Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister des Innern hat am 29. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schneider , Dr. Wittmann (München) und Genossen betr. Schutz der Industrie und Wirtschaft vor Spionage und Sabotage Drucksache VI/3023 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache V1/3209 verteilt.
Wir kommen zuerst zu Punkt 28 der gemeinsamen Tagesordnung:
a) Mündlicher Bericht des Petitionsausschusses über seine Tätigkeit gemäß § 113 Abs. 1 der Geschäftsordnung
Berichterstatter: Abgeordneter Freiherr von Fircks
b) Beratung der Sammelübersicht 34 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen und systematische Übersicht über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 20. Oktober 1969 bis 31. Dezember 1971 eingegangenen Petitionen
Drucksache VI/3086
c) Beratung der Sammelübersicht 35 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache VI/3166 —
Das Wort als Berichterstatter hat der Herr Abgeordnete Freiherr von Fircks.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Hohen Hause liegt die Drucksache VI/3086 vor. Sie enthält eine systematische Ubersicht aller beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 20. Oktober 1969 bis zum 31. Dezember 1971 eingegangenen Petitionen. Der Gesamtstand der Petitionen beläuft sich zu diesem Zeitpunkt auf 16 124. Seit dem letzten, vom Kollegen Scheu vorgelegten Bericht hat die Anzahl der Neueingänge 1773 betragen.Die Neueingänge betreffen vornehmlich die Bereiche der Sozialversicherung, der allgemeinen inneren Verwaltung — insbesondere des öffentlichen Dienstrechts —, der Rechtspflege sowie des Lastenausgleichsrechts. Die Zahl der Eingaben ist hier unvermindert stark geblieben, ja, sie hat sich zum großen Teil sogar in einzelnen Bereichen erhöht. Ein Vergleich zwischen den im Berichtszeitraum eingegangenen Petitionen und den Eingaben der gleichen Zeit des Vorjahres ergibt sogar eine erhebliche Gesamtzunahme.Ein wesentlicher Grund dieser Entwicklung dürfte darin zu sehen sein, daß die Aktivität von Legislative und Exekutive gerade im Bereich der Sozialversicherung auf ein gesteigertes Interesse in der Bevölkerung trifft. Das Interesse ist besonders ausgeprägt in den Stadtregionen. Bezogen auf eine Million Einwohner steht Hamburg mit 389 Petitionen an der Spitze. Es folgen Berlin mit 387 und Bremen mit 255 Petitionen. Den Schwierigkeiten und Sorgen der Bürger in den Großstädten und Ballungsgebieten, deren Probleme gerade ältere Mitbürger ganz besonders treffen, muß daher, so meine ich, erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet werden.Eines der Probleme, das in der letzten Zeit den Petitionsausschuß wiederholt beschäftigt hat und dem zahlreiche Eingaben gewidmet sind, ist die Stichtagsregelung im Lastenausgleichsrecht. Von Abgeordneten des Petitionsausschusses ist bereits am 19. Juni 1970 ein Gesetzentwurf eingebracht worden, der die Einrichtung einer Stiftung für vertriebene Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte in außergewöhnlichen Härtefällen vorsah. Nach den Vorstellungen der Initiatoren des Gesetzentwurfs sollte für einzelne Fälle oder auch zahlenmäßig ganz kleine Gruppen, die auf Grund der bestehenden Kriegsfolgegesetze keine oder nicht ihrem Schicksal entsprechende Leistungen erhalten können, eine Förderung aus einer Stiftung gewährt werden. Diese sollte jedoch nur auf außergewöhnliche Härtefälle beschränkt sein und damit den zu fördernden Personenkreis einengen.Der Innenausschuß hatte nach seinem Antrag vom 2. Juni 1971 beschlossen, an Stelle der vorgeschlagenen Stiftung einen § 301 b in das Lastenausgleichsgesetz einzufügen, nach dem in außergewöhnlichen Härtefällen aus dem Härtefonds ein angemessener Ausgleich auf Grund von Richtlinien des Präsidenten des Bundesausgleichsamtes oder mit dessen Zustimmung im Einzelfall gewährt werden könne. Mir ist weder verständlich, noch halte ich es im Hinblick
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Freiherr von Fircksdarauf, daß diese Hilfe fast nur ganz alten Mitbürgern zugute kommen wird, für vertretbar, daß diese Initiativen des Petitions- und des Innenausschusses nicht zum Erfolg kommen, weil — soweit ich unterrichtet bin und es übersehen kann — der Haushaltsausschuß eine angeforderte Unterrichtung durch die zuständigen Ministerien seit jetzt acht Monaten nicht bekommt.
Diese Regelung betrifft jedoch nicht jene Fälle, bei denen sich die Ablehnung der Gewährung von Leistungen aus den sogenannten Stichtagsbestimmungen ergibt. Abgesehen davon, daß es sich hier bei den Stichtagsregelungen um teilweise verhältnismäßig große Gruppen handelt, die noch weiter anwachsen, ist insoweit der gesetzgeberische Wille im Gesetz eindeutig zum Ausdruck gekommen, so daß in diesen Fällen von außergewöhnlichen Härten nicht gesprochen werden kann.Aus der Fülle der dem Petitionsausschuß vorliegenden Eingaben sind sechs Gruppen, die sich gegeneinander abheben, ersichtlich, die ich im folgenden kurz darstellen darf.Erstens. Die weitaus überwiegende Zahl der Fälle betrifft Eingaben von Erben Vertreibungsgeschädigter, die selbst nach dem 31. Dezember 1964 in Mitteldeutschland gestorben sind.Zweitens. Eng damit zusammen hängt die Gruppe der im Rentenalter stehenden Geschädigten, die aus Mitteldeutschland nunmehr ins Bundesgebiet gekommen sind, jedoch hier keine näheren Verwandten bis zur Seitenlinie dritten Grades haben, wie es der § 32 des Lastenausgleichsgesetzes fordert, oder überhaupt keine Verwandten haben, weil diese sich entweder noch in ihrer Heimat oder im Ausland befinden. Diesen älteren Geschädigten kann jedoch nicht zugemutet werden, in ihrem Alter und ohne die notwendigen sprachlichen Voraussetzungen etwa zu ihren Kindern nach Amerika, Australien, Südafrika oder sonstwohin zu ziehen, — um nur diese Beispiele zu nennen. Eine Familienzusammenführung im Sinne des Gesetzes liegt in diesen Fällen jedenfalls auch nicht vor.Drittens. Eine zahlenmäßig nicht unerhebliche Gruppe betrifft wegen des inzwischen eingetretenen Zeitablaufs auch die Vertreibungsgeschädigten, bei denen die Erben, meistens die Kinder der Geschädigten, zwar die Stichtagsvoraussetzungen für sich selbst erfüllen, jedoch wegen der Beschränkung der Erbenkette nicht in den Genuß von Leistungen kommen können, weil der unmittelbar Geschädigte in Mitteldeutschland gestorben ist, von seiner mit ihm lebenden Ehefrau sodann beerbt wurde und diese nachher ebenfalls dort verstarb. Hierbei ist nach der Stichtagsregelung insbesondere noch die Vorschrift des § 12 Abs. 7 des Lastenausgleichsgesetzes von Bedeutung.Viertens. Eine immer größer werdende Anzahl von Geschädigten wird auch davon betroffen, daß für die Gewährung von Leistungen ein Aufenthalt an einem bestimmten Stichtag und nicht während eines gewissen Zeitraums verlangt wird. Diesehaben sich zwar unter Umständen sogar längere Zeit im Bundesgebiet aufgehalten, allerdings zwischen den jeweiligen Stichtagen, also vor 1960 bzw. zwischen 1960 und 1964, sind aber sodann ausgewandert. Sie haben ihre enge Beziehung zu Deutschland durch das Beibehalten der deutschen Staatsangehörigkeit und auch dadurch bekundet, daß sie jetzt im Alter nach Beendigung ihrer Berufstätigkeit in das Bundesgebiet zurückkehren und hier leben. Von Bedeutung ist hierbei auch, daß für Zonenschäden nicht die Regelung des Reparationsschädengesetzes gilt.Fünftens. Damit hängen zum Teil auch diejenigen Fälle zusammen, in denen der einjährige Aufenthalt vor den Stichtagen 1950 bzw. 1952 nicht erfüllt ist, wobei sich aber die Geschädigten nunmehr wieder im Bundesgebiet aufhalten bzw. hierher kommen würden, wenn eine entsprechende Regelung bestünde, durch die insbesondere ihre Versorgung sichergestellt wäre.Schließlich sechstens. Verhältnismäßig wenige Einzelfälle stellen diejenigen dar, in denen die Stichtage deswegen nicht erfüllt sind, weil sich der Geschädigte zu diesem Zeitpunkt in einem zu den Aussiedlungsgebieten gehörenden Land befunden hat, das jedoch nicht das Vertreibungsgebiet des Geschädigten selbst ist. Ein Beispiel möge dies erläutern. Der nach Mitteldeutschland vertriebene Ostdeutsche hatte sich auf Grund eines Vertrages verpflichtet, mehrere Jahre in Jugoslawien zu arbeiten. Von dort gelang ihm dann nach dem Stichtag 1952 die Ausreise in das Bundesgebiet. Selbst nach dem Reparationsschädengesetz in der heutigen Fassung kann ihm keine Leistung gewährt werden. Sie können hieraus ersehen, meine Damen und Herren, daß diese Härten in einer so großen Zahl mit verschiedenen Ursachen auftreten — die allerdings begrenzt sind —, daß sie nur durch eine gesetzliche Regelung gelindert oder beseitigt werden können.Hierfür besteht eindeutig eine politische Notwendigkeit. Der Deutsche Bundestag hat daher anläßlich der zweiten und dritten Beratung des Entwurfs des 23. Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes im November 1970 einstimmig einen Entschließungsantrag angenommen — er wurde hierbei vom Bundesrat unterstützt —, durch den die Bundesregierung ersucht wird, zu prüfen, welche Verbesserungen bzw. Vereinheitlichungen bei den verschiedenen Stichtagsregelungen im Lastenausgleichsgesetz und zahlreichen anderen Gesetzen, die damit zusammenhängen, im Hinblick auf eine endgültige Lösung der Kriegsfolgengesetzgebung vorgenommen werden können.Die hier dargestellten Probleme — die in Einzelfällen auf Grund von Petitionen bereits dem Bundesminister des Innern zur Ausführung dieses Entschließungsantrags als Material überwiesen wurden — sollten dazu beitragen, die Bundesregierung auch von hier aus nochmals darauf aufmerksam zu machen. Sie sollten aber auch den einzelnen Fraktionen eine Aufforderung sein, sich um eine beschleunigte und generelle Regelung zu bemühen. Die Zeit drängt, meine Damen und Herren,
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Freiherr von Firckswenn wir nicht der Gefahr entgegensehen wollen, daß die Regelung, die wir eines Tages finden, ganz illusorisch ist, weil die mit dem Schaden unmittelbar in Beziehung stehenden Geschädigten dann bereits verstorben sind.Abschließend bitte ich Sie, meine Damen und Herren, den Ihnen in der Sammelübersicht 34 vorliegenden Anträgen des Petitionsausschusses zu den einzelnen Petitionen zuzustimmen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Ich verbinde die Aussprache zu den Punkten a, b und c dieses Tagesordnungspunktes. Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Ich darf wohl davon ausgehen, daß Sie sämtlichen Anträgen der Ausschüsse zustimmen. — Das ist der Fall; dann haben Sie so beschlossen.
Ich rufe Punkt 29 a auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Dreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— aus Drucksachen VI/1298, VI/2249 —
Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache VI/2947 —
Berichterstatter: Abgeordneter Konrad
Abgeordneter von Thadden
Wir behandeln jetzt die Grundgesetzänderung und beraten das einfache Gesetz nachher.
Ich danke den Berichterstattern, den Abgeordneten Konrad und von Thadden für ihren Schriftlichen Bericht. — Die Berichterstatter wünschen das Wort nicht mehr zur Ergänzung.
Dann kommen wir zur Aussprache. Als erster hat das Wort der Abgeordnete Konrad.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Fraktion der SPD habe ich folgende Erklärung abzugeben.Seit die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 die Lösung der Umweltprobleme als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bezeichnet hat und seit der Deutsche Bundestag bei der Beratung vom 16. Dezember 1970, die eine Große Anfrage und einen Antrag zum Umweltschutz betraf, bei der ersten Lesung des Abfallbeseitigungsgesetzes am 22. September 1971 und endlich bei der Aussprache über das Umweltprogramm der Bundesregierung am 3. Dezember 1971 in aller Breite und Tiefe sich mit Fragen des Umweltschutzes beschäftigt hat, ist deutlich geworden, daß die Zuständigkeitsregelung und die Koordinierung zwischen dem Bund einerseits und den Ländern andererseits nicht nur unbefriedigend sind, sondern dringend der Verbesserung bedürfen. Diese Erkenntnis ist im Hause allgemein und ohneEinschränkung auf eine Fraktion vorhanden oder gewachsen.Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes sind die staatlichen Aufgaben grundsätzlich Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt. Eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Umweltschutz fehlte bisher ganz oder ergab sich bestenfalls aus dem Sachzusammenhang. Das gilt insbesondere für die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis.Die Achtung vor der Verfassung verlangt, daß die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern nur dann geändert wird, wenn wirklich schwerwiegende Argumente eine solche Änderung zwingend verlangen. Für Rechtsvorschriften zum Schutz gegen umweltschädliche Produktionsverfahren und Erzeugnisse und auch gegen die immer störender und gefährlicher werdenden Abfälle wird sich diese Ausnahme bejahen lassen. Es ist daher vernünftig, mit der Vorlage auf Drucksache V1/2947 den Anfang zu einer Konzentration der Gesetzgebung über den Umweltschutz beim Bund zu machen. Punktuelle Grundgesetzänderungen unterliegen zwar einer ständigen, gelegentlich auch nicht unberechtigten Kritik. Aber beim Umweltschutz sollte die historische Entwicklung zu einem breiten Verständnis dafür beitragen, daß die auf wenige Wörter beschränkte Änderung des Verfassungstextes einer bedeutenden Entwicklung Raum gibt.Als das Grundgesetz geschaffen wurde, waren Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung noch nicht als eigenständige Aufgaben erkannt, sondern wurden als Sonderfragen des Gewerberechts oder des Nachbarrechts, die mit Hilfe des Polizeirechts gelöst werden könnten, verstanden. Bei der Abfallbeseitigung bestand eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bund und den Ländern, ob eine Gesetzgebungszuständigkeit bereits aus Gründen des Sachzusammenhangs vorhanden war oder nicht. Erfreulicherweise konnte in den Beratungen des Rechtsausschusses aus zwei Vorlagen die Zuständigkeit des Bundes für die konkurrierende Gesetzgebung für Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung entwickelt werden.Wie der Deutsche Bundestag diese neu gewonnene Zuständigkeit bei der Abfallbeseitigung nutzen wird, ergibt sich aus dem heute zur zweiten und dritten Beratung anstehenden Abfallbeseitigungsgesetz. Es hat im Innenausschuß allgemeine Zustimmung gefunden und wird diese hoffentlich auch beim Bundesrat finden. In derselben sachdienlichen und behutsamen, aber auch energischen Weise, in der der Innenausschuß das Abfallbeseitigungsgesetz beraten und einstimmig verabschiedet hat, soll auch an das Immissionsschutzgesetz herangegangen werden.Die bisherigen Ergebnisse, die der Deutsche Bundestag in der Umweltschutzgesetzgebung erzielt hat, beweisen, daß grundsätzlich die Einigung in allen wichtigen Fragen angestrebt und daß insbesondere auch auf die Übereinstimmung mit dem Bundesrat und den Bundesländern größter Wert gelegt wird;
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Konraddenn wir wissen, daß im Umweltschutz der Vollzug der Gesetze nicht minder wichtig ist als die Beschlußfassung darüber. Daß es bisher gelungen ist, in dieser Gesetzgebung 'eine breite Basis gegenseitigen Vertrauens zu gewinnen und zu erhalten, läßt uns auf einen guten Fortgang der weiteren Beratungen hoffen.Es soll aber gerade bei der heute anstehenden Grundgesetzänderung nicht verschwiegen werden, welche wertvollen Vorarbeiten die Länder durch ihre Gesetzgebung im Immissionsschutz und bei der Abfallbeseitigung teilweise geleistet haben. Das, was auf ihrer Ebene weiterhin zu tun bleibt, wird weder durch die Grundgesetzänderung noch durch die beiden bereits erwähnten Bundesgesetze geschmälert.Die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag sieht in der — wenn auch gegenüber den Ursprungsvorlagen eingeschränkten — Grundgesetzänderung einen zukunftsträchtigen Fortschritt, der sowohl für große Industriebereiche als auch für den einzelnen Bürger den Erlaß klarer und bundeseinheitlich geltender, gerechter Gesetze ermöglicht. Die Fraktion der SPD stimmt der Vorlage zu.
Das Wort hat der Abgeordnete von Thadden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Hause liegt das 30. Gesetz zur Änderung unserer Verfassung, des Grundgesetzes, vor. Das gibt mir Veranlassung, zunächst ein Wort der Sorge und der Mahnung zu diesem Tatbestand zu sagen; denn niemand, der auch nur einmal, sei es mit einem Professor des Staatsrechts, sei es mit einem Anwalt, gesprochen hat, kann übersehen, daß es so gut wie niemanden mehr in der Bundesrepublik Deutschland gibt, der über einen vollständigen Text unserer derzeit geltenden Verfassung verfügt. Dies bedeutet, daß wir uns immer wieder zu fragen haben, ob das Stückwerk, das wir hier verrichten — Sie werden nachher hören, daß meine Fraktion dem Anliegen zustimmt —, die Bemühung um eine kontinuierliche grundsätzliche Überprüfung unseres Grundgesetzes ersetzen kann.Ich möchte deswegen namens meiner Fraktion diejenigen Damen und Herren, die sich damit beschäftigen, eine Totalrevision unserer Verfassung vorzubereiten, ermutigen, ihre Gedankengänge nicht nur fortzusetzen, sondern sich von der grundsätzlichen Zustimmung dieses Hauses getragen zu wissen; denn es hat auf die Länge der Zeit keinen Zweck, wenn wir lediglich nach den uns jeweils deutlich werdenden Notwendigkeiten einer Änderung verfahren und nicht prüfen, ob in Zukunft dem Rechtsstaat nicht besser damit gedient ist, wenn wir ein revidiertes Grundgesetz haben, bei dem wir die Bestimmungen vielleicht etwas flexibler fassen, so daß nicht jedes einzelne Wort darauf hin abgeklopft werden muß, ob ein notwendiges Gesetzes-vorhaben dadurch gerade noch gedeckt wird oder nicht. Ich meine, die Enquete-Kommission, bei der ich insbesondere die Verdienste der Kollegen Dr.Lenz und Dr. Schäfer hier ausdrücklich einmal hervorheben möchte, ist auf dem richtigen Weg, wenn sie nach dieser Fortentwicklung unserer Verfassung in das neue Jahrtausend hinein sucht. Das ist das eine.Das zweite: Wenn wir heute zustimmen, bedeutet das keine Aufgabe des Standpunktes der CDU/ CSU, daß wir nur dann zustimmen, wenn wir gleichzeitig bei einer Verfassungsänderung übersehen können, was in der Ausführung daraus gemacht werden soll. Allerdings ist die Frage, die uns hier heute beschäftigt, von einer so großen Dringlichkeit, daß wir Bedenken zurückgestellt haben. Mein Vorredner hat bereits darauf hingewiesen, daß die Vorarbeiten zu dieser Verfassungsänderung um mehrere Jahre weit zurückreichen. Ich brauche das deswegen hier nicht zu vertiefen, sondern möchte nur an Hand von drei Beispielen die Notwendigkeit der Änderung des Grundgesetzes verdeutlichen. Erstes Beispiel: Abfallbeseitigung. Wenn, wie wohl heute allgemein bekannt ist, innerhalb von wenigen Jahren der Schutt des Abfalls von 200 000 auf 350 000 cbm angewachsen ist, macht allein das schon deutlich, welche Riesenproblematik auf uns zukommt.Um ein Beispiel aus der Verschmutzung unserer Luft zu nehmen: wenn ein einziges Düsenflugzeug bei 'einem Start soviel Sauerstoff verbraucht, wie 17 000 ha unseres Waldgebietes an Sauerstoff liefern, macht auch dies wiederum deutlich, daß die Frage der Luftverschmutzung, der Luftverunreinigung von ganz erheblicher Bedeutung ist. Oder wenn, um ein Beispiel aus der Lärmbekämpfung zu erwähnen, es passiert, daß, nachdem man einmal in einem Laden, in dem mit Schreibmaschinen gehandelt wird, neue Lärmschutzeinrichtungen überprüft hat, beim Ausprobieren der Schreibmaschinen die Tippfehler um 28 % zurückgehen, so ist dies wiederum ein Beispiel dafür, in welch hohem Maße der Lärm die menschliche Leistungsfähigkeit anrühren, ja schädigen kann. Das haben unsere Vorfahren übrigens manchmal besser als spätere Generationen gewußt. In Amsterdam hat man bereits im 17. Jahrhundert bestimmte Handwerke, die mit besonderer Lärmerzeugung verbunden waren, außerhalb der Wohngebiete angesiedelt — etwas, woran sich spätere Generationen dann ruhig hätten erinnern können.Meine Damen und Herren, wir brauchen also diese Grundgesetzänderung. Ich möchte aber namens meiner Freunde sagen: Grundgesetzänderungen und Ausführungsgesetze allein genügen auf keinen Fall. Was wir zusätzlich brauchen und was von diesem Hause nicht erzwungen werden kann, ist erstens eine Bewußtseinsänderung in unserer Bevölkerung, damit man nicht nur auf Strafen, auf Antriebe reagiert, sondern von sich aus handelt. Ich meine deshalb, daß wir einmal zwei Gruppen ausdrücklich hervorheben und ihnen unseren Dank aussprechen sollten, zum einen die gar nicht so seltenen Gruppen in unserer Jugend, die sich freiwillig, aus eigenem Antrieb heraus, und zwar ohne Bezahlung, darum bemühen, unsere Landschaft wieder sauberer zu machen. Zum anderen, meine ich, verdienen auch diejenigen ein Wort der Anerkennung, die auf örtlicher Ebene dem Lärm, beispiels-
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von Thaddenweise auf kleineren Flughäfen, entgegentreten. Ich weiß, daß unseren Behörden solche Proteste in Form von Unterschriftensammlungen und dergleichen nicht immer lieb sind. Andererseits verrät diese wache Aufmerksamkeit für den wachsenden Lärm, der beispielsweise in der Nähe von Flughäfen besteht, daß in unserer Bevölkerung das Verständnis für die Gefahren des Lärms wächst.Das zweite, das ich hervorheben möchte — es mag sein, daß es später noch von anderer Seite angesprochen werden wird —, ist neben dieser Bewußtseinsänderung die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. Ich komme selber aus einem Gebiet, das unmittelbar an der Grenze liegt. Wenn sich allein in einem Landkreis dort unten gleich an drei Stellen zeigt, wie notwendig es ist, daß man über die Grenzen hinweg zusammenarbeitet, dann ist im Blick auf das ganze Bundesgebiet wohl anzunehmen, daß sich die Probleme vervielfachen. Wir bitten deswegen von dieser Stelle aus unsere Freunde in den europäischen Parlamenten, der Frage einer Zusammenarbeit im Umweltschutz über die Grenzen hinweg ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Fraktion der CDU/CSU, die Mitte dieses Hauses, stimmt der Grundgesetzänderung aus Überzeugung zu. Sie weiß sich dabei von der Zustimmung nicht nur unserer Freunde im Lande, sondern aller Denkenden getragen. Wir erinnern daran, daß ein Mann, der auf dem Gebiet des Umweltschutzes seit zwei Jahrzehnten an führender Stelle tätig ist, nämlich der Schweizer Professor Walther, aus seinen Erfahrungen als Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Bern erklärt hat, es sei festgestellt worden, daß mehr und mehr Menschen, die den Kontakt zu einer gesunden Natur verloren haben, geschädigt werden. Wir wollen mit dieser Grundgesetzänderung einen Anfang machen, um diesen Gefahren besser entgegentreten zu können.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag tut heute mit dieser Grundgesetzänderung einen entscheidenden Schritt, um den Föderalismus in unserem Land glaubwürdig zu erhalten. Es geht bei dieser Entscheidung nicht um eine Machtverschiebung zwischen Ländern und Bund zugunsten des Bundes, sondern es geht um eine Kompetenzübertragung, die erforderlich ist, um die anstehenden Aufgaben im Bereich des Umweltschutzes lösen zu können. Der Föderalismus in unserem Staat hat nicht nur durch die Garantie des Grundgesetzes, sondern durch unser Verständnis seiner machtverteilenden Funktion für immer seinen Platz. Uns muß es darum gehen, die Funktionsfähigkeit zu erhalten. Die funktionale Bedeutung des machtverteilenden Prinzips ist unabhängig davon, welche Zuständigkeiten bei Bund und Ländern angesiedelt sind. Im Gegenteil, wir würden vordergründigen Zentralstaatsverfechtern Argumente in die Hand geben, wenn die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes nicht die Notwendigkeiten erkennen würden, die z. B. im Bereich des Umweltschutzes gegeben sind. Ich bin deshalb dankbar, daß sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages positiv zur Übertragung der Kompetenz für die Abfallbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung auf den Bund äußern.
Jedermann in unserem Land wird verstehen, daß es keinen Anlaß und keinen Grund dafür gibt, das Problem der Abfallbeseitigung in Niedersachsen anders zu lösen als in Rheinland-Pfalz, daß es keinen Grund gibt, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung in den verschiedenen Bundesländern nach unterschiedlichen Bestimmungen zu regeln.
Durch diese Grundgesetzänderung soll auch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für diese Bereiche garantiert werden. Zugleich soll durch sie verhindert werden, daß sich durch unterschiedliche Umweltschutzregelungen in den einzelnen Bundesländern eine Art Gefälle des Umweltschutzes mit daraus resultierenden, nicht wünschenswerten Standortentscheidungen für Industriebetriebe ergibt.
Schließlich ist mit Recht auf den europäischen Aspekt hingewiesen worden. Umweltschutz kann heute nicht mehr im nationalen Rahmen, sondern nur in internationaler Zusammenarbeit gelöst werden. Wenn wir verhindern wollen, daß durch Vernachlässigung des Umweltschutzes in einzelnen Staaten billige Flaggen des Umweltschutzes entstehen, daß Wettbewerbsverzerrungen auf dem Weltmarkt dadurch entstehen, daß ein Staat die Fragen des Umweltschutzes weniger ernst nimmt als ein anderer, wenn wir verhindern wollen, daß in einer Zeit, in der Zollschranken abgebaut werden, durch unterschiedliche Umweltschutzregelungen neue Handelshindernisse entstehen, dann ist es notwendig, daß wir zunächst im eigenen Bereich sicherstellen — und diesem Ziel dient die Grundgesetzänderung —, daß für das ganze Bundesgebiet gleiche gesetzliche Regelungen möglich werden. Nur dann können wir mit dem Anspruch, ernst genommen zu werden, auch eine internationale Zusammenarbeit fördern.
Die Bundesregierung verfolgt mit der erstrebten Grundgesetzänderung nicht die Absicht, Machtverschiebungen zwischen Bund und Ländern herbeizuführen. Sie läßt sich allein von dem Gedanken leiten, daß hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern für ein so wichtiges Gebiet wie den Umweltschutz die sachlich notwendige Regelung herbeigeführt und die Möglichkeit geschaffen werden muß, bundeseinheitliche Regelungen zu schaffen.
Ich danke dem Hohen Hause für die positive Beurteilung dieses Vorhabens.
Meine Damen und Herren, wird zu diesem Punkt der Tagesordnung das Wort gewünscht? Das ist nicht der Fall. Ich
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Vizepräsident Dr. Jaegerschließe die Aussprache. Die Abstimmung wird, wie vereinbart, um 10.30 Uhr stattfinden.Ich rufe dann Punkt 29 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beseitigung von Abfallstoffen (AbfG)— Drucksache VI/2401 —Schriftlicher Bericht des Innenausschusses
— Drucksache VI/3154 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. GruhlAbgeordneter Müller
Ich danke den Berichterstattern für ihren Schriftlichen Bericht. Wird eine Ergänzung gewünscht? — Herr Abgeordneter Gruhl!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Entwurf des Abfallbeseitigungsgesetzes, den die Bundesregierung vor über einem Jahr eingebracht hat, ist in den Beratungen so weit geändert und, wie ich sagen möchte, auch so stark verbessert worden, daß Sie es mir als Berichterstatter sicher erlauben, einige Ausführungen zu machen. Es handelt sich um das erste größere Umweltschutzgesetz, das wir in diesem Hause verabschieden.Es hat zwei Ziele. Ein Ziel besteht darin, die Gefährdung der Umwelt durch Abfall zu verhindern. Die Gefahren in dieser Beziehung sind uns im vorigen Jahr durch die verschiedenen Vorfälle in der Bundesrepublik sehr, sehr deutlich geworden. Das Gesetz hat weiterhin das Ziel, unsere Landschaft sauber und in einem menschenwürdigen Zustand zu halten, der es uns erlaubt, gern in dieser Welt zu leben.Die Erweiterung des Gesetzentwurfes wurde vor allen Dingen damit möglich, daß der Bund durch unseren heutigen Beschluß die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auf diesem Gebiet erhält.In den Beratungen hatten wir das Ergebnis der drei Anhörungstermine zu berücksichtigen, die wir zu diesem Punkt veranstaltet haben. Außerdem waren die Vorschläge des Bundesrates, in vielfältiger Weise vorgetragen, mit in das Gesetz aufzunehmen.Die Arbeitsgruppe, die wir interfraktionell gebildet hatten, mußte weiterhin die Empfehlungen der mitberatenden Ausschüsse berücksichtigen, und sie hat es auch getan. Damit ist das Gesetz, wie wir glauben, lückenloser, genauer und auch strenger geworden.Die ökologischen Ziele des Gesetzes sind in § 2 eingehend definiert. Es ist meines Erachtens das erstemal, daß man versucht hat, Kriterien zu finden, die Natur und Landschaft in größerem Zusammenhang berücksichtigen. Wir wollen mit dem Gesetz erreichen, daß der Abfall in Zukunft überallin der ganzen Bundesrepublik gesammelt und erfaßt wird. Wir wollen weiterhin erreichen, daß alle Arten von Abfall — angefangen vom Hausmüll bis zu den gefährlichen toxischen Stoffen — erfaßt werden.Die Beseitigung soll nur noch in dafür zugelassenen Anlagen erfolgen. Dem Bürger soll es nicht mehr gestattet sein, auf welche Weise auch immer — im Hof oder im Garten, durch Verbrennung oder andere Maßnahmen — Abfälle privat zu beseitigen, weil das nicht nur zu Luftverschmutzung, zu Lärm, sondern auch zu anderen Belästigungen führt. Die zugelassenen Anlagen, die in Zukunft die Abfälle beseitigen, werden einer strengen Kontrolle unterliegen und einem Genehmigungsverfahren unterworfen. Auch nach Einstellung einer Deponie wird z. B. die Kontrolle noch nicht enden, sondern es wird auf die Rekultivierung des Landes weiterhin großer Wert gelegt werden. Entsprechende Bestimmungen sind im Gesetz vorgesehen.Wir hoffen bei dieser lückenlosen Erfassung des Abfalls auf die Mitarbeit aller Bürger. Wir hoffen, daß durch Verständnis und Erziehung in Zukunft eine größere Bereitschaft gegeben sein wird, zu einer ordnungsgemäßen Abfallbeseitigung beizutragen.Für die Unbelehrbaren mußten wir leider in diesem Gesetz auch Strafen vorsehen. Wir haben das Strafmaß in bezug auf Ordnungswidrigkeiten gegenüber der ursprünglichen Vorlage verdoppelt und auf 100 000 DM erhöht. Für Straftaten ist bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vorgesehen. Dies gibt die Möglichkeit, in Zukunt gegen offensichtliche fahrlässige Verstöße auch drastisch einzuschreiten.Für die Durchführung des Gesetzes sind die Länder verantwortlich. Wir haben den Ländern nicht vorgeschrieben, welche Körperschaften sie mit der Durchführung beauftragen sollen, gingen aber von der Vorstellung aus, daß die Gebiete eines Sammelbezirks möglichst groß sein sollten, damit sich die Lasten auf die Bürger etwa gleichmäßig verteilen. Denn eine zusätzliche Last kommt durch dieses Gesetz auf die abfallbeseitigenden Körperschaften hinzu: Wir haben ausdrücklich das Einsammeln von Abfällen auf land- und forstwirtschaftlichen Grundstücken mit vorgesehen. Die Abfallbeseitigungspflichtigen, die von den Ländern bestimmt werden, sollen auch für das Einsammeln verantwortlich sein. Das kann zu beträchtlichen Kosten führen. Es wird daher gut sein, wenn sich diese Kosten auf ein großes Gebiet, beispielsweise auf einen ganzen Landkreis, verteilen.In die Abfallbeseitigung sind auch die freien Unternehmer, die bisher zum großen Teil schon mit Erfolg mitgearbeitet haben, eingeschlossen. Damit und auch mit den Beseitigungsanlagen der großen industriellen Unternehmen ist ein gewisser Verbund geschaffen worden. Das Gesetz enthält Regelungen, wonach ein Beseitiger veranlaßt werden kann, Stoffe, die auf anderem Gebiet in der Nähe anfallen, auch mit zu verarbeiten.Die Methoden der Beseitigung regelt das Gesetz allerdings nicht. Auf Grund unserer Beratungen
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Dr. Gruhlwurde aber eine Bestimmung über Materialien neu eingefügt, deren Beseitigung mit großen Schwierigkeiten oder mit Umweltgefährdung verbunden sein kann. Ihren Ursprung hat diese Überlegung in der anschwellenden Masse der Einwegverpackungen. Wir haben aber die Bestimmung nicht auf die Einwegverpackungen begrenzt, sondern sprechen allgemein davon, daß Verpackungen und Behältnisse in Zukunft durch die Regierung per Verordnung entweder kennzeichnungspflichtig gemacht, in der Menge begrenzt oder ganz untersagt werden können.Eine darüber hinausgehende Regelung, durch die alle etwa umweltschädlichen Produkte von vornherein zu erfassen sind, erschien aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich. Wenn solche Fälle in Zukunft auftreten werden, werden wir im Bundestag neue Gesetze schaffen müssen. Ich möchte im Namen unserer Arbeitsgruppe und des Innenausschusses ausdrücklich betonen, daß sich das Hohe Haus der Verantwortung bewußt sein und hier in Zukunft durch Sondergesetze auch neu auftretende Schwierigkeiten regeln sollte.Die Methoden der Verarbeitung sind vielfältig. Unser Bestreben wird es sein müssen, die Wiederverwendung von Stoffen in immer stärkerem Maße zu ermöglichen und Stoffe einer erneuten Verarbeitung zuzuführen.Eine ökologisch sehr günstige Methode der Abfallverarbeitung ist die Kompostierung, weil mit dem Kompost ein Stoff in den Kreislauf der Natur zurückgeführt wird. Die Verbrennung ist als Methode nicht so günstig, wird sich wahrscheinlich aber in Ballungsgebieten mit massiertem Müllanfall nicht vermeiden lassen. Mit der Verbrennung ist allerdings auch heute schon oft eine Aussortierung von Metallen verbunden, die dann der Wiederverwendung zugänglich gemacht werden. Außerdem verbleibt bei der Verbrennung sehr viel an Reststoffen, die auch einer Kompostierung oder anderweitigen Verarbeitung zugeführt werden können.Die Deponie ist, auch wenn sie geordnet erfolgt, im Grunde die schlechteste Methode. Man wird nie verhindern können, daß bei einer Deponie zumindest vorübergehend die Landschaft verunstaltet wird und daß sich auch späterhin hier nicht die allergünstigsten Folgen ergeben. Das Gesetz schreibt aber, wie ich schon sagte, Maßnahmen zur Rekultivierung des Landes zwingend vor, so daß nach Beendigung einer solchen Deponie das Land in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden muß.Wir haben auch einen Paragraphen über Autowracks und Altreifen neu in das Gesetz aufgenommen. Wir konnten noch nicht alle Aspekte dieses Sondermülls regeln und haben das Innenministerium aufgefordert, hier Ende des Jahres einen weiteren Erfahrungsbericht vorzulegen. In einer Entschließung soll der Bundestag heute die Regierung auffordern, einen Bericht über die Erfahrungen gerade auf dem Gebiet der Altautos und Altreifen vorzulegen und Vorschläge für eine Novellierung dieses Gesetzes oder eventuell für ein Sondergesetz zu machen.Die Probleme des Sondermülls der Industrie- und der Gewerbebetriebe waren ein wichtiger Punkt unserer Beratungen. Einige große Industriebetriebe sind in der Lage, ihren Abfall selbst ordnungsgemäß zu beseitigen. Die kleineren Betriebe können das leider nicht. Darum haben wir auch die Regelung neu eingefügt, daß die Länder in ihren Abfallbeseitigungsplänen speziell für den Sondermüll der Industrie Beseitigungsanlagen überregionaler Art nachweisen müssen. Wir haben auch die Länder verpflichtet, diese Planungen durchzuführen.Ein weiterer schwieriger Punkt war die Massentierhaltung, die von Jahr zu Jahr an Bedeutung zugenommen hat und damit auch immer stärker zu einem Faktor der Umweltbelästigung geworden ist. Wir haben vorgesehen, daß ein großer Teil der Schlachtabfälle mit in die Tierkörperbeseitigung übernommen wird. Weiterhin haben wir neu vorgesehen, daß die Massen von Fäkalien, die bei diesen Anstalten anfallen und das übliche Maß einer landwirtschaftlichen Düngung überschreiten, besonderen Verordnungen unterworfen sind, die der Bundesminister cles Innern mit dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit auszuarbeiten hat. Wir hoffen damit auch dem Anliegen der Landwirtschaft und der Einwohner, die in der Umgebung solcher Massentierhaltungen leben, gefolgt zu sein. Es gibt verschiedene Methoden, den Abfall dieser Massentierhaltungen zu beseitigen, und es wird auch an neuen Methoden gearbeitet.Auf einen Kernpunkt des Gesetzes möchte ich noch eingehen. Um den genannten Sondermüll der Industrie- und Gewerbebetriebe zu erfassen, ist es nötig, daß eine Bestandsaufnahme dieser Abfälle vorgenommen wird. Das Gesetz verpflichtet daher alle Betriebe, möglichst vor Aufnahme der Produktion, aber spätestens bei Aufnahme der Produktion zu melden, welche Art von Abfällen bei dieser Produktion anfallen werden.Diese Bestimmung verfolgt drei Ziele. Das erste Ziel ist, wie ich schon sagte, die Schaffung einer Grundlage für die Planung der Länder zur Beseitigung des Sondermülls.Zweitens geht es um die Erfassung der Stoffe, die einer Wiederverwendung in anderen Industriebetrieben zugeführt werden können. Ein solches System ist von der Industrie bisher schon freiwillig aufgebaut worden; es funktioniert aber nur teilweise. Wir hoffen, daß es durch diese gesetzliche Mithilfe den Industrieunternehmen in Zukunft leichter fallen wird, über eine zentrale Meldestelle zu erfahren, wo welche Stoffe anfallen, die für eine Wiederverarbeitung in Frage kommen.Der dritte Grund für diese Bestimmung ist der, daß man über diese Meldepflicht den Abfall unter Kontrolle hat. Die Betriebe werden nämlich auch anschließend nachweisen müssen, wo die entsprechenden Stoffe geblieben sind. Da auch die Transportunternehmungen in Zukunft gehalten sind, Aufzeichnungen zu machen und Bücher darüber zu führen, was sie transportiert haben und wohin sie es transportiert haben, sind damit der Abfall und sein Weg, wie wir glauben, lückenlos erfaßt. Es dürfte eigentlich zu solchen Vorfällen wie im vorigen Jahr
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Dr. Gruhlnicht mehr kommen, es sei denn, daß mutwillig gegen das Gesetz verstoßen wird.Ebenfalls neu aufgenommen wurde eine Bestimmung, die die Einfuhr von Abfällen über die Grenze regelt. Wir haben diese Einfuhr nicht grundsätzlich untersagt, denn auch die Bundesrepublik führt Abfallstoffe in andere Länder aus. Um hier die Gegenseitigkeit aufrechtzuhalten, konnten wir die Einfuhr nicht verbieten, sondern nur unter Kontrolle stellen und den Nachweis verlangen, wo diese eingeführten Stoffe schließlich verbleiben.Meine Damen und Herren, ich hoffe die wichtigsten Punkte der Ergebnisse der Beratungen im Innenausschuß hier vorgetragen zu haben und damit noch einmal eine Übersicht darüber gegeben zu haben, was wir mit dem Gesetz bezwecken und wie wir den Zweck erreichen wollen.Da ich selbst die Ehre hatte, einer interfraktionelle Arbeitsgruppe vorzusitzen, die die endgültige Ausarbeitung übernommen hatte, möchte ich an dieser Stelle den Vertretern der Ministerien danken, die daran mitgewirkt haben. Auch möchte ich den Kollegen der Fraktionen danken, die hier mitgearbeitet haben, insbesondere dem Kollegen Müller aus Mülheim, der dieses Gesetz in ständigem Kontakt mit uns zu einem, wie ich glaube, erfolgreichen Abschluß geführt hat.Das Gesetz wird allerdings nur dann zur vollen Wirksamkeit kommen, wenn es nach Verabschiedung durch den Bundestag von den Ländern schnellstens ausgeführt wird und wenn vor allen Dingen die Planungen der Länder, wie vorgesehen, in Gang kommen. Das Gesetz liegt damit in der Hand der Länder und aller unserer Bürger. Ohne Mithilfe der Bürger in diesem Lande werden wir die Ziele des Gesetzes niemals erreichen. Darum bitte ich alle, sich in Zukunft so zu verhalten, wie es dem Menschen angemessen ist und wie es auch das Gesetz für die Zukunft vorsieht.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der ersten Lesung des Abfallbeseitigungsgesetzes unmittelbar nach der Sommerpause dieses Parlaments im Jahre 1971 haben Sprecher aller Fraktionen des Hauses zugesichert, die Beratungen schnell und zügig voranzutreiben. Im Blick auf die Eilbedürftigkeit des Gesetzes, aber auch unter dem Eindruck, daß zwischenzeitlich eine ganze Reihe neuer Skandale in der Müllbeseitigung die Öffentlichkeit beunruhigte, haben die Einzelberatungen einen unverhältnismäßig raschen Verlauf genommen. Wer den ursprünglichen Regierungsentwurf mit der jetzigen Beratungsunterlage vergleicht, wird feststellen, daß nicht nur das Tempo der Beratung dem olympischen Jahr angepaßt war, sondern darüber hinaus sachliche Arbeit geleistet wurde, diezu ganz wesentlichen Ergänzungen und, wie ich meine, Verbesserungen des Rechts der Abfallbeseitigung geführt hat.Wenn ich darauf verweise, daß die Beratungen schnell und zügig verlaufen sind, dann steht das nicht unbedingt in Widerspruch zu dem vorliegenden Entwurf auf Drucksache VI/3154, der unter dem Antrag des Ausschusses das Datum „17. Februar 1792" ausweist. Wir werden durch den Druckfehler angeregt, zu überlegen, ob wir uns die Umweltverhältnisse von damals zurückwünschen sollten oder ob nicht mit diesem Gesetzentwurf so schnell verfahren wurde, daß wir der Zeit hinterherlaufen.Die an der Regierungsvorlage vorgenommenen Veränderungen — das sage ich im Blick auf die Regierungsbank — sollten nicht zu einem abwertenden Urteil führen. Sie sind das Ergebnis intensiver Beratungen der vom Innenausschuß berufenen erweiterten Berichterstatter-Arbeitsgruppe, die bemüht war, auch die letzten Anregungen und Hinweise aus dem öffentlichen Anhörverfahren sowie die Anregungen des Bundesrats und der mitbeteiligten Ausschüsse des Parlaments zu berücksichtigen. Ich habe Anlaß, mich an dieser Stelle für die faire Zusammenarbeit und die gebotene Gründlichkeit der Beratung in dieser Arbeitsgruppe zu bedanken. Mein verbindlicher Dank gilt insbesondere dem Kollegen Gruhl, der dieser Arbeitsgruppe vorgestanden hat.
Die Mitwirkung des Ministeriums und des Vorsitzenden der Länderarbeitsgemeinschaft Abfallbeseitigung war für uns alle nicht nur arbeitserleichternd, sie macht auch gleichzeitig unser Bemühen verständlich, das Beratungsergebnis auf sichere Füße zu stellen. Schließlich, so denke ich, drücken die erfolgten Veränderungen ein wenig von dem Selbstverständnis dieses Parlaments aus, das sich nicht als Zustimmungsmaschine, sondern als beratendes Arbeitsgremium versteht.Die gründlichen Beratungen haben zu einem Ergebnis geführt, dem im federführenden Ausschuß alle Fraktionen zustimmen konnten und dem sicher auch heute hier im Plenum eine einhellige Befürwortung zuteil werden wird.Ein in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit häufig geäußerter Verdacht ist völlig unbegründet: die Einstimmigkeit beruhe entweder auf einem faulen Kompromiß, oder sie kennzeichne ohnehin nur unverbindliche Aussagen. In Wirklichkeit ist in den Beratungen erreicht worden, den Anforderungen in diesem Bereich des Umweltschutzes, also der Abfallbeseitigung, entscheidend Rechnung zu tragen. Angesichts der trüben Erfahrungen, die in unserem Land gerade auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung gesammelt worden sind, mußte darauf geachtet werden, nicht nur Ordnungsvorschriften zu erlassen, sondern gleichzeitig den Behörden durch verstärkte Kontrollmöglichkeiten die Durchsetzung dieser Vorschriften zu erleichtern.Die Gesamtkonzeption des Gesetzes wird an einigen Kernbestimmungen klar, die ich nur in ihrem wesentlichen Inhalt kurz aufzeigen möchte. Sie
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Müller
sind meines Erachtens geeignet, die Entwicklung darzustellen, die der Umweltschutz in der Bundesrepublik überhaupt nehmen sollte.Ziel des Gesetzes ist es — bis auf einige Sondertatbestände, auf die ich nicht eingehen will —, die gesamte Abfallbeseitigung einer einheitlichen Regelung zu unterwerfen, die vom Einsammeln der Abfälle bis hin zur Ablagerung der letzten Rückstände reicht. Durch den neu eingeführten § 4 a, auf den Kollege Gruhl bereits eingegangen ist, wird sichergestellt, daß das Autowrack nicht mehr länger als Einzelexemplar an Straßenrändern oder als Massengut auf Grundstücken gelagert wird. Damit wird, so denke ich, gerade noch eben rechtzeitig jenem beängstigenden Zustand entgegengewirkt, der heute in den USA Städte erdrückt und Landschaften zerstört und bei uns über kurz oder lang mit Sicherheit ebenfalls eintreten würde. Durch die Einbeziehung der Shredder-Anlagen oder der Anlagen zur Beseitigung von Autoreifen in die Abfallbeseitigungspläne wird aber vor allen Dingen eine langfristige Vorausschau gesichert.In einem besonderen Entschließungsantrag des Innenausschusses fand der erklärte Wille der Ausschußmitglieder seinen Niederschlag, den Vollzug des Gesetzes gerade in diesem hier aufgezeigten Punkt zu beachten, um bei Notwendigkeit gesetzgeberische Initiativen, wann immer das sein muß, unverzüglich einleiten zu können. Wir halten aber die Vollzugskontrolle des Bundes und der Länderparlamente über die umweltschützenden Gesetze insgesamt für unerläßlich. Das sollte nicht allein eine Sache der Verwaltung sein. Deshalb muß, von rein formalen Aufforderungen an die Adresse der Bundesregierung zu einer fristgebundenen Berichterstattung an den Bundestag einmal abgesehen, ein ständiger, nicht abreißender Informationsfluß, die Sicherung einer kompletten Ubersicht erreicht werden, um jederzeit Erfahrungen, die gesammelt wurden, überprüfen und dann auch zügig handeln zu können.Weil wir von den bloßen Reaktionen auf Fehlentwicklungen weg, hin zu bewußten und gesicherten Aktionen gelangen müssen, wenn wir in der Verbesserung und der Gestaltung unserer Umweltbedingungen auf Dauer erfolgreich sein wollen, besteht beim Innenausschuß die Bereitschaft, einmal beschlossene Gesetze nicht aus dem Auge zu verlieren. Ich erwähne das nicht nur, weil hier Neuland beschritten wird, sondern auch im Hinblick auf die vielen Besorgten draußen im Land, die wissen sollen, daß auf dem Feld des Umweltschutzes durch das Parlament nicht Beschwichtigungspolitik betrieben wird.
Verständlich sollte sein, meine Damen und Herren, daß wir mit unseren Vorstellungen nicht nur Gegenliebe finden werden. Denn die Eingriffsverwaltung, für die wir uns um der Sache willen entschieden haben, ist natürlich etwas anderes als eine Leistungsverwaltung, bei der begünstigte Bürger ihre Ansprüche anmelden und auch verwirklichen wollen.Das Gesetz hat weiter das Verursacherprinzip, soweit es sich unter den besonderen Bedingungen der Abfallbeseitigung realisieren läßt, in bestimmter Weise angesprochen. Der Zwang des Gesetzes hält alle Besitzer von Abfällen an, diese tatsächlich dem Beseitigungspflichtigen zu überlassen. Die Verpflichtung zur Überlassung von Abfällen bringt in der Folge ,die eigentlichen Belastungen den Gemeinden oder den nach Landesrecht bestimmten Körperschaften. Sie haben nicht nur die Beseitigung sicherzustellen; sie müssen darüber hinaus die einzelnen Anlagen oder Deponien auf ihrem eigenen oder dem Gebiet einer anderen Gemeinde betreiben.Ich kann von dieser Stelle aus nur an das einsichtsvolle Mitgehen von Stadträten, Gemeinderäten und Bürgern appellieren, bei der Ausweitung von Abfallbeseitigungsanlagen mitzuwirken und nicht zu versuchen, durch ungerechtfertigte Bedenken und Einsprüche immer die Anlagen in die Gemeinden des Nachbarn verlagern zu wollen. Hier tut nicht nur Zusammenarbeit der Gemeinden innerhalb der Region selbst Not; es sollte auch der Bund durch vertretbare und geeignete Finanzhilfen assistierend mitwirken.Bezüglich der Finanzierung hat das Verursacherprinzip keinen ausdrücklichen Niederschlag in diesem Gesetz gefunden. Dies ist eine Aufgabe des von Land zu Land verschiedenen kommunalen Abgabenrechts.Ich muß hier selbstkritisch feststellen, daß die auch von mir in der ersten Lesung des Gesetzes bekundete Absicht, nach Möglichkeit einen einheitlichen Gebührenmaßstab oder eine Kostendeckung im Abfallbeseitigungsgesetz vorzusehen, wegen unüberwindlicher verfassungsrechtlicher, aber auch praktischer Bedenken, die dem entgegenstanden, nicht zu verwirklichen war. Ich bedaure das. Mein Bedauern darüber ist um so größer, als zu erwarten sein wird, daß manche Gemeinde wegen des fehlenden Zugzwangs einer Bestimmung bei Betriebsansiedlungen Vorteilsregelungen und Absprachen mit Unternehmen treffen wird und die Kostenlast dann zusätzlich auf die Schultern der Allgemeinheit verteilt werden muß.Es ist aber notwendig, das Kostendeckungsprinzip gegenüber dem Bürger und gegenüber den Wirtschaftsunternehmungen voll zum Tragen zu bringen. Die Defizite — lassen Sie mich das kritisch sagen — bei gemeindlichen Haushalten erklären sich zumindest zu einem gewissen Teil auch daraus, daß einzelne Gemeinden glauben, kostendekkende Gebühren nicht erheben zu können. Diese Angst sollte eigentlich heute um so unbegründeter sein, nachdem der Bürger durch die tiefgreifende Diskussion um den Umweltschutz aufgefordert und sicher auch bereit sein wird, einen angemessenen Beitrag zur Entsorgung und damit auch für die Verbesserung der Umweltsituation in den Gemeinden zu leisten.Diese Vorlage beschränkt sich nicht nur darauf, negative Folgen des Wohlstandes durch aufwendige Anlagen zu beseitigen. Sie geht vielmehr einen, wie ich meine, entschiedenen Schritt weiter, indem sie in § 11 c eine Ermächtigung für die Bundesre-
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gierung vorsieht, Verpackungen und Behältnisse durch abgestufte Maßnahmen auf ein vernünftiges Maß zurückzuschrauben. Mit Hilfe dieser Ermächtigung, die der Zustimmung des Bundedsrates bedarf, kann mit Bindung an eine Ankündigungsfrist eine Kennzeichnung, eine Beschränkung oder gar ein Verbot bestimmter Verpackungsmaterialien vorgenommen werden. Es ist sicher ein sehr harter Eingriff in wirtschaftliches Geschehen, der hier vorgesehen ist. Ich bin sicher, daß die Bundesregierung von dieser Vorschrift weise und mit Bedacht Gebrauch machen wird.Diese Bestimmung sollte eigentlich darin ihren besonderen Wert haben, daß sie die betroffene Industrie zum Umdenken zwingt, die Herstellung bestimmter umweltgefährdender Materialien entweder gänzlich einzustellen oder durch neue, umweltfreundliche Produkte zu ersetzen und darüber hinaus auch in einem Akt von Selbstbeschränkung das Volumen des Verpackungsmaterials zu reduzieren. Das setzt bei den Betroffenen, setzt bei der Industrie Planung und Forschung voraus, zu der diese Bestimmung, wie ich sie verstehe, unter anderem auch herausfordern soll.Lassen Sie mich im Blick auf kritische Anmerkungen aus der Industrie gerade zu diesem Punkt sagen, daß die Vorschrift eine innere Rechtfertigung hat. Sie bezieht sie aus den bedenklich stimmenden Umsatzzahlen der Verpackungsindustrie. Im Jahre 1950 war dort ein Umsatz in Höhe von 2 Milliarden DM festzustellen, und im Jahre 1969 hatte sich der Umsatz auf 13 Milliarden DM gesteigert. In Wechselbeziehung zu diesen genannten Umsatzzahlen, meine Damen und Herren, steht natürlich eine Lawine von Verpackungsmaterial, die uns zu erdrücken droht. Hier ist die Grenze des Zweckmäßigen bereits lange überschritten, und das Unnötige wird hier ins Quadrat gehoben. Das ist, schlicht gesagt, Verpackungsmißbrauch, der zudem im Umweltschutz ganz bedrohlich zu Buche schlägt.Weil ich selbst dazu neige, wie ich das auch in der ersten Lesung zu diesem Gesetz dargetan habe, der Aufklärung den Vorzug vor Verboten und Strafen einzuräumen, halte ich sehr viel davon, wie es bereits 1970 durch die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände vorbildlich geschehen ist, Einzelhändler und Verbraucher anzuhalten, von sich aus auf Verpackungsmaterial zu verzichten, wo immer dies möglich erscheint. Ich möchte diese Bitte an Herstellerfirmen, Handel und Verbraucher dadurch komplettieren, daß ich mich hier noch einmal an Herrn Minister Genscher wende, um ihn, so wie das in einer der letzten Fragestunden durch mich geschehen ist, zu ersuchen, alles zu tun und nichts zu unterlassen, damit das im Umweltprogramm der Bundesregierung vorgesehene Umweltforum berufen und zu einem lebendigen Instrument im Bemühen um die Weckung eines Umweltbewußtseins unserer Bevölkerung gemacht wird. Auf Dauer nämlich, meine Damen und Herren, werden unsere Anstrengungen, die der Regierung und des Parlaments, nur dann erfolgreich sein, wenn alle Gesetze, die wir beschließen, dicht und unmittelbar von sachbezogener Aufklärung unserer Bevölkerung begleitet werden.Zusammen mit der Bestimmung, die der Beseitigung der Autowracks dienen oder doch eine Entwicklung in dieser Richtung einleiten soll, weist die Ermächtigung in § 11 c neue Wege, wie man das Übel Abfall an seiner Wurzel packen kann. Aufgezeigt wird damit, wie man unter anderem die Industrie zu umweltgerechterem und materialsparendem Verhalten bewegen kann.Der Gesetzentwurf nennt eine Reihe geschützter Rechtsgüter. Er sagt, wer die Abfälle zu beseitigen hat und wie die Beseitigung vorgenommen werden muß. Er gibt aber — und das ist ein weiteres Kernstück dieses Gesetzes — auch die Möglichkeit, die Beseitigung zu überwachen und gegebenenfalls durch empfindliche Bullen und Strafen durchzusetzen. Ich will hier mit Rücksicht auf die Ausführungen des Kollegen Gruhl nicht noch einmal ins Detail einsteigen. Wichtig aber scheint mir in der Tat zu sein, zu sagen, daß auch mit diesem Gesetz klar und verständlich gemacht wird, daß Gefährdungen unserer Umwelt auch unter solche Strafen gestellt werden, die den Eindruck ausräumen können, als handle es sich dabei um Kavaliersdelikte.Meine Damen und Herren, ich verzichte an dieser Stelle darauf, auf die europäische Seite dieses Problems einzugehen. Dazu wird mein Kollege Horst Seefeld einiges zu sagen haben.Ich komme zum Schluß. Der Wissenschaftler Karl Steinbuch hat in einem neuen Buch seinen Schilderungen und Prognosen über unsere bedrohte Umwelt und die Zukunft des Menschen Vorbemerkungen vorausgeschickt, in denen es unter anderem heißt:Die menschliche Art steht vor lebensgefährlichen Bedrohungen. Aber von schärfster Aufmerksamkeit, nüchternem Nachdenken und entschlossenem Handeln ist in unserem Lande nichts zu bemerken.Ich denke, am Beispiel dieses Gesetzes, am Beispiel der bereits verabschiedeten und der in der Beratung befindlichen Umweltschutzgesetze aus dem Umweltschutzprogramm der Bundesregierung wird veranschaulicht, wie schnell Aussagen in neuen Büchern gelegentlich alt werden können. Das Abfallbeseitigungsgesetz trägt im übrigen allen Grundforderungen Steinbuchs vollinhaltlich Rechnung. Es ist das Ergebnis hoher Wachsamkeit gegenüber Fehlentwicklungen in unserer Umwelt. Es gründet sich auf abgewogene, sachliche Beratung. Schließlich ist es auch gekennzeichnet durch die Bereitschaft zu entschiedenem Handeln und durch den Mut zur Veränderung. Getragen von dieser Überzeugung wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dem Abfallbeseitigungsgesetz und der vorgelegten Entschließung des Innenausschusses ihre Zustimmung erteilen.
Das Wort hat derAbgeordnete Volmer
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Abfallbeseitigungsgesetz liegt dem Bundestag eines der wichtigsten Gesetze im Rahmen des Umweltschutzes vor. Die Notwendigkeit dieses Gesetzes zeigt sich u. a. in den sehr erheblichen und ständig steigenden Abfallmengen. In den Berichten über die Anhörung von Sachverständigen im Innenausschuß wie auch im Bericht der Bundesregierung zum Umweltschutz sind diese Zahlen im einzelnen nachlesbar. Wenn die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zutreffen, können sich die jetzigen Abfallmengen in den nächsten zehn Jahren verdoppeln.Die Lebensgewohnheiten unserer Wohlstandsgesellschaft haben sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Auf Forderungen der Konsumenten brachten die Erzeuger immer mehr Bequemlichkeit in die Haushaltstechnik und damit auch in die Verpackung von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen. Zur Rationalisierung im Handel wurden immer mehr Einwegpackungen verwendet. Nach Aussagen der Fachleute sind heute bereits 60 v. H. der Hohlglasbehältnisse Einwegflaschen. Modische Einwirkungen und Image-Bedürfnis haben dazu geführt, daß auch die Lebensdauer vieler Gebrauchsgüter hin bis zum Auto kürzer geworden ist. Damit wurden die Abfallmengen vermehrt. Geschickte Werbung hat daran mitgewirkt. So werden in der Bundesrepublik nach Angaben im Materialband zum Umweltbericht jährlich zirka 1 Million Pkw aus dem Verkehr gezogen und wandern damit zum Abfall.Bei allem Bemühen von Forschung und Produktion, die an sich berechtigten Wünsche der Konsumenten zu erfüllen, hat man nicht mit der notwendigen Konsequenz darauf geachtet, die Folgen dieser Konsumsteigerung, den Abfall, umweltfreundlich zu beseitigen. Aus diesem Grunde ergab sich die zwingende Notwendigkeit, durch ein bundeseinheitliches Gesetz die rechtlichen Voraussetzungen für eine geordnete Müllbeseitigung zu schaffen. Die Fraktion der CDU/CSU hat in ihrem Bemühen, die Umwelt vor schädlichen Einflüssen zu schützen, der Absicht, durch Gesetzesänderung dieses Gesetz zu ermöglichen, zugestimmt. Es geht uns darum, die Umwelt so gering zu belasten, wie es unumgänglich notwendig ist. Wir begrüßen daher die Aussage des Gesetzes, daß das allgemeine Wohl den Vorrang haben muß.Die Mitglieder der CDU, CSU-Fraktion haben im Innenausschuß und in der interfraktionellen Arbeitsgruppe den Gesetzentwurf intensiv mitberaten und zahlreiche Verbesserungen einbringen können. Das gemeinsame Bemühen der interfraktionellen Arbeitsgruppe — das ist von den Vorrednern schon zum Ausdruck gebracht worden — hat zu einer Kooperation beim Abfallbeseitigungsgesetz geführt, die die Koalitionsfraktionen auch in anderen und wichtigen Lebensfragen der Nation suchen sollten. Das vorliegende Gesetz hat sicher noch Fragen offengelassen, weil sie einfach noch nicht endgültig im Gesetz geregelt werden konnten, wie etwa die Beseitigung von Autowracks und Altreifen. Ich komme darauf noch einmal zurück.Uns ging es darum, dieses Gesetz nicht zu verzögern, und ich meine, daß es uns eine zur Zeit optimale Lösung bringt. Wir sollten uns jedoch mit diesem Gesetz nicht begnügen, sondern gemeinsam an die Verantwortlichen in Forschung, Entwicklung und Produktion appellieren, um umweltfreundliche, besser noch umweltunschädliche Erzeugnisse zu erhalten. Es war, meine Damen und Herren, bei der Beratung selbstverständlich, daß neben der Forderung, das allgemeine Wohl zu schützen, auch die Notwendigkeit beachtet werden mußte, eine Lösung zu finden, die für Industrie und Handel durchführbar und wirtschaftlich tragbar ist.Bei der Feststellung des Begriffs Abfall ist es zu einer sehr intensiven Beratung gekommen. So sind eine Anzahl von Abfällen, deren Behandlung in anderen Gesetzen geregelt ist, hier ausgenommen worden. Insofern stellt dieses Gesetz einen Kompromiß dar, weil ein umfassenderes Gesetz, in dem die gesamte Abfallbeseitigung erfaßt wäre, die Überwachung der Abfallbeseitigung durch Überwachungsbehörden wesentlich erleichtert hätte. Vielleicht läßt sich bei den Überlegungen für ein neues Berggesetz und auch beim Altölgesetz eine Möglichkeit finden, die Beseitigung der Abfälle aus diesen Bereichen später in das Abfallbeseitigungsgesetz zu übernehmen.Im Gegensatz zum Regierungsentwurf wurde im Beratungsgang im § 2 des Gesetzes die Aussage über den Schutz der Umwelt klarer gefaßt und der stark auslegungsbedürftige Text des Entwurfs eindeutiger definiert. Wir begrüßen diese Tatsache, weil dadurch die Möglichkeit des Ausweichens erheblich verringert wurde.Die Landschaft und insbesondere die Landschaft in der Nachbarschaft von Ballungsräumen ist heute noch vielfach durch Müllkippen mit ungeordneter Müllablage gekennzeichnet. Sie sind Schandflecken für unsere Landschaft. Bei diesen wilden Müllkippen wurde im allgemeinen keinerlei Rücksicht auf Grundwasserströme oder sonstige Gewässer genommen, die der Trinkwasserversorgung dienen. Die besonders in trockenen Sommermonaten immer wieder auftretende Wasserknappheit wird uns immer stärker dazu zwingen, auf die Sauberkeit der Grundwasserströme zu achten.Es war unsere Absicht, mit diesem Gesetz für eine geordnete Müllbeseitigung zu sorgen. Die Absicht des Entwurfs, cien Gemeinden grundsätzlich die Abfallbeseitigungspflicht aufzuerlegen, mußten wir aus berechtigten kommunalpolitischen Erwägungen ändern. Ich glaube, der Kollege Müller hat vorhin gerade mit Blick auf die Gemeinden die Schwierigkeiten dieses Problems dargestellt. Die kleineren Gemeinden wären überfordert gewesen. Deshalb haben wir vorgeschlagen — mein Kollege Gruhl hat das vorhin noch einmal dargestellt —, daß durch Landesrecht Abfallbeseitigungsbehörden geschaffen werden sollen, die einen genügend großen Einzugsbereich haben.Die Sorgen der Gemeinden, daß sie durch dieses Gesetz gehalten sind, grundsätzlich auch allen Industriemüll einzusammeln und zu beseitigen, wenn sie durch landesrechtliche Regelung zur Abfallbesei-
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Volmertigungsbehörde bestimmt werden, sind noch nicht ganz behoben. Der § 3 sagt ausdrücklich, daß die Abfallbeseitigungspflichtigen die Beseitigung des Abfalls ablehnen können, den sie nicht gemeinsam mit dem Hausmüll beseitigen können. Die Beweispflicht für dieses Nichtkönnen liegt allerdings bei den beseitigungspflichtigen Stellen. Von daher scheinen die Sorgen verschiedener Kommunalverbände berechtigt zu sein. Ich möchte deshalb heute und von dieser Stelle aus an die Bundesländer appellieren, ihre Abfallbeseitigungspläne, insbesondere die für Sondermüll, recht bald nach Inkrafttreten des Gesetzes aufzustellen, damit den Gemeinden ihre Sorgen genommen werden können.Das vorliegende Gesetz sagt eindeutig, daß die Länder die Abfallbeseitigungspläne aufstellen und ihre Durchführung sicherstellen. Auf diese Sicherstellung hat die interfraktionelle Arbeitsgruppe großen Wert gelegt. Ich meine aber noch darauf hinweisen zu sollen, daß unter „Sicherstellung" auch gehören müßte, den beseitigungspflichtigen Behörden die Kosten zu erstatten, die nicht durch Gebühren gedeckt sind. Ich denke hier insbesondere an die Kosten, die durch die Einrichtung von Müllbeseitigungsanlagen, aber auch durch die Überwachung der Müllbeseitigung entstehen werden.Es ging uns — so sagte ich vorhin — bei diesem Gesetz in erster Linie um die geordnete Müllbeseitigung. Das ist dadurch möglich geworden, daß der Abfall nur in Anlagen und Einrichtungen beseitigt werden darf, die zu diesem Zweck ausdrücklich zugelassen sind. Wilde Müllkippen werden in Zukunft unmöglich sein, wenn die Überwachungsbehörden das Gesetz konsequent anwenden. Wir begrüßen es sehr, daß die Abfallbeseitigungspläne Rücksicht auf landesplanerische Entwicklung nehmen sollen. Hier sehen wir die Möglichkeit, soweit der Abfall durch Ablagerung beseitigt wird, dieses in geordneten Mülldeponien zu tun, mit denen durchaus die Landschaft positiv gestalterisch beeinflußt werden kann, wenn die Deponien kontinuierlich abgedeckt und bepflanzt werden.Die idealste Abfallbeseitigung wäre natürlich die Möglichkeit, die Abfälle wieder in den Kreislauf der Natur unschädlich einzubringen. Das setzt jedoch voraus, daß sich die Abfälle dazu eignen. Leider gibt es noch viele Abfälle, die weder biologisch zersetzbar noch sonst verwertbar sind. Ich denke hier besonders an die vielen Kunststoffe, die heute als Verpackungsmaterial Verwendung finden. Hier stellt sich die Frage, ob die Kunststoffe, die sich nach Art ihrer Zusammensetzung oder ihres Volumens nur schlecht oder nur mit hohem Kostenaufwand beseitigen lassen, nicht mehr hergestellt oder als Verpackungsmaterial nicht mehr zugelassen werden sollten. Das vorliegende Gesetz hat diese Frage mit einem Kompromiß beantwortet, der jedoch weitergeht als der Gesetzentwurf, der keinerlei Regelung vorgesehen hatte. Im § 11 c ist der Bundesregierung die Möglichkeit gegeben, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates hier eine Regelung zu treffen, die durch Kennzeichnung, Einschränkung oder Verbot des Inverkehrbringens von bestimmten Packungen und Behältnissen auch hier für eine umweltfreundliche Ordnung zu sorgen in der Lage ist. Wir empfehlen der Regierung, diese Verordnungen rechtzeitig zu erlassen. Wir würden es aber auch begrüßen, wenn die Bundesregierung durch Gespräche mit der Verpackungsindustrie und dem Handel erreichen könnte, daß nur noch umweltfreundliche Verpackungen und Behältnisse hergestellt und verwendet werden. Daß hier eine angemessene Aufbrauchfrist gewährt werden muß, ist selbstverständlich.Ein schwieriges und noch nicht gelöstes Problem ist die Beseitigung von Autowracks und Altreifen. An vielen Landstraßen, selbst in den Städten und in der sonstigen Landschaft finden wir heute Autowracks, die dort abgestellt werden. Sie werden dann bald ausgeschlachtet und zeigen sich als traurige Skelette am Straßenrand. Diese Frage ist natürlich auch diskutiert worden. In § 4 a hat die Arbeitsgruppe und damit der Innenausschuß eine Regelung aufgenommen, die besagt, daß auf ortsfeste Anlagen, die der Lagerung und Behandlung von Autowracks oder Altreifen dienen, die Vorschriften über Abfallbeseitigungsanlagen Anwendung finden. Eine weitergehende Regelung hätte das Inkrafttreten dieses Gesetzes erheblich verzögert.Wir unterstützen deshalb den Antrag des Innenausschusses, der den Herrn Innenminister auffordert, bis zum 31. Dezember 1972 einen Bericht über die Möglichkeiten der Autowrack- und Altreifenbeseitigung vorzulegen. Ich darf in diesem Zusammenhang auf die Anregung verweisen, die den Autohändlern auferlegen wollen, die nicht mehr gebrauchsfähigen Wagen zurückzunehmen. Die Kosten, die durch die Rückführung entstehen, könnten als Aufpreis beim Erstkauf verrechnet werden. Dies ist eine Möglichkeit. Es wird Aufgabe des vom Innenminister erbetenen Berichts sein, dem Innenausschuß eine Übersicht über alle zur Zeit vorhandenen oder in der Entwicklung befindlichen Lösungsmöglichkeiten zu geben, damit das Gesetz die notwendige Ergänzung erfahren kann.Ich komme zum Schluß. Mit diesem Gesetz hat der federführende Innenausschuß einen Entschließungsantrag vorgelegt. Außerdem richten wir die Empfehlung an die Bundesregierung — und zwar insbesondere deshalb, weil der Herr Innenminister diese Frage vorhin angesprochen hat —, alles zu tun, damit die Beseitigung des Abfalls in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft möglichst bald einheitlich geregelt wird. Durch einheitliche gesetzliche Regelungen könnte eine Wettbewerbsverzerrung für die deutsche Industrie verhindert werden, die sonst durch eine einseitige härtere Belastung unter Umständen in Konkurrenzschwierigkeiten kommen könnte.Die Fraktion der CDU/CSU wird dem vorliegenden Gesetz und der Entschließung ihre Zustimmung geben.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Beratung über das Abfallbeseitigungsgesetz und komme zurück zur Be-
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Vizepräsident Dr. Jaegerratung der Änderung des Grundgesetzes unter Punkt 29 a der Tagesordnung. Es handelt sich um die Bundestagsdrucksache VI/2947. Wir kommen zur Einzelberatung in zweiter Lesung. Ich rufe Art. I und II sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.Wir kommen damit zurdritten Beratung— die Aussprache hat schon stattgefunden —, und zwar zur Schlußabstimmung. Nach Art. 79 GG bedarf ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Drittel der Mitglieder des Bundesrates. Nach § 54 Abs. 3 der Geschäftsordnung hat der Präsident, wenn für einen Beschluß die Zustimmung einer bestimmten Mitgliederzahl erforderlich ist, festzustellen, daß die Zustimmung dieser erforderlichen Mehrheit vorliegt. Namentliche Abstimmung ist nicht beantragt. Folglich geschieht die Abstimmung durch Auszählung. Ich hatte vor, die Abstimmung durch den Computer durchzuführen, um uns für die Schlußabstimmung über die Ostgesetze zu präparieren, aber der Computer ist wieder einmal kaputt.
Wir müssen also auf konventionelle Weise abstimmen. Ich eröffne die Abstimmung durch Auszählung. —Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung durch Auszählung bekannt. An der Abstimmung haben sich 433 voll stimmberechtigte Mitglieder des Hauses beteiligt. Davon haben 432 mit Ja gestimmt. Mit Nein hat niemand gestimmt; der Stimme enthalten hat sich einer.Die erforderliche Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder des Bundestages beträgt 331. Mit 432 Stimmen ist das Quorum überschritten. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.Meine Damen und Herren, wir fahren nunmehr in der Beratung des Abfallbeseitigungsgesetzes fort. Ich erteile das Wort Herrn Abgeordneten Krall.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Nachdem die Bundesregierung bereits in der Regierungserklärung von 1969 den Umweltschutz als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bezeichnet hatte,
Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, in Ruhe den Saal zu verlassen, wenn Sie anderen Aufgaben, z. B. den Sitzungen des Rechtsausschusses und des Haushaltsausschusses, nachgehen wollen. Ich darf Sie auch bitten, Privatgespräche aus dem Saal zu verlagern, um es den übrigen Damen und Herren möglich zu machen, den Ausführungen des Redners zu folgen.
... versprach sie noch im Jahre 1970, den Entwurf eines Abfallbeseitigungsgesetzes vorzulegen. Sie hat ihren Termin eingehalten, und auch die weiteren Beratungen dieses Entwurfs verliefen dank der Einsicht in die Dringlichkeit einer Lösung der hier anstehenden Probleme, nicht zuletzt dank dem Engagement und der intensiven Arbeit aller Beteiligten so zügig, daß wir heute in der Schlußdebatte dieses Gesetzes stehen. Ich begrüße das ausdrücklich für die Fraktion der Freien Demokraten.Ich darf mich an dieser Stelle dem Dank meiner Herren Vorredner an alle Beteiligten, die an der gesetzgeberischen Arbeit teilgenommen haben, sehr herzlich anschließen. Erfreulicherweise besteht allgemein die Einsicht, daß auf dem Gebiet des Umweltschutzes nicht nur rasche, sondern auch durchgreifende Änderungen erfolgen müssen. So war es besonders begrüßenswert, daß der Bundesrat bei der Vorbereitung des Abfallbeseitigungsgesetzes die Initiative zu der hier soeben beschlossenen Grundgesetzänderung gab.Die Grundgesetzänderung ist gewiß nicht leichtfertig vorgesehen worden. Sie stellt nicht kumulativ den Umweltschutz unter die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Stück für Stück wird geprüft, wieweit eine Kompetenzerweiterung erforderlich ist. Und das, meine Damen und Herren, ist gut so. Mit Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung ist somit der Weg für eine umfassende und wirksame Ausgestaltung der Abfallbeseitigung und Immissionsschutzgesetzgebung freigegeben. Darüber hinaus stehen 'bereits die vierte und fünfte Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz an. Wir werden, wie ich meine, nach sorgfältiger Prüfung dieser Entwürfe nicht umhinkönnen, dem Bund auch für den Wasserhaushalt die Gesetzgebungskompetenz zu geben.Das geplante Abfallbeseitigungsgesetz ist in der Reihe der für den Umweltschutz so dringlichen Gesetzgebungsvorhaben das erste, das eine eigenständige Materie umfassend regelt. Erstmals in der Rechtsgeschichte tritt der Bereich der Abfallbeseitigung als selbständiges Rechtsgebiet auf. Damit ist Neuland beschritten worden, und die Beratungen haben uns allen gezeigt, wie schwierig es ist, neue Maßstäbe zu setzen.Schon das vorbereitende Hearing hatte offenbart, in wie vielen Bereichen der Abfallbeseitigung noch keine echten Meinungen entwickelt waren, bestehende Meinungen noch nicht abgeklärt sind oder hart aufeinanderstoßen. Es war daher kein einfaches Unterfangen, hier eine ausgewogene und gleichzeitig wirkungsvolle Gesetzgebung aufzubauen. Das wird mit dem Inkrafttreten und der Durchführung des Gesetzes erst recht in Erscheinung treten, wenn es gilt, die rechten Maßstäbe zu finden, um den Zielen dieses Gesetzes Geltung zu verschaffen.In dem Gesetzentwurf, wie er sich jetzt nach Abschluß der Arbeiten in der interfraktionellen Arbeitsgruppe und in den Ausschüssen darbietet, begrüße ich vor allem die durchweg stärkere Konkretisierung der Bestimmungen, die ihrer Durchsetzbarkeit dienlich sein wird, dann aber auch die Ergänzun-
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Krallgen, deren es meiner Meinung nach sehr wohl noch bedarf.Entscheidend für die Neuordnung der Abfallbeseitigung, die das erklärte Ziel dieses Gesetzes ist, wird die Handlungsfreiheit sein, die künftig der Abfallplanung seitens der Länder gewährt wird. Wohl soll hier mit neuen Begriffen und Aspekten des Umweltschutzes eine sinnvolle Ordnung geschaffen werden, aber dies wird nur möglich sein, wenn man das kleinräumige Denken verläßt, das früher vielleicht einmal ausreichte.So sehe ich die wohl wichtigste Bestimmung des Entwurfs in § 5, der die überregionale Planung vorschreibt, welche auch die Sondermüllbeseitigung zu berücksichtigen hat. Diese Bestimmung gibt in Verbindung mit der Übertragung der Beseitigungspflicht auf Gebietskörperschaften durch § 3 Abs. 1 und 2 den Ländern die Möglichkeit, die Abfallbeseitigung in völlig anderen, wesentlich größeren Dimensionen zu ordnen. Die Größenordnungen sollen dabei praktischen, d. h. rationellen und wirtschaftlichen, Erwägungen entsprechen. Zu wünschen ist, daß sie möglichst groß werden.Ermöglicht wird eine überörtliche Neuordnung der Abfallbeseitigung schließlich auch durch die richtige Anwendung des Verursachungsprinzips, wie es die Bundesregierung in ihrem Umweltprogramm dargelegt hat und wie es in § 3 Abs. 1 und 2 vorgesehen ist. Nicht der Verursacher selbst -- das wurde hier vorhin auch schon erwähnt — kann im allgemeinen in der umweltfreundlichen Weise Abfälle beseitigen, sondern die großräumig und rationell arbeitende Körperschaft, deren Kosten der Verursacher allerdings zu tragen hat. Die Frage der Kostendeckung selbst konnte letztlich im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt werden, da sie in die Kompetenz der Länder fällt.Als wertvolle Ergänzung, die der Entwurf erfahren hat, ist die Regelung zu erwähnen, nach der Anlagen, die der Lagerung und Behandlung von Autowracks oder Altreifen dienen, Abfallbeseitigungsanlagen im Sinne des Gesetzes sind. Hierdurch ist erreicht worden, daß Planung und Überwachung dieser Anlagen durch das Gesetz erfaßt werden. Auf diese Weise wird auch die Autowrackbeseitigung gesetzlich geregelt. Hier ist der Entschließungsantrag des Innenausschusses angesprochen, den wir Freien Demokraten begrüßen. Wir werden sehen, welche Erfahrungen bezüglich der Beseitigung von Autowracks in den nächsten Monaten gemacht werden können. Hierüber wird uns die Bundesregierung zu gegebener Zeit berichten.Wie bereits erwähnt, ist die Sondermüllbeseitigung schon in der überörtlichen Planung mitberücksichtigt worden. Weitere Ergänzungen durch Nachweispflicht für gefährliche Abfälle und Genehmigungspflicht für private Unternehmen zur Einsammlung und zum Transport von Müll ermöglichen zusammen mit der Genehmigungspflicht für die Einfuhr von Abfällen aus dem Ausland nunmehr eine umfassende Überwachung, so daß eine Wiederholung der Giftmüllaffäre des vergangenen Jahres, die die Bevölkerung dieses Landes in erheblichem Maße beunruhigt hat, künftig wirksam verhindert werden kann.Schließlich war es noch notwendig, einer hemmungslosen Produktion von Abfällen, wie sie vor allem auf dem Verpackungssektor zu beobachten ist, Schranken zu setzen. Die Verordnungsermächtigung in § 11 c gestattet hier ein schnelles und wirksames Handeln, sei es durch Auflagen, sei es durch Einschränkungen oder Verbote. Dabei dürfen wir nach Klarstellung der Absicht der Bundesregierung Auswüchse nicht hinnehmen. Wir hoffen, daß Industrie und Handel durch entsprechende freiwillige Zurückhaltung den Erlaß einer solchen Verordnung unter Umständen gar nicht erst notwendig werden lassen.Zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, muß ich aber wohl noch darauf hinweisen, daß dieses Gesetz nur den ersten Schritt zur Neuordnung der Abfallbeseitigung bedeutet. Große Aufgaben werden auf die noch zu bildenden Gebietskörperschaften, auf die Länder mit der ihnen aufgetragenen Planung und nicht zuletzt auch auf die Bundesregierung zukommen. Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und technische Anleitungen wollen erarbeitet und letztlich auch durchgeführt und die Durchführung überwacht sein. Dies alles bedarf verstärkter Anstrengungen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir den zuständigen Behörden die hierzu erforderlichen Fachkräfte zugestehen müssen. Der Schutz und die Erhaltung einer heilen Umwelt fordern dies von uns allen.
Das Wort hat der Abgeordnete Seefeld.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu dieser Debatte unter europäischen Aspekten einen kurzen Beitrag leisten.Das Abfallbeseitigungsgesetz ist sicher in erster Linie ein nationales Gesetz. Es soll Regelungen bringen, die verhindern, daß die Bundesrepublik zu einem ungeordneten Müllplatz mit erheblichen Gefahren für die Bürger wird. Das Abfallbeseitigungsgesetz geht jedoch über die bloße Anordnung zur ordnungsgemäßen Abfallbeseitigung und zur Planung von Anlagen und Plätzen hinaus. Es will bewußt in den Wirtschaftsprozeß eingreifen, um schon die Entstehung von Müllbergen aus Verpakkungen und Behältnissen zu verhindern und Gefahren bei der Beseitigung von Kunststoffen zu vermeiden. Es wird uns durch Transport- und Grenzregelungen vor gefährliche Importe oder gefährliche Transporte schützen helfen.Damit verläßt auch das Abfallbeseitigungsgesetz den nationalen Rahmen und wird ein Beitrag zu einer europäischen Umweltkonzeption. Hier liegt jedoch eine Gefahr, weil die Bundesrepublik erneut zu einem Vorreiter im Umweltschutz in Europa wird. Unsere Partner in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben entweder überhaupt keine umfassenden Bestimmungen über die Abfall-
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Seefeldbeseitigung, oder es fehlen zumindest so tiefgreifende Regelungen wie Produktionsbeschränkungen oder Produktionsverbote.Die Erfahrungen mit dem Benzinbleigesetz haben jedoch gezeigt, daß wir schon mit Einzelmaßnahmen keine Begeisterung bei der EWG-Kommission auslösen, sondern daß diese derartigen Maßnahmen mit großen Vorbehalten gegenübersteht. Für das Benzinbleigesetz ist folgende Einstellung bezeichnend — hier darf ich aus einer Antwort der Kommission zitieren, die ich vor wenigen Tagen auf eine Anfrage vom Mai 1971 erhalten habe —:Die auf nationaler Ebene isoliert erlassenen deutschen Gesetzesvorschriften können nach Ansicht der Kommission ungünstige Folgen für die Freiheit des innergemeinschaftlichen Handels bei den betroffenen Erzeugnissen haben.
Besonders die Bestimmung, wonach mit Wirkung vom 1. Januar 1976 der zulässige Bleigehalt auf 0,15 g/l begrenzt wird, könnte nach den derzeitigen Kenntnissen und nach den Informationen, über die die Kommission gegenwärtig verfügt, ein erhebliches Hemmnis für den freien Warenverkehr im Sinne von Art. 30 ff. des Vertrages darstellen.Meine sehr verehrten Kollegen, ich fürchte, eine ähnliche Stellungnahme droht uns auch für den neuen Gesetzgebungsbereich; denn die Bestimmungen über den grenzüberschreitenden Verkehr und mögliche Produktionseinschränkungen und -verbote greifen tatsächlich erheblich tiefer in den Wirtschaftsprozeß ein als die Einzelmaßnahmen des Benzinbleigesetzes.
Droht aber hier nun wieder eine ähnliche Stellungnahme und fällt sie beim Bundesimmissionsschutzgesetz vielleicht noch stärker aus, so müssen wir als nationales Parlament und unsere Bundesregierung geeignete Gegenmaßnahmen rechtzeitig ergreifen.
Uns sollte es fernliegen, im Umweltschutz als Vorreiter und Schulmeister der anderen Mitglieder der Gemeinschaft aufzutreten. Es muß jedoch klargestellt werden, daß derjenige, der Fragen des Umweltschutzes in erster Linie danach beurteilt, ob sie den Warenverkehr behindern, und gleichzeitig nur gemeinsame Initiativen aller Länder fordert, uns im Grunde im Umweltschutz nicht weiterhilft.Wir legen unseren Bürgern, der Wirtschaft und den Gemeinden mit dem allmämlich Gestalt annehmenden Umweltrecht erhebliche Lasten auf, die nach den Aussagen der Betroffenen in unserem Lande zu Wettbewerbserschwerungen führen. Es wirkt daher für mich wenig überzeugend, wenn die EWG-Kommission hieraus Wettbewerbsvorteile für unsere nationale Wirtschaft andeuten will. Für mich spricht aus den Worten der Kommission eher eine falsche, eine überholte Auffassung vom Umweltschutz und eine zu starke Glorifizierung eines uneingeschränkten Wirtschaftswachstums. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Bevölkerung in den Mitgliedsländern ähnlich wie die Kommission denkt; denn die Diskussion in den Niederlanden, aber auch in den anderen Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zeigen auch dort eine starke und zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber dem Umweltschutzgedanken.Wir, meine sehr verehrten Kollegen, sollten daher unsere Bemühungen im Umweltschutz, wie sie auch hier im Abfallbeseitigungsgesetz wieder deutlich werden, nicht verbergen, sondern die eingeschlagene Politik mutig und unerschrocken fortsetzen.Ich habe soeben erwähnt, daß sich die Bundesrepublik bei verschiedenen Fragen des Umweltschutzes in Europa als Vorreiter betätigt hat. Das ist richtig, und trotzdem bleibt die Frage, ob wir denn schon tatsächlich genug tun und ob man nicht in verstärktem Maße auf weitere Aktivitäten drängen muß. Allerdings besteht kein Zweifel mehr darüber, daß nationale Lösungen auf weite Sicht gesehen immer nur Teillösungen sein werden,
denn gerade auf diesem Gebiet ist Internationalität keine Phrase, sondern eine zwingende Notwendigkeit.
Ich freue mich, daß auch Herr Bundesminister Genscher bei seinen Bemerkungen vorhin betont hat, daß er in dieser Frage so denkt wie die Mehrheit des Hauses und ich.In der zuvor zitierten Antwort auf eine von mir an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gerichtete Frage wird zum Beispiel gesagt, daß die Kommission Umweltschutz und Umweltsanierung für Ziele von ebenfalls wichtigem Interesse für die ganze Gemeinschaft hält. Doch schon der dann folgende Satz geht weg von der Deklamation zum, wie ich vorerst fast meinen möchte, absoluten Nichtstun. Er heißt nämlich: „Es ist wesentlich, daß die zu treffenden Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu den gesteckten Zielen stehen" . An einer anderen Stelle heißt es, daß sich die Kommission voll und ganz der besonderen Bedeutung bewußt ist, die der Verwirklichung eines so lebenswichtigen Zieles wie dem des Umweltschutzes und der Umweltsanierung zukommt, das eines der Hauptanliegen aller Industrieländer ist und für das die öffentliche Meinung dringende und wirksame Maßnahmen fordert.Ich möchte hier nicht in ein allgemeines Geklage gegenüber der Brüsseler Kommission eintreten, auch wenn sich die von dieser Kommission genannten Ziele auf Begriffe wie „Prüfung", „Untersuchung", „Suche nach bestimmten Verfahren" usw. usf. beschränken. Daraus muß doch wohl entnommen werden, daß auch die Kommission außer gutem Willen zunächst nicht allzuviel anzubieten hat. Trotz allem möchte ich wiederholen, daß die Bundesregierung ihre Bemühungen fortsetzen und sowohl hier
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Seefeldbei uns in der Bundesrepublik als auch im Ministerrat unermüdlich im begonnenen Sinne weiterarbeiten sollte. Dabei muß unterstrichen werden, daß wir nationale Alleingänge zwar nicht als ideal, jedoch im jetzigen Stadium noch als notwendig erachten müssen. Auf jeden Fall bleibt unbestritten: Wir suchen die Zusammenarbeit, und alle Nationalstaaten müssen zum Handeln und zur engen Kooperation aufgefordert werden. Resulutionen internationaler Organisationen und Institutionen allein helfen uns nicht weiter, wenn nicht Taten folgen. Alle verantwortlichen Politiker innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und darüber hinaus in Europa müssen begreifen: Umweltschutz ist europäische Innenpolitik! Angesichts der europäischen, ja der Weltproblematik des Umweltschutzes sollten wir daher unsere Maßnahmen und auch diese Debatte über unsere Grenzen hinaus wirken lassen. Wir — und hier spreche ich besonders auch meine Kollegen im Europäischen Parlament an — sollten unsere Gedanken und Maßnahmen stärker als bisher im europäischen Bereich vertreten.Der Umweltschutz duldet keine Grenzen. Er duldet auch keinen weiteren Zeitaufschub.
Meine Damen und Herren- das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jahn .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zum Abfallbeseitigungsgesetzentwurf aus der Sicht der Harmonisierungsberatungen des Europäischen Parlamentes und der Europäischen Kommission, und das aus zwei Gründen: erstens, weil dieser Gesetzentwurf die EWG anspricht, und zweitens, um den Stand der Beratungen in Brüssel und Luxemburg hier deutlich zu machen. Ich darf dies in meiner Eigenschaft als Berichterstatter des Europäischen Parlaments zu Fragen des Umweltschutzes und der Umweltpolitik tun, und ich möchte hier zu dem, was mein Kollege Seefeld zur Frage der Kommission gesagt hat, ein Wort zur Ergänzung sagen.Wir haben gestern und in den letzten Wochen mehrfach die Thematik Umwelt anläßlich der ersten Grundsatzverordnung vordiskutiert und werden uns im April im Europäischen Parlament mit dieser Vorlage befassen. Ich darf sagen, daß nach sehr hartem Ringen die Kommission auf wesentliche Gesichtspunkte eingegangen ist, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben. Ihre Kritik war berechtigt. Aber sie ist eingeschränkt. Wir sehen heute die Schwierigkeiten im wesentlichen beim Rat. Wir kennen die neuralgischen Punkte, die dort immer wieder auftreten, wenn es sich um Gemeinschaftsregelungen handelt.Meine Damen und Herren, der Umweltschutz — und das haben wir hier mehrfach bestätigt — ist keine nationale Frage allein. Er ist eine Gemeinschaftsaufgabe und zugleich eine Frage der inter-nationalen Politik. Er geht auch weit über die Gemeinschaft hinaus. Wir wissen, daß sich nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch der Europarat und auch andere internationale Organisationen damit befassen.Lassen Sie mich kurz zu § 1 Abs. 5 des Gesetzentwurfs Stellung nehmen, in dem die Frage der Verunreinigung der Gewässer angesprochen wird. Das ist einer der Kernpunkte, der uns insgesamt in der EWG anspricht. Wir werden beim Wasserreinhaltungsgesetz auf diese Frage zurückzukommen haben. Es wird mit Recht, meine Damen und Herren Kollegen, darauf hingewiesen, daß Gewässerbenutzung in ihren verschiedenen Formen, nicht zuletzt das Einleiten oder Einbringen von Stoffen, zu den Produktionsgrundlagen vieler Wirtschaftszweige gehört.Bei der Abfallbeseitigung kommt das Problem der Wettbewerbsverzerrung, das mein Kollege Seefeld ebenfalls angesprochen hat und auf das wir im Europäischen Parlament besonders zu achten haben, um unsere eigenen Interessen vernünftig zu plazieren, und das bei allen Gemeinschaftsregelungen ebenso auf uns zu wie bei der Reinhaltung der Luft. Bei diesen Fragen — also Abfallbeseitigung, Gewässerschutz und Luftreinhaltung — handelt es sich um Probleme, die europäisch in Angriff genommen werden müssen mit dem Ziel, die einschlägigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten von vornherein zu harmonisieren.Lassen Sie mich einige Gesichtspunkte der überregionalen Abfallbeseitigungsproblematik hier aufzeigen. Die Reinhaltung der Gewässer durch die Beseitigung von Abfallstoffen — ich darf in diesem Satz alles zusammenfassen, was in diesen Komplex gehört — ist eine Aufgabe nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, nicht nur der EWG, sondern aller Staaten. Ein Blick auf die Karte, ein Blick auf die Küstenbereiche zeigt die übernationale Bedeutung. Ich denke an die Reinhaltung der Nordsee. Ab 1. Januar 1973 ist die ganze Nordsee EWG-Küstenregion. Ich denke an den Vertrag von Oslo, in dem die Atlantikanrainer sich in gewissen Schwerpunkten verpflichteten, für die Reinhaltung der Meere und ihrer Küsten Verantwortung zu übernehmen. Das geht auch uns an, vor allem auch unsere Schiffahrt, wie wir wissen.Lassen Sie mich hier, wenn auch im entfernten Sinne, vom Natur- und Landschaftsschutz sprechen. Die Küsten sind Erholungsgebiete, sowohl an der Ostsee als auch an der Nordsee, am Atlantik und im Mittelmeerbereich. Alle diese Gebiete gehören zum Gemeinschaftsraum der EWG. Die Frage bleibt offen: Worunter fällt diese Region, unter Naturschutz oder Landschaftspflege? Wir haben diese Frage in der Diskussion hier erörtert. Wir sollten darüber nicht streiten. Wir sind uns alle sicher darüber einig, daß diese Frage in die europäische Verantwortung und damit in den Harmonisierungszwang fällt. Was wir wollen, ist die schadlose Beseitigung von Abfallstoffen. Wir wollen keine Ablagerung auf dem Land, aber auch nicht an den Flußufern und den Küstenstrichen. Diese Art Abfallbeseitigung erfolgt heute direkt und indirekt durch Dreckpipelines, die kon-
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Dr. Jahn
trolliert und unkontrolliert z. B. über den Großtransporter „Flußsystem" über die Grenzen hinweg und an die Küsten heran und auf die Küsten herauf den Abfall transportieren.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir wurden alle vom Unbehagen geschüttelt, als wir von dem Plan und dann vom Bau der holländischen Dreckpipeline überdimensionaler Größenordnung hörten. Sie wissen alle von den schwierigen, langwierigen Verhandlungen auf bilateraler und multilateraler Ebene, um den Schmutz dieser Pipeline unschädlich zu machen. Die Kollegen des Europäischen Parlaments aus allen Parteien haben sich in dieser Frage im Sinne des Umweltschutzes gegen eine unverständliche Eigenwilligkeit eines Mitgliedstaates gewandt. Wir alle können uns heute den Erfolg teilen. Die Abfall- und Schlammstoffe werden vor Einleitung in die Pipeline geklärt, so daß keine Verunreinigung der Gewässer und Küsten eintritt. Diese Entscheidung ist in der letzten Woche praktisch gefallen.Wir wissen heute, daß unzählige Abfallstoffe unmittelbar in die Flüsse und das Vorland der Küstengebiete geleitet werden. Ganze Küstenstriche sind für Erholung und alles, was mit Naturschutz und Landschaftsschutz zusammenhängt, nicht mehr brauchbar. Es sind Hunderttausende — Hunderttausende, meine Damen und Herren Kollegen! — Verschmutzungsrohre, die weggeräumt werden müssen. Das ist nur möglich, wenn nicht nur alle gemeinsam guten Willens sind, sondern wenn strenge Verordnungen mit empfindlichen Strafen hinter den Abfallreinigungsprogrammen stehen. Strenge Strafen und hartes Vorgehen hat gestern auch der Sozial- und Gesundheitsausschuß des Europäischen Parlaments in diesen Fragen gefordert. Man solle sich nicht nach der geringsten Ordnungsstrafe richten, sondern nach der härtesten, die bereits in einem Land festgelegt ist.Ohne Harmonisierung der Abfallgesetzgebung werden wir aber auf diesem Sektor, der das ganze Gebiet der EWG erfaßt, wenig Erfolg haben. Die EWG weist darauf hin — und mein Kollege Seefeld hat das unterstrichen —, daß isolierte gesetzgeberische Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten zur Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung usw. unterschiedliche Kostenbelastungen und damit Wettbewerbsverzerrungen und neue Hindernisse für die gesamte EWG und für den Handelsverkehr verursachen können, so daß die Maßnahmen, die wir heute treffen, immer wieder integriert, d. h. im Gemeinschaftsrahmen gelöst werden müssen. Vom europäischen Standpunkt aus halten wir es für unerläßlich, daß die Kommission im Rahmen der Gemeinschaft sowie in Verhandlungen mit den beitrittswilligen Ländern, den Drittländern und den internationalen Organisationen anstrebt, daß die Gemeinschaftsregelungen im Bereich der Abfallbeseitigung — darum geht es heute besonders — auf möglichst weite Gebiete der Erde ausgedehnt werden.Daraus mögen Sie ersehen, meine Damen und Herren, daß dieses Gesetz und die Grundgesetzänderung, die wir soeben für den Umweltschutz beschlossen haben, zur rechten Zeit kommen. Mit dieser Entscheidung gehen wir voran. Es wird der Weg zur Erleichterung der Harmonisierung des Gesetzgebungswerks in der Gemeinschaft beschritten. Wohl im Namen aller Kollegen dieses Hauses, die im Europäischen Parlament für die Integration und die politische Union arbeiten, darf ich dem Haus eine Bitte vortragen, die ich in einem Satz zusammenfasse: Bitte helfen Sie mit, daß wir auf diesem Sektor einer großen Gemeinschaftsaufgabe — sie ist eine der größten, die wir haben, auch in der EWG —, bei der wir in allen Ländern am Anfang des Gesetzgebungswerks stehen, durch Zusammenarbeit der Regierungen im Rat keinen partikularen Gesetzestorso, sondern ein aus kooperativer Zusammenarbeit entstandenes Gemeinschaftswerk schaffen, mit dem wir vor unseren Menschen und den Völkern Europas bestehen können.
Das Wort hat der Abgeordnete Giulini.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde der kürzeste Redner sein. Ich möchte mich aber bei den Vorrednern bedanken, daß sie für die Leute, die aus der Praxis kommen, doch das Verständnis erweckt haben, daß auch durch dieses Gesetz Wettbewerbsverzerrungen entstehen können und daß man sich bemüht, hier irgendwie zu helfen.
Darf ich einmal den Versuch machen, Herr Minister, den Abfall zu charakterisieren. Ich meine, Abfall ist Substanz am falschen Platz; ich wiederhole: Substanz am falschen Platz. Sorgen wir dafür, daß die Substanz an den richtigen Platz kommt. Wir sehen da drei Stufen. Die eine Stufe ist, sie wieder in den Arbeitsprozeß zurückzuführen. Die zweite Stufe ist, den Versuch zu machen, aus Abfall neue Produkte zu entwickeln. Und erst die dritte und übelste Stufe ist die Deponie, wobei man dafür sorgen muß, daß diese Abfallstoffe in einer Art und Weise deponiert werden, daß sie nicht schädlich sind, auch in der Zukunft.
Ich meine, man sollte die Abfallprobleme mehr mit dem Kopf als mit dem Kehlkopf behandeln. So darf ich als letztes, Herr Minister — meine Rede ist gleich zu Ende —, fragen, ob man nicht neben der mechanischen und biologischen Klärung der Kommunalwässer auch die chemische Reinigung einführen kann, weil man durch diese Maßnahme selbst die Phosphate, die bösen Phosphate, aus dem Wasser heraus bekommen kann.
Das Wort hat der Herr Bundesinnenminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute hier verabschiedete Grundgesetzänderung und auch dieses Abfallbeseitigungsgesetz sind Meilensteine auf
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Bundesminister Genscherdem steinigen Pfad des Umweltschutzes, den wir alle gemeinsam gehen wollen. Ich habe Anlaß, den Ausschüssen, der Arbeitsgruppe, vor allem aber den beiden Vorsitzenden — dem Kollegen Schäfer und Gruhl — sehr herzlich zu danken für das Maß an Energie, das aufgewendet worden ist, um dieses wichtige Gesetzgebungsvorhaben mit der gebotenen Beschleunigung im Deutschen Bundestag zu behandeln.Wir alle wissen, daß diese wichtige Materie keinen Aufschub duldet, sondern daß es notwendig ist, diese Gesetze so schnell wie möglich auch zur Anwendung zu bringen. Nicht zuletzt haben die Giftschlammaffären des letzten Sommers dazu beigetragen, hier auch in der Öffentlichkeit ein Stück Umweltbewußtsein zu schaffen, das vielleicht vorher noch nicht an allen Stellen vorhanden war.Unter den für einen wirksamen Umweltschutz neu zu schaffenden Bestimmungen wird das Abfallbeseitigungsgesetz, über das wir hier sprechen, das erste umfassende Gesetz bilden. Dabei wird die Abfallbeseitigung erstmals als Rechtsmaterie in einem eigenständigen Gesetz zusammengefaßt.Meine Damen und Herren, die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben zu den einzelnen Aspekten des Gesetzes das Erforderliche gesagt. Ich bin besonders dankbar, daß Herr Kollege Seefeld und auch Herr Kollege Jahn auf die europäischen Probleme, die sich auch aus diesem Gesetz ergeben werden, hingewiesen haben. Es wäre sicher eine falsche Strategie der Umweltschutzpolitik, wenn wir das Geleitzugsystem übernehmen würden, wonach das langsamste Schiff das Tempo des Geleitzugs bestimmt. Wir haben im nationalen Rahmen im Bereich der Bildungspolitik bittere Erfahrungen gemacht, wohin das führt, und wir können deshalb nicht im europäischen Rahmen einem solchen Prinzip huldigen. Das ist der Grund, warum die Bundesregierung sich entschlossen hat, diese Gesetze vorzulegen.Wir haben aber, um unseren europäischen Partnern einen Einblick in unsere Absichten auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu ermöglichen, nicht nur das Sofortprogramm, sondern auch das Grundsatzprogramm der Bundesregierung für den Umweltschutz mit den langfristigen Perspektiven unserer Umweltschutzpolitik der Europäischen Kommission zugeleitet. Ich habe diese Frage mit dem zuständigen Kommissar erörtert und ihn darauf hingewiesen, daß wir nicht nationale Alleingänge wollen, sondern daß es uns lieber ist, wenn wir in gemeinsamen Erörterungen ermöglichen, daß in den nationalen Parlamenten übereinstimmende Gesetze beschlossen werden. Wir dürfen nicht übersehen, daß wir uns in einer entscheidenden Phase der europäischen Politik befinden, in der Phase der Erweiterung der Gemeinschaft. Es ist ein Vorzug des Umweltschutzrechts, daß hier Beitrittsverhandlungen noch nicht notwendig waren. Das bedeutet aber, daß wir jetzt bei allem, was auf dem Gebiet des Umweltschutzes geschieht, soweit es möglich ist, gemeinsam vorgehen. Das ist der Grund dafür, warum die Bundesregierung in allen europäischen Gremien darauf drängt, daß es eine gemeinsame Umweltschutzpolitik derGemeinschaft geben muß. Dazu auch unsere Anregung, zusammen mit der Kommission und den beteiligten Ministern in den Mitgliedstaaten schnell zu einer Erörterung der anstehenden Probleme auf politischer Ebene zu kommen. Wir wollen in der Tat nicht durch Alleingänge etwas verbauen, aber ich glaube, niemand in unserem Land und auch niemand in Europa würde verstehen, wenn wir durch Warten auf etwas, was vielleicht irgendwann kommt, die jetzt anstehende Regelung hinauszögern würden.Im übrigen fühlen wir uns, meine Damen und Herren, durch die positive Beurteilung unserer Initiativen in anderen europäischen Ländern ermutigt. Es ist doch so, daß diejenigen, die in anderen Ländern die Notwendigkeit des Umweltschutzes erkannt haben, dankbar dafür sind, daß die Bundesrepublik hier einen wichtigen Schritt tut, weil sie damit hoffen, auch Widerstände im eigenen Land durch Hinweis auf das Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland überwinden zu können. So gesehen kann auch diese gesetzliche Initiative ein Beitrag sein, im Bereich Europas, im Gemeinschaftsbereich, die Umweltschutzpolitik voranzutreiben. Sie haben, Herr Kollege, mit Recht davon gesprochen: Umweltschutz ist europäische Innenpolitik. Ich will noch einen Schritt weiter gehen, es ist Weltinnenpolitik. Ich will damit zum Ausdruck bringen, daß für die Bundesregierung eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes natürlich zunächst einmal im Blick auf die Gemeinschaft gesehen wird, daß aber parallel dazu unsere Bemühungen mit allen Ländern der Welt laufen, also auch mit den überseeischen Ländern, zu einer Zusammenarbeit zu kommen, und daß wir Umweltschutzpolitik auch als einen Gegenstand ansehen, der unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Systemen auch mit unseren Nachbarstaaten im Osten zusammen verwirklicht werden muß. So gesehen wird dieses Gesetz ohne Zweifel auch über unser Land hinaus seine Wirkung haben.Es wird aber nur verwirklicht werden können, wenn Länder und Gemeinden die jetzt notwendigen Maßnahmen ergreifen und wenn — worauf schon hingewiesen worden ist — die Bürger in unserem Land jenes Maß an staatsbürgerlicher Verantwortung zeigen, das zur Praktizierung des Umweltschutzes erforderlich ist. Das wird sich schon zeigen, wenn es z. B. um die Standorte für die Abfallbeseitigungsanlagen geht. Wir sind überzeugt davon, daß das zunehmende Umweltbewußtsein in unserem Land dazu führen wird, daß dieses Gesetz nicht nur durch den Gesetzgeber, sondern auch durch die Unterstützung der Bürger das bewirken wird, was wir uns von ihm erhoffen: einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg zu einem wirksamen Umweltschutz. Ich danke den Fraktionen dieses Hohen Hauses für die Förderung dieses Gesetzgebungsvorhabens.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
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Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenIch schließe die Aussprache und rufe auf §§ 1, 2, 3, 4, 4 a, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 11 a, 11 b, 11 c und 12. Hierzu hat sich der Herr Abgeordnete Dr. Hammans zu Wort gemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem Herrn Vorsitzenden des Innenausschusses wie auch dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe herzlich Dank sagen dafür, daß die beiden Vertreter des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit an den Beratungen der Ausschüsse und der Arbeitsgruppe teilnehmen und auch zu Wort kommen konnten.Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit § 12 liegen mir einige Dinge besonders am Herzen, die ich unbedingt noch vortragen möchte. Ich habe mich darüber gefreut, im Schriftlichen Bericht der Berichterstatter, der Herren Dr. Gruhl und Müller , unter § 12 den Absatz zu finden, daß der Ausschuß Wert darauf legt klarzustellen, „daß durch die Vorschrift die Aufbringung von Klärschlamm auf landwirtschaftlich genutzte Böden nicht erschwert werden soll". Dieses Problem ist für die Zukunft von so großer Bedeutung, daß es bei dieser Formulierung allein nicht bleiben kann. Ich fühle mich verpflichtet, hier noch ein paar sehr deutliche Erklärungen hinzuzufügen.Wenn wir auch auf der einen Seite dankbar vermerken, daß im ganzen Land mehr Kläranlagen gebaut werden, um kommunale und andere Abwässer zu reinigen, so müssen wir auf der anderen Seite auch feststellen, daß im gleichen Maße erhöhte Mengen von Klärschlamm aus diesen Kläranlagen anfallen. Ich brauche vor den vielen Fachleuten, die hier sitzen, nicht im einzelnen darzutun, daß die biologischen Kläranlagen die Abwässer in einen Zustand versetzen sollen, daß sie ohne Gefahr wieder den Vorflutern zugeleitet werden können. Aber die Beseitigung der immer größer werdenden Mengen von Klärschlamm wird in zunehmendem Maße ein Problem.Alle Methoden der Abwasserbeseitigung beruhen bekanntlich auf dem Prinzip, das Wasser in der natürlichen Umwelt des Menschen unterzubringen, und zwar entweder in den Gewässern oder im Boden. Die Antwort auf die Frage, welche der beiden Methoden die bessere ist, ist fast so alt wie die Menschheit.Ich bitte um die Genehmigung, Herr Präsident, aus dem 5. Buch Moses aus dem 23. Kapitel die Verse 13 und 14 zitieren zu dürfen, in denen es heißt:Und du sollst draußen vor dem Lager einen Ort haben, dahin du zur Not hinausgehst. Und du sollst eine Schaufel haben, und wenn du dich draußen setzen willst, sollst du damit graben; und wenn du gesessen hast, sollst du zuscharren, was von dir gegangen ist.Meine sehr geehrten Damen und Herren, obwohl in den Beschlüssen des 4. Ausschusses der § 12 wesentlich günstiger gefaßt worden ist, möchte ich noch ganz kurz auf eine wichtige Begründung eingehen,warum man den Klärschlamm der Kläranlagen auf die Acker bringen kann, weil nämlich Klärschlamm für den Kulturboden ein natürlicher Dünger ist, der einen Teil des sonst aufzubringenden Kunstdüngers erübrigt. Das ist allein schon für den Nitrat- und Nitritgehalt, den wir im Boden und im Grundwasser finden und den wir so sehr beklagen, von ungeheurer Bedeutung. Wenn Kläranlagen, wie es nach volkswirtschaftlichen Prinzipien richtig ist — bringen ist billiger als Holen —, dem Bauern den Klärschlamm kostenlos auf den Acker bringen und der Bauer nur noch eine bestimmte auf die Pflanzenart abgestellte zusätzliche Kunstdüngung vorzunehmen hat, dann ist das für beide Teile ein großer Erfolg.Professor Rebloh, Direktor des Hygienischen Instituts der Universität Münster, hat unmißverständlich erklärt, daß es aus hygienischen Gründen unbedenklich ist, Klärschlamm auf den Acker zu bringen. Ja, er stellt mit großem Bedenken als Hygieniker fest, daß die Begründung zum Abfallbeseitigungsgesetz eine Reihe von mißverständlichen Formulierungen ¡enthält, auf Grund deren er die Gefahr sieht, daß die wichtigsten und wertvollsten Bestimmungen des Gesetzes nicht klar genug durchgeführt werden können.
In dem besonderen Teil der Begründung sind vom hygienischen Standpunkt aus die Klärschlammbehandlungen unberechtigt in Mißkredit gebracht worden.
Zur Erhaltung oder Intensivierung dieser billigsten und besten Form der Klärschlammbeseitigung ist von Fall zu Fall zu prüfen, ob eine besondere Vorbehandlung des Klärschlamms vor dem Ausbringen auf landwirtschaftliche Flächen, vor allem auf Grünland, angezeigt ist. Wenn man sich auf Grund einer sorgfältigen Absatzanalyse für die Verwertung des Schlamms in flüssiger Form entschieden hat, kann eine thermische Vorbehandlung nach Art einer Pasteurisierung eine genügende Sicherheit bieten, den Klärschlamm ganzjährig, d. h. praktisch ohne Karenzzeit, auch auf Weideflächen aufzubringen. Schlammproben, auf 60 bis 62 Grad pasteurisiert, erwiesen sich bereits nach fünf Minuten Dauer der Einwirkung frei von Salmonellen. Zysten von Entamoeba histolytica, dem Erreger der Amoebenruhr, waren nach fünf Minuten bei 50 Grad abgetötet. Meine Damen und Herren, ich könnte die Reihe dieser Beispiele fortführen, um Ihnen den Beweis anzutreten, daß die landwirtschaftliche Nutzung von Klärschlamm völlig ungefährlich ist.Lassen Sie mich schließen. Eine preiswertere Methode zur Beseitigung von Klärschlamm gibt es nicht. Man hilft der Landwirtschaft, Kosten zu sparen und den Nitrit- und Nitratgehalt in Boden und Grundwasser zu verringern. Fürwahr Gründe genug, die landwirtschaftliche Nutzung von Klärschlamm zu fördern, wo immer man kann!
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10132 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
Anträge sind nicht gestellt. Ich fahre mit dem Aufruf der Paragraphen fort: §§ 12, — 13, — 14, —16, — 16 a, — 16b, — 16c, — 16 d, — 16e, —16f, — 16g, — 16h, — 16i, — 16k, — 161, — 17, — 18, — 19, — 20, — Einleitung und Überschrift. Wer dem Gesetz in der zweiten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die
dritte Beratung
des Gesetzes. Das Wort wird nicht begehrt. Ich schließe die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Gesetz in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Ich stelle noch den Antrag des Ausschusses unter den Nrn. 2 und 3 auf der Drucksache VI/3154 zur Abstimmung. Wer dem Antrag des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 30 auf:
Agrarbericht 1972 der Bundesregierung gemäß § 4 des Landwirtschaftsgesetzes
— Drucksachen VI/3090, zu VI/3090 —
Das Wort hat der Bundesernährungsminister Ertl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie Sie wissen, war die Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt bemüht, den Aussagewert ihres Agrarberichts zu erhöhen. Das gilt auch und insbesondere für den Ihnen vorliegenden Agrarbericht 1972. Er enthält folgende Verbesserungen:Erstens. Für die wichtigsten agrarpolitischen Bereiche werden Analysen der bisherigen und voraussichtlichen Entwicklung, Ziele, Maßnahmen und Finanzierung jeweils in einem geschlossenen Zusammenhang dargestellt.Zweitens. Es sind Kapitel über das Ernährungsgewerbe, die Bezugsmärkte und über NutzenKosten-Untersuchungen erstmals in den Bericht aufgenommen worden. Andere Bereiche wurden wesentlich erweitert, z. B. Naturschutz und Landschaftspflege, Außenwirtschaftspolitik und Weltagrarprobleme sowie Ernährungs- und Verbraucherpolitik.Wer diesen Bericht und den dazugehörigen Materialband sorgfältig durchsieht, dürfte es mit mir völlig unverständlich finden, wenn — wie am 19. Januar in diesem Hohen Hause geschehen — dem Agrarbericht bereits vor seiner Veröffentlichung vorgehalten wird, er würde „kosmetische Korrekturen" enthalten und sei in „allgemeiner Phraseologie" gehalten. Eine realistische agrarpolitische Konzeption kann nur auf der Basis hieb- und stichfesterDaten aufbauen. Diese finden Sie in dem vorliegenden Bericht.Das Wirtschaftsjahr 1970/71, über das dieser Bericht Rechenschaft gibt, brachte ungewöhnliche Härten für den landwirtschaftlichen Sektor. Die Ursachen dafür sind sowohl innerhalb des Agrarsektors zu suchen, als auch bei gesamtwirtschaftlichen Faktoren. Denken Sie nur an den starken Anstieg der Betriebsmittelpreise und des allgemeinen Zinsniveaus. Inzwischen spricht vieles dafür, daß die begonnene Zügelung des allgemeinen Preis- und Kostenauftriebs anhalten wird. Dadurch kann der Landwirtschaft ein erheblicher Teil ihrer aktuellen Sorgen genommen werden.Im einzelnen bestätigt der Bericht, daß sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe und der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft weiter verringert hat. 1971 gab es mit 1,2 Millionen Betrieben 83 000 weniger als 1970. Seit 1960 ist damit die Betriebszahl um ungefähr 27 % zurückgegangen. Die Zahl der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft sank 1971 um etwa 126 000 auf rund 2,3 Millionen. Sie hat sich damit gegenüber 1960 um weit mehr als ein Drittel verringert. Hinter diesen trockenen Zahlen steckt ein beispielhafter Anpassungsprozeß.Die in der Landwirtschaft lebenden Menschen haben damit ihre Entschlossenheit bewiesen, von sich aus aktiv zu werden und auch außerhalb ihres traditionellen Lebensbereiches gebotene Chancen wahrzunehmen. Ich meine, daß von einem übertriebenen Baharrungsvermögen in der Landwirtschaft angesichts dieser Entwicklung füglich nicht mehr gesprochen werden kann.
Die aufgezeigte Entwicklung ist — unter gewissen Vorbehalten — wegen der damit verbundenen Strukturverbesserung zu begrüßen. Die hohe Zahl der Betriebsauflösungen 1971 signalisiert eine Beschleunigung des Strukturwandels. Natürlich bringt diese Tatsache Probleme mit sich und erfordert agrarpolitische Konsequenzen. Sie rechtfertigt aber keine Panikmache.
Schließlich sind diese Zahlen — und ich bitte dringend, diesen Aspekt zu berücksichtigen — auch das Gegenstück einer auf den Strukturwandel in der Landwirtschaft abgestimmten erfolgreichen regionalen Wirtschaftspolitik, strukturwirksamen Agrarsozialpolitik, großzügigen Arbeitsförderungs- und Ausbildungspolitik und selektiven Investitionsförderung. Dazu tritt die landwirtschaftliches Eigentum erhaltende Bodenpolitik der Bundesregierung.Wer die Zahl der 83 000 ausgeschiedenen Betriebe nüchtern analysiert, stellt fest, daß das Schwergewicht des Strukturwandels mit etwa 68 000 Betrieben bei der Zu- und Nebenerwerbslandwirtschaft liegt. Dagegen nimmt der Anteil der Vollerwerbsbetriebe an der Gesamtzahl der Betriebe zu.Im Unterschied zu den vorangegangenen Jahren kommt 1971 der beunruhigende Umstand hinzu, daß
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972 10133
Bundesminister Ertlder Produktionswert der Landwirtschaft, die Wertschöpfung der Landwirtschaft und die Wertschöpfung je Arbeitskraft gegenüber 1969/70 gesunken sind. Die Wertschöpfung im Produktionsbereich Landwirtschaft ging um 8,4 % zurück. Gleichzeitig sank das Betriebseinkommen je Arbeitskraft. Es betrug 1970/71 11 800 DM; das sind 9,8 % weniger als im Wirtschaftsjahr 1969/70. Wenn es in Teilbereichen auch positive Ergebnisse gab, z. B. in Weinbaubetrieben oder im Zierpflanzenbau, ist die Entwicklung jedoch insgesamt unerfreulich und außerordentlich schmerzhaft für die Betroffenen. In unserer Zeit steigenden Wohlstands sind echte Einkommenseinbußen selten. Sie sind dann besonders einschneidend, wenn — wie gerade im Falle der Landwirtschaft — die globale Einkommenssituation im Vergleich zu anderen Bereichen sowieso viele berechtigte Wünsche unerfüllt läßt.Meine Damen und Herren, weil dieser Zustand so unerträglich ist, betrachte ich es als meine Pflicht, näher darauf einzugehen. Ursächlich für die schlechte Einkommensentwicklung sind im wesentlichen folgende Faktoren:Erstens. Die Preise für landwirtschaftliche Betriebsmittel sind im Wirtschaftsjahr 1970/71 stärker als in den früheren Jahren angestiegen.
Sie lagen um 4,7 % über dem Niveau des davorliegenden Wirtschaftsjahres.Zweitens. Die Preise für Schlachtschweine gingen zyklisch bedingt zurück und erreichten ihren Tiefpunkt im April und Mai 1971.Drittens. Die Getreideernte war 1970 niedriger als 1969. Das bewirkte, daß in größerem Umfang Futtermittel zugekauft werden mußten.Aus dem Zusammentreffen dieser Faktoren erklärt sich die schlechte Einkommenssituation des Wirtschaftsjahres 1970/71. Heute sind die genannten ungünstigen Faktoren nicht mehr oder nur noch abgeschwächt wirksam.
— Herr Kollege Niegel, Sie wissen es grundsätzlich immer besser! — Es ist gelungen, die Steigerungsraten der Betriebsmittelpreise zu bremsen. Die Schlachtschweinepreise sind mittlerweile auf ein erfreulich günstiges Niveau geklettert, und die Landwirtschaft konnte eine gute Getreide- und Zuckerrübenernte einbringen. Hinzu kommt, daß die im Ministerrat im März 1971 durchgesetzten Preiserhöhungen sich erst im laufenden Wirtschaftsjahr voll auswirken werden.Meine Damen und Herren, Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehle ich die Tatsache, daß bei den Zu- und Nebenerwerbsbetrieben, die etwa 61 °/o aller landwirtschaftlichen Betriebe ausmachen, ein wesentlich günstigeres Bild entsteht. Sie haben in erheblichem Umfang an der außerlandwirtschaftlichen Einkommensentwicklung teilgenommen. Das ist einer der Gründe dafür, daß die Agrarpolitik der Nebenerwerbslandwirtschaft künftig mehr Aufmerksamkeit widmen wird. Für viele, die heute noch Vollerwerbsbetriebe sind, kann es im Zuge der Anpassung an den strukturellen Wandel notwendig werden, zukünftig eine Kombination von landwirtschaftlichen und außerlandwirtschaftlichen Einkommen vorzunehmen.Die Ergebnisse der Landwirtschaftszählung 1971 und einer von mir in Auftrag gegebenen vorgezogenen Teilauswertung werden über die Situation der Nebenerwerbslandwirtschaft weiteren Aufschluß geben. Dann erst wird es möglich sein, fundiertere Aussagen zu machen, als dies bisher auf der Basis einzelner Untersuchungen möglich ist.Meine Damen und Herren, bei aller Sorge über das Resultat des abgelaufenen Wirtschaftsjahres sollte nicht übersehen werden, daß die Entwicklung im laufenden Wirtschaftsjahr sehr viel besser ausfallen wird. Einschlägige Schätzungen ergeben, daß das Einkommen je Vollarbeitskraft im laufenden Wirtschaftsjahr um etwa 12 % steigen wird. Dies wird in etwa zu einem Ausgleich der 1970/71 ermittelten Rückschläge führen.Es wäre einseitig, den zurückliegenden Berichtszeitraum ausschließlich nach seinen einkommenspolitischen Ergebnissen in Verbindung mit der Preispolitik beurteilen zu wollen. Ein ausgewogenes Gesamturteil über die Entwicklung im Agrarsektor ist erst möglich, wenn zusätzliche Bereiche mit in die Betrachtung einbezogen werden. Dazu gehören in erster Linie die Entwicklungen in der Markt- und Strukturpolitik, ganz besonders aber in der Agrarsozialpolitik. Diese Bereiche haben positive Bilanzen aufzuweisen, wie der Agrarbericht im einzelnen darstellt.In diesem Zusammenhang möchte ich grundsätzlich feststellen: Markt-, struktur- und regionalpolitische Verbesserungen, Fortschritte in der Bildungspolitik, Ausbau der sozialen Sicherung sind Ergebnisse, die zwar nicht glasklar in DM je Arbeitskraft nachgewiesen werden können, die aber auf längere Sicht eine unabdingbare Voraussetzung sind für die strukturelle Gesundung des Agrarsektors insgesamt, auch was seine Einkommenssituation betrifft.Ich möchte versuchen, im Sinne einer solchen umfassenden Betrachtung den Punkt zu lokalisieren, an dem die agrarpolitische Entwicklung sich heute befindet. Dazu ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß die Ergebnisse des Berichtszeitraumes kein Eigenleben führen; sie sind das vorläufig letzte Glied einer langen Kette. Das bedeutet, daß die Situation, in der sich die in der Landwirtschaft tätigen Menschen heute befinden, keine grundsätzlich neue Problematik enthält.Erstens. Der Strukturwandlungsprozeß hält weiter an und bleibt weiter notwendig.Zweitens. Die ökonomische Disparität ist unbewältigt.Drittens. Die soziale Sicherung in der Landwirtschaft ist immer noch verbesserungsbedürftig.Meine Damen und Herren, daran wird deutlich,daß die Integration der Landwirtschaft in die Volkswirtschaft eines hochentwickelten Industriestaates
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10134 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
Bundesminister Ertleine Aufgabe ist, die viel Arbeit, Geduld und politisches Stehvermögen und nicht zuletzt sehr viel Geld erfordert.Immerhin hat es einige erhebliche Fortschritte gegeben: In der Preispolitik war das Wirtschaftsjahr 1971/72 ein Wendepunkt. Die administrativ geregelten Preise wurden teilweise bis zu 6 % angehoben. Dieser Tatbestand gewinnt dann besonderes Gewicht, wenn man ihn im Zusammenhang mit der preispolitischen Enthaltsamkeit der vorhergegangenen Jahre sieht. Noch für das Wirtschaftsjahr 1970/71 war es für mich schwer genug, die in Brüssel geplanten Preissenkungen zu verhindern.Genauso wichtig wie die administrativen Preiserhöhungen war für die Landwirte auch 1971 der Ausgleich währungspolitisch bedingter Preissenkungen durch den DM-Aufwertungsdirektausgleich und den mehrwertsteuerlichen Teilausgleich. Diese Konstruktion ist nachweislich dazu geeignet, der Landwirtschaft nachteilige Folgen aus der DM-Aufwertung von 1969 zu ersparen.Im spezifischen Interesse der Landwirtschaft halte ich es für wenig sinnvoll, wenn immer wieder die Frage nach der Angemessenheit aufgeworfen wird. Es hat erhebliche Mühe gekostet, unsere Partner in der EWG davon zu überzeugen, daß dieser Ausgleich den Landwirten in der Bundesrepublik keine Wettbewerbsvorteile verschafft.Durch die Wechselkursfreigabe im Mai 1971 sah sich die Landwirtschaft wieder mit dem leidigen Problem der Auswirkungen von Paritätsänderungen konfrontiert. Im Vergleich zu 1969 war die Ausgangslage für die Agrarpolitik diesmal etwas günstiger. 1969 war die Bundesrepublik allein; die Chance für ein gemeinsames Vorgehen in Verbindung mit dier Abwertung des französischen Franc wurde im Sommer 1969 vertan. Diesmal schlossen sich die Benelux-Länder uns an; darüber hinaus trug das Floating den Charakter einer Übergangslösung. Deshalb konnte in Brüssel ein Grenzausgleichssystem idurchgesetzt werden. Zweifellos ist das Grenzausgleichssystem am ehesten geeignet, die Wirkungen von Paritätsänderungen auf die Landwirtschaft der betroffenen Länder aufzufangen.Unmittelbare Einkommenswirksamkeit hatte auch die 1971 einmalig gewährte Liquiditätshilfe. Hierfür und zur Ergänzung anderer Maßnahmen der nationalen Agrarpolitik wurden insgesamt 680 Millionen DM aus Einsparungen bei Marktordnungsausgaben bereitgestellt.302 Millionen DM wurden gleichzeitig mit dem Aufwertungsausgleich ausbezahlt. Gerade weil die Einkommens- und Liquiditätslage in der Landwirtschaft so prekär war, kam dieser schnellen und wirksamen Hilfe besondere Bedeutung zu.Deshalb hätte auch die Verwirklichung des damaligen Vorschlages der Opposition, das Altersgeld zu erhöhen, nicht dieselbe Wirkung haben können. Den aktiven Landwirten, die von den wirtschaftlichen Bedingungen am härtesten betroffen waren, hätte die Erhöhung des Altersgeldes keine direkte Entlastung gebracht. Außerdem fehlte damals die Absicherung im Finanzplan.In der Zwischenzeit hat die Bundesregierung die Liquiditätshilfe ausbezahlt. Zusätzlich wird aber auch das Altersgeld erhöht werden.In der Agrarsozialpolitik sind 1971 wichtige Verbesserungen vorgenommen worden:Erstens. Die Landabgaberente wurde erhöht, der Kreis der Anspruchsberechtigten wurde erweitert. Das hat dazu geführt, daß Ende 1971 mehr als dreimal soviel Personen wie im Vorjahr Landabgaberente bezogen.Zweitens. Für die Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung wurde bei strukturverbessernder Abgabe der Betriebe ein Bundeszuschuß in Höhe von 70 °/o eingeführt.Drittens. Die Unfallrenten wurden bei gleichzeitiger Vermeidung von Beitragsanhebungen erhöht; dier Bundeszuschuß für die Unfallversicherung wurde aufgestockt.Meine Damen und Herren, ich möchte hier keinen agrarpolitischen Maßnahmenkatalog abhandeln; dazu verweise ich auf den Agrarbericht. Lassen Sie mich aber folgende Ausgangslage festhalten.Die Landwirtschaft ist nach wie vor auf staatliche Hilfen angewiesen. Für ihre Probleme gibt es keine Patentlösungen. Diese Feststellung mag für manche schmerzhaft sein, aber sie ist Voraussetzung für die richtige Beurteilung der Situation. Wer sich nüchtern mit den Fakten auseinandersetzt, der muß aus heutiger Sicht erkennen, daß die landwirtschaftlichen Probleme nicht mehr isoliert betrachtet werden können. Sie stehen vielmehr in einem größeren Rahmen, der berücksichtigt werden muß.Im internationalen Bereich haben wir es im wesentlichen mit zwei Komplexen zu tun: Das handelspolitische Drängen der USA und der Agrarhandel der EWG mit anderen Drittländern. Mit den Vereinigten Staaten hat die EWG einen im Lichte der Dollarabwertung vertretbaren Kompromiß ausgehandelt.Im Zusammenhang mit dem Drittlandshandel der EWG weise ich darauf hin, daß auch die erweiterte Gemeinschaft auf Industrieexporte angewiesen sein wird. Deshalb kommt den Agrarimporten aus Drittländern weiterhin beachtliche Bedeutung zu.Unbezweifelbar hat die erweiterte Gemeinschaft als größter Importeur und großer Exporteur von Ernährungsgütern eine besondere Verantwortung für die gedeihliche Entwicklung der Weltagrarmärkte und der Welternährung. Sie wissen, daß ich im In-und Ausland die Auffassung vertreten habe, daß alle am Weltagrarhandel beteiligten wichtigen Partner in Zukunft konkrete und verstärkte Anstrengungen unternehmen müssen, um die Weltagrarmärkte ins Gleichgewicht zu bringen.Im EWG-Bereich geht bisher die größte Störung von der mangelnden Harmonisierung der Wirtschafts- und Währungspolitik aus. Die These von der gemeinsamen Agrarpolitik als Vorreiter für die Integration anderer Bereiche ist seit geraumer Zeit nicht mehr gültig. Frühere Regierungen haben bekanntlich die Integration des Agrarsektors als Vor-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972 10135
Bundesminister Ertlaussetzung für eine ganzheitliche Integration der Wirtschaftsgemeinschaft angesehen. Wertvolle Jahre, in denen die Wirtschafts- und Währungsunion im Gleichschritt mit dem Aufbau des Agrarmarktes hätte vorangetrieben werden können, sind verloren.Jetzt stehen wir unter dem Zwang, die Versäumnisse beschleunigt und unter erschwerten Umständen nachholen zu müssen. Inzwischen haben sich die Aussichten auf echte Fortschritte, beeinflußt durch die Weltwährungssituation, erheblich gebessert. Die jüngsten deutsch-französischen Konsultationen haben die Wirtschafts- und Währungsunion ein erhebliches Stück nähergebracht. Ich begrüße die in der Zwischenzeit von der Kommission gemachten Vorschläge und noch mehr die Beschlüsse des Rates Anfang dieser Woche.Parallel zu einer Verengung der Bandbreiten, der Schaffung eines gemeinschaftlichen Deviseninterventionssystems der Zentralbanken und der Errichtung eines europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit muß jedoch auch die Wirtschaftspolitik harmonisiert werden. Aus der vorgezogenen Integration des Agrarsektors sind auch die besonderen Schwierigkeiten abzuleiten, die die gemeinsame Agrarpreispolitik belasten. Ich halte es für einen Erfolg, daß preispolitische Initiativen nach dem teilweisen Abbau der Überschüsse nicht mehr automatisch mit der Drohung überquellender Märkte abgewürgt werden.Dafür bringen die ungelösten Probleme der Währungspolitik neue Unsicherheiten in die Agrarpreisdiskussion. Bei den anstehenden Preisverhandlungen für das Wirtschaftsjahr 1972/73 setze ich mich für eine weitere gezielte Erhöhung des Agrarpreisniveaus ein. Das ist durch die bekannt unterschiedliche Interessenlage der Mitgliedstaaten nicht leicht, und dies haben wir erst in dieser Woche in der Diskussion im Agrarrat erneut vor Augen geführt bekommen. Die Preisvorschläge der Kommission betrachte ich dabei als hilfreich. Der unterschiedliche Rang der Agrarpreise für die Einkommenspolitik in den Mitgliedstaaten spiegelt die leider noch vorhandenen zahlreichen einkommenswirksamen Unterschiede in allen für das Einkommen relevanten Bereichen.Für die Bundesregierung gibt es daraus nur eine Konsequenz: In diesen Bereichen, die den Wettbewerb verfälschen, ist eine Harmonisierung erforderlich.Bei der Diskussion um die Preisfestsetzungen wird leider oft vergessen, daß den Erzeugern für die Marktsituation eine erhebliche Eigenverantwortung zukommt. Vor allem auf den Märkten für Schweinefleisch, Eier und Geflügelfleisch wäre es im eigenen Interesse der Landwirte sehr zu wünschen, wenn mehr marktkonformes Verhalten geübt würde. Überschüsse auf diesen Märkten sind zunächst ein Problem der Erzeuger selbst und müssen von ihnen in eigener Regie gemeistert werden.In der Unterstützung dieser Bemühungen sehe ich auch eine ganz wesentliche Aufgabe der berufsständischen Vertretung. Die Bundesregierung hat ihreAbsicht bewiesen und ist weiter bereit, ihren Teil dazu beizutragen, um das Mengenproblem auf diesen Märkten in den Griff zu bekommen.Im Bereich der gemeinsamen Agrarstrukturpolitik sind durch die Ratsentschließung vom 25. Mai 1971 die Weichen in Richtung auf gemeinschaftliche Grundsätze gestellt. Das ist gut so, denn ohne eine solche gemeinschaftliche Basis würden die Effizienz nationaler strukturpolitischer Maßnahmen durch konträre Bestrebungen in den Partnerstaaten in Frage gestellt und neue Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Dabei ist jedoch sichergestellt, daß die zur Verabschiedung anstehenden Richtlinien und Verordnungen so flexibel gestaltet werden, daß nationale Gegebenheiten Berücksichtigung finden. Die Harmonisierung der Agrastrukturpolitik wird also nicht zu einer Gefährdung unseres nationalen Konzepts führen. Ich werde mich in Brüssel mit Nachdruck dafür einsetzen, daß wir auf dem Gebiet der Agrarstrukturpolitik nicht in dem gleichen Perfektionismus verfallen, der uns auf dem Marktsektor so viel Kopfschmerzen bereitet.,
Gerade auf dem Gebiet der Agrarstrukturpolitik gilt es, behutsam und im Gleichschritt mit Fortschritten auf dem Gebiet der gesamtwirtschaftlichen Integration vorzugehen.Im nationalen Bereich stehen der Agrarpolitik nicht weniger dringende Aufgaben bevor. Die Bundesregierung hat nie Zweifel daran gelassen, daß ihr die Erweiterung und Komplettierung der sozialen Sicherung der in der Landwirtschaft tätigen Menschen besonders am Herzen liegen. Sie begann mit dem das einzelbetriebliche Förderungsprogramm ergänzenden agrarsozialen Ergänzungsgesetz. Diesen Maßnahmen wird sie weitere hinzufügen:1. Die Pflichtkrankenversicherung für Landwirte wird in diesem Jahr eingeführt. Dabei übernimmt der Bund die Kosten der Krankenversicherung für die Altenteiler.2. Der Bund wird älteren landwirtschaftlichen Arbeitnehmern Übergangshilfen gewähren, wenn diese strukturbedingt ihren Arbeitsplatz verlieren.3. Das Altersgeld wird ab 1. September 1972 auf 240 DM für Verheiratete bzw. 160 DM für Alleinstehende erhöht. Entsprechend wird die Landabgaberente auf monatlich 415 DM bzw. 275 DM angepaßt.4. Noch in dieser Legislaturperiode wird der Ausbau der Altershilfe für die Landwirte zu einer angemessenen Altersversorgung vorgenommen. Dabei ist beabsichtigt ,das Altersgeld ab 1. Januar 1974 in die laufenden Rentenanpassungen einzubeziehen. Die Bundesregierung wird nach Absicherung der erforderlichen Mittel in der mehrjährigen Finanzplanung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen.Damit wird eine Lücke im System der sozialen Sicherung geschlossen, die darin besteht, daß die Alterssicherung der Landwirte und ihrer Ehefrauen nach einem arbeitsreichen Berufsleben durch die der-
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10136 Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
Bundesminister Ertlzeitigen besonderen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Landwirtschaft gefährdet ist.In der Strukturpolitik sollten die bewährten überbetrieblichen Maßnahmen wie Flurbereinigung, Wegebau, wasserwirtschaftliche Maßnahmen u. a. mit teilweise beträchtlich erhöhten Ansätzen weitergeführt werden. Zusammen mit den strukturwirksamen Sozialmaßnahmen sind sie die Grundlage für einen Strukturwandlungsprozeß ohne wirtschaftliche oder soziale Härten.Auf einzelbetrieblicher Ebene finden seit 1. Juli 1971 die Richtlinien des Einzelbetrieblichen Förderungsprogramms Anwendung. Lassen Sie mich dazu vorweg sagen: Einen ganz wesentlichen Erfolg hat das Programm schon heute zu verzeichnen. Es hat zum Rechnen gezwungen und die Landwirte veranlaßt, die eigene Lage zu überprüfen.
Damit hat das Programm dazu beigetragen, Fehlinvestitionen zu vermeiden. Die Auseinandersetzung mit dem Programm ist sachlicher geworden.
— Ich kann nur sagen: Dafür müssen Sie den Beweis liefern, Herr Kollege Niegel. Für unwahre Behauptungen müssen Sie hier immer noch klare Beweise vorlegen!
Die Zahlen beweisen etwas anderes. Es tut mir leid, daß Sie selbst diese Debatte dazu benutzen, um in unfairer Weise hier Polemik zu betreiben; aber das ist wohl Ihr Stil.
Wir werden uns mit Ihrer Behauptung auseinandersetzen!
Im Grundsatz findet das Programm heute allgemein Zustimmung. Denjenigen, die behaupten, das Programm sei unzureichend, halte ich entgegen: Wer dien Umstand bemängelt, die Zahl der Förderungsfälle sei geringer geworden, hat das Programm noch gar nicht verstanden. Wer Anwendungsschwierigkeiten bemängelt, hat hoffentlich auch nicht vergessen, daß die Investitionsbeihilfe aus dem Jahre 1966 auch über ein Jahr benötigte, um die üblichen Anlaufschwierigkeiten zu überwinden.Einzelne Punkte des Programms sind sicher verbesserungsbedürftig. Bund und Länder haben sich auf Förderungsgrundsätze im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz" geeinigt. Bei der Diskussion dieser Probleme hat man gleichzeitig für Grünlandbetriebe besonders günstige Kondiditionen vorgesehen. Ich bin bereit, diese Verbesserungen bereits in diesem Jahr anzuwenden. Die Bundesregierung ist bereit, das einzelbetriebliche Förderungsprogramm entsprechend aufzustocken.Meine Damen und Herren, ich habe oft betont, der Strukturwandel in der Landwirtschaft müssevon begleitenden Maßnahmen aus dem Bereich der Bildungs- und Ausbildungspolitik unterstützt werden. Noch kann nicht davon gesprochen werden, daß in allen ländlichen Gebieten ein gleiches Bildungsangebot besteht wie im städtischen Bereich. Deshalb mißt die Bundesregierung den Arbeiten der Bund-Länder-Kommission an einem Bildungsgesamtplan ganz besondere Bedeutung bei. Bund und Länder müssen alles tun, damit das Bildungsangebot in ländlichen Räumen sachgerecht und zügig ausgebaut wird. Das gilt auch für den Bereich der Berufsbildung.Noch ein Wort zu ernährungs- und verbraucherpolitischen Aspekten. Der Agrarbericht enthält erstmals ein Kapitel über Ernährungs- und Verbraucherpolitik. Um dem Anspruch der Verbraucher nach zunehmender Differenzierung und Verfeinerung in Qualität und Zusammensetzung der Nahrungs- und Genußmittel gerecht zu werden, bedient sich die Nahrungsmittelherstellung fortgesetzt neuer Produktionsverfahren. Die Bundesregierung vertritt hierbeit die Auffassung, daß der gesundheitlichen Unbedenklichkeit der Produkte der Vorrang gegenüber Rentabilitätsgesichtspunkten zukommt. Nicht zuletzt die ausgefeilten Be- und Verarbeitungsmethoden und verbesserte Qualitäten führen zu einer Erhöhung der Verbraucherpreise für Nahrungsmittel. Darüber gerät häufig in Vergessenheit, daß der landwirtschaftliche Erzeuger im Durchschnitt aller Produkte mit dem von ihm erzielten Preis nur noch einen Anteil von 50 % am Verbraucherpreis hat. Trotz der unbestreitbaren Erhöhung der Nahrungsmittelpreise stieg ihr Preisindex nur um 3,9% gegenüber 5,2 % bei den Lebenshaltungskosten insgesamt. Das ist auch eine Erklärung dafür, daß die Verbraucher nur noch zirka 25 % ihres verfügbaren Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben gegenüber zirka 33 % vor 10 Jahren.Die zunehmende Aufmerksamkeit der Agrarpolitik gilt auch der Umweltschutzpolitik. Wir haben es in der vorhergehenden Debatte gerade erlebt. Wenn heutigen und künftigen Generationen weiterhin ein gesunder Lebensraum zur Verfügung stehen soll, dann sind wir auf die Landwirtschaft und ihre maßgebliche Beteiligung an dem Schutz, der Pflege und der Gestaltung der natürlichen Umwelt des Menschen angewiesen. Wo dies im Interesse der Gestaltung der Kulturlandschaft notwendig ist, kann es unter bestimmten Bedingungen sinnvoll werden, Bewirtschaftungszuschüsse an landwirtschaftliche Betriebe zu gewähren. Darüber wird auch im Zusammenhang mit den Preisvorschlägen der Kommission in der nächsten Ratsdebatte ausführlich diskutiert werden. Solche Zuschüsse dürfen und können nicht als Ersatz der Einkommenspolitik oder als Mittel zur Verbesserung der Agrarstruktur mißverstanden werden. Bewirtschaftungszuschüsse haben ausschließlich die Funktion, zur Vermeidung der Gefährdung unserer Kulturlandschaft bisherige landwirtschaftliche Betriebe mit der Wahrnehmung der Landschaftspflege zu betrauen.Meine Damen und Herren, dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung gilt in diesen Wochen Ihr parlamentarisches Interesse. Der Wegfall der bisher
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Bundesminister Ertlpraktizierten Vorfinanzierung der Marktordnungsausgaben aus dem Einzelplan 10 erschwert den direkten Vergleich des Agraretats 1972 mit seinen Vorgängern. Im Interesse der Haushaltsklarheit hatte der Bauernverband diese Umstellung schon lange gefordert. Es ist mir deshalb unverständlich, warum diese haushaltsmäßige Flurbereinigung anscheinend Unzufriedenheit erzeugt hat und teilweise so kommentiert wird, als ob es sich um eine Kürzung des Agraretats handelte.Vielmehr hat die Bundesregierung wichtige Verbesserungen vorgesehen: Erstmals Mittel in Höhe von 176 Millionen DM für die Übernahme der Krankenversicherungskosten der Altenteiler durch den Bund, 139 Millionen DM mehr als im Vorjahr für die Altershilfe, rund 65 Millionen DM zusätzlich zu den für das Einzelbetriebliche Förderungsprogramm ohnehin vorgesehenen und gegenüber dem Vorjahr erhöhten Mitteln, 84 Millionen DM mehr für die Wasserwirtschaft und 48 Millionen DM mehr für die Gasölverbilligung. Damit wirkt sich die Mineralölsteuererhöhung nicht belastend auf die Landwirtschaft aus. Im Zusammenhang mit der in Vorbereitung befindlichen Farbkennzeichnung des Heizöls beabsichtigt die Bundesregierung, der Landwirtschaft zukünftig den Bezug gefärbten Heizöls auch als Kraftstoff zu ermöglichen.Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen die schwierige Lage der deutschen Landwirtschaft ungeschminkt dargestellt und Ihnen einen Überblick über die dringlichsten der anstehenden agrarpolitischen Probleme gegeben. Die Bundesregierung verkennt die ungewöhnlichen Belastungen, denen die Landwirtschaft ausgesetzt ist, nicht, und sie bekräftigt ihre Zusage, die Landwirtschaft mit ihren Problemen nicht allein zu lassen und ihrem Schicksal zu überlassen. Das beweisen die von mir genannten getroffenen und vorgesehenen Maßnahmen. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, das in Ihrer Kraft Liegende zu tun, um die Probleme in den Griff zu bekommen.Ich weiß nicht zuletzt aus meiner eigenen parlamentarischen Erfahrung, daß die Agrarpolitik schon immer ein dankbares Betätigungsfeld für Kritiker war. Verantwortlich für die grundsätzliche Lage der Landwirtschaft — darüber sollte hier im Hohen Haus Übereinstimmung bestehen — ist nicht ausschließlich irgendeine Regierung, Partei oder Person, nicht die Landwirtschaft, nicht die EWG, sondern die wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklung, die wir nur lenken, aber nicht umdrehen können.Kritik ist besonders dann wertvoll, wenn sie brauchbare Alternativen enthält.
Voraussetzung dafür ist, daß die Argumentation nicht den Rahmen bestehender politischer und rechtlicher Gegebenheiten sprengt. Die EWG ist ein von uns allen bejahtes Faktum,
das angesichts einer gemeinsam verabredeten Agrarpolitik der Bundesrepublik Deutschland keineAlleingänge mehr gestattet. Seien wir uns darüber im klaren, daß der zur Verfügung stehende Handlungsspielraum sehr begrenzt ist. In einer EWG der Zehn müssen wir noch größere Anstrengungen als bisher darauf verwenden, unsere Partner und die Kommission für unsere Vorschläge zu gewinnen. In manchen Fragen werden uns aus dem Kreis der Vier bestimmt Verbündete zuwachsen. Verbündete erhoffe ich mir auch aus diesem Hohen Hause, insbesondere von den Kräften, die seinerzeit die Weichen in Richtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auch in der Agrarpolitik, gestellt haben. Verantwortliche Vaterschaft in der Politik gilt nicht nur für den Zeugungsakt, sondern verlangt auch verständnisvolle Hilfe in den schwierigen Jahren des Heranwachsens und Reifens, in der sich nun einmal die Agrarpolitik der EWG befindet.
Meine Damen und Herren, die Agrarpolitik der Bundesregierung ist langfristig angelegt. Rückschläge wie die Einkommensentwicklung im zurückliegenden Wirtschaftsjahr werden nicht dazu führen, den als richtig erkannten Weg zu verlassen.
— Herr Kollege Reinhard, ich würde Ihnen und überhaupt allen Ihren Kollegen raten, die Entwicklung der Landwirtschaft in den letzten zehn Jahren einmal nachzulesen. Dann werden Sie zu interessanten Feststellungen kommen. Aber wir werden in der Debatte darauf zurückkommen. Auch ich weiß, was in der Vergangenheit geschehen ist.
— Ich stelle sogar meine Rede von 1969 sehr gern zur Diskussion.
— Ich stelle auch frühere Reden gern zur Diskussion. Ich wäre glücklich gewesen, wenn Sie das, was ich früher gesagt habe, früher berücksichtigt hätten. Dann hätte ich heute nicht so viel aufzuholen.
— Sie wollen ja, daß man Sie ab und zu daran erinnert. Das können Sie immer hören.
Die Bundesregierung und ich hoffen, daß die vor uns liegende Periode dem Berufsstand und den Menschen in der Landwirtschaft wieder Mut geben wird. Es darf nicht dazu kommen, daß aus der engen Sicht eines Wirtschaftsjahres alles in Frage gestellt wird, was bisher erreicht worden ist. Damit wäre am allerwenigsten der Jugend auf dem Lande gedient, die in unser aller Interesse in beispielhafter Form um eine lebenswerte Existenz in der Landwirtschaft kämpft. Dafür gilt ihr mein besonderer Dank. Ihr ist mit falschen Hoffnungen so wenig gedient wie mit Selbstmitleid. Worauf es ankommt, ist die Konzentration aller Kräfte auf die vor uns liegenden Aufgaben. Was notwendig ist, wissen wir. Wir alle— Landwirte, Berufsvertreter, Politiker — sind da-
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10138 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
Bundesminister Ertlzu aufgerufen, der Landwirtschaft den Weg in die Zukunft offenzuhalten.Lassen Sie mich am Schluß jenen Menschen auf dem Lande danken, die trotz allem ihr schweres Tagewerk verrichten. Lassen Sie mich aber auch allen meinen Mitarbeitern danken, die, wie ich meine, mit dem Agrarbericht eine vorzügliche Dokumentation über einen sehr wesentlichen Teil unserer Volkswirtschaft und Gesellschaft, die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft, vorgelegt haben.
Meine Damen und Herren, damit ist der Agrarbericht hier vorgelegt. Ich danke Ihnen, Herr Minister. Die Aussprache darüber findet voraussichtlich am 17. März statt.
Ich rufe nunmehr Punkt 31 der Tagesordnung auf:
Beratung des schriftlichen Berichts des Sonderausschusses für Sport und Olympische Spiele über die Berichte des Bundesministers des Innern betr. Vorbereitung und Gesamtfinanzierung der Olympischen Spiele 1972
— Drucksache VI/ 1492, VI/ 1968, VI/3123 —
Das Wort hat als Berichterstatter der Abgeordnete Hussing.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihnen liegt der Schriftliche Bericht des 1. Sonderausschusses für Sport und Olympische Spiele zum fünften Bericht des Bundesministers des Innern über die Vorbereitung und Gesamtfinanzierung der Olympischen Spiele 1972 vor. Ich bitte Sie, in diese Drucksache VI/3123 eine Ergänzung des Textes aufzunehmen. Auf Seite 1 fehlt ein Petitum des mitberatenden Haushaltsausschusses aus seiner Sitzung vom 19. Januar 1972. Sie muß ergänzt werden durch eine neue Ziffer 3 mit folgendem Wortlaut:
hinsichtlich der Folgekosten für den Bundeshaushalt keine weiteren Belastungen eintreten,
Die bisherige Ziffer 3 wird Ziffer 4.
Meine Damen und Herren, von den 2314 Tagen, die sich von der Vergabe der Spiele am 25. April 1966 in Rom bis zu ihrer Eröffnung am 26. August 1972 spannen, sind es noch kaum 150 Tage. Nicht einmal ein halbes Jahr mehr trennt uns von den Olympischen Spielen mit ihren 12 000 aktiven Sportlern und Betreuern, ihren 4000 Journalisten und den erwarteten mehr als 1 Milliarde Menschen, die die Spiele persönlich oder über Presse, Funk und Fernsehen rund um die Erde miterleben werden. Diese Tatsache beherrscht das Denken der Verantwortlichen, sie diktiert das Tempo bei den Baumaßnahmen und bei der Arbeit der Organisatoren. Die wichtigsten Etappen liegen hinter den Verantwortlichen; und dieses Haus hat mit den Verantwortlichen in München die Hoffnung, daß der Eröffnungstag der Spiele nicht zum Einzug der Sportler und zugleich zum Auszug der Bauarbeiter wird.
Die Öffentlichkeit, die öffentliche und die veröffentlichte Meinung beschäftigen aber auch andere Zahlen und Fakten der Spiele. Die kürzeste Formel heißt: Zelt und Geld; Fragen, die in diesem Hause des öfteren erörtert worden sind und die wie andere Fragen um die Olympischen Spiele 150 Tage vor den Spielen noch offen sind.
Wenn wir heute den Bericht des Sonderausschusses für Sport und Olympische Spiele über Vorbereitung und Gesamtfinanzierung der Olympischen Spiele 1972 dem Hause vorlegen, dann müssen wir uns der Tatsache bewußt sein, daß dieser Bericht nicht mehr den Anspruch auf volle Aktualität erheben kann. Vor Jahresfrist wurde dieser fünfte Bericht dem Hause vorgelegt. Zweimal hat das Bundesministerium des Innern um Aufschub gebeten. Und fast auf den Tag genau ein Jahr später teilt das Präsidium des Organisationskomitees mit, daß sich viele Kosten geändert haben, bis hin zu der symbolträchtigen und vom Organisationskomitee als Gag apostrophierten Gesamtsumme von jetzt 1972 Millionen DM.
Wenn heute die olympiabedingten Investitionskosten und die Veranstaltungskosten mit den im Bericht genannten Zahlen übereinstimmen, dann ist das kein Anlaß, die olympische Entwicklung weniger aufmerksam zu verfolgen. Mit Unbehagen hat der Ausschuß immer wieder neue Zahlen auf Grund neuer Kalkulationen, aber auch wegen ständiger Preissteigerungen zur Kenntnis nehmen müssen; und noch sind nicht alle Bauten fertiggestellt. Niemand kann absehen — wie die Bundesregierung vor wenigen Tagen auf eine Mündliche Anfrage erklärte —, mit welchen Zahlen z. B. das Zeltdach endgültig zu Buche stehen wird, das sich von 33 Millionen DM im Jahre 1968 auf 140 Millionen DM im Jahre 1971 verteuert hat.
Das Ostdach steht zur Debatte mit 16,4 Millionen DM nach alter Schätzung und wird nach heutiger Schätzung bereits 24 Millionen DM kosten. Hinzu treten strittige Nachfolgekostenrechnungen und die Verteilung der Nachfolgekosten; Fragen, die vertraglich noch nicht genau fixiert sind. Den Schwarzen Peter für diese Kostenentwicklung allein beim Organisationskomitee oder bei der Olympia-Baugesellschaft zu suchen, hieße, sich die Arbeit zu einfach zu machen; denn beide haben nicht die Preisentwicklung in der Bundesrepublik zu verantworten, die allein im Hochbau Steigerungen von bis zu 30 % in den letzten 18 Monaten aufweist. Überdies hat der Aufsichtsrat der Olympia-Baugesellschaft bereits am 15. Juli 1969 die Rechnungsprüfungsbehörden des Bundes, des Freistaates Bayern und der Stadt München um Prüfung gebeten, ob Sorgfaltspflichten verletzt worden sind.
Bei Würdigung aller Schwierigkeiten — der Ausschuß hat die Schwierigkeiten gewürdigt — muß aber darauf bestanden werden, daß die Bundesregierung als einer der Konsortialpartner weiteren Kostenausweitungen schärfstens eintgegentritt. Sport- und Haushaltsausschuß betrachten die jetzt angegebenen Kosten als obere Kostengrenze. Der Haushaltsausschuß behält sich vor, im Rahmen der Haushaltsberatungen — Einzelplan 6 — auf Kosten
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und Kostenentwicklung zurückzukommen. Den Kostenausweitungen ist trotz der Tatsache entgegenzutreten, daß nicht zuletzt die von meiner Fraktion angeregte Prägung und Ausgabe von Olympiamünzen und der unerwartet hohe Gewinn aus dem Verkauf zu einer spürbaren Entlastung der öffentlichen Hand geführt hat.
Der von den drei Fraktionen des Deutschen Bundestages eingebrachte Gesetzentwurf für die Olympiagoldmünze wurde zwar von der Bundesbank abgelehnt, obwohl durch diesen Vorschlag ein großer Teil der Steuergelder über den Münzgewinn — bei 10 Millionen Stück Goldmünzen wären es 350 Millionen DM gewesen — hätte ersetzt werden können. Diese Initiative war dennoch nicht vergeblich; denn sie führte schließlich dazu, daß die Gesamtauflage der 10-DM-Olympiasilbermünze zunächst auf 80 Millionen, später auf 100 Millionen Stück erhöht wurde. Der beabsichtigte Münzgewinn stieg hierdurch von 427 Millionen DM über 568 Millionen DM auf 730 Millionen DM. Damit ist, wenn auch mit Verzögerungen und vorbehaltlich des Zutreffens aller zugrundegelegten Voraussetzungen im wesentlichen die Intention der Goldmünzeninitiative verwirklicht.
Das hat zu einer positiven Entwicklung der Lasten der öffentlichen Hand geführt, die nach dem Bericht, meine Damen und Herren, noch bei 39 % der Gesamtkosten und — insoweit ist auch der vorgelegte Bericht nicht mehr aktuell — jetzt bei 35% der Gesamtkosten liegen. Diese Tatsache, so hoffen wir,
wird mithelfen, die Meinung der Bevölkerung über die Kosten von München und Kiel positiv zu stellen und denen entgegentreten, die das Geschehen in München und Kiel als Hybris unserer Erfolgsgesellschaft und als Größenwahn zu kennzeichnen versuchen.
Das ist auch notwendig, weil Untersuchungen durchaus ein strittiges Bild zeigen. Eine im Jahre 1971 im Auftrag der Bundesregierung vorgenommene Untersuchung über die öffentliche Meinung der Bevölkerung der Bundesrepublik zu den Olympischen Spielen machte deutlich, daß zwei Drittel unserer Mitbürger in diesen Spielen eine gute Sache sehen, die man unterstützen müsse und daß nur 6% gegen die Olympischen Spiele sind. Wer positiv Stellung nahm, dachte an Völkerverständigung und im Zusammenhang damit an die Chance für die Bundesrepublik, vor den Augen der Öffentlichkeit darzustellen, wohin sie sich in den letzten 25 Jahren entwickelt hat und inwieweit sie fähig ist, zur friedlichen Begegnung, Verständigung und Versöhnung — letztlich dem Sinn der olympischen Idee — beizutragen. Die Spiele der XX. Olympiade werden für unser Land diesbezüglich sicherlich eine Chance sein, die wir 1974 neuerlich mit der Fußballweltmeisterschaft in der Bundesrepublik haben werden.
Was die Kennzeichnung und den Wert der Spiele anbelangt, sind sich führende Vertreter der Regierung und der Opposition in diesem Hause einig. Das zeigen Artikel zu den Spielen von Bundeskanzler Brandt, Bundesinnenminister Genscher und Dr. Kraske, dem Vorsitzenden des 1. Sonderausschusses.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht ganz verständlich, wenn dann aber immer wieder der SPD-Pressedienst in offiziellen Erklärungen gegen die CDU polemisiert.
Herr Kollege, geben Sie hier einen Bericht — dies ist mir mitgeteilt worden —, oder ist das ein Debattenbeitrag für Ihre Fraktion?
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das auseinanderhielten, damit Klarheit herrscht. — Sie wollen wohl beides tun?
Herr Kollege, es ist natürlich für den amtierenden Präsidenten nicht ganz einfach, wenn der Bericht plötzlich irgendwo abbricht und als Debatte weitergeführt wird. Ich gehe jedenfalls davon aus, daß Sie jetzt nicht mehr als Berichterstatter sprechen.
Ich darf mich weiter im Rahmen des Berichts bewegen und abschließend sagen, daß wir bei der Gesamtbeurteilung der Vorbereitungen für die Spiele unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten, die bei der Schaffung der Voraussetzungen für die Durchführung der Spiele, angefangen bei den Investitionen bis zur Organisation und der schließlichen Abwicklung, entstanden sind, allen Beteiligten zu Dank verpflichtet sind. Wir sprechen ihnen diesen Dank zu einem Zeitpunkt aus, in dem die Vorbereitungen für München in ihr eat-scheidendes Stadium treten. Wir danken insbesondare denjenigen, die das Parlament in seiner Kontrollfunktion unterstützt und die bisher ein großes Maß an Mühe aufgebracht haben und auch noch einige Zeit werden aufbringen müssen, damit die Spiele in München gelingen. Wir gehen davon aus, daß die angegebenen Kosten — 1 445 Millionen DM Investitionskosten und 527 Millionen DM Organisationskosten — die obere Grenze darstellen. Wir erkenn die Bemühungen, die olympiabedingten Einnahmen zu erhöhen, an und wünschen, daß hinsichtlich der Folgekosten über den vorgesehenen Rahmen hinaus für den Bund keine zusätzlichen Belastungen entstehen.
Namens des Ausschusses darf ich Sie bitten, den Bericht auf Drucksache V1/3123 anzunehmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schirmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Internationale Olympische Komitee beschloß am 26. April 1966 in Rom, der Stadt München die Ausrichtung der Spiele der XX. Olympiade zu übertragen. Der Präsident des NOK für Deutschland, Willi Daume, und der Münchener Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel hatten an dieser Entscheidung wesentliche Verdienste. Die Bundesregierung sicherte zu, dafür Sorge zu tragen, daß die Spiele nach den Regeln des Internationalen Olympi-
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Schirmerschen Komitees veranstaltet würden. Dabei ging sie davon aus, daß wieder zwei deutsche Olympiamannschaften teilnehmen könnten, für die aber eine Flagge und eine Hymne gelten sollte. Durch die Entscheidung des IOC bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico-City wurden der DDR ein selbständiges NOK und damit die eigene Olympiamannschaft zugebilligt.Nach den Erklärungen des Organisationskomitees sollten die Spiele in München und in Kiel die einfachen, heiteren Spiele werden. Der Vizepräsident des NOK, Dr. Max Danz, mahnte damals, nichts überzubewerten und nicht in die Versuchung zu geraten, die bombastischsten Spiele veranstalten zu wollen. Ich meine, daß der Leitspruch „citius, fortius, altius" nicht, wie in ihrer neuen Ausgabe die Wochenzeitung „Welt der Arbeit" befürchtet, zu der Forderung führen darf, Olympische Spiele immer größer, immer toller und immer teurer werden zu lassen.Im Februar 1972 hielten 55 °/o der befragten Jugendlichen das für die Spiele in München und Kiel aufgewendete Geld für gut angelegt, weil die Völkerverständigung gefördert, das Ansehen unseres Landes gemehrt, dem Fremdenverkehr besonders und der Wirtschaft allgemein geholfen würde. Vom Sport war dabei keine Rede.In dem Konsortialvertrag vom 10. Juli 1967 wurde zwischen der Bundesregierung, dem Freistaat Bayern und der Stadt München vereinbart, je ein Drittel der nicht gedeckten olympiabedingten Kosten zu übernehmen. Bei einer Überschreitung der im Konsortialvertrag genannten Gesamtkosten von 520 Millionen DM verpflichteten sich die Vertragspartner, neue Verhandlungen aufzunehmen und dabei eine in ihrem gemeinsamen Interesse liegende Lösung herbeizuführen. Durch faktische Zusagen des damaligen Bundesfinanzministers an den bayerischen Ministerpräsidenten vom Oktober 1969 wurde die Erhöhung des Bundesanteils an den nicht gedeckten olympiabedingten Investitionskosten von 331/3 % auf 50 % präjudiziert, bevor das Parlament eine Entscheidung treffen konnte und obwohl noch am 29. Januar der Bundesminister des Innern dem Bundeskanzler mitgeteilt hatte, daß er keine Möglichkeit sehe, einer Erhöhung des Bundesanteils zuzustimmen.Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch die Erklärung von fünf CSU-Bundestagsabgeordneten in einem Telegramm vom 24. März 1966 an den Münchener Oberbürgermeister, wonach der bayerische Innenminister die Gesamtkosten nicht mit einer halben Milliarde DM, sondern mit 1 Milliarde DM bis 1,5 Milliarden DM veranschlagen würde.Richtig ist, daß eine frühzeitige und zutreffende Finanzprognose wegen des Ausmaßes, der Vielgestaltigkeit und der Besonderheiten der Olympischen Spiele sehr erschwert war. Vor allem die ausgeweiteten und die neuen Forderungen der internationalen und der nationalen Sportfachverbände machten es notwendig, Sportstätten neu- oder umzuplanen. Dieser Sachverhalt wesentlich und die Preissteigerungen außerdem verursachten die Erhöhung der Gesamtkosten.Von den im vorliegenden Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für Sport und Olympische Spiele und des mitberatenden Haushaltsausschusses bezeichneten Gegebenheiten möchte ich auf folgende Punkte besonders hinweisen:1. Die Entscheidung über die nach den Olympischen Spielen vorgesehene Errichtung eines Daches über der Osttribüne des Stadions in München ist zurückzustellen. Die eingebrachten Fundamente ermöglichen jederzeit einen solchen zusätzlichen Bau. Ob dieses Dach gebaut werden soll, wird dann später zur rechten Zeit zu entscheiden sein.2. Die Kostenentwicklung für das Zeltdach veranlaßt, die Bitte des Aufsichtsrates der Olympiabaugesellschaft zu unterstützen, die Rechnungsprüfungsbehörden des Bundes, des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München um Prüfung zu ersuchen, ob einer oder mehrere der Beteiligten ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben. Eventuelle weitere Maßnahmen sollen von dem Bericht abhängig gemachten werden, den die Bundesregierung dazu vorlegen wird.3. Die Verhandlungen der Konsorten über Trägerschaft und Folgekosten der olympiabedingten Sportanlagen in München sind noch nicht abgeschlossen. Der Bund wird seinen Anteil voraussichtlich durch einen einmalig zu zahlenden Betrag leisten. Um dem besonderen Wunsch des Haushaltsausschusses zu entprechen, eine zusätzliche Belastung künftiger Haushalte zu vermeiden, könnte — erlauben Sie mir bitte diese persönliche Anmerkung — erwogen werden, den Münzgewinn oder einen Teil davon aus der letzten Tranche der Olympiamünze zur Ablösung dieser Verpflichtungen des Bundes einzusetzen. Darüber wird aber noch zu beraten und zu entscheiden sein.4. Dem Organisationskomitee wird dringend empfohlen, die Zahl der Teilnehmer an den Jugendlagern aus Kostengründen nicht zu verringern.5. Damit alle Kosten transparent werden, sollen für provisorische Baumaßnahmen vorgesehene Summen künftig bei den olympiabedingten Veranstaltungskosten ausgegliedert und bei den Gesamtkosten und Finanzierungskosten der Olympiabaugesellschaft eingefügt werden.Meine Damen und Herren, die erhöhten olympiabedingten Einnahmen sind überwiegend auf den Gewinn der 10-DM-Silbermünze zurückzuführen. Bei 80 Millionen Stück dieser Münzen stieg der Münzgewinn auf 568 Millionen DM an. Damit wurde in erheblichem Maße der Zweck erreicht, der mit dem gemeinsamen Antrag der Fraktionen für ein Zweites Gesetz über die Ausprägung von Olympiamünzen angestrebt wurde. Der Bundesregierung und der Deutschen Bundesbank ist für diese Entscheidungen zu danken. Das Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade bleibt aufgefordert, bemüht zu sein, die olympiabedingten Einnahmen zu erhöhen.Meine Freunde unterstützen mit mir den Antrag der einbringenden Ausschüsse und bitten, den Bericht der Bundesregierung zustimmend zur Kenntnis
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Schirmerzu nehmen. Dabei gehen wir davon aus, daß der Gesamtbetrag der olympiabedingten Investitionskosten in München von 1350 Millionen DM und der Gesamtbetrag der Investitionskosten in Kiel von 95 Millionen DM wie der Gesamtbetrag der Veranstaltungkosten des Organisationskomitees von 526 Millionen DM als Endbeträge anzusehen sind. Zu Lasten der Olympia-Finanzierung dürfen keine zusätzlichen Forderungen mehr an die Bauprogramme oder an das Veranstaltungsprogramm gestellt werden. Mehrkosten, meine Damen und Herren, die auf solche zusätzlichen Anforderungen zurückgehen, sind nicht mehr vertretbar.Neben dem im Konsortialvertrag enthaltenen Anteil des Bundes von 375,5 Millionen DM werden aus den Bundesmitteln direkt oder durch damit erreichbare Einsparungen für das Organisationskomitee zusätzliche Leistungen, besonders durch die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, das Auswärtige Amt sowie durch die Verkehrs- und Postbereiche, erbracht.Ich bin erfreut darüber, daß die Bundesregierung jetzt alle früher in diesem Zusammenhang gegebenen Zusagen erfüllte. Dazu gehört auch, daß die Olympiakämpfer, Begleiter und Journalisten möglichst einfach einreisen können; dafür wird die olympische Identitätskarte genügen. Geregelt wurden auch die Protokollfragen wie Flagge und Hymne für die Teilnahme aller Mannschaften nach den Regeln des IOC.Mein Kollege Hussing hat bereits darauf hingewiesen, daß mehr als 12 000 ausländische Sportler und Zehntausende von Besuchern in unser Land kommen werden. Für sie sind viele Vorbereitungen zu treffen. Darum bemühen sich die hauptamtlichen Kräfte und die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer des Organisationskomitees, der Olympiabaugesellschaft und der Sportfachverbände. Über 4000 Journalisten werden im Fernsehen und über den Funk, in Zeitungen und Zeitschriften über das Ergebnis so konzentriert und ausführlich berichten, wie das kaum aus einem anderen Anlaß geschieht.Die Bürger in den anderen Ländern möchten die Leistungen der weltbesten Sportlerinnen und Athleten miterleben oder zumindest davon erfahren. Sie alle hoffen auf gute Leistungen, Placierungen oder auf Siege ihrer Sportler. Das ist verständlich und zu respektieren, solange solche sportlichen Erfolge nicht überbewertet werden. Dabei bleibt die Hoffnung, daß die Sportler in ihren Gemeinschaften die enge Verbindung zu den weniger talentierten oder nicht nach sportlichen Höchstleistungen strebenden Bürgern halten und festigen werden.In der Bundesrepublik haben Parlament und Regierung mehr als je zuvor miteinander die finanziellen und sportpolitischen Voraussetzungen für dieses Ereignis geschaffen. Hohe sportliche Leistungen dürfen aber nicht den wesentlichen Blick für die Aufgaben des Sports verstellen: Alle Mühen um die Ausrichtung, Organisation und Durchführung der Olympischen Spiele, aber auch unsere Förderungsmaßnahmen für den Sport sind nur gerechtfertigt, wenn es gelingt, erstens, daß sich noch mehr unserer Bürger aktiv beteiligen oder sportinteressiert und helfend wirken; zweitens, daß der Sport in unserer Gesellschaft richtig eingefügt ist; drittens, daß er mehr als bisher erzieherische Aufgaben erfüllen kann, gesundheitsfördernde Wirkungen hat und mit vielfältigem Spielangebot die Freizeit füllt. Wenn die Sportler, ihre Förderer und ihre Freunde zusammen mit uns diese Ziele anstreben, werden die Bemühungen und die Kosten auch für alle Bürger ertragreich sein.Außerdem bieten uns die Olympischen Spiele die Möglichkeit — wie die in Chur erscheinende „Neue Bündener Zeitung" es am 19. Januar, ich denke: zutreffend, beschrieb —, der Welt das Bild eines friedlichen und freiheitsliebenden Volkes zu vermitteln. Darum wollen wir uns auch aus diesem Anlaß bemühen. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses. Wer dem. Antrag des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 33 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Schulz , Dr. Wagner (Trier), Roser, Dr. Hallstein, Majonica, Blumenfeld, Dr. Lenz (Bergstraße), Dr. Böhme, Freiherr von Fircks, Geisenhofer, Frau Klee, Rommerskirchen, Schedl, Dr. Wittmann (München) und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wahl der deutschen Mitglieder in das Europäische Parlament
— Drucksache VI/3072 —
Das Wort zur Begründung hat Herr Abgeordneter Dr. Wagner .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, namens der Antragsteller den Gesetzentwurf kurz zu begründen.Der Gesetzentwurf hat das Ziel, die derzeit geltende indirekte Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments durch ein System der Direktwahl zu ersetzen. Die allgemeine und direkte Wahl des Europäischen Parlaments ist in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehen, und zwar nach einem Verfahren, das gemeinschaftlich festzulegen ist. Ihnen ist bekannt, daß Bemühungen um dieses gemeinschaftliche Verfahren einer Direktwahl seit geraumer Zeit immer wieder unternommen worden sind, daß sie bisher aber an der fehlenden Einstimmigkeit im Ministerrat stets gescheitert sind. Insbesondere die französische Regierung hat sich der Einführung dieser allgemeinen direkten Wahl widersetzt und widersetzt sich ihr bis heute.Dies hat dazu geführt, daß in einer Reihe von Ländern — man kann sagen: inzwischen in allen Ländern — der Gemeinschaft Bestrebungen im Gan-
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Dr. Wagner
ge sind, als Notlösung vorübergehend anstelle der ausbleibenden allgemeinen Direktwahl nationale Gesetze zu verabschieden, mit denen jeweils die direkte Wahl der europäischen Abgeordneten des betreffenden Landes eingeführt werden soll.Im Deutschen Bundestag ist eine solche nationale Initiative bereits im Jahre 1964 mit dem Gesetzentwurf Mommer und der Fraktion der SPD ergriffen worden. Dieser Entwurf ist im Jahre 1965 von der damaligen Mehrheit abgelehnt worden. Es konnte damals — ohne daß wir jetzt im einzelnen darüber sprechen wollen — wohl auch noch mit Recht das Argument vorgebracht werden, daß wir uns noch mitten in der Übergangszeit befänden — es lagen damals noch fünf Jahre bis zum Ende der Übergangszeit vor uns —, daß also ein gewisses weiteres Zuwarten sich noch vertreten ließe.Heute ist die Übergangszeit seit mehr als zwei Jahren abgeschlossen. Die Gemeinschaft hat sich weiterentwickelt; weitere Befugnisse sind auf sie übergegangen. Der Zustand des Fehlens einer ausreichenden parlamentarischen Kontrolle und Gestaltungsmacht in der Gemeinschaft ist immer deutlicher, und die Situation ist im Grunde immer untragbarer geworden. Es kommt hinzu, .daß eine Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie allgemein gewollt ist, ohne wirklich politische und demokratisch voll legitimierte Institutionen nicht zustande kommen wird.Unser Gesetzentwurf ist in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe entstanden, die auf Initiative und unter dem Vorsitz des Abgeordneten Dr. Klaus-Peter Schulz getagt hat. Diese Arbeitsgruppe hat zunächst mit Mitgliedern aus allen Fraktionen des Hauses gearbeitet. Es hat dann, wie Sie sich erinnern, im Oktober die Fraktion der SPD den Beschluß gefaßt, die Bestrebungen dieser Arbeitsgruppe nicht weiter zu unterstützen. Daraufhin haben die Kollegen aus der SPD-Fraktion — ich sage dies um der historischen Berichterstattung willen — ihre aktive Mitarbeit in dieser Arbeitsgruppe eingestellt, sind aber — wie auf mehrfache Anfrage erklärt wurde — in ihrer Mehrheit nicht offiziell aus der Arbeitsgruppe ausgeschieden. Die Arbeitsgruppe hat als solche weiterbestanden und hat auch als solche schließlich den hier vorliegenden Gesetzentwurf verabschiedet.Die Antragsteller haben bewußt davon abgesehen — obwohl dies leicht möglich gewesen wäre —, diesen Entwurf als den Entwurf einer Bundestagsfraktion — in diesem Falle der Fraktion der CDU/CSU — einzubringen. Sie haben vielmehr darauf gedrängt, daß dieser Entwurf als Gruppenantrag — inzwischen versehen mit der Unterschrift von 211 Abgeordneten — eingebracht wird, und dies nicht zuletzt deshalb, weil wir bis heute darauf hoffen und auch einigen Grund zu dieser Erwartung zu haben glauben, daß der Entwurf schließlich doch auch ausreichende Zustimmung aus anderen Fraktionen dieses Hauses findet.Der Entwurf ist wahlrechtstechnisch und wahlrechtssystematisch eng an das Bundeswahlgesetz angelehnt. Er ist in seinem Verfahren, so möchte ich sagen, durchaus bescheiden. Wir haben davon abgesehen, etwa einen besonderen Wahltag für die europäischen Wahlen vorzusehen. Der Entwurf sieht vor, daß die Wahlen in Verbindung mit den Bundestagswahlen stattfinden, und zwar zum erstenmal bei der Bundestagswahl 1973. Hiergegen läßt sich sicher auch das eine oder andere einwenden, insbesondere daß etwa damit die europäische Wahl politisch nicht genug hervorgehoben wird. Wir waren aber der Auffassung, daß die starke Vereinfachung — auch die Einsparung an Kosten, an Kraft und Zeitaufwand sowohl der einzelnen als auch der Parteiorganisationen — zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Argument ist, das vordringlich erscheint. Wir waren außerdem der Auffassung, daß die Kombination der europäischen Wahlen mit einer Bundestagswahl dazu führen wird, die Bundestagswahl als Ganzes stärker als bisher unter europäischen Gesichtspunkten zu führen, d. h. europäische Probleme und Gesichtspunkte in die Bundestagswahl hineinzutragen.Wir sind der Auffassung, daß dieser Gesetzentwurf, über den im einzelnen in den Ausschüssen beraten werden wird, auch zur rechten Zeit kommt. Das zum Teil vorgetragene Argument, wir müßten zunächst eine Abstimmung mit den beitrittswilligen Ländern abwarten, greift nach meiner Überzeugung nicht durch. Auch die beitretenden, die neu hinzukommenden Länder haben Anspruch darauf, zu erfahren, wie nach unserer Auffassung die Gemeinschaft politisch beschaffen sein soll, in die sie eintreten.Es gibt viele Gründe, diesen politischen Willen klarzumachen. Gerade der jetzige Zustand der Gemeinschaft, der alles andere als so rosig ist, wie es häufig dargestellt wird, gibt Anlaß dafür, daß der Deutsche Bundestag mit allem Nachdruck seinen Willen bekundet, diese Gemeinschaft politisch, d. h. nicht nur vom Sachgebiet her politisch, sondern auch von den Institutionen her politisch weiterzuentwikkeln.Solche Möglichkeiten haben wir mehrere. Eine Möglichkeit hierzu gibt der vorliegende Gesetzentwurf. Dieser Gesetzentwurf hat außerdem den großen Vorzug — und ich glaube, das sollten alle bedenken —, daß es nur an uns, nur an diesem Parlament, nur am Deutschen Bundestag liegt, diese Möglichkeit zu ergreifen.
Das Wort hat der Abgeordnete Roser.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf den Ausführungen meines Kollegen Wagner noch einige politische Gesichtspunkte hinzufügen, von denen wir meinen, daß sie gerade in der derzeitigen Situation von Belang sind.Wir alle wissen und erleben, daß seit 14 Jahren laufend Gesetzgebungskompetenzen des Deutschen Bundestages gemäß den Verträgen von Rom auf die Europäische Gemeinschaft übergehen. Die nationalen Parlamente verlieren Zug um Zug an Kompeten-
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Roserzen. Wir sind mit dieser Entwicklung gerne einverstanden, wir unterstützen diese Entwicklung, weil wir meinen, daß es die Aufgabe dieser unserer Generation ist, eine 1100jährige Entwicklung in Europa — vom Vertrag von Verdun im Jahre 843 bis 1945 — jetzt zu korrigieren und den Versuch zu unternehmen, zur wirklichen politischen Union zu kommen. Wir unterstützen diese eben angesprochene Entwicklung unter einer Voraussetzung, daß nämlich dem Kompetenzverlust der nationalen Parlamente ein Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlamentes entspricht. Der derzeitige Zustand ist für uns alle höchst unbefriedigend.Hier befinde ich mich in voller Übereinstimmung mit Ihnen, Herr Bundesaußenminister. Sie haben am 31. Januar dieses Jahres im Süddeutschen Rundfunk ein Interview gegeben, das ich mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren möchte. Damals hat der Herr Bundesaußenminister erklärt:Dann muß das Europäische Parlament natürlich mit dem Wachsen der Zuständigkeiten der anderen Organe auch zusätzlich Kontrollbefugnisse bekommen und möglicherweise direkt gewählt werden.Darauf die Frage des Journalisten:würden Sie eine solche Direktwahl nur einheitlich in allen zehn Staaten ... befürworten oder könnte man sogar getrennt national ... ?Die Antwort des Bundesaußenministers:Ja, es ist natürlich wünschenswert, wenn's gemeinsam geschieht. Aber wenn durch Verzögerungen, allzu große Verzögerungen, in einzelnen Ländern das auf unabsehbare Zeit unmöglich würde, dann würde ich mich einer Diskussion, ob wir das nicht im nationalen Rahmen isoliert beginnen können, nicht entziehen. Wichtig dabei ist allerdings — und das gebietet der Vertrag —, daß nur Mitglieder der nationalen Parlamente nach der augenblicklichen Regel Mitglied eines Europäischen Parlaments sein können. Aber das könnte man ja sehr leicht dadurch machen, daß man bei der ... nächsten Bundestagswahl z. B. eine Liste für das Europäische Parlament aufstellt, auf der nur Kandidaten sind, ... die auch für das nationale Parlament kandidieren.Soweit das Zitat. Und genau dieses, meine verehrten Damen und Herren, ist der Vorschlag derer, die heute diesen Entwurf einbringen.Wir alle, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind hinsichtlich der Organisation unseres Staates und unserer Gesellschaft Erben der Französischen Revolution, die zweierlei hervorgebracht hat: einerseits seits den Parlamentarismus auf dem europäischen Kontinent und andererseits — leider auch — den Nationalismus als die damals integrierende Klammer zwischen den unterschiedlichen Interessen und Zielen eines mündig gewordenen Bürgertums.Wir erleben gegenwärtig, wie sich diese Verbindung zwischen parlamentarischer Demokratie und nationalstaatlichem Denken löst. Diesen Prozeßwird niemand von uns bedauern. Aber ich meine, daß jeder zugleich eine Frage stellen muß, nämlich die Frage, ob dieser Prozeß eine Gefahr für die parlamentarische Demokratie ist — etwa die Gefahr der Verbindung der sozialistischen Idee mit nationalem oder gar nationalistischem Denken
— oder ob diese Trennung von Nation und Demokratie eine Chance für Europa ist.
-- Ich würde mich da nicht aufregen. Die Frage kann man doch wenigstens stellen. Es sind doch entsprechende Beobachtungen zu machen!
- Wenn Sie diesen Prozeß des Auseinandergehensvon nationalstaatlichem Bewußtsein und parlamentarisch-demokratischem Bewußtsein für eine Träumerei halten, dann weiß ich nicht, wo Sie Ihre Augen haben.
- Ich habe auf einen Aspekt hingewiesen, der möglicherweise unbequem ist. Aber gerade das Unbequeme muß man in den Blick nehmen.
Aber lassen Sie mich fortfahren! Wir meinen — und darum geht es mir —, daß dieser Prozeß, vor allem in Verbindung mit dem europäischen Engagement der jungen Generation, eine echte Chance für Europa bedeuten kann. Deswegen bitten wir alle um die Unterstützung dieses unseres Gesetzentwurfs.Ich warne im übrigen auch davor, diese Chance für Europa zu verspielen. Wenn es in dieser Generation nicht gelingt, die politische Union Europas zu schaffen, dann, fürchte ich, verspielen wir die parlamentarische Demokratie in Europa.
— Herr Kollege, wenn wir das Prinzip freier Wahlen schon nicht in ganz Deutschland jetzt durchsetzen können, sollten wir wenigstens unseren Beitrag, den uns jetzt national möglichen Beitrag, dazu leisten, zu gemeinsamen freien Wahlen der freien Völker Europas zu finden. In Westeuropa haben wir die Möglichkeit freier Wahlen; in Westeuropa müssen wir sie deshalb nutzen.
— Hören Sie doch auf mit dem Rundfunkgesetz! Wir reden doch jetzt über die europäische Direktwahl.Lassen Sie mich noch einen Gedanken anfügen: Ich meine, daß gerade die Zustimmung der Mitglieder der Fraktionen der Regierungskoalition zu unserem Vorschlag der europäischen Direktwahl eine Dokumentation ihres Willens wäre, auf eine demo-
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Roserkratisch legitimierte politische Union der freien Völker Europas nicht zu verzichten zugunsten eines nationalstaatlich parzellierten Europa im Stile des 19. Jahrhunderts, auch wenn man dafür gelegentlich den anspruchsvollen Titel „Gesamteuropa" bemüht,Wir bitten Sie deshalb um Ihre Zustimmung zu unserem Vorschlag. Wir haben ihn eingebracht, weil wir nicht die Allmacht einer europäischen Administration wollen, sondern die Vollmacht des Europäischen Parlaments anstreben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zur Sache selbst Stellung nehme, möchte ich zwei historische Richtigstellungen vornehmen, Herr Kollege Dr. Wagner.
Einmal stimmt es nicht, daß die Mehrheit 1965 den damaligen Gesetzentwurf mit dem Argument abgelehnt hat, die Übergangszeit dauere ja noch einige Jahre. Wenn Sie einmal in der 185. Sitzung des 4. Bundestages die Rede von Herrn Professor Furler nachlesen, dann werden Sie feststellen, daß er damals fünf Gründe vorgebracht hat. Es sind alles politische, rechtliche Gründe. Man muß leider sagen: Diese Gründe haben auch durch den Zeitablauf nichts an Bedeutung verloren.
Zweitens ist es falsch, Herr Kollege Wagner, wenn Sie sagen, wir Sozialdemokraten hätten unsere Mitglieder aus dieser Arbeitsgruppe herausgezogen. Man kann sich darüber unterhalten, welchen Charakter diese Arbeitsgruppe denn eigentlich hatte. Auf jeden Fall hatte sie keinen offiziellen Status. Unsere Mitglieder sind aus dieser Arbeitsgruppe herausgegangen, als für sie deutlich wurde, was dabei herauskommen würde, daß nämlich dieser Text — das werde ich zu begründen haben — keinerlei Lösung für das allgemein anerkannte Problem bringt.
Herr Abgeordneter Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wagner?
Herr Kollege Apel, räumen Sie ein, daß ich ohne jeden polemischen Beigeschmack und ohne Wertung, rein referierend hier vorgetragen habe, daß in dieser Arbeitsgruppe zunächst Abgeordnete aus allen Fraktionen und nach dem Beschluß der sozialdemokratischen Fraktion vom 12. Oktober die sozialdemokratischen Mitglieder nicht mehr mitgewirkt haben?
Ich räume nur ein, daß uns diese Mitglieder in unserer Fraktion berichtet haben, wohin die Arbeit in dieser Arbeitsgruppe läuft, daß nämlich nichts Vernünftiges dabei herauskommt, und daß dann unsere Fraktion — —
— Natürlich, aus meiner Sicht, Herr Blumenfeld! Ich würde auch nie versuchen, Ihre Sicht zu vertreten. Das wäre ja schrecklich für mich, wenn ich das müßte.
— Genau!
Wir haben dann unsere eigene Stellungnahme zu dem Problem abgegeben; sie ist nach unserer Meinung flächendeckend.Aber jetzt zur Sache selbst! Sie und wir alle wissen, daß Sozialdemokraten gemäß ihrer politischen Tradition stets mit ganzer Kraft für die Parlamentarisierung auf allen Ebenen gekämpft haben. Schon Eduard Bernstein hat 1904 darauf aufmerksam gemacht, daß der Parlamentarismus für die SPD die Plattform ist, auf der für soziale Inhalte gekämpft werden muß. Es geht ja in der europäischen Integration immer mehr um die Auseinandersetzung über soziale Inhalte und nicht nur um die Frage der Institutionen.Insofern haben wir Koalitionsfraktionen mit unserem Entschließungsantrag in der letzten Woche, nämlich am 24. Februar, in diesem Hause mit allem Nachdruck unterstützt und unterstrichen, daß wir davon ausgehen, daß die nächste Gipfelkonferenz einen erheblichen Ausbau der bisher unzulänglichen Rechte des Europäischen Parlaments bringen muß.Nur, lieber Herr Kollege Roser, es ist doch ein großer Irrglaube, zu meinen, die Direktwahl des Europäischen Parlaments würde die Frage des Mehrs an Befugnissen für das Europäische Parlament automatisch lösen. Wir sind doch nicht in einer politischen Landschaft, wo allein die Tatsache des Direktgewähltseins
diejenigen, die Macht ausüben, genügend beeindruckt, um eine Abgabe von Befugnisse herbeizuführen. Dennoch bin ich mit Ihnen der Meinung: Wir müssen für diese Direktwahl kämpfen.Aber nun zu Ihrem Vorschlag. Er hat doch folgende zentralen Nachteile. Solch einer europäischen Direktwahl soll doch auch ein hoher Symbolwert zukommen, der nicht zuletzt darin Ausdruck findet, daß wir einen europäischen Wahltag haben. Das Anhängen an eine nationale Wahl degeneriert diese europäische Wahl, unabhängig von dem Inhalt der Wahl, die Sie vorschlagen.
Wie sieht das eigentlich nach Ihrem Vorschlag aus? Es wird Landeslisten der zu wählenden europäischen Parlamentarier geben, und daneben gibt es Bundestagswahlkreis- und Landeslistenkandidaten. Sie selber sagen, dies müßten dieselben Personen sein, man könne nicht für das Europäische Parlament kandidieren, für den Bundestag aber nicht. Nun frage ich Sie: Was passiert eigentlich, wenn jemand zwar
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Dr. Apelein europäisches Mandat, aber kein Bundestagsmandat erringt?
— Gut, dann ist er nicht gewählt; so ist es doch. Ich bitte Sie: Wie wollen Sie das eigentlich als Wahlakt erklären und den Wählern als vernünftige Prozedur darstellen, daß jemand, der als Europaparlamentarier gewählt ist, dennoch nicht ins Europäische Parlament kann, weil er nicht national gewählt worden ist?
— Was heißt „rein akademisch"? So steht es in Ihrem Entwurf? Ich muß Ihnen sagen, dies ist keine Wahl, sondern ein Scheinakt, den Sie hier vorschlagen.
— Dieses sind keine hypothetischen Fragen, sondern durchaus praktische Fragen.
Dann möchte ich Sie weiterhin folgendes fragen, Herr Wagner. Sie kennen den EWG-Vertrag genauso gut wie ich. Sie haben im EWG-Vertrag auch gelesen, daß trotz dieses Wahlaktes, den Sie vorschlagen, hier in diesem Hause auch noch ein Bestätigungsakt stattfinden muß. Das heißt: der Gewählte muß hier noch einmal gewählt werden. Ich frage Sie: Wie wollen Sie das eigentlich gegenüber den Wählern erklären, und wie wollen Sie diesen angeblichen politischen Wahlakt überhaupt als „Chance für Europa" deklarieren?
So haben Sie es, Herr Roser, genannt.
Dieses ist keine Chance für Europa, sondern dies ist das Vertun einer Chance.
Wir haben in dem von mir bereits zitierten Entschließungsantrag vom 24. Februar 1972 mit allem Nachdruck unterstrichen, daß wir diese Direktwahl wollen, daß wir aber mit den Beitrittswilligen, die in diesen Wochen und Monaten in Brüssel konstruktiv ihren Platz einnehmen und mitarbeiten werden, diese Fragen erörtern wollen, um zu einer echten europäischen Wahl ,zu kommen.Nun sagen Sie, Herr Wagner, die müssen vorher wissen, wohin der Hase läuft, indem wir hier national diesen Scheinwahlakt durchführen. Ich halte das für sehr bedenklich.
— Wie sie die Gemeinschaften sehen, haben die Koalitionsfraktionen dadurch erklärt, daß sie ein eindeutiges Bekenntnis zur Direktwahl des Europäischen Parlaments abgegeben haben. Sie haben diesauch durch die Aufforderung zum Ausdruck gebracht, 1973 die betreffenden Fragen mit den Beitretenden so zu klären, daß es zu Wahlen kommen kann.
Ich frage Sie, Herr Wagner: Sehen Sie nicht auf Grund Ihres Gruppenantrags die große Gefahr, daß das hohe Ziel der Direktwahl des Europäischen Parlaments zwischen den Mahlsteinen unkoordinierter nationaler Aktionen zerrieben wird, daß sich die Verfechter der europäischen Direktrwahl—dazu gehört die sozialdemokratische Bundestagsfraktion aus vollem Herzen — unnötiger Kritik aussetzen? Ich habe auf die Problematik hingewiesen, die sich daraus ergibt, daß jemand zwar auf Ihrer Liste, aber nicht in den Bundestag gewählt ist. Ist .es eigentlich klug, den wachsenden Druck nach mehr Befugnissen und nach direkter Wahl des Europäischen Parlaments scheinbar wegzunehmen durch einen Scheinwahlakt?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön!
Herr Kollege Apel, was hat sich eigentlich gegenüber der vor sechs Jahren vertretenen Auffassung Ihres damaligen Fraktionskollegen Dr. Mommer geändert, dies sei das eindrucksvollste Bekenntnis zu Europa und zu dem Grundsatz der allgemeinen und direkten Wahlen und zur Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaften, das man sich überhaupt denken könne? Dieser Vorschlag lief doch auf das hinaus, was wir jetzt erneut eingebracht haben. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß wir unsere Meinung geändert haben, Sie aber nun bei Ihrem Ja bleiben sollten?
Herr Kollege Roser, ich könnte natürlich jetzt zurückfragen und Zitate aus dem mir vorliegenden Protokoll des Bundestages und des Redners der CDU/CSU vortragen, der die Ablehnung des damaligen Mommer-Vorschlags begründet hat, und Sie fragen, wieso Sie Ihre Meinung geändert haben. Für uns ist der entscheidende Punkt der — das will ich Ihnen sehr deutlich sagen —, daß wir in dieser Phase des Beitritts neuer Mitglieder zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft diesen nicht vorab durch einen Scheinwahlakt Schwierigkeiten der Mitwirkung bei der Ausgestaltung der Direktwahl des Europäischen Parlaments bereiten wollen. Dies ist das Entscheidende.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließen. Zweieinhalb Jahre Europapolitik der sozialliberalen Koalition haben unübersehbare Fortschritte gebracht. Um so dringlicher wird es für die Sozialdemokraten, die Direktwahl und den Ausbau der Befugnisse des Europäischen Parlaments zu fordern. Wir haben unsere Meinung dazu in Absprache mit den sozialdemokratischen Parteien der
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Dr. ApelEWG am 30. Juni 1971 auf unserem Kongreß in Brüssel festgelegt. Dies bleibt die Marschroute unserer Bundestagsfraktion.
Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier liegt dem Parlament ein Entwurf vor, der sich dadurch auszeichnet, daß man ihn, wenn man ihn zunächst liest, als einen Entwurf ansieht, über den es doch eigentlich kaum Differenzen geben sollte. Wenn man den Dingen aber gründlicher nachgeht, so wird man doch eine Reihe von Bedenken zu erheben haben, die Anlaß zu einer sehr eingehenden Überlegung und Erörterung sind. Sicherlich halten wir alle es für notwendig und für wünschenswert, daß eine Direktwahl zum Europäischen Parlament stattfindet. Aber es könnte über den geeigneten Zeitpunkt, zu dem dies möglich sein sollte, eine Aussprache geben. Wir sollten bei der Effektuierung unseres gemeinsamen Wollens, Europa zu schaffen, Europa demokratisch zu schaffen, nicht versuchen, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen.
Zum Formalen: Es ist zuzugeben, daß in diesen Anträgen die Bestimmungen der Römischen Verträge gewahrt sind. Sie werden mir als Berliner gestatten, meiner Befriedigung darüber Ausdruck zu geben, daß man auch der Sondersituation, in der sich dieser freie Teil der deutschen, der europäischen Stadt Berlin befindet, Rechnung getragen hat.
Aber die Frage, die Herr Kollege Roser aufgeworfen hat und die er positiv beantwortet hat, steht im Raum: Was ist wichtiger, die Kompetenz des Europäischen Parlaments oder die Art seines Zustandekommens?
Man könnte durchaus der Meinung sein — ich möchte diese Meinung nicht unbedingt als die meinige vortragen —, daß die Bedeutung der Direktwahl des Parlaments herabgemindert werden könnte, wenn dieses Parlament keine Kompetenzen hat.
Der Schlußfolgerung von Herrn Kollegen Roser, der meinte, daß durch die Wahl die Kompetenz gestärkt würde, vermag ich allerdings nicht zuzustimmen.
Wenn der Herr Kollege Roser meint, daß, weil die Zeit so dränge, dies heute und jetzt beschlossen werden müsse, so glaube ich doch daran erinnern zu sollen, daß große Worte zwar rhetorisch wirksam sein mögen, aber die Wirksamkeit der Argumente durchaus nicht erhöhen.
Wir werden uns immer wieder zu fragen haben: was hat den Vorrang, die Kompetenz oder die Direktwahl? Niemand von Ihnen wird bestreiten wolten, daß beides notwendig ist. Das werden wir zu prüfen haben. Wir Freien Demokraten lehnen das ja nicht ab, zum mindesten nicht vom Grunde her.
— Herr Kollege Blumenfeld, wenn Sie etwas zu fragen haben, dann begeben Sie sich doch bitte nach hier vorn. Mit Rede und Gegenrede werden wir nicht weiterkommen. Ich würde bitten, die Argumente bis zum Ende anzuhören. — Wir werden den Einwand, daß man die Kompetenz zum mindesten so hoch wie das Zustandekommen zu bewerten habe, eingehend zu prüfen haben. Diese eingehende Prüfung in den zuständigen Ausschüssen möchte ich eben hier ankündigen. Wir werden auch die Frage zu prüfen haben, ob die Argumente, die seinerzeit von Ihrem Kollegen Furler gegen den damaligen Entwurf der SPD vorgebracht worden sind, heute noch Gültigkeit haben oder nicht. Wir werden ferner zu prüfen haben, ob nicht der Einwand, den Kollege Apel eben gemacht hat — der es für wünschenswert hält, einen Europa-Wahltag zu machen —, dem Bewußtsein der Wähler mehr dient, daß sie nämlich für Europa zu wählen haben — denn nicht jeder ist politisch so versiert, daß er das auseinanderhalten könnte —, während die Europa-Wahl, auf die Sie ja gerade so großen Wert legen, möglicherweise hinter die für den einzelnen vordergründig wichtigere Wahl zu unserem Parlament zurückträte.
Wir werden auch das Timing zu überprüfen haben; wir sprechen im Deutschen jetzt ja manchmal so ausländisch. Wir werden den Zeitpunkt zu prüfen haben, in dem dieser von uns allen gewünschte Termin der Direktwahl eintreten soll, ob er zweckmäßig ist für unser aller Wunsch. Wir haben nicht die Absicht, diese für die europäische Zukunft so wichtige Frage im Galopp zu erledigen. Wir werden nicht mit einer heißen Nadel nähen. Wir prüfen alle Argumente. Daß Sie gegen Ihren Entwurf Einwände zu erwarten haben, hat bereits der Kollege Apel gesagt, Einwände, nicht um der Sache zu schaden, sondern um ihr zu nützen.
Meine Fraktion stimmt der beantragten Überweisung an den Rechtsausschuß, an den Innenausschuß und an den Auswärtigen Ausschuß zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Hallstein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit einem Blick auf die Uhr beschränke ich mich auf wenige kurze Berner-k ungen.Meine ersten Sätze gelten einer Erwiderung auf einige Ausführungen, die Herr Kollege Apel gemacht hat. Er vertrat zunächst die These, daß es richtiger sei, das Europäische Parlament mit mehr Kompetenzen auszustatten, bevor man darangehe, etwas zu tun, was für ein System von Direktwahlen förderlich sei. Nun, wir stimmen darin überein — ich hoffe es —, daß beides notwendig ist. Was den Vorrang verdient, wird davon abhängen, welches Kriterium man gelten läßt. Das Kriterium, das wir haben gelten lassen, ist, daß man Direktwahlen haben kann auch angesichts fehlender Einstimmigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Der Be-
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Dr. Hallsteinweis dafür ist unser Entwurf; so glauben wir. Hier können wir etwas tun, was zwar nicht die volle Wirkung einer gemeinschaftlichen Direktwahl hat. Infolgedessen unterscheidet sich unser Entwurf notwendigerweise von dem Entwurf des Europäischen Parlaments, der hier erwähnt worden ist. Aber wir können etwas tun.Das, was wir tun können — eine zweite Bemerkung von Ihnen bestritt dies —, bietet in der Tat, wie wir glauben, eine Chance für Europa. Der wesentliche Grund dafür, daß wir uns für diesen Entwurf entschlossen haben, liegt darin, daß wir überzeugt sind, daß durch die Verwirklichung unseres Systems ein demokratisches Defizit abgebaut wird, das darin besteht, daß der europäische Bürger keinen direkten Zugang zum Entscheidungsprozeß der Europäischen Gemeinschaften hat.
Wir wollen die Mediatisierung beseitigen — —
— Ich bitte zu Ende sprechen zu dürfen. Ich habe nun wirklich auf sehr vieles verzichtet, was ich hätte sagen wollen, und möchte das in Konzentration vortragen, was mir angesichts der knappen Zeit noch übriggeblieben ist.Um es kurz zu machen: Was uns an dieser Direktwahl auf Grund eines nationalen Gesetzes anziehend erscheint, ist die Tatsache, daß es nunmehr zu einem Wahlkampf über europäische Themen kommen muß; denn die Kandidaten für diese europäische Direktwahl müssen sich in bezug auf europäische Themen profilieren, und es wird nicht — wie es jetzt ist — vom reinen Zufall abhängen, ob im nationalen Wahlkampf das europäische Argument eine Rolle spielt oder nicht.Ein weiterer Einwand war gegen das Zusammenlegen mit der Bundestagswahl erhoben worden. Der Grund, warum wir die Zusammenlegung vorschlagen, ist sehr einfach: sie ist praktisch. Schon gibt es Wahlen genug, um nicht zu sagen, Wahlen zuviel für den Bürger. Jeder, der eine neue Wahl hinzufügt, stößt hier natürlich auf eine gewisse Müdigkeit der Wählerschaft. Dazu kommen die Kosten, die ein solcher Wahlkampf verursacht. Man sollte also jene beiden Wahlen verbinden. Im übrigen, glaube ich, wird es auch dem nationalen Wahlkampf gut tun, wenn sich parallel zu ihm ein europäischer Wahlkampf abspielt.
Wir wissen also, daß das, was hier vorschlagen, kein vollwertiger Ersatz für die Lösung ist, die der Art. 138 Abs. 3 vorsieht. Diese Lösung können wir auf nationaler Ebene nicht verwirklichen. Aber was wir können, ist, im Rahmen des Art. 138 Abs. 1, der das Verfahren für die Auswahl der Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten in das Europäische Parlament regelt, die Chance dieses Entwurfs zu nutzen, um zu einem demokratischen Fortschritt zu kommen.Eine weitere Bemerkung, die ich machen will, ist eine gewisse Ergänzung zu den Mitteilungen über die Lage in den anderen Ländern. Wir haben den Eindruck, daß wir uns beeilen müssen, wenn wir uns in dieser Frage nicht isolieren wollen. Wir sind nämlich durchaus nicht die Vorreiter. Meine Herren Kollegen haben schon angedeutet, in welchen Mitgliedstaaten und mit welchem bisherigen Ergebnis Bemühungen im Gange sind, die zu den unsrigen parallel verlaufen. Ich möchte dem aber noch eine Anmerkung in bezug auf die Neumitglieder der Gemeinschaft hinzufügen. Es ist interessant, wie positiv und aktiv besonders in Großbritannien der Gedanke nationaler Direktwahlen aufgegriffen worden ist.
Es ist dem Hohen Hause wahrscheinlich bekannt, daß in beiden Parteien des englischen Unterhauses mit großer Entschlossenheit an Entwürfen für eine nationale Direktwahl etwa unseres Stils — die Übereinstimmung in den Details ist auffällig — gearbeitet wird.Vielleicht dient es der Unterrichtung des Hauses, wenn ich aus einem Interview — ich bitte dazu um das Einverständnis der Frau Präsidentin — auszugsweise verlese, was der Hauptinitiator dieses Gedankens in der Labour-Partei, der angesehene frühere Außenminister Michael Stewart, gegenüber einer deutschen Zeitung zu diesem Thema gesagt hat. Ich zitiere:Gerade weil der Europaabgeordnete direkt gewählt wird, wird der Bürger sich auch naturgemäß an ihn wenden, wenn er meint, daß seine Interessen ... beeinträchtigt werden. Außerdem wird der Europaabgeordnete sich mehr mit seinem Distrikt befassen können, wenn er ein gesondertes europäisches Mandat erhalten hat ... Damit hat er auch eine größere Chance, bekannt zu werden, was für seine weitere politische Karriere von großer Bedeutung ist. Das Europäische Parlament wird darum auch für die Zukunft von Politikern sehr wichtig und kann — wie das nationale Parlament — eine Quelle für die Zusammensetzung künftiger Regierungen sein.Ich mache diese Mitteilung deshalb, weil wir wissen, daß es in einer Fraktion dieses Hauses ein Grund für Zögerungen gewesen ist, auf unsere Linie, die Linie der interfraktionellen Gruppe, einzugehen, daß man es für unfair gehalten hatte, in dem gegenwärtigen Stadium der Beitrittsprozedur den neuen Mitgliedern vorzugreifen. Eine Antwort darauf gibt Herr Michael Stewart mit den zitierten Worten.Und nun nur noch einige Schlußbemerkungen allgemeiner Art. Meine Damen und Herren, unser Antrag, das wissen wir, fügt sich in eine lange und breite Strömung von Bemühungen gleicher Art ein; denn — wir haben es ja im Detail gehört — diese Frage wird seit so vielen Jahren und auch in einem so weiten Raum diskutiert, daß heute niemand mehr den Ehrgeiz haben kann, sich hier durch Originalität hervorzutun. Deshalb haben auch wir vielen zu danken, die uns durch Denkarbeit und durch politische Entschlossenheit in dieser Sache ent-
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Dr. Hallsteinscheidend vorgearbeitet haben. Deshalb möchte auch ich ein Wort des Dankes an das frühere Mitglied dieses Hohen Hauses, Herrn Dr. Karl Mommer, sagen, von dessen Initiative wir viel Anregung empfangen haben.Unsere Initiative ist in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe entstanden, die wir der Anregung unseres Kollegen Klaus-Peter Schulz verdanken. Dort haben in gründlichem Bemühen Kollegen aller drei Fraktionen zusammengearbeitet. Diesen überfraktionellen Charakter unserer Aktion haben wir bewähren wollen. Deshalb haben wir — Herr Dr. Wagner hat es bereits gesagt — unserem Vorschlag den Charakter einer Gruppeninitiative gegeben, obwohl z. B. meine Fraktion dazu die Zustimmung gegeben hat. Wir wissen natürlich sehr wohl, daß die Unterzeichner nicht ausreichen, wir wissen auch, daß eine einzelne Fraktion dieses Hauses nicht ausreicht, um diesem Vorschlag Gesetzeskraft zu verleihen. Wir kennen also das Risiko, das wir laufen, das Risiko, daß wir mit dieser Initiative scheitern. Dieses Scheitern würde uns nicht gleichgültig sein. Ich möchte ein solches Mißverständnis nicht entstehen lassen, obwohl ich sagen muß, daß niemand, der etwa ein Scheitern bewirkte, einen Grund hätte, darauf besonders stolz zu sein.Ich möchte also den Appell an dieses Hohe Haus richten, in dieser Frage wieder eine Basis für gemeinsame europapolitische Arbeit zu finden.
Diese gemeinsame europapolitische Arbeit aller Fraktionen hat uns allen, uns als Europäer und uns als Deutschen, bei der Bewirkung europäischer Integrationserfolge sehr wohlgetan, und ich meine, es wäre eine gute Sache, wenn wir auf diesem Felde wieder zusammenfinden könnten.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Scheel.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Roser hat soeben aus einem Rundfunkinterview zitiert, das ich vor einiger Zeit gegeben habe und in dem ich mich zu dem Problem geäußert habe. Natürlich wissen Sie, daß ich ein sehr eigenes Interesse an diesen Fragen nehme. Als alter europäischer Parlamentarier habe ich die gleiche Absicht, nämlich möglichst schnell dafür zu sorgen, daß es zu einem besseren Verfahren kommt, was die Benennung oder die Wahl von Parlamentariern zum Europäischen Parlament angeht. Uns allen ist es natürlich unangenehm, wenn wir uns heute die Presse ansehen und feststellen müssen, daß die Europa-Politik von den ersten Seiten, d. h. von den politischen Seiten der Presse weitgehend verschwunden ist und in die dritte und vierte Kategorie hineingeraten ist, weil ihre Behandlung sehr technisch geworden ist und weil — so hat es den Anschein — nur noch Techniker über europäische Fragen beraten, allenfalls nationale Minister, die gezwungen sind, dort im Ministerrat über technische Dinge zu sprechen, sich dann mit den dort am Platz befindlichen Sachverständigen und sachverständigen Journalisten zu unterhalten, die dann ungewöhnlich kluge und für die Fachleute informative Berichte geben, die nur einen Mangel haben, nämlich nicht die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit zu erregen.Keiner von uns wird leugnen, daß eine der Ursachen für diesen Mangel in der Demonstration der europäischen Politik das Wahlverfahren und die Rolle des Europäischen Parlaments ist. Denn es ist nun einmal so, daß sich die Öffentlichkeit für politische Fragen dann interessiert, wenn diese Fragen von Parlamentariern, die Verantwortung tragen, auch öffentlich verteidigt werden. Darüber gibt es keinen Zweifel. Deswegen kann man, glaube ich, feststellen: Von links bis rechts in diesem Deutschen Bundestag wird jeder Parlamentarier dafür eintreten, daß die direkte Wahl der europäischen Parlamentarier möglichst schnell verwirklicht werden kann. Aber das ist nun leider noch nicht so. Wir müssen die Parlamentarier in Europa nach wie vor nach dem Verfahren des Art. 138 Abs. 1 hier im Deutschen Bundestag bestellen. Ich habe in dem erwähnten Interview gesagt: Ich werde mich einer Diskussion nicht entziehen, die sich mit diesem Tatbestand befaßt, nämlich mit den Schwierigkeiten, vor die wir uns jetzt gestellt sehen, und den Möglichkeiten, vielleicht aus ihnen herauszukommen.Nun ist die Diskussion in der Tat früher in Gang gekommen, als ich geglaubt habe. Wenn man berücksichtigt, welche Möglichkeiten im Rat in der augenblicklichen Situation gegeben sind, ist sie sehr früh in Gang gekommen. Aber wir können ja schon einmal ein paar Gesichtspunkte hier erörtern.Gesichtspunkt Nummer eins: Wir richten uns bis jetzt nach Art. 138 Abs. 1. Der Vorschlag des Europäischen Parlaments, an dessen Erarbeitung ich persönlich 1960 zusammen mit anderen Kollegen mitgewirkt habe, hat bisher im Rat, der ihn einstimmig verabschieden müßte, keine Mehrheit gefunden. Das ist eigentlich ein ungewöhnlich vornehmer Ausdruck für das, was bisher mit ihm im Rat geschehen ist, denn im Rat ist gar nichts mit ihm geschehen. Und das nicht etwa, weil sich die Bundesrepublik Deutschland gesträubt hätte, über die Direktwahl von europäischen Parlamentariern zu diskutieren, sondern weil es einige Mitglieder oder zumindest ein Mitglied der EWG gibt, das der Frage der Direktwahl sehr reserviert gegenübersteht. Wir müssen das erkennen. Aber wir brauchen die Einstimmigkeit in dieser Frage. Wir kommen nicht weiter.Die Bundesrepublik hat zu allen Zeiten, bis in die jüngsten Wochen hinein, Initiativen entwickelt. Ja, wir haben 1969 sogar geglaubt, wir würden vielleicht den Widerstand unserer Partnerstaaten überwinden können, wenn wir vermittelnde Vorschläge machten, wenn wir vorschlügen, die Hälfte der europäischen Abgeordneten direkt zu wählen und die andere Hälfte weiter hier zu benennen, ein Vorschlag, der auch für die Zukunft geprüft werden sollte, weil er sicherlich sehr viel für sich hat. Dadurch würden nämlich die lebendigen Bindungen von Abgeordneten zu den Wählern auf der einen Seite,
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Bundesminister Scheelaber auch die notwendigen Beziehungen europäischer Abgeordneter zu diesem Parlament, zum Deutschen Bundestag, miteinander verbunden. Aber das alles hat zu nichts geführt. Es hat auch zu nichts geführt, daß die Gipfelkonferenz in Den Haag in Ziffer 5 des Kommuniqués den Ministerrat beauftragt hat, weiter über die Direktwahl der Parlamentarier zu diskutieren, nicht weil die Bundesregierung das nicht gewollt hätte, sondern wir haben wieder einmal Initiativen eingebracht, aber mit dem gleichen Ergebnis: wir rennen gegen eine Gummiwand.Nun ist, glaube ich, in der Diskussion heute schon klargeworden, daß die Meinungen in diesem Parlament gar nicht so weit auseinandergehen, denn wie wir gehört haben — ich habe mir das noch einmal angesehen —, ist 1964 ein ähnlicher Antrag hier eingebracht worden, und zwar von der SPD-Fraktion. Heute ist er von einer Gruppe von Parlamentariern aufgegriffen worden, die, glaube ich, von der gesamten CDU/CSU-Fraktion unterstützt werden. Im Kern haben diese beiden Vorschläge vieles gemeinsam.
— Ja, vorhin ist die Frage gestellt worden, worin sie sich unterscheiden. Darüber kann man philosophieren, worin sie sich unterscheiden.
Aber eines ist sicher: es gibt gegen diese beiden Anträge auch sachliche Argumente. Herr Apel hat eben auf die damaligen Ausführungen von Herrn Furler hingewiesen. Sie haben recht, Herr Furler hat sehr zurückhaltend, im Grunde zustimmend, aber in der Sache kritisch zu diesem Antrag Stellung genommen, jedoch mit politischen Motiven. Sie haben einige genannt. Er hat fünf Kriterien aufgestellt, die in der Tat auch heute noch gelten. Man muß deshalb diese Frage diskutieren.
— Das ist eine Frage der Diskussion.
Die Bundesregierung wird sich an dieser Diskussion in den Ausschüssen beteiligen. Sie wird darauf zu achten haben, daß im augenblicklichen Zeitpunkt ein Vorschlag, wie er jetzt in die Debatte kommt, mit Art. 138 Abs. 1 in voller Übereinstimmung sein muß. Sonst hat er keinen Wert, weil er nicht verwirklicht werden kann. Wir müssen andere, sicherlich verfassungsrechtliche und Wahlrechtsfragen dabei beachten. Meine Kollegen werden sich schon darum kümmern. Aber wir werden in den Ausschüssen darüber sprechen müssen, und wir werden an dieser Beratung teilnehmen.Ich verspreche mir von einem solchen Vorschlag und der Art der Diskussion darüber für meine eigenen Absichten und Aufgaben in allererster Linie eine Wirkung auf das Verhalten der übrigen Mitgliedstaaten und der beitretenden Staaten in dieser Frage.
Mit anderen Worten: wir werden alles daran setzen,in der Zukunft wie bisher Anregungen zu geben undauf die Mitgliedstaaten in der EWG zu drücken, daß wir in dieser Frage weiterkommen wollen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dazu ist uns alles Recht, was wir als Grundlage für unsere Position verwenden können.
Bitte sehr, Herr Kollege Dr. Wagner!
Herr Bundesminster des Auswärtigen, Sie haben erklärt, daß die Bundesregierung in den zuständigen Ausschüssen an dieser Beratung teilnehmen wird, was wir begrüßen. Ich möchte deshalb die Frage stellen, ob die Antragsteller damit rechnen können, daß die Bundesregierung in den Ausschußberatungen — in enem bestimmten Stadium jedenfalls — auch eindeutig zum Ausdruck bringen wird, ob sie für oder gegen diesen Gesetzentwurf eintritt.
Herr Kollege Wagner, die Bundesregierung — ich habe das hier gesagt, und ich bin in dieser Frage auch aus einem Interview zitiert worden — wird sich der Diskussion über diesen Antrag nicht entziehen, sie wird daran mitwirken. Wir werden nachher in den Ausschüssen sehen, welche Gedanken weiterverfolgt werden, welche möglicherweise geändert werden müssen.
Wir sind jetzt davon unterrichtet, daß der Vorschlag in die Ausschüsse überwiesen wird. Ich wiederhole noch einmal: wenn Aktivitäten dieser Art, die man zweifellos mit einer gewissen Skepsis bedenken kann, die Wirkung hätten, daß sich mehrere Regierungen innerhalb der EG für die Idee der direkten Wahl der Abgeordneten für das Europäische Parlament aufgeschlossen zeigten, wäre damit zweifellos ein Zweck erreicht, den wir gemeinsam erreichen wollen. Vielleicht wird in der Situation, in der wir uns im Augenblick befinden, die Gipfelkonferenz, die im Herbst dieses Jahres stattfinden wird, uns einen neuen Zielpunkt setzen können. Ich hoffe sehr, daß die Regierungschefs im Herbst dieses Jahres auch für die Wahl des Europäischen Parlamentes neue Impulse geben werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung — federführend — an den Innenausschuß, — mitberatend — an den Rechtsausschuß und den Auswärtigen Ausschuß vor. Wer damit einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. -- Es ist so beschlossen.Bevor wir weitergehen, eine Mitteilung: Wir werden nicht damit rechnen können, daß die Ausschüsse pünktlich anfangen können. Die Ausschüsse werden auf eine Viertelstunde nach Ende des Plenums berufen.
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Vizepräsident Frau FunckeIch rufe nunmehr Punkt 1 der Tagesordnung, dieFragestunde— Drucksachen VI/3196, VI/3207 —auf.Es liegen Dringliche Mündliche Fragen zu den Geschäftsbereichen des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen vor. Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär Gscheidle.Ich rufe die Frage Nr. 1, die Dringliche Mündliche Frage des Herrn Abg. Dr. Dollinger, auf:Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß der Beschluß des Postverwaltungsrats vom 28. Februar 1972 — angesichts der durch ihn hervorgerufenen Unruhe in der Bevölkerung — verantwortet werden kann?Bitte sehr, Herr Staatssekretär!
Herr Abgeordneter Dollinger, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Beschlüsse des Postverwaltungsrats vom 28. Februar angesichts der Wirtschafts- und Finanzlage der Deutschen Bundespost verantwortet werden können. Die Gründe für die Gebührenerhöhung wurden nicht nur in Fragestunden dieses Hohen Hauses wiederholt dargestellt, sondern auch bei Erörterungen in der Öffentlichkeit und in der Diskussion mit Wirtschaftsverbänden und Interessenten ausführlich erläutert.
Steigende Personal- und Sachausgaben sowie die Notwendigkeit einer angemessenen Selbstfinanzierung der Investitionsausgaben angesichts der Nachfrageexplosion nach Fernsprechhauptanschlüssen waren mit die Gründe dafür. Es wäre sicherlich — um auf Ihren letzten Satz einzugehen — zuviel verlangt, wie Sie aus eigener Erfahrung wissen, bei Gebührenerhöhungen Popularität zu erwarten. Aus den zahlreichen Zuschriften, die uns in den letzten Wochen zur Frage der Gebührenerhöhung zugegangen sind sowie aus Veröffentlichungen in der fachkundigen Wirtschaftspresse ist aber zu schließen, daß die Maßnahmen der Deutschen Bundespost in der Öffentlichkeit auf ein wachsendes Verständnis stoßen und
eine von Emotionen freiere und objektivere Betrachtungsweise der Post- und Fernmeldegebühren als Preise für Dienstleistungen Platz greift, deren Höhe nicht im Belieben der Postverwaltung oder der Bundesregierung steht, sondern im wesentlichen von Marktgegebenheiten abhängt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dollinger.
Herr Staatssekretär, wie betrachten Sie dann die Zusammenfassung der Pressestimmen im Pressespiegel der Bundesregierung vom 29. Februar? Die Kommentare sprechen fast einhellig von einem Faß ohne Boden.
Mit dieser Kommentierung, Herr Abgeordneter Dollinger, wird ja nicht nur die Kritik an dieser Gebührenerhöhungsmaßnahme angesetzt, sondern es ist eine Kritik, die sich auf das Unternehmen Bundespost als öffentliches Unternehmen in dier Zeitbetrachtung von mehreren Jahren — ich vermute: von 20 Jahren — bezieht.
Zu einer zweiten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Dollinger.
Herr Staatssekretär, Gscheidle, versichern Sie mit dieser Antwort, daß mit dieser Gebührenerhöhung für die Zeit der mittelfristigen Finanzplanung, das heißt also bis einschließlich 1974, Gebührenerhöhungen nicht mehr notwendig sein werden?
Ich hoffe mit Ihnen, Herr Abegeordneter, daß man das erwarten kann. Ob das so sein wird, ist davon abhängig, ob die Daten, die wir einer solchen Prognose unterstellen, eingehalten werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Weigl.
Herr Staatssekretär, befürchten Sie nicht mit uns, daß die Unruhe in der Bevölkerung nicht zuletzt davon ausgeht, daß nach der nun zweiten Gebührenerhöhung diese Erhöhungen zu einer Automatik werden und am Ende gar noch in einem wesentlich kürzeren Zeitabstand als von jetzt neun Monaten aufeinanderfolgen könnten?
Ich weiß, daß solche Befürchtungen vorhanden sind, Herr Abgeordneter, aber ich halte sie nicht für fundiert. Wenn man die Entwicklung der Deutschen Bundespost in den letzten 20 Jahren sieht, erkennt man unschwer, wo Versäumnisse eingetreten sind. Es ist natürlich im Augenblick bei einer Häufung von Gebührenerhöhungsmaßnahmen dieser Art ein solcher Eindruck verständlich; aber jedermann, der die Auswirkungen der Gebührenerhöhungen einkalkuliert, sieht, daß sich hier das Unternehmen aus eigener Kraft bemüht, den Erfordernissen des Marktes gerecht zu werden und seine eigene Finanzsituation in den Griff zu bekommen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Apel.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Postverwaltungsrat seit 1968 Gebührenerhöhungen gefordert hat und der damalige Bundespostminister, der hier heute Fragesteller
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Dr. Apelist, zusammen mit seinen Kollegen in der Bundesregierung, insbesondere mit dem Bundesfinanzminister, sich derartigen ökonomischen Notwendigkeiten immer widersetzt hat — nicht zuletzt wegen der Nähe des Wahltermins?
Herr Dr. Apel, das Bemühen des Postverwaltungsrates war in der gesamten zurückliegenden Zeit offenkundig: durch Anregungen sicherzustellen, daß die Eigenkapitalstruktur der Deutschen Bundespost nicht verschlechtert wird und im Hinblick auf die gewaltige Expansion eine entsprechende Gebührenpolitik durchgeführt wird. Dies war in der Vergangenheit nicht möglich.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Pieroth.
Herr Staatssekretär, sind Sie wirklich der Ansicht, daß ein Unternehmen wie die Deutsche Bundespost, wenn es im Jahre 1969 über 300 Millionen DM Gewinn erwirtschaftet hat, damals Gebührenerhöhungen hätte durchführen sollen?
Ja, dieser Meinung bin ich.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie vorhin von den Versäumnissen der Vergangenheit gesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir bestätigen können, daß im Jahre 1966 und in den folgenden Jahren, also zu Zeiten, zu denen die CDU/CSU die Verantwortung in den Ministerien trug, die Bilanzen, d. h. die Gewinnrechnungen der Bundespost immer im Plus waren?
Ich kann Ihnen zwar diese vordergründige Betrachtung bestätigen, Herr Abgeordneter, aber dies trifft nicht den Kern der Schwierigkeiten dieses Unternehmens. Ein Unternehmen, das in einer derartigen Expansion steht, muß über seine Erträge gleichzeitig einen Selbstfinanzierungsbeitrag erwirtschaften. Dies war in der Vergangenheit nicht möglich. Der neben Ihnen sitzende Herr Abgeordnete Dollinger ist ein ausgezeichneter Kenner der Deutschen Bundespost. Er wird Ihnen bestätigen, daß der Eigenkapitalanteil bei der Deutschen Bundespost einmal 80 % betrug und inzwischen auf unter 30 % abgesunken ist.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, müssen Sie nicht mit mir befürchten, .daß wegen der erhöhten Versandkosten z. B. für Kataloge die Versandhäuser künftig ihre Kataloge im Ausland drucken und aufgeben lassen werden, so daß die Bundespost geringere Einnahmen, aber die alten Lasten haben wird?
Solche Gefahren bestehen in der Tat, Herr Abgeordneter. Das hängt damit zusammen, daß die Bundespost hier nicht ein ausschließliches Regal hat, sondern daß jedermann in der Lage ist, sich gegenüber einem öffentlichen Dienstleistungsunternehmen die wirtschaftlichen Beziehungen herauszupicken und den in der Gemeinnützigkeit verbleibenden Rest bei höheren Fixkosten dann dem öffentlichen Unternehmen zu überlassen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Stücklen.
Herr Staatssekretär, wenn Sie der Meinung sind, daß 1969 bei einem Gewinn von 320 Millionen DM eine Gebührenerhöhung notwendig gewesen wäre, woher nehmen Sie dann den Mut, hier die Behauptung aufzustellen, daß bei einem Defizit von 700 Millionen DM im Jahre 1972, einem weiteren Defizit von rund 300 Millionen DM im Jahre 1973 und schließlich bei einem Defizit von wiederum rund 800 Millionen DM im Jahre 1974 keine Gebührenerhöhungen notwendig werden?
Ich habe Ihre Frage offenbar akustisch nicht verstanden. Denn in der Tat legt diese Bundesregierung ja eine Gebührenerhöhung vor.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jobst.
Ja, ich habe das wirklich nicht richtig gehört.
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Darf die Frage von Herrn Kollegen Stücklen wiederholt werden?
Bitte!
Ich nehme ein anderes Mikrophon; vielleicht ist das besser. — Herr Staatssekretär, Sie haben eben die Behauptung aufgestellt, daß 1969 bei einem Gewinn von 320 Millionen DM eine Gebührenerhöhung hätte erfolgen sollen. Woher nehmen Sie den Mut, hier die Behauptung aufzustellen, 1969 hätten bei einem Gewinn von 320 Millionen DM Gebührenerhöhungen erfolgen sollen, daß aber nun keine Gebührenerhöhung mehr erforderlich sein wird, obwohl 1972 eine Gebührenerhöhung vorgelegt wird, die nicht ausreichend ist, und obwohl 1973 noch ein Defizit von rund 300 Millionen und 1974 nach eigenen Angaben der Post ein Defizit von 800 Millionen DM bestehen wird?
Herr Abgeordneter, Sie machen mir die Sache schwer, weil ich nach der Geschäftsordnung gehalten bin, Fragen kurz zu beantworten.
Und sie haben mehrere Fragen gestellt.
Den Mut für meine Äußerungen leite ich ab aus der Übereinstimmung des SPD-Entwurfs, des Entwurfs der Bundesregierung, und des CDU/CSU-Entwurfs zur Änderung des Postverwaltungsgesetzes. Alle diese Entwürfe, Herr Abgeordneter, streben an, daß die Bundespost bei ihren Einnahmen auch einen Eigenfinanzierungsbeitrag erwirtschaftet, um auf einen Eigenkapitalanteil von 30 % zu kommen. Unterstellt, dieser Ihr eigener Entwurf hätte im Jahre 1969 schon Gültigkeit gehabt, wäre nicht erst 1969, sondern bereits 1967 eine große Gebührenerhöhung notwendig gewesen.
Jetzt die Frage des Herrn Abgeordneten Jobst.
Herr Staatssekretär, müssen Sie nicht einräumen, daß das hohe Defizit der Post, das zu dieser enormen Gebührenerhöhung geführt hat, wie auch das Defizit bei der Bundesbahn, also ebenfalls einem Bundesunternehmen, deutliche Zeichen dafür sind, daß dieser Regierung die wirtschaftliche Entwicklung aus der Hand geglitten ist?
Das muß ich nicht einräumen. — Im übrigen, Herr Abgeordneter, war diese Frage schon Gegenstand der Fragestunde. Ich kann mich darauf beziehen und den Hinweis wiederholen: Das ist ein Teil der Betrachtung. Der andere Teil der Betrachtung ist, daß die enorme Steigerung des Wohlstandes unter anderem diese explosionsartige Nachfrage nach Fernsprechhauptanschlüssen ausgelöst hat, die mit dazu beitragen, die Ertragslage der Bundespost wenig-
stens in diesem Sektor so zu verbessern, daß er mit dazu beitragen kann, Defizite in anderen Sektoren auszugleichen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Becker.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir bestätigen, daß die Ausführungen des damaligen Bundespostministers Stücklen vom 4. Dezember 1964: „Trotz größter Anstrengungen auf organisatorischem Gebiet und dem Einsatz von Technik zur Rationalisierung haben sich in den letzten Jahren infolge der laufend steigenden Personal- und Sachkosten Verluste bei der Deutschen Bundespost nicht vermeiden lassen" heute wieder zutreffen?
Ja, das ist richtig.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Vogt.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß durch die noch zu erwartenden Inflationsraten eine Beibehaltung der Gebühren nur dann möglich ist, wenn entweder die Leistungen der Deutschen Bundespost verringert oder ihre Investitionen zusammengestrichen werden.
Wenn dies einträte, was Sie unterstellen: ja. Ich glaube aber nicht, daß dies eintritt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Haase.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie entschuldigen die Situation der Post mit der explosionsartig angestiegenen Kostenentwicklung in unserem Lande: Muß die Bundesregierung insgesamt nicht wegen ihres Unvermögens, die inflationistische Entwicklung zu stoppen, die Verantwortung für dieses Fiasko tragen?
Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß dies ein Teilaspekt einer Betrachtung ist, die den Kern der Probleme der Bundespost gar nicht berührt. Der Kern der Probleme bei der Bundespost sind die ungeheuer gestiegenen Finanzierungskosten, die notwendig wurden, weil das Eigenkapital zu sehr abgeschmolzen wurde.Ich will eine Vergleichszahl nennen. Allein die Kapitalkosten, die die Bundespost im Jahre 1972 aufzubringen hat, sind größer als die gesamten Personalausgaben, die dieses Unternehmen im Jahre
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Staatssekretär Gscheidle1950 hatte — in absoluten Zahlen. Damit will ich nur zum Ausdruck bringen, daß man solch ein dynamisches Unternehmen nicht aus einer Bestandsaufnahme des Jahres 1972 oder des Jahres 1969 oder des Jahres 1964 beurteilen kann. Das muß man vielmehr aus der Gesamtentwicklung heraus tun.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Leicht.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß auf Grund der von der Bundesregierúng gesetzten Daten — 41/2 % Preissteigerung, was sicher illusorisch ist; aber gehen wir davon aus — die Bundespost Ende 1972 weit höhere Defizite, als jetzt von Ihnen für die Zeit nach der Gebührenerhöhung mit noch fast 1 Milliarde DM geschätzt werden, haben wir oder aber die Leistungen der Bundespost insbesondere in dem Bereich enorm zurückbleiben müssen, den Sie angesprochen haben, nämlich im Fernmeldebereich, der ja das bringen soll, was die Post braucht?
Ich glaube nicht, Herr Abgeordneter Leicht, daß die Bundespost gezwungen sein wird, die notwendigen Investitionen im Fernmeldewesen zu reduzieren.
— Ja. — Ich gebe aber zu bedenken — die Frage hätte ich von mir aus beantwortet —, daß das Investitionsvolumen der Bundespost nicht nur unter dem Gesichtspunkt zu sehen ist, welche finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, sondern auch eine Frage der Planungskapazitäten des eigenen Unternehmens und der Produktionskapazitäten in der Wirtschaft ist. Die jetzt gefundene Plangröße von 1,65 Anrufeinheiten ist insoweit mit der deutschen Fernmeldeindustrie abgestimmt.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Looft.
Herr Staatssekretär, im Anschluß an die Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Dr. Müller-Hermann frage ich Sie, ob Sie es nicht auch für mehr als wünschenswert halten, daß man zu einer Harmonisierung der Postgebühren in den Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft kommt, angesichts der Tatsache, daß die zukünftigen Gebühren für gewöhnliche Drucksachen bei uns ca. 51 % über dem europäischen Durchschnitt liegen.
Ich befinde mich da mit Ihnen in voller Übereinstimmung. Dies ist auch die Absicht der Postverwaltung. Ich gebe aber zu bedenken, daß die augenblickliche Finanzierung der Postverwaltungen durch direkte und indirekte Subventionen, direkte Angliederung an den Staatshaushalt oder Ausgliederung aus dem
Staatshaushalt derart unterschiedlich ist, daß hier zuerst eine Bereinigung erfolgen muß. Die Bestandsaufnahme, die erforderlich ist, um objektiv solche Vergleiche ziehen zu können, ist in Arbeit.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Fellermaier.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Auffassung, daß die in diesem Hause von allen Fraktionen beschlossene Vereinheitlichung der Besoldung, die notwendig war und deshalb von allen Fraktionen unterstützt worden ist, und die damit verbundene Besoldungserhöhung sowie ein weitaus besserer Stellenkegel in einem Unternehmen mit 500 000 Beschäftigten natürlich auch durchschlagen müssen auf die kaufmännische Bilanzierung dieses Unternehmens?
Dies ist ein wesentlicher Punkt, der die Entwicklung mitbeeinflußt hat. Aber es ist nicht denkbar, daß die Deutsche Bundespost, die am Arbeitsmarkt konkurrieren muß, ihren Personalbestand mit schlechteren Angeboten am Arbeitsmarkt in dem notwendigen Umfang auffüllen kann. Deshalb ist dieser Zusammenhang in der Tat gegeben.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Schmidt .
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bestätigen, daß die Tatsache, daß die Post ein betont lohnintensiver Betrieb ist und jahrelang notwendige Lohn- und Gehaltsverbesserungen unterblieben sind, die diese Regierung nun nachholen muß, zu dieser schwierigen Lage beigetragen hat?
In der Tat, Herr Abgeordneter, es ist auffällig, daß die Steigerungsraten vom Jahre 1969 bis zum Jahre 1972 auf diesem Gebiet, gemessen an den Vorjahren, anormal hoch waren.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Wende.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß auch ausländische Postverwaltungen zur Zeit überprüfen, wie sie ihre Ertragslage den auch bei ihnen gestiegenen Aufwendungen anpassen können, so daß sich dies nicht als ein typisches Problem unseres Landes darstellt und insofern eigent-
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Wendelieh auch die Fragen der Opposition nur polemisch verstanden werden können?
Ich kann dies generell bestätigen. In der Tat ist auffällig, daß alle Postverwaltungen dieser Welt übereinstimmend in drei Punkten Anstrengungen unternehmen, um erstens eine größere Entfernung vom direkten tagespolitischen Einfluß zu erreichen, zweitens eine stärkere finanzielle Gesundung durch Ausstattung mit Eigenkapital zu erzielen und drittens im Sinne einer sauberen Trennung von Kosten und Leistungen von indirekten und direkten Staatssubventionen wegzukommen.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Althammer.
Herr Staatssekretär, weil vorhin hier im Hause behauptet worden ist, daß Besoldungsrückstände aufzuholen waren, frage ich Sie: Können Sie nicht bestätigen, daß die neuen Besoldungserhöhungen, die jetzt vorgesehen sind, nicht einmal die Steigerung der Lebenshaltungskosten abdecken werden, so daß also vom Aufholen eines Rückstands überhaupt nicht die Rede sein kann?
Soweit ich die Zahlenreihen der Statistik kenne, Herr Abgeordneter, ist in den Jahren 1969, 1970 und 1971 in der Tat ein wesentlicher Teil des Nachholbedarfs aufgefangen worden; diese Anpassung wurde aber ganz sicher mit den Maßnahmen im Jahre 1972 in den Indexreihen nicht fortgesetzt.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 2 der Dringlichen Fragen des Herrn Abgeordneten Breidbach auf:
Welche Sofortmaßnahmen gedenkt die Bundesregierung angesichts dieser Unruhe zu ergreifen, insbesondere um soziale Härten zu vermeiden?
Bitte schön!
Herr Abgeordneter, wie ich bereits bei der Beantwortung der Anfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Dollinger ausführte, bahnt sich in der Öffentlichkeit eine objektivere Betrachtungsweise der Post- und Fernmeldegebühren als Preisen für Dienstleistungen an, die, zumindest auf lange Sicht gesehen, genauso bezahlt werden müssen wie alle privaten Dienstleistungen, allerdings mit dem Unterschied, daß bei der Deutschen Bundespost alle etwaigen Gewinne in vollem Umfang dem Ausbau des Nachrichtennetzes zugute kommen.
Die Deutsche Bundespost hat, im ganzen gesehen, gemeinwirtschaftlich gestaltete Gebühren, die für manche Dienstleistungen so niedrig festgesetzt sind, daß sie nicht einmal die Aufwendungen decken. Das gilt z. B. für die Grundgebühr eines Fernsprechhauptanschlusses, und zwar auch nach der vorgesehenen Gebührenanhebung.
Im übrigen wäre die Deutsche Bundespost überfordert, wenn sie bei ihrem Massenverkehr in jedem Fall die soziale Bedürftigkeit im einzelnen prüfen und die Postbenutzer und Postsendungen gewissermaßen nach sozialen Verhältnissen kategorisieren müßte.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Staatssekretär, teilen Sie denn nach der gerade gegebenen Antwort gemeinsam mit uns, der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, die Auffassung, daß diese Gebührenerhöhung die Rentner, die sozial Schwachen und Körperbehinderten am härtesten trifft?
Natürlich kann dieser Personenkreis die hier vorgesehenen Erhöhungen in der Tat schwerer verkraften als jemand mit höheren Einkommensbezügen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Glauben Sie denn, daß es nach der ersten und auch der zweiten Antwort, die Sie gerade gegeben haben, gerechtfertigt ist, den Standpunkt aufrechtzuerhalten, den Sie hatten? Oder wäre es nicht besser, Gespräche mit dem Bundesarbeitsminister aufzunehmen — oder ist das etwa schon geschehen —, um unter Umständen den Versuch zu unternehmen, über die Sozialämter eine Erleichterung für die sozial Schwächeren herbeizuführen? Oder scheuen Sie die Gefahr, den Gemeinden noch weitere finanzielle Belastungen zuzuschieben, nachdem die Gemeinden schon am Rand ihres finanziellen Volumens stehen?
Herr Abgeordneter, was Sie mit Ihrer Frage, soweit ich sie verstanden habe, bezwecken wollen, ist, soviel ich weiß, in § 75 des Bundessozialhilfegesetzes geregelt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Leicht.
Herr Gscheidle, wären Sie bereit, zuzugeben, daß die Begründung Ihres Herrn Ministers Leber bei der Gebührenerhöhung des vergangenen Jahres und der dazu ergangene Beschluß der Bundestagsfraktion der SPD mit dem Hinweis, das werde die sozial Schwächsten, die Rentner, am
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Leichtmeisten treffen, für Sie heute nicht mehr maßgebend sind?
Herr Abgeordneter Leicht, ich darf in Erinnerung rufen, daß damals die Frage anstand, ob man bei dieser Gebührenmaßnahme gleichzeitig die Gebühr für die Gesprächseinheit und die Grundgebühr erhöhen soll. Man hatte sich entschieden, nur eine dieser Gebühren anzuheben, nämlich die Gebühr für die Gesprächseinheit, mit der Begründung, daß dadurch die Wirkungen, die auch Ihr Vorredner angedeutet hat, nicht eintreten werden. Nun waren diese Gebührenmaßnahmen aber nicht ausreichend, und es erschien nicht vertretbar, die Gebühr für die Gesprächseinheit noch einmal anzuheben, da dann eindeutig derjenige am härtesten getroffen würde, der seinen Fernsprechanschluß zur Berufsausübung benötigt und deshalb eine sehr hohe Zahl an Gesprächseinheiten im Monat aufzuweisen hat.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Apel.
Dann Herr Abgeordneter Pieroth zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie meinem Kollegen Breidbach gerade bestätigt haben, daß diese Gebührenerhöhung die Rentner und Alten stärker trifft als diejenigen, die im aktiven Arbeitsleben stehen, frage ich: Wie kann es die Bundesregierung verantworten, den Rentnern und alten Menschen, die heute ohnehin weniger reale Kaufkraft haben als in den Vorjahren, weil das Geld durch Ihre Politik weniger wert wird und der von uns vorgelegte Antrag auf Erhöhung des Rentenniveaus, der in der Öffentlichkeit sehr begrüßt worden ist,
von Ihnen abgelehnt worden ist, obendrein z. B. noch 96 DM im Jahr mehr für den Telefonhauptanschluß abzunehmen?
Zunächst, Herr Abgeordneter, teile ich nicht Ihre Auffassung, daß die reale Kaufkraft der Rentner abgesunken ist. Für diese Behauptung gibt es in keiner Statistik einen Beweis.
Zum zweiten. Wenn ich auf den Gedanken, den Sie hier empfehlen, eingehen darf, dann würden Sie mir doch unschwer zugeben müssen, daß es nicht Aufgabe der Bundespost sein kann, sozusagen jeden Antragsteller zunächst daraufhin zu prüfen, ob seine Eigentumsverhältnisse tatsächlich so sind, daß hier die Bundespost eine gleiche Leistung zu ungleichen Bedingungen erbringt. Dazu ist ein Prüfungsrecht notwendig. Dazu sind Anträge notwendig. Da wir aber bereits über das Sozialhilfegesetz derartige Organisationen haben, ist dies hinsichtlich der Staatsverwaltung ein nicht akzeptabler, nicht wirtschaftlicher Vorschlag.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Looft.
Herr Staatssekretär, erweckt die Gebührenerhöhung nicht doch den Eindruck, daß dadurch das jüngst unzureichend erhöhte Einkommen der Rentner weiter abgeschöpft wird und die Postgebühren den übrigen gestiegenen Lebenshaltungskosten angepaßt werden?
Ich halte es für eine Binsenweisheit, Herr Abgeordneter, daß, wenn jemand mehr bezahlen muß, etwas abgeschöpft wird. Ich halte es auch für eine Binsenweisheit, daß derjenige, der weniger Einkommen hat, härter betroffen wird. Solche Betrachtungen, so sinnvoll sie vielleicht im politischen Raum sein können, führen ein Unternehmen wie die Bundespost nicht weiter. Ein Unternehmen wie die Bundespost, das verpflichtet ist, seine Ausgaben durch die Einnahmen zu bestreiten, können Sie entweder über Einnahmen oder durch Subventionierung aus dem Steuerhaushalt finanzieren. Alles andere führt an' der Kernfrage vorbei.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling.
Herr Staatssekretär, können Sie Auskunft darüber geben, wie hoch der Investitionsaufwand für einen Telefonanschluß ist und wieviel Monate es dauert, um diese Investitionskosten aufzubringen? Dadurch könnte deutlich gemacht werden, daß in der Zurverfügungstellung eines Telefonanschlusses für einen, der weniger telefoniert, bereits eine Sozialleistung steckt.
Die Frage, Herr Abgeordneter, kann ich nur mit Durchschnittszahlen beantworten. Ich will, um den Aussagewert dessen, was ich ausführe, zu präzisieren, auf folgendes hinweisen. Wir nehmen alle Ausgaben, die wir in einem Jahr für Fernmeldeinvestitionen haben, und teilen durch die Zahl der in diesem Zeitraum eingerichteten Hauptanschlüsse. Ich sage das, um klarzulegen, welche Bedeutung die Zahl hat.
Zur Zeit liegen die Kosten für die Einrichtung eines solchen Hauptanschlusses zwischen 4 500 DM und 4 700 DM. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß ein solcher Anschluß am schnellsten durch denjenigen amortisiert wird, der ihn häufig benutzt.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
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Herr Staatssekretär, darf ich Sie im Hinblick auf eine der letzten Antworten erinnern, daß laut Nachweis des Statistischen Bundesamtes die Lebenshaltungskosten für einen Rentnerhaushalt im Januar dieses Jahres um 6,3 Punkte über denen des Monats Januar 1971 gelegen haben? Wäre es aus dieser Sicht nicht doch zweckmäßig, wenn sich Ihr Haus mit dem Arbeitsminister in Verbindung setzte, um für Rentner und Schwerbeschädigte eine Sonderregelung bei den Grundgebühren vorzusehen?
Herr Müller-Hermann, ich kann nur noch einmal auf meine vorige Antwort hinweisen, daß die Sache insoweit bereits eine Rechtsgrundlage in § 75 des Gesetzes, das ich zitiert habe, findet.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Kiechle.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, lassen Sie Ihre eben ausgeführten Überlegungen, daß soziale Rücksichtnahmen das Wirtschaftsunternehmen Bundespost nicht weiterführen, auch für alle übrigen Unternehmen der Bundesrepublik gelten?
Nein. Im übrigen, Herr Abgeordneter, haben Sie mich falsch zitiert. Ich habe ausgeführt, daß die Bundespost auf Grund ihrer gemeinnützigen Aufgabenstellung sehr wohl verpflichtet ist, soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die tut sie bei ihren Gebühren in hohem Maße. Aber sie kann diese Gebühren für eine Leistung nicht zwischen einzelnen Personen differenzieren. Eine solche Differenzierung wäre nur möglich, wenn man eine individuelle Prüfung der Einkommensverhältnisse durch die Bundespost zuließe. Das aber halte ich nicht für möglich.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Peiter.
Herr Staatssekretär, werden Sie Gelegenheit nehmen, diesen angesprochenen Personenkreis der älteren Mitbürger verstärkt darauf hinzuweisen, daß sie die Möglichkeit haben, Doppelanschlüsse installieren zu lassen und damit eine Senkung der Hauptanschlußgebühren zu erreichen?
Der zuständige Minister hat Anweisung gegeben, daß die Verwaltung gegenüber dem Personenkreis, der hier immer wieder zitiert wird, in eine sehr weitgehende Beratung eintritt, um ihm die bestmöglichen Lösungen aufzuzeigen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht an der Zeit, die Opposition darauf aufmerksam zu machen, daß es bei diesen Gebührenerhöhungen im wesentlichen darum geht, die Kostensteigerungen abzudecken, und daß die große Masse der Gebührenerhöhungen die Wirtschaft trifft, so daß es eine völlige Verschiebung des Aspektes ist, wenn immer so getan wird, als gingen die Gebührenerhöhungen im wesentlichen zu Lasten der Rentner, insbesondere unter der Perspektive des Hinweises auf § 75 des Sozialhilfegesetzes?
Herr Abgeordneter, ich muß ausdrücklich bestätigen, daß in der Tat die Kostenunterdeckungen bei der Bundespost überwiegend in den Bereichen aufgetreten sind, in denen seit Jahren Leistungen zugunsten der Wirtschaft nicht voll bezahlt werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, habe ich richtig gerechnet — allerdings nur im Kopf —, daß durch die Zahlung der entsprechenden Grundgebühren die Anlagekosten von jedem mit über 15 % verzinst werden?
Ich vermag Ihre Rechnung nicht nachzuvollziehen, denn ich komme niemals auf 15 %. Ich komme bei meinen Rechnungen nicht auf 15 %; ich weiß nicht, wie Sie gerechnet haben.
Sie haben als Anlagekosten einen Betrag von noch nicht einmal 5000 DM genannt. Wenn man die jährliche Grundgebühr in Höhe von 520 DM in die Betrachtung einbezieht, kommt man in etwa auf den von mir genannten Prozentsatz.
Herr Abgeordneter, dann müßte ich Sie darauf hinweisen, daß in Ihrer Rechnung folgender Fehler steckt: Die Einnahmen, die die Bundespost für einen Hauptanschluß hat, setzen sich aus Einrichtungsgebühr, Grundgebühr und Fernmeldegebühreneinheiten zusammen. Eine derartige Rechnung, wie Sie sie aufmachen, ist nicht möglich.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Schmidt .
Herr Staatssekretär, würden Sie mir bestätigen, daß bei früheren Telefongebührenerhöhungen, zu deren Zeitpunkt die heutige Opposition Regierungspartei war, die Frage einer notwendigen Gebührenbegünstigung zugun-
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Schmidt
sten der Rentner seitens der heutigen Opposition nicht zur Diskussion gestellt wurde.
Solche Überlegungen, Herr Abgeordneter, konnten schon deshalb nicht angestellt werden, weil sich alle Sachkundigen dieses Metiers auch in der zurückliegenden Zeit einig waren, daß dies nicht möglich ist.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Dollinger.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie soeben den Zweier-Anschluß empfohlen haben, stelle ich die Frage, ob die bisherige Bestimmung, das solche Anträge nicht mehr gestellt werden können, aufgehoben worden ist.
Eine solche Bestimmung wurde nicht aufgehoben, Herr Abgeordneter Dr. Dollinger. Die Situation ist die, daß der Zweier-Anschluß als eine technische Lösung in einer Phase eingeführt wurde, in der die Bundespost äußeren Mangel an Leitungen hatte. Wir haben im Augenblick einen Bestand von 2 Millionen Zweier-Anschlüssen, die wegen der Benachteiligungen, die der Anschluß mit sich bringt, in einer großen Fluktuation sind. Das technische Gerät ist auslaufend, aber wir rechnen damit, mit dem Auslauf noch einige hunderttausend solcher technischen Einrichtungen zu bekommen. In diesem Umfang stehen in der Tat in einer Übergangszeit diese zur Verfügung unter der Voraussetzung, daß derjenige, der sich für diesen Anschluß interessiert, in einem Bereich wohnt, in dem die betrieblich-technischen Voraussetzungen dafür vorhanden sind.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Schmidt .
Herr Staatssekretär, liegt der Bundesregierung ein Vorschlag der CDU oder der Verwaltungsratsmitglieder der CDU vor, wie man anders als durch Gebührenerhöhungen die finanzielle Situation der Bundespost verbessern kann, und haben die Verwaltungsratsmitglieder der CDU im Verwaltungsrat einen Vorschlag gemacht, wie man die Telefongebühren für die Rentner senken oder beibehalten kann?
Im Verwaltungsrat haben die Mitglieder der CDU in der Tat einen Vorschlag gemacht,
die im Regierungsentwurf vorgesehene Ablieferung
an den Bund nicht erst 1975, sondern schon in früheren Jahren der Post voll zur Verfügung zu stellen. Die Frage, warum die Bundesregierung einer solchen Anregung nicht folgen kann, hängt damit zusammen, daß die Verpflichtungen, die die Bundesregierung allgemein hat — und dieses Haus ist darüber bestens informiert —, es nicht zulassen, eine bereits längerfristig konzipierte Finanzplanung umzustellen. Im Prinzip — dies ist aus dem Regierungsentwurf erkennbar — wird von der Bundesregierung der gleiche Weg beschritten.
Meine Herren und Damen, ich habe noch drei Fragen. Ich glaube, dann schließen wir diesen Punkt ab. Frage des Herrn Abgeordneten Wende.
Herr Staatssekretär, können Sie dem Haus darüber Auskunft geben, ob bei der Frage, die Ertragslage der Deutschen Bundespost zu verbessern, auch ausreichend geprüft worden ist, ob auf anderen Feldern — ich denke an Rationalisierung oder an Einschränkung von Dienstleistungen — noch eine Steigerung möglich ist.
Innerhalb der Bundespost wird zur Zeit sehr sorgfältig geprüft, welche Möglichkeiten es auf diesem Gebiet gibt, welche dieser Möglichkeiten politisch durchsetzbar sind, welche dieser Möglichkeiten mit der nach dem Gesetz notwendigen Zustimmung des Personals durchgeführt werden können. Der Bundespost wäre sehr geholfen, wenn das öffentliche Dienstrecht in einigen seiner Bestimmungen nicht so rationalisierungsfeindlich wäre.
Eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Riedl.
Herr Staatssekretär, ich darf mich nochmals auf Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Dr. Dollinger beziehen. Ist Ihnen denn nicht bekannt, daß die Deutsche Bundespost seit Jahren — und insbesondere forciert seit der letzteren Änderung der Fernmeldeordnung — Anträge auf Einrichtung von Zweier-Anschlüssen nicht nur ablehnt, sondern sogar zunehmend die bereits bestehenden Zweier-Anschlüsse abbaut? Ich kann Ihnen aus Zuschriften, die mir zugegangen sind, x-Beispiele allein aus dem Raum München nennen.
In der Tat, Herr Abgeordneter: Die Bundespost ist daran interessiert, die Teilnehmer, die einen ZweierAnschluß haben, darauf hinzuweisen, daß die Post nunmehr in der Lage ist, diese Nachteile, die mit diesem Anschluß verbunden sind, zu beseitigen, und daß auch unter gegebenen technischen Verhältnissen ein großes Interesse der Verwaltung besteht, sie abzubauen. Hinsichtlich der Frage von vorhin mußte ich aber darauf hinweisen, daß der Herr Minister Leber die Anweisung gegeben hat, die Möglichkeiten, die hier der Bundespost bleiben, über einen
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Staatssekretär GscheidleZweier-Anschluß zu verbilligten Gebühren zu gelangen, dort, wo ,es möglich ist, dem Personenkreis, der als sozialschwächer darzustellen ist, nutzbar zu machen.
— Das ist doch für denjenigen, der es erhalten kann, eine konkrete Maßnahme, Herr Abgeordneter!
Auf die letzte Frage wurde verzichtet. Damit sind Ihre Fragen beantwortet, Kerr Staatssekretär Gscheidle. Vielen Dank.
Damit kommen wir zu dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bayerl.
Ich rufe die Frage 10 des Abgeordneten Dr. Schneider auf:
Trifft es zu, daß nach einer internen Statistik des Bundeskriminalamts von 170 000 Betrugsdelikten 30 000 sogenannte Wirtschaftsstraftaten mit einer Schadenssumme von 15 Milliarden DM bis 20 Milliarden DM sind, und welche Konsequenzen beabsichtigt die Bundesregierung aus dieser Tatsache zu ziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dr. Schneider, .die von Ihnen genannte Zahl der Wirtschaftsstraftaten ist vom Bundeskriminalamt nur geschätzt. Die Schätzung beruht zwar auf der polizeilichen Kriminalstatistik, die aber keine Deliktsgruppe „Wirtschaftskriminalität" enthält. Die Abgrenzung des Begriffs „Wirtschaftskriminalität" ist auch sehr schwer möglich, weil es eine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung derzeit noch nicht gibt. Auch die Teilzahlen, aus denen sich die genannte Gesamtzahl der Straftaten zusammensetzt, ergeben sich zum Teil nur aus Schätzungen. Dies gilt auch für die Schadenssumme von 15 bis 20 Milliarden DM, die Sie angeben, der nachprüfbare Berechnungen nicht zugrunde liegen.
Eine Möglichkeit, den durch die Wirtschaftskriminalität verursachten Schaden genau zu bestimmen, gibt es bisher noch nicht. Erst seit kurzem beginnen einige Landesjustizverwaltungen, auf Grund von Erhebungen bei den Staatsanwaltschaften Zusammenstellungen über den Gesamtschaden, der durch Wirtschaftsstraftaten verursacht wird, zu erstellen.
Unbeschadet dessen, wie hoch die genaue Zahl der Wirtschaftsstraftaten ist, die jährlich im Bundesgebiet begangen werden, und wie hoch der genaue Schaden sein wird, der durch diese Straftaten verursacht wird, dürfte es sich jedoch um eine beträchtliche Zahl von Straftaten handeln, die mit Sicherheit einen sehr hohen Schaden verursachen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß eine erhebliche Dunkelziffer besteht, die nach Auffassung einiger Sachverständiger in diesem Bereich besonders groß ist.
Nicht nur dieser wahrscheinlich sehr hohe Schaden, sondern auch nicht zusetzt die Ansteckungsgefahr, die von dieser Art Kriminalität ausgeht, ist Anlaß genug, sich im Rahmen der Strafrechtsreform mit der Wirtschaftskriminalität eingehend zu befassen. Die Sogwirkung der Wirtschaftskriminalität,
die zu gefärlichen Wettbewerbsverzerrungen führen kann, wird besonders deutlich bei Steuer- und Subventionsdelikten. Derjenige Kaufmann z. B., der sich durch Abgabehinterziehungen und Subventionsbetrügereien ihm nicht zustehende Vorteile verschafft, kann günstigere Preise kalkulieren als seine Konkurrenten.
Wie der Bundesminister der Justiz bereits kürzlich in der Beantwortung der Kleinen Anfrage der Abgeordneten Dr. de With, Hirsch, Dr. Müller-Emmert, Frau Dr. Diemer-Nicolaus, Kleinert und Fraktionen der SPD und FDP ausgeführt hat, beabsichtigt er, eine Kommission aus Rechtslehrern, Wirtschaftswissenschaftlern, Richtern, Staatsanwälten und Polizeibeamten einzuberufen, die sich umfassend mit einer Reform der gesetzlichen Bestimmungen zur Eindämmung der Wirtschaftskriminalität befassen soll. Die Vorbereitungen zur Einsetzung der Kommission sind in vollem Gange. Das bereits in meinem Haus im Dezember 1970 bei Professor Dr. Tiedemann aus Gießen in Auftrag gegebene Gutachten über das Teilgebiet „Subventions- und Erstattungsbetrug" wird in Kürze erstellt werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider.
Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, anzugeben, zu wessen Lasten diese enormen Schadenssummen — gleichviel ob weniger oder mehr als 15 Milliarden — im einzelnen gehen und in welchem Umfange insbesondere einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen bei der Schaffung von Eigentum, beispielsweise durch Hausbau und Grunderwerb, betroffen worden sind?
Das kann ich Ihnen im einzelnen nicht sagen.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 11 des Herrn Abgeordneten Erpenbeck auf:
Hält die Bundesregierung die in ihrer Mietfibel vertretene Auffassung aufrecht, daß die freiwillige Vereinbarung einer höheren Miete ungeachtet des Artikels I § 3 des Kündigungsschutzgesetzes vorn 25. November 1971 jederzeit zulässig ist, nachdem die Pressestelle des Deutschen Mieterbunds in einer Verlautbarung vom 18. Februar d. J. die gegenteilige Meinung vertreten hat?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Erpenbeck, ja.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Erpenbeck.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß die Wohnungsunternehmen es für unzumutbar halten, bei der bestehenden Rechtsunsicherheit — Sie sagten gerade
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972 10159
Erpenbeck„ja", und in fast allen fachliterarischen Erscheinungen wird jetzt dieser Standpunkt der Rechtsunsicherheit in diesem Punkt vertreten — Verträge abzuschließen, weil sie damit ein unkalkulierbares Prozeßrisiko auf sich nähmen, wobei noch angesichts der derzeitigen Baupreisentwicklung die Höhe der entstehenden Kosten, etwa bei Modernisierungen, sich im voraus gar nicht einmal übersehen läßt?
Herr Kollege Erpenbeck, obwohl Sie es hier etwas dramatisieren, möchte ich dazu folgendes sagen. Das ist der Bundesregierung sehr wohl bekannt. Aber ich bin der Meinung — das habe ich bereits in der letzten Fragestunde ausgeführt —, daß für uns die Rechtslage zweifelsfrei ist. Die Pressemitteilungen über das Ergebnis dieser Fragestunde haben auch ihre Wirkung getan, so daß wir uns zu weiteren Maßnahmen nicht veranlaßt sehen. Ganz selbstverständlich — wenn ich das noch hinzufügen darf — ist die Bundesregierung zu Gesprächen mit Spitzenverbänden aus dem wohnungswirtschaftlichen Bereich bereit, wenn der Wunsch an uns herangetragen wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn man einmal von der nach meiner Meinung noch ungeklärten Frage der Zulässigkeit freiwilliger Vereinbarungen absieht: was ist dann zu tun, wenn sich in einem Wohnblock beispielsweise auch nur 25 % der Mieter weigern, eine solche Vereinbarung abzuschließen, z. B. bei der Anlage einer Zentralheizung?
Ganz selbstverständlich kann sich jeder Mieter weigern denn die Vereinbarungen müssen ja freiwillig getroffen werden —, eine solche Vereinbarung abzuschließen. Dann gilt das Artikelgesetz.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich Frage 12 des Herrn Abgeordneten Erpenbeck auf:
Was beabsichtigt die Bundesregierung zu tun, um die hierdurch entstandene Rechtsunsicherheit und Rechtsverwirrung zu beseitigen, zumal kaum damit gerechnet werden kann, daß sich his zum Außerkrafttreten des Kündigungsschutzgesetzes eine gefestigte Rechtsprechung zu dieser Kernfrage des Gesetzes herausgebildet hat?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Erpenbeck, da wir die Rechtslage für geklärt halten, sieht die Bundesregierung keine Veranlassung zu irgendwelchen Maßnahmen, insbesondere im Hinblick auf eine Änderung des Artikelgesetzes.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Erpenbeck.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie es dann, daß in den bisherigen Wohnungs- und Mietgesetzen ganz klare Rechtsgrundlagen vorhanden sind, wie z. B. bei den Sozialwohnungen und bei den preisgebundenen Wohnungen etwa in München, Hamburg und Berlin?
Ich kann nur wiederholen: Ich bin der Meinung, daß auch hier das Artikelgesetz eine klare Rechtsgrundlage dafür bietet, daß Mieter und Vermieter freie und freiwillige Vereinbarungen auch im Hinblick auf eine Miethöhe ohne Berücksichtigung der Obergrenze treffen können.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie ist es dann zu erklären, daß auch nach der Beantwortung, die in der vorletzten Fragestunde Ihrerseits zum Problem der Modernisierung gegeben worden ist, die Fachliteratur trotzdem daran festhält, daß hier eine ungeklärte Rechtslage besteht?
Herr Kollege, das ist ein Teil der Fachliteratur; das wird es immer geben, daß man ein Gesetz verschieden auslegen kann.
Keine Zusatzfrage.
Die Fragen 13 und 14 sollen auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen. Die Frage 15 soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 16 des Herrn Abgeordneten Kahn-Ackermann auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die durch wachsende Konzentration veränderte Wirtschaftslage der sogenannten schöngeistigen Verlage in der Bundesrepublik Deutschland und die Auswirkungen dieser Lage hinsichtlich der Gewährleistung der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes?
Zur Beantwortung hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf das Wort. Bitte schön!
Herr Kollege Kahn-Ackermann, im Buchverlagswesen ist eine Änderung des brancheninternen Wettbewerbs durch Herausbildung verlegerisch tätiger Großunternehmen festzustellen. Von diesem Strukturwandel wird die Wettbewerbssituation der verhältnismäßig wenigen Verlage, deren Sortiment ausschließlich das Gebiet der schöngeistigen Literatur umfaßt, nicht nur negativ beeinflußt. Die Tätig-
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Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorfkeit der Großunternehmen dürfte der schönen Literatur in erheblichem Umfang neue Leser zugeführt haben, einen Zuwachs, aus dem auch kleine und mittlere Verlage Nutzen ziehen können.Die positiven und negativen wirtschaftlichen Folgen des gegenwärtigen Strukturwandels für die von Ihnen angesprochenen Verlage werden sich nur auf der Grundlage eingehender Untersuchungen zutreffend abwägen lassen. Aus dem der Bundesregierung vorliegenden Zahlenmaterial kann ein zuverlässiges Bild der wirtschaftlichen Situation der in Rede stehenden Verlage gewonnen werden. Eine Gefährdung der Meinungsfreiheit durch Änderung der wirtschaftlichen Situation dieser Verlage ist gegenwärtig nicht erkennbar. Im übrigen gibt auch die im Bereich der schönen Literatur langfristig zu beobachtende kontinuierliche Steigerung der Titelproduktion keinen Anlaß für die Annahme einer Gefährdung der Meinungsfreiheit.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Kahn-Ackermann.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Erhöhung der Titelproduktion nicht auf das Konto der schöngeistigen Verlage geht und daß insbesondere die Lage der kleinen und mittleren Verlage angesichts wachsender Herstellungskosten und der von Ihnen vorhin zugegebenen Konzentrationsvorgänge existenzgefährdend geworden ist und daß dadurch eben auch die Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG doch in bedrohlicher Weise eingeengt wird, weil für viele Autoren keine Möglichkeit mehr besteht zu veröffentlichen? Das ergibt sich schon aus den sinkenden Auflageziffern in diesem Bereich. Wäre es der Bundesregierung daher möglich, in die von Ihnen angedeuteten sorgfältigen Untersuchungen zur Klärung dieses Sachverhalts einzutreten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kahn-Ackermann, die Bundesregierung ist, was die Titelproduktion der schöngeistigen Verlage durch die Konzentration angeht, der Auffassung, die ich hier dargestellt habe, daß es auch in der schöngeistigen Literatur eine Verstärkung der Titelproduktion gibt. Hier haben wir unterschiedliche Auffassungen.
Was die Frage des Zurückgehens gewisser Verlage angeht, so muß man sehen, daß ein Strukturwandel vorhanden ist. Die Bundesregierung kann erst eingreifen, wenn der Prozeß des Strukturwandels einigermaßen abgeschlossen und wenn sichbar ist, wo eingegriffen werden muß. Eine Bedrohung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 sieht die Bundesregierung — auch nach Ihren jetzigen Ausführungen — als nicht gegeben an.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie nochmals fragen, ob angesichts der Tatsache, daß die herkömmliche Funktion des Verlagswesens in der Bundesrepublik stark beeinträchtigt sein wird, wenn sich der Strukturwandel vollzogen hat, die Bundesregierung es sich nicht doch angelegen sein lassen müßte, durch eine Untersuchung festzustellen, ob dem nicht durch geeignete Maßnahmen entgegengesteuert werden sollte, und zwar bevor dieser Wandel abgeschlossen ist?
Herr Kollege Kahn-Ackermann, ich bin durchaus bereit, Ihre Gedanken der Bundesregierung nochmals zur Erwägung zu stellen. Ich kann aber nur sagen: Bis zur Stunde sehen wir keinen Anlaß, Maßnahmen zu ergreifen, wie sie hier von Ihnen vorgeschlagen werden.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 17 des Herrn Abgeordneten Hansen auf.
Wie hoch sind die Einnahmen der Geldinstitute aus Zinsen für die den Inhabern von Lohn- und Gehaltskonten eingeräumten und in großer Zahl in Anspruch genommenen sogenannten Dispositionskredite?
Ich würde beide Fragen gern im Zusammenhang beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 18 auf:
Hält die Bundesregierung angesichts dieser nicht unerheblichen Einnahmen die Einführung von Buchungsgebühren fur Lohn- und Gehaltskonten durch die Geldinstitute für gerechtfertigt?
Herr Abgeordneter Hansen, zu dieser Frage hat mein Kollege Dr. Emde bereits in der Fragestunde am 27. Januar 1972 Stellung genommen. Der Bundesregierung sind keine absoluten Zahlen über die Einnahmen der Kreditinstitute aus Dispositionskrediten verfügbar. Die Bankenstatistik der Bundesbank gibt nur die Kontoüberziehung von Lohn- und Gehaltskonten zum Jahresende an. Eine Zahl, die für die laufende Höhe der Dispositionskredite aussagekräftig genug ist, können wir also hier nicht bekanntgeben. Da auch der Zinssatz von Institut zu Institut und je nach Konjunkturentwicklung innerhalb eines Jahres erheblich schwankt und die Höhe der mit den Dispositionskrediten verbundenen Unkosten der Kreditinstitute nicht bekannt ist, lassen sich auch die Einnahmen nicht zuverlässig schätzen. Es kann aber so viel gesagt werden, daß die Einnahmen aus diesen Dispositionskrediten auch nicht annähernd die Kosten der Lohn- und Gehaltskonten decken. Wie ich eben schon sagte, decken die Einnahmen aus diesen Dispositionskrediten nicht die Kosten.Abgesehen davon gebe ich auch noch folgendes zu bedenken. Die Führung eines Lohn- und Gehaltskontos und die Inanspruchnahme eines Kredits sind zwei
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Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf verschiedene Dienstleistungen eines Kreditinstitutes, die man hinsichtlich ihrer Kosten getrennt werten sollte. Zwar mag es unserem Universalbankensystem in gewissen Situationen angemessen sein, Kostenunterdeckungen in einem Bereich wie dem der Lohn- und Gehaltskonten durch Kostenüberdeckung in einem anderen Bereich, z. B. dem Kreditgeschäft, auszugleichen. Aber gerade in der von Ihnen angeschnittenen Frage halte ich diese Verknüpfung nicht für wünschenswert. Der Kostenausgleich würde, langfristig gesehen, zu Lasten der weniger bemittelten Schichten unseres Volkes gehen, die gezwungen sind, Dispositionskredite in Anspruch zu nehmen. Diese kleinen und kleinsten Kreditnehmer würden dann durch ihre Zinszahlungen die Kosten für diejenigen Lohn- und Gehaltskonteninhaber mit aufbringen müssen, die Kredite nicht benötigen und die Vorteile eines Lohn und Gehaltskontos — wie z. B. den Überweisungsverkehr und die Buchhaltungsfunktion eines derartigen Kontos — weiterhin kostenlos in Anspruch nehmen wollen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob es die Bundesregierung denn für möglich hält, sich dennoch einen Überblick über die Einnahmen aus Zinsen aus Inanspruchnahme von Dispositionskrediten zu verschaffen?
Wir halten das für möglich, und ich kann Ihnen, was das angeht, sagen: der durchschnittliche Zinssatz für Dispositionskredite betrug 1970 11 °/0 und 1971 10 °/o. Bei diesen schwankenden Zinssätzen ist es eben sehr schwierig, auch bei unterschiedlichen Banken ein einheitliches Bild zu finden.
Eine zweite Zusatzfrage.
Darf ich Sie zusätzlich zur Verdeutlichung noch fragen, welche Haltung die Bundesregierung grundsätzlich in der Frage der Erhebung von Gebühren für Lohn- und Gehaltskonten einnimmt?
Ich habe hier die Auffassung der Regierung dargelegt, daß wir grundsätzlich keine Bedenken gegen die Erhebung von Gebühren für Lohn- und Gehaltskonten haben, und zwar deshalb nicht, weil der Aufwand für die Führung eines Lohn- und Gehaltskontos bei weitem die Gebühren überschreitet.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Müller.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht immerhin für wert, darüber nachzudenken, daß, wenn man Ihre Darstellung zugrunde legt, die Lage von Kasse zu Kasse unterschiedlich ist und dennoch die Buchungsgebühren ohne Rücksicht auf diese vorgegebenen Unterschiede fast überall in gleicher Höhe erhoben werden, und liegt da nicht die Vermutung nahe, daß es sich um ein Kartell, um eine ganz grundsätzliche Absprache aller Beteiligten handelt?
Dies würde ich so, wie Sie es gesagt haben, nicht sehen wollen. Vielleicht darf ich dazu noch folgende Bemerkung machen. Ein Lohn- und Gehaltskonto verursacht im Jahr nach Angaben der Bankenverbände rund 50 bis 100 DM Unkosten. Dies macht bei 25 Millionen Konten rund 1,25 bis 2,5 Milliarden DM aus. Die Höhe der Dispositionskredite selbst betrug aber zum Jahresende 1970 nur 2,9 Milliarden DM. Allein aus diesem Verhältnis ersehen Sie, daß der Gewinn der Kreditinstitute aus den Dispositionskrediten nur minimal gegenüber den Unkosten einer gebührenfreien Führung der Lohn- und Gehaltskonten sein kann.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Sperling.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß die Wirtschaft dadurch Kosten einspart, daß Löhne und Gehälter über solche Konten ausgezahlt werden, und ist nicht darum das Verlangen von Arbeitnehmern berechtigt, daß die Kosten für die Führung von Lohn- und Gehaltskonten von den Arbeitgebern übernommen werden?
Diese Frage möchte ich aus dem Stegreif nicht beantworten.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 19 des Herrn Abgeordneten Varelmann auf:
Welche Maßnahmen erwägt die Bundesregierung, um die kritische Arbeitsmarktlage in Nordwest-Niedersachsen auf Grund der Arbeitsmarktberichte von Ende Januar 1972 zu beheben?
Frau Präsident, kann ich die beiden Fragen zusammen beantworten?
Ja, dann rufe ich auch die Frage 20 auf:
Ist es nicht angebracht, Maßnahmen zur Drosselung des Wirtschaftsgeschehens, die für die Überhitzungsräume notwendig sind, in Zukunft nicht auch in Nordwest-Niedersachsen wirksam werden zu lassen?
Herr Kollege Varelmann, die Bundesregierung ist seit langem im Zusammenwirken mit dem Land Niedersachsen bemüht, im Rahmen ihrer regionalen Strukturpolitik eine dauerhafte Verbesserung des
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Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf Arbeitsplatzangebotes in diesem Gebiet zu erreichen. So wurden u. a. seit dem rückwirkenden Inkrafttreten des Investitionszulagengesetzes in der Zeit von 1969 bis 1971 bei einem Investitionsvolumen von rund 3,5 Milliarden DM die Schaffung von 28 016 neuen Dauerarbeitsplätzen gefördert. Berücksichtigt man, daß auf jeden im produzierenden Bereich geschaffenen neuen Arbeitsplatz noch ein Arbeitsplatz im tertiären Bereich entfällt, so läßt sich feststellen, daß mehr als 56 000 neue Dauerarbeitsplätze in diesem Gebiet im Entstehen begriffen sind.Diese von der Bundesregierung betriebene Politik zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur dieses Gebiets wird nach dem Inkrafttreten der Gemeinschaftsaufgabe — hier Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur — ab 1. Januar 1972 gezielt fortgeführt. So ist in ersten Rahmenplanungen der Gemeinschaftsaufgabe für den Zeitraum 1972 bis 1975 im Regionalen Aktionsprogramm Nordwest-Niedersachsen die Schaffung von weiteren 68 000 neuen Arbeitsplätzen, davon 34 000 Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe, sowie die Sicherung von 4000 vorhandenen Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe vorgesehen. Von den hierfür vorgesehenen Förderungsmitteln trägt der Bund etwa 50 %. Die Durchführung des Rahmenplans fällt in die alleinige Zuständigkeit der Bundesländer, in diesem Fall also des Landes Niedersachsen.Die Bundesregierung hat bei ihren konjunkturpolitischen Dämpfungsmaßnahmen den Belangen strukturschwächerer Gebiete stets besondere Beachtung geschenkt. Sie hat sich dabei von den von ihr beschlossenen und vom Konjunkturrat für die öffentliche Hand gebilligten Grundsätzen für die Abstimmung der Förderungsmaßnahmen des Bundes, der Länder und der Gemeinden in der regionalen und sektoralen Strukturpolitik leiten lassen, wonach konjunkturpolitische Maßnahmen strukturpolitische Erfordernisse zu berücksichtigen haben. Die fast vollständige Schonung der regionalen Förderungsmittel bei den konjunkturpolitischen Haushaltssperren des Bundes zeigt dies sehr deutlich. An diesen bewährten Grundsätzen wird die Bundesregierung auch in Zukunft festhalten und Belange strukturschwächerer Gebiete angemessen berücksichtigen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann.
Herr Staatssekretär, berücksichtigt die Bundesregierung bei ihren Planungen, daß in Nordwest-Niedersachsen aufgrund des dort noch vorhandenen hohen Geburtenüberschusses in den nächsten 20 Jahren das Angebot an Arbeitskräften unablässig weiter wachsen wird?
Die Planungen erfolgen in Zusammenarbeit zwischen dem Bund und dem Land Niedersachsen, so daß ich
die Gefahr einer Nichtberücksichtigung dieses Tatbestands nicht sehe.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, beachten Sie trotz Ihres Hinweises auf die beachtlichen Leistungen der Bundesregierung, daß die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend waren, um der kritischen Arbeitsmarktsituation in Nordwest-Niedersachsen zu begegnen? Ist die Regierung bereit, zusätzliche Maßnahmen einzuleiten?
Es ist durchaus möglich, daß die großen Leistungen, die vom Bund und vom Land Niedersachsen vollbracht worden sind, nicht ausreichen. Ich bitte aber dabei zu berücksichtigen, daß a) die Länder vom Bund Dotationen erhalten und daß wir b) bei der Umsatzsteuerneuverteilung und bei den Ergänzungszuweisungen an finanzschwache Länder die Tatbestände, die Sie aufgezeigt haben, berücksichtigt haben. Wir hoffen, daß aufgrund der besseren Finanzausstattung des Landes Niedersachsen auch die Dinge, die Sie angesprochen haben, bewerkstelligt werden können.
Eine weitere Zusatzfrage,
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, der ungünstigen Berufsstruktur aufgrund des hohen Anteils an Bauarbeitern in Nordwest-Niedersachsen durch entsprechende Maßnahmen zu begegnen, damit dort mehr Dauerarbeitsplätze entstehen?
Die Bundesregierung wird in Übereinstimmung mit dem Land Niedersachsen versuchen, diesem Zustand soweit wie möglich abzuhelfen.
Die Frage 21 des Abgeordneten Konrad wird vom Ressort des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft beantwortet. Damit sind wir am Ende der heutigen Fragestunde.
Ich darf darauf hinweisen, daß interfraktionell vereinbart worden ist, die Tagesordnungspunkte 13, 14 und 32 nicht heute, sondern morgen, Punkt 32 gegegebenenfalls — das wird noch geklärt — in der nächsten Woche, behandelt werden. Auf jeden Fall kommen morgen die Punkte 13 und 14 dran.
Herr Abgeordneter Wagner hat um das Wort gebeten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die drastische Ge-
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Dr. Wagner
bührenerhöhung bei der Deutschen Bundespost hatin der Öffentlichkeit starke Erregung hervorgerufen.
Dies war der Anlaß für unsere Dringlichkeitsfragen. Die Antwort der Bundesregierung ist absolut unbefriedigend.
Sie schafft weder Klarheit über die weitere Gebührenpolitik der Bundesregierung, noch hat sie irgendeinen Weg aufgezeigt, wie zweifellos entstehende soziale Härten gemildert werden können.Wir beantragen deshalb, um eine weitere Klärung des Sachverhalts herbeizuführen, eine Aktuelle Stunde gemäß Anlage 3 Ziff. 2 unserer Geschäftsordnung. Wir hoffen, mit diesem Antrag auch dem Herrn Staatssekretär Gscheidle entgegenzukommen, der vorhin beklagt hatte, daß er die Anfragen auf Grund der Regeln der Fragestunde nicht ausführlich behandeln könne. Ich bitte um Unterstützung dieses Antrages.
Meine Damen und Herren, es ist Aktuelle Stunde beantragt. Der Antrag ist ausreichend unterstützt. Ich rufe daher die
Aktuelle Stunde
auf
Wird das Wort begehrt? — Herr Abgeordneter Dollinger!
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst von dieser Stelle einen herzlichen Genesungswunsch an den erkrankten Herrn Minister Leber. Wir haben eine gute Vertretung, ich möchte sagen: den heimlichen Postminister.
Meine Damen und Herren, die Deutsche Bundespost ist eine der modernsten Postinstitutionen der Welt.
Die Deutsche Bundespost ist das größte Unternehmen an Dienstleistungen, was wir haben. Und dieseDeutsche Bundespost steckt in einer schweren Krise.
Herr Staatssekretär Gscheidle, Sie sagten, daß bereits zu meiner Zeit 1969 — eine Gebührenerhöhung hätte erfolgen müssen. Ich möchte deshalb auf die Finanzübersicht 2493 vom 26. März 1969 verweisen, in der die Gewinne errechnet waren:
für 1969 450 Millionen DM, für 1970 450 MillionenDM, 1971 485 Millionen DM, 1972 445 Millionen DM,
1973 300 Millionen DM.
— Die Zahlen können Sie alle noch bekommen. Die Drucksache liegt bei der Post vor. Sie werden mir recht geben müssen, daß das keine Spekulationen waren, sondern daß sich das im Rahmen der üblichen Rechnung der Deutschen Bundespost hielt.
Gleichzeitig war in dieser Übersicht vorausberechnet, daß das Eigenkapital von 28 %
bis zum Jahre 1973 auf 32 % steigen sollte.
Meine Damen und Herren, wenn damals der Bundespostminister gekommen wäre und gesagt hätte: Gebührenerhöhung! — ich hätte einmal das Gelächter, den Hohn und den Spott von der linken Seite des Hauses erleben mögen!
Diese Zahlen traten nicht ein. 1970 531 Millionen Defizit, 1971 1,6 Milliarden DM, 1972 962 Millionen DM — das bedeutet in drei Jahren einen Verlust von 3 Milliarden DM. Der Verlust in den nachfolgenden beiden Jahren 1973 und 1974 ist auf 1,2 Milliarden DM geschätzt. Und das nach den drei Jahren von 1967, 1968 und 1969, wo die Post einen Gewinn von 1,2 Milliarden DM hatte!Hier stellt sich nun die Frage: Wie kam es letzten Endes zu dieser Entwicklung? — Nun wird sehr schnell gesagt: Das sind die Personalkosten.
Der Herr Minister Leber hat wiederholt gesagt:70 % Personalkosten. Diese Zahl ist falsch. Im letzten Inserat ist die richtige Zahl mit 57 % angegeben.Meine Damen und Herren, ich möchte klar feststellen: Die Beschäftigten bei der Deutschen Bundespost sind nicht überbezahlt. Das, was hier an Gehaltserhöhungen, Besoldungserhöhungen notwendig war, mußte erfolgen, damit der Anschluß an die übrige Kostenentwicklung, die durch die schleichende Inflation bedingt ist, gewahrt wurde.
Wenn das die Deutsche Bundespost nicht getan hätte, hätte sie vermutlich den Personalbedarf überhaupt nicht mehr decken können. Wir dürfen hier also nicht von Personalkostensteigerung sprechen, sondern müssen sagen: die notwendige Personalkostensteigerung auf Grund der gestiegenen Lebenshaltungskosten durch eine falsche Wirtschaftspolitik.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Die Investitionen, meine Damen und Herren, bejahen wir — wir wissen um die Schwierigkeiten —; aber es ist doch festzustellen, daß im Nachtragshaushalt für das Jahr 1971 370 Millionen DM für die Preissteigerung bei den vorgesehenen Investitionen angefordert worden sind.
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Dr. DollingerAuch hier haben Sie wieder einen entscheidenden Grund, nämlich die schleichende Inflation verteuert die Investitionen, und deshalb stimmt dann die Rechnung nicht.
Einen weiteren Punkt möchte ich anfügen. Die Defizite — ich nannte vorhin in drei Jahren 3 Milliarden DM — zwangen dazu, Zwischenfinanzierungen durchzuführen. Wenn Sie eine fehlende Milliarde zu 7 % aufnehmen, haben Sie einen neuen zusätzlichen Posten, der den Etat belastet.Meine Damen und Herren, ich meine, daß das Ministerium die Entwicklung nicht rechtzeitig gesehen hat; denn Herr Minister Leber hat bereits im Frühjahr 1971 auf einer Personalratskonferenz von einem Defizit in Höhe von 1,7 Milliarden DM gesprochen. Hier stellt sich nun die Frage: Warum hat die Erhöhung tatsächlich erst im September 1971 stattgefunden, und warum hat sich Herr Minister Leber in der Bundesregierung gegenüber Herrn Minister Schiller mit seinen Forderungen nicht durchgesetzt, wodurch das Loch, das Defizit, nicht kleiner, sondern praktisch größer geworden ist?
Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn man sich im Postministerium mehr mit Finanzfragen beschäftigt hätte als mit den organisatorischen Spielereien, die durchgeführt worden sind.
Meine Damen und Herren, das Ganze ist aber nicht isoliert als Deutsche Bundespost zu sehen, sondern als ein Bestandteil der Wirtschaftspolitik. Diese Wirtschaftspolitik ist schlecht, und das wirkt sich hier aus.Herr Staatssekretär, diese Politik der Deutschen Bundespost ist im finanziellen Bereich nicht solide. Die Rechnung, die Sie aufgemacht haben, stimmt nicht. Man muß die Frage stellen: Was soll aus dieser Deutschen Bundespost werden? Ich meine, das größte deutsche Staatsunternehmen ist ernsthaft gefährdet und parallel dazu auch die private Wirtschaft.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Apel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wir lassen uns von Ihnen, Herr Kollege Dollinger, keine schwere Krise der Deutschen Bundespost aufschwatzen.
Dieses Unternehmen leistet alles, was es für diese Volkswirtschaft leisten kann, und zwar in hervorragender Weise. Tatsache ist allerdings, daß wir im Gegensatz zu Ihnen den Mut haben, jetzt zum zweitenmal auf Grund gestiegener Kosten Gebührenerhöhungen zu verlangen.
Denn Sie werden ja wohl auch nicht bestreiten, daß dieses Unternehmen Bundespost zu kostendeckenden Tarifen arbeiten muß.
Und nun wollen wir uns doch einmal einen Augenblick darüber unterhalten, woher denn diese Defizite kommen.
Das zentrale Problem ist doch — das können wir überhaupt nicht wegdebattieren —
die Tatsache, daß wir im letzten Jahr endlich durch eine Besoldungsvereinheitlichung auch bei der Deutschen Bundespost die Stellenkegel und die allgemeine Bezahlung haben wesentlich verbessern können. Und Sie sprechen doch hier mit gespaltener Zunge! Auf der einen Seite nehmen Sie für sich in Anspruch, daß auch Sie dem Briefträger mehr Geld gebracht haben, und auf der anderen Seite sprechen Sie von dem armen Rentner. Dies ist die doppelte Moral der Opposition, die ich hier anprangere.
Meine Damen und Herren, in diesem Jahre erhöhen sich die Renten um zirca 10 %.
Natürlich erhöht sich auch die Grundgebühr fürs Telefon.
Aber nun tun Sie doch nicht so, als habe jeder Kleinrentner ein Telefon. Und im übrigen wissen Sie genauso gut wie ich,
daß es den § 75 des Sozialhilfegesetzes gibt, der ausdrücklich darauf hinweist, daß jeder, der als Behinderter, als sozial Schwacher auf das Telefon angesen ist,
um Kontakt mit seiner Umwelt zu haben, dieses Telefon von der öffentlichen Hand bezahlt bekommen kann. Nun tun Sie doch nicht immer so, als sei das nicht so!
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Dr. ApelNehmen Sie doch endlich einmal sich selbst und Ihre eigene Argumentation ernst!
Meine Damen und Herren, wenn wir nun einmal über die Post und ihre einzelnen Dienstzweige sprechen, dann sollen Sie uns jetzt hier die Frage beantworten, wie Sie denn eigentlich mit dem Defizit der Bundespost, das Sie beklagen, fertig werden wollen. Wie wollen Sie das eigentlich?
Sind Sie der Meinung, daß die 300 oder 400 Millionen DM, die jetzt noch an die Bundeskasse abgeführt werden, ausreichen? Sie würden eben nicht ausreichen!
Und wenn Sie sich im einzelnen die Unterdeckungsgrade in den einzelnen Postdiensten anschauen, werden Sie merken,
daß dies alles sehr zurückhaltend, daß dies alles vernünftig ist.Eine letzte Bemerkung.
Sie, Herr Kollege Dollinger, haben das, was wir mit der neuen Postverfassung versuchen, als „politische Spielerei" abgetan. Ich nehme hier zur Kenntnis, daß sich Ihre Fraktion kräftig an dieser Spielerei beteiligt hat;
schließlich haben wir ja von Ihnen einen eigenen Entwurf vorliegen.
Aber eines können Sie doch überhaupt nicht bestreiten: In der Vergangenheit ist die Debatte um Gebührenerhöhungen bei der Post immer eine politische gewesen. Und dafür haben wir durchaus Verständnis; dies sind auch politische Preise. Aber es gibt doch nur einen Weg, aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, und das ist unser Weg,
der Weg nämlich, daß in Zukunft dann, wenn die Bundesregierung --- aus welchen Gründen auch immer — Gebührenerhöhungen verweigert -- und die sind dem Herrn Stücklen wie dem Herrn Dollingergenauso verweigert worden, wie es auch zu anderen Zeiten geschehen ist —,
diese Bundesregierung zur Ader gelassen, d. h. zur Kasse gebeten wird.
Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist sich ihrer Verantwortung bewußt.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat mit schwerem Herzen zur Kenntnis genommen, daß wir Gebührenerhöhungen bei der Post brauchen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nimmt zur Kenntnis, daß insbesondere die Wirtschaft durch eine Reihe von Gebührenerhöhungen getroffen wird, daß hier Kostensteigerungen entstehen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion lehnt es aber entschieden ab, daß Sie aus diesem Thema billig — ich unterstreiche: billig — politisches Kapital schlagen wollen,
indem Sie den Rentnern und den kleinen Leuten in unserem Lande etwas einreden wollen,
was in der Tat nicht gegeben ist.
Wir weisen das ganz entschieden zurück!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten ja zur Zeit das Postverfassungsgesetz, und alle Mitglieder dieses Hauses — vornehmlich die, die an der Beratung aktiv teilnehmen — sind der Auffassung, daß der Post in ihrer Verfassung — daran gibt es ja keinen Zweifel, also gibt es bis jetzt noch keinen Grund, den Kopf zu schütteln — die Möglichkeit gegeben werden muß, dieses — wie vorhin ausgeführt — größte Dienstleistungsunternehmen der Welt nach kaufmännischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen.
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10166 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
OlleschNun sind wir, meine Damen und Herren, an der Gebührenerhöhung nicht unmittelbar beteiligt. Sie ist von dem Gremium, das für die Führung der Post zuständig ist, vom Postverwaltungsrat, beschlossen worden, und zwar aus den Grundsätzen heraus, daß dieses Unternehmen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt werden muß, d. h. die Leistungen der Post, die sie für die Allgemeinheit erbringt, müssen entsprechend honoriert werden. Die Leistungen müssen ihre Finanzierung durch die Gebühren finden — müssen! —, es sei denn, wir wären bereit, den Steuerzahler antreten zu lassen, wenn eine Unterdeckung der Kosten durch nicht ausreichende Gebühren eintritt.Nun fragen Sie, ob die Bundesregierung der Auffassung ist, daß der Beschluß verantwortet werden kann. Ja, meine Damen und Herren, würden Sie nicht eine Gebührenerhöhung angesichts der Tatsache verantworten wollen,
daß die Dienstleistungen bezahlt werden müssen,
und zwar entsprechend den Kosten? Meine Damen und Herren, wir stehen zu dem Grundsatz, daß jede Leistung ihren Preis fordert.
— Herr Kollege Stücklen, wir haben damals keinen Einspruch eingelegt. Wir waren der Auffassung, daß Gebührenerhöhungen vorgenommen werden müssen, wenn sich die Notwendigkeit ergibt.
Das haben wir getan, als wir mit Ihnen in der Regierung waren,
siehe 1964, das tun wir heute in einer Zeit, in der wir mit den Sozialdemokraten in der Regierung sind.
Meine Damen und Herren, ich habe bisher aus Ihren Argumenten nur entnehmen können,
daß Sie kein Nein zu der Gebührenerhöhung sagen und auch nicht sagen können aus der Verantwortung heraus, die Sie ja auch führen und tragen. Sie kritisieren, daß diese Gebührenerhöhung zu spät kommt, um das Ziel zu erreichen, die Post auf eine wirtschaftlichere Grundlage zu stellen, als sie zur Zeit vorhanden ist.
Meine Damen und Herren, darüber kann man sich streiten. Wir sind auch mit Ihnen der Auffassung, daß die Gebührenerhöhung des vergangenen Jahres in ihrem Umfange nicht ausreichend war.
Das ist eine Frage des Standpunktes des einzelnen. Ich verwahre mich aber dagegen, daß Sie, wenn Sie hier die Postgebührenerhöhung betrachten, Ihren allgemeinen Unwillen darüber einfließen lassen, daß diese Regierung, so wie sie sich zeigt, im Amte ist,
und daß Sie versuchen, durch die Hintertür der Postgebührenerhöhung hier Kritik an der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung zu üben,
ohne daß Sie in der Lage sind, andere und bessere Argumente aufzuzeigen, und ohne daß Sie in der Lage sind,
Alternativen aufzuzeigen. Sie haben auch heute in der Fragestunde und in den Fragen, die Sie ansetzten, mit keinem Ton zu erkennen gegeben, wie Sie sich denn die Sanierung der Bundespost vorstellen. Das haben Sie bisher nicht getan.
Die Regierung hat ja ihr Ja
zu den Beschlüssen des Postverwaltungsrates gesagt. Da brauchen Sie diese Regierung nicht mehr zu fragen. -
— Meine Damen und Herren, Sie werden nicht in der Lage sein, mich hier oben in Verwirrung zu bringen.
— Die Regierung ist für diesen speziellen Fall hier im Hause ausreichend vertreten, und ich bitte Sie, mit Anstand zur Kenntnis zu nehmen, daß der zu- ständige Minister erkrankt ist.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972 10167
OlleschDas ist auch gelegentlich der Fall gewesen, als Sie verantwortlich den Postminister stellten.
Meine Damen und Herren, ich darf abschließend feststellen: Sie versuchen am Fall Bundespost der Regierung wieder etwas am Zeuge zu flicken.
Sie wollen Unwillen über diese Regierung in die Bevölkerung hineintragen. Das war Ihre Tätigkeit in den zwei Jahren bisher. Wir sehen dieser Tätigkeit auch für die Zukunft bis 1973 in Ruhe entgegen.
Das Wort hat der Abgeordnete Breidbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit etwa 30 Minuten ist die Bundesregierung darüber informiert, daß hier eine Aktuelle Stunde über eine Gebührenerhöhung in Höhe von 2 Milliarden DM stattfindet. Ich darf feststellen, daß die Bundesregierung bisher nicht bereit war, sich dieser Debatte über die Gebührenerhöhung zu stellen.
Gestatten Sie mir eine zweite Feststellung. Ich glaube, es ist bezeichnend für die Bundesregierung, die in ihrer Regierungserklärung mehr Demokratie und mehr Information versprochen hat,
daß sie einen beamteten Staatssekretär in dieser
schwierigen Situation hier für sich allein sitzen läßt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir eine dritte Feststellung. Ich bewundere den Mut des Kollegen Apel, vor diesem Hause zu erklären, daß die Opposition aus dieser Debatte über die Gebührenerhöhung politisches Kapital schlagen wolle.
— Herr Kollege Apel, Sie gehören der gleichen Fraktion an, die bei einem Gebührenerhöhungsvolumen von etwa 275 Millionen DM im Jahr 1964 den Deutschen Bundestag unter erheblichen Kosten aus dem Urlaub zurückgeholt hat.
Ich darf Ihnen empfehlen, sich einmal die Reden durchzulesen, die damals gehalten worden sind. Dann sehen Sie den Unterschied zwischen einer fairen politischen Diskussion und politischen Auseinandersetzungen, wie Sie sie aus der Opposition heraus geführt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir einige wenige Feststellungen.
Die erste Feststellung: Die Ursache für die Postgebührenerhöhung mit ihren Auswirkungen auf die sozial Schwachen, auf weitere Preissteigerungen innerhalb der Wirtschaft und auf weitere Kostenkonsequenzen auch im Bereich der Massenmedien ist nur bei recht oberflächlicher Betrachtung im Bereich der Deutschen Bundespost zu suchen.
Die wahren Ursachen für diese Gebührenerhöhung liegen in einer verfehlten Wirtschaftspolitik des Ministers, der heute hier sitzen müßte.
Ich darf zum Beweis dieser Feststellung an einen Artikel des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen vom Dezember vergangenen Jahres im SPD-Pressedienst erinnern, in dem er selber zugibt, daß z. B. das Fernmeldewesen bei einigermaßen stabilen Preisen kostendeckend arbeiten könnte.
Die zweite Feststellung: Es ist die gleiche Bundesregierung, die diese Gebührenerhöhung vornimmt, und es sind die gleichen Parteien, die sie tragen, die noch 1969 dem Wähler stabile Preise, sichere Arbeitsplätze in krisenfester Wirtschaft und jeden Versuch staatlicher Preistreiberei zu unterdrücken versprochen haben.
Wir müssen heute feststellen, daß neben steigenden Preisen, Inflationsverlusten bei den Sparern und einem Rückgang der Realeinkommen der Verdacht — —
— Sie können ruhig lachen! Wir haben Preissteigerungsraten von 6 0/o. Damit gehen die Realeinkommen zurück.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Apel hat vorhin gesagt: „Es gibt nur einen Weg, um dieser Situation auszuweichen, und das ist unser Weg." — Ich darf Ihnen antworten: Ich kenne einen anderen Weg, nämlich das zu tun, was Sie 1964 gefordert haben, endlich einen vernünftigen Wirtschaftsminister einzusetzen, der eine Wirtschaftspolitik betreibt, die eine Dynamisierung auch staatlicher Preise zukünftig verhindert.
Meine Damen und Herren, versuchen wir doch alle, es so einzu-
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Vizepräsident Frau Funckerichten, daß der arme Redner seine Stimme nicht überstrapazieren muß.Das Wort hat Herr Staatssekretär Gscheidle.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich mich bei der Opposition für die Genesungswünsche für Herrn Leber bedanken und dann gern die Gelegenheit nehmen, in größerem Zusammenhang die Grundlagen zu erläutern, die zu dieser Situation geführt haben. Ich bin auch Herrn Abgeordneten Dollinger außerordentlich dankbar, daß er in seinen Ausführungen die Fragen richtig gestellt hat. Sie gestatten den Hinweis, Herr Dollinger: Ich hatte den Eindruck, Sie haben die Fragen von meiner Sicht aus nicht richtig beantwortet, aber richtig gestellt.Wie ich bereits ausgeführt habe, ist es schwer, ein Unternehmen dieser Größe aus einer punktuellen Betrachtung heraus zu beurteilen. Das geht weder aus dem Jahr X noch aus dem Jahr Y. Sie haben nun darauf hingewiesen, daß sich die Gewinnerwartungen, die die Bundespost hatte, ausgehend vom Jahr 1969, nicht erfüllt haben. Dies ist richtig. Es gehört sicherlich zu Ihren Erfahrungen. Herr Dollinger, und zu denen Ihrer Vorgänger, daß auch zu früheren Zeiten sich die Erwartungen einer mittelfristigen Planung leider nicht erfüllt haben. Das liegt in der Natur der Sache, in der Entwicklung der Wirtschaftsdaten.Aber Sie haben die richtige Frage gestellt: Wie kam es denn zu dieser Entwicklung? Da darf ich einmal die Geduld des Hauses etwas in Anspruch nehmen. Das läßt sich durch Zahlenreihen, soweit sie in der Kürze vorgetragen werden können, ganz gut aufzeigen.1949 hat die Bundespost mit einem Gesamtkapital von 2,2 Milliarden DM angefangen. Nun will ich einmal in wenigen Punkten die Entwicklung dieses Unternehmens aufzeigen. 1949 waren es also 2,2 Milliarden DM, 1953 waren es 3,5 Milliarden DM. Damals fand die erste Debatte darüber statt. Ausgehend vom Jahre 1952 war sich der damalige Postminister im klaren, daß es für dieses Unternehmen von großer Schädlichkeit sein wird, wenn man die einzelnen Dienstzweige nicht kostendeckend macht, wenn man also aus politischen Gründen den Zeitungsdienst hängen läßt, den Paketdienst hängen läßt, den Zahlungsdienst hängen läßt, weil ja durch den Ausgleich dies alles dann im gewinnträchtigen Fernmeldewesen verdient werden muß. Herr Minister Schubert hatte damals in diesem Bereich eine Gebührenerhöhung von 600 Millionen DM pro Jahr vorgesehen. Er ist damit politisch nicht durchgedrungen. Interessant ist auch die Frage — ich will es nicht ausspinnen —: Was wäre denn bei der Bundespost eingetreten, wenn er sich durchgesetzt hätte?
Meine Herren, dann hätte die Bundespost heute ein größeres Eigenkapital, rund 18 Milliarden DM. Sie können sich selbst ausrechnen, in welcher anderen Situation wir dann wären.Erst im Jahre 1953 — Herr Stücklen, Sie erinnern sich — wurde der Postverwaltungsrat installiert, wurde versucht, einige offene Fragen der Bundespost gesetzlich zu regeln — wie wir alle wissen, nicht ganz befriedigend; sonst wäre nicht erklärbar, warum alle Fraktionen dieses IIauses, insbesondere in der Mitte der 60er Jahre, versucht haben, das zu lösen. Dies ist Ihnen damals allerdings nicht gelungen, aber es wird jetzt mit der Regierungsvorlage angegangen. Ich kann nur noch einmal befriedigt feststellen, daß zumindest in den Bereichen der finanziellen Beziehungen und der Wirtschaftsführung Übereinstimmung besteht.Sehen Sie, der nächste Ansatz zu einer Korrektur war erst 1964 möglich. Interessanterweise konnte sich Herr Stücklen damals auch nur auf die Aussage dieser vom Bundestag eingesetzten Kommission beziehen und dort den Rückhalt gewinnen, der politisch notwendig war, um sich mit Gebührenanpassungsmaßnahmen durchzusetzen.
— Jawohl, aber 1964 hatten wir bereits die Außerungen des Bundesrechnungshofes, die von den „7 Weisen" bestätigt wurden. Herr Abgeordneter Stücklen, die Gebührenerhöhung 1966 wurde im wesentlichen auch durch diese Unterstützung getragen.Was die sozialdemokratische Bundesregierung bei der Bundespost angetroffen hat — das war die rechte Frage, die Herr Dollinger gestellt hat—,
war die Situation, daß wir zwar im Fernsprechdienst — —
— Meine Herren Abgeordneten, ich hatte darauf überhaupt nicht Bezug genommen. Ich hatte lediglich festgestellt, was 1969 von dieser Bundesregierung übernommen wurde. Ich habe in die Historie gar nicht hineingeleuchtet.
— Ich bitte um Nachsicht. Die Herren zumindest derFDP werden mir nicht unterstellen, daß ich das mit Absicht so gesagt habe.
— Ich merke, Sie werden unruhig. Ich lese wirklich nur Zahlen vor, die eindeutig abgesichert sind.Wir haben zwar im Fernsprechdienst in der Kostenrechnung ein Plus von jährlich einer Milliarde
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Staatssekretär GscheidleDM übernommen, aber wir haben gleichzeitig auch folgende Unterdeckungen übernommen: im Briefdienst 236 Millionen DM, Päckchendienst 152 Millionen DM, Paketdienst 589 Millionen DM, Zeitungsdienst 415 Millionen DM, Gelddienst 515 Millionen DM, Postreisedienste 120 Millionen DM. Dies war die Bestandsaufnahme.
— In der Gesamtrechnung. Herr Dollinger, Sie haben die Frage gestellt: Wie ist eigentlich diese Entwicklung zu erklären? Was ich versuche, Herr Dollinger, ist, hier klarzustellen, daß die Ursachen dieser Entwicklung bis in das Jahr 1952 zurückgehen. Denn es war klar: Wenn Sie in Ihrer Gebührenpolitik zulassen, daß derartige Kostendeckungsgrade von nur 30 % erreicht werden, können Sie dies bei der Reaktion des Marktes nicht in einem Sprung abbauen, sondern Sie müssen sich bemühen, den Abbau in mehreren Perioden vorzunehmen, um das Fernmeldewesen nicht ständig mit dem Ausgleich zu überlasten.Das hat in der Folge zu der Entwicklung geführt, die ich vorhin schon einmal kurz angedeutet habe, nämlich zu dieser unheimlichen Auszehrung des Eigenkapitals mit einigen ganz fatalen Folgen. Herr Abgeordneter Dollinger hat vollkommen recht, wenn er auf die relative Beziehung und Bedeutung der Personalkosten hinweist. Es wird kein Zweifel daran bestehen, daß es in diesem Hause niemanden gibt, der den Postbediensteten etwa nicht gönnt, was sie in den letzten Jahren bekommen haben. Aber Sie werden auch nicht umhin können, bei der Uberprüfung der statistischen Reihe festzustellen, daß es eben gerade diese Regierung war, die stärker als vorherige Regierungen
durchgesetzt hat, in den notwendigen Anpassungsprozessen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes einen unbestrittenen Nachholbedarf aufzuholen.
— Natürlich mit dem Durchschlagen auf die Rechnung.Richtig ist, daß Sie sagen, neben den Personalkosten gebe es natürlich auch andere Faktoren. Das ist richtig. Herr Abgeordneter Dollinger, in der Tat sind die notwendigen Tilgungs- und Zinsleistungen für das Fremdkapital zu stark gestiegen, eben weil in der ganzen Phase von 1952 bis 1969 oder 1970 dem ständig nicht genügend Rechnung getragen wurde.Im übrigen will ich der Objektivität halber folgendes sagen. Es fehlt einfach am Verständnis dafür, daß die Gebühren eines solchen Unternehmens nicht nur die Kosten decken sollen, sondern auch einen Eigenfinanzierungsbeitrag erwirtschaften müssen, der laufend — weil er zunächst als Gewinn ausgewiesen wird — einer öffentlichen Kritik unterzogen wird. Hier sind gemeinsame Anstrengungen notwendig, dies fortzusetzen.Zurück zu Ihrer Frage. Hier besteht einfach die Notwendigkeit, diesen Zustand zum einen durch die Schaffung anderer gesetzlicher Grundlagen, zum anderen aber auch dadurch abzubauen, daß man die Gebührenpolitik auf diese Erkenntnisse einrichtet. Ich darf dies verdeutlichen. Ich beziehe mich jetzt auf den Entwurf der CDU/CSU und unterstelle, Sie hätten diesen Entwurf, den Sie jetzt einbringen, in dieser Frage übereinstimmend mit der Regierung bereits früher eingebracht, etwa zu der Zeit, wo Herr Stücklen die Amtsführung übernommen hat. Dann wären Sie bereits durch Gebührenmaßnahmen oder über Ausgleichspflicht gezwungen gewesen — die haben Sie in Ihrem Entwurf ja auch vorgesehen —, im Jahre 1963 2,2 Milliarden DM mehr einzubringen, 1964, 2,8 Milliarden DM, 1965 2,9 Milliarden DM usw., bis sich das im Jahre 1970 auf 2,1 Milliarden DM aufaddiert hat. Wenn man jetzt neu herangeht, kommt man in der Tat zu der unangenehmen Konsequenz dieser großen Gebührensprünge, bis man ein ausreichendes Eigenkapital zur Entlastung des Kapitalmarkts gebildet hat.In den ersten Jahren des Bestehens der Bundespost war die Bundespost für den Kapitalmarkt überhaupt kein Problem. Aus der Betrachtung 1972 bis 1974 ergibt sich, wenn man in den Investitionen der am Markt auftretenden Nachfrage nachfolgen will, ein Bedarf von 32 Milliarden DM, pro Jahr ein Betrag von mehr als 10 Milliarden DM. Dies ist, bezogen auf die Möglichkeiten des Kapitalmarktes, nicht mehr darstellbar. Folglich ist dieses Unternehmen gezwungen, über seine Erträge oder durch Zuschüsse — sofern dies möglich ist — sich da entlasten zu können. Dies wird versucht.Ohne eine Gebührenerhöhung und ohne Bundeshilfe wäre das Eigenkapital der Bundespost bereits mit Beginn des Jahres 1972 unter Null gewesen, d. h. 1973 wäre die Situation gekommen, durch Schuldenaufnahmen Schulden abdecken zu müssen. Dies konnte niemand gutheißen. Ich kann in diesem Zusammenhang nur sagen: Gerade diese Bundesregierung hilft der Bundespost in ihrer Kapitalausstattung in einem sehr viel stärkeren Maße, als das früher möglich war. Denn sonst würde auch die jetzt durchgeführte Gebührenerhöhung allein nicht ausreichen, den Eigenkapitalanteil wenigstens in dieser Entwicklung zu halten, in dem Ansatz, wie er sich, 1972 wohlgemerkt, ergibt.
— Sehen Sie, ich habe schon versucht, in der Fragestunde darauf eine ganz objektive Antwort zu geben. Wir können nur unterstellen, daß die Daten, die wir unseren mittelfristigen Planungen zugrunde gelegt haben, eintreten.
— Meine sehr verehrten Abgeordneten, es hilft dochnichts, daß Sie versuchen — ich sage das aus der
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Staatssekretär GscheidleSicht dieses Unternehmens — sozusagen an der einen oder anderen Stelle mit Ihnen gut erscheinenden Polemiken an der Problematik der Bundespost vorbeizudiskutieren.
Dieses Unternehmen hat seine Aufwendungen durch eigene Erträge zu erwirtschaften. Um dies tun zu können, sind solche Gebührenmaßnahmen notwendig.Es ist zweitens notwendig, daß man die Erkenntnisse aus jahrelangen Diskussionen zieht. Die erste Regierung, die das getan hat, ist diese Bundesregierung, indem sie dies, was übereinstimmend seit 1964 als notwendig diskutiert wird, im Bereich der Finanzen, im Bereich der Wirtschaft eingebracht hat.
— Sie sind gegen den Vorschlag, aus naheliegenden Gründen. — Nun hat der Herr Breidbach — —
Herr Staatssekretär, die Regierung hat jederzeit das Recht, solange und so oft zu sprechen, wie sie möchte. Die Spielregeln der Aktuellen Stunde sehen für die Abgeordneten fünf Minuten vor. Die Vertreter der Regierung sollen sich im allgemeinen auch daran halten. Sie können sich aber gern nachher noch einmal melden. Nicht, daß Sie jetzt im Satz abbrechen sollen, aber ein wenig möchten wir schon die Zeiteinteilung einhalten.
Sie waren so freundlich, mich meinen Satz aussprechen zu lassen. Ich habe gar keine Mühe, jetzt sofort abzubrechen. Ich danke für den Hinweis und akzeptiere ihn auch. Ich habe sicherlich Gelegenheit, zu späterer Zeit noch einmal einzugreifen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wuttke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß heute gerade dieser Regierung wegen der Gebührenerhöhung Vorwürfe gemacht werden, wundert mich, besonders dann,
— warten Sie, es geht weiter! — wenn diese Vorwürfe auch von ehemaligen Postministern wie den Kollegen Stücklen und Dollinger erhoben werden, die beide bereits damals aus dem Postgutachten vom November 1965 Folgerungen hätten ziehen müssen.
Ihr damaliges Verhalten nötigt heute die Bundesregierung, Maßnahmen zu treffen, die zwar unpopulär, doch zwingend notwendig sind.
— Lesen Sie es nach, Herr Breidbach! Ich war damals auch noch nicht im Bundestag. Aber ich habe mir die Mühe gegeben, das Postgutachten durchzulesen.
Es wurde gesagt, die Bundespost stecke in einer schweren Krise,
die Post müsse saniert werden. Wo bleiben denn die Maßnahmen?
— Wir sprechen jetzt nicht über die Regierung, wir sprechen über die Deutsche Bundespost, und das wollten Sie doch. Oder möchten Sie auch diese Debatte wieder umfunktionieren?
Sie sind sich also mit uns darüber einig: die Post muß saniert werden.
Wo blieben denn in den Jahren nach dem Krieg die Maßnahmen? Denn das Defizit bei der Deutschen Bundespost besteht ja nicht erst seit heute,
sondern man hätte schon lange versuchen müssen, dieses Defizit abzubauen. Heute wird so getan, als ob bei der Post überhaupt nichts getan worden sei. Dieser Vorwurf trifft ja letztlich auch Herrn Stücklen und Herrn Dollinger. Heute jedenfalls, unter dieser Regierung, wird für die Post mehr getan als zu Ihrer Zeit, meine Herren.
Aber das erkennen Sie nicht, oder Sie wollen es ganz einfach nicht erkennen.
— Die Regierung ist im Augenblick nicht da, die ist heute nicht da.
— Aber wo sind denn Ihre Kollegen, lieber Herr Kollege, bei dieser Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben? Ihre Seite ist genauso leer. Nur, Sie schreien so laut, als ob sie voll besetzt wäre.
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Wuttke— Nun, ich möchte zu meinen Ausführungen kommen und nicht zu dem, was Sie hier haltlos dazwischenwerfen, Herr Jobst.Diese Regierung und die sie tragende Koalition haben Maßnahmen getroffen. Ich meine, die Ertrags- und Kapitalentwicklung der Post erfordert eben massive kostensenkende und ertragsteigernde Maßnahmen. Auf dem Gebiet der Rationalisierung ist einiges getan worden. Die Post hat beachtliche Rationalisierungserfolge erzielt.
— Nicht die Postleitzahlen! Mit solchen Bagatellen befassen Sie sich, Herr Lemmrich!
Einer allgemeinen Leistungszunahme von 63,7 % in den Jahren 1962 bis 1970 steht eine Steigerung des Gesamtpersonalbestandes von 5,8 % gegenüber. Da spiegelt sich die Rationalisierung mit dem Rationalisierungseffekt bei der Deutschen Bundespost wider.
— Sie möchten wieder dieses alte Thema anrühren und versuchen immer von einer Sachargumentation abzulenken. Das ist Ihre Methode.
Sagen Sie mal etwas zu konkreten Zahlen! Aber das überspielen Sie, meine Herren.
— Sie haben mal dringesessen und haben trotzdem nichts getan, Herr Stücklen.
Herr Kollege Wuttke, einen Augenblick.
Meine Herren und Damen, es zu allen Zeiten in diesem Hause als ausreichend gegolten, wenn die Regierung durch Staatssekretäre oder Parlamentarische Staatssekretäre in ihrem Ressort vertreten war.
Wir sollten bei dieser guten Übung bleiben.
Damit bitte ich Sie fortzufahren, Herr Wuttke.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie fordern ständig Einschränkungen. Sie fordern einerseits die Ausweitung von Dienstleistungen, auf der anderen Seite fordern Sie Abbau des Defizits. Wie widersinnig sind doch diese beiden Forderungen, wenn sie mit der gleichen Stärke erhoben werden! Wir prüfen die Möglichkeit. Aber überprüfen Sie einmal Ihre Forderung in bezug auf die Ausweitung der Dienstleistungen. Wir haben die Möglichkeit von Ersparnissen bei der Deutschen Bundespost durch eine Einschränkung von Dienstleistungen überprüft.
— Herr Haase, lassen Sie uns doch mal sprechen!
Wir stören ja auch nicht, wenn Ihre Kollegen reden.
Wir haben z. B. den Wegfall der zweiten Briefzustellung und den Abbau unwirtschaftlicher Linien im Postreisedienst überprüft. Dabei sind der Einschränkung des Personals enge Grenzen gesetzt. Die Übernachfrage 'im Fernmeldebereich ist nicht zuletzt auf den Personalmangel zurückzuführen.
Sie wollen verstärkte Subventionierung.
— Ja, aber wie wollen Sie denn die? Da müssen Sie mit konkreten Vorschlägen kommen, Herr Kollege. — Sie möchten wieder subventionieren. Aber was bedeutet das, die Deutsche Bundespost subventionieren? Das bringt der Deutschen Bundespost nur rein rechnerisch eine Entlastung, verlagert aber die Lasten der Deutschen Bundespost von dem Postbenutzer, von dem Postkunden auf den Steuerzahler, und wer dann letztlich die Lasten trägt, das wissen wir.
Herr Kollege, die fünf Minuten sind leider herum, auch nach Abzug meiner Zwischenbemerkung.
Sie werden die Möglichkeit haben, über die Deutsche Bundespost auch noch bei der Debatte über die Unternehmensverfassung der Deutschen Bundespost zu sprechen. Da haben Sie die Möglichkeit, zu zeigen, ob Sie wirklich der Deutschen Bundespost 'helfen wollen oder ob Ihr Gerede nur Phrasen sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Stücklen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wuttke, Sie haben eine undankbare Aufgabe wahrzunehmen gehabt. Daß Sie Ihren Unmut dann über mich ausgelassen haben, bedaure ich ein bißchen. Aber Sie sind nicht der, der hier Rede und Antwort stehen sollte.
Der Rede und Antwort stehen sollte, ist nicht da. Sein Staatssekrertär ist hier. Aber es scheint, Herr Schiller steckt wie ,die Post in einer solchen Krise, daß er andere Aufgaben im Augenblick zu lösen hat als diese hier.
Da wir den desolaten Zustand dieser Regierungkennen, insbesondere den des Herrn Doppelmini-
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Stücklensters Schiller, verzichten wir darauf, von unserem geschäftsordnungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen, Herrn Schiller zu zitieren.
— Das weiß Herr Wuttke weniger, nur aus der Historie. Aber da unten sitzen ja die Verantwortlichen, die 1964 das ganze deutsche Volk aufgerufen haben, sich gegen die Gebührenmaßnahmen der Bundespost zu wenden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich zitiere:Durch die Untätigkeit dieser Bundesregierung gibt es nicht nur eine schleichende Pleite bei der Bundesbahn, sondern auch eine schleichende Pleite bei der Bundespost.Dies der bis vor kurzem noch Parlamentarische Staatssekretär Börner in jenem gleichen Ministerium, das heute der Öffentlichkeit astronomische Gebührenerhöhungen zumuten muß.
Ein anderer, der hier mit in diesem Saal ist, hat erklärt:Die ganzen Schwierigkeiten, denen sich ,die Bundespost derzeit gegenübersieht, gehen eindeutig zu Lasten der Bundesregierung.Dies Herr Staatssekretär Gscheidle in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte gar nicht weiter in Ihrem schlechten Gewissen herumwühlen;
denn ein schlechtes Gewissen müssen Sie doch haben. Wenn Sie kein schlechtes Gewissen haben,
daß Sie hier nun eigentlich das vertreten müssen, was Sie 1964 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages anklagend verurteilt haben,
dann haben Sie eben jene Moral, von der Herr Apel sagte, daß sie einen doppelten Boden hat.
Meine Damen und Herren, ich darf ganz kurz zusammenfassen. Die Verantwortung für die Inflationspolitik, die zu einer allgemeinen Kosteninflation geführt hat, trägt diese Bundesregierung und nicht die Deutsche Bundespost.
Die Deutsche Bundespost als ein personalintensiver Betrieb ist ein von der Kostenexplosion besonders stark betroffenes Opfer dieser Inflationspolitik.
Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, daß auchdie Angehörigen der Deutschen Bundespost an derLohn- und Gehaltsentwicklung partizipieren müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, 1970 hat sich bereits das Defizit abgezeichnet, ein Defizit, das weit über die Halbmilliardengrenze hinaus ging. Ich habe Herrn Minister Leber ermahnt und ich habe es wirklich gut gemeint,
aus meiner eigenen Erfahrung habe ich ihn gemahnt, und Sie waren dabei, Herr Apel. Hier sitzt noch ein Zeuge, Herr Leicht. Ich habe ihn gemahnt: Herr Leber, lassen Sie die Zügel nicht schleifen. Korrigieren Sie das Defizit bei der Deutschen Bundespost rechtzeitig!
Nein, meine Damen und Herren; 1970 waren fünf Landtagswahlen, und da fehlte der Mut zur Einsicht.
Die 1971 durchgeführte Gebührenerhöhung war nicht konsequent und entsprach in entscheidenden Punkten nicht den Erfordernissen des Unternehmens Deutsche Bundespost. Weil ich weiß, wer der Schuldige ist, deshalb hätten wir gern den Wirtschafts- und Finanzminister, Herrn Schiller, hier gehabt,
damit er uns hätte Rechenschaft geben können, warum er die Deutsche Bundespost nicht die Maßnahmen durchführen ließ, die notwendig gewesen wären, um dieses Unternehmen leistungsfähig zu erhalten und das Defizit abzubauen.Nun darf ich in einer anderen Richtung zusammenfassen, meine Damen und Herren, Sie fragen immer, was wir tun würden, was unsere Alternative ist.
— Ich beziehe mich jetzt nicht auf Erler, sondern Sie erfahren es von mir, Herr Apel, ob Ihnen das gefällt oder nicht.Erstens. Die Abführung an den Bund soll ab sofort so lange ausgesetzt werden, bis das Eigenkapital mindestens 33 % ausmacht.Zweitens. Gleichbehandlung der Deutschen Bundespost mit der Bundesbahn im Kostenbereich der politischen Lasten.Drittens. Konsequente Fortführung der seit Jahren eingeleiteten Rationalisierungsmaßnahmen.Viertens. Ungebrochene Fortsetzung der Investionen insbesondere auf dem Fernmeldesektor entsprechend dem Verkehrszuwachs und der Nachfrage nach neuen Fernsprechanschlüssen.
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StücklenFünftens. Einschränkungen von Dienstleistungen sind keine sinnvollen Maßnahmen zur Verbesserung der Ertragslage bei der Bundespost. Solche Überlegungen werden von der CDU/CSU abgelehnt.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hermsdorf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte erwartet, daß die Opposition bei dieser Aktuellen Stunde auf die von Herrn Staatssekretär Gscheidle hier zu der Situation der Bundespost dargelegten Zahlen eingegangen wäre. Wenn sie das nicht konnte, hätten zumindest die CDU/CSU-Mitglieder des Verwaltungsrates diese Zahlen bestätigen müssen. Dies ist nicht geschehen.
Sie haben hier versucht, allgemeine politische Polemik zu betreiben und eine Debatte im Stil der bisherigen Konjunkturdebatte zu führen.
Das, was Sie hier am Schluß betrieben haben, hat mit der Aktuellen Stunde über die Bundespost nichts zu tun. Sie haben das fortgesetzt, was Sie jeden Tag hier versichern, nämlich eine preispolitische Debatte zu führen und die Panik in diesem Lande anzuheizen. Das ist Ihr Ziel, das Sie hier anstreben!
— Verzeihung, Sie müssen uns erlauben, wenn Sie hier eine Stunde lang nichts als Polemik betreiben, daß wir als Regierung nicht die Hände falten, sondern im gleichen Ton antworten. Dies ist das Recht des Hauses.
Sie hatten hier kritisiert, daß der Wirtschaftsminister nicht da ist. Verzeihung, haben Sie hier eine Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht vorziehen wollen, oder wollten Sie eine Anfrage zu den Postgebühren an die Regierung richten? Sie wissen genau, daß der Postminister im Krankenhaus liegt. Der Staatssekretär ist doch hier; was wollen Sie eigentlich noch mehr?
— Entschuldigung, Herrn Minister Schiller vertrete, laut Gesetz, in diesem Fall ich als Parlamentarischer Staatssekretär.
— Also Ihnen gebe ich überhaupt keine Antwort! Damit Sie genau Bescheid wissen, woran Sie bei mir sind!
Sie haben vorhin gesagt, daß der Wirtschaftsminister, als die Postgebühren im Jahre 1970 angehoben werden sollten, Widerspruch eingelegt habe. Ich bestreite das überhaupt nicht. Aber nun müssen Sie mir einmal die Logik beweisen!
Hier werfen Sie dem Postminister vor, daß er Gebühren erhöhe, und dort werfen Sie dem Wirtschaftsminister vor, daß er sie nicht genug habe erhöhen lassen. Wo ist eigentlich die Logik Ihrer Schlußfolgerung?
Weiter muß ich hinzufügen: der zuständige Minister, nämlich der Verkehrs- und Postminister, hat bei der Beratung des Einzelplans im Haushaltsausschuß ganz klare Ausführungen gemacht, wie er sowohl bei der Bundesbahn als auch bei der Bundespost seine Prinzipien und seine Politik weiterzuführen gedenke.
Ich stelle fest, daß dort im Haushaltsausschuß, als diese Ausführungen gemacht wurden, selbst die Opposition Herrn Leber zugestimmt und Beifall gezollt hat.
— Sie nicht! Sie können das überhaupt nicht, das ist völlig klar!
Sie haben dort im Ausschuß so getan — obwohl Sie Verwaltungsmitglied der Bundesbahn sind —, als wenn Sie dort das erstemal hätten fragen dürfen. Sie hätten sich im Verwaltungsrat der Bundesbahn darum kümmern müssen; das ist der Punkt!
Nun zur Sache, Herr Kollege Stücklen. Sie haben hier fünf Vorschläge gemacht, über die man sich absolut unterhalten kann.
— Natürlich, wenn er so weiter macht, kommt vielleicht noch irgend etwas Vernünftiges dabei heraus, das ist durchaus möglich.
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10174 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
Parlamentarischer Staatssekretär HermsdorfHerr Stücklen, Sie kennen genau so gut wie der Herr Kollege Dollinger und alle, die mit der Post zu tun gehabt haben, die Entwicklung hinsichtlich der Gebühren bei der Post und wissen, daß wir immer den Punkt gehabt haben, daß die Post nicht zum rechten Zeitpunkt — welche Konstellation es in diesem Hause auch gegeben hat, die Gebühren so erhöhen konnte, wie es der Postminister eigentlich vorgeschlagen hatte.
Jetzt schlagen Sie vor, daß man sozusagen durch Gleichschaltung einen ähnlichen Zustand wie bei der Bundesbahn haben sollte,
daß man die politischen Lasten, die da sind, übernimmt. Ich halte diesen Vorschlag für ganz vernünftig. Nur muß ich Ihnen folgendes sagen: Erstens wissen Sie genau, warum Sie damals in Ihrer Fraktion mit diesem Vorschlag nicht durchgekommen sind — da haben Sie den Gedanken auch schon gehabt —, und zweitens wissen Sie, daß, wenn wir einen Vorschlag dieser Art machen, er hier im Haushalt wieder zur Kasse steht und dann die Folgen von hier aus bezahlt werden müssen. Das sollte man hier nicht so plötzlich in die Debatte werfen, sondern dazu gehört eine ernsthafte Vorarbeit. Ich würde folgendes vorschlagen: wenn diese Aktuelle Stunde einen Sinn haben sollte, setzen wir doch die Debatte mit dem Staatssekretär Gscheidle fort und bringen die Zahlen weiter; dann bin ich ganz sicher, daß Sie am Schluß auf unserer Seite sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat nötig, einmal nach dem Sinn dieser Aktuellen Stunde zu fragen,
wenn man die bisherigen Beiträge der Opposition zu werten versucht. Ich meine, ihr Sinn ist schon sehr deutlich geworden: sie ist eine Art Konditionstraining der Opposition für die Debatte, die wir gestern in vierzehn Tagen über den Jahreswirtschaftsbericht zu führen haben werden; denn auf etwas anderes läuft es in der Sache nicht hinaus.
Leider muß ich sagen: wenn die Ton- und Gangart, die Sie in den letzten 60 Minuten demonstriert haben,
für die Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht in vierzehn Tagen bestimmend sein soll, dann verheißt das nichts Gutes.
— Nein, nicht für die Regierung, auch nicht für die Koalition, sondern für das Ansehen des gesamten Hauses in unserem Land.
Sie haben gefragt, wie man der Unruhe begegnen wolle. In der Praxis bemühen Sie sich — nein, ich will nicht sagen, daß Sie sich bemühen, aber jedenfalls bewirkt dies Ihr Verhalten —, die Unruhe weiter zu steigern, um nicht zu sagen, Unruhe zu stiften.
Ich muß noch einmal darauf hinweisen, daß insbesondere die Bedeutung der Personalkosten auch von Ihnen nicht bestritten werden kann. Es ist schon wiederholt gesagt worden, daß auch Sie die entsprechenden Maßnahmen gebilligt haben. Zum Teil hing das Ausmaß der Personalkostenerhöhung, die bei der Post besonders stark durchgeschlagen ist, von Ihren eigenen Vorstellungen ab, die wir mitberücksichtigen mußten, um die Grundgesetzänderung durchzubekommen. Das muß man doch dabei einmal sehen.
Sie haben sich Ende 1969, als es bei den Tarifverhandlungen für 1970 darum ging, den Innenminister bei seinen Verhandlungen — die Verhandlungslinie war 8 % — zu stärken, nicht gescheut, hier im Hause 12 % zu beantragen. Dann müssen Sie natürlich auch die Folgen mittragen.
— Herr Schiller wird Ihnen dazu in vierzehn Tagen— davon gehe ich aus — genügend zu sagen haben.
Wenn ich es richtig sehe, hat es die Opposition gar nicht darauf angelegt, sich hier gegen die sachliche Notwendigkeit und die sachliche Berechtigung der Gebührenerhöhung auszusprechen. Es ging ihr nur um zweierlei, einmal darum, die Schuld daran der Regierung und der Koalition in die Schuhe zu schieben,
und zweitens darum, eine ganz billige Revanche für Ereignisse zu nehmen, die es früher einmal gegeben haben mag oder auch tatsächlich gegeben hat.
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KirstIch kann Ihnen dazu nur sagen: alte Fehler, von wem immer sie begangen worden sein mögen, werden nicht dadurch besser, daß andere Leute sie wiederholen. Das habe ich Ihnen schon ein paarmal gesagt. Vielleicht denken Sie einmal darüber nach.Sie haben an 1964 erinnert. Ich darf Sie daran erinnern, daß insbesondere eine Institution, die Ihnen zur Zeit kräftig Hilfestellung leistet, dazu mit beigetragen hat. Aber das nur am Rande.
Sie haben nach den Verantwortlichen für die Geldwertentwicklung gefragt.
Meine Damen und Herren, handeln Sie christlich— ich will die entsprechende Stelle nicht zitieren — und suchen Sie einmal die Schuldigen auch in Ihren Reihen!
Wer hat denn den Minister, den Sie heute immer wieder angreifen, 1968/69 daran gehindert, das Nötige zur rechten Zeit zu tun? Suchen Sie doch einmal in Ihren eigenen Reihen!
Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Ich stelle noch einmal fest: Sie haben die Notwendigkeit der Gebührenerhöhung nicht nur nicht bestritten, sondern praktisch bestätigt.
— Ich habe auf die Ursachen hingewiesen. Die Ursachen liegen in der Tat — nun schreien Sie nicht gleich, sondern hören Sie mich zu Ende an — in der Geldwertentwicklung. Das ist völlig richtig, soweit .es sich nicht um die Personalkostenentwicklung im besonderen handelt. Ihr Fehler, Ihr absichtlicher Fehler, ist ,es immer nur, die Ursachen denen zuzuschieben, die sie nicht zu verantworten haben.
— Die Tatsache, daß Sie so schreien, spricht dafür, daß Sie sich nicht gerade im Recht fühlen. Soweit die entscheidenden Ursachen in der politischen Führung liegen, liegen sie vor dem Regierungswechsel 1969. Im übrigen — ich werde Ihnen das notfalls noch ,ein dutzendmal sagen — liegen die entscheidenden Ursachen für unsere wirtschaftliche Entwicklung nicht im Bereich der politischen Verantwortlichkeiten. Sie verleugnen mit Ihrer Argumentation und Ihren Forderungen fortgesetzt das marktwirtschaftliche System, das wir gemeinsam aufgebaut haben, und zwar mit Ihrem dauernden Rufen nach dem Staat. Denn umgekehrt kann die Behauptung, die Regierung sei schuld, immer nur als ,ein Rufen nach dem Staat ausgelegt werden.
Sie sollten einmal logisch sein.Frau Präsidentin, darf ich zum Abschluß noch einen Satz sagen, weil er mir wichtig scheint. Herr Stücklen war es, glaube ich, der sinngemäß doch den Vorwurf gemacht hat, daß die Gebührenerhöhung 1971 nicht kräftig genug, nicht ausreichend gewesen sei.
Herr Hermsdorf hat das ja auch angesprochen. Lassen Sie mich — und denken Sie einmal darüber nach — sagen: Ich gebe zu, wir hätten vielleicht 1971 noch kräftiger erhöhen sollen; vielleicht ist aber diese Entscheidung durch die Art und Weise mitbestimmt gewesen, wie Sie seit zweieinhalb Jahren in diesem Land Opposition machen; das mußte man leider auch in Rechnung stellen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schedl.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Kirst, Sie haben zwar der Opposition vorgehalten, daß wir hier Konditionstraining für den Jahreswirtschaftsbericht betrieben, ich bin aber eher der Meinung, daß Sie sich im letzten Teil ihrer Ausführungen um dieses Training bemüht haben. Ich glaube, Sie haben das wohl auch sehr nötig, wenn ich mir diesen Bericht und die Situation in der Wirtschaft vor Augen halte.Einige kurze Bemerkungen noch zu dem, was Herr Staatssekretär Hermsdorf, der in mutiger Haltung für den eigentlich verantwortlichen Minister hier stehen muß, erklärt hat.
Herr Staatssekretär, Sie haben der Opposition Polemik vorgeworfen und gemeint, hier feststellen zu müssen, wir würden eine Debatte über die Preise führen. Ich muß Sie fragen: Haben Gebührenerhöhungen nicht auch Einflüsse auf die Preise und auf die Preiserhöhungen?
Ich darf als Zeugen Ihren ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Erler zitieren, der ganz klar erklärt hat: Auch die oft beschworene Redlichkeit gebietet, das schlechte Beispiel öffentlicher Preistreiberei zu unterlassen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine, das müßte genügen, um diesen Hinweis zurückzuweisen.
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SchedlSie haben darüber hinaus erwähnt, Herr Staatssekretär Hermsdorf, daß wir nun gegen Schiller anträten, weil er erhöhe, daß wir aber im gleichen Zusammenhang darauf hinwiesen, daß er 1970 nicht erhöht habe. Das ist der Punkt, um den wir hier ständig streiten, daß versäumt wird,
das Rechte zur rechten Zeit zu tun.
Darum geht es uns. Deswegen hätte 1970 über diese Dinge gesprochen werden können.
— Wenn ich einmal die Chance habe, hier 30 Minuten zu sprechen, werde ich gern Ihre Fragen beantworten; bisher habe ich sie noch nicht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf einige Argumente, die durch die Koalition hier vorgebracht wurden, eingehen.
Herr Wuttke hat zu dem damaligen Verhalten der Bundespostminister ein Argument angeführt, das man gar nicht annehmen sollte. Eines lassen wir nicht vom Tisch reden: daß damals zwischen 1966 und 1969 immerhin noch 1,5 Milliarden DM Gewinn bei der Bundespost vorhanden waren,
daß im Jahre 1971 bei der Gebührenerhöhung Ihr verantwortlicher Minister Leber erklärte, er werde für dieses Jahr 145 Millionen DM Gewinn erwirtschaften. Daß wir aber nun vor 1,6 Milliarden DM Defizit und einer neuen drastischen Gebührenerhöhung stehen,
liegt nicht an den Personalkosten, wie das schon wiederholt gesagt wurde. Wir wissen, daß dieses Personal verantwortungs- und pflichtbewußt arbeitet. Es liegt vielmehr an der Kostenexplosion, die durch Ihre Wirtschaftspolitik zustande gekommen ist. Aus dieser Verantwortung, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, können Sie sich nicht herausreden.Eine kurze Bemerkung noch zu den Belastungen, die über die Gebühren erneut auf die mittelständische Wirtschaft zukommen. Die konjunkturpolitischen Wechselbäder seit dem Jahre 1969 haben die Situation gerade für den Mittelstand in keiner Weise verbessert. Sie selber mußten in Ihren letzten Berichten die Einkommensrückgänge ganz deutlich darstellen. Glauben Sie, daß mit diesen neuen Gebührenerhöhungen nicht wieder ein Teil dazugelegt wird, wodurch zum einen der Mut zum Selbständig-werden geringer wird und zum anderen auch diese Einkommen weiter abgebaut werden?Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß diese drastischen Gebührenerhöhungen noch eine Folgemit sich bringen können, nämlich daß gewisse Teile von der Bundespost weggehen werden. Ich erlaube mir, mit dem Einverständnis der Frau Präsidentin aus einer Veröffentlichung des Deutschen Industrie- und Handelstages kurz zu zitiren:Es muß auch vor der Annahme gewarnt werden, daß die Kostenlage der Post jederzeit einfach durch die Gebühren an die Kosten angeglichen werden kann. Die Post ist nicht mehr unentbehrlich — jedenfalls nicht mehr in allen Dienstleistungsbereichen.Wenn uns auch hier durch Ihre Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch etwas passiert, wie sollen wir dann gerade den weiten Bereich der zukünftigen Investitionen bewältigen, die notwendig sind, um den technischen Fortschritt entsprechend einzubauen? Wie wollen Sie diese Dinge nutzen, die ein Funktionieren gewährleisten, wenn auch auf dieser Seite noch Rückgänge kommen?Meine sehr geehrten Damen und Herren, die fünf Minuten sind leider abgelaufen. Ich habe mich bemüht, im Schnellzugtempo das vorzutragen.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie fragen immer nach den Alternativen. Lassen Sie mich das noch einmal unterstreichen, was viele Kollegen vor mir schon betont haben: Unsere Alternative ist eine Politik der Stabilität und nicht der Stagflation, wie sie derzeit betrieben wird; unsere Alternative ist eine bessere Wirtschaftspolitik.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Becker .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf vielleicht mit Genehmigung der Frau Präsidentin mit einem Zitat beginnen.
— Ach, ich glaube nicht, daß das nötig ist.
— Es ist für Sie ein sehr vorteilhaftes Zitat.
1963 ist ein Defizit von 250 Millionen entstanden. Ohne Gebührenerhöhung wäre 1964 mit einem Defizit von 385 Millionen D-Mark und 1965 mit einem Defizit von 876 Millionen D-Mark zu rechnen gewesen.
So der damalige Bundespostminister Stücklen. Die Opposition hatte seinerzeit gefragt: Warum wollen Sie die Gebühren erhöhen? Die Regierung hat darauf so geantwortet, wie ich zitiert habe.Die Situation ist heute kein bißchen anders. Es ist in der Zwischenzeit durch viele Dinge, über die hier Ausführungen gemacht wurden, eine Situation
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972 10177
Becker
eingetreten, die eben wieder Gebührenerhöhungen verlangt.
Ich will auf zwei Dinge eingehen, die hier der Kollege Breidbach dargestellt hat. Ich will nur deswegen darauf eingehen, weil ich meine, man sollte, wenn man sie darstellt, auch die Tatsachen, die Fakten, und die Wahrheit sagen.Es geht um den Rückgang der Realeinkommen, über den er hier gesprochen hat. Ich darf sagen: Nach Regierungsübernahme hat diese Koalition den Nachholbedarf für die Postbediensteten gedeckt. Und hier geht es um hunderttausende von einfachen Beamten, etwa um die Briefträger, die zur Zeit von Herrn Stücklen, nämlich am 1. Januar 1966,
372 DM Grundgehalt hatten.
Da haben wir in dieser Zeit etwas nachgeholt, und zwar, um Ihnen das genau zu sagen, 8 % am 1. Januar 1970; und es fiel die Tarifklasse 3 weg, die nur den einfachen und den mittleren Dienst — also die am schwächsten Verdienenden — betraf.
Wir haben am 1. Januar 1971
— ja, ich will Ihnen nur vorrechnen, daß Ihre Behauptung falsch ist
die Gehälter um 7% erhöht und haben einen Sockelbetrag
— jetzt wollen Sie das selbst nicht wahrhaben; dabei haben Sie sogar daran mitgewirkt — wieder für die sozial Schwächsten von 27 DM hinzugelegt. Das ist all das, was Sie früher vergessen haben.
Und wir haben am 1. Januar dieses Jahres die Gehälter um 4 % erhöht und haben 30 DM hinzugelegt, und das wieder für die sozial Schwächsten.
Und das hat eine Menge Geld gekostet,
weil Sie von 1964 bis 1966 überhaupt keine entscheidenden Gehaltsverbesserungen durchgeführt haben.
Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der in diesem Zusammenhang in bezug auf das Fernmeldewesen und seine Kostendeckung angesprochen worden ist. Diese Gehaltserhöhungen im Bereich der Post waren u. a. doch auch deswegen nötig, weil wir bei der Post immer noch einen Fehlbestand von 4000 Ingenieuren und 20 000 Technikern haben, so daß die Anschlüsse, auf die der Bürger draußen wartet, nicht so schnell hergestellt werden können. Für die entsprechenden Arbeitskräfte muß aber ein attraktives Angebot vorhanden sein, sonst kommen sie nicht, und der Bürger im Lande muß nach wie vor u. U. ein Jahr auf einen Fernsprechanschluß warten.
Da müssen wir doch etwas tun, und wenn das dazu führt, daß dafür diese Kosten aufgewandt werden müssen, dann muß auch etwas dafür getan werden, diese Kosten wieder abzudecken.Lassen Sie mich schließen. Wir haben damals in der Oppositionszeit Ihnen Vorschläge gemacht, wie das geregelt werden kann.
Sie haben hier heute Vorschläge gemacht. Nur: die damaligen Vorschläge hat die Regierung nicht übernommen. Wir dagegen legen Ihnen in wenigen Tagen eine neue Postverfassung vor, der Sie hoffentlich zustimmen, um dieses Unternehmen so wirtschaftlich zu machen, wie wir uns das alle gemeinsam wünschen.
Das Wort hat der Herr Staatssekretär Gscheidle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier haben zwei frühere Postminister erhebliche Kritik an der Post geübt. Es handelt sich also jetzt nicht um den anderen Teil, sondern um den konkreten Vorwurf: die Post sei nicht solide und es gebe eine Krise bei der Post.Der Herr Stücklen hat —
und das ermöglicht mir, die Dinge einmal zu konkretisieren — dazu fünf Vorschläge gemacht.Erster Vorschlag: Abgabe an den Bund. — Tatsache ist, daß es der CDU/CSU während der Zeit ihrer Verantwortung für die Bundespost nicht gelungen ist, die politischen Abgaben, deren Streichung jetzt gefordert wird, wegfallen zu lassen.
Im Gegenteil, im Jahre 1967 hat der damalige Postminister Dollinger mit Rücksicht auf die Haushaltslage des Bundes der Maßnahme zugestimmt, daß
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10178 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. März 1972
Staatssekretär Gscheidledie Bundespost ab 1968 auf 300 Millionen DM jährlich, die aus der Ablieferung der Post als Einlage auf Eigenkapital zukommen sollten, verzichtet. Erst seit 1972 fließen diese 300 Millionen der Post wieder zu.
Zweitens: politische Lasten. Es ist den früheren Ministern der CDU/CSU nicht gelungen, mit den beteiligten Ressorts eine Klärung darüber herbeizuführen, was politische Lasten sind. Wäre dies gelungen, hätten wir eine wesentlich bessere Ausgangsposition bei unseren Bemühungen um die Gesundung der Post.
Dritte Forderung: die Bundespost möge ihre Rationalisierungsmaßnahmen fortsetzen. Verehrter Herr Kollege, Herr Abgeordneter Stücklen, die Daten — 1950 als Basis 100 — zeigen, daß wir 1970 bei der Post einen Personalbestand von 145, im Verkehr aber, auf die gleiche Basis bezogen, eine Steigerung von 100 auf 411 haben. In den Jahren, in denen der Bundesminister Leber die Verantwortung trägt, sind die Rationalisierungserfolge nicht geringer geworden. Sie zeigen tendenziell eine Steigerung.
Vierter Vorschlag: Investitionen. Darf ich auch hier einmal eine gewisse Relation herstellen: Insgesamt sind die Anstrengungen der Bundespost auf diesem Gebiet der Investitionen ohne Beispiel. Selbst Siemens AG und Volkswagen AG zusammen bringen, bezogen auf den Umsatz, nicht im entferntesten die Leistungen bei den Investitionen auf, die die Bundespost aufbringt und entsprechend der Nachfrage im Fernsprechverkehr weiter aufbringen wird. Auch hier ist kein Anlaß, von Krise zu reden.
Fünftens: Einschränkung von Dienstleistung verhindern. Hier befinden wir uns in Übereinstimmung. Die Bundesregierung beabsichtigt, nur dort Dienstleistungen einzuschränken, wo nach der Situation des Marktes und der drängenden Kostensituation kein anderer Ausweg bleibt.Ich darf abschließend sagen: Ich bin dankbar für den wenigstens teilweise gemachten Versuch, durch Anregungen der Bundespost zu helfen. Meine Ausführungen, Herr Abgeordneter Stücklen, aus meiner Abgeordnetentätigkeit, die Sie zitiert haben, beinhalten die Kritik von mir an der damaligen Bundesregierung, daß sie die von Ihnen auch heute wieder vorgetragenen Punkte, die alle richtig sind, in 20 Jahren Verantwortung nicht einmal angepackt hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller-Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich doch meinen Respekt für Herrn StaatssekretärGscheidle zum Ausdruck bringen, der in einer schwierigen und bestimmt nicht beneidenswerten Situation
versucht hat, in sachlicher Weise praktisch den Kopf hinzuhalten für den Bundeskanzler, für den Wirtschafts- und Finanzminister
und für ein Versagen der Bundesregierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Staatssekretär Gscheidle hat in einer sehr höflichen Umschreibung den Kern der Dinge beim Namen genannt. Er hat darauf hingewiesen, man könne das Schicksal der Post nicht punktuell oder isoliert betrachten.
Das ist völlig richtig. Das Schicksal der Post ist eben mit dem Schicksal der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung verknüpft.
Nichts macht die Entwicklung der Post in den letzten Jahren deutlicher als folgende Gegenüberstellung von Zahlen. Von 1966 bis 1969 hat die Bundespost noch einen Gewinn von 1,5 Milliarden DM erwirtschaften können, und in der Zeit von 1970 bis einschließlich 1972 wird sie einen Verlust von 3 Milliarden DM vorzulegen haben.
Meine Damen und Herren, der Sinn der Fragen und der Sinn dieser Aktuellen Stunde war, von der Bundesregierung Auskunft zu bekommen, wie sie sich den Gang der weiteren Entwicklung bei Bundespost vorstellt. Ich stelle fest, daß wir keine entscheidenden Antworten, auch nicht von Herrn Gscheidle, erhalten haben, wie bei der Politik dieser Bundesregierung, dieser Politik der Instabilität und des Preisauftriebs die Bundespost aus dem Defizit herauskommen soll, wie man den technischen Fortschritt durch Investitionen sichern will, wie man soziale Härten insbesondere für die Rentner und die Schwerbeschädigten vermeiden will, wie die Gebührenpolitik wieder ein Stück Stabilitätspolitik werden soll und wie man ohne neue Gebührenerhöhungen mit den Problemen, der nächsten Jahre fertig werden will.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Makabre auch an der heutigen Debatte entsteht ja dadurch, daß wir eben genötigt oder veranlaßt sind, eine Gegenüberstellung des Verhaltens der Sozialdemokraten von heute und des Verhaltens der Sozialdemokraten von 1964 vorzunehmen. Damals, als es um in Quantität und Qualität wesentlich geringere Gebührenanhebungen ging, haben Sie das Parlament aus den Sommerferien geholt und so getan,
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Dr. Müller-Hermannals ob nicht nur eine Krise bei der Post, sondern als ob auch eine Staatskrise ausgebrochen wäre.
Ich kann Ihnen gerne Ihre Überschriften vorhalten oder vorlesen: „Preistreiber Erhard"; „Telefongebühren eine Luxussteuer" ; „Erhards neuer Fehltritt" ; „Kaufkraft der Mark übel zugesetzt"; „Maßlosigkeit der Maßlosen"; „Bundespostminister Stücklen muß noch am gleichen Tage zurücktreten" ; „Die Erhöhung der Telefongebühren ist unsozial" ; „Der Staat ist schuld an den hohen Preisen". Und Bundesverkehrs- und Bundespostminister Leber schrieb damals als Vorsitzender der IG Bau, Steine, Erden in der „Welt der Arbeit", daß durch die Tätigkeit oder Unfähigkeit der Bundesregierung die staatlich beeinflußten Preise doppelt so stark gestiegen seien wie die an unbeeinflußten Märkten entstandenen Preise. Nun, ich würde empfehlen, jetzt einen Vergleich zwischen der Preisentwicklung in der Wirtschaft und der bei den Bundesunternehmen anzustellen.
Meine Damen und Herren, um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Heute droht ein gutes und leistungsfähiges Unternehmen des Bundes kaputtgemacht zu werden, in eine nahezu katastrophale und ausweglose Lage gedrängt zu werden, nicht durch die Besoldungsentwicklung und nicht durch das Versagen der Post oder ihrer Bediensteten, sondern eben durch eine instabile und unfähige Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung. Das festzuhalten ist der Zweck dieser heutigen Aktuellen Stunde.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenders.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Herrn Müller-Hermann für seinen Schlußsatz eigentlich nur dankbar; denn dieser Schlußsatz, Herr Kollege Müller-Hermann, hat deutlich gemacht, weshalb Sie diese Aktuelle Stunde vom Zaun gebrochen haben.
Sie haben sie gar nicht wegen der Post, sondern lediglich deswegen vom Zaum gebrochen,
um die aus sachlichen Gründen notwendigen Gebührenerhöhungen der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung anzulasten.
Diesen Versuch machen Sie. Ich meine aber, er ist bisher gescheitert. Er ist auch an den sehr sachlichen und gut begründeten Ausführungen gescheitert, die wir in dieser Aktuellen Stunde von seiten der Regierungsbank gehört haben.
Auch Herr Kollege Breidbach hat sich in dieser Richtung geäußert. Er sprach von den Preisen und der Wirtschaftspolitik. Ich habe bisher den Eindruck, daß nicht nur von Ihnen, Herr Kollege Breidbach, sondern auch von einigen Ihrer Kollegen simple volkswirtschaftliche Zusammenhänge einfach nicht zur Kenntnis genommen werden. Zweitens hat die Opposition — ,da komme ich auf Herrn Kirst zurück, der das nicht weiter ausgeführt hat — in bezug auf Preise und Wirtschaftspolitik offensichtlich ein sehr kurzes Gedächtnis. Da gilt es einiges nachzuholen.
Sie, Herr Kollege Breidbach, haben von der Frage gesprochen, ob diese Bundesregierung weiterhin für dynamische staatliche Preise sorgen wolle.
Mir ist nicht ganz klar geworden, was ,das soll. Vielleicht wollten Sie fragen, ob auch in Zukunft Preise und Gebühren in den Dienstleistungsbereichen unserer Volkswirtschaft — auch die Bundespost ist ja ein Dienstleistungsunternehmen — steigen werden. Da kann ich Ihnen nur sagen: Mit dieser Problematik haben wir es in einer Volkswirtschaft mit stetigem Wachstum und steigendem Lebensstandard immer zu tun, nämlich in jenen Bereichen, die sehr hohe Personalkosten haben, ob das der Friseur oder die Bundespost oder ,die Straßenbahn ist. In solchen Bereichen haben wir es mit Kostensteigerungen infolge Personalkostensteigerungendeshalb zu tun, weil auch dort die Beschäftigten an der allgemeinen Entwicklung des Lebensstandards teilhaben müssen.
Damit müssen Wir uns auseinandersetzen.
Bei der Bundespost heißt das ganz simpel: Decken wir die zwangsläufig steigenden Kosten über die Gebühren oderdurch weitere Subventionen? Auf diese Frage müssen Sie eine Antwort geben, wenn Sie die jetzige Gebührenerhöhung kritisieren.
Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Nein! Sie regieren doch! — Weitere Zurufe von der
CDU/CSU und Gegenrufe von der SPD.)
— Ihre Zwischenrufe sind nicht gerade besonders qualifiziert. Im Augenblick kann ich nicht darauf eingehen.
.
Dann der zweite Punkt. Herr Kollege Breidbach und im Grunde auch Herr Müller-Hermann haben gesagt, diese Bundesregierung habe eine Wirtschaftspolitik gemacht, die zu Preissteigerungen führe, und sie sprachen von der Verantwortung der Bundesregierung für die Preisentwicklung. Ich will das einmal ein bißchen differenzieren. Diese Bundesregierung trägt Verantwortung gegenüber der Preisentwicklung, gegenüber der Wirtschaftspolitik. Letztlich regieren wir; das ist also ganz klar.
: Jedenfalls versuchen Sie das!)
Aber den Versuch, den Sie hier ständig machen,
der Bundesregierung zu unterstellen, sie habe diese
Lenders
Preissteigerungen verursacht — das ist ja das, was Sie sagen wollen —,
muß ich ganz entschieden zurückweisen. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Ich kann in fünf Minuten nicht alle Details darlegen. Aber ich kann Sie an eines erinnern; das bezieht sich auch auf steigende Personalkosten.
— Meine Herren von der Opposition, lesen Sie noch einmal das Sachverständigengutachten des Jahres 1970 nach.
Sie werden feststellen — es sind ja nicht nur diese Sachverständigen; ich könnte Ihnen eine ganze Latte anderer zitieren —, daß immer wieder gesagt wird, daß eine der entscheidenden Ursachen für das Preisniveau, das wir gegenwärtig haben, die wirtschaftspolitische Fehlentscheidung vom Frühjahr 1969 ist,
d. h. Ihre Entscheidung, seinerzeit Schiller in den Arm zu fallen, gegen die Aufwertung und gegen die Maßnahmen,
die er im Sinn hatte, um die innerdeutsche Preisentwicklung in den Griff zu kriegen.
Das ist eine der wesentlichen Ursachen für das Preisniveau heute.
Jetzt kommt der zweite Punkt, Herr Breidbach. Dabei zitiere ich im Grunde auch die Gewerkschaften. Was haben wir denn gehabt? Weil nämlich auf Grund der Verweigerung der Maßnahmen Schillers 1969 die Gewinnexplosion in dem erlebten Ausmaß eintrat, haben wir in der nachfolgenden Zeit eine Lohnentwicklung, einen Lohnschub gehabt, der sich eben auch für solche Unternehmen entsprechend auswirkt. Insofern tragen Sie daran ein erhebliches Maß an Verantwortung.
Ich kann das nicht weiter ausführen, weil die Zeit abgelaufen ist. Ich erinnere Sie aber an diese Dinge. Im übrigen: Regen Sie sich nicht auf. Wir sind für eine leistungsfähige Bundespost, und deshalb stimmen wir der Haltung der Bundesregierung in dieser Frage zu.
Als letzter hat das Wort Herr Abgeordneter Looft.
Sehr verehrte Frau Präsidentin, Meine Damen und Herren! Der Verlauf der Debattehat in weiten Teilen doch eine beklagenswerte Wandlung der Haltung von Mitgliedern dieses Hauses gegenüber Preissteigerungen gezeigt. Als 1964 die damalige CDU/CSU-FDP-Regierung die Postgebühren erhöhte, kam es zu einer Sondersitzung des Bundestages; es wurden Anträge von allen Fraktionen gestellt.Heute findet auf Antrag der CDU/CSU eine Aktuelle Stunde statt, und die Regierungsbank ist leer; kein Bundesminister ist anwesend. Ich meine, daß diese Wandlung in 'der Haltung gegenüber Preissteigerungen die Bevölkerung nicht davon abhalten wird, diese Preissteigerungen mit zunehmender Unruhe zu registrieren. Ich meine, dagegen können auch die Abwiegelungsversuche, die heute gemacht wurden und die jeden Tag draußen von den SPD-Rednern in den Versammlungen gemacht werden, nichts ausrichten.Das Argument der SPD-Redner, die Preise würden von den Unternehmern, von der Wirtschaft, und nicht von der Regierung gemacht, zieht hier nicht. Der Versuch dieser Kreise des Bundestages, die Verantwortung der Bundesregierung für die noch nie dagewesenen Preissteigerungen anderen zuzuschieben, ist ein untauglicher Versuch. Für die Gebühren der Post — eines der größten Dienstleistungsunternehmen der Bundesrepublik — trägt die Bundesregierung bisher noch eine entscheidende Verantwortung.Lassen Sie mich in meinem kurzen Debattenbeitrag schwerwiegende Argumente gegen die Gebührenerhöhung betonen. Ich werde meine Ausführungen sofort abbrechen, sobald ich die Zeitgrenze von 5 Minuten erreicht habe.Zunächst das soziale Argument. Die Erhöhung insbesondere der Telefongebühren um bis zu 40 % ist eine erhebliche Härte für die Rentner.
— Ich höre bis zu 80 %. Bei der Grundgebühr sind es 40 %.
In zahlreichen Fällen stellt das Telefon in einem Rentnerhaushalt die einzige Verbindung zur Familie her. Die oft gehbehinderten alten Menschen sind geradezu auf ein Telefon angewiesen, zumal sie dadurch die Möglichkeit haben, in Notfällen einen Arzt zu rufen oder in einer Apotheke Medikamente zu bestellen.Jetzt komme ich zum europäischen Argument. Die angekündigte Gebührenerhöhung steht nicht — das hat heute auch Herr Staatssekretär Gscheidle in Beantwortung meiner heutigen Frage festgestellt — im Einklang mit den Postgebühren in der Europäischen Gemeinschaft. Die auf allen Gebieten anstrebte europäische Harmonisierung ist auch hier mehr als wünschenswert, und die Erklärung von Herrn Gscheidle genügt nicht, daß die Bestandsaufnahme, die erforderlich ist, um objektiv solche Vergleiche ziehen zu können, in Arbeit ist.
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LooftNach den angekündigten Gebührenerhöhungen in der Bundesrepublik Deutschland wird das Porto für eine gewöhnliche Postkarte ca. 22 % über dem Durchschnitt liegen. Das Porto für einen gewöhnlichen Brief wird um ca. 38 % höher sein. Für eine gewöhnliche Drucksache wird das Porto um ca. 51 % höher sein als das der bisherigen und der zukünftigen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Eine europäische Harmonisierung ist dringend erforderlich; das wurde von der Regierungsseite — von Herrn Staatssekretär Gscheidle — eingeräumt. Diese Harmonisierung muß vor einer Gebührenerhöhung stehen. Ich bin deshalb der Auffassung, daß auch aus diesem Grunde die Bundesregierung die Gebührenerhöhung ablehnen sollte.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich bitte aber noch um drei Minuten Aufmerksamkeit: erstens, um Herrn Looft zu seiner Jungfernrede zu gratulieren; herzlichen Glückwunsch!
Zweitens, um mitzuteilen, daß die Tagesordnungspunkte 13 und 14 morgen früh als erstes aufgerufen werden. Dann folgt die Fragestunde. Der Tagesordnungspunkt 32 — GmbH-Gesetz — wird vertagt.
Drittens möchte ich Herrn Abgeordneten Stücklen das Wort zu einer persönlichen Bemerkung geben.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Claus Arndt hat in der Plenarsitzung am 1. März 1972 eine persönliche Erklärung folgenden Inhalts abgegeben:
Der Abgeordnete Stücklen hat mich am 23. Februar dieses Jahres aus einer Zeitung „Forum" zitiert. Ich kenne weder diese Zeitung noch habe ich darin etwas veröffentlicht. Dieses Zitat ist völlig unzutreffend.
Tatsächlich habe ich in meiner Rede zu den Ostverträgen laut Stenographischem Bericht wörtlich erklärt:
Wie sehr wir mit unseren Befürchtungen wegen der verschiedenartigen Auslegungen dieses Vertrages
— gemeint ist der Moskauer Vertrag —
recht haben, zeigen die Ausführungen im „Forum" — ich würde Ihnen dringend empfehlen, sie einmal zu lesen —, die von Ihrem Fraktionskollegen, MdB Claus Arndt, verfaßt worden sind. Hier steht:
Selten ist in einem völkerrechtlichen Dokument so deutlich zum Ausdruck gekommen, daß die beiden vertragschließenden Parteien in fast allen wichtigen Fragen des Völker- und Staatsrechts, die sie betreffen, dissentieren und dennoch ungeachtet dessen miteinander praktische Politik betreiben.
So weit mein Zitat.
Zu der persönlichen Erklärung des Kollegen Arndt ist folgendes zu sagen:
Das „Forum" existiert, und zwar als Rubrik der Zeitschrift „Deutschland Archiv". Der Kollege Arndt hat unter dieser Rubrik im Jahrgang 1970 des „Deutschland Archivs" auf Seite 1024 das von mir wiedergegebene Zitat gebraucht. Es deckt sich wörtlich mit dem Zitat, das ich in meiner Rede verlesen habe.
Wie sich dieser Tatbestand mit der Behauptung des Kollegen Arndt vereinbart, daß das Zitat — wie er wörtlich sagte — „völlig unzutreffend" sei, mögen, Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, selbst beurteilen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der heutigen Sitzung.
Ich berufe das Haus ein auf Freitag, den 3. März, um 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.