, daß diese Unterhaltshilfe von uns dynamisiert wurde. Die Anhebungen sprechen für sich. Sie sind nicht niedriger als die Anhebungen bei allen anderen Renten — auch das wollen Sie nicht wahrhaben —, und rund 80 % der Betroffenen erhalten den Höchstsatz. Auch das muß immer wiederholt werden. Das ist Ihnen mehrfach gesagt worden.Sie beklagen, daß in dieser Zeit nur eine Novelle verabschiedet wurde. Ich hätte das an Ihrer Stelle, Herr Dr. Czaja, nicht getan; denn diese 28. Novelle zum Lastenausgleich hat eine traurige Geschichte, was die Rolle Ihrer Partei angeht. Erst seit Sie in der Opposition sind, war es möglich, diese 28. Novelle zu verwirklichen. Vorher war es nicht möglich, Vertriebene mit Flüchtlingen gleichzusetzen.
Sie waren jahrelang dagegen. Wir haben es geschafft, und nun stellen Sie sich her und machen uns Vorwürfe.Sie wissen, Herr Dr. Czaja, daß für Sie und Ihre Partei bereits in der Regierung Kiesinger das gesamte Lastenausgleichsgesetzwesen als abgeschlossen gegolten hatte.
Demnach wäre es bei Ihnen überhaupt nicht zu der 28. Novelle gekommen. Ich habe das in Zitaten mehrfach nachgewiesen.
Lesen Sie es nach; da steht es genau drin.
Vielleich nehmen Sie zur Kenntnis, daß inzwischen Gott sei Dank 97 % der Lastenausgleichsanträge für Vertriebene erledigt sind.
Das ist eine saubere Arbeit in dieser Zeit, für die wir nur danken können.Sie sprechen die institutionelle Förderung an und übersehen, was Ihnen dazu bereits vor zwei Jahren mitgeteilt wurde. Ich darf Sie, Frau Präsidentin bitten, zitieren zu dürfen:Die Umstellung von institutioneller Förderung auf die Finanzierung von Projekten ist namentlich bei solchen Zuwendungsempfängern vorgenommen oder in die Wege geleitet worden, bei denen die Möglichkeit gegeben ist, durch eineSteigerung der Eigenleistung, z. B .Erhöhung von Mitgliedsbeiträgen oder Spenden, den Wirtschaftsplan auszugleichen. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist dem Bund der Vertriebenen somit bereits Mitte 1973 mitgeteilt worden, daß diese institutionelle Förderung mit dem 31. 12. 1974 auslaufe und auf projektgebundene Förderung umgestellt wurde.
Es ist also keine Kürzung, sondern eine Umstellung auf die Projektförderung.
Daraus ergibt sich im Gegensatz zu den Behauptungen aus Kreisen der Vertriebenen, daß die Einstellung dieser Förderung auf haushaltsrechtlichen Erwägungen beruht.
Der mitgliederstarke Bund der Vertriebenen ervertritt nach eigenen Angaben rund 11 Millionen Vertriebene — sollte sehr wohl in der Lage sein, aus eigener Kraft seine Bundesgeschäftsstelle zu finanzieren, um auf dieser Grundlage mit Hilfe der projektgebundenen Zuwendungen kulturelle und heimatpolitische Maßnahmen durchzuführen.Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen auch dies noch: Mich wundert es immer und immer wieder, wie sich Herren der Spitze des BdV hier herstellen und nach dieser Förderung rufen, obwohl sie ganz genau wissen, daß dabei jährlich etwa 70 000 DM in ihre eigene Tasche geflossen sind.
Wenn sie sich dann hier herstellen und beweinen, daß ihnen die Kröten entgangen sind, dann ist das für uns nicht mehr glaubwürdig.
Es sei mir hier ein Wort des Dankes an die Einheimischen erlaubt, meine Damen und Herren.
Der Lastenausgleich war anfänglich auf etwa 60 Milliarden DM angesetzt. Die Leistungen werden am Ende etwa 130 Milliarden DM betragen. Die Grenzen der Belastbarkeit lassen sich auch hier nicht beliebig ausweiten. Völlig unverständlich wäre es für die Einheimischen, wenn sie nun auch noch die Organisationskosten der Vertriebenenverbände subventionieren sollten, wozu die Vertriebenen selbst nicht bereit sind.
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11078 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
HofmannWenn die Vertriebenen selbst nicht bereit sind, ihre Organisationen durch entsprechende Mitgliedsbeiträge funktionsfähig zu erhalten, dann sollte man nicht Steuergelder von denen verlangen, die als Vertriebene diesen Verbänden nicht beitreten.
Auch den Einheimischen sollte man das nicht zumuten, die gewiß keine Kleinigkeiten für die Vertriebenen und Flüchtlinge aufgebracht und noch aufzubringen haben.
Herr Dr. Czaja, Sie haben den Gedenktag der Vertreibung angesprochen, das, was Sie für die nächsten Tage in Schleswig-Holstein vorhaben, einen Dank für die Rettung an die Matrosen.
— Genau auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet. Damit haben Sie doch bewiesen, daß Sie ihn selbst finanzieren konnten. Wieso wollten Sie dann noch Geld dazu von der Bundesregierung haben?
Sie haben sich bei dieser Veranstaltung, meine Herren des BdV, nicht einmal die Mühe gegeben, eine gewisse Überparteilichkeit zu wahren. Drei CDU-Redner bei einer Parteiveranstaltung, das können wir Ihnen nicht als Projekt abnehmen. Das ist die Wahl in Schleswig-Holstein, meine Damen und Herren! Das ist nicht, wie Sie sagten, „in schäbiger Weise versagt" worden.
Mit dieser Veranstaltung, meine Damen und Herren, wollten Sie doch nur vergessen machen, daß aus dem Land Schleswig-Holstein ein Antrag vorliegt, der den Lastenausgleichsfonds um 700 Millionen DM schmälern soll. Das wollten Sie doch in diesem Wahlkampf untergehen lassen.
Das müssen Sie Ihren Vertriebenen in Schleswig-Holstein erzählen, daß der Ministerpräsident Stoltenberg im Bundesrat diesen Antrag eingebracht hat, — der leider hier heute noch nicht behandelt wurde, damit die Leute draußen das erfahren.
Das ist die Verbitterung der Vertriebenen, die Sie hier übertünchen und überdecken wollen!
Aber, meine Damen und Herren, vor der Wahl ist das alles ein bißchen anders, zugegeben.
Da gibt es lautstarke Sympathiekundgebungen, z. B. am Sudetendeutschentag in Nürnberg: Ankündigung eines neuen Großprojektes, Errichtung eines Sudetendeutschenzentrums in München —
— Langsam, Sie selber haben sich beschwert. Ich kann Sie noch zitieren.
Und ist die Wahl vorbei, Herr Dr. Wittmann, dann kommt Ihre Beschwerde, nämlich diese: Von den 132 CSU-Landtagsabgeordneten sind nur 7 Heimatvertriebene. Das sind rund 5 °/o dieser Fraktion. Das Drei- bis Vierfache müßte es sein, wenn Sie in etwa dem Anteil der Vertriebenen in ihrer gesellschaftlichen Aufsplitterung Rechnung getragen hätten. Dann kommt Ihr Vorwurf, Herr Dr. Wittmann, an die Regierung in Bayern, daß kein Angehöriger des vierten Stammes in die Regierung berufen wurde. Den Vorwurf haben Sie der Regierung gemacht.
Dann kommt das nächste, Herr Dr. Wittmann — das haben Sie auch mit veröffentlicht —: Die CSU- Regierung hat aus den Mitteln für das geplante Sudetenzentrum 3 Millionen DM gestrichen. Nach der Wahl schaut das alles immer wieder ein bißchen anders aus.
Nun zu dem, was Herr Dr. Czaja hier gesagt hat: Vorwürfe, Diffamierungen, Anprangerungen! Aber sagen Sie einmal, Herr Dr. Czaja, warum haben Sie. wenn Sie das anders haben möchten, heute keinen Antrag zu dem Haushaltsplan 06 eingebracht?
Wo ist denn der Antrag für das, was Sie hier fordern und anklagend bringen? Hier klaffen doch Wort und Wirklichkeit weit auseinander, oder anders ausgedrückt: Der Präsident des BdV darf für die CDU/CSU reden, reden und reden, aber in der Fraktion handeln darf er nicht.
Er ist Erfüllungsgehilfe der These von Strauß: Nur Anklagen und Warnen, Emotionen wecken bei den Wählern, in dem Fall bei den Vertriebenen!
Wenn die Stimmen dann in der Scheune sind, merken die Vertriebenen, daß das alles Wahlköder waren — und nicht mehr als das --, ausgehängt vom eigenen Präsidenten der Vertriebenen.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975 11079
HofmannHerr Dr. Czaja, ich bedaure als Heimatvertriebener die Rede, die Sie gehalten haben, außerordentlich.
Das Wort zum Einzelplan 36 hat Herr Abgeordneter Möller .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Einzelplan 36 komme, darf ich vielleicht ganz kurz auf einige Äußerungen des Herrn Ministers Maihof e r eingehen, die er zu den Ausführungen meines Kollegen Riedl hier vor dem Plenum gemacht hat.Herr Professor Maihofer, Sie haben wieder einmal die Solidarität der Demokraten beschworen. Wir stimmen Ihnen alle zu, wenn Sie damit das gemeinsame Bemühen aller demokratischen Parteien meinen, zu jeweils der besten Lösung, beispielsweise im Bereich der inneren Sicherheit, zu kommen. Wir stimmen Ihnen garantiert nicht zu, wenn Sie damit gleichzeitig einen Maulkorb meinen, der uns vorgebunden werden soll, wenn wir meinen, daß seitens der Regierung Fehler gemacht werden, und wir unseren Finger auf diese Wunden legen wollen.
Im übrigen glaube ich auch, Herr Minister Maihofer, daß Sie auf viele der Vorwürfe meines Kollegen Riedl nicht konkret eingegangen sind. Wir haben in Ihren Ausführungen beispielsweise Angaben darüber vermißt, warum Sie bis heute nicht in eine Verbotsprüfung der radikalen Parteien eingetreten sind. Wir haben ferner vermißt, welche konkreten Maßnahmen Sie nun tatsächlich durchführen wollen, um den weiteren Marsch der Radikalen durch die Institutionen — gerade am Beispiel der Bundeszentrale für Politische Bildung aufgezeigt — aufzuhalten. Wir haben schließlich eine Stellungnahme dazu vermißt, wie Sie den desolaten Führungszustand im Bundesamt für Verfassungsschutz beenden wollen. Sehr wahrscheinlich haben Sie keine Vorstellung, weil Sie es nicht wagen, Herrn Kollegen Wehner hier ins Gehege zu kommen.
Vor allen Dingen, Herr Professor Maihofer, vermissen wir seit einigen Tagen eine ganz klare Aussage von Ihnen zu der Frage unseres Kollegen Strauß,
ob es in diesem Hause Berichte über die Aktionsgemeinschaft gegen die „Isolationsfolter" und deren Zusammenarbeit mit SPD-Parteimitgliedern gibt. Hierzu haben Sie diesem Hohen Hause bis heute keine ausreichende Auskunft gegeben.
Meine Damen und Herren, der von der Bundesregierung vorgelegte Haushalt für den Bereich der zivilen Verteidigung, für den Sie, Herr Bundesminister Maihofer, die Verantwortung tragen, weist seit längerem eine negative Entwicklung auf. Nominal wird der Einzelplan 36 von 1974 mit 580 Millionen DM um mehr als 20 Millionen DM 1975 gesenkt,
wobei der reale Leistungsabbau noch nicht einmal berücksichtigt worden ist. Wenn man dabei bedenkt, daß der Bereich der zivilen Verteidigung die gesamte zivile Vorsorge des Staates für den Katastrophenschutz sowie für den Selbsthilfebereich der Bürger gegen Gefahren im Verteidigungsfall umfaßt, so ist das Ergebnis dieses Einzelplans in unseren Augen völlig unzureichend.
Im übrigen, Herr Bundesminister, steht dieses Ergebnis auch in totalem Gegensatz zu dem Weißbuch der zivilen Verteidigung, vorgelegt im Mai 1972, sowie zu der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage vom März 1974.Die Beschlüsse des Deutschen Bundestages, Herr Minister, auf längere Sicht die Mittel für den Bereich der zivilen Verteidigung auf das Verhältnis von 1 : 20 zu bringen, werden in der Etatvorlage auch nicht im entferntesten beachtet. Die jetzige Mittelrelation beläuft sich auf 1 : 53.Der Stellenwert der zivilen Verteidigung für unsere Gesellschaft, Herr Bundesminister, gewinnt um so mehr an Bedeutung, wenn man sich einmal vor Augen führt, welch hohes staatsbürgerliches Engagement sich gerade bei den vielen freiwilligen Organisationen, wie Technisches Hilfswerk, Bundesverband für Selbstschutz, Warn- und Alarmdienst, Deutsches Rotes Kreuz, Malteser-Hilfsdienst und alle anderen Dienste, findet. Diese vielen tausend freiwilligen Helfer, Herr Bundesminister, werden von Jahr zu Jahr durch das Vorgehen dieser Bundesregierung immer stärker enttäuscht.
Die einzige Ausnahme ist der von der Bundesregierung und auch von der CDU/CSU-Fraktion unterstützte Ausbau des Hubschrauber-Rettungsdienstes. Wir hoffen, daß wenigstens dieses Programm seitens der Bundesregierung auch weiterhin unterstützt wird.Herr Bundesminister, die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung auf dem Gebiet der zivilen Verteidigung und insbesondere des Katastrophenschutzes wird um so deutlicher, als die Bundesregierung einerseits in der Phase der Umstrukturierung
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11080 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 158. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. März 1975
Möller
des BGS die dort vorhandenen Katastrophenschutzeinrichtungen — sprich: Großgeräte der Technischen Abteilung — auflöst, andererseits aber diese verlorenen Kapazitäten nicht in dem Bereich der zivilen Verteidigung, also in Einzelplan 36, wieder unterbringt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Simon?
Natürlich!
Bitte, Herr Kollege Simon!
Herr Kollege Möller, würden Sie dem Haus bitte sagen, wann Sie als Berichterstatter über den Einzelplan 36 in den letzten Jahren irgendeinen Antrag auf Erhöhung dieses Einzelplans oder eines Titels gestellt haben.
Werter Kollege, dieses Spiel ist doch in den Haushaltsdebatten ständig dasselbe. Sie tragen hier die Regierungsverantwortung. Sie haben Vorschläge zu machen.
Herr Bundesminister, scharf kritisiert werden muß ferner, daß im vorliegenden Haushaltsentwurf die Lebensmittelbevorratung für den Verteidigungsfall nahezu völlig abgebaut ist. Der Verweis auf die EG- Marktreserven, den Sie gegeben haben, entspricht nicht den sachlichen Erfordernissen der Bevorratung für den theoretischen Verteidigungsfall. Wir müssen feststellen, daß die Bundesregierung ihren Pflichten hier nicht nachgekommen ist.
Herr Bundesminister, diese Haltung und innere Einstellung der Bundesregierung muß — ich habe es vorhin schon einmal erwähnt vielen Tausenden von freiwilligen Helfern in der Bundesrepublik als Brüskierung erscheinen, die oftmals — neben der Aufopferung ihrer Freizeit — mit eigenen Mitteln die Tätigkeit dieser Hilfsorganisationen überhaupt erst ermöglichen. Diesen vielen Helfern und auch den zuständigen Beamten gebührt unser Dank und Respekt dafür, daß sie sich ihrer Aufgabe, um die sie wirklich nicht zu beneiden sind, trotz des Mangels an Rückhalt seitens der Regierung im Bereich der zivilen Verteidigung aufopfernd unterziehen.
Der deutschen Offentlichkeit gegenüber können wir als CDU/CSU eine Zustimmung zu diesem Torso von Etat — vielleicht zu diesem letzten Reformwerk — auf jeden Fall nicht geben. Wir werden diesen Einzelplan ablehnen.
Wird noch weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 06. Wer dem Einzelplan 06 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen?
— Mit klarer Mehrheit angenommen. Es besteht kein Zweifel an der Mehrheit.
Meine Damen und Herren, wir stimmen nunmehr über den Einzelplan 36 in der Ausschußfassung ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 36 ist mit Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, ich habe gehört, Sie wünschen die Beratungen heute abend nicht fortzusetzen.
— Soll der Einzelplan 07 noch aufgerufen werden? Ist das die Meinung des Hauses?
— Ohne Debatte.
Ich rufe dann auf:
Einzelplan 07
Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz
— Drucksache 7/3147 —
Berichterstatter: Abgeordneter Simon
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? —Als Berichterstatter hat der Herr Abgeordnete Simon das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie werden bald merken, daß ich mich hier sehr kurzfasse. Ich glaube aber, es ist doch notwendig, daß von mir als Berichterstatter noch einige Bemerkungen zu dem uns schriftlich vorliegenden Ausschußantrag gemacht werden.Das Gesamtvolumen des Justizhaushaltes beträgt 263,1 Millionen DM.
Das bedeutet eine Steigerung von 12,8 % gegenüber den Gesamtausgaben von 1974.In den Beratungen des Ausschusses sind Abstriche in Höhe von 4,2 Millionen DM beschlossen worden. Damit ist auch nach meiner Auffassung ein Niveau erreicht, bei dem wohl kaum noch nennenswerte Dispositionsmöglichkeiten bleiben; denn der Justizhaushalt — das wissen Sie alle — ist seiner gesamten Struktur nach fast ein reiner Personalhaushalt. Mehr als 90 0/0 aller Ausgaben entfallen auf Personalausgaben für rund 5 000 Bedienstete dieses Einzelplans.
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SimonBei der Stellenvermehrung für diesen Haushalt ist das Ressort selber schon sparsam gewesen. Der Ausschuß hat nur ganz wenige neue Stellen vorgesehen, insbesondere auch im Bereich des Staatsschutzes, beim Generalbundesanwalt und dann noch besonders für das Projekt Juristisches Informationssystem.Zu den Schwerpunkten des Bundesjustizhaushaltes möchte ich folgendes anmerken:Im Haushalt des Ministeriums sind seit einigen Jahren Mittel veranschlagt, die speziell der Förderung der aktuellen Reformaufgaben und Gesetzgebungsvorhaben des Hauses dienen. Wie 1974 sind auch für 1975 für diesen Zweck 1,6 Millionen DM eingeplant. Diese Mittel sind vor allem vorgesehen für: Verbesserung des Verbraucherschutzes, vor allem des Rechts der allgemeinen Geschäftsbedingungen — eine, auch für uns Sozialdemokraten sehr, sehr wichtige Aufgabe —; Maßnahmen zur Verbesserung des Wirtschaftsstrafrechts mit dem Ziel der wirksameren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität; Fortführung der Arbeiten zur Strafrechtsreform und Intensivierung der Anstrengungen zur Verbesserung des Strafvollzugsrechts; Arbeiten zur Harmonisierung und Fortentwicklung des Gesellschaftsrechts und zur gesetzlichen Regelung des Urhebervertragsrechts.Die Arbeiten zur Errichtung eines automatisierten juristischen Informationssystems — Sie kennen es unter dem Namen JURIS — werden mit dem Aufbau eines Entwicklungssystems fortgesetzt. Einbezogen in dieses Datenverarbeitungsvorhaben sind neuerdings vor allem die Bereiche Steuerrecht und auch Sozialrecht. Erwogen ist noch, das System demnächst auch auf Teile des Zivilrechts zu erstrecken. Die Entwicklung vollzieht sich in engster Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzhof, dem Bundessozialgericht, den betroffenen Fachressorts BMF, BMA — und auch den Justizverwaltungen der Länder. Sie erfordert ein Mindestmaß an Personal- und Sachmittelbewilligungen, die in den Voranschlag aufgenommen worden sind.Vielleicht interessiert Sie noch, daß sich die Bundesregierung in einem Verwaltungsabkommen mit dem Land Baden-Württemberg bereit erklärt hat, einen Teil der erheblichen besonderen Kosten zu erstatten, die dem Land in Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen Baader-Meinhof in Stuttgart entstehen. Der Anteil des Bundes — er hat sich freiwillig dazu bereit erklärt — beträgt 9 Millionen DM; 1975 finden Sie im Haushaltsplan dafür 4 Millionen DM eingeplant.Beim Generalbundesanwalt — Kap. 07 04 — wird der Aufbau des Bundeszentralregisters mit elektronischer Datenverarbeitung in Berlin fortgesetzt. Dieses Bundeszentralregister wird durch ein Gewerbezentralregister ergänzt, das kraft gesetzlicher Bestimmung vom 1. Januar 1976 an Auskunft geben soll. Die Bauarbeiten für das Gebäude, daß die EDV-Anlagen nebst Peripherie aufnehmen soll, sind im Gange. Auch für die Entwicklung dieses Projekts, von dem übrigens schon ab 1975 steigende Gebühreneinnahmen zu erwarten sind — es sind in diesem Haushalt 2,1 Millionen DM für Gebühreneinnahmen eingeplant —, waren Folgebewilligungen bei Personal und Sachmitteln unausweichlich, die Sie ebenfalls im Voranschlag finden werden.Der größte Einzelbericht im Justizhaushalt ist der Etat des Deutschen Patentamtes. Hier beobachten wir, daß die Ausgaben für dieses Amt seit einigen Jahren die Einnahmen übertreffen. Der Haushaltsauschuß hat in einem eigenen Beschluß das Justizministerium aufgefordert, baldigst den Entwurf einer neuen Gebührenordnung vorzulegen. Wir hoffen, daß er noch vor Beginn der Sommerferien im Parlament eingebracht wird und bis zum Jahresende behandelt werden kann.Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung zum Europäischen Patentamt. Die Arbeiten zur Errichtung dieses großen europäischen Amtes in München, das in der Endstufe im Ausbau etwa 1 500 Bedienstete haben wird, sind inzwischen voll angelaufen. Ein Interimsausschuß und von ihm für die verschiedener Sachbereiche gebildete Arbeitsgruppen treten in die konkreten Vorbereitungen ein; für deren Koordinierung ist eine eigens in München angesiedelte Planungsgruppe eingerichtet worden. Mittel für den Büropersonal- und Sachbedarf finden Sie in einer besonderen Titelgruppe veranschlagt. Sie werden von der Bundesregierung vorgestreckt und nach den entsprechenden Übereinkommen demnächst anteilig erstattet. Das Ziel ist, das Amt möglichst im Jahre 1977 eröffnen zu können.Insgesamt zeigt Ihnen ein Blick auf den Bundeshaushalt wie in jedem Jahr, daß sich die Ausstattung mit Personal- und Sachmitteln auch 1975 im gewohnten Rahmen, in den gewohnten bescheidenen Grenzen hält und der Gesamtsituation des Haushalts Rechnung trägt.
Deshalb schlage ich vor, den Einzelplan 07 zu genehmigen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort in der Aussprache wird nicht gewünscht. Dann kommen wir zur Abstimmung.
Wer dem Einzelplan 07 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. —
Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit großer Mehrheit angenommen.
Damit stehen wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe den Deutschen Bundestag für Donnerstag, den 20. März 1975, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.