Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet . Nehmen Sie bitte Platz .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich .
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich dem Kollegen Heinz Wiese nachträglich zu seinem
71 . Geburtstag sowie dem Kollegen Ulrich Freese gra-
tulieren, der am Dienstag seinen 65 . Geburtstag gefeiert
hat . Ihnen wollen wir alle guten Wünsche des Hauses ins
neue Lebensjahr mitgeben .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Die transatlantischen Beziehungen zukunfts-
fest weiterentwickeln
Drucksache 18/8072
Dazu soll nach einer Vereinbarung der Fraktionen eine
Aussprache von 77 Minuten stattfinden. – Dazu stelle ich
Einvernehmen fest . Also können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Frak-
tion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich würde gerne einige Bemerkungen machen, dieüber den Text des Antrages von CDU/CSU und SPD hi-nausgehen . Dazu gehört am Beginn das Eingeständnis,dass die transatlantischen Beziehungen und namentlichauch die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht freivon mancher Befremdung und auch manchen Differen-zen sind .Aus europäischer und deutscher Sicht spielt dabei dieEntwicklungsgeschichte des Irakkriegs mit den fatalenFolgen einer Destabilisierung der ganzen Nahostregioneine erhebliche Rolle . Die NSA-Überwachungsaktivitä-ten haben uns empört, jedenfalls so lange, bis der BNDbei ganz ähnlichen Aktivitäten erwischt wurde .
Die inzwischen sehr starke ideologische Aufladungdes politischen Systems in den USA mit einer scharfenPolarisierung der Parteien im amerikanischen Kongressbefremdet uns . Sie geschieht ausgerechnet in dem Land,das uns Deutschen die Demokratie, die Bedeutung vonChecks and Balances und die zentrale Bedeutung, einenKompromiss zu finden, maßgeblich beigebracht hat.Wir beobachten zusammen mit vielen Amerikanernim derzeitigen Präsidentschaftsvorwahlkampf eine ArtVerwahrlosung der politischen Sitten . Gelegentlich gehtjedenfalls mir die Frage durch den Kopf, ob die viel zi-tierte Wertegemeinschaft auf Donald Trump noch zu-trifft . Die gesellschaftliche und politische Vorbildrolle,die die USA über lange Nachkriegsjahrzehnte gerade inDeutschland gehabt hat, ist jedenfalls deutlich getrübt .Fairerweise wird man allerdings auch sagen müssen,dass es aus US-amerikanischer Sicht ebenfalls einiges anBefremdung und Kritik gibt, was Europa und namentlichDeutschland angeht . Die Amerikaner können bis heuteein außen- und sicherheitspolitisch kohärentes KonzeptEuropas, in dem es selber Verantwortung für seine Si-cherheit übernimmt, nicht erkennen . Auch wehren siesich – teilweise nachvollziehbar, teilweise nicht – gegenerhebliche Vorwürfe, die ihnen gelegentlich wegen ihrerPolizistenrolle gemacht werden, die sie in vielen Regi-onen ausüben, während sie gleichzeitig für europäischeSicherheitsinteressen einspringen müssen .
Wir sind zwar gelegentlich befremdet und halten dasenorme amerikanische militärische Potenzial und seinenEinsatz für suspekt, aber wenn dann die sechste Flotteder Vereinigten Staaten von Amerika vor der östlichenMittelmeerküste patrouilliert und Präsenz zeigt und Ein-sätze auch gegen den IS fliegt, ist uns dies ganz recht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616232
(C)
(D)
Gelegentlich ist in dieser Debatte eine gewisse Heucheleifestzustellen .
Namentlich auch die deutsche sicherheits- und bünd-nispolitische Zuverlässigkeit ist jedenfalls manchmalvon den Amerikanern hinterfragt worden, nicht aktuell,aber in der Rückbetrachtung des letzten Jahrzehnts . DieUntätigkeit und Unwilligkeit der Europäer, die USA,die immerhin 70 Prozent des Verteidigungsbudgets derNATO finanzieren, gelegentlich auch zu entlasten, führtjedenfalls zu gewissen Missstimmungen in den USA .Das erstreckt sich aus der amerikanischen Sicht auch aufdie Unfähigkeit der Mitgliedstaaten der EuropäischenWährungsunion, den Euro zu stabilisieren und damit An-steckungsgefahren für das globale Finanzsystem einzu-dämmen . Das führt zu dem nicht sehr schmeichelhaftenpolitischen Attest, dass die Europäer selbst nicht in derLage seien, sich zu organisieren .So sind die transatlantischen Beziehungen Mitte deszweiten Jahrzehnts des 21 . Jahrhunderts keineswegs freivon Belastungen und Vorhaltungen . In Deutschland istdeshalb in manchen Debatten – wir werden das zugebenmüssen – auch gelegentlich ein Antiamerikanismus fest-zustellen . Umgekehrt ist in den USA ein zunehmendesDesinteresse an Europa festzustellen mit einer deutliche-ren Hinwendung zum asiatisch-pazifischen Raum.All dies vorausgeschickt und dessen unbenommenbleibt richtig, dass es keine andere so eng verbundeneStaatengemeinschaft gibt wie die Europas und der Verei-nigten Staaten von Amerika,
und zwar historisch, wirtschaftlich, zivilisatorisch, kul-turell und mit den enormen Errungenschaften der beidenatlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 mit denPrinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit,Menschenrechten und Marktwirtschaft . Das hat der deut-sche Historiker Heinrich August Winkler das normativeProjekt des Westens genannt .Ja, die Praxis mit ihren Unvollkommenheiten, mitihren Defiziten, mit ihren Ungerechtigkeiten und auchgelegentlich mit den Verletzungen dieser Prinzipien ent-sprach und entspricht nicht durchweg diesem normativenProjekt . Aber die Grundrechtserklärung von Virginia1776 und die französische Erklärung der Menschen- undBürgerrechte von 1789 sind und bleiben einzigartigeErrungenschaften, auf denen die Staatswesen in Europaund in den USA und unser gemeinsames Gesellschafts-system des Westens nach wie vor aufbauen .Diese Errungenschaften finden sich nicht in einem eu-rasischen Modell des russischen Präsidenten Putin . Diesefinden sich nicht in einem staatskapitalistischen Systemmit einem kommunistischen Überbau in China . Diesefinden sich nicht in islamischen Staaten. Diese findensich nicht in all den anderen Staaten autokratischer oderdiktatorischer Provenienz, sondern diese finden sich hier.
Wer auch immer deshalb die Frage – auch aufgrundgelegentlich auftauchender Kritik – nach einem anderenPartner, nach einem anderen Alliierten, mit dem wir inEuropa unsere Werte und beständigen Interessen ver-folgen können, auch nur unterschwellig stellt, der musspassen . Wer auch immer die Frage hinzufügt, ob Europaeines Partners auf der anderen Seite des Atlantiks bedarf,dem antworte ich mit einem klaren Ja .In einer gefährlichen Welt, in der einige Kräfte ihrUnwesen treiben, die nicht verhandlungsfähig und nichtverhandlungsbereit sind, mit den diversen Konfliktenund auch neuen sogenannten hybriden Kriegen an derPeripherie Europas, bleibt eine transatlantische Rückver-sicherung für Europa von zentraler Bedeutung .
Eine solche Rückversicherung verlangt von uns Eu-ropäern und auch von uns Deutschen aber auch einenBeitrag, der sich gewiss auf diplomatische, humanitäre,wirtschaftliche und entwicklungspolitische Anstrengun-gen erstrecken muss, der sich aber eben auch auf dieAbschreckungsfähigkeit der NATO und die Einsatz- undBündnisfähigkeit der Bundeswehr erstrecken muss .
Dieser Satz ist in der deutschen Öffentlichkeit nichtsehr populär, aber er gehört in diese Debatte . Man kannnicht nach einer globalen Ordnung rufen, die uns mög-lichst viel Chaos, Anarchie und menschliches Leid er-spart und dann der uns aus westlicher Sicht zwar nichtmehr singulären, aber jedenfalls immer noch dominanterscheinenden Ordnungsmacht, nämlich den USA, dieUnterstützung verweigern . Dies ist widersprüchlich .
All denjenigen – möglicherweise auch in diesem Hau-se –, die bei diesem Satz zögern oder sogar Zweifel anseiner Richtigkeit erwecken, stelle ich die Frage: Welcheandere Ordnungsmacht hätten Sie denn lieber?
Über die Sicherheitsaspekte, die ich bisher erwähnthabe, hinaus werden sich Europa und die USA mit massi-ven globalen Verschiebungen beschäftigen müssen . DerAnteil der Bevölkerung dieser beiden Kontinente bzw .Teilkontinente an der Weltbevölkerung ist in den letzten40 Jahren auf 10 Prozent zurückgegangen, und er wirdweiter schrumpfen . Der gemeinsame Anteil der USAund Europas am globalen Bruttonationaleinkommen istin dieser Zeit von 60 Prozent auf 45 Prozent zurückge-gangen, und er wird weiter abnehmen . Der Anteil dieserbeiden Kontinente bzw . Teilkontinente am Welthandelist von rund 30 Prozent auf inzwischen 20 Prozent zu-rückgegangen, und er wird weiter abnehmen . Das ist einIndiz dafür, dass wir es mit globalen tektonischen Ver-schiebungen zu tun haben . Die Welt wird multipolarermit dynamisch aufsteigenden Regionen . Darüber darfsich der atlantische Raum mit seinen politischen, gesell-Peer Steinbrück
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16233
(C)
(D)
schaftlichen, wirtschaftlichen und auch technischen Er-rungenschaften nicht marginalisieren .Schließlich sind die globalen Herausforderungen wieder Klimawandel sowie die Bekämpfung von Terroris-mus, organisierter Kriminalität, Pandemien und Steuer-betrug mit keiner anderen Macht zu lösen als mit denUSA . Ohne das Gewicht der USA an der europäischenSeite werden diese Probleme nicht bewältigt werdenkönnen .
Auf die aktuellen zentralen Probleme und kritischenEinwände zu dem Projekt, das uns am meisten in dentransatlantischen Beziehungen beschäftigt – das ist dasFreihandelsabkommen TTIP –, will ich nur wenige Wor-te verwenden, nicht aus Geringschätzung gegenüber denProblemen und kritischen Einwendungen, sondern ausZeitgründen . Mir sind – genauso wie Ihnen und weitenTeilen der Bevölkerung – alle diese Probleme bewusst .Ich will diese gar nicht in Abrede stellen . Aber ich möchteauf drei Aspekte in der Debatte über dieses Freihandels-abkommen aufmerksam machen .Erstens . Wer mit einem sehr skeptischen Blick aufdie teilweise anarchische Entwicklung der Globalisie-rung schaut, wird für Leitplanken und Verkehrsregeln imweltweiten Handel eintreten und sich die Frage stellenmüssen, ob in diesem Sinne TTIP nicht eine Chance ist .
Zweitens . Wenn sich die Europäer und die Amerika-ner nicht auf ein solches Freihandelsabkommen eini-gen – das kann passieren –, dann stellt sich die Frage,wer stattdessen die Spielregeln global bestimmen wird,
und das vor dem Hintergrund der Dynamik anderer Welt-regionen, die mit Sicherheit zu Ergebnissen kämen, dieeuropäischen Standards und europäischen Vorstellungennicht entsprechen würden . Die augenblickliche Debatte,die wir zur Lage der europäischen und deutschen Stahlin-dustrie führen, ist ein leichtes Indiz dafür, was es bedeu-ten würde, wenn andere die Leitplanken und Verkehrsre-geln im weltweiten Handel bestimmen würden .Drittens . Ist TTIP über seine ökonomische Bedeutunghinaus nicht auch von einem erheblichen strategischenStellenwert im Verhältnis von Europa zu den USA, oderwie würden sich die transatlantischen Beziehungen in ih-rer Qualität entwickeln, wenn TTIP scheitern sollte?Diese drei Fragen möchte ich über die ziemlich ni-veaulose Debatte über das Chlorhähnchen hinaus stärkeröffentlich debattiert haben .
Mein Plädoyer für eine Revitalisierung der transat-lantischen Beziehungen folgt keinem Verständnis einessubalternen oder bedenken- und kritiklosen VerhältnissesEuropas zu den USA, sondern einer sehr nüchternen Sichtauf unsere beständigen europäischen und deutschen Inte-ressen, getreu einem Zitat des ehemaligen britischen Pre-mierministers Lord Palmerston aus dem 19 . Jahrhundert,der einmal sinngemäß, bezogen auf England, gesagt hat,dass England weder ewige Freunde noch ewige Feinde,sondern nur beständige Interessen hat . Die beständigenInteressen Deutschlands und Europas gelten einem gutentransatlantischen Verhältnis .Vielen Dank .
Stefan Liebich ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke .
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wenn die transatlantischen Beziehun-gen wirklich die Bedeutung haben, die der KollegeSteinbrück eben beschrieben hat, dann finde ich es schonerstaunlich, dass kein einziger Minister an dieser Debatteteilnimmt .
Ich möchte mit einem Blick zurück beginnen . Heutevor 71 Jahren haben Truppen der Vereinigten Staaten undGroßbritanniens die niederländische Stadt Arnheim amRhein endgültig erobert . Damit ist der Zweite Weltkrieg,den Nazideutschland entfesselt hat, seinem Ende entge-gengegangen . Am 8 . Mai war es so weit: Die Sowjet-union, die USA, Frankreich und Großbritannien habenDeutschland befreit, und dafür sind wir uneingeschränktdankbar .
Das alliierte Bündnis hat nicht lange gehalten .Deutschland wurde in West und Ost geteilt, und im Wes-ten Deutschlands haben die USA eine Perspektive ange-boten, aus Hunger und Not zu entfliehen und das Landaus den Ruinen wieder aufzubauen . Diese Hilfe wurdeangenommen und war Grundlage für das Wirtschafts-wunder der 50er-Jahre. Viele Menschen empfinden dafürgroße Dankbarkeit . Es hat sich ein festes Bündnis zwi-schen der Bundesrepublik und den USA entwickelt, unddieses Bündnis wurde nach dem Beitritt der DDR auchauf den Osten Deutschlands übertragen .Am 12 . September 2001, also einen Tag nach denschrecklichen Terroranschlägen in New York City undWashington, hat Gerhard Schröder gesagt: Es geht umdie Tatsache, dass Deutschland fest an der Seite der Ver-einigten Staaten steht und uneingeschränkt – ich betonedas: uneingeschränkt – Solidarität übt .Uneingeschränkte Solidarität – das war lange dasDogma im Umgang mit den Vereinigten Staaten . Aber,liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeiten haben sichgeändert . Unser Bild von den USA ist nicht mehr vonden 50er-Jahren, der Nachkriegszeit geprägt – Rock ‘n‘Roll, Kaugummi, Elvis Presley – oder von den Protestengegen den Vietnamkrieg und den Koreakrieg . Ich glaube,dass die heutige Generation tatsächlich mehr über 9/11,Peer Steinbrück
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616234
(C)
(D)
über Bushs Krieg gegen den Terror, über die Lügen überMassenvernichtungswaffen im Irak, über die Bespitze-lung der US-Geheimdienste auch hier in Deutschlandnachdenkt und dass sie an US-Bürger wie Snowden undManning denkt, die als Whistleblower wichtige Ver-dienste haben .
Charles de Gaulle hat gesagt: Zwischen Staaten gibt eskeine Freundschaft, sondern nur Allianzen . Die Allianzzwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USAhat sich über die Jahrzehnte geändert . Ich würde sagen:Sie ist erwachsen geworden . Unter Erwachsenen kannman auch Nein sagen, und man muss Nein sagen, wennetwas erwartet wird, was man falsch findet.
Es war deshalb richtig, dass die damalige Bundesre-gierung dem Irakkrieg George W . Bushs widersprochenhat . Die Folgen dieses Krieges, wie zum Beispiel dieEntstehung der Terrororganisation Daesh oder ISIS, be-kommen wir bis heute zu spüren . Es war richtig, dasssich Deutschland nicht am NATO-Einsatz in Libyen be-teiligt hat, den vor allem Hillary Clinton vorangetriebenhat . Dieser Krieg hat eine ganze Region destabilisiert .Aber auch die USA haben sich verändert . Die Brückeüber den Pazifik ist mittlerweile wichtiger für viele dortals die über den Atlantik . Da nostalgisch-sentimental zuwerden, ist sinnlos . The Times They Are a-Changin‘, dieZeiten ändern sich eben . Der Präsidentschaftswahlkampfzeigt das in aller Schärfe . In den USA wird so erbittertgestritten wie wohl nie zuvor .Über Amerikas Rolle in der Welt, Herr Steinbrück, obdie USA überhaupt noch eine globale Ordnungsmachtsein wollen oder können, darüber gibt es Streit . Die Fra-ge der Krankenversicherung, der Cannabislegalisierung,des Verbots von Abtreibungen, die Frage, wer wen heira-ten darf, die Frage, ob man sich Kuba oder Iran annähertoder lieber nicht – es ist für uns nicht egal, wer diesesLand regiert, auch für uns hier in Deutschland nicht .
Schauen Sie sich den Präsidentschaftskandidaten Donald Trump an, einen Sexisten, einen Rassisten, dereine Mauer zu Mexiko errichten will, der sich nicht vomKu-Klux-Klan distanziert, der für Foltermethoden ist,die noch schärfer sind als Waterboarding, oder Ted Cruz,einen religiösen Fanatiker, der die Gesundheitsversiche-rung wieder abschaffen will, der das Atomabkommenaufheben will, der auf noch mehr Militär setzt und vondem viele nicht ganz zu Unrecht sagen, dass er vielleichtnicht so laut ist wie Donald Trump, aber noch gefährli-cher .Auf der anderen Seite gibt es jemanden wie den Se-nator Bernie Sanders aus Vermont, der sich selbst de-mokratischer Sozialist nennt, was in den USA früherein politisches Todesurteil gewesen wäre . Ich konnte eskaum glauben: Vorgestern waren fast 50 000 Menschenin Manhattan auf den Beinen, um ihm zuzujubeln .
Das war eine der größten Wahlkampfkundgebungen inder US-Geschichte . Er will die Superreichen besteuern .Er will die Unigebühren abschaffen . Er will den Mindest-lohn anheben . Er will die Spaltung zwischen Arm undReich bekämpfen, und er wendet sich gegen ungerechteFreihandelsabkommen .
Ein demokratischer Sozialist für das Weiße Haus –ich würde mich wirklich freuen, wenn es so käme; aberselbst wenn nicht: Die Politik der Demokraten hat er jetztschon verändert .
Die USA sind eben mehr, mehr als Wall Street, Pentagonund Langley .Bruce Springsteen hat gesungen: „Born in the USA“ .Er hat jetzt ein Konzert in North Carolina abgesagt, weildort eine gesetzliche Diskriminierung von Transsexuel-len stattfindet. Auch das ist Amerika.
Es gibt das andere Amerika . Es ist bunt . Es ist weltoffen .Es ist tolerant . Es ist progressiv . Schon allein deshalbkann Antiamerikanismus niemals links sein .
Die Welt ist eine andere geworden . Die Antwortensind häufig noch die alten. Das muss und darf nicht sobleiben . Es ist Zeit für eine neue transatlantische Partner-schaft, die auf globaler Gerechtigkeit, auf Respekt undauf Frieden basiert . Sie könnte mit einem wichtigen Sig-nal begonnen werden: dem Abzug der US-Atomwaffenaus Deutschland .
Peter Beyer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtedamit starten, dem Kollegen Sven Volmering zu seinemheutigen 40 . Geburtstag herzlich zu gratulieren .
Dann wäre auch das in die Debatte eingebracht .Stefan Liebich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16235
(C)
(D)
Meine Damen und Herren, in den vergangenen De-batten – –
Ich vermute, Herr Kollege, dass da wenig zu debat-
tieren ist .
Das stimmt .
Der Sachverhalt ist ziemlich eindeutig .
Danke für den Hinweis, Herr Präsident . Ein Hinweis,der von Ihnen kommt, ist natürlich immer richtig .
– Alles meine Redezeit; das stimmt .Meine Damen und Herren, ich fange noch einmal an .
Also: In den transatlantischen Debatten in den vergan-genen Jahren haben wir uns eigentlich immer nur ein-zelnen Elementen dieses sehr wichtigen Verhältnissesgewidmet . Es waren besondere Anlässe . Es ging dabeium Jubiläen . US-Präsidenten haben wichtige Reden indieser Stadt gehalten . „Mr . Gorbachev, open this gate!Mr . Gorbachev, tear down this wall!“ Oder: „Ich bin einBerliner“ . So etwas haben wir zum Anlass genommen .Es ging auch um komplizierte, problematische Themenwie den NSA-Abhörskandal oder TTIP . Deswegen ist esrichtig, dass wir heute – darüber freue ich mich – im Ple-num nach einigen Jahren zum ersten Mal wieder eine Ge-neraldebatte, eine breit angelegte Debatte zu den trans-atlantischen Verhältnissen führen .Meine Damen und Herren, warum ist es wichtig, sichden transatlantischen Beziehungen breit angelegt zu wid-men? Weil wir feststellen werden – wem es noch nichtklar ist, der möge jetzt zuhören –, dass uns weitaus mehrverbindet, als uns trennt . Die transatlantischen Beziehun-gen sind nicht von ungefähr eine der wichtigsten Säu-len der deutschen Außen-, Sicherheits- und auch Wirt-schaftspolitik . Eine Bestandsaufnahme wird uns sehrrasch zu der Erkenntnis führen, dass Deutschland denVereinigten Staaten von Amerika sehr viel verdankt . Ichnenne den Marshallplan . Ich nenne die Tatsache, dass dieVereinigten Staaten während der Zeit des Kalten Kriegesein Garant der Freiheit waren . Ich nenne auch die Wie-dervereinigung, die ohne die Vereinigten Staaten nichtmöglich gewesen wäre .Umgekehrt haben viele Deutsche daran mitgewirkt,die Vereinigten Staaten so aufzubauen, wie wir sie heutekennen . Erst vor kurzer Zeit haben 50 Millionen US-Bür-ger – das ist ungefähr ein Sechstel der dortigen Bevölke-rung – angegeben, deutsche Wurzeln zu haben . Das istdie größte Gruppe dort . Elvis Presley wurde in der De-batte schon einmal genannt . Da fällt mir noch ein: Aucher hat deutsche Wurzeln . Seine Familie hieß ursprünglichPressler; es waren Deutsche . Auch in diesem Bereichgibt es transatlantische Beziehungen . Das ist letztlichebenfalls eine Säule . Das geht bis hin zu zwei ehemali-gen US-Präsidenten, die direkt deutsche Wurzeln haben .Meine Damen und Herren, das alles ist Teil unserergemeinsamen transatlantischen Geschichte, in der auchDeutsche in unserem Partnerland, in den USA, ihre Spu-ren hinterlassen haben .Die amerikanischen Freunde erkennen den deutschenBeitrag zur Entwicklung ihres Landes durchaus an . Ichzitiere an dieser Stelle den ehemaligen Transatlantik-Ko-ordinator und Vorsitzenden der Deutsch-AmerikanischenParlamentariergruppe, Hans-Ulrich Klose:Sie haben uns politisch dadurch gedankt, dass siedie Wiedervereinigung möglich gemacht haben .Es sind eben diese gemeinsamen Werte, die wir na-türlich auch immer wieder hinterfragen müssen, die unsaber mit gemeinsamen Interessen wie keine zwei ande-ren Partner auf der Welt verbinden . Wir sind auch stra-tegischer Partner – wahrscheinlich der einzige wirklichePartner der USA . Auf wen sonst sollte man sich trotz derKrisen und Probleme, die auch wir in Europa haben, inden USA stützen bei der Bewältigung internationaler Kri-sen und globaler Fragen, wenn nicht auf uns Europäer?Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört aberauch – ich bin dankbar, dass meine beiden Vorredner,insbesondere Kollege Steinbrück, darauf hingewiesenhaben –, die Probleme anzusprechen . Der NSA-Ab-hörskandal wurde bereits genannt . Ich könnte eine ganzeReihe von anderen Dingen, die in einem sehr komplexen,historisch gewachsenen Verhältnis nun einmal passieren,nennen . Diese müssen wir ansprechen . Stefan Liebichhatte es so definiert: Die transatlantischen Beziehungensind erwachsen geworden . – Dem stimme ich durchauszu .Meine Damen und Herren, ich habe aber manchmalden Eindruck, dass wir in den transatlantischen Bezie-hungen irgendwie gefangen sind, festsitzen zwischeneiner Vergangenheit, die ich gerade kurz skizziert habe,und der Zukunft, den Zukunftsthemen und dass wir hierOrientierung brauchen . Dabei sollte es doch gar nichtso schwierig sein, Orientierung zu finden. Denn es gibteine ganze Palette globaler Herausforderungen, bei de-nen wir wissen, dass es wenig klug und auch überhauptnicht machbar ist, einzelstaatliche Lösungen zu finden –übrigens auch keine Lösungen, die wir nur in Europaoder nur in den Vereinigten Staaten angehen können . Damüssen wir uns zusammentun und überall dort, wo wirgemeinsame Interessen haben, die Kräfte bündeln . Dasbetrifft Themen wie die Sicherheit, den Kampf gegen denTerrorismus und die Bewältigung der Herausforderungenbei den Klimaveränderungen .Im Zusammenhang mit Wirtschaftsthemen möchteich das Augenmerk kurz auf das FreihandelsabkommenTTIP, das gerade verhandelt wird, lenken . Wir sind ja be-Peter Beyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616236
(C)
(D)
reits wichtige Handelspartner . Nun soll der bedeutendsteWirtschaftsraum der Welt geschaffen werden . KollegeSteinbrück hat die Verlagerung des geopolitischen undbevölkerungsentwicklungsmäßigen Gewichts in denUSA, aber auch weltweit angedeutet . Das ist eine Wahr-heit, die wir einfach zur Kenntnis nehmen müssen, insbe-sondere dann, wenn wir uns einmal selbst die Frage stel-len: Wie wollen wir eigentlich hier in Deutschland undEuropa in Zukunft leben? Die Antwort muss doch lauten:auch in Zukunft in Sicherheit und relativem Wohlstand .Und noch einmal möchte ich betonen, dass wir das al-leine nicht hinbekommen . Dazu braucht es einen star-ken Partner, und da sind uns die Vereinigten Staaten vonAmerika und übrigens auch die Kanadier am nächsten .Dann kann das funktionieren .
Wenn ich von den Kanadiern spreche, möchte ich na-türlich auch nicht unerwähnt lassen, dass es auch hier imtransatlantischen Verhältnis ein Megaprojekt gibt, das esnoch zu ratifizieren bzw. umzusetzen gilt: das Freihan-delsabkommen zwischen der Europäischen Union undKanada, abgekürzt CETA, das als Blaupause für TTIPgelten soll. Es ist final verhandelt und kürzlich noch umein Investitionsschutzkapitel erweitert worden, das jetztauch den Sorgen der Bevölkerung, der ÖffentlichkeitRechnung trägt . Es muss jetzt zügig die Voraussetzunggeschaffen werden, dass das umgesetzt wird, dass wir esratifizieren können, damit es im Laufe des nächsten Jah-res, 2017, auch tatsächlich in Kraft treten kann .Auch für TTIP gilt: Es geht voran, und es geht gutvoran . Bei allen Zweifeln, die ich hier immer wieder höreangesichts eines solchen Projekts: Bei dem transatlanti-schen Projekt unserer Zeit, bei dem es eben nicht nur umblanke Wirtschaftszahlen, sondern auch um geopoliti-sche und geostrategische Aspekte, Klugheit und Richtig-keit geht, geht es voran . Zuversichtlich bin ich, dass wirnoch während der Amtszeit der derzeitigen US-Adminis-tration, die ja immerhin noch bis zum 20 . Januar 2017geht, zu guten Ergebnissen kommen .Gerade in der heutigen Zeit ist es richtig, wieder Brü-cken zu schlagen, teilweise angekratztes Vertrauen imtransatlantischen Verhältnis wiederherzustellen und auf-zubauen, gegenseitiges Verständnis für unterschiedlicheAnsichten über durchaus gleichgelagerte Sachverhaltezu gewinnen . Das geht natürlich am besten, indem mansich wechselseitig begegnet und miteinander redet . VieleAustauschprogramme leisten das bereits, von den politi-schen Stiftungen über die transatlantischen Vereinigun-gen wie Atlantik-Brücke, GMF, Aspen und wie sie alleheißen, bis hin zur AmCham, die in diesem Bereich guteArbeit leistet . Deswegen ist es gut, dass bereits zum fünf-ten Mal der amerikanische Präsident in wenigen Tagenhier nach Deutschland zur Hannover Messe kommt . DieVereinigten Staaten sind dieses Jahr Partnerland . Hierwird es wieder Gelegenheit zu vielen Begegnungen aufvielen Ebenen, auch auf hochrangiger Ebene, geben . Dasschafft Brücken und schafft Vertrauen, das wir zueinan-der haben und das wir weiterentwickeln müssen .Lassen Sie uns die transatlantische Partnerschaft füreine gemeinsame globale Strategie eines geschlossenen,der Zukunft zugewandten Westens nutzen . Lassen Sieuns gemeinsam mit den Amerikanern und den kanadi-schen Freunden Teil des Teams sein, das den Westen re-konstruiert, nicht territorial, wie es der eine oder andereöstlich von uns auf dem Globus machen möchte, sonderndurch strategisch kluge Arbeitsteilung bei den globalenHerausforderungen . Denn es geht um unser Land, unse-re Sicherheit und nicht zuletzt um die Sicherung unseresWohlstands .Ich danke Ihnen .
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Deut-sche haben zu den USA eine besonders enge Beziehung .Das kann man daran sehen, wie die US-Präsidentschafts-wahlen hier verfolgt werden: Trump gegen Cruz, Sandersgegen Clinton . Dies alles wird verfolgt – Herr Liebich hatdas schon angesprochen –, als würde man mitwählen . Ichfinde, das ist ein gutes Zeichen für die transatlantischenBeziehungen . Es zeigt, dass sie tief in der Gesellschaft,bei den Menschen verwurzelt sind .
Das macht auch die Spannung darüber aus, was da-bei herauskommt, was uns erwartet . Ein neuer Kurs derIsolation? Eine Abschottung, wofür Ted Cruz und Trumpzum Beispiel plädieren?
Eine interventionsfreudigere Präsidentin wie HillaryClinton?
Die Frage stellt sich natürlich auch und gerade vor demHintergrund: Wie war das bis jetzt?Ich will an dieser Stelle eines deutlich sagen: Dieacht Jahre der Obama-Administration waren gute Jahrefür die transatlantischen Beziehungen . Präsident BarackObama war ein kluger Präsident, manchmal auch klügerals die Bundeskanzlerin . Er war nämlich schon 2003 ge-gen den Irakkrieg, mit dessen Folgen wir noch zu tunhaben . Er war mit seiner Gesundheitsreform ein mutigerPräsident . Manche halten ihn für einen schwachen Prä-sidenten . Das ist ein Irrtum . Schwach war sein Vorgän-ger . Der Unilateralismus eines George W . Bush hat imErgebnis zu weniger Ansehen, weniger Macht und weni-ger Handlungsspielraum für die USA geführt . Das ist diePeter Beyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16237
(C)
(D)
Ursache für die Überdehnung der einstigen SupermachtUSA gewesen .
Obama hat aus dieser Erkenntnis nur die Konsequenzgezogen, nämlich umgestellt auf eine kluge Realpolitik .Er hatte die Erkenntnis, dass auch die Supermacht USAdie Folgen der Globalisierung nicht alleine bewältigenkann . Er hat auf Kooperation gesetzt . Das hat er getanbeim Klimaabkommen in Paris . In Kioto standen sie nochabseits . Jetzt haben sie durch ihre Kooperation mit Chinadieses Abkommen überhaupt erst möglich gemacht .Dann gibt es auch eine andere transatlantische Ge-meinsamkeit, nämlich die Konsequenz, dass jetzt überDekarbonisierung nicht nur in Schlusserklärungen vonElmau geredet wird . Nein, man sollte doch einmal zurKenntnis nehmen, dass jenseits des Atlantiks die FamilieRockefeller sagt: Wir investieren künftig nicht mehr infossile Energien . – Vielleicht kommt das auch bei SigmarGabriel irgendwann einmal an .
Ich will sehr deutlich sagen, dass es die Obama-Admi-nistration gewesen war, die – auch gegen eine Mehrheitim Kongress, die dafür gewesen ist, den Ukraine-Kriegund die Krise dort mit Waffenlieferungen zu verschär-fen – durchgesetzt hat, dem Verhandlungskurs der Euro-päer und der deutschen Bundesregierung in dieser Fra-ge den Rücken freizuhalten . Auch das hat letztendlichMinsk möglich gemacht .
Natürlich bin ich bei Ihnen, Herr Liebich: Atomwaf-fen in Büchel – das ist ein schlechtes Kapitel .Ich bin auch bei all denen, die sagen: Obamas Visioneiner nuklearwaffenfreien Welt ist noch nicht Wirklich-keit geworden . – Aber ich möchte auch auf eines hinwei-sen: Der einzige wirkliche Schritt nuklearer Abrüstungder vergangenen Jahre ist mit diesem Präsidenten mög-lich gewesen: Es ist selbstbewussten Europäern – zusam-men mit den USA und zusammen mit China und Russ-land – gelungen, ein nukleares Wettrüsten mit dem Iranim Nahen Osten zu unterbinden . Das wollen Ted Cruzund Donald Trump jetzt rückgängig machen .
Ich finde, das ist eine gute Bilanz. Das knüpft übri-gens an Vorarbeiten deutscher Außenminister, Fischer,Westerwelle, Steinmeier, an .Es gibt aber natürlich Dinge, wo man auch Klartextreden muss . Warum zum Beispiel gibt es – obwohl manjetzt dabei ist, mit Russland zu verhandeln – für Syri-en immer noch kein UN-Mandat? Wir Deutsche solltenklarmachen, dass wir den Willen zur Kooperation begrü-ßen . Aber Kooperation ist noch kein Multilateralismusim Rahmen der Vereinten Nationen .Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, ein Beispiel,das auch die Stärke von Demokratien aufzeigt . Obamahat jetzt in einem Interview gesagt, sein schlimmsterFehler war die Intervention in Libyen . – Da war FrauMerkel übrigens klüger .
Ich sage das an dieser Stelle, weil damals eine ganze Bat-terie von Leitartiklern in diesem Land geschrieben hat,diese Haltung – sie wurde übrigens von fast allen Partei-en in diesem Hause getragen – sei Antiamerikanismus .Nein! Ich glaube, es war richtig, vor einer Intervention zuüberlegen, was das an Konsequenzen haben kann . Des-wegen glaube ich, dass diese Selbstkritik berechtigt war .
Natürlich muss man darüber sprechen, dass unter derPräsidentschaft Obamas der Drohnenkrieg ausgeweitetworden ist . Das geschah übrigens auch über Ramstein .Wir alle wissen, dass dies im Kampf gegen den Terroris-mus vielfach eben nicht hilfreich war . Im Gegenteil: Die-ser Drohnenkrieg in Somalia, im Jemen und in Pakistanhat weite Teile dieser Regionen destabilisiert . Und wirwissen: Destabilisierte Räume sind Räume für Terroris-mus . Ich glaube, an dieser Stelle ist dann auch Klartextangesagt .
Manchmal stellt man ja fest, dass die Herausforde-rungen, vor denen wir stehen, sehr ähnlich sind . RechtenTerror gibt es – angefangen bei Timothy McVeigh – inden USA ebenso wie bei uns, wo es um den NSU geht .Es gibt islamistische Terroristen in San Bernardino, aberauch in Europa, in Molenbeek und hier . Ich glaube, dasswir eine gemeinsame Herausforderung haben, dem zubegegnen . Dem wird man übrigens nicht mit neuen Mau-ern begegnen können, sondern nur, wenn man daraufsetzt, dass wir unsere Werte – nämlich demokratischeGesellschaften, die auf Teilhabe abzielen – wirklich ernstnehmen .
Das ist der tiefe Grund für die Freundschaft und die Zu-sammenarbeit mit den USA .Dabei sollte man sich vor Überheblichkeit schützen .Gerade im Zusammenhang mit TTIP gibt es auch solcheStimmen, nach dem Motto: Hier in Europa ist alles gut,und in den USA ist alles schlecht . – Ich will Ihnen nur einBeispiel geben: Kennen Sie den Unterschied zwischenGood Governance und Bad Governance? Good Gover-nance: Die USA haben eine Environmental ProtectionAgency . – Wir haben Alexander Dobrindt .
Die einen sorgen mit Milliardenstrafen dafür, dass VWgeltendes Recht einhält; die anderen tragen großes Karozur Schau und tauchen ansonsten ab .
Jürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616238
(C)
(D)
Deswegen glaube ich, meine Damen und Herren, dass wiruns auch bei TTIP darum bemühen sollten, vonei nanderzu lernen, um den jeweils besseren Standard durchzu-setzen . Aber das, lieber Kollege Steinbrück – ich teile jaIhre strategische Überlegung –, was da im Rahmen derrealen Geschichte, der TTIP-Verhandlungen, passiert, istdoch kein „levelling up“, vielmehr ist es ein „race to thebottom“, das hier organisiert wird .
Was erzählen Sie denn dem deutschen Mittelständler,der künftig in den USA weiter mit „‚Buy American‘-claus es“ konfrontiert sein wird, mit Regeln, die bei unsgegen den Binnenmarkt verstoßen?Das ist doch gegen die Marktwirtschaft und gegen denMittelstand .
Sie sagen, es solle neue Leitplanken geben . SchauenSie sich doch mal die Kapitel zur regulatorischen Koope-ration an! Dann stellen Sie fest: Hier wird ein bürokra-tisches Monster geschaffen, das gerade verhindern soll,dass besser demokratisch reguliert wird, dass es mehrLeitplanken gibt .
Das ist das Gegenteil von dem, was Sie uns zurzeit beiTTIP versprechen . Meine Damen und Herren, wie manso etwas organisiert, erleben wir jeden Tag im TTIP-Le-seraum . Wir können jetzt diese Debatte gar nicht mitei-nander führen, weil das Einzige ist, was ich dazu sagenkann – um Thomas de Maizière zu zitieren –: Das könntedie Bevölkerung schwer verunsichern .
Das ist übrigens der Grund, warum am 23 . April vieleMenschen in Hannover gegen TTIP demonstrieren wer-den . Diejenigen, die da demonstrieren, sind aber keineAntiamerikaner . Sie wissen: Nur fairer Handel ist freierHandel .
Sie können sich dabei auf viele Menschen, auch in denUSA, berufen . Ich zitiere:… wir sollten … auf … Regelungen verzichten… die Unternehmen das Recht einräumen, auslän-dische Regierungen gerichtlich dazu zu zwingen,Umweltstandards zu senken oder das öffentlicheGesundheitswesen zu verschlechtern …Hillary Clinton .
Oder:Ich glaube an fairen Handel, von dem der Mittel-stand und … Familien profitieren, nicht nur großemultinationale Konzerne .Bernie Sanders .Also: Demonstrieren wir nächste Woche Samstag ge-meinsam im Geiste von Sanders und Clinton für fairenFreihandel, für soziale Marktwirtschaft und Demokratie .Das ist gelebte deutsch-amerikanische Freundschaft .
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Dagmar Freitag für
die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dastransatlantische Verhältnis – ein immer wieder polari-sierendes Thema . Die einen denken an Persönlichkeitenwie Martin Luther King mit seiner weltberühmten Rede„I have a dream“ auf den Stufen des Lincoln Memori-als . Andere haben ein geradezu verklärtes Bild von dem„sweet land of liberty“, das für viele als Einwanderungs-land so attraktiv ist .Dagegen haben wir natürlich auch andere Assozia-tionen, die uns – ich muss das einräumen – manchmaleinigermaßen fassungslos machen: Guantánamo, Wa-terboarding, die laschen Waffengesetze, der ungeheureEinfluss der Waffenlobby auf politische Entscheidungs-träger, Schüsse weißer Polizisten auf farbige Landsleuteoder auch die Todesstrafe, die es immer noch in vielenBundesstaaten der Vereinigten Staaten gibt .Diese wenigen Beispiele sind – je nach Standpunkt –Gründe entweder für einen geradezu plumpen Antiame-rikanismus oder aber für ein relativ verklärtes Bild diesesLandes . Beides ist aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt .Die Beziehungen zu Kanada und den VereinigtenStaaten haben für unser Land – Herr Kollege Steinbrückhat nachdrücklich darauf hingewiesen – eine besonde-re Bedeutung . Unbestritten ist aber auch: Es hat immerwieder Irritationen gegeben . Wir müssen daran arbeiten,sie abzubauen, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks .Dabei ist natürlich ein kritischer Blick völlig unverzicht-bar . Denn nur so kann eine Partnerschaft, die Werten ver-pflichtet ist, auch wirklich gelebt werden.Klar ist aber auch: Diese Partnerschaft hat nichts vonihrer Bedeutung eingebüßt . Ich würde sagen: Vielleichtist sie heute wichtiger denn je . Denn in einer globali-sierten Welt sehen sich Deutschland und natürlich auchEuropa ganz gewaltigen Herausforderungen gegenüber .Außenminister Steinmeier hat zu Beginn seiner zweitenAmtszeit davon gesprochen, dass die Welt aus den Fugengeraten sei . An dieser Zustandsbeschreibung, liebe Kol-leginnen und Kollegen, hat sich bis heute nichts geän-dert – leider! Brutale Bürgerkriege, zerfallende Staaten,auch zunehmende Wetterextreme – all das löst Fluchtbe-wegungen von Millionen von Menschen aus . Deren Fol-gen kann kein Staat im Alleingang bewältigen . Diese undJürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16239
(C)
(D)
weitere Herausforderungen machen klar: Deutschlandund Europa brauchen verlässliche Partner .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mehrfachdarauf hingewiesen: Gute transatlantische Beziehungensind keine Selbstverständlichkeit, kein Selbstläufer .Ein Beispiel, das zugegebenermaßen keine weltpoli-tische Bedeutung hat, aber für den Deutschen Bundes-tag, für uns alle hier, von besonderer Bedeutung ist, istdas Parlamentarische Patenschafts-Programm . Das USState Department hat vor zwei Jahren einseitig die pari-tätische Finanzierung, die über 30 Jahre funktioniert hat,aufgekündigt und damit dieses wunderbare Austausch-programm letztlich infrage gestellt . Dieses Programmhat immerhin mehr als 23 000 junge Menschen aus unse-ren Ländern in das jeweilige Partnerland geführt, hat dieGelegenheit gegeben, Kultur und vieles andere kennen-zulernen, die Sprache zu lernen . Es war klar erkennbar:Die Prioritäten des State Department hatten sich auch beidiesen Austauschprogrammen auf andere Regionen die-ser Welt verlagert . Dann ist es parteiübergreifend durchGespräche zwischen Abgeordneten gelungen, die Finan-zierung auf den alten Ansatz zurückzuführen . Ich möchtedie Gelegenheit nutzen, den Kolleginnen und Kollegenaus allen Fraktionen dieses Hauses, aber auch den Kol-legen auf amerikanischer Seite – namentlich möchte ichG . T . Thompson und Jim McDermott nennen – dafür zudanken, dass es gemeinsam gelungen ist, das Programmzum alten Ansatz zurückzuführen . Das ist eine guteNachricht für Deutschland und für die USA . Es ist vorallen Dingen eine gute Nachricht für junge Menschenbeider Länder .
Und es zeigt eines: Das letzte Wort haben nicht Ministe-riale, sondern die Parlamentarier .
Herausforderungen sind dazu da, angenommenzu werden . Die Suche nach Lösungen – so schwer siemanchmal auch sein mag – kann auch zusammenschwei-ßen . Wir haben es heute Morgen mehrfach gehört: Dietransatlantischen Beziehungen sind weit mehr als nureine Zweckgemeinschaft . Deshalb lohnt es sich, daranzu arbeiten, dafür zu kämpfen . Wir sind dazu bereit . Dervorliegende Antrag zeigt auf, in welche Richtung es wei-tergehen soll . Ich bin froh, dass wir heute Morgen Gele-genheit hatten, dies sehr deutlich zu machen . Auch das istein Zeichen an die andere Seite des Atlantiks . In diesemSinne werbe ich um die Zustimmung für unseren Antrag .Vielen Dank .
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Klaus
Ernst das Wort .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die bisherige Debatte zeigt – und das ist unbe-stritten –, dass ein Amerika in der Form nicht existiert,sondern dass es Licht und Schatten gibt . Das Problemist: Wie reagiert unsere Bevölkerung auf Vorgänge, diedie Debatte in den letzten Monaten und Jahren belastethaben? Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Bezie-hungen zu den Vereinten Staaten von Amerika auf ge-meinsamen Werten – ich zitiere –,auf den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlich-keit, Freiheit, Marktwirtschaft und Respekt vor demIndividuum gründen .
– So sieht es aus, aber leider nicht immer in der Praxis .Amerika hat eben zwei Seiten . Das ist in den Reden,die wir hier gehört haben und denen ich nur zustimmenkann, deutlich zum Ausdruck gekommen . Nur: Wennwir selber nicht versuchen, in den Beziehungen zu denVereinigten Staaten diese Werte, Freiheit, Demokratie,Rechtsstaatlichkeit, hochzuhalten und zu verteidigen,auch wenn Dinge passieren, die wir nicht wollen, dannwird die Bevölkerung eher ein negatives Bild von Ame-rika und übrigens auch von uns selber erhalten .Ich frage mich nach wie vor: Welche Konsequenzenwurden eigentlich aus dem Abhörskandal – die Kanzlerinwurde ja nun abgehört, das ist bekannt – gezogen? Inwie-weit sind wir tatsächlich bereit, die Werte, auf die wir unsbeziehen und die Sie in Ihrem Antrag hervorheben, zuverteidigen, auch im Verhältnis zu den USA?
Aber wenn jemand sagt: „Das ist nicht in Ordnung, dasswir das nicht tun“, dass wir als Europäer zu unterwürfigseien, dann kommt der Vorwurf des Antiamerikanismus .Dabei bezieht sich die Kritik auf sehr konkrete Vorgänge,durch die diese Werte wie Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit, die Sie in den Vordergrund stellen, verteidigtwerden sollen . Insofern möchte ich den Vorwurf des An-tiamerikanismus in dieser Debatte mit aller Schärfe zu-rückweisen . Es gibt Kritik, die ist berechtigt, und das istkein Antiamerikanismus .
Meine Damen und Herren, ich erinnere an die McCarthy-Zeit in Amerika, in der Chaplin und andere voreinen Ausschuss für antiamerikanische Umtriebe gezerrtwurden . Ich habe durch diesen Vorwurf des Antiamerika-nismus den Eindruck, einige wollen die McCarthy-ZeitDagmar Freitag
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616240
(C)
(D)
in Europa wieder einführen . Bitte, das brauchen wirnicht, das ist nicht notwendig, und das können wir lassen .
Jetzt kommen wir zu den zentralen Werten Rechts-staatlichkeit und Demokratie, und dann komme ich, HerrSteinbrück, auch auf die von Ihnen erwähnten Abkom-men mit den USA und Kanada. Die Verhandlungen fin-den und fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt,übrigens auch weitgehend unter Ausschluss der Abge-ordneten, und zwar bis heute . Ich frage mich, wo da dieGrundlagen dieser transatlantischen Freundschaft, näm-lich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sind . Zur De-mokratie gehört eben auch Transparenz, und die habenSie nicht hergestellt .
Nach wie vor sind Schiedsgerichte vorgesehen . DerDeutsche Richterbund sagt: Die Schaffung von Sonder-gerichten für einzelne Gruppen und Rechtsgesuche istder falsche Weg und rechtlich nicht akzeptabel . – MeineDamen und Herren, auch das hat mit Rechtsstaatlichkeitnichts zu tun . Im Übrigen: Bei den Abkommen sind be-sondere Gremien vorgesehen, die an den Entscheidun-gen der Parlamente vorbei Regelungen setzen können,die völkerrechtlich verbindlich sind . Auch das hat mitRechtsstaatlichkeit nichts zu tun .Die Entscheidung, dass man CETA und TTIP vor-läufig in Kraft setzt, also bevor Parlamente darüber beider Behandlung eines entsprechenden Gesetzes über-haupt debattiert haben, wertet Wolfgang Weiß, ProfessorDr . Wolfgang Weiß, folgendermaßen: Er sagt: Es ist ver-fassungsrechtlich und demokratiepolitisch unakzeptabel,dass die vorläufige Anwendung eines Abkommens an denParlamenten vorbei erfolgt . – Meine Damen und Herren,auch das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun .
Deshalb sage ich Ihnen: Das, was Sie hier praktizie-ren, oder das, was Sie hier versuchen zu praktizieren,nämlich ein Gebilde auf vernünftige Werte zu beziehen,während diese Werte in der Praxis, insbesondere im Zu-sammenhang mit den Handelsabkommen, der Realitätnicht standhalten, führt dazu, dass sich Bürgerinnen undBürger wehren und dass sie – meines Erachtens ist daseigentlich nicht richtig – das Verhältnis der Europäer zuden USA generell infrage stellen .Diese Handelsabkommen nützen nicht den Bürgern inden USA, sie nützen nicht den Bürgern in Europa .
Deswegen werden sie abgelehnt, und deshalb traut sichauch kein Präsidentschaftskandidat in Amerika, gegen-wärtig im Wahlkampf für diese Handelsabkommen ein-zutreten . Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen unddiesen Unfug lassen .Ich danke fürs Zuhören .
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben heute viele gute Reden zum Thema „transatlanti-sche Partnerschaft“ gehört .
Dafür möchte ich danken, das gilt fraktionsübergreifend .Wir haben aber das eine oder andere gehört, auf das ichkurz eingehen möchte . Das eine oder andere fehlt viel-leicht noch .Herr Liebich, wenn Sie für Herrn Sanders hier imDeutschen Bundestag die Lanze brechen, dann müssenSie überlegen, ob das in Amerika wirklich als Unterstüt-zung dieses Kandidaten aufgefasst wird .
Ich fürchte, das ist ein – wie nennt man das? – Danaerge-schenk, was Sie da bringen .
Herr Trittin, vor zwei Jahren haben Sie einen Euro-pawahlkampf geführt mit der Legende vom Chlorhühn-chen . Leider setzen Sie diese Legendenbildung weiterfort . Zum Thema Handelsabkommen möchte ich nurzwei Dinge konkret anmerken: Erstens . Die Vorstellung,wir Europäer würden den Amerikanern einen Gefallentun, wenn wir ein solches Abkommen abschließen, istUnsinn . Umgekehrt: Wir sind die Nation, Deutschlandin Europa, bei der mit Abstand die meisten Arbeitsplätzevom Außenhandel abhängen . Deswegen ist es in ersterLinie in unserem, im deutschen und im europäischen,Interesse, dass wir zu einem guten und hohe Standardssichernden Handelsabkommen mit den USA und mit Ka-nada kommen .
Zweitens zum Thema Inhalte . Wir haben jetzt ein gutausgehandeltes, faires Abkommen der EuropäischenUnion mit Kanada, CETA, auf dem Tisch liegen .
Das ist der Beleg dafür, dass die Europäische Kommissi-on, dass die neue Handelskommissarin, Frau Malmström,der Generaldirektor Demarty und der ChefunterhändlerBercero eine gute Arbeit machen und dass wir darauf set-zen dürfen, dass das, was wir, die Mitgliedstaaten der Eu-ropäischen Union, der Kommission als Leitplanken, alsVerhandlungsmaßstab für dieses Abkommen mitgegebenhaben, auch umgesetzt und durchgesetzt wird . Da alleKlaus Ernst
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16241
(C)
(D)
europäischen Parlamente, auch der Deutsche Bundestag,eines Tages einem Eins-zu-eins-Text des Abkommens inder jeweiligen Sprache zustimmen müssen, bevor es inKraft tritt, bitte ich Sie wirklich: Lassen Sie uns dochdie Verhandler ihre Arbeit machen, und belasten wir dasThema nicht mit neuen Legenden . Es schadet im Übrigenauch uns, wenn wir die Perspektiven auf das Handelsab-kommen so einseitig verschieben .
Wenn wir auf den Zustand der transatlantischen Part-nerschaft blicken, können wir feststellen, dass – derUkra ine-Konflikt ist ein Beispiel dafür – die amerikani-sche Führung seit einigen Jahren stärker auf Europa setzt,stärker auf den partnerschaftlichen Ansatz gemeinsammit uns, auch stärker auf die Meinung und die Positionder Europäer, sie umgekehrt aber auch mehr Verantwor-tungsbereitschaft und eine stärkere Übernahme von Ver-antwortung von uns erwartet . Ich plädiere dafür, dass wiruns dieser Aufgabe stellen, dass wir darüber im Einzel-fall diskutieren, wir diese Aufgabe aber ernsthaft wahr-nehmen und alle Anstrengungen unternehmen, ein guterPartner in dieser Zusammenarbeit zu sein, der entspre-chend seiner Leistungsfähigkeit das Nötige tut .Die Amerikaner haben nach dem Zweiten Weltkriegmit dem Marshallplan ein großartiges Beispiel gesetzt,indem sie den Wiederaufbau Europas und nicht zuletztDeutschlands ermöglicht haben . Wenn Sie Luftbildervon Aleppo sehen, fühlen Sie sich frappierend erinnertan Luftbilder von Dresden vom Februar 1945 . Es wirdunsere gemeinsame Aufgabe sein, den WiederaufbauSyriens, aber auch den Wiederaufbau Libyens und ande-rer Regionen, die in dieser Art und Weise zerstört sind,die keine Heimat für Menschen mehr sein können, zugewährleisten . Wir können nicht darauf vertrauen, dasswiederum die Amerikaner in ihr Geldsäckel greifen unddas alles finanzieren. Vielmehr werden sie auf uns setzen,auf Europa setzen . Sie werden darauf setzen, dass wirunseren Beitrag zum Wiederaufbau leisten . Ich bin dafür,dass wir uns dafür einsetzen .
Wir haben in der transatlantischen Partnerschaft gegen-wärtig einen Kontakt auf Regierungs- und Parlaments-ebene, wie er enger möglicherweise allenfalls in denJahren 1989/1990 im Zusammenhang mit der deutschenEinheit gewesen ist . Zum fünften Mal kommt der ame-rikanische Präsident nach Deutschland . Als der neueSpeak er, der neue Mehrheitsführer im Abgeordnetenhausder Vereinigten Staaten von Amerika, vergangene Wocheseine Reise auf dieser Seite des Atlantiks beendete, hat erals einziges Land Deutschland besucht . Er hat den Bun-destagspräsidenten getroffen und mit ihm über die Zu-kunft der transatlantischen Beziehungen gesprochen . Dasist ein klares Zeichen dafür, dass gerade auch Deutsch-land in dieser transatlantischen Partnerschaft eine star-ke Rolle zukommt . In den letzten zwölf Monaten warenmehr Abgeordnete aus Amerika, Mitglieder des Kon-gresses, hier in Deutschland als jemals zuvor . Ich glau-be, dass auch mehr deutsche Abgeordnete nach Amerikagereist sind als jemals zuvor . Das sind ganz wichtige undgute Entwicklungen und Anknüpfungspunkte .Wir haben die Mittel für den German Marshall Fund,der unsere Antwort auf die großzügige Marshallhilfe derAmerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg war – er wur-de von Willy Brandt ins Leben gerufen –, aufgestockt .Der Staatsminister im Außenministerium hat, glaube ich,gerade gestern die Finanzzusage gemacht, mit der dieArbeit dieser wichtigen Institution auf höherem Niveaufortgeführt werden kann .Aber es muss eben auch jede Generation ihr Narrativ,ihre Geschichte der transatlantischen Freundschaft, dertransatlantischen Partnerschaft neu erfinden. Deswegenbin ich dafür, dass wir die Agenda der Themen der trans-atlantischen Partnerschaft, über die außen- und sicher-heitspolitischen Fragen und die wirtschaftspolitischenFragen – TTIP – hinaus, erweitern um die Themen, diegerade die junge Generation ansprechen . Amerika schautauf Deutschland und Europa, wenn es zum Beispiel umdie Energiewende geht . Es gibt ganz viele Kontakte,auch auf Ebene der Bundesländer, zu den US-Bundes-staaten . Es gibt zum Beispiel einen ständigen Energie-dialog Deutschlands mit Minnesota, bei dem es um dieFrage geht: Wie geht Deutschland diesen Weg? Das Wort„Energiewende“ ist ähnlich wie der Begriff „Kindergar-ten“ in die amerikanische Sprache eingegangen, zumin-dest bei denen, die sich mit diesen Themen befassen .Wir als Deutsche sind für die Amerikaner auch eingutes Beispiel für die Bekämpfung von Jugendarbeitslo-sigkeit durch gute Ausbildung . Wenn ich als Koordinatorfür die transatlantische Zusammenarbeit nach Amerikareise und dort unterwegs bin, bekomme ich immer einenTermin beim Gouverneur oder bei dem für Bildung imjeweiligen Staat Zuständigen, weil die Amerikaner sichenorm für das interessieren, was wir bei der Bildung vonJugendlichen und der Vermeidung von Jugendarbeitslo-sigkeit beim Übergang von der Schule ins Berufslebenauf die Beine stellen . Da schaut sich Amerika einige Din-ge von uns ab . Dieses Pfund sollten wir herausstellen .Wir sollten dafür sorgen, dass in unseren Austausch-programmen die gesellschaftliche Wirklichkeit in un-seren Ländern immer gut abgebildet wird . Ich glaube,dass bei den Schülern und Studenten, die aus Amerika zuuns kommen, die African Americans oder die Amerika-ner asiatischer oder lateinamerikanischer Herkunft nochunterrepräsentiert sind . Bei uns sind in den Austausch-programmen möglicherweise diejenigen Jugendlichenunterrepräsentiert, die aus Migrantenfamilien kommen .Ich kann die Kolleginnen und Kollegen des DeutschenBundestages bei der Auswahl von Kandidaten für dieseProgramme nur bitten und auffordern, auch einen Blickdarauf zu wenden, dass die deutsche Gesellschaft und dieamerikanische Gesellschaft sich ein Stück verändern . Ichglaube allerdings, dass wir da auf einem guten Weg sind .
Wenn wir uns manchmal über Amerika ärgern, dannhat das vielleicht auch damit zu tun, dass wir glauben,dass wir Amerika so gut kennen . Ich nenne das Ver-trautheitsillusion . Jeder von uns erlebt in seinem Alltagständig amerikanische Alltagskultur; unsere Fernseh-Jürgen Hardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616242
(C)
(D)
sendungen und Fernsehserien, Produktwelten usw . sindstark amerikanisch geprägt . Wenn die Amerikaner danndoch an dem einen oder anderen Punkt anders ticken alswir, dann sind wir entsetzt und schockiert . Das wären wirnicht, wenn es um einen anderen ausländischen Partnerginge . Umgekehrt ist es ähnlich . 30 Prozent der Ameri-kaner sind deutscher Abstammung, übrigens auch PaulRyan; die Familie kommt nicht nur aus Irland, sondernauch aus Regensburg, wie er uns erzählt hat . Die Ameri-kaner sagen: Wir sind doch ursprünglich selbst Europäer .Warum versteht ihr uns nicht besser?Wir müssen klar feststellen: Es gibt Unterschiede zwi-schen dem amerikanischen Denken und dem deutschenund dem europäischen Denken . Aber diese Unterschied-lichkeit ist eine Chance, gemeinsam den besseren Wegzu finden. Wir sollten bereit sein, in dieser Partnerschaftmehr Verantwortung zu übernehmen, was die Außen-und Sicherheitspolitik und die Wirtschaftspolitik angeht .Die Welt braucht mehr transatlantische Partnerschaft . Indiesem Sinne ist dieser Antrag ein starkes Bekenntnis zudiesem Weg auch in der Zukunft .Herzlichen Dank .
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Trittin
das Wort .
Lieber Herr Kollege Hardt, Sie haben in Antwort auf
mich über Ihr großes Vertrauen in die Verhandlungen
durch die Europäische Union gesprochen . Ich will vor-
weg eine Bemerkung machen: Ich bin gebürtiger Bremer .
Wir hatten schon Globalisierung im Mittelalter . Das hieß
damals Hanse . Ohne die Hanse gäbe es heute keinen Bor-
deaux . Ich bin also kein Gegner des Freihandels .
Vielleicht hätten Sie sich die Mühe machen sollen,
auf die konkreten Argumente einzugehen . Ist es nicht
wahr, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten es der
Administration überhaupt nicht erlaubt, die Staaten der
Föderation zu binden und beispielsweise Buy American
Clauses zu verbieten? Ist das nicht ein Gefälle gegenüber
der Europäischen Union, wo solche Ausschreibungen
schlicht und ergreifend gegen die Regeln des Binnen-
marktes verstoßen würden?
Ich füge ein Zweites hinzu . Sie haben gesagt, dass Sie
Vertrauen in die Kommission haben . Schauen Sie sich
doch einmal die veröffentlichten Papiere zur regulatori-
schen Kooperation an, die aus Europa kommen . Die glei-
che Kommissarin, die sagt, dass sie das Vorbeugeprinzip
nicht verhandelt – das ist ein Kern europäischer Umwelt-
politik –, legt ein Modell vor, wonach Regierungen ge-
zwungen sind, ein Jahr im Voraus ihre Absichten bekannt
zu geben, was sie möglicherweise regulieren würden . In
dem Modell ist detailliert festgeschrieben, wer vorher zu
befragen ist und wie auf Einwände zu reagieren ist, und es
soll eine Pflicht geben, am Ende des Jahres einen Bericht
darüber vorzulegen, was erfolgt ist und was nicht . Das
ist ein bürokratisches Monster . Wenn sich das irgendeine
Umweltpolitikerin oder ein Umweltpolitiker ausgedacht
hätte, dann wären die Handelskammern, dann wären Sie
auf den Barrikaden, um solch ein Monster zu verhindern .
Hier sagen Sie, dass Sie Vertrauen haben, dass die Euro-
päer das machen .
Merken Sie sich eines: Ich habe vorhin bewusst ge-
sagt, dass es nicht die Amerikaner sind, sondern dass es
auch die Verhandlungsstrategie der Europäischen Union
ist . Für diese Verhandlungsstrategie muss sich auch die
Bundesregierung mitverantworten, weil sie am Ende im
Rat zustimmen muss .
Zur Erwiderung, Herr Kollege Hardt .
Herr Präsident! Lieber Kollege Trittin, zunächst ein-mal muss ich konstatieren: Das Niveau der Diskussionsteigt. Das finde ich gut. Wir reden jetzt nicht mehr überdas Chlorhühnchen, sondern über konkrete, schwierig zuverhandelnde Dinge .Ich möchte kurz auf beide Punkte eingehen:Erstens . Natürlich kann die amerikanische Adminis-tration für alle Bundesentscheidungen garantieren, dassdas im Sinne des Wettbewerbs möglich ist .
Sie kann auch für alle Investitionen in den Staaten, indenen Bundesfinanzmittel verwendet werden, garantie-ren . Was Kanada betrifft, haben wir erreicht, dass dieMitgliedstaaten, die Provinzen Kanadas, dem Handels-abkommen zustimmen, sodass das Abkommen auch mitBlick auf das, was in den Provinzen investiert wird, gilt .Ich glaube, das ist die richtige Marschrichtung für dieVerhandlungen der Europäischen Kommission über die-ses Thema . Ich bin zuversichtlich, dass wir uns ein Stückweit in diese Richtung bewegen .Das Zweite ist das Thema „regulatorische Kooperati-on“ . Klar ist, dass am Ende des Tages die Parlamente, diefrei gewählten Volksvertreter, darüber entscheiden müs-sen, welche Regelungen sie in ihrem Raum anwenden .Aber ich finde es, wenn man einen gemeinsamen Han-delsraum hat, gemeinsame Standards vereinbart hat undsich auf die wechselseitige Anerkennung von Standardsverständigt hat, klug, dass man dann, wenn man neueStandards setzen will, weil neue Fragen aufkommen,auch darüber redet, ob man nicht gemeinsam einen hohenneuen Standard für das entsprechende Thema entwickelt .In diesem Sinne sind die regulatorischen Kooperations-räte zu verstehen . Letztlich müssen die Parlamente, derKongress und das Europaparlament sowie die Parlamen-te der Mitgliedstaaten, entscheiden, was sie daraus ma-chen . Deswegen habe ich vor dieser Art von Zusammen-arbeit keine Angst .
Jürgen Hardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16243
(C)
(D)
Detlef Müller erhält nun das Wort für die SPD-Frak-
tion .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Als Freund der USA hat man es heutzutage nichtleicht . Das Misstrauen in der deutschen Bevölkerunggegenüber dem mächtigen Verbündeten ist groß . War eskürzlich noch das Treiben der NSA, ist es heute die Rhe-torik eines Donald Trump, die viele Deutsche verstört .Deswegen bin ich sehr dankbar für den vorliegendenAntrag, der die guten transatlantischen Beziehungen, dieguten Beziehungen zwischen Deutschland und den Ver-einigten Staaten sowie Kanada, angemessen, aber auchkritisch würdigt .
In Ostdeutschland war die Bindung an die USA niebesonders ausgeprägt . Aber auch in Westdeutschlandsehe ich eine wachsende Entfremdung von den USAmit ihrem militärischen Engagement in aller Welt, ihrenmächtigen Geheimdiensten und der uns manchmal dochfremden politischen Kultur; auch der Folterskandal vonAbu Ghuraib ist unvergessen . Nichtsdestotrotz gilt im-mer noch und weiterhin – ich zitiere aus dem Antrag –:Deutschland und Europa sind mit keiner Region derWelt so eng verbunden wie mit Nordamerika . DieVereinigten Staaten und Kanada sind zentrale Ver-bündete und Freunde der Europäischen Union undDeutschlands .Das bisweilen wilde Treiben amerikanischer Geheim-dienste kann die engen und freundschaftlichen Bandenicht zerschneiden . Es sind nämlich die Bande einerdemokratischen Wertegemeinschaft . Wir brauchen dieUSA, gerade heute . Wir stehen deshalb zur transatlanti-schen Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitikund in der NATO .
Die USA haben erstmals seit 40 Jahren Frankreichals wichtigsten Handelspartner Deutschlands abgelöst .Aber der wichtigste Aspekt sind, wie ich finde, die vielenfreundschaftlichen und vertrauensbildenden Bande überden Atlantik hinweg: Freundschaften, familiäre Bezie-hungen, Schüleraustausche, Studienaustauschprogram-me, gemeinsame Forschungsprojekte, kulturelle undsportliche Kooperationen, aber auch das Parlamentari-sche Patenschafts-Programm, dessen geplante Kürzun-gen von amerikanischer Seite zurückgenommen wurden;meine Kollegin Dagmar Freitag wies darauf hin .Immer aber gilt: Auch unter Freunden muss bisweilenhart und auf Augenhöhe verhandelt werden . Das gilt fürdas geplante Freihandelsabkommen TTIP genauso wiefür das CETA-Abkommen mit Kanada . An dieser Stelledarf ich Ihnen, Herr Bundestagspräsident Lammert, aberauch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ganzausdrücklich danken . Die Einrichtung eines Leseraumsim Bundeswirtschaftsministerium für die Abgeordnetendes Deutschen Bundestages zur Einsichtnahme in dieVerhandlungsdokumente war gegenüber den Amerika-nern ein hartes Stück Arbeit .
Es war ein wichtiges Signal, dass wir als Parlamentarierdemokratische Teilhabe und Transparenz einfordern .
Aber ein kleines Räumchen und 371 Seiten Verhand-lungsdokumente, deren Aktualität zweifelhaft ist – mitQuerverweisen auf andere, nicht vorhandene Dokumen-te –, die ich als gelernter Lokomotivführer mit durchausalltagstauglichen Englischkenntnissen bewältigen muss,können wirklich nur ein Anfang sein . Deswegen bitte ichdarum, dass die konsolidierten Verhandlungsergebnisseschnellstmöglich auch auf Deutsch zur Verfügung ge-stellt werden .
Für uns Parlamentarier ist dies die Grundlage für einedifferenzierte Bewertung, ohne die eine Zustimmung zuden Dokumenten schwerlich möglich sein wird .Zur demokratischen Teilhabe gehört aber auch, dassbeide Abkommen, TTIP und CETA, als sogenannte ge-mischte Abkommen behandelt werden, wodurch danndie EU-Mitgliedstaaten an der Ratifizierung mitwirkenkönnen . Nur so entsteht letztlich auch Vertrauen . Deswe-gen halte ich es nicht für förderlich, wenn über eine vor-läufige Inkraftsetzung von Teilen CETAs nachgedachtwird .Freundschaftliche Bande pflegen wir über den res-pektvollen Umgang und das offene Wort . Unsere Kritikan der Anwendung der Todesstrafe, am nach wie vorexistierenden Gefangenenlager in Guantánamo ist eben-so wichtig und richtig . Wir werden immer darauf pochen,dass Spähmaßnahmen unter Verbündeten tabu sind . DieAussage der Bundeskanzlerin „Ausspähen unter Freun-den, das geht gar nicht“ ist mittlerweile zu einem geflü-gelten Wort geworden . Aber natürlich hat sie mit dieserAussage recht .Wir werden immer darauf drängen, dass geheimdienst-liche Aktivitäten mit den Verbündeten abzusprechen sindund sich auf das Notwendigste beschränken müssen; aberwir werden dabei immer zu unseren Partnern auf der an-deren Seite des Atlantiks stehen . Der Blutzoll, den dieUSA und, nicht zu vergessen, Kanada geleistet haben,um das Schlachten im Ersten und Zweiten Weltkrieg zubeenden, um Deutschland von der Nazibarbarei zu be-freien, wird immer unvergessen bleiben . Als Chemnitzerweiß ich: Chemnitz wurde nicht nur von der Roten Ar-mee, sondern auch von der US Army befreit .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616244
(C)
(D)
Trotz des weiten Atlantiks, der die USA und Kanada vonEuropa trennt, sind sie uns doch immer Verbündete, Part-ner, Freunde und Mitglieder einer gemeinsamen Werte-gemeinschaft .Vielen Dank .
Vielleicht sollte ich in Ergänzung eines Hinweises,
den der Kollege Müller gerade gegeben hat, was den Zu-
gang zu Dokumenten angeht, hier noch einmal vortragen,
was ich gestern im Ältestenrat mitgeteilt habe: Die Ver-
pflichtung der Bundesregierung zur Unterrichtung des
Bundestages über alle Angelegenheiten im Rahmen der
Europäischen Union ist durch unseren jetzt möglichen
Zugang zu den Verhandlungsdokumenten weder kom-
pensiert noch aufgehoben .
Es wird also weitere Unterrichtungspflichten geben.
Es ist mit dem Wirtschaftsministerium geklärt, dass es
regelmäßig zusammenfassende Berichte über den Ver-
handlungsfortschritt gibt . Das ist, glaube ich, eine wich-
tige Ergänzung im Hinblick auf die Transparenz, auf die
wir gemeinsam großen Wert legen müssen .
Was die die Öffentlichkeit verständlicherweise beun-
ruhigende Frage des vermeintlich vorzeitigen Inkraft-
tretens ohne Beteiligung des Parlaments angeht, hat die
rechtliche Prüfung ergeben, dass es jedenfalls mit Blick
auf solche denkbaren Bestandteile eines solchen Abkom-
mens, die der Zuständigkeit der nationalen Parlamente,
in diesem Fall des Bundestages, unterliegen, keinerlei
Möglichkeit der vorzeitigen Inkraftsetzung solcher Be-
standteile des Vertrages ohne Beteiligung des Parlaments
geben kann . Punkt!
Jetzt hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mein Großvater, Wilhelm Hahn, Geburts-jahr 1909, war Student der Ökonomie und hat Anfangder 1930er-Jahre am Studentenaustausch mit den USAteilgenommen . Ihn hat es dann nach Dayton, Ohio, ver-schlagen, wo dieses Jahr die Convention der Republika-ner stattfinden wird. Er lernte dort die Schwester seinesAustauschpartners und Freundes kennen, Ruth Assling –„Assling“ wie „Aßling“ nach dem oberbayerischen Dorfim Landkreis Ebersberg, angrenzend an meinen Wahl-kreis –; die beiden heirateten und bekamen vier Kinder .Meine Großmutter verbrachte den Krieg als Amerikane-rin in Deutschland . Das ist ein persönliches Beispiel fürdie zahllosen engen Beziehungen, die wir in vielfältigerWeise schon lange mit dem großen Bruder auf der ande-ren Seite des Teiches haben .Auch wenn zwischen den USA und Europa der GroßeOzean liegt, durchleben wir oft ähnliche Trends und Ent-wicklungen, im Moment zum Beispiel eine Renaissancedes Populismus: Ressentiments gegen die da oben, gegenFreihandel, gegen Fremde, Flüchtlinge und Billigprodu-zenten werden von Donald Trump und AfD gleicherma-ßen genutzt . Deren Aussagen sind so ähnlich, dass Zei-tungen bereits ein Ratespiel daraus machen: Wer hat esgesagt – Frauke Petry oder Donald Trump?Für uns in der Politik ist eine andere Frage entschei-dend: Was hat es bewirkt? Wir müssen abstrakte Ängs-te von berechtigten Anliegen unterscheiden . Das heißtfür Europa und natürlich insbesondere für Deutschland,dass wir uns allen Facetten der Flüchtlingskrise stellen,auch den unbequemen Fragen und Handlungsoptionen .Die USA dagegen müssen sich eingestehen, dass dasBild vom Tellerwäscher zum Millionär längst Utopie ist .Wachsende Importe aus China und zunehmende Automa-tisierung haben zu einer brodelnden Mischung geführt .Die Finanzkrise war der Sargnagel für die Hoffnung vie-ler Wähler der Arbeiter- und Mittelklasse . Viele wurdenzurückgelassen . Die Beschwerden dieser Wähler sindberechtigt . Vom aktuellen wirtschaftlichen Aufschwungprofitieren nur wenige.Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks sind dahergefordert . Wir müssen die Komfortzone eingespielterPolitikprozesse verlassen und die nationalen Trends ernstnehmen . AfD und Trump sind nur die Symptome einesdrängenden Phänomens, dem verlorenen Vertrauen ineine demokratische Ordnung und eine liberale Markt-wirtschaft . Wir stehen in der Verantwortung, den demo-kratischen Diskurs zu eröffnen . Es kann nur neue Gräbenschaffen, wenn wir diesen Akteuren das demokratischeExistenzrecht absprechen . Stattdessen müssen wir sieargumentativ stellen und sie auf ein Normalmaß zu-rückstutzen . Wir müssen die legitimen Bedürfnisse auf-nehmen, statt sie volkspädagogisch wegzutherapieren –in den USA, in Europa und natürlich in Deutschland .Entscheidend hierbei sind unsere Übersetzungsleis-tungen . Wir müssen gemeinsam Chancen klar benennen,Erreichtes deutlich herausstellen und Herausforderun-gen ansprechen . Das transatlantische Handelsabkommensteht dafür exemplarisch . Die Facetten des Abkommenssind vielschichtig . Wir brauchen daher gute Dolmetscher,um die Chancen aufzuzeigen . Gleichzeitig müssen wirals Sprachrohr für die Bedenken der Bürger dienen undihre Sorgen ernst nehmen . Niedrige Schutzstandards sindgenauso tabu wie die Aufgabe unseres Rechtssystems .Als Verteidigungs- und Außenpolitiker appelliere ich anSie, das Gesamtbild im Auge zu behalten . Die geostrate-gische Lage verändert sich . Handelsbeziehungen habeneine neue strategische Bedeutung .Detlef Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16245
(C)
(D)
Die amerikanische und die europäische Wirtschaftsind seit jeher stark miteinander verflochten. Die Han-delsbeziehungen machen die Hälfte der Weltproduktionaus: knapp 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlands-produktes und rund 60 Prozent der Direktinvestitionen .Beim bayerischen Außenhandel nehmen die USA dieerste Stelle ein, noch vor China und Österreich . DasHandelsvolumen in Bayern betrug 2015 fast 35 Milliar-den Euro . Bayerische Unternehmen exportierten im Jahre2013 fast fünfmal so viele Güter in die Vereinigten Staa-ten wie in die Russische Föderation . Das möchte ich vordem Hintergrund mancher Diskussionen daheim und derFrage, wer für uns wirtschaftlich und für den Erhalt vonArbeitsplätzen wichtig ist, deutlich machen .So wie es bei der Montanunion um mehr als um denZugang zu Kohle und Stahl ging, geht es bei TTIP ummehr als um Handel und Investment . Die USA und Euro-pa blicken auf die gemeinsame geostrategische Heraus-forderung, den globalen ökonomischen Einfluss zu erhal-ten . Es geht um gemeinsame Maßstäbe, Standards undRegulierungen . Es geht darum, das Erreichte der letztensieben Dekaden zu schützen . Das wissen im Übrigen, lie-ber Herr Trittin, auch kluge Köpfe in Ihren Reihen .
Manchmal ist es auch die Aufgabe der Politik, Erinne-rungen wiederzubeleben, als Zeitzeuge auf das Erreichteund unsere gemeinsamen Leistungen hinzuweisen . Dieliberale europäische Nachkriegsordnung wäre ohne dieAmerikaner nicht möglich gewesen . Lange Zeit war Eu-ropa und insbesondere Deutschland ein Konsument ame-rikanischer Sicherheitsgarantien . Die USA waren derZiehvater Europas, der in einer gespaltenen Welt schüt-zend vor uns stand . Die heutigen engen Beziehungengründen im gemeinsamen Bemühen, den Kalten Kriegzu gewinnen .Erstmals sprach der ehemalige Präsident GeorgeBush am 31 . Mai 1989 in Mainz von einer neuen RolleDeutschlands . Man sei mehr als Verbündete und Freun-de, man sei „Partners in Leadership“ . Fast im gleichenSatz nannte er in der Konsequenz die Notwendigkeit, alsAkteur mehr Verantwortung in der Weltpolitik zu über-nehmen . Dieser Appell galt nicht nur Deutschland; Euro-pa sollte Position beziehen .Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen . Wirerleben ein neues internationales System, in dem unter-schiedliche Herrschaftssysteme miteinander wettstreiten .Unsere liberale, pluralistische Demokratie konkurriertmit neuen Regimen, Ideen und Identitäten . Für uns heißtdas: Die transatlantischen Beziehungen sind wichtigerdenn je .Im Interview mit dem Journalisten Jeffrey Goldbergfordert Präsident Obama zu Recht eine neue Aufgaben-teilung . Er spricht sich mit aller Deutlichkeit für ein stra-tegisches Burden Sharing aus . Im Klartext: Europa musseinen größeren Anteil an der gemeinsamen Verantwor-tung des Westens tragen .Deutschland hat auf das veränderte strategische Um-feld reagiert . Wir haben uns zu einer Kehrtwende ent-schieden . Die Verteidigungsministerin setzt mit ihrenZusagen in Bezug auf das Budget, die Ausrüstung, dasPersonal und die Interoperationalität ein klares Zeichenfür unsere transatlantischen Partner . Deutschland istbereit, als eine Führungsnation Verantwortung zu über-nehmen, militärisch und politisch . Auch das kommendeWeißbuch soll das abbilden .Trotzdem: Die langen Jahre der Friedensdividende er-fordern Geduld . Das gilt vor allem auch für die NATO .2011 hörten wir noch pessimistische Äußerungen überdie Zukunft der Allianz . „Lebendig, aber innerlich zer-rissen“, schrieb eine Tageszeitung . Vor dem Hintergrundder Herausforderungen im Osten und im Süden habenwir 2014 in Wales zu einer neuen Bündnisstärke gefun-den . 28 Staaten einigten sich auf militärische Schritte,mit Europa als Hauptakteur und den USA als Rückver-sicherung .Unsere gemeinsame militärische Präsenz in Osteuropaist wichtig . Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen,dass wir einerseits Abschreckung, andererseits trotz allerProvokationen aber auch Augenmaß benötigen . Das habeich erst nach Ostern bei meinem Besuch in Wa shingtonin vielen Gesprächen deutlich gemacht . Europa kennt dieRisiken neuer Eskalationsspiralen . Bewährte Verträgesollten erhalten bleiben . Das gilt beispielsweise auch fürdie NATO-Russland-Akte .Präsident Obama liegt richtig, wenn er sagt, dass keineRegierung, keine Gesellschaft die aktuellen Herausfor-derungen alleine bewältigen kann . Als Politiker sind wirauf beiden Seiten des Atlantiks vor allem auch innenpo-litisch gefordert, diese Botschaft zu vermitteln . UnsereÜbersetzungsleistungen sind ebenso gefordert wie unserstrategisches Denken . Perspektivisch wird es darum ge-hen, die Sicherheit des Westens neu zu erfinden. Bedro-hungen wie transnationaler Terrorismus, Cyberangriffeund Radikalisierungen erfordern dies . Amerika bleibtdabei unser engster Partner . Diese Partnerschaft müssenwir – beide Partner – hegen und pflegen.Vielen Dank .
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derbevorstehende Besuch von Präsident Obama in Hanno-ver ist Anlass für diese Debatte
und auch Beleg dafür, wie eng und wichtig die transat-lantischen Beziehungen auch im Jahr 2016 sind . Die Tra-dition der Verbundenheit reicht jedoch deutlich weiterzurück als das NATO-Bündnis und auch der Beitrag derFlorian Hahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616246
(C)
(D)
USA zur deutschen Einheit, zum Marshallplan oder zurBerliner Luftbrücke . Schon die deutsche Freiheitsbewe-gung im 19 . Jahrhundert wäre ohne das Vorbild der USAnicht denkbar gewesen . Bereits 1832 rief Philipp JakobSiebenpfeiffer, Initiator des Hambacher Festes, dort aus:Wir beneiden den Nordamerikaner um sein glücklichesLos, das er sich mutvoll selbst erschaffen hat . – 1848waren die Vereinigten Staaten die einzige Großmachtihrer Zeit, die sich bei der Frankfurter Nationalversamm-lung in der Paulskirche durch einen Gesandten vertretenließ . Nach dem Scheitern der 48er-Revolution fandenviele deutsche Liberale eine neue Heimat in den USA,und auch während der Nazidiktatur waren die USA Zu-fluchtsort für zahlreiche Emigranten aus Deutschland.Uns verbindet eben mehr als historische Erfahrungenoder gemeinsame Werte .Laut einer aktuellen Studie haben mehr als die Hälf-te der Amerikaner ein exzellentes Bild von Deutschland .Über 60 Prozent aller Amerikaner glauben, dass beideLänder eine enge Bindung haben und Deutschland einesder fünf wichtigsten Partnerländer der USA ist . Die USAwaren und sind Garant für die europäische Sicherheit .Zusammen mit den Staaten der Europäischen Union sindsie weltweit unser wichtigster Partner und verlässlichsterVerbündeter . Die transatlantische Partnerschaft ist nebender europäischen Integration der wichtigste Pfeiler deut-scher Außenpolitik . Um es mit den Worten von HelmutKohl zu sagen: Das Bündnis mit den freiheitlichen De-mokratien des Westens ist der Kernpunkt deutscherStaatsräson . – Dieser Leitsatz hat auch im 21 . Jahrhun-dert unverändert Gültigkeit .
Gleichwohl gibt es unter engen Partnern und Freundenauch immer wieder Meinungsverschiedenheiten, die zumTeil auch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfah-rungen oder kulturellen Prägungen erwachsen . Deshalbist ein breiter Dialog und Gedankenaustausch zur Vertie-fung des gegenseitigen Verständnisses, gerade auch unterParlamentariern beider Länder, notwendig . Formate fürdiesen informellen Austausch sind daher unverzichtbar,beispielsweise das jährliche Congress Bundestag Forum,für dessen Organisation ich – sicher auch im Namen vie-ler Kollegen aus allen Fraktionen – dem GMF und derBosch-Stiftung besonders danken möchte .
Unsere Gesellschaften profitieren im 21. Jahrhundertwie nie zuvor in der Geschichte vom offenen Austausch .Die Ströme von Menschen und Gütern, von Kapital undInformationen, die uns verbinden, sind um ein Vielfa-ches wichtiger geworden als die Kontrolle über geogra-fisch abgegrenzte Räume. Konnektivität zu ermöglichen,dafür einen verlässlichen Rahmen zu bieten, aber auchSchutz und Sicherheit vor äußerer Bedrohung zu ge-währleisten, ist eine zentrale politische Aufgabe; KollegeSteinbrück hat das vorhin schon angesprochen . Deshalbist das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP sowichtig, und deshalb bedarf es auch klarer Regeln etwazum Fluggastdatenaustausch, wie sie gestern im Europä-ischen Parlament verabschiedet wurden .Für die weltweite Vernetzung steht aber kaum etwasmehr als das Internet, das World Wide Web . Das Netz istein Raum der Meinungsvielfalt und Teilhabe und nichtzuletzt ein Motor für Innovation, Wirtschaftswachstumund Arbeitsplätze der Zukunft . Regeln und Rahmen-bedingungen für ein offenes und freies globales Netzkönnen nicht alleine auf nationaler Ebene geschaffenwerden . 2014 haben die USA angekündigt, die Kontrol-le über ICANN, die Organisation zur globalen Vergabekritischer Internetressourcen wie Domainnamen undIP-Adressen, abzugeben . Das ist ein wichtiger Schrittim Sinne eines offenen, dezentral kontrollierten Netzesauf Basis eines Multi-Stakeholder-Ansatzes . Es wäre zubegrüßen, wenn eine der nächsten Veranstaltungen desInternet Governance Forums der Vereinten Nationen beiuns in Deutschland stattfinden würde.Auf beiden Seiten des Atlantiks brauchen wir immerwieder eine Verständigung über die richtige Balance vonFreiheit und Sicherheit in unseren offenen und pluralis-tischen Gesellschaften . Aber die Debatte um Informati-onssicherheit und Datenschutz ist nicht nur eine Fragezwischen Staaten und Regierungen, so wichtig etwa dasFormat des deutsch-amerikanischen Cyberdialogs ist .Wir brauchen Rechtssicherheit für alle Bürgerinnen undBürger und für alle Unternehmen beim dringend notwen-digen transatlantischen Datenaustausch . Deshalb ist eineverlässliche Nachfolgeregelung zu Safe Harbor unver-zichtbar .
Gerade die global agierenden Unternehmen der Internet-ökonomie haben eine zentrale Rolle bei der Klärung derFrage, welche Zukunftsrechte nationale Regierungen aufdie Daten ihrer Kunden beanspruchen . Die Klage vonMicrosoft gegen den Zugriff der US-Regierung auf ihreDatencenter in Irland verdeutlicht, dass diese Diskussi-on auch eine transatlantische Komponente hat . Auch dieEuropäer sollten sich hier in angemessener Weise ein-bringen; denn gerade die global agierenden Player derInternetökonomie wie Apple, Google oder Microsoftkönnen aus ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse he-raus durchaus wichtige Verbündete sein, wenn es darumgeht, einen verlässlichen und international akzeptiertenRechtsrahmen auch im Washingtoner Politikbetrieb ein-zufordern .Meine Damen und Herren, die deutsch-amerikani-schen Beziehungen müssen aber mehr sein als Traditi-onspflege oder die Angelegenheit von Regierungen. Siebrauchen auch in Zukunft eine breite gesellschaftlicheVerankerung . Über Jahrzehnte haben die in Deutsch-land stationierten US-Soldaten nicht nur während ihrerDienstzeit hier, sondern vor allem auch nach der Rück-kehr in ihre Heimat einen wesentlichen Beitrag dazu ge-leistet .
Jeder deutsche USA-Reisende kennt die Erfahrung ei-nes zufälligen Zusammentreffens mit Menschen, dieDr. Andreas Nick
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16247
(C)
(D)
begeistert von ihrer Zeit in Frankfurt, Heidelberg oder„K-Town“, Kaiserslautern, aber auch in Hahn, Bitburgoder Spangdahlem berichten . Viele dieser Standorte sindinzwischen Geschichte . Die Bedeutung dieses Kitts gehtzurück . Wirtschaftliche Zusammenarbeit allein kann diesnicht ersetzen . Deshalb sind Austauschprogramme zwi-schen unseren Ländern wie unser Parlamentarisches Pa-tenschafts-Programm so wichtig .Wir müssen aber auch neue gesellschaftliche Gruppenmit teils anderem kulturellen Hintergrund – Jürgen Hardthat es vorhin schon angesprochen – für die Zukunft dertransatlantischen Beziehungen gewinnen . Deshalb freueich mich ganz besonders, Anfang Mai erstmals die Teil-nehmer eines neuen Begegnungsprogramms im Bundes-tag begrüßen zu können, das gezielt junge Hispanics ausden USA und junge Deutsche mit türkischen Wurzelnzusammenbringt . Das ist ein wichtiger Beitrag zu einerneuen, bunteren transatlantischen Generation .
Ich danke dem American Institute for ContemporaryGerman Studies, AICGS, für diese hervorragende Initia-tive, die auch mit ERP-Mitteln des Bundeswirtschaftsmi-nisteriums unterstützt wird .Liebe Kollegen, im November 2016 wird ein neueramerikanischer Präsident gewählt .
Auch in Deutschland verfolgen wir diesen Prozess mitAufmerksamkeit und teilweise leider auch mit Sorge .Aber unser Vertrauen in die amerikanische Gesellschaftund Demokratie ist groß, dass am Ende eine verantwort-liche Entscheidung einer breiten Mehrheit der amerikani-schen Wähler stehen wird . Eines steht bereits so gut wiefest: Auch der neue Präsident oder die neue Präsidentinwird in den ersten Monaten nach Amtsantritt zu einemBesuch nach Deutschland kommen, und zwar aus Anlassdes G-20-Gipfels im Juli 2017 in Hamburg .Wir setzen fest darauf, die transatlantischen Beziehun-gen auch mit neuen Partnern in Washington zukunftsfestgestalten und gemeinsam weiterentwickeln zu können .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsa-
men Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 18/8072 mit dem Titel „Die transatlanti-
schen Beziehungen zukunftsfest weiterentwickeln“ . Wer
diesem Antrag zustimmen will, bitte ich um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
mit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der Opposition angenommen .
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialge-
setzbuch – Rechtsvereinfachung
Drucksache 18/8041
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann ,
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Die Gewährleistung des Existenz- und Teilha-
beminimums verbessern – Keine Rechtsver-
einfachung auf Kosten der Betroffenen
Drucksache 18/8076
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundsicherung einfacher und gerechter ge-
stalten – Jobcenter entlasten
Drucksache 18/8077
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Für die Beratung dieser Vorlagen ist eine Debattenzeit
von 60 Minuten vorgesehen . Hat dagegen jemand Ein-
wände? – Das ist nicht der Fall . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-
Möller .
G
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Ich freue mich darüber,dass wir heute einen wahrhaftig langen Prozess endlichauf die Zielgerade bringen können . Dieser Gesetzentwurfbasiert auf der sehr intensiven Arbeit der Bund-Län-der-Arbeitsgruppe der ASMK – das sind die Arbeits- undSozialminister der Bundesländer – zur Rechtsvereinfa-chung im SGB II . Ja, viele Beteiligte hätten gern nochweitere Änderungen erreicht . Ja, nicht auf alles, waswünschenswert gewesen wäre, konnten wir uns einigen .Aber jetzt können wir den Gesetzentwurf endlich imBundestag beraten . Jeder Schritt in die richtige Richtungbringt uns voran . Das gilt im Leben allgemein und in die-sem besonderen Fall auch .Dr. Andreas Nick
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616248
(C)
(D)
Ich kann sagen: Dieses Gesetz ist ein Schritt in dierichtige Richtung und in der Tat ein echter Fortschritt .
Was erreichen wir? Wir erreichen, dass Leistungsberech-tigte entlastet werden . Es werden aber auch die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern entlastet .
Zudem werden auch – eine Vermutung, die sich bestäti-gen wird – die Sozialgerichte entlastet .
Das Leistungs- und Verfahrensrecht wird an über 30 Stel-len geklärt und vereinfacht . Das schafft Rechtssicherheit .Das vermeidet Widersprüche und Klagen . Damit ist esim Sinne von uns allen .Wo kommen wir ganz konkret voran? Zum Beispielbei den Regelungen zur Anrechnung von Einkommen .Sie werden pauschalisiert und vereinfacht, etwa bei ge-ringen Zinserträgen oder beim Bezug von Mutterschafts-geld während des Mutterschutzes . Außerdem fallen, ichwill sagen: unnötige Bescheide weg; denn der Bewilli-gungszeitraum wird von grundsätzlich 6 auf 12 Monateverlängert .
Damit sparen wir jedenfalls nach Adam Riese bestenfallsjeden zweiten Antrag .
Das freut Antragsteller und Behörde gleichermaßen . DieLeistungsberechtigten erhalten mehr Beratung als früher .Stärker als bisher wollen wir außerdem ihre Potenziale inden Blick nehmen und sie mit einer Eingliederungsver-einbarung konkret einbinden .Neu, meine Damen und Herren, ist die nachgehendeBetreuung, also der Brückenbau über die Arbeitsaufnah-me hinaus . Wir bleiben dran und unterstützen weiter, umdie Menschen selbst und ihr Arbeitsverhältnis in den Mo-naten nach Beschäftigungsaufnahme nachhaltig zu stabi-lisieren . Darin sehen wir einen sehr großen Fortschritt .
Gewinner sind aber auch die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter in den Jobcentern – und das genau im rich-tigen Moment: Viele Flüchtlinge, die im letzten Jahrzu uns gekommen sind, wechseln in der nächsten Zeitals Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge in denRechtskreis des SGB II . Damit sie hier Fuß fassen undauf eigenen Beinen stehen können, wollen wir sie best-möglich – wie alle anderen auch – betreuen und sie inPraktika, berufsbezogene Sprachkurse, Ausbildung undArbeit vermitteln . Gleichzeitig wollen wir unsere An-strengungen bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosenverstärken . Für diese oftmals schwierige Arbeit brauchendie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den JobcenternKraft und Zeit . Die geben wir ihnen mit den Rechtsver-einfachungen .
Wir wollen, dass alle – ob sie schon lange ohne Arbeitsind oder sich hier ein neues Leben aufbauen wollen –die Chance auf einen erneuten oder einen erfolgreichenNeustart in Deutschland haben . Für diese Aufgabe brau-chen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcen-tern Kapazitäten . Wir helfen mit diesem Gesetz, sie frei-zuschaufeln . Deshalb werden die Menschen, die nebenArbeitslosengeld I auch Arbeitslosengeld II beziehen,zukünftig von der Agentur für Arbeit betreut – wie alleanderen Versicherten, die Leistungen aus der Arbeitslo-senversicherung erhalten . Auch darin sehen wir einengroßen Fortschritt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, über eine Rege-lung – das will ich gern abschließend sagen – freue ichmich persönlich ganz besonders . Auszubildende sindkünftig nicht mehr ausgeschlossen von Leistungen desSGB II . Das ist wirklich ein Meilenstein .
Damit werden hoffentlich mehr junge Menschen, die bis-her gar keine oder nur eine geringe Ausbildungsförde-rung erhalten, eine Ausbildung beginnen . Sie können nunergänzende Leistungen aus dem SGB II erhalten und soihre Ausbildung finanzieren.Ich fasse zusammen: Wir konzentrieren die Arbeitder Jobcenter . Wir vereinfachen das Leistungsrecht underweitern Beratungsansprüche . Das sind in der Tat Fort-schritte . Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung bei die-sem Gesetz .Vielen Dank .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für
die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauStaatssekretärin, das war ja ein Paradebeispiel fürsSchönreden .
Hartz IV basiert auf der Annahme, der Einzelne seischuld an seiner Erwerbslosigkeit . Hartz IV basiert aufder Annahme, dass Erwerbslose Bürgerinnen und Bürgerzweiter Klasse sind .
Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16249
(C)
(D)
Von der Angst vor Hartz IV sind inzwischen auch Men-schen betroffen, die noch einen Job haben; denn der Fallin Hartz IV kann sehr schnell gehen . Deswegen lassenwir als Linke, auch wenn Sie verbissen an Hartz IV fest-halten, nicht locker und sagen immer wieder: Hartz IVgehört ganz grundsätzlich abgeschafft .
Was das Haus von Andrea Nahles nun als Gesetzent-wurf vorgelegt hat, ist in vieler Hinsicht ein Offenba-rungseid . Es ist bezeichnend, dass die Ministerin nichteinmal den Mumm hat, diesen Gesetzentwurf selber vor-zustellen .
Dieser Gesetzentwurf macht doch deutlich: Sie wollenan Hartz IV nichts grundsätzlich ändern . Sie wollen vonden alltäglichen Nöten der Menschen in Hartz IV nichtsmildern . Ihnen geht es doch nur um einen reibungslosenVollzug .Angeblich geht es um Rechtsvereinfachung und Bü-rokratieabbau . Doch nicht einmal diesem bescheidenen,selbstgesteckten Ziel wird der Gesetzentwurf gerecht . Esgibt ein Schreiben der Personalräte der Jobcenter, und da-rin heißt es, der Gesetzentwurf ist für die Belegschaften„nicht nur enttäuschend, er ist ärgerlich und selbst eineweitere Belastung“ . Eine weitere Belastung, so sehen dasdie Personalräte der Jobcentermitarbeiter, die, die IhrenGesetzentwurf am Ende ausbaden müssen .
Schaut man sich nun die geplanten Änderungen an, soist klar: Schwarz-Rot plant keine Rechtsvereinfachung .Sie wollen einfach nur eine weitere Kelle Sanktionenobendrauf legen . Ich will das verdeutlichen . So soll in-nerhalb von Hartz IV ein zweites Repressionsinstrumentausgebaut werden . Das läuft unter dem Begriff „Auswei-tung der Ersatzpflichtigkeit bei sozialwidrigem Verhal-ten“ . Das ist die Sprache Ihres Gesetzes . Allein dieserBegriff ist entlarvend, und er verrät, wie die Bundesre-gierung über Erwerbslose wirklich denkt .
Wer in Erwerbslosen mündige Bürgerinnen und Bürgersieht, der verwendet solche Begriffe auf keinen Fall .
Eine solche Ersatzpflicht, also die Kürzung des Ar-beitslosengeldes II, soll nun auch dann eintreten, wenndas sozialwidrige Verhalten die Hilfebedürftigkeit nichtnur herbeiführt, sondern sie „erhöht, aufrechterhaltenoder nicht verringert wurde“ . Übersetzen wir diese bü-rokratischen Formulierungen einmal ganz konkret in diePraxis . Eine Kürzung um 30 Prozent bedeutet für einenvoll Bezugsberechtigten, dass ihm pro Monat nur noch282,80 Euro für alle Kosten außer der Miete und denHeizkosten bleiben . 282 Euro im Monat – das bedeu-tet 9,43 Euro am Tag für alle Ausgaben . Wer von Ihnenkäme mit 9,43 Euro über den Tag?
Übrigens, Sie müssen auch noch Geld für den Fall zu-rücklegen, dass irgendwann einmal die Waschmaschinekaputtgeht .Kurzum: Anstatt die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaf-fen, was so nötig wäre, plant Andrea Nahles ein zweitesRepressionsinstrument . Ich habe den Eindruck: Seit derEinführung von Hartz IV sind Sie in puncto Erwerbslo-sigkeit keinen Deut klüger und keinen Deut sozialer ge-worden .
Ursprünglich war geplant, die besonders harten Sank-tionsregelungen abzumildern . Noch im Oktober letztenJahres haben hier Rednerinnen der SPD gesagt, an dieSofortsanktionen bei den unter 25-Jährigen und den Ju-gendlichen und an die Sanktionierung bei den Kostender Unterkunft müsse man heran . Alle Bundesländerwaren sich darin einig, dass man das abmildern muss,mit einer Ausnahme, nämlich Bayern . Und was machtdie Sozialministerin? Anstatt couragiert ihre Position zuvertreten, anstatt sich couragiert für Erwerbslose einzu-setzen, knickt sie vor Horst Seehofer ein. Ich finde esbeschämend, wie sich diese Bundesregierung von HorstSeehofer am Nasenring durch die Manege führen lässt .
Unsere Position als Linke ist ganz klar: Wir befürwor-ten jeden Schritt weg von diesen Sanktionen . Wir sagenaber auch ganz klar: Wir pochen auf das Grundrecht aufsoziale Sicherheit . Deswegen meinen wir: Alle Sanktio-nen und Leistungseinschränkungen sowohl beim SGB IIals auch bei der Sozialhilfe gehören abgeschafft, undzwar sofort .
Dafür streiten wir nicht nur hier im Bundestag, sondernauch in den Landesregierungen . So hat sich beispielswei-se das Sozialministerium von Thüringen, vertreten durchHeike Werner, gemeinsam mit den Brandenburgern imBundesrat für diese Position stark gemacht .
Zu den von Ihnen vorgesehenen Veränderungen ge-hört auch die Einschränkung bei rückwirkender Nach-zahlung rechtswidrig vorenthaltener Leistungen . Dasheißt in der Konsequenz: Es werden Menschen, derenHeizkosten systematisch zu niedrig angesetzt wurden,Schwierigkeiten haben, die vorenthaltenen Leistungenspäter rückwirkend wiederzubekommen, selbst wenn sievor Gericht Recht bekommen; denn es wird nur noch fürdie Zukunft der höhere Betrag gezahlt und nicht für dieVergangenheit . Damit hat das Amt doch einen Anreiz, imZweifelsfall immer gegen die Betroffenen zu entschei-Katja Kipping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616250
(C)
(D)
den . Selbst wenn sie klagen und Recht bekommen, giltdas erst für die Zukunft .
Solange die Klage dauert – in der Regel dauert das rechtlange –, müssen sie selber sehen, wie sie klarkommen;sie bleiben damit auf den Kosten sitzen . Sie sparen aufdem Rücken von Erwerbslosen und Aufstockenden . Siegönnen diesen Menschen nicht einmal das Wenige, dasihnen laut Gesetz zusteht. Ich finde, das ist zutiefst schä-big .
An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich:Hartz IV ist Ausdruck sozialer Kälte . Leider ist dasnicht nur ein sprachliches Bild . Für Menschen, die aufHartz IV angewiesen sind und deren Heizkosten vomAmt zu niedrig berechnet werden, ist das ganz konkreterAlltag . Sie müssen in der kalten Jahreszeit kalkulieren,wie viel Heizung und wie viel Wärme sie sich überhauptnoch leisten können .Geplant war Bürokratieabbau, herausgekommen istnoch mehr Ärger für Erwerbslose wie für Beschäftigte,also auf beiden Seiten des Tisches wird es für die Betrof-fenen schlimmer mit diesem Gesetz . Wenn ich mir dieEntstehungsgeschichte dieses Gesetzentwurfs ansehe,dann wundert mich das auch nicht . Wir haben immer an-gemahnt: Beziehen Sie doch die Fachleute der Praxis ein,das heißt die Betroffeneninitiativen, Sozialverbände, Ge-werkschaften . Aber nein, die Regierung hat die Fachleu-te der Praxis, wie Gewerkschaften und Sozialverbände,im Übrigen auch die Opposition, komplett ausgegrenzt .Kein Wunder also, wenn so ein Murks herauskommt .
Falls noch irgendjemand glaubte, man könnte das Sys-tem Hartz IV mit kosmetischen Korrekturen verbessern,der wird durch die Geschichte dieses Gesetzentwurfs ei-nes Besseren belehrt . Wenn das Fundament und die Wän-de eines Hauses dermaßen falsch konstruiert sind, dannnützt es eben nichts, wenn man die Farbe der Türklinkenändert . Deswegen sagen wir ganz klar: Hartz IV mussgänzlich abgeschafft werden . Wir streiten stattdessen fürgute Arbeit und für eine sanktionsfreie Mindestsicherungvon 1 050 Euro . Schwarz-Rot möchte die Sanktionslogikvon Hartz IV noch verschärfen . Wir als Linke hingegenstreiten für soziale Garantien des Lebens, für eine Ge-sellschaft, an der alle teilhaben können, in der sich alleentfalten können und in der alle frei von Existenzangstund frei von Bevormundung sind .Vielen Dank .
Das Wort erhält nun der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Das war mal wieder ein Lehr-
stück aus der Küche der Linken . Das kenne ich seit 2005 .
Frau Kipping – das muss ich Ihnen sagen –, seitdem
bleiben Sie sich treu, aber ich bleibe mir auch treu . Was
ich Ihnen schon 2006 gesagt habe, sage ich Ihnen auch
heute: SGB II ist ein lernendes System . Das merken Sie
daran, dass wir schon das neunte Änderungsgesetz dis-
kutieren . SGB II ist kein starres System . Jeden Monat
gehen 90 000 Menschen aus der Grundsicherung heraus .
Das heißt, wir haben es nicht mit einem monolithischen
Block zu tun, sondern mit Entwicklungen .
Hartz IV setzt auf Fordern und Fördern – ja, das ist
richtig –, aber Hartz IV hat auch seine Grenzen; das will
ich gern zugestehen . Weil wir in diesem Gesetz den An-
spruch haben, jedem Einzelnen gerecht zu werden, und
weil die Lebenssituationen der Menschen höchst unter-
schiedlich sind, werden, auch zu meinem Leidwesen, zu
viele Klagen eingereicht .
Das Gesetz, das wir heute auf den Tisch legen, ist zwi-
schen 16 Bundesländern, unter anderem auch den Bun-
desländern, in denen Sie mitregieren, und der Bundesre-
gierung abgestimmt .
Deswegen wundere ich mich sehr darüber, in welcher
Form Sie jetzt hier auftreten . Sie sagen, das sei alles nur
eine Geschichte der Bundesarbeitsministerin . Es ist aber
das Ergebnis der Bund-Länder-Gespräche . Ich kann nur
hoffen und gehe davon auch aus, dass über die Länder die
Praxis vor Ort, die Praxis der Agenturen und der Jobcen-
ter, in dieses Gesetz eingeflossen ist.
Herr Kollege Schiewerling, darf die Kollegin Kipping
dazu eine Zwischenbemerkung machen?
Von mir aus ja; eine .
Werter Kollege Schiewerling, Sie haben hier den Ein-druck erweckt, dass auch die Bundesländer, in denen dieLinke mit in der Regierung ist, Thüringen und Branden-burg, diesen Gesetzentwurf so mittragen würden . Vordiesem Hintergrund frage ich: Ist Ihnen bekannt, dass esim Bundesrat – im Fachgremium für Soziales – genaudiese beiden Bundesländer waren, die deutliche Verän-derungen eingefordert haben, nämlich eine generelleAbschaffung der Sanktionen oder zumindest die Abmil-Katja Kipping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16251
(C)
(D)
derung, und dass sie insofern den vorliegenden Gesetz-entwurf, weil das darin unterbleibt, nicht teilen und nichtzu verantworten haben?
Frau Kollegin Kipping, ist Ihnen bekannt, dass dieBundesländer im Endeffekt auch mit Ihren Stimmen die-sen Vereinbarungen zugestimmt haben?
Sonst hätte es das Abstimmungsergebnis 15 : 0 nicht ge-geben .
Es kann ja sein, dass bei der Konferenz der Arbeits- undSozialminister andere Positionen vertreten worden sind .Aber hinterher ist unter denen, die bei den Ländern dasSagen haben, abgestimmt worden, und das ist das Ergeb-nis dieses Abstimmungsprozesses .
Meine Damen und Herren, das vorliegende NeunteSGB-II-Änderungsgesetz beinhaltet viele Regelungen,von denen ich hoffe, dass sie sich positiv auswirken . Eswird in einer Zeit vorgelegt, in der wir einen hohen Auf-wuchs an Beschäftigung haben –731000 zusätzliche so-zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisseseit dem letzten Jahr – sowie etwa 600 000 offene Stel-len, also ein Arbeitsmarktumfeld, das für die Unterbrin-gung auf dem Arbeitsmarkt günstiger eigentlich nichtsein kann .Deswegen, glaube ich, ist es gut, wenn wir uns mitdiesem Gesetz jetzt auf die Personengruppen konzen-trieren, die Probleme haben, auf dem ersten Arbeitsmarktunterzukommen oder wieder in Beschäftigung zu kom-men . Die Rechtsvereinfachungen dienen ja dazu, in denÄmtern den Einzelnen mehr helfen zu können .Aber ich sage auch sehr deutlich: Es gibt Zielgrup-pen, bei denen wir uns sehr schwer tun, sie überhauptzu erreichen . Das ist eine Diskussion, die wir seit län-gerem im Deutschen Bundestag führen, zumindest solange, wie ich dabei bin . Es geht um die Zielgruppe derjungen Menschen, die durch nahezu alle sozialen Ras-ter fallen . Es sind junge Menschen, die von ihrer Familienicht erreicht werden, weil schon ihre Herkunftsfamilienicht mehr erreicht worden ist . Sie werden von der Schu-le nicht erreicht . Sie werden von der Agentur für Arbeitnicht erreicht . Sie werden von den Sozialämtern nichterreicht . Die Problemlage dieser jungen Menschen, diein unserer Gesellschaft leben, wird sozusagen erst dannin der Öffentlichkeit bekannt, wenn sie so drängend ist,dass Polizei und Staatsanwaltschaft da sind, oder wennbeispielsweise ein 15-jähriges Mädchen vor der Nieder-kunft steht, ein Kind erwartet, und wissen will, wohin essich wenden kann .Diese Situation erleben wir in einer Reihe von Ein-richtungen, die sich um diese Jugendlichen, diese jungenMenschen kümmern . Diese sorgen dafür, dass die vielfäl-tigen Lebenssituationen, die auch mit unterschiedlichenSozialgesetzen hinterlegt sind, aufgegriffen werden, umden jungen Menschen tatsächlich helfen zu können . Dageht es dann um die Kinder- und Jugendhilfe, um dasSGB VIII, es geht um das SGB III, um die aktive Ar-beitsmarktförderung, es geht um die Grundsicherung, esgeht um das Bildungs- und Teilhabepaket, es geht um dieSozialhilfe, und es geht nicht zuletzt – im SGB V – umdie Fragen der psychischen Belastungen und der psychi-schen Hilfen . Alle diese Hilfen, die dringend notwen-dig wären, erreichen diese Zielgruppen nicht, weil siekaum irgendwo aufgegriffen werden . Deswegen habe ichmich sehr darüber gefreut, dass es uns mit diesem Ge-setzgebungsverfahren gelungen ist, einen neuen § 16 him Zweiten Buch Sozialgesetzbuch unterzubringen, derdie Möglichkeit eröffnet, die Schnittstellen, an denen esheißt: „Dafür ist ja eigentlich jemand anderes zuständig“,zu überwinden und diesen jungen Menschen Hilfen auseiner Hand geben zu können .Meine Damen und Herren, ich habe mich sehr ge-freut, dass dieses Anliegen in unserer Fraktion eine großeUnterstützung erfahren hat durch unseren Fraktionsvor-sitzenden Volker Kauder . Ich habe mich sehr darübergefreut, dass dieses Anliegen von Anfang an eine persön-liche Unterstützung erfahren hat durch die Bundeskanz-lerin selbst, die in der Karwoche, also in der Woche vorOstern, eine solche Einrichtung besucht hat .
Ich bin sehr froh und dankbar, dass die Bundesarbeitsmi-nisterin und das Bundesarbeitsministerium dieses Anlie-gen sieht und mitträgt und möchte an dieser Stelle nebender Bundesarbeitsministerin und der Fachabteilung ins-besondere der Staatssekretärin Lösekrug-Möller für ihreUnterstützung sehr herzlich danken .
Meine Damen und Herren, mit diesem Akzent, denwir in diesem Gesetzgebungsvorhaben setzen, wollenwir deutlich machen, dass wir keinen verloren gehenlassen, dass wir alles daransetzen, um jedem Menschenin unserer Gesellschaft, mag er sich noch so schwertun,eine Perspektive aufzuzeigen und diesen Menschen zuhelfen . Wir kümmern uns jetzt um die, denen kaum nocheiner hilft . Das sind andere Töne – das will ich gerne zu-gestehen – als die sozialpolitischen Töne, die die Linkenanschlagen . Uns geht es nicht darum, Hilfesysteme zuzerschlagen, sondern darum, bestehende Hilfesysteme sozu nutzen, dass die Hilfe bei den Menschen ankommt .Hartz IV muss nicht abgeschafft werden, Hartz IV mussimmer wieder als lernendes System verändert werden .
Wir müssen den Menschen eine Perspektive geben, unddiese Perspektive lautet: Wir lassen keinen durchs sozialeNetz fallen; wir wollen den Menschen helfen . Das ist un-ser Anliegen, und dem dient auch dieser Gesetzentwurf .Ich danke Ihnen sehr .
Katja Kipping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616252
(C)
(D)
Der Kollege Strengmann-Kuhn erhält nun das Wortfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Karl Schiewerling betont in seinen Reden immer gernedie Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, den Anstieg derBeschäftigung – sogar der sozialversicherungspflichtigenBeschäftigung – und die gute ökonomische Situation .
Damit hat er auch recht . Aber was dabei vernachlässigtwird, ist, dass diese gute Situation der Wirtschaft bei vie-len Menschen in Deutschland nicht ankommt . Wir habenseit Jahren ein Rekordmaß an Ungleichheit in Deutsch-land und ein Rekordmaß an Armut . Der soziale Zusam-menhalt in Deutschland ist ernsthaft gefährdet, und damüssen wir unbedingt ansetzen .
Jetzt kommen die geflüchteten Menschen zu uns. Daswird diese Spaltung, die wir in der Gesellschaft haben,zumindest kurzfristig noch weiter verstärken . Es ist schongesagt worden: In den nächsten Wochen und Monatenerhalten die Menschen, wenn ihr Asylverfahren beendetist, Leistungen gemäß SGB II . Das heißt, die Jobcenterwerden zusätzlich belastet, bekommen zusätzliche Kun-dinnen und Kunden, wie es im Amtsjargon heißt . An die-ser Stelle wäre es eigentlich völlig richtig, zu sagen: Wirvereinfachen die Grundsicherung, entbürokratisieren sie,machen Licht in dem Dschungel von Grundsicherungs-leistungen, sehen zu, dass die Menschen, die Anspruchauf Grundsicherung haben, diesen auch leicht erhalten,um damit für ein Stück weit mehr soziale Sicherheit inDeutschland zu sorgen .
Der zweite Punkt ist, dass wir dafür sorgen müssen,dass die Jobcenter tatsächlich entlastet werden, um dieGeflüchteten in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es darfaber auch nicht vergessen werden, die Langzeitarbeits-losen besser zu unterstützen und besser in den Arbeits-markt zu integrieren . Das war eigentlich das Ziel vonHartz IV . Die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeitist ein Riesenproblem, das wir endlich angehen müssen .
Der Ansatz, wir vereinfachen das System und ent-lasten die Jobcenter, wir gehen die soziale Spaltung inDeutschland an, ist eigentlich völlig richtig . Wenn mansich den Gesetzentwurf ansieht – die Staatssekretärin hatgesagt, da ist ein jahrelanger Prozess dahinter –, dannstellt man fest: Da ist nichts, da ist gar nichts . Man siehtdaran, wie die Reihen heute hier besetzt sind und dass dieMinisterin nicht anwesend ist, welchen Stellenwert die-ser Gesetzentwurf auch für die Regierungskoalition hat,nämlich einen sehr geringen .
Viele große Punkte sind in diesem Gesetzentwurf garnicht angegangen worden, manche sind auch im Gesetz-gebungsprozess herausgenommen worden . – In den Rei-hen der Union wird der Kopf geschüttelt . Warum ist dieMinisterin nicht da und stellt den Gesetzentwurf selbervor, wenn es so ein großer Wurf ist? Es ist kein großerWurf .
Es ist ein Bündel von bürokratischem Kleinkram, derdie Jobcenter in dieser Situation mehr belasten wird, weilsie eine Fülle von neuen kleinteiligen Regeln wieder neuumsetzen müssen . Die Jobcenter müssen entlastet undnicht belastet werden, was der Gesetzentwurf machenwird .
Wir haben deswegen einen Alternativantrag mit Alter-nativvorschlägen vorgelegt, mit dem das gesamte Grund-sicherungssystem tatsächlich vereinfacht wird und dieJobcenter entlastet werden . Ein wichtiger Punkt wäre,erst einmal die Menschen aus Hartz IV herauszuholen,die gar nicht dorthin gehören . Ich habe eben schon ge-sagt, es ging eigentlich darum, eine Grundsicherung fürArbeitsuchende zu schaffen . Nun haben wir eine großeMenge von Erwerbstätigen im Hartz-IV-System . Es gibtmehr Erwerbstätige als Langzeitarbeitslose, die Hartz IVbeziehen . Wenn man die Kinder noch mitzählt, dannleben fast 50 Prozent der Hartz-IV-Bezieher in einerBedarfsgemeinschaft, die Erwerbseinkommen hat . Diemüssen wir aus dieser Sicherung herausnehmen . Sie sinddort, weil sie hohe Wohnkosten haben, weil sie Kinderhaben . Deswegen müssen wir an dieser Stelle die vorge-lagerten Sicherungssysteme stärken, um die Erwerbstäti-gen aus Hartz IV herauszuholen .
Wie gesagt: Viele Familien, viele Kinder sind dabei .Die Auszubildenden gehören eigentlich auch nichtdazu . Es ist für die Auszubildenden sicher ein Fortschritt,dass sie eine existenzsichernde Leistung bekommen .Aber eigentlich müsste es eine Grundsicherung für Aus-zubildende geben . Die bildungssozialen Sicherungssys-teme BAföG etc . müssen gestärkt werden, damit sie garnicht erst in Hartz IV kommen . Auch hier müssen wir dievorgelagerten Sicherungssysteme stärken, um die Auszu-bildenden herauszunehmen; denn auch die gehören nichtzu den Jobcentern .
Die Jobcenter sollen sich auf die Arbeitslosen konzen-trieren .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16253
(C)
(D)
Es sind einige Punkte im Gesetzgebungsprozess he-rausgefallen . Eine einfache Möglichkeit, die Jobcenterschnell und effektiv zu entlasten, wäre eine Aussetzungder Sanktionen, die sowohl die Jobcenter als auch dieBetroffenen belasten . Wir brauchen ein Sanktionsmora-torium .
Dann würden gleich Kapazitäten frei .Aber das Wenigste wäre – das ist schon angedeutetworden –, dass die Punkte, die – bis auf Bayern undCSU – Konsens sind, wenigstens umgesetzt werden .Die verschärften Regelungen bei jüngeren Erwachsenenunter 25 Jahre und auch Sanktionen der Kosten der Un-terkunft müssen beseitigt werden . Alle Praktiker sagenIhnen: Das kann im Extremfall zu Obdachlosigkeit füh-ren . Und, wie gesagt, die Sanktionen gegen die Jüngerensind eher kontraproduktiv . Sie führen eher zu sozialerAusgrenzung und den Problemen, die Karl Schiewerlingeben zu Recht angesprochen hat . Deswegen müssten dieJüngeren genauso behandelt werden wie die Älteren . Daswäre ein wichtiger Punkt .
Es gibt viele Brocken, die überhaupt nicht angegangenwerden . Das Bildungs- und Teilhabepaket ist ein büro-kratisches Monster . Bei den Kosten der Unterkunft gibtes eine Fülle von bürokratischen Regelungen bzw . vieleSonderregelungen, welche die Jobcenter und die Kom-munen teilweise überfordern . Es gibt viele Sonderrege-lungen im Hartz-IV-Gesetz, die diskriminierend sind undabgeschafft werden müssten .Teilweise sind im Gesetzentwurf neue Verschärfungenenthalten . Katja Kipping hat ein paar Beispiele genannt,die auch wir als Problem ansehen . Es handelt sich dabeinicht um Rechtsvereinfachung, sondern um Rechtsver-schärfung .Eigentlich müsste man sich das gesamte System derGrundsicherungsleistungen einmal anschauen . Es gibtfünf verschiedene Grundsicherungsleistungen in dreiverschiedenen Gesetzen . Die Regelungen in den einzel-nen Gesetzen sind völlig unterschiedlich . Eine GroßeKoalition könnte sich einmal daranmachen und gleicheSachverhalte auch gleich regeln . Damit hätte man eineVereinfachung in der Verwaltung und bessere Transpa-renz für die Betroffenen .
Ich will nur einen Punkt herausnehmen . Dabei gehtes – das klingt erst einmal relativ technisch – um dieAnrechnung von Partnereinkommen . Der Begriff „Be-darfsgemeinschaften“ – den gibt es bei Hartz IV im So-zialgesetzbuch II – ist vielleicht bekannter . Im Sozialge-setzbuch XII läuft die Einkommensanrechnung anders .Da gibt es eine individualisierte Leistung, wo auch Part-nereinkommen – aber nur von Partnern, die mehr verdie-nen, als das eigene Grundsicherungsniveau ausmacht –angerechnet wird .Wenn man es im Sozialgesetzbuch II so machen wür-de wie im SGB XII, hätte das zur Folge, dass die Hil-fe auf die Menschen fokussiert wird, die sie tatsächlichbrauchen . Wenn es ein Paar gibt, wo eine Person wenigund die andere relativ viel verdient, dann werden beidevon den Jobcentern betreut . Es müsste aber so sein, dasssich die Jobcenter auf die tatsächlich Arbeitslosen kon-zentrieren .All diese Probleme werden von der Großen Koalitionnicht angegangen . Es wird nichts für den sozialen Zu-sammenhalt in dieser Gesellschaft getan . Diese Rechts-vereinfachung stellt eine verpasste Chance dar . Die Gro-ße Koalition hätte sie nutzen können . Wir haben einenAlternativantrag vorgelegt, der die Jobcenter tatsächlichentlasten, die Grundsicherung vereinfachen und den so-zialen Zusammenhalt in Deutschland stärken würde .Vielen Dank .
Vielen Dank Herr Kollege Strengmann-Kuhn . – Schö-
nen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! –
Der nächste Redner in der Debatte ist Markus Paschke
für die SPD .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Kipping, Sie haben vorhin ein Paradebeispiel erwähnt .
Ich finde, Ihre Rede war ein Paradebeispiel für Schlecht-
reden und auch für Ignoranz .
Wir wollen mit den Rechtsvereinfachungen im SGB II
nicht nur für die Ämter, sondern auch für die betroffe-
nen Menschen Erleichterungen schaffen . Wir sagen: Der
Mensch muss im Mittelpunkt stehen . Deshalb werden
wir die Jobcenter und die Betroffenen von Bürokratie
entlasten . Somit bleibt mehr Zeit und mehr Energie für
die Betreuung und die Förderung .
Ich will dies an einigen Beispielen deutlich machen .
Eine wirkliche Erleichterung ist die Verlängerung des
Bewilligungszeitraums .
Zukünftig müssen Anträge auf Leistung nur einmal im
Jahr gestellt werden . Mit dieser Änderung entfallen somit
pro Jahr rund 2,5 Millionen Weiterbewilligungsanträge .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder-bemerkung?Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616254
(C)
(D)
Ich würde gern erst einmal fortfahren .
Auch nicht von Frau Pothmer?
Auch nicht von Frau Pothmer .
Gut, alles klar .
Haben Sie sich einmal durch diese Anträge hindurch-gekämpft? Ich mache das im Rahmen meiner Bürger-sprechstunden regelmäßig . Das Rauschen im Blätterwaldist beeindruckend, das Arbeiten darin mühselig . Denn esgeht nicht nur um die Anträge, sondern auch um die da-mit verbundenen Unterlagen, die aber nun nur noch ein-mal im Jahr eingereicht werden müssen .Ein weiteres Beispiel ist die Gesamtangemessenheits-grenze für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung . Zu-künftig zählt die Summe für die Bewertung der Ange-messenheit einer Wohnung . Es spielt – solange sich dieSumme im Rahmen der Gesamtangemessenheitsgrenzebewegt – keine Rolle mehr, ob eine höhere Miete für eineNeubauwohnung mit höheren Standards, dafür aber mitniedrigeren Heizkosten, gezahlt wird oder ob die Mieteniedriger ist, die Heizkosten aber höher sind. Ich findees gut, dass zukünftig SGB-II-Bezieher nicht mehr vonmodernen Wohnungen ausgeschlossen sind, anders alsbisher, als nur die Miete, die lediglich einen Teil der Ge-samtkosten ausmacht, mit einer Angemessenheitsgrenzebelegt wurde .Ansprüche nach dem SGB II können zukünftig auchnicht mehr gepfändet oder übertragen werden . Das isteine Forderung, die die Betroffenen und ihre Interessen-vertreter schon lange gestellt haben .Nach bisheriger Rechtslage muss jede erwerbsfähigeleistungsberechtigte Person bei Krankheit einen gelbenSchein vom Arzt vorlegen . Das gilt auch für Personen,die aktuell für eine Arbeitsaufnahme gar nicht infragekommen, weil sie zum Beispiel eine Schule besuchenund einen Schulabschluss machen . Das entfällt nun fürviele. Ich finde, das ist ein großer Fortschritt für die Be-troffenen und auch im Hinblick auf die Bürokratieent-lastung .Mit dem Gesetzentwurf stärken wir auch die Einglie-derungsvereinbarung . Dazu gehört eine stärkere Nutzungder Potenzialanalyse; denn nur wenn klar ist, wo Stärkenund Schwächen liegen, können Hilfe und Unterstützungeffektiv geleistet werden . Damit soll der Gedanke desFörderns mehr Bedeutung bekommen .Wichtig ist mir insbesondere, dass diejenigen, derenArbeitslosengeld zu gering ist, um ihren Lebensunterhaltzu bestreiten, also diejenigen, die aufstocken müssen, zu-künftig bei Weiterbildungen und bei der Jobsuche vonder Bundesagentur für Arbeit unterstützt, gefördert undbetreut werden .
Das hat auch mit Anerkennung und Würde zu tun; dennsie haben sich Ansprüche nach dem SGB III erarbeitet .Sie haben in der Regel wahrscheinlich nur zu wenig ver-dient, um Ansprüche zu haben, die ausreichend sind, umihr Leben zu gestalten. – Ich finde, all das sind Schritte indie richtige Richtung .Last, but not least sind die Verbesserungen bei derAusbildungsförderung ein ganz wichtiger Punkt .
Bisher war es so, dass jeder, der eine Ausbildung auf-nahm, mit dem Tag, als er sie begann, weniger Geld zurVerfügung hatte, als wenn er im System des SGB II ge-blieben wäre . Das haben wir jetzt für viele geändert . Siebekommen nicht mehr weniger Geld, sondern sie habenmindestens die gleichen Ansprüche wie vorher, und dasist auch gut so .
Es ist kein Geheimnis, dass wir von der SPD-Fraktiongern noch mehr für die Menschen in unserem Land er-reicht hätten . So hege ich zum Beispiel immer noch dieHoffnung, dass wir es schaffen, im parlamentarischenVerfahren den Gesetzentwurf um eine Bagatellgrenze fürRückforderungen zu ergänzen . Denn auch das wäre einespürbare Entlastung für alle Beteiligten . Es kann dochnicht sein, dass durch eine Rückforderung von 5 Euro inden Ämtern Arbeitskosten von 50 Euro entstehen .
Das steht wirklich in keinem Verhältnis .Das gilt allerdings auch für die Blockadehaltung derCSU beim Thema der Sanktionen . Kürzungen bei denKosten der Unterkunft sind nicht nur sinnlos, sonderneinfach nur gefährlich; sie gefährden Mietverhältnis-se . Auch die besonders scharfen Regelungen für unter25-Jährige haben alle Experten als nicht zielführend be-zeichnet . Sie bringen nichts .
Wir haben das hinlänglich diskutiert . Die CSU verhindertleider bis heute eine faire Lösung .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16255
(C)
(D)
Wer ständig Sand ins Getriebe streut, kann nicht der Mo-tor der Nation sein .
Da Horst Seehofer zu Recht die Entwicklungen bei derRente kritisiert hat – er bezeichnet sie als neoliberal –,gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich diese Erkennt-nis auch in Bezug auf die Sanktionen durchsetzt .Mein Fazit für heute: Es ist ein guter Entwurf, der indie richtige Richtung geht .
Ich denke, wir werden im parlamentarischen Verfahrensicher noch über das eine oder andere reden können .
Vielen Dank, Markus Paschke . – Das Wort hat nun
der sehr verehrte Dr . Matthias Zimmer für die CDU/
CSU-Fraktion .
– Wenn Sie wüssten, wie er sich neben anderen Kollegin-
nen und Kollegen für Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterin-
nen in der Mitarbeiterkommission des Bundestages ein-
setzt, dann würden Sie das „sehr verehrter Dr . Zimmer“
verstehen .
Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Nach so einer freundlichen Begrüßung fällt es ausgespro-
chen schwer, das ein oder andere schärfere Wort anzu-
bringen .
– Sehr schön . Wenn ich eine Minute mehr Zeit habe,
dann kann man das ganz gut gestalten .
Das, was der Kollege Strengmann-Kuhn sagt, regt
eigentlich immer zum Nachdenken an . Aber in diesem
Fall ist die ein oder andere Replik erforderlich . Da ist
zunächst einmal, lieber Wolfgang Strengmann-Kuhn,
der Begriff des Bürokratiemonsters aus dem Bildungs-
und Teilhabepaket, der mich begrifflich doch sehr an das
Bürokratiemonster erinnert, das der Wirtschaftsflügel in
Bezug auf die Aufzeichnungspflicht nach dem Mindest-
lohngesetz sieht . Ich habe mich gefragt, ob die Grünen
bei dem Vokabular angekommen sind, das sie eigentlich
immer haben wollten .
Auch das Thema Armut ist angesprochen worden . Ich
möchte an dieser Stelle zwei Hinweise zum Thema Ar-
mut geben . Wir haben eine Einkommensspreizung, die
unter Rot-Grün bis 2005 zugenommen hat und seitdem
relativ stabil ist; sie wird sich durch den Mindestlohn
vermutlich etwas abschwächen . Ich will dafür plädieren,
dass man mit dem Begriff „Armut“ etwas vorsichtiger
umgeht . Er ist auf der einen Seite eine wissenschaftliche
Kategorie – das wissen wir beide relativ gut –, aber auf
der anderen Seite ist er auch ein Begriff, der einen hohen
Polarisierungseffekt hervorrufen kann . Davor sollten wir
uns ein wenig hüten .
Wir haben im letzten Jahr – ich will nicht sagen: ge-
feiert – daran gedacht, dass vor zehn Jahren Hartz-IV
und SGB II auf den Weg gebracht wurden . Wir haben
inzwischen das neunte Änderungsgesetz zum SGB II auf
den Weg gebracht . Wir haben also statistisch gesehen fast
jedes Jahr ein Änderungsgesetz vorgelegt, mit dem wir
nachsteuern, mit dem wir die Instrumente schärfen, mit
dem wir Verwaltung vereinfachen, mit dem wir für mehr
Effizienz sorgen und durch die Rückmeldung der Prakti-
ker vielleicht auch für ein klein wenig mehr Gerechtig-
keit in den Verfahren sorgen .
Karl Schiewerling hat es auf den Punkt gebracht, in-
dem er gesagt hat: SGB II ist ein lernendes System . Ich
finde, das ist auch gut so. Im Jahr 2005 hatten wir eine
sehr hohe Anzahl an Arbeitslosen . Mittlerweile konnten
wir einen deutlichen Rückgang bei der Arbeitslosigkeit
verzeichnen . Die Erfahrungen, die wir zwischenzeitlich
mit diesem Instrument gesammelt haben, gehen also in
unsere Erörterungen ein .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Dr . Franziska Brantner?
Gerne .
Herzlichen Dank für die Zulassung der Frage . Sie ha-ben gerade so schön gesagt, das SGB II sei ein lernen-des System, und man würde es weiter verbessern . Dahermeine Frage: Wie wollen Sie im parlamentarischen Pro-zess mit dem Entwurf zur Neuregelung der temporärenBedarfsgemeinschaften umgehen? Das hat wichtige Aus-wirkungen auf die Alleinerziehenden . Eigentlich habenwir gelernt, dass es in diesem Bereich eine Unterfinan-zierung gibt, wenn sich Eltern die Aufgabe teilen . Wiewollen Sie als Abgeordneter der Regierungskoalition mitdiesem Entwurf umgehen? Oder wollen Sie lieber ausden Erfahrungen lernen und den Alleinerziehenden, dieMarkus Paschke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616256
(C)
(D)
sich die Betreuung partnerschaftlich aufteilen, unter dieArme greifen?
Verehrte Frau Kollegin Brantner, ich spüre in Ihrer
Wortmeldung ein gewisses Bedauern darüber, dass Sie
das SGB II vor zehn Jahren zwar auf den Weg gebracht
haben, aber mittlerweile nicht mehr in der Lage sind, an
der Verbesserung des SGB II mitzuarbeiten, weil Sie seit
zehn Jahren in der Opposition sind . Gleichwohl: Wir ha-
ben von der Bundesregierung und von den Bundeslän-
dern ein Paket vorgelegt bekommen, das wir heute in die
parlamentarische Beratung einbringen werden .
Wie der Kollege Paschke schon gesagt hat: Es gibt
von der einen oder anderen Seite sicherlich noch Wün-
sche, die Regelungen auf die eine oder andere Art und
Weise zu ergänzen . Das werden wir in den parlamenta-
rischen Beratungen berücksichtigen . Ich bin mir sicher,
dass die Frage, die Sie angebracht haben, auch ein we-
sentlicher Bestandteil der parlamentarischen Beratungen
sein wird . – Danke schön .
Meine Damen und Herren, ich will drei besondere
Neuerungen hervorheben, die mir in diesem Zusammen-
hang wichtig sind . Eine hat Markus Paschke eben schon
erwähnt . Das ist die Entschärfung der Schnittstelle von
Ausbildungsförderung und Grundsicherung . Die beruf-
liche Ausbildung soll nicht dadurch verhindert werden,
dass weniger Geld da ist als nach SGB II . Ich glaube, das
ist eine sinnvolle Ergänzung dessen, was wir gestern im
Zusammenhang mit dem Gesetz zur beruflichen Weiter-
bildung diskutiert haben . Die Logik dahinter ist schlicht
und einfach, dass Bildung und Weiterbildung nachhalti-
ger sind als die schnelle Vermittlung in den Arbeitsmarkt .
Ich glaube, das ist eine gute Erkenntnis, die wir in den
letzten zehn Jahren gewonnen haben .
Der zweite Bereich – Karl Schiewerling hat ihn er-
schöpfend behandelt – ist der neue § 16 h SGB II, der
gewissermaßen einen Auffangtatbestand für diejenigen
Jugendlichen schafft, die durch die Raster fallen und
durch die Hilfesysteme nach SGB III und SGB VIII oder
auch durch die bisherige Ausgestaltung der Hilfesysteme
nach SGB II nicht erfasst werden können .
Ein dritter Bereich, der mir ganz besonders wichtig
ist, ist die Stärkung der Eingliederungsvereinbarung . Ich
glaube, es ist ein zentrales Element des Förderns und
Forderns, dass wir die Eingliederungsvereinbarung stär-
ken, dass wir eine Potenzialanalyse vornehmen und dies
auch regelmäßig überprüfen und fortschreiben . Ich glau-
be persönlich – und da schaue ich jetzt besonders auf die
Kolleginnen und Kollegen von der Linken –, dass dies
zusätzlich auf beiden Seiten zu einer gewissen Ernsthaf-
tigkeit führt und vielleicht die eine oder andere Sanktion
überflüssig macht. Das wäre auch in unserem Interesse.
Meine Damen und Herren, man darf immer noch
träumen . Wenn es nach mir ginge, dann würde ich drei
Bereiche anführen, in denen ich noch Wünsche für das
parlamentarische Verfahren hätte . Der erste Bereich ist
die Zwei-in-fünf-Regelung, dass man also innerhalb von
fünf Jahren nur zwei Jahre lang fördern kann. Ich finde,
wir sollten überlegen, ob wir unter bestimmten Bedin-
gungen, meinetwegen mit einer degressiven Ausgestal-
tung oder einer Verpflichtungserklärung von Arbeitge-
bern dahin gehend, dass jemand übernommen wird, ein
drittes Jahr fördern können . Ich glaube, von den Prakti-
kern würde dies als sehr sinnvoll erachtet . Ich glaube, wir
tun uns einen großen Gefallen, wenn wir dieses Thema
ernsthaft im parlamentarischen Verfahren erörtern .
Der zweite Bereich, der in diesem Zusammenhang
steht, ist die Förderung von Vollzeitmaßnahmen für die
berufliche Weiterbildung auch dann, wenn sie nicht um
ein Drittel verkürzt werden . Der Bundesrat hat das vorge-
schlagen . Das ist im Ministerium auf wenig Gegenliebe
gestoßen, aber ich halte es für eine sehr sinnvolle Ange-
legenheit, unter bestimmten Bedingungen das dritte Jahr
zu fördern . Auch hier kann man sich darüber unterhalten,
ob man dies an Bedingungen knüpft wie etwa an die Zu-
sage eines Arbeitgebers für eine spätere Übernahme . Das
halte ich auch für eine ausgesprochen sinnvolle Sache .
Der dritte Bereich sind AGHs und die Stärkung loka-
ler Akteure . Es ist ein lang gehegter Wunsch, dass wir
uns bei den Arbeitsgelegenheiten sehr genau darüber un-
terhalten, wie wir es hinbekommen, dass diese Kriterien
nicht strikt angewendet werden, sondern dass die Sozial-
partner vor Ort erhebliche Entscheidungsmöglichkeiten
haben . Ich denke, wenn wir die Sozialpartner vor Ort
stärken, dann können die Kriterien weitgehend wegfal-
len . Das gibt dann zwar einige Probleme, was den Nach-
vollzug in Nürnberg angeht, aber das gibt den lokalen
Akteuren vor Ort erheblich mehr Flexibilität .
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt einen ers-
ten Schritt gemacht, wir gehen in das parlamentarische
Verfahren . Wir haben an der einen oder anderen Stelle
noch eine größere Wunschliste, das ist eine ganz natürli-
che Entwicklung .
Auch der Bundesrat wird noch etwas mitreden kön-
nen . Auch die Opposition wird mitreden, verehrte Frau
Pothmer, dessen bin ich mir sicher . Ich freue mich auf die
Beratungen im Ausschuss .
Herzlichen Dank .
Vielen Dank, lieber Kollege Zimmer . – Der nächsteRedner ist Dr . Matthias Bartke für die SPD .
Dr. Franziska Brantner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16257
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Som-
mer 2014 gab es eine Koalitionsgruppe zur Flexirente .
Die Arbeitsgruppe hatte damals länger als ein Jahr ver-
handelt . Unsere Fachsprecherin, Katja Mast, hatte das
zum Anlass genommen, die Verhandlungsdauer mit der
Schwangerschaft eines Nashorns zu vergleichen .
Nun debattieren wir heute nicht über Rentenfragen,
sondern über Rechtsvereinfachungen im SGB II, und
die basieren auf den Vorstellungen der Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe aus dem Jahr 2014 . Um bei den Dickhäutern
zu bleiben: Die 540 Tage einer Nashornschwangerschaft
haben wir schon überschritten, die zwei Jahre einer Ele-
fantenschwangerschaft sind in Sicht . Es steht zu hoffen,
dass wir sie nicht erreichen .
Im Vorfeld hat der bayerische Löwe Seehofer schon
einmal gebrüllt . Löwen sind bekanntermaßen keine
Dickhäuter . Herr Seehofer hat gesagt – das ist weniger
spaßig –:
Das Verwässern der Sanktionen bei Drückebergern
wird die CSU verhindern .
Ganz unabhängig vom Stil dieser Aussage ist sie inhalt-
lich falsch . Herr Seehofer bezog sich auf das Vorhaben
unserer Ministerin Andrea Nahles, die verschärften
Sanktionsregeln für unter 25-Jährige abzuschaffen und
sie denen für ältere Arbeitsuchende anzupassen . Außer-
dem sollte die Kürzung bei den Kosten für Unterkunft
und Heizung abgeschafft werden . Auf dieses Vorhaben
hatten wir uns mit sämtlichen Experten bereits geeinigt .
Gemeinsame Erkenntnis war: Die teilweise überharte
Sanktionierung von Jugendlichen und die Streichung
der Kosten für Unterkunft wirken kontraproduktiv . Herr
Strengmann-Kuhn hat das eben durchaus zutreffend dar-
gestellt . Deswegen sage ich: Schlecht gebrüllt, bayeri-
scher Löwe!
Nach der Verweigerungshaltung der CSU hat sich
unsere Ministerin Nahles entschieden, die Verbesserung
des Sanktionsregimes vom restlichen Gesetzgebungsver-
fahren abzukoppeln; denn die anderen mit dem Gesetz-
entwurf vorgeschlagenen Rechtsvereinfachungen sind
dringend notwendig . Wir wollen die unnötige Bürokratie
in den Jobcentern abbauen . Die Jobvermittler sollen die
Chance haben, ihrer Berufsbezeichnung gerecht zu wer-
den, und nicht ihre ganze Energie auf Verwaltungsvor-
gänge verwenden müssen .
Meine Damen und Herren von der Linken, erfreuli-
cherweise konnten auch Sie sich durchringen, in Ihrem
Antrag Vorschläge des Gesetzentwurfs zu begrüßen . Ich
war, ehrlich gesagt, überrascht . Sie beziehen sich dabei
insbesondere auf die Verlängerung der Dauer der Be-
willigung der Bescheide auf zwölf Monate und die Ein-
schränkung der Verpflichtung zur Krankmeldung.
Ich sage Ihnen aber: Der Gesetzentwurf enthält noch
deutlich mehr Verbesserungen . Leider haben Sie die nicht
erkannt, und leider erheben Sie am Ende doch wieder nur
Ihre alte Forderung, Sanktionen komplett abzuschaffen .
Dabei war Ihr Antrag zu Beginn deutlich differenzierter .
Sie haben ebenso wie ich kritisiert, dass die Sondersank-
tionen für Jugendliche und die Kürzung bei den Kosten
der Unterkunft nicht abgeschafft werden .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder -frage von Herrn Birkwald von der Linken?
Da er das vorher schon so nett angekündigt hat, gerne .
Wie? So geht das aber nicht . So läuft das nicht – damit
das ganz klar ist .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Vielen Dank, Kolle-ge Bartke, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben .Sie haben eben gesagt, dass Sie sich dafür aussprechen,die verschärften Sanktionen für Jugendliche abzuschaf-fen . Das erkenne ich ausdrücklich an, auch wenn ich alleSanktionen abgeschafft haben will .Ich frage Sie als SPD-Abgeordneten, weil die SPD dasFamilienministerium besetzt, warum Sie Alleinerziehen-de und Kinder mit diesem Gesetz so strafen . Ich zitiereaus der heutigen Ausgabe der Welt. Die Überschrift lau-tet:Hartz-IV-Reform trifft vor allem Trennungskinder –Bundesregierung will Alleinerziehenden Geld strei-chen, wenn der Nachwuchs tageweise beim anderenElternteil ist .Die Kollegin Brantner hatte das Thema ja eben ange-sprochen . Es ist so, dass alleinerziehende Frauen, wennsie das Kind für ein Wochenende zum Vater geben, Geldabgezogen bekommen . Das Kinderzimmer bleibt aber,die Zahnbürste bleibt, und alle anderen Aufwendungenfür das Kind bleiben auch . Die Familienverbände sagenunisono: Das ist völliger Unsinn . Sie fordern im Gegen-teil einen Umgangsmehrbedarf . Das fordert nicht nur einFamilienverband, sondern drei, und auch der DeutscheJuristinnenbund . Meine Frage an Sie, da die SPD dieFamilienministerin stellt: Warum belasten Sie Allein-erziehende, die zu 40 Prozent voll oder ergänzend aufHartz IV angewiesen sind, mit diesem Gesetz so enorm?Ich finde, wir sollten etwas für Kinder und Jugendliche
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616258
(C)
(D)
und für Alleinerziehende tun und sie nicht noch bestra-fen .
Um es vorab zu sagen: Die Frage war angekündigt,
aber nicht der Inhalt der Frage . Deswegen sage ich Ihnen:
Ich freue mich, dass Sie so konstruktiv an den Beratun-
gen teilnehmen . Ich würde mich auch freuen, wenn Sie
weiterhin so konstruktiv agierten
und in den Ausschussberatungen zur Sache argumentier-
ten . Ich will jetzt nicht ins Detail gehen .
– Ich erläutere das nicht weiter . Es ist damit beendet .
Der Gesetzentwurf enthält noch deutlich mehr Verbes-
serungen .
Moment . War das jetzt die Antwort?
Das war die Antwort .
Ach so, gut .
Zum Thema Sanktionen haben Sie eine Kleine Anfra-
ge gestellt, über deren Beantwortung durch die Bundesre-
gierung letzte Woche in der Presse breit diskutiert wurde .
Da fand sich unter anderem die Schlagzeile: Fast 40 Pro-
zent der Klagen gegen Sanktionen sind erfolgreich . Ich
sage Ihnen, Herr Birkwald, ausdrücklich Danke für diese
Anfrage . Die Zahlen alarmieren auch uns . Jede unrecht-
mäßige Sanktion ist eine zu viel . Auf die Gründe dafür
müssen wir ein Auge haben, und wir müssen daraus un-
sere Konsequenzen ziehen . Aber ich kann Ihnen schon
jetzt sagen: Das wird nicht die Abschaffung der Sanktio-
nen sein, wie Sie direkt wieder geschlussfolgert haben . In
dieser Position hat uns die Mehrheit der Experten in der
letztjährigen Anhörung bestätigt .
Mir ist besonders wichtig, dass die Beratung als aus-
drückliche Leistung des Gesetzes in den vorliegenden
Gesetzentwurf eingeführt wird . Die Beratung ist in der
Vergangenheit oft zu kurz gekommen . Ich wünsche mir,
dass der fördernde Charakter dieser Regelung gelebt
werden wird .
Eine Beratung ist erst dann durch Wertschätzung geprägt,
wenn sie auf Augenhöhe erfolgt . Unter dieser Vorausset-
zung kann sie den Leistungsempfänger darin unterstüt-
zen, seine Hilfebedürftigkeit zu überwinden: Welche
Möglichkeiten zum Nachholen von Qualifikationen gibt
es? Wo bestehen Chancen zum beruflichen Aufstieg?
Zukünftig soll außerdem für jeden erwerbsfähigen
Leistungsberechtigten eine Potenzialanalyse der bishe-
rigen Eingliederungsvereinbarung vorgeschaltet werden .
Individuelle Potenziale statt standardisierte Verwal-
tungspraxis haben hier neuen Raum . In der Eingliede-
rungsvereinbarung wird dann festgelegt, in welche Tä-
tigkeitsbereiche vermittelt werden soll . Damit können
Vermittlungen unterhalb vorhandener Qualifikationen
verhindert werden . Mit dem Gesetz entfällt in Zukunft
auch die Darlehensregelung, wenn eine Maßnahme nach
Wegfall der Hilfebedürftigkeit weiter gefördert wird .
Den Teilnehmern wird es so erleichtert, die Maßnahme
abzuschließen . Außerdem müssen sie nicht mit Schulden
in die Erwerbstätigkeit starten .
Am Schluss noch zu einer mir besonders wichti-
gen Regelung, die auch schon Frau Staatssekretärin
Lösekrug-Möller dargestellt hat . Auszubildende und
Schüler, die BAföG erhalten, sollen künftig aufstockend
Arbeitslosengeld II erhalten können . Wenn eine Ausbil-
dung allein durch die Ausbildungsvergütung nicht finan-
ziert werden kann, ist das meistens schon der Anfang
vom Ende . Durch die Neuregelung werden Aufnahme
und Absolvierung einer Ausbildung endlich erleichtert .
Uns liegt am Herzen, dass wir für die Leistungsemp-
fänger Verbesserungen erreichen . Ich bin überzeugt, dass
wir mit dem Gesetzentwurf die besten Voraussetzungen
dafür geschaffen haben . Auch in meiner Fraktion sind wir
noch nicht vollends zufrieden, und – Herr Schiewerling
hat es eben angekündigt – wir werden noch über unter-
schiedliche Änderungswünsche gemeinsam diskutieren .
Ich freue mich daher auf das Beratungsverfahren und set-
ze auf die Zusammenarbeit auch mit Ihnen .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank, Herr Kollege Bartke . – Der nächs-
te Redner in der Debatte: Kai Whittaker für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Politik beginnt jabekanntlich mit dem Betrachten der Wirklichkeit . Dereine muss sie etwas länger betrachten als der andere, umsie zu erkennen, aber am Ende bleibt es dieselbe Wirk-lichkeit . Wenn ich mir die eine oder andere Rede der Op-position hier anhöre, dann habe ich den Eindruck, dassMatthias W. Birkwald
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16259
(C)
(D)
Sie heute beim Betrachten noch etwas Nachhilfe brau-chen .
Ich bin meinem AG-Chef Karl Schiewerling sehrdankbar dafür, dass wir heute dieses Gesetz auf den Wegbringen können, in dem wir nicht nur die technischenVereinfachungen bei Hartz IV, auf die sich Bund undLänder geeinigt haben, durchsetzen,
sondern auch noch einmal den Instrumentenkasten inden Blick nehmen . Warum ist der Instrumentenkasten sowichtig? Uns, der Union, ist es wichtig, Menschen wie-der in Arbeit zu bringen anstatt sie teuer und ineffizientzu verwalten . Das ist der Punkt, den wir mit dieser Re-form machen .
Menschen, die lange arbeitslos sind, haben viele sozi-ale Probleme und einen langen und steilen Weg zurück indie Arbeitswelt vor sich . Sie brauchen Hilfe, indem wirihnen eine Treppe in diesen ersten Arbeitsmarkt bauen .Mit diesem Gesetz bauen wir ein paar Stufen in dieseTreppe ein .
Ich möchte heute auf eine dieser Stufen hinweisen,weil sie mir persönlich sehr wichtig ist, nämlich dieÖffnung der Integrationsbetriebe . Ich halte das für ei-nen Meilenstein . Denn wir, die Union, waren immer derAnsicht, dass wir lieber Arbeit als Nichtstun finanzieren.Diese Integrationsbetriebe schaffen genau das . Sie sindein gutes Beispiel . Sie sind ein Erfolgsmodell . Das istder Unterschied zwischen uns und Ihnen: Sie wollenLangzeitarbeitslose in einem sogenannten dritten sozia-len Arbeitsmarkt parken und sie so aus der Statistik he-raushaben,
weil Sie den Glauben an diese Menschen verloren haben .
Das ist die Wahrheit . Wir hingegen möchten mit denIntegrationsbetrieben ein Mittel finden, wie wir dieseMenschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zurück-bekommen . Diese Integrationsbetriebe sind kein dritterArbeitsmarkt, und sie arbeiten auch nicht im zweitenArbeitsmarkt, sondern sie sind mittendrin im wirtschaft-lichen Leben im ersten Arbeitsmarkt . Deshalb halte ichdiesen Schritt für wichtig .Wir öffnen den Arbeitsmarkt für schwerbehinderteLangzeitarbeitslose . Es ist zugegebenermaßen eine vor-sichtige Öffnung, weil wir die Integrationsbetriebe auchnicht überlasten wollen . Aber für über 80 000 Menschenin diesem Land ist das eine echte Perspektive, ein ersterkleiner Schritt . Jede große Reise beginnt eben mit demersten Schritt . Deshalb bin ich darüber sehr glücklich .
Es gibt im Gesetzentwurf noch viele weitere Verbes-serungen, die schon angesprochen worden sind: Wir füh-ren ein Profiling ein. Da machen wir nichts anderes, alsdie Stärken der Langzeitarbeitslosen zu analysieren, umzu erfahren, was sie können und wo wir sie noch fördernkönnen . Wir führen für Langzeitarbeitslose, die wiederin den ersten Arbeitsmarkt kommen, eine nachgehendeBetreuung ein, damit sie stabil bleiben und nicht in dieLangzeitarbeitslosigkeit zurückfallen . Wir machen auchim Bereich der Ausbildung etwas .57 Prozent der Langzeitarbeitslosen haben keineAusbildung . Würden sie eine machen, verdienten siemit ihrem Azubigehalt weniger, als wenn sie weiterhinHartz IV bekämen . Das habe ich nicht verstanden, dashaben wir nie verstanden, und deshalb ändern wir dasjetzt, indem wir Hartz IV für Langzeitarbeitslose, dieeine Ausbildung machen wollen, öffnen .
Gibt es noch Potenzial nach oben, Herr Strengmann-Kuhn? Natürlich gibt es das . Es handelt sich um einenGesetzentwurf der Ministerin . Das parlamentarische Ver-fahren beginnt erst . Jetzt sind wir gefordert . Ich denke, inden nächsten Wochen werden wir noch einige Verbesse-rungen in das Gesetz einfließen lassen können.Jetzt können Sie uns vorwerfen, das alles sei nur einReförmchen .
Aber den Vorwurf, dass die Große Koalition nur nochkleine Gesetze durchbringt, lasse ich Ihnen nicht durch-gehen . Denn wenn man sich grundsätzlich über Hartz IVunterhält, dann muss man feststellen, dass man auch beiIhnen nicht wirklich fündig wird . Sie möchten Hartz IVam liebsten abschaffen: Augen zu, Geld an die Langzeit-arbeitslosen überweisen und versprechen, dass Deutsch-land ein Land ist, in dem Milch und Honig fließen.
Aber Sie bringen mit diesen Maßnahmen keinen einzigenMenschen zusätzlich in Arbeit .Zugleich versteifen Sie sich nur auf das Thema „Sank-tionen abschaffen“. Auch da hilft, finde ich, die Betrach-tung der Wirklichkeit . Wir haben letztes Jahr gelernt,dass die Sanktionsrate in diesem Land bei circa 1 Prozentder Fälle liegt . 1 Prozent!
Kai Whittaker
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616260
(C)
(D)
In Großbritannien sind es 5 Prozent, in den Niederlandensind es 35 Prozent . Wenn Sie sagen, dass in Deutschlandeine Herrschaft des Sanktionsregimes besteht, muss ichIhnen entgegnen: Das ist nicht der Fall. Ich finde, wirsind, was Sanktionen angeht, ziemlich harmlos unter-wegs .
Von den Grünen höre ich die Sätze, dass man das Ver-fahren vereinfachen und Hartz IV einfacher gestaltenmöchte . Das möchte ich auch sehr gerne . Aber wenn mansich Ihre Anträge anschaut, stellt man fest, dass sie ge-nau das Gegenteil bewirken würden . Sie wollen letztlicheine komplett individuelle Betrachtung der Leistungender Menschen . Für jeden einzelnen Euro, der ausgezahltwird, soll eine individuelle Auswertung, eine individu-elle Einschätzung vorgenommen werden, damit sich amEnde keiner beschweren kann . Damit sorgen Sie nur fürBürokratieaufwuchs .
Wir brauchen eigentlich genau das Gegenteil, nämlichmehr Pauschalierung .
Wir bräuchten Pauschalierung bei den Wohnkosten, wirbräuchten Pauschalierung bei den Bagatellgrenzen etc .pp . Aber davon ist bei Ihnen momentan wenig zu sehen .Sie verlieren sich im Klein-Klein .
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung
oder -frage von Frau Kipping?
So kurz vor dem Ende meiner Rede, ehrlich gesagt,
nicht mehr . Nein, danke .
Ich möchte noch einmal deutlich machen: Wenn wir
Hartz IV reformieren wollen, brauchen wir Pauschalie-
rungen in der Art, wie ich es gerade gesagt habe . Wir
brauchen auch eine wesentlich bessere individuelle Be-
treuung der Menschen .
Denn wenn die Hälfte der Jobcenter-Mitarbeiter nichts
anderes zu tun hat, als auszurechnen, wie viel Euro ein
Mensch am Ende des Monats überwiesen bekommt,
dann helfen wir zu wenig und verwalten zu viel .
Da müssen wir noch einmal ran . Ich muss aber ehrlich
sagen: Ich sehe weder bei Ihnen von den Linken noch bei
Ihnen von den Grünen den Willen, das zu tun .
Wenn ich in die Gesichter hier schaue,
denke ich, dass ich Ihnen bei der Betrachtung der Wirk-
lichkeit auf die Sprünge geholfen habe . Zumindest bestä-
tigt sich Schopenhauers Aussage, der einmal festgestellt
hat:
Im Reiche der Wirklichkeiten ist man nie so glück-
lich wie im Reiche der Gedanken .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker . – Das Wort zu
einer Kurzintervention hat die Kollegin Kipping .
Herr Whittaker, Sie haben ja versucht, uns zu beleh-
ren, und den Eindruck erweckt, dass es Sanktionen nur
bei 1 Prozent der Fälle gibt . Deswegen sei das alles nicht
schlimm . Dazu muss ich sagen: Da sind Sie schlecht in-
formiert . Ich beziehe mich hier auf Zahlen, die uns die
Bundesregierung als Antwort auf eine Anfrage geliefert
hat: Es sind 3 Prozent aller infragekommenden Personen,
die sanktioniert werden . Wenn man zusammenzählt, wie
viele Sanktionen verhängt worden sind, so stellt man fest,
dass es im letzten Jahr fast 1 Million, nämlich 980 000,
waren . Bei den unter 25-Jährigen, bei den Jugendlichen
liegt die Rate der Betroffenen sogar bei 4 Prozent .
Hinzu kommt: Nicht nur diejenigen, gegen die tat-
sächlich eine Sanktion verhängt worden ist, sind davon
betroffen, sondern auch viele andere, weil die Möglich-
keit einer willkürlichen Kürzung wie ein Damokles-
schwert über vielen hängt . Das führt natürlich auch zu
entsprechenden Ängsten .
Herr Whittaker, Sie haben die Möglichkeit zu einer
Erwiderung .
Vielen Dank . – Frau Kollegin Kipping, ich beziehemich auf eine Studie von Spermann, die vorletztes Jahrherausgekommen ist . Da ist von 1 Prozent die Rede .Aber ob es jetzt 1, 2 oder 3 Prozent sind:
Im europäischen Vergleich ist Deutschland nicht dasLand, als das Sie es hinzustellen versuchen . Es ist nichtKai Whittaker
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16261
(C)
(D)
so, dass wir hier mit der Sanktionsmachete herumlaufenund die Menschen in Angst und Schrecken versetzen .Das Gegenteil ist der Fall: Wir versuchen, zu helfen, wowir können . Andere Länder sind da wesentlich strengerunterwegs . Deshalb ist Ihre Aussage schlicht und ergrei-fend eine politische Nebelkerze .
Vielen Dank, Herr Kollege . – Der letzte Redner in der
Debatte – wir haben ja viel vom bayerischen Löwen ge-
redet; jetzt kommt der Löwe aus dem Allgäu –: Stephan
Stracke .
Liebe Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank für dassehr schöne Intro . – Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist tatsächlichin einer hervorragenden Verfassung . Dazu trägt Bayernals Jobmotor und Stabilitätsanker in vielen Bereichenmaßgeblich bei . Wir haben weniger Arbeitslose, mehrsozialversicherungspflichtig Beschäftigte und deutlichüber 630 000 offene Stellen. Davon profitieren natürlichauch diejenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt schwer-tun: Ältere, Menschen mit Behinderung, aber auch Lang-zeitarbeitslose .Sicherlich ist auch die Erkenntnis richtig, dass Lang-zeitarbeitslose zu wenig von dieser Entwicklung pro-fitieren. Dabei haben wir schon einiges auf den Weggebracht, um in diesem Bereich für Verbesserungen zusorgen . Der Schlüssel liegt aber vor allem in einer per-sönlichen Beratung vor Ort . Genau da setzt der vorlie-gende Gesetzentwurf an . Mit diesem Gesetzentwurfwerden das Leistungs- und Verfahrensrecht des SGB IIund damit die Arbeit der Jobcenter deutlich vereinfacht .Unnötige Bescheide, Anrechnungsregeln, Verfahrensver-einfachungen – auf all das zielt der Gesetzentwurf ab,und wir nehmen damit in diesem Bereich eine zentraleWeichenstellung vor . Diese Erleichterungen sind in derTat überfällig .Hierüber gab es schon eine lange Debatte . Es wurdendurch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorbereitungengetroffen . Mich erstaunt, wie viele Vorschläge hier neu-erdings vonseiten der Bundesländer auf den Tisch ge-kommen sind . Ich glaube, im Rahmen der anstehendenDebatte müssen wir uns auf das Wesentliche konzent-rieren und dürfen uns nicht mit der Beratung kleinteili-ger Vorschläge verzetteln . Ich bin auf die entsprechendeSachverständigenanhörung gespannt, die wir in diesemBereich vornehmen wollen .Interessant ist im Rahmen dieser Debatte, welche Vor-schläge vonseiten der Opposition unterbreitet werden .
Oftmals zielen diese Vorschläge darauf ab, die Zielrich-tung des Gesetzes zu sprengen. Sie stellen häufig einganzes Sammelsurium dar . Entscheidend ist aber wohldie Frage der Sanktionen . Die Linken fordern eine sank-tionsfreie Mindestsicherung . Die Grünen positionierensich mit der Forderung, die Sanktionen auszusetzen .Dem stellen wir entgegen: Wir halten an Sanktionen fest,weil wir sie für richtig erachten . Jeder hat Verantwor-tung: Verantwortung für sich, aber auch Verantwortunggegenüber denjenigen, die einem helfen und einen un-terstützen . Deshalb ist es nur fair, dass es keine Leistungohne Gegenleistung gibt .Für uns gilt das Prinzip des Förderns und Forderns .Dass der diesem Prinzip zugrundeliegende Gedanke jetztauch von der Koalition noch einmal unterstrichen wird,zeigen die Ergebnisse des Koalitionsausschusses . Wirhaben uns dort darauf verständigt, ein Integrationsgesetzauf den Weg zu bringen, gerade unter dem Leitgedankendes Förderns und Forderns . Das ist genau das Richtige .Was wir nicht tun, ist, zu lasche Sanktionen zu verhän-gen . Deswegen haben wir uns dagegen gesperrt .Wir sperren uns allerdings nicht gegen Vereinfachun-gen im Sanktionsrecht, etwa was Pauschalierungen oderanderes angeht . Aber Sanktionen müssen weiter wirksambleiben . Sie müssen weiterhin wirksame Anreize bieten,damit diejenigen, die mit den Jobcentern zu tun haben,mit diesen kooperieren, aktiv nach Arbeit suchen undinsgesamt rascher eine Arbeit aufnehmen . All dies ist indiesem Bereich unumstritten .
Wenn wir über bestehende Instrumente reden, die wirunter Umständen gemeinsam ausbauen wollen, dannmuss allerdings noch eine andere Sache stimmen, näm-lich die Sicherstellung der Mittelausstattung der Jobcen-ter und eine faire Verteilung der Finanzlasten auf alleBundesländer . Es gilt ja: Ohne Geld ist vieles nichts .Deswegen muss es auch um die Verteilung der Einglie-derungsmittel im SGB II gehen . Das tun wir im Bereichder Flüchtlinge, indem wir dem Grundsatz folgen: DasGeld soll dorthin fließen, wo die Arbeit anfällt. Wir müs-sen noch genauer hinschauen, wo die Arbeit tatsächlichanfällt . Zum anderen müssen wir auch sehen, dass dieGelder dorthin fließen, wo die Langzeitarbeitslosen sind.In Teilen Deutschlands, auch in Bayern, haben wir es mitMenschen zu tun, die sich in einer Situation verfestigterLangzeitarbeitslosigkeit befinden. Für diese sind höhereAufwendungen nötig, um ihnen gute Chancen zu geben .Deswegen müssen wir die Mittelausstattung noch einmalverändern . Das werden wir im Rahmen der anstehendenBeratungen zu einem der Kernbestandteile machen .Ich freue mich auf die Beratungen . Ich glaube, dasführt dazu, dass wir diesen Gesetzentwurf noch bessermachen . Die Vorlage ist ganz ordentlich .Kai Whittaker
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616262
(C)
(D)
Herzliches Dankeschön!
Vielen Dank, Herr Kollege Stracke . – Damit schließe
ich die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/8041, 18/8076 und 18/8077 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . – Sie sind damit einverstanden . Dann sind die
Überweisungen so beschlossen .
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
bitte ich alle, die nicht zuhören oder sich beteiligen wol-
len, um beschleunigte Platzwechsel .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
30 Jahre Tschernobyl, 5 Jahre Fukushima –
Atomausstieg konsequent durchsetzen
Drucksache 18/7656
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Atomkraftwerk Cattenom sofort abschalten
Drucksache 18/7668
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Kai Gehring, Dr . Franziska
Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine öffentlichen Forschungsgelder für den
Wiedereinstieg in atomare Technologien –
6. Energieforschungsprogramm vollständig in
Richtung Energiewende weiterentwickeln
Drucksache 18/5211
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit
Federführung strittig
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-
gie zu dem Antrag der Abgeord-
neten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für mehr Transparenz in der Internationalen
Atomenergie-Organisation sowie eine starke
und unabhängige Weltgesundheitsorganisati-
on
Drucksachen 18/7658, 18/8101
Ich würde gerne die Debatte eröffnen . Ich bitte die
Kolleginnen und Kollegen, mir nicht den Rücken zuzu-
drehen, sondern Platz zu nehmen, damit wir mit der De-
batte beginnen können .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Auch dazu
höre und sehe ich keinen Widerspruch . Dann ist das so
beschlossen .
Ich gebe der ersten Rednerin in dieser Debatte das
Wort . Das ist Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die
Grünen .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Der 26 . April 1986 hat sich mir, damalsMutter mit kleinen Kindern, als Datum unauslöschlicheingebrannt . Natur, vor allem Regen, war plötzlich ge-fährlich, meine alternative Selbstanbauerei ungesünderals alte Konserven, Leben und Vertrauen in das Daseinplötzlich auf den Kopf gestellt und alles Handeln geprägtvon der Sorge, die Kinder zu schützen . Was war das allesfür ein Federstrich im Vergleich zum Leben der Men-schen um Tschernobyl herum bzw . in Weißrussland – dasLand, das den größten Niederschlag des atomaren Fall-outs zu ertragen hatte .Schauen wir heute nach Tschernobyl, dann sehen wir,dass der damals von den Liquidatoren unter dem Ein-satz der eigenen Gesundheit aufgebaute Sarkophag vorsich hin rottet . Das Gelände hat sich zu einem tödlichenBiotop entwickelt . Menschen kämpfen um ein bisschenEntschädigung vom Staat . Spricht man mit ihnen, dannhört man: Die meisten von ihnen leiden unter einem ge-schwächten Immunsystem . Sie haben Angst vor Krebs . –Junge Frauen, die Kinder von Tschernobyl, die nun ih-rerseits Kinder bekommen, haben, leider berechtigt, einesehr viel größere Angst als Frauen an anderen Orten derWelt, Kinder mit Schädigungen zur Welt zu bringen .30 Jahre danach muss man sagen: Es ist noch lange nichtvorbei .Spreche ich mit Menschen in Fukushima, dann erfah-re ich, dass auch dort die Angst um die Kinder präsentist . Auffällig sind Anomalien an ihren Schilddrüsen .Bauern haben Sorge, ihre Existenzgrundlage vollständigzu verlieren, auch wenn sie nicht in belasteten Gebie-ten leben; denn keiner in Japan will ihre Produkte mehrkaufen . Ähnlich geht es den Fischern in der PräfekturFukushima . Auch deren Fänge will niemand mehr kau-fen, geschweige denn essen . Sie versuchen alles, um zuüberleben . Und auf der Anlage wird alles versucht, uman dem Ort der Kernschmelzen die Folgen in den GriffStephan Stracke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16263
(C)
(D)
zu bekommen . Ich war dort, und ich kann die Menschen,die dort arbeiten, nur bewundern . Sie schalten Hoffnungund die Gedanken an erreichbare Ziele ihres Tuns aus,weil sie sonst aufhören müssten . Sie versuchen alles undwissen fünf Jahre danach: Es ist noch lange nicht vorbei .Es gibt auch andere schwere Schicksale auf der Welt;das ist völlig richtig . Das alles ist aber so unnötig . Atom-kraft ist eine Technologie, die die Welt nicht braucht .
In Deutschland sind wir auf dem Weg, diese Erkennt-nis in die Realität umzusetzen . Und die Frage, die sichstellt, lautet: Was können wir tun, um andere Länder vonder Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen? Das Beste,was wir tun können, ist natürlich, ein gutes, gelingendesBeispiel zu geben, zu zeigen, dass Atomausstieg, Kli-maschutz, hoher Lebensstandard und Wirtschaftskraftzusammengehen, ja, sich sogar gegenseitig befördernkönnen und sich nicht im Wege stehen .Um glaubwürdig zu sein, muss man aber auch konse-quent sein . Nicht konsequent ist es, einen Abschaltplanfür Atomkraftwerke vorzulegen, aber keinen Abschalt-plan für die Urananreicherungsanlage in Gronau und dieBrennelementefabrik in Lingen .
Nicht konsequent ist es, sich nicht der Klage anderer Län-der gegen die Subventionen für ein geplantes AKW-Pro-jekt – ich rede von Hinkley Point in Großbritannien – an-zuschließen . Nicht konsequent ist es auch, über Euratomund das nationale Energieforschungsprogramm viel Geldin die atomare Forschung zu stecken, übrigens ganz imWiderspruch zu Ihrem eigenen Koalitionsvertrag, in demSie festgeschrieben haben, dass die Energieforschungvollständig auf die Energiewende ausgerichtet werdensoll .Das Argument, das ich höre, wenn ich das anspreche,lautet: Wir wollen national den Anschluss nicht verlie-ren . – Ich frage Sie: Den Anschluss woran, bitte? DenAnschluss an die Weiterentwicklung einer Technologieoder, im Falle des Ausstiegs, im Rahmen von Transmuta-tion in den Wiedereinstieg in eine Technologie, von derwir hier in Deutschland sagen, dass ihr Risiko der Ge-sellschaft nicht mehr zumutbar ist? Wie konsequent istdas denn?
Anderen Bevölkerungen und Gesellschaften wollen wirzumuten, was wir hier für nicht mehr zumutbar halten?Solches Agieren macht neben der Geldverschwendungauch unser eventuell gutes Beispiel zahnlos . Unglaub-würdigkeit ist das Ende der Überzeugungskraft .Doch auch die deutsche Bevölkerung ist angesichtsder Alterung der europäischen Atomkraftwerke bedroht .Die atomaren Altlasten an unseren Grenzen sind ins Ge-rede gekommen . Fessenheim, Cattenom, Doel, Tihan-ge, Temelin, Beznau, Leibstadt sind Namen, bei denenman nicht an schöne Landschaften oder kleine Städtchendenkt, sondern an fehlende Sicherheitsvorkehrungen inAtomkraftwerken, mangelhafte Erdbeben- oder Über-schwemmungsauslegungen und an Löcher in Herzen vonReaktordruckbehältern . Diplomatie und das Hoffen aufdas eigene Beispiel geraten dort, wo die eigene Bevölke-rung bedroht ist, an ihre Grenzen .Ursächlich für die prekäre Situation ist wieder einmalder uralte Euratom-Vertrag . Jedes Land übt seine Atom-aufsicht souverän aus – das ist die Standardantwort derBundesregierung auf meine Anfragen . Liebe Bundesre-gierung, ich vermisse Ihre Initiative zu einer Reform desEuratom-Vertrages . Ich vermisse Ihre Initiative, diesenUraltvertrag, wenn er schon nicht abgeschafft werdensoll, doch zumindest so grundsätzlich zu reformieren,dass Regelungen, wonach jedes Land völlig souveränund ohne Rücksicht auf die Nachbarn, die von einemGAU bedroht wären, die Aufsicht über seine Atomkraft-werke und deren Sicherheit ausübt, geändert werden .
Hans Blix sagte nach dem GAU von Tschernobyl alsdamaliger Direktor der IAEO, angesichts der Wichtigkeitder Kernenergie könne die Welt jedes Jahr einen Unfallvom Ausmaß Tschernobyls ertragen . Ein Blick nachTschernobyl 30 Jahre nach dem Unfall oder nach Fuku-shima 5 Jahre danach macht den ganzen Wahnsinn einersolchen Aussage klar . Lassen Sie uns mit allen Kräftenund mit allen Mitteln dafür sorgen, dass Tschernobyl undFukushima sich nicht wiederholen – nicht bei uns, nichtan unseren Grenzen, nirgendwo auf der Welt!
Wir haben Ihnen heute mit unserem zugegebenerma-ßen umfassenden Antrag einen ganzen Katalog von Maß-nahmen vorgelegt, die genau dafür Hilfestellung geben .Ich bitte Sie, sich in den Beratungen auf uns zuzubewe-gen und am Ende diesen Antrag mit uns gemeinsam zubeschließen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Sylvia Kotting-Uhl . – Der nächs-
te Redner in der Debatte: Steffen Kanitz für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erinnernin diesem Jahr an die katastrophalen Unfälle von Tscher-nobyl vor 30 Jahren und an die schrecklichen Ereignissevon Fukushima vor 5 Jahren . Völlig unabhängig davon,wie viele Tote wir durch diese Ereignisse zu beklagenhaben, können und müssen wir feststellen: Jedes Opferwar eines zu viel .Sylvia Kotting-Uhl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616264
(C)
(D)
Wir denken aber nicht nur an die Opfer der Vergan-genheit, sondern auch an die betroffenen Menschen inden Regionen von Tschernobyl und Fukushima, die dortheute noch leben . Wir müssen diese Regionen mit unse-rem Wissen und unserer Tatkraft finanziell unterstützenund auch weiterhin vor Ort humanitäre Hilfe leisten .Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,ich stimme Ihnen zu, dass diese Katastrophen und ihreAuswirkungen ein sehr sensibles Thema sind . Jedoch istes, glaube ich, wichtig, dass diese Vorfälle nicht – vonkeiner Seite – instrumentalisiert werden . Wir sollten viel-mehr versuchen, diese Ereignisse, so schlimm sie auchwaren, sachlich einzuordnen . Übertriebene Panikmachehilft, glaube ich, niemandem weiter . Ein Beispiel für die-se Panikmache, die Sie betreiben, darf ich Ihnen kurz ausIhrem eigenen Antrag vorhalten . Zu möglichen weiterenRisiken in Fukushima schreiben Sie – ich zitiere –:Ein weiterer Störfall könnte bereits durch ein mittle-res Erdbeben ausgelöst werden . Erneut könnte einegroße Menge Radioaktivität in die Atmosphäre ge-langen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Aus-sage ist in etwa so zutreffend wie die These, dass Sie voneinem Auto überfahren werden könnten, wenn Sie dieStraße überqueren .
Ich halte das für höchst unseriös und bitte, in Zukunftdarauf zu verzichten .
Wenn ich mir nun die inhaltlichen Punkte Ihres An-trags zu Tschernobyl und Fukushima anschaue, kann ichIhnen nur in Ihrem Bedauern um die vielen Opfer der Ka-tastrophe zustimmen . Darin erschöpfen sich aber schonunsere Gemeinsamkeiten .Zunächst einmal verharmlosen Sie die Anstrengun-gen der Energiewende, die wir in Deutschland schongeschafft haben . Als einziges Land der Welt hat Deutsch-land aus den furchtbaren Ereignissen von Fukushimadie drastische Konsequenz gezogen, vollständig aus derKernenergie auszusteigen . Das ist eine riesige Aufgabe,der wir uns stellen, die aber erst einmal bewältigt werdenmuss . Dabei gilt es zunächst die dringendsten Problemevor unserer eigenen Tür zu lösen, wie zum Beispiel denNetzausbau, die Speicherproblematik bei erneuerbarenEnergien oder die auch für unsere Wirtschaft so wichtigeGrundlastversorgung .
Wir sind dabei ein gutes Stück vorangekommen . Wir ha-ben nur noch neun Reaktoren in Betrieb . Letztes Jahr gingGrafenrheinfeld vom Netz . Im Jahr 2017 folgt Block Bdes Kernkraftwerks Gundremmingen . 2022 werden dannalle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet sein .Unsere Bemühungen in der Energiewende fordernalle Beteiligten, und wir tun alles dafür, dass es – Stich-wort „Kosten“ – nicht zu einer Überforderung kommt .Die Welt wird uns erst folgen, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, wenn wir liefern, wenn diedeutsche Energiewende gelingt . Es reicht also nicht aus,sozusagen immer nur zu fordern: „Folgt dem deutschenWeg!“ Wir müssen auch unter Beweis stellen, dass dieserWeg funktioniert .
Auch Ihre Forderung, dass Deutschland vollständigaus der Nuklearforschung aussteigen soll, ist für michvöllig unverständlich . Gerade für den Kompetenzerhaltist die Forschung von wesentlicher Bedeutung . Denn wirmüssen für den sicheren Restbetrieb und den sicherenRückbau der Kernkraftwerke dringend Know-how imeigenen Land halten .
Mir ist schleierhaft, wie Sie diese enorme Aufgabe an-gehen wollen, wenn Sie jede Form nuklearer Forschungverbieten wollen .
Solange wir Zwischenlager betreiben und stillgeleg-te Kernkraftwerke rückbauen, brauchen wir weiterhinKompetenz in den kommenden Jahrzehnten . Schon heu-te gibt es in Deutschland keinen einzigen Studiengangmehr mit kerntechnischem Bezug . Insbesondere beimRückbau kerntechnischer Anlagen besitzen wir aber mo-mentan eine einzigartige Kompetenz, für die ich werbenwill und für die wir, wie ich finde, auch alle gemeinsamin der Welt werben können, unabhängig davon, welchepolitische Couleur wir haben . Mir wäre es lieber, wennwir international Kraftwerke zurückbauen, die vom Al-ter her die Höchstdauer überschritten haben, und dies mitdeutschem Know-how, mit deutschen Ingenieuren tunwürden, als wenn andere das tun . Also lassen Sie uns beijungen Leuten dafür werben und ihnen sagen: Hier istnoch ein großes Zukunftsfeld vor euch . Hier könnt ihrarbeiten .
Zudem ist Ihre Forderung, die Reaktorsicherheitsfor-schung vom Bundeswirtschaftsministerium in das Bun-desumweltministerium zu überführen, für mich nichtnachvollziehbar . Die nukleare Sicherheits- und auch Ent-sorgungsforschung ist schon jetzt ausschließlich sicher-heitsorientiert . Es geht nicht um einen Wiedereinstieg indie Kernenergie zur Stromproduktion .Ihr Antrag zeigt aus meiner Sicht deutlich, dass die da-rin enthaltenen Forderungen nicht nur gegen internationalgültige Grundsätze verstoßen – die Joint Convention mitihrem Trennungsgrundsatz ist angesprochen worden –,sondern auch klar gegen unsere Sicherheitsinteressen ge-richtet sind . Ich glaube, das ist auch der Punkt: Mithilfeeiner eigenständigen sicherheitsorientierten Forschungwill sich die Bundesregierung und wollen wir uns inDeutschland die Kompetenz bewahren, die Sicherheitvon Kernkraftwerken in Deutschland und auch in EuropaSteffen Kanitz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16265
(C)
(D)
weiterhin unabhängig beurteilen zu können und gegebe-nenfalls auch zu ihrer Verbesserung beizutragen .Wir brauchen auch weiterhin die Nuklearforschungim Bereich der Medizin, um Behandlungsmethodengegen Krebs zu entwickeln . Wir brauchen die Materi-alforschung, um Alterungsprozesse in Kernkraftwerkenprognostizieren zu können . Wenn Länder weiterhin ihreKernkraftwerke betreiben, dann doch am liebsten mitdeutschem Fachwissen und nach deutschen Sicherheits-standards .Sie wollen die sichersten Nuklearanlagen der Welt,ohne in die dafür notwendige Forschung zu investieren .Das ist, um einmal ein Bild zu verwenden, in etwa so, alswenn Sie Ihre Mannschaft nach der ersten Halbzeit vomPlatz nehmen und den Gegner bitten, den Spielbetriebeinzustellen . Mit dieser Einstellung, liebe Kolleginnenund Kollegen, überzeugen Sie kein Nachbarland davon,unsere Sicherheitsstandards zu übernehmen .
Gerade in puncto Sicherheit gibt es noch einen wei-teren Aspekt, bei dem ich ein sehr sensibles Vorgehenfür geboten halte . Diesbezüglich werden aber, wie ichglaube, in Ihrem Antrag sehr bewusst oder auch unbe-wusst Ängste geschürt: Stichwort „Sicherheit der euro-päischen Kernkraftwerke“ . Es ist ja vollkommen richtig,dass wir meldepflichtige Ereignisse nicht verharmlosendürfen, sondern einordnen müssen . Das Beispiel Belgienist genannt worden . Die Terrorangriffe in Brüssel und dieBerichterstattung dazu, die uns in den Tagen danach er-reichte, waren durchaus besorgniserregend . Da hieß es inBezug auf Tihange, dass Betriebspersonal evakuiert wor-den sei . Und die Menschen haben den Eindruck bekom-men, dass möglicherweise ein Anschlag kurz bevorsteht .Insofern ist es wichtig, einzuordnen, was passiert ist:Nach den schrecklichen Anschlägen von Paris hat sichBelgien entschlossen, eine allgemeine Sicherheitsstufe 3auszusprechen, was dazu führte, dass auch kerntechni-sche Anlagen unter besonderen Schutz gestellt wurden .Als sich dann dieser schreckliche Anschlag in Brüsselereignete, wurde die Terrorwarnstufe auf 4 erhöht, waszwangsläufig dazu führte – so ist es in jedem Handbuchvorgesehen –, dass das Betriebspersonal auf ein Mi-nimum reduziert wurde . Es gab also keine überhasteteRückführung, keine Evakuierung der Menschen, sonderndas war ein ganz normaler Vorgang, sofern man in die-sem Zusammenhang davon sprechen kann .Noch ein paar Worte zu Ihren Ausführungen zurBrenn elementeherstellung bei ANF in Lingen . Sie tun inIhrem Antrag so, als würden dort Massen von hoch radi-oaktivem Abfall produziert . Ich war selbst dort und habedie Pellets in der Hand gehalten . Ich hatte einen Hand-schuh an . Der Handschuh diente nicht meinem Schutz,sondern dem Schutz der Pellets . Ich bin nicht verstrahltworden . Es fallen eben keine hoch radioaktiven Abfällean, sondern einzig und allein schwach radioaktive Abfäl-le in Form von Schutzkleidung und Reinigungsmaterial .Ein ganz wesentlicher Punkt ist: Lingen ist nicht nurin der Lage, Brennelemente zu fertigen, sondern auchdazu, alte aktivierte Brennelemente auseinanderzuneh-men . Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für dieHerstellung von Brennstofffreiheit beim Rückbau vonKernkraftwerken .Zudem bildet Lingen qualifizierten Nachwuchs in Sa-chen Strahlenschutz aus . Das führt dazu, dass wir kern-technisches Know-how für den Rückbau von Kernkraft-werken in Deutschland erhalten .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss . 2016 ist das Jahr der Entscheidung für dasGelingen des sicheren und zeitnahen Ausstiegs aus derKern energie . Die Aussicht auf ein Endlager für hoch radi-oaktive Abfallstoffe ist ein wesentlicher Schlüssel dafür,dass wir bis 2022 aussteigen und die Hinterlassenschaf-ten der Kernenergie auch für zukünftige Generationen si-cher entsorgen können . Herr Trittin, die Finanzierung bil-det die Grundlage . Der Bericht der Endlagerkommissionbildet den Rahmen . Ebenfalls wollen wir in diesem Jahrdas Standortauswahlgesetz novellieren . Ich möchte alleBeteiligten herzlich bitten, diesem Zeitplan zu folgen .Nach meinen Ausführungen wird es Sie nicht verwun-dern, dass ich Ihrem Antrag zum jetzigen Zeitpunkt nichtfolgen kann .Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollege Steffen Kanitz . – Der nächste
Redner in der Debatte: Hubertus Zdebel für die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Indiesen Tagen gedenken überall auf der Welt Menschender Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl,die für Hundertausende Menschen Leid, Tod und Vertrei-bung zur Folge hatten und noch immer zur Folge haben .Beide Katastrophen müssen für uns alle eine Mahnungsein, dafür einzutreten, dass sich so etwas nirgends aufder Welt wiederholt .
Die Atomenergie ist in allen Anwendungen derart zer-störerisch und letztlich nicht zu beherrschen, dass wirsie aus dieser Welt verbannen müssen, sowohl in Formvon Atomwaffen als auch als Stromerzeugungsenergie inAtomkraftwerken .
Wir Linken haben bereits in der letzten Sitzung an-gesichts der Jahrestage der Katastrophen von Fukushimaund Tschernobyl und unter dem Eindruck der Ereignis-se zum Beispiel um die Risikoreaktoren Tihange, Doel,Cattenom und Fessenheim und andere einen Antrag inden Bundestag eingebracht, der in vielen Punkten diegleiche Stoßrichtung wie die nun vorgelegten AnträgeSteffen Kanitz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616266
(C)
(D)
der Grünen hat . Wir müssen den Ausstieg in Deutsch-land forcieren . Wir müssen dabei auch die bislang beimAtomausstieg vergessenen Uranfabriken in Gronau undLingen endlich einbeziehen .
Diese versorgen brandgefährliche Atommeiler nicht nurin Belgien und Frankreich mit Brennstoff . Die deutscheBeihilfe zu einem nächsten Super-GAU im Auslandmuss beendet werden, am besten sofort .
Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass die Konzerne,die sich jahrzehntelang eine goldene Nase mit der Atom-energie verdient haben, für die Milliarden Euro an Kos-ten des Atomausstiegs tatsächlich aufkommen und dassdiese Kosten nicht bei den Steuerzahlerinnen und Steu-erzahlern landen .
Deswegen fordert die Linke gerade mit Blick auf die fürJuni geplante Aufspaltung von Eon, das Nachhaftungs-gesetz endlich im Bundestag zu verabschieden .
Es ist ein absoluter Skandal, dass das die ganze Zeit vonder CDU/CSU-Fraktion blockiert wird, mit allen Milliar-denrisiken, die damit verbunden sind .
Da radioaktive Wolken keine Grenzen kennen, müs-sen die Atomgefahren in Europa insbesondere mit Blickauf die Uraltreaktoren verringert werden . Die Ängsteder Menschen in den Grenzregionen zu Frankreich undBelgien – fahren Sie einmal nach Aachen! – sind wederirrational noch übertrieben . Hier kann und darf sich dieBundesregierung nicht länger diplomatisch zurückhaltenund der Atomlobby im Ausland das Feld überlassen . Esbraucht einen Atomausstieg in Europa, und das muss dieBundesregierung in ihrem Handeln in allen europäischenGremien endlich deutlich machen . Sie muss die Initiativeergreifen und Vorschläge entwickeln .
Das gilt auch für den Euratom-Vertrag; denn Euratomverfestigt die Förderung der Atomenergie und dient ein-zig der Atomlobby . Wir fordern stattdessen, den Eura-tom-Vertrag aufzulösen und zu einer Einrichtung eineralternativen europäischen Gemeinschaft zur Förderungvon erneuerbaren Energien und Energieeinsparungen zukommen . Das wäre der richtige Weg .
In diesem Sinne freuen wir uns, gemeinsam mit den Grü-nen in den Ausschüssen für eine europäische Atomaus-stiegsdebatte mehr Druck auf die Regierung zu machen .Es gibt Gründe genug, die Atommeiler endlich abzu-schalten .Ein neuer und beklemmender Grund sind die wach-senden Terrorgefahren . Die Ereignisse in Belgien undFrankreich sollten uns allen eine Warnung sein . Erst ges-tern war zu lesen, dass Terrorverdächtige eventuell auchdie ehemalige Atomforschungsanlage in Jülich ausge-späht haben . Das sei nur einmal erwähnt, auch wenn esnun unterschiedliche Meldungen dazu gibt . Es ist bislangnicht geklärt, ob das stimmt .
– Hören Sie lieber zu!Unabhängig davon wurde gestern bekannt, dass imAKW Philippsburg in Baden-Württemberg ein Mitarbei-ter eine regelmäßige Prüfung an einem Störfallmonitorzwar dokumentiert, tatsächlich aber nicht durchgeführthatte . Gleiches hat sich offensichtlich auch am AKW Bi-blis in Hessen 2014 und 2015 ereignet . Das spricht inerster Linie für schwere Mängel in der Sicherheit . WirLinken erwarten, dass sich die Bundesatomaufsicht die-ser Fälle annimmt und den Ausschuss für Reaktorsicher-heit umfassend über diese ganzen Vorgänge informiert .
Ich sage zum Schluss noch etwas zu Herrn Kanitz .Richtig ist: Wir sollten keine Panik machen . Da stim-me ich Ihnen ausdrücklich zu . Aber die Relativierung,die Sie dauernd betreiben, geht meines Erachtens auchnicht . Richtig ist vor allen Dingen, dass die noch in Be-trieb befindlichen AKWs, die zur Stromproduktion nichtgebraucht werden, ein viel zu großes Risiko darstellen .Das wird immer deutlicher . Wir haben die Alternative,die Gefahren zu reduzieren, bevor es zu spät sein könnte .Abschalten heißt die einzige Möglichkeit .Danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank, Hubertus Zdebel . – Die nächste Redne-
rin ist Rita Schwarzelühr-Sutter für die Bundesregierung .
Ri
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Den Atomausstieg konsequent durchset-zen – was heißt das? Ich glaube, am heutigen Tag ist eswichtig, zu sagen, dass die Atomenergie aus unserer heu-tigen Sicht eine Sackgasse war, eine technologische Ent-wicklung, die einfach nicht zukunftsfähig ist . Orte wieTschernobyl und Fukushima sind uns eine Mahnung undHubertus Zdebel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16267
(C)
(D)
sollten uns auch in der nächsten Zeit immer wieder daranerinnern .
Wir haben uns in Deutschland konsequent auf denWeg gemacht . Wir haben zuerst 2001/2002 unter einerrot-grünen Bundesregierung den Atomausstieg beschlos-sen . Viele haben sich den Atomausstieg damals etwasschneller vorgestellt, aber es gab einen Kompromiss mitden Energieversorgern . Nach der Reaktorkatastrophevon Fukushima vor fünf Jahren ist dann der Ausstieg ausdem Ausstieg aus dem Ausstieg tatsächlich in einem brei-ten politischen Konsens und vor allem gesellschaftlichenKonsens bekräftigt worden . Ich glaube, es ist ganz wich-tig, dass damals der gesellschaftliche Konsens gefundenwurde, den man jetzt auch nicht mehr umkehren kann .Erstmals wurden feste Daten für die Abschaltung unddie Stilllegung der Atomkraftwerke gesetzlich verankert .Acht Reaktoren gingen 2011 vom Netz, einer letztes Jahr,und die letzten werden dann 2022 abgeschaltet werden .Doch sicherlich ist es damit nicht getan . Die Gefahrenvon Unfällen müssen bis zum letzten Tag auf ein Mini-mum reduziert werden . Darüber hinaus müssen wir fürdie gleiche Sicherheit sorgen, wenn wir die Atomkraft-werke stilllegen und zurückbauen . Das ist schon eineHerausforderung; denn man muss die Kompetenz derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch wenn die Atom-kraftwerke abgeschaltet werden, erhalten . Das ist eineSchwierigkeit, mit der wir uns auseinandersetzen .Der Ausstieg aus der Atomkraft heißt auch, sich mitden Folgefragen zu beschäftigen, nämlich der Entsor-gung der radioaktiven Abfälle . Wir haben im vergange-nen Jahr mit dem NaPro eine Bilanz gezogen . Wir habengeschaut, welche Abfälle wir zu entsorgen haben . Daswar ein wichtiger Schritt . Die Kommission zur Überprü-fung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs und dieEndlagerkommission arbeiten kräftig . Ich möchte michan dieser Stelle ganz herzlich bei ihnen bedanken; denndas sind Fragen, die wir heute lösen müssen und die wirnicht vor uns herschieben können . Wir haben da eine gro-ße Verantwortung .
Wir werden auf der Basis dieser Empfehlungen dienächsten Schritte einleiten . Die Umsetzung all dessenkann nur gelingen, wenn die Öffentlichkeit beteiligt wirdund wir für Vertrauen und Akzeptanz auch in den Verfah-ren sorgen .
Gerade die letzten Wochen zeigen, dass trotz des deut-schen Atomausstiegs Risiken bleiben . Radioaktivitätmacht an Grenzen nicht halt . Fessenheim, das nächstgele-gene französische Atomkraftwerk, liegt direkt am Rhein .Ich will nicht immer von meiner Heimat reden . Ich bingut bedient mit Beznau, Leibstadt und Gösgen und denanderen kerntechnischen Anlagen in der Schweiz . Es gibtnoch Tihange und Doel in Belgien .Wir nehmen die Ängste und Sorgen der Bevölkerungsehr ernst . Wir werden auch bei unseren Nachbarn nichtlockerlassen . Wir haben von Anbeginn dieser Legislaturan immer wieder den Dialog gesucht . Wir waren vor Ortund haben darauf hingewiesen, dass es durch die Alte-rung der Atomkraftwerke Sicherheitsbedenken gibt . Wirarbeiten mit ganzer Kraft auf ein hohes Sicherheitsniveauhin, und wir erinnern natürlich daran, dass Zusagen zuAbschaltungen, wie bei Fessenheim, auch eingehaltenwerden .Soweit es um die Verlängerung der Laufzeit von Re-aktoren in anderen Staaten geht, haben wir gesagt: Wirwollen eine Umweltverträglichkeitsprüfung, die ver-pflichtend ist. – Das ist bis heute nicht so. Frau Kotting-Uhl, Sie haben die Souveränität der jeweiligen Staatenbei diesem Thema hinterfragt . Aber wollen wir, die wirauf erneuerbare Energien, auf eine Energiewende setzen,auf unsere Souveränität bei diesem Thema verzichten?
– Das ist nichts anderes . Wir sind aktiv dabei, auf europä-ischer Ebene genau das Thema Sicherheit in den Mittel-punkt zu stellen . Zu betrachten ist da zum einen die Tech-nik und zum anderen immer wieder der Mensch, wie wirauch gestern in Philippsburg gesehen haben . Deswegenist die Frage der Sicherheitskultur von großer Bedeutung .
– Zur Versorgungssicherheit haben wir, wie gesagt, einengesellschaftlichen Konsens . Ich glaube, da sind wir inDeutschland gut bedient .Die deutsche Position können wir international nurdann erfolgreich durchsetzen – da komme ich wieder zuden Erneuerbaren –, wenn die anderen Staaten uns wei-terhin als kompetent erachten . Deswegen ist der Kom-petenzerhalt in unseren Gremien wichtig, und deshalbist es wichtig, Forschung zu betreiben, auch am KIT inKarlsruhe, Frau Kotting-Uhl, wo es auch um Endlager-forschung geht .
Wir müssen die Kompetenz erhalten . Gucken Sie sichdoch einmal die Altersstruktur der Forscher an!
– Sie blicken immer nur zurück, Herr Trittin . Ich guckeauch mal nach vorne . Wenn uns diese Fragen eine langeZeit beschäftigen, nicht nur 10 oder 20 Jahre, dann müs-sen wir schauen, wann die Kernphysiker in Rente gehen,Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616268
(C)
(D)
und dafür sorgen, dass wir auch übermorgen noch welchehaben, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen unduns Antworten geben .
Wenn wir den Atomausstieg konsequent fortsetzen, istes wichtig, dass die Energiewende nicht nur national ge-lingt, sondern von uns auch global vorangetrieben wird .Wir haben schon im Vorfeld des Klimagipfels, auch zumBeispiel im Zusammenhang mit IRENA, deutlich ma-chen können, dass wir als Industrieland da eine Vorrei-terrolle haben und dass wir sie erfolgreich übernehmen .Deswegen denke ich, das beste Mittel, um den Atomaus-stieg konsequent zu betreiben, ist es, auf die erneuerbarenEnergien zu setzen . Am Ende sollte es ein ökonomischesArgument sein, mit dem wir die anderen überzeugen, undnicht eine Änderung des Euratom-Vertrages;
das ergibt sich dann automatisch durch die Erneuerbaren .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Frau Kollegin . – Der nächste Redner:
Dr . Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Zum Gedenken an
Fukushima oder an Tschernobyl haben Herr Kanitz und
Frau Kotting-Uhl in eindrucksvoller Weise etwas Rich-
tiges gesagt . Was hier heute ansteht, ist die Frage: Wie
gehen wir mit den Konsequenzen um, die wir daraus ge-
zogen haben?
Sie schreiben in der Überschrift eines Antrags „Keine
öffentlichen Forschungsgelder für den Wiedereinstieg in
atomare Technologien“ . Das ist schon ein bisschen hei-
kel . Das klingt so, als ob jemand von uns die Absicht
hätte, einen Wiedereinstieg in atomare Technologien
zu betreiben . Wir haben hier in diesem Hause über alle
Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen, dass wir ausstei-
gen . Das ist ein sehr umfassendes und grundsätzliches
Programm, ein volkswirtschaftliches Experiment von ei-
nem Ausmaß, das es noch nirgends gegeben hat .
Der gleichzeitige Ausstieg aus der Kernenergie und
aus den fossilen Energien – beides in einem begrenzten
Zeitraum – ist ein Riesenprojekt . Das gelingt nur dann,
wenn wir diese Einmütigkeit, mit der wir es damals be-
schlossen haben, auch jetzt, beim schwierigen Vollzug
der einzelnen Schritte, bewahren, wenn wir uns auf das
konzentrieren, was wesentlich ist und was die Sache vo-
ranbringt, und wenn wir die Schlachten der Vergangen-
heit hier nicht in Scharmützeln wiederholen .
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass der Kurs der
Bundesregierung in eine andere Richtung gehe, und Sie
bringen dann drei Beispiele . Sie sagen, Transmutation sei
eine schlimme Sache, für die die Bundesregierung Geld
ausgeben würde . Wie ist die Sachlage? Erstens ist Trans-
mutation, wenn sie denn gelingt – da habe ich durchaus
noch offene Fragen; das Ganze befindet sich noch im Sta-
dium der Grundlagenforschung –, eine reizvolle Idee zur
Umwandlung langlebiger radioaktiver Isotope in kurzle-
bigere Stoffe . Zweitens ist es eine gute Sache, wenn wir
die Menge an hochradioaktivem Abfall einschließlich die
des Plutoniums um zwei Drittel reduzieren können . Was
gibt die Bundesregierung für dieses inkriminierte Projekt
aus? Sie gibt 66 607 Euro aus, nicht 66 Millionen Euro .
Das ist gerade einmal so viel, wie ein braver Mitarbeiter
verdient, der versucht, die Rechenprogramme für die Si-
cherheitsanalysen dieser Technologie zu begreifen .
Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl?
Aber gerne, mit Frau Kotting-Uhl rede ich mit Ver-
gnügen . Nur stoppen Sie bitte die Uhr .
Selbstverständlich, ist doch schon passiert .
Vielen Dank, Herr Riesenhuber, dass Sie die Frage zu-lassen . – Die Höhe dieser Finanzmittel kann man nichtganz beurteilen, da ja sehr viel Geld über Euratom, wo-ran wir mit gut 20 Prozent beteiligt sind, in die Trans-mutation und übrigens auch nach Karlsruhe ins KITfließt. Insofern ist das ein verschlossenes Buch, und wirwissen nicht, was da genau reinfließt.Ich möchte Sie aber zu Ihrer Aussage befragen, Trans-mutation sei eine gute Sache . Selbst die größten Befür-worter der Transmutation gestehen zu, dass, wenn siedenn gelingt – klar, es gibt viele Zweifel, die auch Sie tei-len –, nicht der gesamte Atommüll transmutiert werdenkann . Ein Teil wird sich vermutlich dieser Transmutationentziehen, auch der verglaste Atommüll . Das heißt, manbraucht auf jeden Fall zusätzlich ein vielleicht verklei-nertes Endlager für 1 Million Jahre .Wenn ich eine Technologie, die noch erforscht undentwickelt wird, bewerte, dann gehe ich davon aus, dasssie gelingt und frage mich: Möchte ich sie haben? Trans-mutation bedeutet – deshalb unsere Formulierung vom„Wiedereinstieg“ –: Ich brauche eine Wiederaufarbei-tung mit der entsprechenden Anlage, ich brauche eineBrütertechnologie . Im Grunde macht das nur Sinn – soforschen die Franzosen – in Verbindung mit der viertenGeneration von Reaktoren, weil ich mir dann zumindesteinbilden kann, dass ich einen Brennstoffkreislauf habe .Aber auf jeden Fall brauche ich mindestens eine Wieder-aufarbeitungsanlage und einen Brüter .Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16269
(C)
(D)
Die entscheidende Frage ist nun: Macht das Sinn fürDeutschland? Ist das eine gute Sache für ein Land, dasden Atomausstieg beschlossen hat?
Sehr verehrte Frau Kotting-Uhl, was die Kosten an-geht, ist es tatsächlich so: Das BMWi zahlt 66 600 Eurofür die Beteiligung an der Sicherheitsforschung mit Be-zug zur Transmutation . Was die Gelder, die über Eura-tom fließen, angeht: Das ist komplizierter. Damit wirddie Anlage MYRRHA in Belgien finanziert. Das ist einForschungsreaktor, der neben der Transmutationsfor-schung viele unterschiedliche Aufgaben einschließlichder Krebsforschung hat . Das heißt also, der Reaktor ansich macht in vieler Hinsicht Sinn, und der Beitrag, denwir leisten, ist winzig .Jetzt fragen Sie nach dem strategischen Ziel . Ich habees Ihnen gesagt: Ich habe bei der Transmutation durchausVorbehalte . Aber ich werde mich hüten, bei einem Pro-jekt, das einen Kern von Vernunft hat – und das hat es –,im Stadium der Grundlagenforschung zu sagen: Lasst dieFinger davon . – Wir müssen für künftige Generationendie Möglichkeiten, zwischen Alternativen zu entschei-den, erweitern, nicht verengen . Wir müssen ihnen dieMöglichkeit geben, das Neue anzuwenden . Wir müssenhier die Forschung so offen anlegen in ihrer Freiheit, wiesie das Grundgesetz garantiert, dass die Möglichkeitenerhalten bleiben . Entscheidend wird dann sein, was wirtechnisch daraus machen . Das ist eine ganz andere Frage .
Hier habe ich Zweifel an der technischen Vernunft desGesamtkonzepts – das gebe ich zu –, zumindest dann,wenn ich mir anschaue, wie es sich heute darstellt . Ichhabe in dieser Angelegenheit gewisse Vorbehalte be-züglich der denkbaren Kosten . Ich habe Zweifel, obes wirtschaftlich ist . Trotzdem sage ich: Wenn wir mit66 000 Euro den Zugang zu Wissen erhalten, das die Eu-ropäer gemeinsam erarbeiten, dann ist das etwas, was füruns nützlich ist . Ich war immer der Auffassung, dass den-ken nützt – selbst in der Politik .
Ein zweites Thema spreche ich hier sehr verkürzt an .Sie erwähnten gerade die Reaktoren der vierten Genera-tion . Hier haben sich neun Nationen zusammengetan –übrigens gehört auch Euratom dazu –, um sich sechs ver-schiedene Reaktortypen anzuschauen, auch unter demAspekt, ob man andere Kühlmittel – metallische Kühl-mittel, Helium oder was auch immer – einsetzen kann,um die Technik sicherer zu machen: proliferationssicher,sicher gegen Angriffe und sicher, was die Entsorgunganbelangt . Wir beteiligen uns nicht an diesem Projekt,sondern wir begleiten es mit einem Beitrag – er beträgtallenfalls 4 Millionen Euro –, der allerdings schwer ab-grenzbar ist . Wir schauen uns hier die Sicherheitstechni-ken an, damit wir sprachfähig sind .Ein völlig anderes Thema ist die Fusion . Hier muss ichaufpassen, sonst halte ich dazu eine Grundsatzrede . Vorlängerer Zeit, als ich angefangen habe, zu studieren, sag-te man mir: Schöne Technik, dauert nur 30 Jahre . – Heutesagen mir die Leute: Schöne Technik, 30 Jahre .
Was man aber nicht übersehen darf, ist: Wir sind im-mer näher an die Kriterien herangekommen, die für dasBrennen des Plasmas notwendig sind . Gegenüber denersten Versuchen haben wir einen Faktor von 5 Millionenerreicht . Wir haben jetzt noch einen Faktor fünf zu meis-tern . Wir sind immer noch in der Grundlagenforschung;das räume ich ein . Wir wissen nicht, ob der StellaratorWendelstein 7-X die richtige Technologie ist, den unsereLeute in Greifswald mit großer Intelligenz entwickeln,oder ob es ein Tokamak wie ITER ist . Aber wir habeneine Chance – es wird später zu beurteilen sein, ob dasVorhaben erfolgreich ist –, Kernfusion, die etwas völliganderes ist als Kernspaltung, zu betreiben . Das ist schoninteressant .Bei einem Kernreaktor wie beispielsweise einemLeichtwasserreaktor kann ein GAU passieren . Wir habendarüber gesprochen . Wenn etwas bei einer Kernfusionpassiert, geht der Ofen aus . Das ist alles . Die radioak-tiven Abfälle sind zudem kurzlebiger und sehr viel we-niger . Die Entsorgung ist ein geringeres Problem . Trotz-dem sage ich: Auch hier ist Grundlagenforschung zwarprima . Aber wenn sich abzeichnet, dass wir es können,müssen wir noch schauen, ob diese Sache für uns und fürdie Zukunft wirtschaftlich ist .Angesichts der von mir genannten Aspekte plädiere ichdafür, erstens das Wissen zu erweitern und zweitens un-sere Energien darauf zu konzentrieren, dass die Energie-wende gelingt . Frau Kotting-Uhl, Sie haben ganz richtiggesagt – hier kann ich nur mit Leidenschaft zustimmen –:Die Energiewende muss so laufen, dass wir andere Län-der davon überzeugen, dass sie vernünftig ist . – Das ge-lingt, wenn wir eine gute Forschung machen . Wir gebenhier 600 Millionen Euro für erneuerbare Energien undEnergieeffizienz im Rahmen des 6. Energieforschungs-programms pro Jahr aus, zusätzlich 187 Millionen Euroaus dem Energie- und Klimafonds . Das Entscheidendeist aber die Umsetzung vor Ort: dass wir die Systeme in-tegrieren und dass die Energieerzeugung versorgungssi-cher und umweltfreundlich, aber auch bezahlbar ist .Wenn die anderen nicht sehen, dass wir es können unddass es bezahlbar ist, dann reiten wir zwar voraus . Aberwir sind dann ein Vorreiter in majestätischer Einsamkeit,dem niemand folgt . Die Folge wird sein, dass wir dieKosten für unsere Energiewende – 25 Milliarden Euroim Jahr allein aufgrund des EEG – zu tragen haben, ohnedass das Klima geschützt wird, weil die anderen nichtmitmachen und uns nicht darin folgen, die Kernreaktorenabzuschalten . Deshalb muss das System, das wir anstre-ben, gelingen .Es wird entscheidend sein, dass wir nicht zu lange überdie Dinge sprechen, wo wir unterschiedlicher Auffassungsind . Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch; wirsind ja verschieden . Viele von uns denken bei der Arbeit,und deshalb kann es kritisch werden . Wir müssen aberdort, wo wir einig sind, den Laden zusammenhalten, dieSache voranbringen und uns auf die Lösung der eigentli-Sylvia Kotting-Uhl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616270
(C)
(D)
chen Probleme konzentrieren . Die Energiewende müssenwir insgesamt so hinkriegen, dass sich die Welt darüberfreut . Sie soll sich darüber freuen, dass die Deutschen auseinem fröhlichen Geist heraus tüchtig sind, dass ihnenetwas eingefallen ist und dass sie einmütig dazu stehen:die Grünen, die CDU und sogar die CSU – und die SPDnatürlich auch .
Es wäre ausgesprochen ärgerlich, wenn wir die SPDnicht mit der gleichen Herzlichkeit an unserer Seite will-kommen hießen . Selbst die Linken mögen hier einmalnachdenklich werden .Wir müssen – das sollte uns gelingen – gemeinsam anden Problemen arbeiten, und wir sollten uns nicht an denDingen aufhalten, wo wir durchaus ideologische Diffe-renzen haben mögen . Vielmehr sollten wir Deutschlandvoranbringen, sodass wir hier eine gute Zukunft haben,an der sich andere erfreuen und bei deren Gestaltung siemitmachen wollen . Das ist besser, als einen Prozess ge-gen Hinkley Point zu führen . Wir müssen es so machen,dass die Leute Lust darauf haben . „Nichts entsteht, es seidenn aus der Lust“, sagt der heilige Augustinus . Und indiesem Geiste wollen wir uns daranmachen, die Zukunftzu gestalten .
Vielen herzlichen Dank, lieber Dr . Heinz
Riesenhuber . – Ganz in diesem Geiste hat als letzter Red-
ner Marco Bülow für die SPD das Wort .
Danke, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Damen undHerren! Gigantische Subventionen, ein riesiger Aufwandüber mindestens fünf Jahrzehnte hinweg, unkalkulierba-re Risiken und vor allen Dingen Atommüll, wofür es im-mer noch kein Endlager gibt und worunter Generationennach uns noch zu leiden haben werden, die nie mitbe-stimmen durften, ob sie diese Technologie haben wolltenoder nicht: Das ist die Geschichte der Atomenergie bisheute . Für mich ist das einer der größten Irrwege, dendie Menschen gerade im technologischen Bereich einge-schlagen haben .
Das gipfelte leider in den Katastrophen von Tschernobylund von Fukushima vor fünf Jahren, deren Opfern wirin der nächsten Sitzungswoche noch gedenken werden .Man muss sich gerade einmal Tschernobyl angucken:Dort wurden 200 000 Quadratkilometer kontaminiert .Das ist ungefähr viermal die Fläche der Schweiz und mehrals die Hälfte des deutschen Gebietes . Man muss sicheinmal vorstellen, das wäre hier passiert . 300 000 Men-schen haben auf Dauer ihre Heimat verloren . 600 000 Li-quidatoren waren dort im Einsatz . Niemand kann genaubeziffern, wie viele davon sterben mussten . Es gab aberauf jeden Fall sehr viele Opfer . Auch heute noch gibt esviele, die unter der Katastrophe leiden .Die meisten in Deutschland, auch wenn manche Zwi-schenrufe etwas anderes zeigen könnten, haben dazuge-lernt . Leider haben bei weitem noch nicht alle Länder inEuropa dazugelernt . Ich bin daher für diese Debatte dank-bar, die von der Opposition ausgeht . Auch bin ich dafürdankbar, dass wir in der Großen Koalition gemeinsamversuchen, einen Antrag auf den Weg zu bringen . Wir la-den alle ein, dabei mitzumachen . Ich bin hoffnungsfroh,dass uns das gelingen wird . Des Weiteren bin ich dank-bar, dass die Ministerin in Europa immer wieder deutlichgemacht hat, dass der Ausstieg aus der Atomkraft nichtdas Einzelprojekt eines Landes sein darf, sondern dassauf Dauer Sicherheit nur gewährleistet ist, wenn wir inganz Europa aus der Atomkraft aussteigen .
Ich will darauf zurückkommen, was es ausmacht,wenn in Europa etwas passiert . Es wäre nicht mit demvergleichbar, was in Tschernobyl war . Das Land ist dortsehr dünn besiedelt . Die Pannenreaktoren in Europastehen übrigens teilweise seit 40 Jahren . Wer in diesemRaum benutzt zu Hause noch Technik, die 40 Jahre undälter ist? Wahrscheinlich niemand . Aber gerade bei solcheiner Hochsicherheitstechnologie, bei der so viel passie-ren kann, wird sie noch benutzt . Die Reaktoren werdenleider nicht abgeschaltet . Wenn ein grenznahes Atom-kraftwerk oder überhaupt ein Atomkraftwerk in Europain die Luft fliegt oder gleiche Probleme aufweist wie dasin Fukushima, dann müssten wir ganze Landstriche –Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz usw . – evakuie-ren . Das ist eine Aufgabe, ein Horrorszenario, das ichhier gar nicht an die Wand malen möchte . Man muss abersagen: Genau darüber müssen wir hier diskutieren . Wirmüssen weitermachen, müssen unser Engagement weiterintensivieren, damit Europa am Ende frei von Atomkraftist . Zumindest habe ich mir die politische Aufgabe ge-stellt, daran weiter mitzuwirken .
Wir alle, gerade wir Deutschen, haben nach den Ter-roranschlägen in Belgien und Frankreich große Solida-rität geübt . Aber wir müssen auch an die Solidarität derFranzosen und Belgier appellieren und sie bitten, dieseTechnologie gerade in den grenznahen Gebieten abzu-schalten, auch um die Menschen hier zu schützen . Dasgehört zur Solidarität dazu . Solidarität mit Blick auf dieTerrorgefahr darf keine Einbahnstraße sein .
Zum Schluss . Die Zukunft – da möchte ich an meinenVorredner anknüpfen – müssen wir als Erstes im Blickhaben . Ich glaube, die Zukunft der Energie kann nur hei-ßen: erneuerbar und effizient. Wir haben die Energiewen-de eingeleitet . Gerade Menschen wie Hermann Scheer,Ernst Ulrich von Weizsäcker und Michael Müller, aberauch viele andere stehen dafür . Ich glaube, dass der WegDr. Heinz Riesenhuber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16271
(C)
(D)
noch weit ist, und natürlich ist er nicht einfach . Ich glau-be aber, dass wir nicht bremsen dürfen, dass wir nichtstoppen dürfen und dass die erneuerbaren Energien auchin Deutschland weiterhin unserer hauptsächlichen Auf-merksamkeit bedürfen – gerade damit wir den anderenLändern deutlich machen können, dass es einen anderenWeg gibt .
Ich denke, es muss unsere nächste Aufgabe sein, genaudafür zu sorgen . Ich glaube vor allem, dass wir es dennächsten Generationen schuldig sind, ihnen unser Landohne weiteren Atommüll, ohne weitere Gefahren und miteiner Energieform zu hinterlassen, die friedlich ist, diesauber ist und die vor allen Dingen keinen Müll hinter-lässt .Vielen Dank .
Vielen Dank, Marco Bülow . – Damit schließe ich die-
se Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7656 und 18/7668 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann
sind die Überweisungen so beschlossen .
Die Vorlage auf Drucksache 18/5211 soll ebenfalls an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden . Da ist aber die Federführung strittig . Die
Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Feder-
führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung .
Ich lasse jetzt zuerst über den Überweisungsvorschlag
von Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-
führung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung . Ich frage Sie, wer für diesen
Überweisungsvorschlag stimmt . – Wer stimmt dage-
gen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Überweisungsvor-
schlag ist abgelehnt . Zugestimmt haben Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke, abgelehnt CDU/CSU und SPD .
Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Feder-
führung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie . Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag
ist mit Zustimmung bei CDU/CSU und SPD und Ableh-
nung bei Bündnis 90/Die Grünen und der Linken ange-
nommen .
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zum
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Für mehr Transparenz in der Internationalen Atome-
nergie-Organisation sowie eine starke und unabhängige
Weltgesundheitsorganisation“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8101,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/7658 abzulehnen . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen .
Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegen waren
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke .
Jetzt kommt ein spannendes Thema . Sie sind alle herz-
lich eingeladen, sich zu beteiligen . Ansonsten bitte ich,
zügig die Plätze zu wechseln bzw . den Saal zu verlassen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über die finanzielle Hilfe für Dopingopfer der
DDR
Drucksache 18/8040
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Es gibt keinen
Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich bitte die interessierten Kolleginnen noch einmal,
Platz zu nehmen, um dem ersten Redner würdig zu lau-
schen bzw . ihm zu folgen, und das ist der Parlamenta-
rische Staatssekretär Dr . Schröder für die Bundesregie-
rung .
– Lauschen heißt ja nicht notwendigerweise folgen; man-
che folgen ihm ganz sicher . – Herr Schröder, Sie haben
das Wort .
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Machenschaften der DDR-Diktatur wirkenauch nach über 25 Jahren fort . Die Opfer des DDR-Un-rechtsregimes leiden noch heute . Das gilt auch für denBereich des staatlich organisierten Leistungssports . Ichspreche von den Opfern des DDR-Dopings .Ohne Rücksicht auf Gesundheit und Menschenwürdeging es den Verantwortlichen darum, durch möglichstviele Medaillen das sozialistische System als überlegenund besonders leistungsfähig darzustellen . Das DDR-Re-gime und der DDR-Sport haben dabei unheilvoll zusam-mengewirkt .Mit der Neuauflage des Dopingopferhilfefonds wol-len wir das Leid der DDR-Dopingopfer anerkennen .Das ist mir angesichts der vielen Einzelschicksale, dieunter gravierenden gesundheitlichen Folgen leiden, einganz besonderes Anliegen . Auch nach so langer Zeit dür-fen wir die Augen vor dem Schicksal vieler ehemaligerDDR-Leistungssportler nicht verschließen . Sie leiden bisheute an den gesundheitlichen Spätfolgen des Dopings .Marco Bülow
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616272
(C)
(D)
Einige von ihnen werden jetzt denken: Wieso Opfer?Die DDR-Leistungssportler waren doch im Vergleich zuanderen DDR-Bürgern eher privilegiert . – Eine derarti-ge Betrachtung greift allerdings zu kurz . Der Bundesge-richtshof hat dazu Folgendes festgestellt: „Auch wenndie DDR-Leistungssportler keine Systemgegner waren,so wurden sie doch zum Opfer des DDR-Systems, da ih-nen ohne Rücksicht auf ihren Willen eine sogar ihremWissen vorenthaltene Aufopferung ihrer Gesundheit ab-verlangt wurde .“Minderjährigen wurden im zentralgelenkten DDR-Sport ohne deren Wissen männliche Sexualhormonezur Leistungssteigerung gegeben . Das systematischeDoping wurde nicht nur zentral organisiert, es wurdeauch bewusst verschleiert und unterlag strenger Geheim-haltung . Den minderjährigen Sportlern und ihren Elternwurde weisgemacht, sie würden harmlose Vitamine undAufbaustoffe erhalten, und so wurden sie für staatlicheZwecke instrumentalisiert . Dabei wurde vor nichts zu-rückgeschreckt . Sehr bewegt hat mich die Berichterstat-tung über DDR-Turnerinnen . Sie wurden als Kinder mitSteroiden gedopt, um sie künstlich klein zu halten, umsie dann später als Jugendliche nach ihrer Karriere mitWachstumshormonen wieder zu strecken . Meine Damenund Herren, das waren großangelegte unverantwortlicheMenschenversuche .
Viele DDR-Leistungssportler haben heute bleibendeGesundheitsschäden wie Organschädigungen und Tu-more . Vor dem Bundesgerichtshof wurde ein Fall vondamals minderjährigen Sportlerinnen verhandelt . Beifünf der neun Schwimmerinnen wurden irreversible Ge-sundheitsschäden durch die Gabe künstlicher männlicherSexualhormone festgestellt: Stimmvertiefung, vermehrteKörperbehaarung sowie Leberschädigungen, um nur ei-nige Symptome zu nennen .Lassen Sie mich noch etwas zum Hintergrund des Fondssagen: Bereits 2002 wurde ein Hilfefonds für DDR-Do-pingopfer aufgelegt . Er endete mit dem Jahr 2007 . Ausdem damaligen Fonds haben 194 DDR-Dopingopfer einefinanzielle Unterstützung in Höhe von rund 10 500 Euroerhalten . Es wurden mit Abstand nicht alle Dopingopfererfasst . Die Frage, die sich uns gestellt hat, ist natür-lich: Was war der Grund dafür? Viele Betroffene habenschlichtweg nichts vom Fonds aus dem Jahr 2002 ge-wusst, und die schweren Gesundheitsschäden als Folgedes Dopings sind teilweise erst Jahre später aufgetreten .Auch haben viele Betroffene erst Jahre später überhaupteinen Zusammenhang zwischen den Schädigungen unddem Doping erkennen können .Meine Damen und Herren, die Beratungsstelle desDoping-Opfer-Hilfe-Vereins wurde erst 2013 gegrün-det und klärt seitdem entsprechend auf . All das war einlanger Erkenntnisprozess für die Betroffenen . Deswegenmüssen wir heute davon ausgehen, dass voraussichtlich1 000 weitere DDR-Dopingopfer nach den damaligenKriterien anspruchsberechtigt gewesen wären . Es ist so-mit ein Gebot der Gleichbehandlung, auch all denjenigeneinen Betrag in Höhe von 10 500 Euro auszuzahlen, dienach den damaligen Kriterien des Dopingopfer-Hilfege-setzes 2002 anspruchsberechtigt gewesen wären .Mit dem vorgesehenen Einmalbetrag in Höhe von10 500 Euro werden wir das Leid der Dopingopfer na-türlich nicht nachhaltig lindern können . Wir können esauch nicht wiedergutmachen; das ist mir bewusst . Aberwir wollen mit dieser Zahlung unserer moralischen Ver-antwortung gerecht werden .
Meine Damen und Herren, es geht darum, den Do-pingopfern jetzt wirklich schnell und unbürokratisch ge-recht zu werden und ihnen zu helfen . Deshalb soll derFonds nun erneut aufgelegt werden . Theoretisch könnendie Dopingopfer auch einen Anspruch nach dem Opfer-entschädigungsgesetz geltend machen, doch die Hürdensind enorm hoch, und die gestellten Anträge führen in derRegel nicht zum Erfolg .
Aus den letzten drei Jahren sind mir gerade einmal dreierfolgreiche Klagen bekannt . Eine Änderung des Opfer-entschädigungsgesetzes ist uns jedoch aus Gründen derGleichbehandlung nicht möglich .Meine Damen und Herren, der vorgelegte Gesetz-entwurf orientiert sich daher weitgehend am Dopin-gopfer-Hilfegesetz aus dem Jahr 2002 und enthält nurdie entsprechenden Anpassungen, die notwendig sind .Anders als im Jahr 2002 legen wir jetzt einen Festbetragfest . Im Jahr 2002 gab es ja noch eine große Diskussiondarüber in der Regierungskoalition, damals bestehendaus SPD und Grünen, die das nicht wollten, und der da-maligen Opposition, der CDU/CSU . Die Linke, bzw . diedamalige PDS, hat sich sehr indifferent verhalten . Diemeisten haben dagegengestimmt, einige haben sich, so-weit ich das richtig nachgelesen habe, enthalten .Meine Damen und Herren, angesichts des schwerenSchicksals vieler DDR-Dopingopfer und ihres teils sehrschlechten Gesundheitszustandes ist jetzt Eile geboten .Die Bundesregierung hat den Gesetzesentwurf deshalbals besonders eilbedürftig erklärt, und ich hoffe undwünsche mir sehr, dass Sie, verehrte Kolleginnen undKollegen, das Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz noch vorder Sommerpause verabschieden und damit den Weg füreine Auszahlung an die Dopingopfer in der zweiten Jah-reshälfte frei machen .Das Bundesministerium des Innern hat schon Anfangdes Jahres die dafür erforderlichen administrativen Vor-kehrungen getroffen und das Bundesverwaltungsamtmit den notwendigen Vorbereitungen beauftragt . Schonheute können sich die Betroffenen an die konkreten An-sprechpartner im Bundesverwaltungsamt wenden, damitdas Geld, wenn die Voraussetzungen im Bundestag dafürgeschaffen sind, möglichst schnell zur Verfügung gestelltwerden kann .Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16273
(C)
(D)
Die Entscheidung, den Fonds neu aufzulegen – dasmuss ich einräumen –, ist spät getroffen worden . Ich mei-ne aber, nicht zu spät . Die Bundesregierung hat Verant-wortung gegenüber den DDR-Dopingopfern übernom-men, und wir haben gehandelt .Ich wünsche mir, dass der organisierte Sport, derDeutsche Olympische Sportbund als Nachfolgeorgani-sation des DDR-Sports ebenfalls seiner Verantwortunggegenüber den DDR-Dopingopfern gerecht wird .
Auch wenn es Doping im staatlichen Auftrag war, soist der Sport natürlich nicht frei von jeglicher Schuldgewesen . Das DDR-Regime und der DDR-Sport habenwirklich unheilvoll, kollusiv zusammengewirkt . Dahersollte auch der organisierte Sport seinen Beitrag leisten .Es gibt zum Beispiel Härtefälle unter den Dopingopfernder DDR, die einer weiteren Unterstützung bedürfen .Hier gäbe es Möglichkeiten, sich besonders zu engagie-ren . Insofern appelliere ich an dieser Stelle nochmals anden Deutschen Olympischen Sportbund, ebenfalls seinerVerantwortung gerecht zu werden .Vielen Dank .
Vielen Dank, Dr . Schröder . – Der nächste Redner in
der Debatte: Dr . André Hahn für die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! EinZweites Dopingopfer-Hilfegesetz ist seit langem überfäl-lig . Deshalb sind wir als Linke und deshalb bin ich froh,dass nun endlich ein Gesetzentwurf der Bundesregierungauf dem Tisch liegt . Immerhin liegen zwischen der Ver-abschiedung des ersten Dopingopfer-Hilfegesetzes unddem jetzigen Entwurf 14 Jahre . Dieses erste Dopingop-fer-Hilfegesetz trat 2007, also schon vor über acht Jahren,wieder außer Kraft . Lediglich 194 Betroffene haben da-mals eine Entschädigung erhalten . Die Zahl der tatsäch-lich Anspruchsberechtigten soll deutlich höher sein . DieSchätzungen liegen zwischen 1 000 und 2 000 ehemali-gen Sportlerinnen und Sportlern . Einige von ihnen sindinzwischen leider bereits verstorben . Umso wichtiger istes, dass der Gesetzentwurf jetzt nicht nur in erster Lesungauf den Weg gebracht, sondern möglichst auch noch vorder Sommerpause hier im Parlament verabschiedet wird .
Bis dahin sollten wir die Chance nutzen, am vorgeleg-ten Gesetzentwurf einige Änderungen vorzunehmen . Ichmöchte aus Sicht der Linken hier nur drei Punkte nennen:Erstens . Ich beginne mit dem Titel des Gesetzent-wurfs, in dem leider wieder nur von finanzieller Hilfefür Dopingopfer der DDR die Rede ist . Die Position derLinken dazu ist ganz klar: Mehr als 25 Jahre nach derdeutschen Einheit sollte endlich Schluss damit sein, dieOpfer in Ost und West aufzuteilen . Das neue Gesetz mussfür alle Dopingopfer gelten, egal ob sie in der DDR oderder alten BRD Leistungssport betrieben haben .
Auch wenn die abschließenden Ergebnisse der un-abhängigen Evaluierungskommission Freiburger Sport-medizin noch nicht vorliegen – was sich zuletzt dortabgespielt hat, ist wirklich ein Trauerspiel und wird denSportausschuss noch beschäftigen –, so ist inzwischendoch wohl unstrittig, dass es in der DDR systematischesDoping gab, dass aber eben auch in der alten Bundesrepu-blik in erheblichem Umfang und zum Teil mit staatlicherUnterstützung im Leistungssport gedopt wurde . Deshalbsollten wir endlich allen Betroffenen in Deutschland, diedie Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, Zugang zu denLeistungen nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz ermög-lichen, unabhängig davon, wo sie geboren wurden oderihren Sport betrieben haben .
Zweiter Punkt . Die Dopingopfer sollen analogzum ersten Gesetz eine Einmalleistung in Höhe vonje 10 500 Euro erhalten . Das klingt erst einmal nichtschlecht, ist aber mit Blick auf die zum Teil erheblichenGesundheitsschäden, die sie infolge des Dopings nach-weislich erlitten haben, eher eine symbolische Hilfe .Nach der Begriffsbestimmung „erhebliche Gesundheits-schäden“ in § 3 müssen die Betroffenen mehrheitlich eineanerkannte Schwerbehinderung haben . Wer sich jedochmit dem Behindertenrecht und vor allem mit dem aktuellin der Diskussion befindlichen Bundesteilhabegesetz be-schäftigt, der weiß, dass die meisten behindertenbeding-ten Nachteile letztlich nicht ausgeglichen werden und invielen Fällen zu dauerhafter Verarmung der Betroffenenund zum Teil auch zur Verarmung ihrer Angehörigenführen . Deshalb ist unsere Verantwortung für diese Men-schen mit der einmaligen Zahlung von 10 500 Euro nichtvom Tisch . Wir brauchen eine wissenschaftliche und po-litische Begleitung bei der Umsetzung des Gesetzes, umdann gegebenenfalls weitere erforderliche Maßnahmenbeschließen zu können .
Drittens . Wenn ich über Verantwortung rede, dannrede ich auch über die Verantwortung des DOSB alsNachfolgeorganisation der Sportverbände der alten BRDund der DDR . Hier will ich ganz deutlich sagen: Es reichtnicht aus, wenn der Deutsche Olympische Sportbundzwar verbal seine Bereitschaft erklärt, konstruktive Ge-spräche zu führen, und betont, dass er zu seiner morali-schen Mitverantwortung steht, aber immer dann kneift,wenn es ernst wird und wenn es um eine finanzielle Be-teiligung geht . Ich erwarte daher vom DOSB, dass er sichParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616274
(C)
(D)
mit einem nennenswerten Betrag an dem einzurichten-den Hilfsfonds für die Dopingopfer beteiligt .
Hier stimme ich auch Herrn Staatssekretär Schröder ganzausdrücklich zu .Lassen Sie mich abschließend sagen: Das hier undheute diskutierte Dopingopfer-Hilfegesetz ist sicher nurein kleiner, aber dennoch sehr notwendiger Teil in der ge-samten Debatte um früheres und derzeitiges Doping imSport . Die Linke unterstützt im Grundsatz den vorliegen-den Gesetzentwurf ebenso wie das vor wenigen Monatenverabschiedete Anti-Doping-Gesetz und die anstehendeGesetzesänderung zur Strafbarkeit des Sportwettbetrugs .Wir benennen aber zugleich auch die Mängel an den Ge-setzentwürfen in der Hoffnung, dass sich in der Koalitionnicht Parteidogmen durchsetzen, sondern der Sportsgeistobsiegt und unsere konstruktiven Änderungsvorschlägewenigstens teilweise von der Koalition übernommenwerden .In diesem Sinne: Sport frei und herzlichen Dank .
Vielen Dank, Dr . Hahn . – Das Wort hat jetzt für die
SPD-Fraktion Michaela Engelmeier .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unter der olympischen Idee versteht man eine Geistes-haltung, die auf der Ausgewogenheit von Körper undGeist beruht . Sport, Kultur und Erziehung sollen in einerLebensweise verbunden werden, die auf Freude am kör-perlichen Einsatz, auf dem erzieherischen Wert des gutenBeispiels und auf der Achtung fundamental und univer-sal gültiger ethischer Prinzipien beruht .Zwar begrüßten in der ehemaligen DDR die Funktio-näre und Trainer ihre Athletinnen und Athleten stets mitdem Gruß „Sport frei“, doch waren die Menschen wederfrei noch konnten sie über ihren Körper frei verfügen .So schätzen Experten, dass in der DDR von 1974 bis1989 etwa 12 000 Sportlerinnen und Sportler systema-tisch gedopt wurden . Mit dem vorliegenden Entwurf zumZweiten Dopingopfer-Hilfegesetz möchten wir unserenBeitrag zur öffentlichen Anerkennung leisten und stellenfür Anspruchsberechtigte insgesamt 10,5 Millionen Eurozur Verfügung .Der erste Fonds war ein voller Erfolg, jedoch nur fürdie bereits angesprochenen 194 anerkannten Personen .Diese Lücke der Ungerechtigkeit möchten wir heuteschließen . Gewiss kann dieser Fonds nur einen kleinenBeitrag leisten . Kein Geld der Welt kann für das angeord-nete Staatsdoping entschädigen . So leben die Menschenund ihre Angehörigen noch heute mit den Folgen deskörperlichen Missbrauchs .Mit der politischen Vorgabe des Staatsplans 14 .25zum Aufbau eines geheimen und umfassenden Systemsdes staatlich organisierten und erzwungenen Dopingsbei Leistungssportlern verfolgte die DDR das Ziel, densportlichen Ruhm des sozialistischen Vaterlandes zu stei-gern. Damit war dem Einsatz von perfiden Mitteln wieder Behandlung von Minderjährigen mit männlichen Se-xualhormonen Tür und Tor geöffnet . Dabei spornte jederErfolg die damaligen Funktionäre noch mehr an mit demErgebnis, dass die DDR insgesamt 204-mal Olympiagoldfür sich verbuchen konnte . Somit bot der DDR-Hochleis-tungssport in besonderem Maße die Möglichkeit, inter-nationales Ansehen zu erwerben .Nach dem Fall der Mauer kam es zu zahlreichen Ge-richtsverhandlungen . Doch statt die Ärzte für ihre Hand-lungen mit dem Entzug ihrer Zulassung zu bestrafen,kamen sie meist mit geringen Strafen davon . Mehr noch:Aufgrund ihres Wissens waren sie nun für Sportverbändeaußerhalb unseres Landes interessant . Das und die der-zeitigen Enthüllungen in Russland, Großbritannien usw .zeigen, dass das Thema Doping leider sehr aktuell bleibt .Anders als beim ersten Dopingopfer-Hilfegesetz von2002 beteiligen sich diesmal weder der Deutsche Olym-pische Sportbund noch Jenapharm an der Ausgestaltungdes Fonds . Gerade von einem Pharmaunternehmen, wel-ches heute mit dem Slogan „Liebe . Leben . Gesundheit .“wirbt, hätte ich mir mehr Verantwortung gewünscht .
Denn es leistete durch die Herstellung von Substanzenwie Oral-Turinabol, dem sogenannten „Blauen Blitz“,oder Mestanolon einen enormen Beitrag zum Staatsdo-ping .Der frühere Arzneimittelhersteller VEB Jenapharmproduzierte die Medikamente einzig für Dopingzwecke .Sie waren nie zugelassen und kamen nie auf den Markt .Der Einsatz von nicht einmal in der DDR zugelassenenMedikamenten zur Leistungssteigerung ist durch Stasiak-ten und Zeugenaussagen bewiesen . Zu einem ähnlichenErgebnis kam übrigens 2005 auch eine vom Nachfolge-betrieb Jenapharm in Auftrag gegebene Studie . Darüberhinaus deckt sie auf, dass das Unternehmen nicht nurDopingmittel produzierte, sondern auch Präparate ent-wickelte, die die Dopingeinnahme verschleiern sollten .So sehen sich die Opfer im Nachgang als menschlicheVersuchsobjekte der Pharmabranche .Schon Anfang der 1970er-Jahre waren dem Volks-eigenen Betrieb Jenapharm, dem VEB Jenapharm, undden Verantwortlichen im Sport die schädlichen Neben-wirkungen bekannt . Im Nachgang zu den OlympischenSpielen in Montreal 1976 gab es wegen der starken Ne-benwirkungen durch den „Blauen Blitz“, ein künstlichesmännliches Sexualhormon, die Anordnung, die Applika-tion sofort auszusetzen – ohne Erfolg . Zu groß war dieSorge, dass sich die Zahl der Siege der DDR verringernwürde. Auch die Auflistung von verbotenen Wirkstoff-gruppen durch das Internationale Olympische KomiteeDr. André Hahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16275
(C)
(D)
zwei Jahre zuvor, 1974, ließ die DDR-Staatsführungkalt . So waren die Funktionäre weiterhin um eine sys-tematische staatliche Lenkung des verordneten Dopingsbemüht . Den Athletinnen und Athleten hielten die dama-ligen Ärzte und Trainer bewusst die Information vor, wasdas für Pillen, Injektionen und Spritzen waren, die sieregelmäßig bekamen .Heute geht es uns nicht nur um Tumorbildungen, umKrebs als Folge jahrelanger Anabolikavergiftungen oderum lebensgefährliche Herzerkrankungen . Nein, es gehtuns auch um Anerkennung für die Betroffenen, die nichtnur unter den körperlichen Folgen, sondern auch unterpsychischen Belastungen leiden .Wie die Folgen für die Athletinnen und Athleten derDDR zeigen, ist Doping kein Wundermittel, sondern esbirgt enorme Gefahren für Körper und Geist . Deswegenist es uns wichtig, dass wir unseren Kampf gegen Dopingweiterführen . Dabei ist uns mit dem Anti-Doping-Gesetzaus dem letzten Jahr ein Meilenstein gelungen . Denn im-mer noch greifen laut einer Studie der Deutschen Sport-hilfe etwa 6 Prozent der Spitzensportler in Deutschlandzu solchen Mitteln .Zum Schluss meiner Rede möchte auch ich an denDeutschen Olympischen Sportbund und an Jenapharmdringend appellieren, sich ihrer Verantwortung zu stel-len . Von ihnen geleistete Zahlungen von vor zehn Jah-ren waren ein richtiger Schritt . Öffnen Sie Ihre Herzen,öffnen Sie Ihre Schatullen, gehen Sie den Weg weiter,den Sie damals beschritten haben, und beteiligen Sie sichbitte an dem neuen Fonds!
Vielen Dank, Michaela Engelmeier . – Nächste Red-
nerin in der Debatte: Monika Lazar für Bündnis 90/Die
Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Endlich liegt er also vor, der Entwurf des Zweiten Do-pingopfer-Hilfegesetzes . Besser spät als nie, ist man ver-sucht zu sagen; denn die zweite Auflage dieses Gesetzesist mehr als überfällig . Da sind wir uns zum Glück alle ei-nig; schließlich sind mittlerweile schon DDR-Dopingop-fer gestorben . Dass wir dieses Thema hier im Bundestagberaten, ist auch ein Verdienst der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . Wer weiß, wie lange die Regierungskoaliti-on dieses Gesetzesvorhaben noch hinausgezögert hätte,hätten wir als Opposition nicht über Jahre hinweg kon-stant Druck gemacht .
Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut an eineSportausschusssitzung vor circa einem Jahr und an dieWorte des Parlamentarischen Staatssekretärs . Ich freuemich, dass die Regierung und auch Sie, Herr Schröder,ihre Meinung geändert haben . Bei dieser Sitzung habeich nämlich gedacht: Zum Glück war sie nicht öffentlich .Ansonsten sehen wir das eher nicht so; aber das war kei-ne schöne Auseinandersetzung, die wir geführt haben .Allerdings ist das Ergebnis entscheidend, und das geht indie richtige Richtung .
Mit dem Ersten Dopingopfer-Hilfegesetz konnte 2002die Situation für viele vom DDR-Staatsdoping betroffe-ne Sportlerinnen und Sportler zumindest vorübergehendgemildert werden . Wie wir heute wissen, wurden Kin-dern und Jugendlichen zwangsweise unter anderem Ana-bolika und Wachstumshormone verabreicht . Wer die alsVitamintabletten deklarierten Mittel nicht nehmen woll-te, wurde meist, ohne es zu wissen, weiter gedopt, zumBeispiel in Form von Schokolade . Die Opfer leiden heutenoch sowohl körperlich als auch psychisch .Das Zweite Dopingopfer-Hilfegesetz ist, auch wennder Entwurf reichlich spät kommt, eine wichtige Sache .Der erste Hilfsfonds hat immerhin schon – das wurdeheute schon gesagt – 194 DDR-Dopingopfer entschä-digt . Aber wie wir alle regelmäßig erfahren, melden sichimmer noch weitere Opfer . Das liegt zum einen daran,dass bei vielen erst in jüngster Vergangenheit Spätfolgenauftraten, oder daran, dass diese Dopingopfer erst durchdie mediale Aufmerksamkeit mitbekommen haben, dassdie Krankheiten, die sie jetzt haben, eventuell auf die da-malige Dopingpraxis zurückzuführen sind .Für uns können die einmaligen Zahlungen an dieDDR-Dopingopfer allerdings nur ein Anfang sein . Siesind notwendig, aber nicht ausreichend .
Denn Opfer bleibender Schäden benötigen auch einebleibende Hilfe . Die Einmalzahlung ist wichtig, und sieist vor allem eine moralische Anerkennung des Zwangs-dopings . Aber damit ist es noch nicht getan . Wir brau-chen eine dauerhafte Unterstützung der Dopingopfer inForm einer Rente . Deshalb setzen wir uns weiter dafürein, dass die DDR-Dopingopfer Zugang zu Renten nachdem Opferentschädigungsgesetz bekommen . Es ist schonangesprochen worden, wie langwierig und beschämendes ist, dass die Dopingopfer jahrelang quasi Bittsteller inden Sozialbehörden und auch vor Gericht sind .
Die Rechtsprechung der Gerichte ist leider nicht ein-heitlich; das Ganze ist wirklich sehr zäh . Hier gilt es, denDopingopfern möglichst niedrigschwellig zu helfen undvor allem die bürokratischen Hürden abzubauen .Es ist auch wichtig, den Dopingopfer-Hilfe-Verein,den es ja seit Jahren gibt, und seine Beratungsstelle wei-terhin finanziell und verstetigt zu fördern. Diese Förde-rung ist bis jetzt, so denke ich, auf einem sehr niedrigenLevel . Wir alle bekommen etwas zurück, nämlich diefachliche Beratung . Sie ist sozusagen eine Peer-to-Peer-Beratung: Betroffene beraten Betroffene .An dieser Stelle möchte aber auch ich an den DOSBappellieren . Als Rechtsnachfolger des DDR-Sportsys-Michaela Engelmeier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616276
(C)
(D)
tems sollte auch der DOSB endlich Verantwortung über-nehmen und erneut seinen finanziellen Beitrag leisten.
Die Politik hat die ersten Schritte getan . Nun ist auch derorganisierte Sport an der Reihe . An den DOSB gerichtet,sage ich deshalb: Lassen Sie diese Menschen nicht imRegen stehen .
Ich möchte die heutige Debatte nutzen, um an dieDopingpraxis in Westdeutschland zu erinnern; dennauch das gehört zu den dunklen Kapiteln der deutschenSportgeschichte . Heute wissen wir: In den 1970er-Jah-ren bekleckerten sich besonders das Bundesinstitut fürSportwissenschaft und die Sportwissenschaftler der UniFreiburg in Sachen Dopingbekämpfung nicht gerade mitRuhm . Auch dieses Unrecht muss aufgeklärt werden .Doping schadet nicht nur den Sportlerinnen undSportlern; Doping schadet auch dem Ansehen des Sportsinsgesamt . Nach den Korruptionsfällen in den Spitzen-verbänden ist es auch und vor allem das Doping, wel-ches die Integrität des Sports massiv beschädigt . LassenSie uns also die Aufarbeitung der Dopinggeschichte alsAnsporn dafür nehmen, jetzt und in Zukunft für einensauberen Sport zu kämpfen .Vielen Dank .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Johannes
Steiniger das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube,diese Debatte hat gezeigt: Es ist ein wahnsinnig ernstesThema . Die Schicksale, die hier von verschiedenen Red-nern beschrieben worden sind, machen betroffen .Lassen Sie mich, bevor ich auf das Dopingopfer-Hil-fegesetz konkret zu sprechen komme und dabei in medi-as res gehe, zunächst einen kurzen Blick darauf werfen,was wir derzeit international in Sachen Doping erlebenmüssen . Wir sehen auf der einen Seite Marokko undÄthiopien, denen das Olympia-Aus droht, weil sie sichdem Kampf gegen Doping verweigern . Kenia, die Ukrai-ne und Weißrussland weisen gravierende Defizite in derFrage der Bekämpfung von Doping auf . Der chinesischeSchwimmverband soll Ergebnisse von positiven Probenvertuscht haben . Erst kürzlich haben wir Berichte überDoping aus England gehört . Ich glaube, es ist nicht über-trieben, zu sagen, dass die Integrität des Sports und derolympische Gedanke gefährdet sind .Als Koalition machen wir deshalb Ernst im Kampfgegen Doping und haben im vergangenen Jahr das An-ti-Doping-Gesetz verabschiedet . Dass es jetzt erste Er-mittlungen gibt, zeigt: Dieses Gesetz greift . In diesemZusammenhang zitiere ich einen ermittelnden Staatsan-walt im Fall von Doping beim Ringen . Dieser hofft, dasssich das – Zitat – „Kartell des Schweigens“ hinter denDopingnetzwerken durch das Gesetz aufbrechen lässt .Um genau ein solches Netzwerk an Hintermännerngeht es auch bei der Aufarbeitung des Zwangsdopingsin der DDR . Im DDR-Dopingprogramm waren es aller-dings keine privaten kriminellen Netzwerke, sondern eswar der DDR-Unrechtsstaat selbst . Herr Dr . Hahn, dasgenau ist doch der Unterschied . Es gab das privat organi-sierte Doping auf der einen Seite und das von der DDRals Staat von oben herab organisierte Doping auf der an-deren Seite, bei dem Sportlerinnen und Sportler ohne ihrWissen gedopt wurden . Die Bundesrepublik Deutschlandist hier eben nicht der Rechtsnachfolger der DDR . Des-wegen ist es richtig, wie wir an dieser Stelle das Doping-opfer-Hilfegesetz im Anschluss an das Gesetz von 2002gemacht haben .
Im – auch das wurde schon erwähnt – sogenanntenStaatsplanthema 14.25 gipfelte das geheime und flächen-deckende System, in dem, staatlich organisiert und vonoben erzwungen, Leistungssportler ohne ihr Wissen ge-dopt wurden . Das war vermutlich ein einzigartiger Miss-brauch mit Medikamenten, ein großer Menschenversuchdurch den Staat, wie das gerade eben auch der Staatsse-kretär gesagt hat .Die DDR war in der Folge eine der erfolgreichstenSportnationen der Welt . 1988 in Seoul beispielsweise be-legte sie Platz 2 im Medaillenspiegel . Wie wir heute aberwissen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wardieser vermeintliche Erfolg sehr teuer erkauft . Nicht nurdie Attribute des sauberen Sports, Fairness und Chan-cengleichheit, wurden nachhaltig beschädigt, sondernauch die Athletinnen und Athleten wurden durch einenverordneten Raubbau am eigenen Körper gesundheitlich,teilweise massiv, geschädigt .Wir haben heute einige Beispiele gehört . Gesund-heitliche Folgeschäden sind unter anderem Krebs, Or-ganversagen, Hormonstörungen oder Störungen desBewegungsapparats . Im Übrigen kann man nur jedemempfehlen, einmal einen Blick auf die Homepage desVereins doping-opfer-hilfe zu werfen, auf der die Band-breite an Krankheiten sehr genau dokumentiert ist .Die Diskussion, die wir heute darüber führen, wie wirden Opfern von damals helfen können, ist auch ein Sig-nal an die Sportler, die dieser Tage vielleicht mit demGedanken spielen, mithilfe von Doping ihre Leistung zusteigern: Ihr schadet der Integrität des Sportes . Ihr wer-det auch dank des Anti-Doping-Gesetzes bestraft wer-den . Aber vor allem: Ihr geht ein enorm großes RisikoMonika Lazar
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16277
(C)
(D)
für eure Gesundheit ein . – Doping ist gefährlich . Dopinglohnt sich nicht . Deswegen: Finger weg von Doping!
Zurück zum Dopingopfer-Hilfegesetz . Die Zahlen zei-gen das Ausmaß des Zwangsdopings in der DDR . Über10 000 Spitzenathleten im Leistungs- und Nachwuchs-sport wurden zu DDR-Zeiten gedopt. Wie perfide undsystematisch gedopt wurde, zeigt sich in der Rolle dessogenannten Sportmedizinischen Dienstes, SMD . DieSpitzensportler in der DDR wurden nämlich nicht nurvon ihren Trainern und Betreuern bewusst hinters Lichtgeführt, sondern auch von den lokalen Vereinsärzten, diedas Vertrauen der Sportlerinnen und Sportler ausnutztenund sie täuschten .1990 – diese Zahl ist interessant – umfasste allein derSportmedizinische Dienst 600 Mitarbeiter . Man sieht,wie flächendeckend dieses Netz gewesen ist. DessenMitarbeiter haben sich ausschließlich mit dem Leis-tungssport befasst . Hier wird deutlich, wie stark undübermächtig der Staat auf der einen Seite war und wieklein dagegen der einzelne Sportler auf der anderen Seitegemacht wurde .Im Deutschlandfunk kamen unter dem Titel „Auf derStrecke geblieben . Die Opfer des deutsch-deutschenMedaillenrennens“ die Schicksale ostdeutscher Zwangs-dopingopfer zur Sprache . Vor allem ihre Wut und Ent-täuschung kamen zum Ausdruck . Die schockierendenBerichte darüber, zu welch krassen Mitteln sogar beiMinderjährigen gegriffen wurde, haben verschiedeneRedner angesprochen . Die meisten Opfer haben erst Jah-re nach dem Mauerfall von dem systematischen Dopingan ihrem Körper erfahren . Für die Dopingopfer war undist die Realisierung des Geschehenen ein schmerzhafterProzess. Es ist unbegreiflich und nicht zu verstehen, dassman diese Schäden eben nicht selbst zu verantworten hat,sondern dass andere sie einem zugefügt haben .Das Erste und das jetzt folgende Zweite Dopingop-fer-Hilfegesetz sind ein starkes Zeichen dafür, dass dieBundesregierung und der Bundestag das Leid der Opferund deren Schicksal anerkennen . Es geht eben nicht nurum eine finanzielle Einmalzahlung, sondern wir sagenauch: Wir erkennen dieses Leid und dieses Schicksal an .
Der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Schröder hatbereits erläutert, wie dieses Zweite Dopingopfer-Hilfege-setz an das erste Gesetz von 2002 anschließt . Ich möchtemich auch im Namen der AG Sport für die Initiative unddas Engagement bedanken, und ich möchte auch appel-lieren, dass wir mit diesem Gesetz jetzt schnell, bis zurSommerpause, fertig werden .Zusammenfassend will ich an dieser Stelle noch sa-gen, dass es uns als CDU/CSU-Fraktion wichtig war,dass jeder Geschädigte den gleichen Betrag erhält – un-abhängig davon, wann der Antrag gestellt wurde, ob diesalso von 2002 bis 2007 der Fall war oder ab jetzt ge-schieht – und dass die Ansprüche niedrigschwellig undkurzfristig geltend gemacht werden können . Durch dieAbwicklung über das Bundesverwaltungsamt kann diestreffsicher geschehen .Wenn wir den Gesetzentwurf verabschiedet haben,ist es unser Auftrag als Gesetzgeber, den potenziell An-spruchsberechtigten mitzuteilen, dass sie von dem Do-pingopfer-Hilfegesetz Gebrauch machen können .Meine Damen und Herren, ich wünsche mir sehr, dasswir mit diesem guten Gesetzentwurf ein Stück Gerech-tigkeit für die Opfer des DDR-Dopings schaffen können,und ich freue mich, wenn wir das bis zur Sommerpausehinbekommen .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Pflugradt für die SPD-Frak-
tion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir behan-deln heute den Gesetzentwurf über eine finanzielle Hil-fe für Dopingopfer der DDR, den Entwurf des ZweitenDopingopfer-Hilfegesetzes . Wir haben es heute schonmehrfach gehört: Es ist wichtig, dass wir darüber reden .Nach diesem Gesetz werden wir den Opfern des staat-lich verordneten Dopings in der DDR finanzielle Hilfegewähren . Voraussetzung hierfür ist, dass ihnen ohneihr Wissen oder gegen ihren Willen Dopingsubstanzenverabreicht wurden und es wahrscheinlich ist, dass siedeshalb erhebliche gesundheitliche Schäden erlitten ha-ben oder nach wie vor erleiden . Des Weiteren dürfen sieaus dem ersten Fonds keine finanziellen Hilfen erhaltenhaben .Es ist ganz einfach eine Frage der Solidarität, weitereOpfer genauso zu entschädigen, wie es der erste Fondsgetan hat . Darum hätte auch ich es gut gefunden, wennsich Jenapharm und der Deutsche Olympische Sportbunddaran beteiligt hätten – einfach aus Gründen der Gerech-tigkeit und Gleichbehandlung .
Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich heute je-denfalls erneut zu dieser moralischen Verpflichtung, unddas möchte ich ganz intensiv betonen . Es muss einmalmehr ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass manangesichts der gesundheitlichen Schäden durch das staat-lich verordnete Doping in der DDR nicht einfach zur Ta-gesordnung übergehen kann .Nach wie vor sind jedoch medizinische Fragen, dieauch schon beim ersten Fonds im Vordergrund standen,noch nicht hinreichend geklärt . Dopinganalytiker undEndokrinologen bestätigen übereinstimmend, dass in je-dem Einzelfall geprüft werden muss, ob die Ursache derJohannes Steiniger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616278
(C)
(D)
gesundheitlichen Schäden tatsächlich in der Gabe vonDopingsubstanzen liegt .Ein wahrscheinlicher Zusammenhang ist kein ursäch-licher Zusammenhang . Wenn wir nicht wollen, dass dieGelder, die wir für Dopingopfer bereitstellen, überwie-gend für weitere medizinische Gutachten ausgegebenwerden, dann müssen wir im Interesse einer guten, ein-wandfreien Regelung zu nachvollziehbaren Kriteriendafür kommen, wer Entschädigungsleistungen erhältund wer nicht . Nicht nachvollziehbar ist es, einen wahr-scheinlichen Zusammenhang als einen ursächlichen Zu-sammenhang darzustellen .Natürlich bin ich dafür, das Unrecht an den Sportle-rinnen und Sportlern aufzuklären, anzuerkennen und ge-recht zu entschädigen . Ich bin aber für eine Differenzie-rung und genauere Betrachtung . Wir bewegen uns hier ineiner sehr komplizierten rechtlichen Materie .Wir erwarten von den Opfern keinen Nachweis bisins letzte Detail, sondern begnügen uns mit einer Wahr-scheinlichkeit . Lassen wir die Entschädigungszahlungenauf Wahrscheinlichkeiten basieren, dann kann man andieser Stelle eben nicht sehr viel mehr tun .Deshalb freue ich mich, dass in Mecklenburg-Vor-pommern, an der Uniklinik Greifswald und an den He-lios-Kliniken in Schwerin, zwei Studien zu diesem Themageplant sind . Die eine ist eine Langzeitstudie, die andereist eine etwa zweijährige Studie, die voraussichtlich abdem Sommer die Daten analysieren und auswerten wird,die der Doping-Opfer-Hilfe-Verein sammelt . Vielleichthätten wir vor der Auflegung des zweiten Fonds auf dieErgebnisse der Studie warten sollen; dann hätten wir einegenauere Datenbasis gehabt, um besser zwischen Wahr-scheinlichem und Tatsächlichem zu unterscheiden .Darüber hinaus stellt sich für mich die Frage der Nach-weispflicht im Antragsverfahren. Es gab Sportlerinnenund Sportler, die Kenntnis vom Einsatz von Dopingmit-teln hatten und ihn billigend in Kauf genommen haben .Sicher, die Versuchung war groß . Der Staat begünstigteden Erfolg . Aus meiner Sicht gab es Täter, Mitwisser,Halbwissende und Menschen, die weggeschaut haben .Es gab tatsächlich aber auch Nichtwissende, Ahnungs-lose und Opfer . Diese Unterschiedlichkeit sollten wir be-achten, wenn wir die Problematik angehen .Wir können auch heute nicht mit Sicherheit sagen, werwas wann mit oder ohne Wissen, gegen den Willen odermit stillschweigendem Einverständnis eingenommen hat .Wir werden nicht mit absoluter Sicherheit den Nachweisdes wissentlichen oder willigen Dopings führen können .Es wäre aber grundsätzlich falsch, daraus zu folgern,dass daher keine Entschädigung gezahlt werden sollte .Hier sind mit Sicherheit Menschen vorsätzlich manipu-liert worden .Das ist eine Mahnung, dass sportliche Höchstleistun-gen nicht um jeden Preis erstrebenswert sind, weder fürden persönlichen Ruhm oder zum Gewinnstreben nochzur staatlichen Repräsentation . Es ist eine Aufforderung,in dem Kampf nicht nachzulassen, die Prävention zuverstärken, die Kontrollen zu verbessern und Vergehenstärker und einheitlich zu sanktionieren . Das wünscheich mir nicht nur für Deutschland, sondern für die ganzeWelt .
Auch in diesem Zusammenhang bin ich froh, dass wirdas Anti-Doping-Gesetz bereits verabschiedet haben . Eshilft zwar nicht gegen vorsätzliches Staatsdoping, aber esbestraft diejenigen, die sportlichen Erfolg über Doping-substanzen zu erzielen versuchen . Mit diesem Gesetzgeben wir keine endgültige Antwort auf die bestehendenProbleme des anhaltenden Dopings . Es vergeht kaumeine Woche, in der wir nicht von neuen Dopingfällenerfahren . Zumindest entschädigt es aber diejenigen, diedurch den Staat bewusst einer möglichen Gefahr ausge-setzt waren und die benutzt und manipuliert wurden .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/8040 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall .
Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Sigrid Hupach, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Einrichtung einer Kommission beim Bundes-
ministerium der Finanzen zur Evaluierung
der Staatsleistungen seit 1803
Drucksache 18/4842
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Wenn alle teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen
einen Platz gefunden haben, können wir die Debatte er-
öffnen .
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat die Kollegin
Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wir reden über einen Antrag, der den Weg dafürebnen soll, einen Verfassungsauftrag einzulösen, undzwar noch bevor dieser schon 100 Jahre besteht . Es gehtnicht um den Glauben von Menschen . Die Religionsfrei-Jeannine Pflugradt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16279
(C)
(D)
heit ist ein hohes Gut . Sie soll nicht angetastet werden,und das wird sie durch den vorliegenden Antrag auchnicht . Das zu erwähnen, ist mir auch angesichts der Ge-schichte meiner Partei ausgesprochen wichtig .Artikel 140 des Grundgesetzes macht Artikel 138 derWeimarer Reichsverfassung zum Bestandteil des Grund-gesetzes . Die Weimarer Reichsverfassung stammt ausdem Jahr 1919 . Der Artikel lautet:Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtsti-teln beruhenden Staatsleistungen an die Religions-gesellschaften werden durch die Landesgesetzge-bung abgelöst .Jetzt kommt der entscheidende Satz:Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf .Es geht mithin um die Zahlungsverpflichtung desStaates an die Kirchen für die vor über 200 Jahren enteig-neten kirchlichen Besitztümer . Über das ausgesprochensinnvolle und hilfreiche Portal www .kleineanfragen .delässt sich leicht herausbekommen, welchen Umfang die-se Zahlungsverpflichtungen ausmachen. Knapp 13 Milli-onen Euro waren es 2015 in Schleswig-Holstein . Etwasmehr als 24 Millionen Euro waren es im Jahr 2015 inSachsen . Knapp 24 Millionen Euro werden im Jahr 2016in Thüringen fällig . In Berlin wurden im Jahr 2014 knapp11 Millionen Euro an Staatsleistungen gezahlt .Wir wollen nun mit unserem Antrag dafür sorgen, dasseine Kommission zunächst prüft und bewertet, inwieferndie sogenannten Säkularisierungsverluste durch die seit1919 gezahlten Leistungen angemessen ausgeglichenwurden, und dann Vorschläge unterbreitet, welche Kon-sequenzen der Gesetzgeber im Hinblick auf den zukünf-tigen Umgang mit diesen Zahlungen aus der Evaluierungziehen sollte .Wir sind also nicht mehr ganz so revolutionär wiein der vergangenen Legislaturperiode . Da hatten wirnämlich einen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staats-leistungen vorgelegt, den Sie damals abgelehnt haben .Nun wollen wir Ihnen quasi eine zweite Chance geben,den Verfassungsauftrag einzulösen, und zwar durch eineWin-win-Situation für alle .Da alle hier vertretenen Fraktionen in der vergan-genen Legislaturperiode die Notwendigkeit der Einlö-sung des Verfassungsauftrags anerkannt haben, ist dasmeines Erachtens auch kein Problem . Ich zitiere Dieter Wiefelspütz, SPD:Ich bin also sehr dafür, … dass wir in Deutschlandeinen Diskussionsprozess organisieren – nicht nurhier im Parlament, sondern auch mit den Kirchen –,um darüber zu reden, wie das geht .Die Abgeordnete Flachsbarth, CDU/CSU:Gesprächen, die eine solche Ablösung im freund-schaftlichen Einvernehmen intendieren würden,würden wir uns nicht entziehen …Selbst – hören Sie aufmerksam zu – Norbert Geis:Dazu sind Verhandlungen notwendig mit dem Ziel,eine einvernehmliche Regelung zu finden.Josef Winkler, Grüne:Wir sollten die Auseinandersetzung über Sinn undZweck der Staatsleistungen und die rechtlichenMöglichkeiten ihrer Ablösung führen, …Wenn wir in dieser Legislaturperiode die Kommissioneinsetzen, dann kann diese bis zum Ende der Legislatur-periode ihre Ergebnisse vorlegen . Wir alle könnten unsdann dazu verhalten und sogar mit konkreten Aussagen,in welcher Höhe Staatsleistungen noch zu zahlen sind,ob überhaupt noch Staatsleistungen zu zahlen sind, in dieDebatte gehen . Wir könnten damit sogar in den Wahl-kampf gehen, wenn wir das möchten .Der nächste Bundestag kann dann auf der Grundlageder Empfehlungen der Kommission das Grundsätzege-setz zur Ablösung der Staatsleistungen beschließen . Wiralle hätten dann, bevor der Verfassungsauftrag 100 Jahrealt wird, diesen Verfassungsauftrag eingelöst .
Meine Fraktion findet, dass es Zeit ist, dass dieser Auf-trag eingelöst wird . Wenn ich noch einmal auf die Debat-te in der vergangenen Legislaturperiode verweise und dieeben genannten Zitate Ihnen noch einmal in Erinnerungrufe: Eigentlich sind ja alle hier der Meinung, dass dieserVerfassungsauftrag eingelöst werden sollte . Wenn das soist, dann lassen Sie uns die Expertenkommission einset-zen . In der Kommission sollen Kirchenhistorikerinnen,Kirchen- und Verfassungsrechtlerinnen, Ökonominnen,aber auch Vertreterinnen der Länder und der beiden gro-ßen Amtskirchen mitarbeiten .Wir gehen mit diesem Antrag einen Schritt auf alle zu,nehmen alle Bedenken aus der vergangenen Wahlperiodeauf, machen einen konkreten Vorschlag für einen Weg,wie man dem Verfassungsauftrag nachkommen kann .Aus sachlichen Gründen kann also eigentlich niemanddiesem Antrag widersprechen . Deswegen bitte ich Sie:Stimmen Sie diesem Antrag einfach zu .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Margaret
Horb das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrte Jugendliche auf der Tribüne! Teil 2: Die Linkemöchte eine Kommission einsetzen, um die Staatsleis-tungen an die Kirche zu evaluieren, also um den Geld-wert festzustellen und zu überprüfen . Zum gleichen The-ma haben Sie schon vor zwei Jahren eine Kleine Anfragean die Bundesregierung gestellt . Dort verraten Sie unsauch, wer Sie auf diese tolle und grandiose Idee gebrachthat .
Halina Wawzyniak
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616280
(C)
(D)
Es war – man höre und staune – nicht der Papst, sondernWolfgang Kubicki mit einem Fachbeitrag auf focus .de .Die arme FDP! Zuerst fliegt sie aus dem Bundestag, unddann klaut ihr die Linke auch noch die Anträge . Das ha-ben unsere Liberalen nicht verdient .
Wenn sich die Linke aber in Zukunft finanzpolitisch ander FDP orientieren sollte, dann freuen wir uns ganz be-sonders auf die Debatten im Finanzausschuss und hier imHohen Hause .Doch nun zur Sache . Was sind Staatsleistungen? Inverschiedenen Phasen der deutschen Geschichte wurdeden Kirchen vonseiten des Staates Vermögen entzogen,beispielsweise Ländereien .
Aus den Erträgen dieser Vermögenswerte hatte sich dieKirche bis dato finanziert. Mit den Enteignungen wurdeden Kirchen somit ein Teil ihrer finanziellen Existenz-grundlage entzogen . Dafür entschädigen die Staatsleis-tungen . Staatsleistungen sind also keine Geschenke undauch keine Subventionen, sondern es sind historisch be-gründete Ersatzleistungen . Diese zahlt – hören Sie genauzu! – nicht der Bund, sondern diese zahlen die Länder .
Wahr ist, dass sowohl die Weimarer Reichsverfassung –darauf haben Sie zu Recht hingewiesen – als auch dasGrundgesetz eine Ablösung der Staatsleistungen vorse-hen . Wahr ist übrigens auch, dass die oft kritisierten Kir-chen einer Ablösung der Staatsleistungen nicht im Wegestehen .
Viele Bistümer und Landeskirchen haben hier – wieschon ausgeführt – Gesprächsbereitschaft signalisiert .Aber natürlich muss eine solche Ablösung fair ablaufen .Gelegentlich hört man die Behauptung, dass dieStaatsleistungen bereits abgegolten seien, weil sie schonseit längerer Zeit gezahlt werden . Das ist geradezu ab-surd . Die Staatsleistungen basieren auf Verträgen zwi-schen den Kirchen und dem Staat . Das sind keine Raten-tilgungsverträge . Wir bezahlen auch kein Haus und keineKirche ab . Es handelt sich vielmehr um Entschädigungs-leistungen, die auf Dauer angelegt sind . In einem Rechts-staat ist ein geltender Vertrag ein geltender Vertrag . Die-ser wird auch nicht dadurch hinfällig, dass er sehr alt ist .Nein, die Staatsleistungen müssten in Verhandlungenzwischen den Ländern und den Kirchen ordnungsgemäßabgelöst werden . Ablösung bedeutet Aufhebung der Zah-lungen gegen Entschädigung .Wie hoch müssten nun die Entschädigungen ausfal-len? Vom 18,6-Fachen der aktuellen Zahlungen über das20- und 25-Fache bis zum 40-Fachen findet sich hier inder Literatur alles . Nun könnte man meinen, dass dieLinken genau dafür eine Kommission gründen wollen,um also herauszufinden, was denn der richtige Faktor ist.Um Transparenz und Klarheit geht es, könnte man mei-nen . Doch da kennen wir die Linke besser . Noch in derletzten Legislaturperiode haben Sie in diesem Haus einenGesetzentwurf vorgelegt und wollten den Ländern vor-schreiben, die Staatsleistungen abzulösen, wohlgemerktmit einer Einmalzahlung in Höhe des Zehnfachen desbisherigen Jahresbetrags . Damals brauchten Sie keineKommission, um die korrekte Höhe der Staatsleistungenzu bestimmen . Damals kannten Sie diese schon vorher .Daran sieht man, dass es Ihnen nicht darum geht, Trans-parenz zu schaffen . Vielmehr möchten Sie etwas ganzanderes . Sie wollen die Staatsleistungen abschaffen .
Kollegin Horb, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen . – Zufordern, dass diese Staatsleistungen abgeschafft werden,ist Ihr gutes Recht . Leider geben Sie aber dabei – wie sooft – Geld aus, das Ihnen gar nicht gehört . Das ist in die-sem Fall besonders perfide; denn – Kommission hin oderher – billig wird die Ablösung dieser Staatsleistungen fürdie Länder nicht .Ich habe mir für mein Heimatland Baden-Württem-berg die entsprechenden Zahlen einmal genauer ange-schaut . Im Jahr 2016 überweist Baden-Württemberg andie beiden katholischen Diözesen und die beiden evan-gelischen Landeskirchen Staatsleistungen in Höhe vonnicht weniger als 118 Millionen Euro .Das ist zweifellos viel Geld, aber man muss auch be-denken, dass der Landeshaushalt selbst ein Volumen vonüber 46 Milliarden Euro hat . Bei den Staatsleistungenreden wir also hier von 2,5 Promille der Gesamtausga-ben . Das ist haushalterisch tragbar . Wenn wir die Staats-leistungen ablösen, dann reden wir nicht mehr nur über118 Millionen Euro in Baden-Württemberg . Wenn wirden Ablösefaktor von 18,6 zugrunde legen, dann landenwir bei einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro, al-lein bezogen auf Baden-Württemberg .Das ist ein ganz schöner Brocken . 18,6 ist der kleins-te Faktor, den ich in der seriösen Literatur habe findenkönnen . Es gibt Wissenschaftler, die noch höhere Zahlenansetzen . Solche Rechnungen muss man für jedes andereBundesland auch anstellen – und das in einer Situation,in der ab 2020 für die Länder die Schuldenbremse greift .Das heißt nicht, dass man Staatsleistungen nicht ablö-sen kann . Inhaltlich können wir hinsichtlich der Staats-leistungen über alles reden, aber die Initiative dafür musszwingend von den Ländern ausgehen; denn diese zahlenam Ende die Zeche . Gegen die Länder und ohne Abspra-che mit den Ländern werden wir dies mit Sicherheit nichttun . Wir werden keine Evaluierungskommission einset-zen . Das wäre einfach unredlich .Liebe Linke, ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag .Sie sind an einigen Landesregierungen beteiligt . In Thü-ringen stellen Sie, sehr zu meinem Leidwesen, sogar denMinisterpräsidenten . Wenn Sie eine Kommission zurEvaluierung der Staatsleistungen gründen wollen, dannmachen Sie es dort, in den Ländern; denn da gehören die-Margaret Horb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16281
(C)
(D)
se Kommissionen hin . Was hört man jetzt aus Erfurt zuden Staatsleistungen? Nichts . Im Bundestag die Anträgevorlegen, aber in den Ländern die Füße hochlegen . Sogeht das nicht, liebe Linke .
Der historische Hintergrund und der Umfang derStaatsleistungen sind nämlich in den Ländern, wie be-reits ausgeführt, höchst unterschiedlich . Eine Evaluie-rung sollte daher selbstredend vor Ort stattfinden. JedesBundesland hat die Möglichkeit, im Einvernehmen mitden Kirchen die Staatsleistungen zu verändern, umzu-gestalten, abzulösen und vorher meinetwegen auch eineEvaluierungskommission zu gründen . Wenn die Länderdas tun – gut . Wenn sie das nicht tun, dann lässt das ei-gentlich nur den Schluss zu, dass die Länder mit demderzeitigen System zufrieden sind . Noch einmal: Es sinddie Länder, die dies bezahlen müssen . Die Länder brau-chen den Bund nicht, wenn sie die Staatsleistungen ab-lösen wollen .Der vorliegende Antrag, den die Linke hier stellt, istdaher ein bisschen heuchlerisch, ein bisschen unredlich,aber auf jeden Fall unnötig . Also, liebe Linke, wenn ihrdas nächste Mal einen Antrag von der FDP abschreibt,dann sucht euch bitte einen Vorschlag aus, der ein biss-chen sinnvoller ist . Diesen Antrag werden wir vonseitender CDU/CSU-Fraktion auf jeden Fall ablehnen . Ich hof-fe, dass Sie mich bei Ihrem nächsten Antrag zitieren .Herzlichen Dank .
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wawzyniak
das Wort .
Da Sie eine Zwischenfrage nicht zugelassen haben,
muss ich eine Kurzintervention machen . – Zunächst
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir in der vorigen
Legislaturperiode – das haben Sie zu Recht erwähnt –
einen Gesetzentwurf vorgelegt haben . Das war vor dem
Beitrag von Herrn Kubicki . Wenn, dann hat Herr Kubicki
bei uns abgeschrieben . Pech für die Liberalen .
Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht zugehört haben . Of-
fensichtlich haben Sie nicht zugehört . Deswegen will ich
das an dieser Stelle wiederholen: Ich habe an diesem Pult
gesagt, dass wir die Einwände, die gegen den Gesetzent-
wurf in der letzten Legislaturperiode gekommen sind,
aufgenommen haben und dass wir vor dem Hintergrund
der Einwände diesen Antrag auf Einsetzung einer Kom-
mission gestellt haben . In dieser Kommission – wenn Sie
den Antrag noch einmal lesen möchten – sind im Übrigen
Ländervertreter vorgesehen . Die Länder wären also mit
am Tisch .
Ein letzter Punkt . Sie haben gesagt, die Länder könn-
ten die Staatsleistungen einfach ablösen . Ich habe vorhin
in der Rede auch Artikel 138 Weimarer Reichsverfassung
zitiert . Die Grundsätze für die Ablösung muss das Reich
und jetzt, da das im Grundgesetz steht, der Bund auf-
stellen . Die Länder können überhaupt erst dann ablösen,
wenn der Bund die Grundsätze aufgestellt hat . Deswegen
macht eine Kommission beim Bundesministerium der
Finanzen auch Sinn .
Deswegen muss ich Ihnen leider sagen: Einmal zuhö-
ren, einmal lesen, das bringt eine bessere Rede .
Sie möchten erwidern? – Nein . Dann hat jetzt der Kol-
lege Dr . Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist schon bezeichnend, dass Sie nicht geantwortet ha-ben, Frau Horb; ich fand Ihre Rede auch ziemlich schade .Es ist so, dass man nicht wegnegieren kann, nichtwegschieben kann, was in der Verfassung steht . In derVerfassung steht sehr deutlich, dass es da eine Arbeits-teilung gibt . Die Grundsätze müssen wir hier festlegen,und dann sollen die Länder agieren . Deswegen kann manda gar keinen Bund-Länder-Konflikt aufmachen, wie Siees gemacht haben . Das war ein bisschen billig partei-politisch – bei einer Frage, bei der man doch zugebenmuss, dass das heutzutage auch viele Menschen in denKirchen nicht mehr verstehen . Dass auf der Grundlageeiner historischen Entwicklung in der ersten Hälfte des19 . Jahrhunderts – das liegt schon arg weit zurück – heuteZahlungen zwischen Kirche und Staat erfolgen, in einerganz vielfältigen und für viele Menschen intransparentenArt und Weise, ist nicht mehr vermittelbar,
und zwar auf beiden Seiten nicht mehr vermittelbar . DemSteuerzahler ist es nicht vermittelbar, der den Anspruchhat, dass transparent ist, für was eigentlich Leistungengezahlt werden, was die Rechtsgrundlage ist . Es ist auchauf der Kirchenseite nicht vermittelbar . Viele Mitglie-der sagen: Auch wir wollen eine Klarheit bezüglich derkirchlichen Finanzen und wollen, dass das nicht intrans-parent geregelt ist .Es ist außerdem nicht vermittelbar, dass es einen Ver-fassungsauftrag gibt, der jetzt fast 100 Jahre besteht –zunächst in der Weimarer Reichsverfassung, dann imGrundgesetz –, der Gesetzgeber auf Bundesebene, vor-her auf Reichsebene, aber nicht die Kraft findet, die Eck-werte festzulegen . Das kann man doch niemandem mehrerklären .
Ich finde, dann darf man auch in der parlamentari-schen Auseinandersetzung einmal anerkennen, dass von-seiten der Linksfraktion ein Vorschlag gemacht wordenist, bei dem vielleicht noch nicht alles so ist, wie wir esMargaret Horb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616282
(C)
(D)
formulieren würden, der aber im Grundansatz trägt, näm-lich jetzt in einer Kommission die Menschen, die daranbeteiligt sind – von wissenschaftlicher Seite, von poli-tischer Seite, Bund und Länder und natürlich auch dieKirchen –, an einen Tisch zu bringen, um einen Weg zufinden. Dieser Vorschlag ist gut. Ich darf sagen: UnsereFraktion unterstützt ihn ausdrücklich .
Er trägt genau dem Rechnung, was für Ihre Frakti-on, Frau Horb, in der letzten Legislaturperiode gesagtworden ist: Eine einseitige Ablösung ohne solide Rech-nungsbasis, ohne Einbeziehung der Länder und der Kir-chen darf es nicht geben . – Das soll es auch nicht geben;Sie könnten zustimmen .Kollege Geis hat gesagt: „Es gibt in dieser Frage keinGewohnheitsrecht .“ Ja, es muss jetzt eine Rechtsgrund-lage geschaffen werden .Sie haben an einer Stelle natürlich recht: Die Länderhaben – das ist, finden wir, ein gangbarer Weg – an ein-zelnen Stellen Ablösungsvereinbarungen getroffen . Einesolche gibt es in Nordrhein-Westfalen mit dem BistumPaderborn . Das gab es auch schon in Bayern und inHessen . Das kann durchaus ein Weg sein, aber er ent-bindet uns als Gesetzgeber auf Bundesebene nicht vondem Auftrag, den unsere Verfassung uns gibt, und demsollten wir endlich nachkommen . In wenigen Jahren istder 100 . Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung . Ichfinde, bis dahin sollte man das wirklich geschafft haben.
Man muss eine Sache natürlich sehen, und da liegt dieSchwierigkeit: Wenn nach den heutigen Zinssätzen – wirsind quasi bei null – entschädigt werden soll, dann kannman natürlich astronomische Zahlen zusammenrechnen .Das ist auch der Grund, warum die Ablösung bisher nichtgeklappt hat . Es wird daher eines Entgegenkommensauch der Kirchen bedürfen, um eine Frage in der Zukunftso zu regeln, dass alle in diesem Land das unterstützenkönnen . Deswegen muss man sich zusammensetzen .Mein Appell ist, dass sich alle Beteiligten an dieser Stellebewegen, hier im Haus und in der Gesellschaft, um einezufriedenstellende Lösung für die Zukunft zu finden;denn dass das viele Leute umtreibt, können Sie an dergesellschaftlichen Diskussion ja sehen .Ich will allerdings sagen, dass wir an einer Stelle auchein bisschen Zweifel haben, was die Formulierung desAntrags angeht . Aber so etwas kann man sich im weite-ren Verfahren im Ausschuss noch einmal anschauen . BeiPunkt 3 könnte der Eindruck entstehen, dass es rechtlichso ist: Das, was seit 1919 schon gezahlt worden ist, kannman sozusagen anrechnen . – Wir teilen diese Rechts-auffassung so nicht . Aber ich glaube, dieser Punkt mussnicht so bleiben . Man kann das im Ausschuss vielleichtnoch einmal gemeinsam diskutieren und so formulieren,dass alle mitgehen . Ich hoffe und wünsche mir wirklichsehr, dass wir das gemeinsam hinkriegen . Zeiten vonGroßen Koalitionen sind ja manchmal auch Zeiten, indenen längerfristige Aufgaben endlich einmal angegan-gen werden . Vielleicht geben Sie sich ja einen Ruck . Hiervor dem 100 . Geburtstag der Weimarer Reichsverfassungden Auftrag einzulösen, wäre wahrlich wirklich nötig .
Das Wort hat der Kollege Andreas Schwarz für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alsmir mitgeteilt wurde, dass ich am heutigen Freitagnach-mittag eine Rede halten darf, hat mich das erst einmalsehr gefreut, da zeitgleich auf der Tribüne eine Besucher-gruppe aus meinem Wahlkreis Platz genommen hat .Herzlich willkommen, Memmelsdorf!
Das Thema dieser Rede reicht bis ins Jahr 1803 zu-rück . Das war eine Überraschung für mich . Bisher bin ichdavon ausgegangen, dass die stolze Sozialdemokratie imPrinzip die älteste Konstante in diesem Hohen Hause ist .Aber nun weiß ich: Der Reichsdeputationshauptschlussvom 25 . Februar 1803 beschäftigt die Politik dieses Lan-des sogar noch länger . Worum geht es im Einzelnen? ImJahr 1803 wurden im Rahmen der staatlichen Säkulari-sierung die Kirchen teilweise enteignet, etwa Klöster undLändereien. Seither fließen Entschädigungszahlungen,um beispielsweise die Seelsorge trotzdem aufrechtzu-erhalten . Im Jahre 1919 wurden viele Kirchenrechts-regelungen aus dem Kaiserreich in die Verfassung derWeimarer Republik aufgenommen, aber eben auch, dassdie Regelungen zur Kirchenfinanzierung neu verhandeltund neu geordnet werden müssten . Der Artikel wurdeja schon genannt: In Artikel 138 Absatz 1 der WeimarerReichsverfassung ist das nachzulesen, und vom KollegenSchick haben wir ja die Hausaufgabe bekommen, zumJubiläum das zu erledigen . Dieser Auftrag wurde mit Ar-tikel 140 im Jahr 1949 auch ins Grundgesetz der Bun-desrepublik Deutschland übernommen . Seither – das istsicherlich einigermaßen erstaunlich – ist wenig bis garnichts passiert .Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kir-chen in unserem Land tragen eine nicht hoch genugeinzuschätzende Verantwortung für das Gemeinwohl inDeutschland . Nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage sinddie Kirchen in unserem Land unverzichtbarer Partner ei-ner humanen und menschenwürdigen Flüchtlingspolitik .Die kirchliche Seelsorge gibt den Menschen in unseremLand in einer immer schneller werdenden Welt Halt undKonstanz . Ohne die sozialen und karitativen Leistungender Kirchen sähe mit Sicherheit der gesellschaftliche Zu-sammenhalt in unserem Land ganz anders aus . DiesenUmstand sollten wir natürlich auch bei der Debatte überDr. Gerhard Schick
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16283
(C)
(D)
die Finanzierung von Kirchen und Religionsgemein-schaften in unserem Land nicht vergessen .Vor einigen Jahren haben Sie, liebe Kolleginnen undKollegen der Linken, bereits einen Gesetzentwurf zudiesem Thema eingebracht . Heute diskutieren wir einenAntrag zu diesem Thema . Sie fordern darin im Wesent-lichen vier Punkte . Drei von diesen Punkten können wirmit Sicherheit etwas abgewinnen, einem jedoch nicht . Dadieser jedoch der zentrale Punkt des Antrags ist, könnenwir dem Antrag insgesamt nicht zustimmen . Sie fordernnicht zu Unrecht, dass es Zeit wird, den Umfang der Sä-kularisierungsverluste aus dem Jahr 1803 zu ermitteln .Dabei spielt natürlich eine Rolle, wie hoch die Entschä-digungszahlungen seit dem Jahr 1919 sind . Ich glaubeübrigens, dass die Differenz aus beiden Zahlen Sie eherüberraschen würde als mich . Jetzt stoßen wir aber auf dasaus meiner Sicht entscheidende Problem: In Ihrem An-trag fordern Sie die Einsetzung einer Kommission beimBundesfinanzministerium, bestehend aus – ich zitiere –:
Bei dem großen Rahmen, in dem eine solche Kommis-sion tagen müsste, würde eine Lösung vermutlich nochweitere 100 Jahre dauern . Nein, ich glaube, Sie zäumendas Pferd mehr von hinten auf . Ja, wenn der Verfassungs-auftrag erfüllt werden soll, muss der Bund irgendwanngesetzgeberisch tätig werden, in welcher Form auch im-mer . Aber zuvor muss es aus unserer Sicht Gesprächeauf viel kleinerer Ebene geben . Die Staatsverträge sindzwischen Bundesländern und Kirchen geschlossen undkönnen nur zwischen diesen einvernehmlich geregeltwerden . Einige Bundesländer zahlen viel, wie wir ge-hört haben, andere zahlen weniger . Teilweise erfolgt aufder kommunalen Ebene schon gar keine Zahlung mehr .Das bedeutet, Gespräche zwischen Landeskirchen, Bun-desländern und Kommunen sind nötig . Es gibt Signale:Sowohl Kirchen als auch Länder sind bereit, Gesprächezu führen . Erst danach kann nach unserer Auffassung derBund hier tätig werden .Diese Gespräche sind unfassbar komplex; das weißich als ehemaliger Bürgermeister . Dazu kann sicherlichauch mein Kollege, der hier heute aus Memmelsdorfanwesend ist, einiges aus seinem Erfahrungsschatz be-richten . Beispielsweise mit Kirchen über die Fragen vonUnterhalt und Kirchenbaulast zu diskutieren, gestaltetsich sehr schwierig und ist auch sehr zeitaufwendig . ImÜbrigen haben Sie ein Bundesland, in dem Sie einmaleinen Testballon steigen lassen können, um zu sehen, obIhre Idee fruchtet und greift .Bis dahin bedanke ich mich für die Aufmerksamkeitund wünsche allen ein schönes Wochenende .Danke .
Das Wort hat der Kollege Markus Koob für die CDU/
CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Heute beschäftigen wiruns mit den Staatsleistungen an Kirchen, ein Baustein inden allgemeinen Finanzbeziehungen zwischen Staat undKirche. Per Definition sind Staatsleistungen finanzielleZuwendungen des Staates an die Kirchen, die die his-torische weitreichende Enteignung von kirchlichem Ei-gentum entschädigen sollen . Diese Leistungen sind alsokeine Subventionen, sondern Ersatz dafür, dass der Staatsich mehrfach in der Geschichte Kircheneigentum ange-eignet hat .Entschädigungszahlungen für diese damaligen mas-siven Enteignungen werden noch heute an die beidengroßen Amtskirchen in fast allen Bundesländern – mitAusnahme von Hamburg und Bremen – erbracht . ImJahr 2015 belief sich die gesamte Staatsleistung der14 Bundesländer an die Kirchen auf 510 Millionen Euro .Das besondere Merkmal von Staatsleistungen ist: Es sindwiederkehrende Zahlungsverpflichtungen und keine Ra-tentilgung – das ist schon mehrfach erwähnt worden –mit einem festgelegten oder einem einseitig bestimm-baren Ende . Eine Ablösung müsste vielmehr eine volleLeistungsäquivalenz und nicht nur eine angemesseneEntschädigung mit sich bringen .Mir drängt sich dabei, ähnlich wie der Kollegin Horb,der Verdacht auf, dass es der Linken gar nicht in ersterLinie darum geht, sondern vielmehr darum, die Zahlungder Staatsleistungen so schnell wie möglich zu beenden .Sie haben auch in einem Nebensatz erwähnt, man könntedas auch im Wahlkampf zum Thema machen . Das fandich erhellend; das gibt uns Auskunft darüber, was der ei-gentliche Ansatz dieses Antrages ist .
Aber Sie sind im Vergleich zum letzten Mal elegantergeworden, indem Sie nun vorschlagen, eine Kommissi-on einzurichten, und nicht mehr gleich per Gesetz dieAbschaffung fordern . Insofern haben Sie, was Ihren Stilangeht, etwas gelernt .Juristen würden es ein Dauerschuldverhältnis nennen .Im kirchenrechtlichen Fachjargon werden diese Staats-Andreas Schwarz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616284
(C)
(D)
leistungen Dotationen genannt . Unabhängig davon, obJurist oder Kirchenvertreter: Jeder kann der Verfassungunmissverständlich den Auftrag entnehmen, dass dieStaatsleistungen abzulösen sind . Darin sind wir uns ei-nig . Das heißt im Klartext: Weg von der dauerhaften,hin zu einer einmaligen abschließenden und vor allemangemessenen Zahlung . Das Ziel der Ablösung ist alsolegitim, aber spannend ist die Frage des Wie . Ich verrateIhnen kein Geheimnis – Frau Kollegin Horb hat es auchschon gesagt –, wenn ich Ihnen sage, dass wir den Ansatzder Linksfraktion für falsch halten .
– Dazu komme ich gleich noch .
Staatsleistungen abzulösen, entspringt, wie gesagt,grundsätzlich einer allgemein akzeptierten Logik .Rechtsverhältnisse und Finanzbeziehungen von Staatund Kirchen sind in beiderseitigem Interesse zu entflech-ten . Das ist breiter Konsens . Konsens ist aber auch, dassdas nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir es in ei-nem partnerschaftlichen Miteinander in Angriff nehmen .Vor allem zwischen den Gläubigern und den Schuld-nern muss es ein partnerschaftliches Miteinander bei derAblösung von Staatsleistungen geben . Und hier ist dieSachlage eindeutig . Schuldner sind die 14 Bundesländer,Gläubiger die Kirchen .Wie beenden nun Gläubiger und Schuldner diesesZahlungsverhältnis? Wie können also die Staatsleistun-gen abgelöst werden?
Darauf eine Antwort zu geben, ist schwer . Mit Sicherheitkann gesagt werden: Eine ersatzlose Aufkündigung sei-tens des Staates – also ein Zahlungsstopp ohne Kompen-sation – ist weder im Sinne der Verfassung, noch kanndies angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung derKirchen von irgendjemandem gewollt sein .
In der Theorie geht ja immer alles . In der Theoriekönnten wir natürlich, wie von den Linken gewollt, eineKommission einsetzen, die uns den Preis für die Ablö-sung bestimmt .
Politik findet aber nicht im theoretischen bzw. im luftlee-ren Raum statt, sondern sie ist praktisch wie jede Bürge-rin und jeder Bürger an Rahmenbedingungen gebunden .Selbst wenn wir unterstellen – ich verweise hier gernewieder auf die Kollegin Horb –, dass der kleinste Ablö-sefaktor 18,6 angewendet werden würde, hätte das einegewichtige Konsequenz . Wir würden dann über 9,5 Mil-liarden Euro reden, die den Bundesländern entzogen wer-den müssten .Der zentrale Ansatz, eine Kommission beim Bundes-finanzministerium einzurichten, ist in der Sache nichtrichtig . Die konkrete Ausgestaltung der Staatsleistung istin den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlichund schwer vergleichbar . So haben wir zum Beispiel inden ostdeutschen Bundesländern die Situation, dass diedortigen Kirchen aufgrund der deutschen Teilung jahr-zehntelang von ihren Rechtstiteln gar keinen Gebrauchmachen konnten . Deshalb sollte man nicht einen akutengesetzlichen Handlungsbedarf beim Bund herbeireden,sondern vielmehr die Bundesländer konstruktiv unter-stützen, individuelle Lösungen zu finden.
Mein Heimatland Hessen hat das übrigens – StichwortAblösung von Kirchenbaulasten – vorbildlich gemacht .Im Jahr 2003 kam es unter der CDU-geführten Landesre-gierung mit dem damaligen Ministerpräsidenten RolandKoch zu einer bundesweit beachteten Rahmenvereinba-rung zwischen Staat und Kirchen sowie Städten und Ge-meinden. Konkret ging es dabei um die konfliktträchtigeFrage, in welcher Höhe sich das Land Hessen an Bau undUnterhalt kirchlicher Gebäude beteiligen muss . Das warkein kleines Problem; denn hier ging es immerhin um1 200 kirchlich genutzte Gebäude . Die hessische Lan-desregierung hat nicht nur das Problem identifiziert, son-dern auch einen Lösungsprozess initiiert . Die Ablösungder kommunalen Kirchenbaulasten in Hessen ist seitdemeine vielzitierte politische Best Practice .Ich bin mir sicher, dass die hessische Staatskanzleigerne auch Anrufe aus Thüringen entgegennimmt, umdarzustellen, wie im Bereich der Ablösung von Staats-leistungen ein zielführender Lösungsprozess eingeleitetwerden kann .
In der Bundespolitik bestärkt uns das Beispiel Hessenjedenfalls . Wir müssen den Ländern hier die Flexibilitätlassen, individuelle Lösungen im Zusammenwirken mitden Kirchen zu finden. Das ist gutes föderales Miteinan-der, das ist ein partnerschaftliches Miteinander von Staatund Kirche . Und dazu bekennt sich unsere Fraktion inaller Form .
Wir sollten daher zunächst auf freiwillige, in Einzelfra-gen angemessene Lösungen zwischen den Beteiligtensetzen . Der erste Schritt dazu ist, heute Ihren Antrag ab-zulehnen .
Lassen Sie mich die Debatte bewusst im Geist christ-licher Friedfertigkeit beenden . Denn am Ende einer sol-chen Debatte müssen wir den Kirchen vor allem auchangesichts ihres Beitrags in der gegenwärtigen Situa-tion Dank und Anerkennung zollen . HunderttausendeHauptamtliche und Ehrenamtliche in beiden Kirchensorgen tagtäglich dafür, dass gesellschaftliches Leben inDeutschland funktioniert. In den Bereichen Pflege, Seel-sorge, Betreuung, Bildung und Denkmalpflege sowieMarkus Koob
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16285
(C)
(D)
durch unzählige weitere Tätigkeiten tun Kirchen diesjeden Tag . Damit decken sie viele Bereiche ab, die fürStaat und Gesellschaft von essenzieller Bedeutung sind .
Der Staat kann im 21 . Jahrhundert nicht alle Aufgabenvollumfänglich übernehmen . Er ist auf Ehrenamt undEngagement angewiesen . Die Kirchen in Deutschlandleisten auf diesem Gebiet enorme Arbeit und dienen inhervorragender Weise dem Gemeinwohl . Daher sind unsdie gesellschaftliche Bedeutung und das Wirken der Kir-chen besonders wertvoll .In der Tat sind 510 Millionen Euro für die Kirchensehr viel Geld . Wenn wir das an ihren gesellschaftlichenLeistungen messen, wäre die Gesellschaft ohne die staat-lichen Leistungen der 14 Länder an die Kirchen abernicht reicher, sondern wesentlich ärmer . Das sollte es unswert sein .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Margaret Horb, michhat die Schärfe in der Debatte ein kleines bisschen über-rascht . Ich weiß nicht genau, was dahintersteckt; denneines ist klar: Die soziale Arbeit der Kirchen und Religi-onsgemeinschaften wird von allen im Haus geschätzt . Esgibt niemanden, der daran kratzt .
Das Engagement für Flüchtlinge, für Asylbewerber wirdgeschätzt . Es gibt niemanden, der das bestreitet .
Die Arbeit in der Entwicklungshilfe, der Entwicklungs-politik und für das Gemeinwesen wird geschätzt . Daswird nicht bestritten . Da muss man sich nicht verkämp-fen,
es darf auch nicht subkutan mitschwingen, so als ob esda Probleme gäbe .Es gibt durchaus Bürger, die eine ganz andere Fragestellen . Mich hat einer angerufen und gefragt, ob ich heu-te thematisieren würde, wie denn eigentlich die Reichtü-mer der Kirche bis 1803 entstanden sind . Diese Sachekirchenhistorisch aufzuarbeiten, wäre sehr kritisch; aberdas ist heute nicht Thema .
Insofern ist es ganz gut, wenn wir uns den rechtsförmli-chen Dingen widmen .Man muss sagen: Der bayerische Landesbischof hatsein Befremden darüber zum Ausdruck gebracht, dasssein Gehalt aus dem Landeshaushalt bezahlt wird . Es istalso auch in Kirchenkreisen nicht immer ganz klar, wiediese Verbindung aussieht .Dieter Wiefelspütz hat am 27 . Juni 2013 gesagt – ichwill es zitieren –:Nach Art . 140 des Grundgesetzes in Verbindungmit Art . 138 der Weimarer Reichsverfassung ist derBund verpflichtet, ein Grundsätzegesetz über dieAblösung der Staatsleistungen an Religionsgesell-schaften zu erlassen .
Eigentlich ist alles klar .
Deshalb muss man gar nicht weiter darüber nachdenken .Die Rechtslage ist klar .Was die Dimension angeht, zitiere ich eine Frau, diees genau weiß, nämlich Kerstin Griese . Sie hat 2013 hiergesagt, dass der Betrag, um den es geht, 2 Prozent desEtats für die kirchliche Arbeit ausmacht . Es ist also auchaus Sicht der Kirche kein Betrag, der finanzpolitisch vonder Bedeutung ist, mit der wir ihn heute betrachten . Also,die Rechtslage ist klar, die finanzpolitische Frage ist ge-klärt . Es ist also sinnvoll, das Thema zu behandeln .Ein bisschen peinlich ist es, dass es so lange gedau-ert hat . Da will ich vielleicht den Linken den Vorwurfmachen: Der Antrag hätte schon etwa in den 20er-Jahrengestellt werden müssen .
Das muss ich sagen . Das sind halt Versäumnisse . Aberman muss auch über solche Dinge reden .Euer erster Gesetzentwurf zur Ablösung der Staats-leistungen kam im Jahr 2012 . Diesmal soll evaluiert wer-den. Das finden die meisten hier gut. Ich persönlich findees sehr gut . Ich würde dem Antrag auch zustimmen . Aberjeder im Haus weiß, dass in Regierungskoalitionen nurpassiert, was beide verabreden . Da gehen wir fair mitei-nander um . Es bestand keine Chance, dass wir das in derKoalition so miteinander verabreden . Das hat auch dieRede von Frau Horb gezeigt . Insofern ist klar, wie wiruns hier verhalten .Markus Koob
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616286
(C)
(D)
Es ist eine komplizierte Sache, überhaupt zu berech-nen, wie hoch ein solcher Ablösebetrag sein müsste . Dasist sicherlich eine Frage, für deren Klärung man eineKommission und wissenschaftliche Beratung braucht .Ganz besonders braucht man dabei eine Beteiligungaller, die davon betroffen sind . Wenn man fair mit demThema umgeht, dann findet man auch eine Lösung. Dennman muss sagen – ob wir nun in einem säkularen odereinem laizistischen Staat leben –: Auch die Kirche hat einInteresse daran, solche Reibungspunkte zu beseitigen .Denn das ist ja doch eine Sache, über die immer wiederdiskutiert wird . Wenn über 100 Jahre darüber diskutiertwird, dann könnten beide Seiten ein Interesse haben, dasProblem zu lösen . Wir haben gesehen: Hamburg undBremen haben Antworten gefunden . Solche Antwortenkönnten auch andere Länder finden.Wir werden heute zwar nicht diesem Antrag folgen,aber das Signal ist klar: Wir glauben, dass insgesamt eineLösung gefunden werden muss . Vielleicht bekommenwir in der Großen Koalition, möglicherweise schon inder nächsten Zeit, einen Lösungsvorschlag in diese Rich-tung hin .
Man kann sich ja sehr sanftmütig annähern, in diesemSinne: Wir finden eine Kommission, die noch mal darü-ber nachdenkt, ob sie darüber nachdenkt .
Schönen Dank, alles Gute .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4842 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Aktuelle Tarifrunde im Bund und in den
Kommunen – Den öffentlichen Dienst gerecht
entlohnen
Ich eröffne die Aussprache . Das Wort hat der Kollege
Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Um 6 Prozent sollen die Einkommen im öf-fentlichen Dienst steigen, so die Forderung der Gewerk-schaften . Ich sage: Recht haben sie! Das ist eigentlichdas Mindeste .
In den Tarifverhandlungen haben die Arbeitgeber, un-ter anderem Innenminister de Maizière, eine Erhöhungvon gerade einmal 0,6 Prozent angeboten . Rechnerischergibt sich das aus den drei Nullmonaten und dem 1 Pro-zent, das es erst ab 1 . Juni geben soll . Das ist eigentlichgar kein Angebot, das ist eine Zumutung . Nein, das istim Grunde genommen eine Unverschämtheit . Es ist eineProvokation, mit einem solchen Angebot aufzuwarten .
Im Jahr 2017 sollen die Beschäftigten dann noch ein-mal 2 Prozent mehr erhalten, jedoch auch erst Mitte desJahres, zum 1 . Juni . Damit reduziert sich die Erhöhungauf das Jahr umgerechnet auf gerade einmal 1,2 Prozent .Auch das ist wirklich skandalös .
Dann wollen die Arbeitgeber auch noch, dass die Eigen-beiträge der Beschäftigten zur betrieblichen Zusatzver-sorgung in Stufen um bis zu 0,4 Prozent erhöht werden .Ich finde es eigentlich pervers, eine Minierhöhung anzu-bieten und gleichzeitig höhere Belastungen der Beschäf-tigten zu fordern .Verdi hat recht, wenn erklärt wird: Hände weg vonunserer betrieblichen Altersversorgung, gerade in derheutigen Zeit,
in der sogar von der CSU die Perspektiven der Renteproblematisiert werden. Wenn ich Krankenpfleger oderErzieher wäre oder wenn ich bei der Müllabfuhr arbei-ten würde, wüsste ich ganz genau, was ich zu tun hätte:Streiken! Das ist aus meiner Sicht die einzige Antwort,die jetzt angezeigt ist. Ich finde es sehr begrüßenswert,dass Verdi jetzt zu Warnstreiks aufruft .
Die Vorstellungen der Arbeitgeber laufen letztendlichauf Reallohnverluste hinaus . Man kann nur staunen: Sowenig wert ist ihnen die Arbeit der Beschäftigten im öf-fentlichen Dienst. Das finde ich wirklich zynisch.
Die Schieflage zwischen den Reallöhnen, die faktischseit 2000 stagnieren, und den Gewinnen, die seit 2000preisbereinigt um mehr als 30 Prozent gestiegen sind,wird immer größer . Seit dem Jahr 2000 wurde im öf-fentlichen Dienst der verteilungsneutrale Spielraum, derdie gesamtwirtschaftliche Produktivität und die Inflationumfasst, nicht ausgeschöpft . Der Rückstand, der sich inden letzten 15 Jahren ergeben hat, liegt mittlerweile bei6 Prozent . Von daher ist vollkommen klar: Eine 6-pro-zentige Erhöhung, wie sie jetzt von Verdi gefordert wird,ist genau richtig und würde endlich diese skandalöse Lü-cke schließen .
Lothar Binding
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16287
(C)
(D)
Deshalb fordere ich die Bundesregierung und den Innen-minister auf
– es ist irritierend, dass Sie bei Ihrer Fraktion sitzen –, aufdie Forderung der Gewerkschaften einzugehen und sie zuerfüllen . Das wäre das Mindeste . Dann gibt es auch keineWarnstreiks mehr .
Auch im Vergleich mit der Industrie ist der öffentlicheDienst abgehängt . Die Lücke beträgt rund 10 Prozent-punkte . Ist denn die Dienstleistungsarbeit an Menschen,die Pflegearbeit uns so viel weniger wert als das Zusam-menschrauben von Autos? Ich finde, da läuft etwas voll-kommen schief in dieser Gesellschaft .
Steigende Löhne im öffentlichen Dienst sind ein wich-tiger Beitrag zur Stärkung des privaten Konsums unddamit der Binnennachfrage, und sie sind auch wichtig,um die Deflation zu bekämpfen. Herr de Maizière, diegleichen Politiker, die die EZB wegen der Nullzinspolitikschelten, sind jetzt dabei, eine Lohnerhöhung anzubieten,die absolut deflationär wirkt. Wenn Sie so weitermachen,dann hat die EZB nie eine Chance, aus ihrer Politik, dieauch ich kritisch beurteile, herauszukommen . Es ist voll-kommen abstrus, was Sie da hingelegt haben .
Die Forderungen von Verdi kosten Bund und Kommu-nen etwa 6 Milliarden Euro . Angesichts eines Haushalts-überschusses von 30 Milliarden Euro kann doch wirklichniemand behaupten, es sei kein Geld da . Um den Arbeit-gebern beim Nachdenken zu helfen, kann ich jedenfallsden Beschäftigten nur empfehlen: Beteiligt euch massen-haft an den Warnstreiks, zu denen jetzt von den Gewerk-schaften, von Verdi, aufgerufen wird!Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 66 Jahre altist das Erfolgsmodell Tarifautonomie . – Ich fange jetztnicht an, zu singen: 66 Jahre … Sie wissen, was dannkommt . – Es ist ein spezielles Recht der Verbände desArbeitsmarktes, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingun-gen durch Tarifverträge völlig frei von staatlicher Ein-flussnahme aushandeln zu können.
Das der Linken zu sagen, ist völlig zwecklos; denn sietreiben das jedes Jahr . Ich richte mich an die Zuhörer –die Kollegen hier wissen das –: Das steht in Artikel 9 Ab-satz 3 Grundgesetz .
Das, was die Linke hier beantragt und Herr Schlechtübelst vorgetragen hat, ist genau das, was wir nicht tunsollen .
Frei von staatlicher Einflussnahme heißt nicht, über Tarif-verhandlungen im Deutschen Bundestag zu debattieren,sich einzumischen oder gar zu versuchen, zu beeinflus-sen . Herr Schlecht, Sie versuchen, zum Streik aufzuru-fen . Sie nennen es eine Unverschämtheit und skandalös,was dort verhandelt wird .
Alles, was an dieser Debatte skandalös und unverschämtist, ist, dass sie auf Ihren Antrag hin stattfindet. Das istdas Problem .
Woher kommt das? Warum kapiert das die Linke seitJahren nicht?
Eine staatszentrierte sozialistische Denkweise legt gerneLöhne fest .
Kämen wir Ihnen da entgegen, wären demnächst dieBrotpreise oder vielleicht die Milchpreise betroffen, ichweiß es nicht .
Aber das ist nicht das Modell . Ich glaube, mit allen an-deren Parteien hier im Deutschen Bundestag, mit uns,ist das nicht zu machen, und ich sage Ihnen noch etwas:Beide Verhandlungsführer, sowohl Herr Bsirske als auchHerr de Maizière, brauchen ausweislich der Ergebnisseder letzten Jahre garantiert keine Empfehlungen aus die-sem Haus . Die sind selbst gescheit, die sind selbst gut .Das sieht man auch an den Ergebnissen, die wir hier Jahrfür Jahr vorlegen . Auf diese komme ich gleich noch .Wenn wir überhaupt über etwas sprechen sollten, dannüber das Danach; das sage ich jetzt bewusst in Richtungdes Innenministers . Egal, was herauskommt – und ichbin ziemlich sicher, dass etwas Gutes rauskommt –, hätteich doch schon gerne die inhaltsgleiche Übertragung:
Michael Schlecht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616288
(C)
(D)
für die Beamten, für die Versorgungsempfänger, für dieSoldaten und für die Richter .
Meine Damen und Herren, in der Debatte geht es umdie Frage: Wie viel wert ist uns der öffentliche Dienst?Die Zehnjahresbilanz der Union in diesem Haus: Wirhaben die Tarifergebnisse inhaltsgleich auf Beamten,Soldaten und Richter übertragen, und zwar permanent .2012 und 2014 waren es über 10 Prozent . Wegen derFlüchtlingslage ist ein Besoldungsänderungsgesetz inKraft, mit dem wir denen helfen, die mithelfen wollen,zum Beispiel durch Spesenabrechnungen oder Anrei-ze für Pensionäre . Wir haben das Altersgeldgesetz unddas Familienpflegezeitgesetz eingeführt, wir haben dieProfessorenbesoldung neu geordnet und ein Fachkräfte-gewinnungsgesetz verabschiedet, durch das Eingangsbe-soldungen nicht, wie in bestimmten Ländern, abgesenkt,sondern heraufgesetzt werden, bei IT-Fachleuten und beiIngenieuren auf A 10 bzw . A 11, usw . Das ist eine Listedes Vertrauens .Jetzt komme ich zu den Vergleichen . Der DGB stelltseit der Föderalismusreform ein Gehaltsgefälle von biszu 18,5 Prozent zwischen den Bundesländern fest . DerBund bewegt sich im obersten Drittel, beinahe an derSpitze . Dort oben sind noch Länder wie zum BeispielBayern zu finden. Da die Linke diese Aktuelle Stundebeantragt hat, habe ich mich gefragt: Was ist eigentlichmit Brandenburg? Ich muss mir ja das Land raussuchen,in dem Sie am meisten zu sagen haben .
Nach der Vertrauensliste kommt jetzt die Trauerliste .Was ist denn mit Brandenburg? Wo steht ihr denn? DerGymnasiallehrer, der in Bayern 60 000 Euro verdient,verdient bei euch nicht einmal 55 000 Euro . Der Poli-zeihauptmeister, der in Bayern 40 000 Euro verdient,verdient bei euch nicht einmal 36 000 Euro . Kehrt dochmal vor eurer eigenen Haustür und macht eure Hausauf-gaben, bevor ihr hier komische Dinge vorschlagt .
Es gab keine inhaltsgleiche Übernahme der Ergebnisseder Tarifverhandlungen in Brandenburg 2014 und 2015 .Na wunderbar, herzlichen Glückwunsch! Und Sie stellenhier tolle Anträge .
Meine Damen und Herren, vor allen Dingen den Be-amten und den Tarifbeschäftigten dort draußen sage ich:Entscheiden Sie sich nicht aufgrund einer solch sinnlo-sen Debatte, die die Linken hier initiiert haben . Entschei-den Sie sich, wem Sie vertrauen und wem Sie misstrau-en . – An die Linke gerichtet, sage ich – Herr Schlecht,ich wollte das eigentlich nicht machen; aber ich machees jetzt doch, weil Sie das Wort „pervers“ benutzt ha-ben –: Prüfen Sie einmal Ihr Staatsverständnis . NehmenSie vielleicht einmal Rechtsunterricht; Verfassungsrechtoder so etwas wäre gut .
Ich sage das natürlich nicht zu Ihnen, aber draußen würdeich es so formulieren:
Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Klappe halten!
Danke schön .
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Schlecht, auch ich muss sagen: Streckenweise hatteich bei Ihrer Rede das Gefühl, mich verirrt zu haben, alssei ich nicht im Plenum des Deutschen Bundestages, son-dern bei irgendeiner Veranstaltung von Verdi .
Man muss schon überlegen, was man von hier aus sagt .Ich kann Ihnen das spiegeln und eine andere Positionaufzeigen . Ich bin ja schon ein bisschen länger dabei undkann mich an Aktuelle Stunden erinnern, die die FDP imBundestag beantragt hat, beispielsweise bei Streiks derIG Metall . In dem Fall hat die FDP auf die Gewerkschaf-ten draufgeschlagen . Sie ist dabei mit einer ähnlich gro-ben, teils platten Rhetorik gegen Arbeitszeitverkürzungenvorgegangen, wie Sie jetzt umgekehrt auch . Damals habeich mich genauso gegen Eingriffe in die Tarifautonomievonseiten der Arbeitgeber, indirekt vertreten durch dieFDP, gewehrt. Jetzt finde ich vor allen Dingen die Form,wie Sie hier Ihre Kritik äußern, zumindest fragwürdig .
– Ich höre den Zwischenruf, dass der öffentliche Dienstein bisschen was anderes ist . Wir reden hier in erster Linieüber Tarifautonomie . Da es um den öffentlichen Dienstgeht, gibt es jenseits der aktuellen Tarifverhandlungennatürlich einiges dazu zu sagen . Zum Beispiel kann mansehr wohl etwas zur Finanzausstattung der Kommunenanmerken . Diesbezüglich stelle ich mit Blick auf meinLand Nordrhein-Westfalen fest, dass 40 Prozent derKommunen ein Haushaltssicherungskonzept aufstellenArmin Schuster
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16289
(C)
(D)
mussten und die Große Koalition ihre Versprechen, dieKommunen finanziell zu entlasten, nicht wahrgemachthat .
Das ist ein Grund, warum Kämmerer berechtigte Ta-rifforderungen nur noch mit Bauchschmerzen oder garnicht mehr erfüllen können . Das ist ein eminent politi-scher Punkt, und der gehört in den Deutschen Bundestag .
Die Große Koalition hat beispielsweise bei der Ein-gliederungshilfe im Zuge des Bundesteilhabegesetzes ein5-Milliarden-Paket versprochen, was eine Entlastung fürdie Kommunen bedeutet hätte . Dieses Paket hat sich inden verschiedenen Verhandlungssträngen der Bund-Län-der-Finanzverhandlungen verflüchtigt. Das ist das Pro-blem, über das wir hier reden müssen; denn eine vernünf-tige Finanzausstattung der Länder und nicht zuletzt derKommunen ist die Grundlage dafür, dass die Arbeitgeberbei Tarifverhandlungen auf berechtigte Forderungen derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingehen können .
Wenn wir schon über Tarifautonomie sprechen, somuss ich doch daran erinnern, dass es die Große Koa-lition war, die mit dem Tarifeinheitsgesetz ihrerseits dieVoraussetzungen dafür geschaffen hat, auch in Tarif-autonomie einzugreifen . Das, denke ich, sollte man imHinterkopf behalten, wenn noch weitere Rednerinnenund Redner der Koalition die Linke zeihen, die Tarifau-tonomie zu beschädigen . Da sind Sie selbst nicht ganzunschuldig und unbeteiligt .
Als rentenpolitischer Sprecher der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen muss ich jetzt doch noch auf eineninhaltlichen Punkt der Tarifverhandlungen eingehen,nämlich die Altersversorgung . Das ist ja einer der zen-tralen Streitpunkte: die Zusatzversorgung des öffentli-chen Dienstes . Was macht diese Bundesregierung? Sieversucht – zumindest verbal, ein Gesetz hat sie ja nochnicht eingebracht –, die Betriebsrente zu stärken; das be-hauptet sie zumindest . Sie möchte, nachdem sie einge-sehen hat, dass die Riester-Rente ihre hoch gestecktenErwartungen nicht erfüllt, die zweite Säule stärken . Eskann ja wohl nicht sein, dass Sie hier auf der einen Sei-te bundespolitisch etwas aufzubauen versuchen und dasdann während der Tarifverhandlungen mit dem Hinternwieder einreißen, indem Sie die Zusatzversorgung im öf-fentlichen Dienst schwächen . Das kann nicht funktionie-ren . Das ist hochgradig widersprüchlich .
Mit Blick darauf muss man schon sagen, dass geradedie Zusatzversorgung im Alter beim öffentlichen Dienstauch ein wesentliches Element der Nachwuchsgewin-nung ist . In der Nachbarstadt meines Wahlbezirkes, inEssen, gehen in den nächsten 15 Jahren 40 Prozent inder öffentlichen Verwaltung in den Ruhestand . Die ha-ben schon jetzt ein richtig großes Nachwuchsproblem .Systemadministratoren und gute Verwaltungsjuristen be-kommen Sie nicht für ein Butterbrot . Sie verdienen in derfreien Wirtschaft teilweise sogar ein Mehrfaches .
Neben der Arbeitsplatzsicherheit ist eine vernünftige Al-tersversorgung für diese Fachkräfte eben auch ein Argu-ment, für den öffentlichen Dienst zu arbeiten . Wir alle,auch wir hier als Gesetzgeber, sind darauf angewiesen,dass wir einen guten und funktionierenden öffentlichenDienst haben . Wer sonst sollte unsere Gesetze umsetzen?Ich bin allerdings guter Hoffnung, dass die Sozialpart-ner, dass Verdi das eigenständig hinbekommt, ohne dasswir hier Geleitzugdebatten dieser Art führen müssen, wieSie sie, Herr Schlecht, eröffnet haben . Wir sollten uns aufdie politischen Sachen konzentrieren .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Mahmut Özdemir für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Einige wollen offenbar eine Tradition darausmachen, dass wir im Deutschen Bundestag die Tarifver-handlungen im öffentlichen Dienst begleitend debattie-ren, und dies, obwohl das Parlament bei den Verhandlun-gen über die Lohnsteigerungen nach wie vor nicht mitam Tisch sitzt . Deshalb bleibt die Frage nach der rationa-len Berechtigung dieser Debatte weiterhin unbeantwor-tet, unbeantwortet,
obschon Recht und Gesetz eine klare Antwort daraufgeben . Artikel 9 Grundgesetz weist die Auseinanderset-zung über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ganzklar Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften zu .Jede politische Einflussnahme und Meinungsäußerungzu Forderungen der Arbeitgeber- oder der Arbeitnehmer-seite ist damit unzulässig . Die Neutralität der Politik wirdim besonderen Fall des öffentlichen Dienstes auch nichtdurch den Status des Bundesministeriums des Innern alsVerhandlungspartei durchbrochen .Wir halten fest: Das Anliegen der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter im öffentlichen Dienst nach einer Lohn-erhöhung ist berechtigt . Die konkrete Höhe wiederum istSache der Verhandlungsparteien . Diese Haltung ist imÜbrigen weder mit dem höflichen Entledigen von Ver-Markus Kurth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616290
(C)
(D)
antwortung noch mit Desinteresse gleichzusetzen . Hal-tung zugunsten des öffentlichen Dienstes zeigen wir alsSozialdemokraten durch die Wahrnehmung parlamenta-rischer Pflichten und hier zuvörderst durch verantwor-tungsvolle Haushaltsgesetzgebung . Der Abschluss derTarifvertragsparteien muss schließlich auch im Bundes-haushalt abgebildet werden . Niemals haben der Bundoder die Kommunen die Beschäftigten hier im Stich ge-lassen .
Die derzeitigen Forderungen von 6 Prozent Lohner-höhung und einer Anhebung der Ausbildungsvergütungum 100 Euro bedeuten für die Haushalte von Bund undKommunen erhebliche Mehrausgaben, die wir zu be-rücksichtigen haben . Für den Bund würden die Mehraus-gaben 1,7 Milliarden Euro und für die Kommunen etwa5,6 Milliarden Euro betragen . Daher sollten wir beson-nen auf das Verhandlungsergebnis der dazu Berufenenwarten, statt hektisch und planlos Aktuelle Stunden ein-zuberufen .Der öffentliche Dienst braucht eine verlässliche Stel-lenausstattung, die sich in den Haushalten widerspiegelt .Auf diese Weise zeigt man als Abgeordneter verbindli-che Solidarität mit den Staatsbediensteten . Übrigens:Nach drei Verhandlungsterminen sind die üblichen Ri-tuale zwischen den Tarifvertragsparteien hinreichendzelebriert . Die Feuerwehrleute, die Beschäftigten bei derMüllabfuhr, die Erzieherinnen und Erzieher in den Klini-ken und in der Pflege warten jetzt auf einen vernünftigenVerhandlungsabschluss . Im Interesse aller Betroffenenhoffe ich persönlich daher auf einen reibungslosen, ge-rechten und für beide Seiten guten Gewissens vertretba-ren Abschluss .Obwohl wir als Parlament nicht am Verhandlungstischsitzen, sollten wir die heutige Debatte, da sie nun einmaleinberufen ist, als Anstoß dazu nutzen, auf Verbesserun-gen der gesetzgeberischen Rahmenbedingungen hinzuar-beiten; denn der öffentliche Dienst muss auch weiterhingefragt und begehrt sein . Hierzu zählen in der aktuellenEntwicklung für mich zwei Punkte .Der Ausschluss von sachgrundlosen Befristungen ge-hört ins Gesetz .
Eine Belastung der Tarifvertragsparteien mit diesen Auf-gaben dürfen wir nicht zulassen . Hier müssen wir alsGesetzgeber eine ganz klare Entscheidung treffen . Ins-besondere jungen Beschäftigten in öffentlichen Beschäf-tigungsverhältnissen müssen wir Sicherheit geben, wennwir von ihnen erwarten, dass sie in diese Gesellschaft in-vestieren, vom Ehrenamt bis in die Rentenkassen .
Die Wertschätzung des öffentlichen Dienstes drücktsich letztlich nicht nur in Lohnsteigerungen aus . Viel-mehr muss das Parlament mit dem Haushalt auch diekonkrete personelle Ausstattung gewährleisten . Deshalbmüssen wir die Aufstockung bei der Bundespolizei um3 000 Stellen auch in anderen Bereichen konsequent alsBeispiel nehmen . Wie wichtig haushalterischer Spiel-raum ist, um eine entsprechende Personalausstattungzu erhalten und aufzubauen, zeigen unsere Kommunen,seitdem in dieser Wahlperiode auf maßgebliche Initiativeder SPD immense Anstrengungen unternommen wordensind, Städte und Gemeinden von Kosten zu entlasten .
Da komme ich zum Bundesteilhabegesetz . Wenn Sievon einer geplanten Entlastung in Höhe von 5 Milliar-den Euro sprechen, dann dürfen Sie nicht unter den Tischkehren, dass bis dahin durch eine Finanzierung in denHaushalten 2015, 2016 und 2017 eine Brücke gebautworden ist .
– Lesen Sie es im Haushalt nach; Sie haben mit am Tischgesessen .Unser öffentlicher Dienst ist im Kontext des Flücht-lingszuzuges besonders in Vorleistung gegangen . VomBund bis in die Kommunen haben die BeschäftigtenÜberstunden angehäuft und das Bild von Bürokraten inverstaubten Amtsstuben vollends aus den Köpfen ver-drängt . Aber die Anhäufung von Überstunden ist gleich-sam ein Zeichen für eine mangelhafte Stellenausstattung .Hier müssen wir ganz dringend nachsteuern .
Die angemessene Würdigung des öffentlichen Diens-tes basiert nun auf einer kompromissfreudigen Koope-ration zwischen dem Bundesministerium des Innern undden Kommunen auf der einen Seite und den Beschäftig-tenvertretern auf der anderen Seite . Diese Kooperationist der Garant für einen soliden Abschluss . Ich wünscheden Verhandlungsparteien in der nächsten Verhandlungs-runde gute Gespräche und einen würdigen Abschluss imSinne unseres Gemeinwesens .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein herzli-ches Glückauf .
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Oswin
Veith das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich hoffe, die Linke wird verstehen, dass ich esim Namen meiner Fraktion nicht gutheißen kann, dasswir uns mit der von Ihnen aufgesetzten Aktuellen Stun-de wieder einmal in laufende Tarifverhandlungen im öf-fentlichen Dienst einmischen . Sie machen das eigentlichimmer so . Vor zwei Jahren standen wir das letzte Malhier, fast zur selben Zeit . Es ist bei Ihnen ein bisschenMahmut Özdemir
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16291
(C)
(D)
so wie bei Dinner for One – nur dass noch nicht Silves-ter ist –: the same procedure as every year . Letztes Malhieß Ihr Begehren: Höhere Löhne für die Beschäftigtendes öffentlichen Dienstes . Ein anderes Mal hieß es: Deröffentliche Dienst ist mehr wert . Heute heißt es: Den öf-fentlichen Dienst gerecht entlohnen .
– Nur langsam! – Jedes Mal wollten Sie sich dabei indie laufenden Tarifverhandlungen einmischen, jedes Malwollten Sie die Tarifvertragsparteien bevormunden, undjedes Mal wollten Sie den Verlauf der Tarifverhandlun-gen irgendwie beeinflussen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jedes Mal ha-ben wir das abgelehnt . Das tun wir heute wieder, und dasist auch gut so .
Ich will Ihnen auch sagen, warum wir das tun: weil Ta-rifverhandlungen immer auch Ausdruck der gelebtenTarifautonomie sind, sie ist durch unser Grundgesetzgeschützt und gehört zum Grundpfeiler unserer sozialenMarktwirtschaft . Gott sei Dank ist das so; unseren Ver-fassungsvätern sei Dank .Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ausge-zeichnete Erfahrungen damit gesammelt, dass nicht diePolitik die Löhne bestimmt. Daher finde ich es klug, dassdie Tarifhoheit bei den Tarifpartnern verbleibt und wiruns nicht einmischen . Das sollte auch die Linke so lang-sam einmal einsehen und beherzigen .
Wir bleiben bei unserem 67 Jahre alten ErfolgsmodellTarifautonomie . Diese Freiheit hat sich in Krisenzeitenbewährt . Es hat sich gezeigt, wie gut die Tarifpartner zumWohle unseres Landes damit umgehen . Schauen wir unsalso einmal den Sachstand an; denn: Nicht an ihren Wor-ten sollt ihr sie messen, sondern an ihren Taten . So heißtes schon bei Johannes .
Wir haben die Rahmenbedingungen deutlich verbes-sert . Dreimal wurden die Tarifabschlüsse inhaltsgleichauf die Bundesbeamten übertragen, und seit 2012 – auchSie wissen das – wird die Sonderzahlung, auch als Weih-nachtsgeld bekannt, wieder gewährt .
Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eineReihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht .Wir haben den Eintritt in den Ruhestand flexibler gestal-tet, gleiche Rechte für Lebenspartnerschaften und die Fa-milienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir habendie Vergütung von Professoren verbessert, das Leistungs-prinzip gestärkt und die Portabilität von Versorgungsan-wartschaften geschaffen .Letztes Jahr konnten wir sogar Neuerungen umset-zen, die die Attraktivität des Soldatenberufs gesteigerthaben . Der geschmeidige Begriff dafür hieß „Bundes-wehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz“ . Wir haben unse-ren Zeit- und Berufssoldaten Wertschätzung ausgespro-chen und mit den vielen Änderungen eine Angleichungder Rechtslage der Soldaten an Standards erreicht, die fürandere Bundesbeamtinnen und -beamte längst galten .Im gleichen Jahr konnten wir unsere Flexibilität un-ter Beweis stellen, als der Arbeitsaufwand im BAMFüberhandnahm . Wir haben reagiert und die Zahl derMitarbeiter im letzten Jahr mehr als verdoppelt, nämlichvon 3 500 auf 7 300 . In einem weiteren Schritt habenwir finanzielle Verbesserungen, speziell für die Beamtenbeim BAMF, erreicht, indem wir die Zulage für Arbeitzu Unzeiten erhöht haben . Damit konnten wir deutlichentlasten .Bei all dem, was bereits auf den Weg gebracht wur-de, ist es kein Wunder, dass der Bund im Vergleich zuden Ländern immer noch der beliebteste Arbeitgeber imöffentlichen Dienst ist . Dabei überzeugen nicht nur dieBesoldung, sondern auch die Arbeitsbedingungen . Alldas ist gut für die Attraktivität des öffentlichen Dienstesauf Bundesebene .Moderne, attraktive und familienfreundlichere Ar-beitsbedingungen tragen dazu bei, unseren öffentlichenDienst noch attraktiver zu machen . Die konsequenteWeitergabe der Tarifergebnisse ist dabei nur ein kleinerBaustein, um zukünftigen Arbeitskräften zu zeigen, dasssie beim Bund in guten Händen sind .All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, be-legt, dass wir es ernst meinen und uns an unseren Tatenmessen lassen . Sie von den Linken hingegen sind dop-pelzüngig . Hier fordern Sie immer gerne und immer viel,doch dort, wo Sie Verantwortung tragen und umsetzenkönnten, machen Sie es nicht, so zum Beispiel in Thürin-gen, wo Sie nicht zeitgleich übertragen, sondern schonzum zweiten Mal in Folge ein ganzes halbes Jahr später .
Ich sage: Wir werden diesem schlechten linken Beispielnicht folgen, sondern unserem Bundesinnenminister denRücken stärken bei seinem bereits angekündigten Bemü-hen, den berechtigten Anliegen der Mitarbeiterinnen undMitarbeiter des öffentlichen Dienstes nach angemessenerLohnerhöhung Rechnung zu tragen, ohne dass es Ver-handlungsrituale oder gar Streiks bedarf . Dafür werbenwir .Da alles schon auf gutem Wege ist, wie Sie gehört ha-ben, war Ihre Aktuelle Stunde auch heute wieder einmalüberflüssig.
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für dieFraktion Die Linke .
Oswin Veith
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616292
(C)
(D)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit 30 Jahren nehme ich als Gewerkschafts-sekretärin an Tarifverhandlungen teil . Ich bin in dieserDiskussion völlig irritiert . Als Bundestagsabgeordne-te verstehe ich meine Rolle als die einer Arbeitgeberin .Herr de Mazière ist Verhandlungsführer des Bundes; erist also nicht irgendjemand . Deswegen müssen wir dochmit ihm reden und mit niemand anderem .
Zwei Forderungen in der Tarifrunde im öffentlichenDienst liegen mir deshalb besonders am Herzen: erstensdie Übernahme der Auszubildenden und zweitens dieAbschaffung der sachgrundlosen Befristungen .
Eine Übernahme der Auszubildenden ist in vielen Ta-rifverträgen mittlerweile gängige Praxis, insbesonderein den Industrietarifverträgen . Da muss der öffentlicheDienst unbedingt nachziehen .
Auszubildende werden nicht gleich zu Beamten auf Le-benszeit, wenn man ihnen eine Festanstellung garantiert .Alle reden landauf, landab über den Fachkräftemangel .Wieso hält man nicht an denen fest, die man jahrelangteuer ausgebildet hat? Das ist aus meiner Sicht unklugund in der Diskussion um Fachkräftemangel echt schräg .
Entweder haben wir tatsächlich einen Fachkräfteman-gel – dann brauchen wir die Ausgelernten als qualifi-ziertes Personal im öffentlichen Dienst –, oder das ganzeGerede vom Fachkräftemangel ist reines Gefasel und Ge-schwafel, um die Leute gefügig zu machen .Die zweite Tarifforderung, über die ich sprechen will,ist die Abschaffung der sachgrundlosen Befristungen . Ichweise immer wieder darauf hin, wie auffallend hoch dieBefristungsquote im öffentlichen Dienst ist . Können Siesich vorstellen, was das für die Beschäftigten bedeutet?Dass die CDU/CSU das nicht kann – schade, dass HerrOellers nicht da ist –, weiß ich aus mehreren Diskussio-nen . Dabei ist längst klar, dass Befristungen gute Arbeitverhindern .Sie, liebe SPD, die Sie sich die Forderung nach guterArbeit immer wieder fett auf Ihre Fahnen schreiben, ha-ben nach dieser Diskussion zwei Möglichkeiten . Erstens:Sie akzeptieren die Notwendigkeit zur Abschaffung dersachgrundlosen Befristungen .
Dann lassen Sie uns das endlich machen .
Oder zweitens: Sie wissen um die Notwendigkeit der Ab-schaffung und wollen sie – das sagen Sie jedenfalls im-mer wieder –, aber kuschen weiterhin vor der CDU/CSU .
Auf genau diesen Zirkus haben die Beschäftigten keineLust mehr . Sie wollen endlich die notwendigen Verbes-serungen, zumindest in ihrem Beschäftigungsbereich,durchsetzen .
Die Kolleginnen und Kollegen mussten das ThemaBefristungen auf die Tarifebene heben, weil die Bundes-regierung ihrem Wunsch, an dieser Stelle endlich etwaszu machen, nicht nachgekommen ist . Es ist eigentlichAufgabe des Gesetzgebers, das Problem der Befristun-gen für alle Beschäftigten zu regeln . Das ist seit Jahrennicht in Ordnung . Seit Jahren diskutieren wir darüber .Dass auf diesem Gebiet nichts passiert, das ist einfachein Skandal .Herr Oellers, der, wie gesagt, leider nicht da ist, und dieCDU/CSU können sich noch so sehr aufregen . Wir wer-den dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnungsetzen, sooft wir nur können . Ich sage Ihnen ganz deut-lich: Die Linke wird so lange Diskussionen über diesesThema führen, bis die sachgrundlosen Befristungen end-lich Geschichte sind .
Leider stellen auch Arbeitgeber zunehmend Forderun-gen in Tarifrunden, so auch im öffentlichen Dienst . Diekommunalen Arbeitgeber wollen die tariflich geregeltenBetriebsrenten kürzen .
Zur Erinnerung: Die Bundesregierung beabsichtigt dieAbsenkung des Rentenniveaus bis 2030 auf 43 Prozent,und das für alle Beschäftigten in Deutschland . Wennjetzt die kommunalen Arbeitgeber daherkommen und dieBetriebsrenten kürzen wollen, dann werden die Beschäf-tigten im öffentlichen Dienst doppelt bestraft: zum einendurch die Absenkung des Rentenniveaus insgesamt undzum anderen durch die Kürzung der Betriebsrenten . DieBundesregierung denkt als Gegenstrategie gerade darü-ber nach, die Betriebsrenten zu stärken . Die kommuna-len Arbeitgeber im öffentlichen Dienst machen genaudas Gegenteil von dem, was im Moment diskutiert wird .Das geht doch gar nicht . Mit so etwas muss doch Schlusssein . Das läuft doch vollkommen gegeneinander . Das istgegen die Interessen der Menschen gerichtet .
Die Ausarbeitung der Leitlinien für gute Arbeit im öf-fentlichen Dienst können wir hier beeinflussen. Das istalles eine Frage des politischen Willens . Wenn wir daswirklich wollten, dann könnten wir das auch . Es wäremöglich, dass wir dadurch Verbesserungen für alle Be-schäftigten schafften . Bestimmte Tarifforderungen wäreneigentlich gar nicht nötig, wenn das Thema gesetzlichlängst geregelt wäre .
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16293
(C)
(D)
Kollegin Krellmann, achten Sie bitte auf die Zeit .
Ich wünsche den Beschäftigten im öffentlichen Dienst
von meiner Seite aus auf jeden Fall viel Erfolg bei ihrem
Versuch, ihre Forderungen durchzusetzen, und ich hof-
fe, sie bekommen das hin, weil sie das nicht nur für den
öffentlichen Dienst, sondern für die Beschäftigten insge-
samt machen .
Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Matthias Schmidt für die
SPD-Fraktion .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine sehr geehr-ten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde, sosteht es in unserer Geschäftsordnung, umfasst Themenvon „allgemeinem aktuellen Interesse“ . Man mag hinzu-fügen: mit Zuständigkeit des Bundestages . Das steht dortaber nicht .
Darum konnten Sie genau dieses Thema hier auch zumGegenstand einer Aktuellen Stunde erheben . Was das all-gemeine und aktuelle Interesse ist, bestimmt allein derAntragsteller, in diesem Fall die Fraktion Die Linke .
– Genau . – Frau Sitte, Hut ab! Sie haben es sogar ge-schafft, mit diesem Thema Ihre Reihen halbwegs zu fül-len, obwohl es tatsächlich unstrittig ist, dass es an dieserStelle keine Zuständigkeit des Deutschen Bundestagesgibt .Die Tarifrunde ist aus guten Gründen grundgesetzlichgeschützt . Artikel 9 des Grundgesetzes ist inzwischenzitiert worden . Die Tarifvertragsparteien sollen frei vonstaatlichen Eingriffen und Bevormundungen im öffent-lichen Dienst und außerhalb des öffentlichen Diensteshandeln können .Frau Krellmann, ich habe mir das, was Sie geradegesagt haben, aufgeschrieben . Sie haben gesagt: Leiderstellen auch Arbeitgeber Forderungen in den Tarifver-handlungen . – Ja, es ist genau das Wesensmerkmal vonVerhandlungen, dass beide auf Augenhöhe miteinanderreden und nach einem gemeinsamen Kompromiss su-chen . Genau das müssen wir doch auch den Arbeitgebernzugestehen .Auch wenn wir alle persönlich eine Meinung zumTarifkonflikt haben, sollten wir uns als Bundestag hierheraushalten .
Herr Schlecht, ich bin mir nicht sicher, ob Sie den Ge-werkschaften mit Ihrem Votum hier einen Gefallen getanhaben; denn Sie haben sich in deren ureigenste Tätigkeiteingemischt und wollen sie bevormunden . Das ist an die-ser Stelle doch überhaupt nicht nötig .
Auf der einen Seite werden 6 Prozent gefordert, aufder anderen Seite werden 1 Prozent plus 2 Prozent gleich3 Prozent angeboten . Man kann hier noch einmal genau-er nachrechnen, ob das wirklich stimmt, aber lassen wirden Tarifvertragsparteien doch Zeit und Raum zur freienVerhandlung ohne Einmischung von außen .
Gleichwohl vielen herzlichen Dank an die FraktionDie Linke dafür, dass sie dieses Thema auf die Tages-ordnung gesetzt hat . Das gibt mir die Gelegenheit zurAnalyse des öffentlichen Dienstes, und es wird Sie nichtüberraschen: Ich komme zu einem Lob .Frau Krellmann, Sie haben gesagt, Sie sind 30 Jahrelang Gewerkschaftssekretärin gewesen .
– Sie sind es noch . – Ich bin vor etwas über 30 Jahren inden öffentlichen Dienst eingetreten und beobachte denöffentlichen Dienst seitdem sehr genau . Was vor 30 Jah-ren in den Amtsstuben los war, ist etwas ganz anderes alsdas, was heute dort los ist .
Damals gab es noch viele buchstäbliche Beamte und An-gestellte mit Ärmelschonern, aber das hat sich kolossalgewandelt . Das liegt auch daran, dass wir im öffentlichenDienst akademisch und nicht akademisch sehr gut aus-bilden . Ein großes Lob geht hier an das Bundesverwal-tungsamt und an die Hochschule des Bundes für öffent-liche Verwaltung .Die Beamten und Angestellten, die heute dort tätigsind, wissen, um was es geht . Denen ist der Wortlautnicht wichtiger als der Sinn einer Vorschrift . Sie arbeitenfür das Gemeinwohl – und das sehr erfolgreich .Wir alle bemerken nur dann, dass der öffentlicheDienst da ist, wenn einmal etwas nicht klappt . Manchmalsind wir daran auch selbst schuld . Wer hat nicht selbstschon einmal vergessen, den Reisepass zu kontrollieren,und kurz vor der Urlaubszeit festgestellt, dass der Rei-sepass abgelaufen ist? Andere Fälle sind auch hausge-macht . Die Berliner Bürgerämter sind hierfür ein gutesBeispiel . Das Land Berlin hat das nun aber auch begrif-fen und stattet sie wieder besser aus .Es gibt allerdings auch sehr viele positive Beispieleim öffentlichen Dienst, zum Beispiel die kommunalenKrankenhäuser, Kitas und grundsätzlich auch die Schu-len, wobei natürlich klar ist, dass es bei den jetzigen Ta-rifverhandlungen gar nicht um die Landesbeschäftigtengeht . Die Integration von Flüchtlingen ist schon genannt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616294
(C)
(D)
worden . Und uns Bundestagsabgeordneten helfen dieMinisterien; sie unterstützen uns alle in unserer Arbeitals Parlamentarier .Der öffentliche Dienst ist gesamtgesellschaftlichwichtig und muss, damit dies so bleibt, für die Beschäf-tigten attraktiv bleiben . Dies haben die Tarifvertragspar-teien im Blick, und die Verhandlungen sind bei ihnen inguten Händen .Vielen herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Irene Mihalic für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schmidt, das allgemeine aktuelle Inte-
resse an den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst
lässt sich, glaube ich, nicht bestreiten,
erst recht nicht, wenn der Eindruck entsteht, dass die au-
tonomen Verhandlungen nicht so geführt werden, wie es
vielleicht möglich wäre, und aktuell wieder Streiks im
öffentlichen Dienst drohen .
Dann frage ich mich auch, ob die Bundesregierung die
Situation ernst genug nimmt .
Es ist völlig richtig: Die Tarifautonomie steht im
Grundgesetz . Deswegen tun wir gut daran, uns nicht in-
haltlich in diese Verhandlungen einzumischen . Deswe-
gen will ich das nicht näher kommentieren, sondern ich
möchte etwas zu der Art und Weise der Verhandlungsfüh-
rung aufseiten der Bundesregierung sagen .
Wenn der Bundesinnenminister nun verbreiten lässt,
dass Ende April endlich gelingen wird, was in den ers-
ten beiden Verhandlungsrunden bisher nicht gelungen
ist, nämlich konstruktiv zu verhandeln, damit bald ein
gerechter Abschluss erreicht wird, dann weiß ich nicht,
was Sie damit meinen, Herr Schmidt, wenn Sie sagen,
wir müssten den Verhandlungen jetzt noch mehr Zeit und
Raum lassen . Ich glaube, Zeit und Raum waren ausrei-
chend vorhanden, und ich frage mich, was eigentlich in
den ersten beiden Verhandlungsrunden passiert ist .
Für mich heißt das ganz konkret: Es wurde wertvolle
Zeit vertan, die im Interesse der betroffenen Beschäftig-
ten und der Bürgerinnen und Bürger, die nun eventuell
wieder von Streiks betroffen sein werden, besser hätte
genutzt werden müssen .
Denn durch Streiks beweisen die Tarifparteien ja nur
ihren Willen, aber neue Erkenntnisse bringen sie in der
Regel nicht . Für den Bundesinnenminister gibt es gegen-
wärtig gar keinen Grund, an dem Willen der Gewerk-
schaften zu zweifeln . Deshalb muss man im Gespräch
bleiben und sich entsprechend bewegen . Hier wäre ein
selbstkritischer Blick auf die eigene Verhandlungspositi-
on sicherlich hilfreich .
Was aber auch kritisch überprüft werden sollte, sind
einige Argumente, mit denen sich die Arbeitgeberseite in
den letzten Tagen zu Wort gemeldet hat . Wenn beispiels-
weise mit den Kosten der Integration der nach Deutsch-
land Geflüchteten argumentiert wird, die noch gar nicht
abschätzbar seien, dann ist das aus meiner Sicht unsach-
lich und unklug . Das zeigt schon der gemessen am Ge-
samthaushalt überaus geringe Anteil von Ausgaben zum
Zweck der Integration .
Aber noch ein weiterer Punkt ist in diesem Zusam-
menhang anzusprechen . Es ist vor allem schlicht unver-
antwortlich, aus parteipolitischen Gründen die laufenden
Verhandlungen zu nutzen, um Ängste zu schüren, indem
mit Kosten in unbekannter Höhe argumentiert wird .
Auch sollte nicht der Versuch unternommen werden, die
eine Gruppe gegen die andere auszuspielen .
Ich erwarte vielmehr vom Bundesinnenminister, dass
alle bestehenden Spielräume konsequent genutzt werden .
Denken Sie bitte an die Beschäftigten und vor allem auch
an die von Streiks betroffenen Bürgerinnen und Bürger!
Ganz herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
CDU/CSU-Fraktion .
Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Ich habe mich schon gefragt, wie lange esdauern wird, bis die Grünen ihren Balanceakt hin zu denLinken tatsächlich erfolgreich bestehen . Kollege Kurthhat noch versucht, sie festzuhalten .
Ich stelle dazu fest: In diesem Land ist weder der vorsätz-liche Zeitdiebstahl unter Strafe gestellt
noch die Frage der Achtung vor allen Ausdrücken undAuswirkungen des Grundgesetzes . Es ist also zulässig,dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen . Man mussaber aufpassen, dass man sich nicht zu sehr im Tonfallvergreift .Matthias Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16295
(C)
(D)
Wenn beispielsweise die Gewerkschaften in den Tarif-verhandlungen sagen, das Angebot der Arbeitgeberschaftsei ein Akt der Missachtung, der Geringschätzung oderder Ignoranz – konkret der Ignoranz gegenüber der Leis-tung des öffentlichen Dienstes –, dann ist das harter To-bak . Das ist, vor allem angesichts des Angebots, das vor-gelegt wurde, nicht gerechtfertigt . Aber wissen Sie, wasder Unterschied ist? Die Gewerkschaft darf das . Sie solldas sogar . Sie soll sogar Stellung beziehen, auch beimBetätigungsgebot, nämlich bei der Tatsache, dass sie sichöffentlich dazu äußern soll . Die Gewerkschaften sinddazu aufgefordert, ihre Positionen zu untermauern . Wasaber nicht geht, ist, dass man hier so tut, als könne die Le-gislative in diesem Fall gute Ratschläge erteilen oder alskönne sie in irgendeiner Art und Weise mithelfen . Nein,die deutsche Tarifautonomie braucht keine Hilfestellung .Auch die Gewerkschaften brauchen keine Hilfestellungbei der Frage, wie sie ihre Verhandlungen führen . Mandarf sich als Bürger dieses Landes mit dieser Frage be-schäftigen . Sie müssen aber sehr gut darauf achten, obSie als Teil des Deutschen Bundestages versuchen, aufdiese Verhandlungen in irgendeiner Art und Weise Ein-fluss zu nehmen.Wenn diese Aktuelle Stunde einen Sinn haben soll,dann vielleicht eher als pädagogischer Ansatz . Dannwiederholen wir noch einmal, was Tarifautonomiebedeutet . Sie bedeutet nicht nur das Schließen von ar-beitsrechtlichen Koalitionen . Sie bedeutet nicht nur dasZusammenfinden von Menschen, um ihre Positionen zuunterstreichen . Vielmehr bedeutet sie ganz bewusst dieGewaltentrennung . Sie bedeutet ganz bewusst, dass dieLegislative nicht den Eindruck erweckt, sie würde dieRahmenbedingungen für diese Verhandlungen vorgeben .Deshalb sollten wir uns an dieser Stelle heraushalten .Das ist gelebte Tarifautonomie .
Ich hätte diesen Impetus, dieses Aufregen, dieses Lei-denschaftliche der Linken, zum Teil auch die Wortwahl,ja noch verstanden, wenn es in irgendeiner Weise umprivates Kapital gehen würde, um das Kapital von Men-schen, bei denen wir nichts hinzuzufügen hätten . Wirreden hier aber über Steuergelder . Wir reden hier überKommunen, die wirklich jeden Euro und jeden Cent um-drehen müssen .
Wir reden darüber, dass wir in den Haushaltsberatungenuns gegenseitig jeden Euro abringen . Aber zu sagen, wirkönnten darüber frei verfügen, das ist meines Erachtenstatsächlich eine Anmaßung, der Sie nicht erliegen sollten .
Natürlich hat der deutsche öffentliche Dienst eineganz besondere öffentliche Stellung . Diese Stellung hater nicht nur den Bund, sondern auch die Kommunenbetreffend . Das ist wesentlich mehr als nur die Vergü-tung . Das hat nämlich etwas damit zu tun, inwieweitder Arbeitgeber auf Bundes- und auf kommunaler Seiteein Arbeitgeber ist, bei dem man gerne arbeitet und alsMensch Interessen einbringt, auf der anderen Seite auchWertschätzung für diese Arbeit erfährt . Dies drückt sichnatürlich auch in Geld aus . Dies drückt sich natürlichauch in Leistungen aus . Dies drückt sich aber auch in derTatsache aus, dass man auf die Interessen von Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern wirklich eingeht .Deshalb lassen Sie mich sagen: Wir haben schon eineganze Menge gemacht . Schauen wir einmal auf die Bi-lanz . Wir haben bei den Bundesbesoldungs- und -ver-sorgungsgesetzen eine inhaltsgleiche Anpassung vorge-nommen . Wir haben die ehebezogenen Regelungen aufdie Lebenspartnerschaften übertragen . Wir haben füreine flexible Gestaltung des Übergangs in den Ruhestandgesorgt . Wir haben für die Soldaten das Einsatzversor-gungs-Verbesserungsgesetz auf den Weg gebracht . Au-ßerdem haben wir das Fachkräftegewinnungsgesetz aufden Weg gebracht . Ich will einmal die Punkte anspre-chen, die Sie vorhin so in den Raum geworfen haben, alswären sie ungeregelt . Das ist nicht der Fall . Wir sind dieFrage der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie,Pflege und Beruf angegangen. Wir haben die Frage derTarifbeschäftigten des Bundes durch das Familienpflege-zeitgesetz geregelt .Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deut-sche Bundestag hat die Rahmenbedingungen gesetzt, dieer setzen konnte. Es ist Ihre Pflicht, im Rahmen der Aus-gestaltung der öffentlichen Haushalte insbesondere ge-meinsam mit uns darüber zu entscheiden, wie viel Geldwir zur Verfügung stellen können, damit die Menschenauch ordentlich bezahlt werden . Sie lassen sich hier da-rüber aus, inwieweit diese Tarifautonomie draußen aufder Straße gelebt wird . Das überlassen Sie bitte den Ver-handlungspartnern, nämlich den Vertretern der Arbeitge-ber auf der einen Seite und vor allem den Vertretern derGewerkschaften auf der anderen Seite . Deshalb gilt meinDank all denjenigen, die das ohne ungerechtfertigte undungebetene Ratschläge gut und gerne tun .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Bernd Rützel für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Her-ren! Wenn wir heute über die Tarifverhandlungen im öf-fentlichen Dienst sprechen, dann ist das keine Zeitver-geudung, Herr Frieser. Ich finde es gut, dass wir darübersprechen; denn wir haben erst vor kurzem festgestellt,dass im öffentlichen Dienst in den nächsten Jahren sehrviele Menschen in den Ruhestand, in Pension und Rente,gehen und dass sehr viele junge Kräfte nachfolgen müs-sen . Deshalb ist es wichtig, dass wir darüber sprechen .Ich will heute etwas deutlicher werden, als ich es sonstMichael Frieser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616296
(C)
(D)
tue, weil in den Verhandlungen die öffentliche Hand derArbeitgeber ist .Zwei Anmerkungen: Erstens . Wenn man ein Angebotvorlegt, dann darf das nach meiner Meinung kein Ange-bot sein, das auf den ersten Blick gut aussieht, aber aufden zweiten Blick dann nicht so gut ist . Ich meine garnicht den Inhalt, sondern die Art und Weise . Man mussdie Menschen, unsere Beschäftigten, ernst nehmen unddarf ihnen nichts vorgaukeln .
Zweitens . 2 Millionen Beschäftigte – 150 000 Ar-beitnehmer des Bundes, 1,2 Millionen Arbeitnehmer derKommunen, 180 000 Beamte, 180 000 Versorgungsemp-fänger und im weiteren Sinne auch 235 000 Beschäftigtein der Bundesverwaltung – warten auf ein deutliches Zei-chen . Anders ausgedrückt: Die Busfahrerin, der Erzieher,die Rettungssanitäterin oder die Plenarassistentin und derSaaldiener, sie alle haben gute Arbeit geleistet, und zwarunter nicht immer leichten Bedingungen . Sie haben sichdas verdient und müssen nun eine deutliche Lohnerhö-hung bekommen .
Gerade aktuell unter dem Druck der vielen Flücht-linge in Deutschland leisten die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer im öffentlichen Dienst Beachtliches . Dasmuss auch berücksichtigt werden . Die Beschäftigten imöffentlichen Dienst garantieren, dass das Staatswesenfunktioniert, dass die öffentliche Ordnung aufrechterhal-ten bleibt und dass wir uns auf die Arbeit der staatlichenOrgane verlassen können . Daher haben sie nun Anspruchauf eine Beteiligung an der guten konjunkturellen Lage .Neben einer guten und deutlichen Einigung in denlaufenden Verhandlungen liegt mir ein ganz anderer As-pekt am Herzen, der mir Sorgen macht . Es darf keine Ta-rifflucht im öffentlichen Dienst geben. Aber sie gibt esbereits . Es gibt in Deutschland bereits einige Gemeinden,die aus dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgetre-ten sind und damit auch aus dem Flächentarifvertrag . Dasverurteile ich scharf; denn diese Gemeinden haben kei-nen Grund dazu . Diese Bundesregierung hat die Kommu-nen entlastet wie keine andere zuvor . Mein Freund OswinVeith hat das vorhin – wie andere Vorredner auch – deut-lich dargelegt . Es ist ein völlig falsches Signal, wenn dieöffentliche Hand auf diese Weise faire und transparenteArbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten verhindert .Zum einen ist dies ein großer Schaden für die betroffe-nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer . Zum anderenweist ein solcher Schritt in die völlig falsche Richtung .Wir kämpfen gemeinsam mit der Bundesregierung dieganze Zeit gegen die zunehmende Tarifflucht in der Pri-vatwirtschaft . Dieses Ziel wird dadurch torpediert . Gera-de im öffentlichen Dienst darf es keine Tarifflucht geben.
Ziel ist die Stärkung der Tarifbindung über alle Bran-chen hinweg . Der Flächentarifvertrag ist eine wesentli-che Errungenschaft unserer funktionierenden Sozialpart-nerschaft . Er ist ein wichtiges Instrument, um gerechteLöhne und Gehälter für die Beschäftigten auszuhandeln,und er schafft Frieden in den Betrieben .Vielen Dank .
Der Kollege Mark Helfrich hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte es mir nichtträumen lassen, dass ich einmal hier an diesem Ort dasGrundgesetz hochhalte, um die Tarifautonomie gegen dieEinmischung von Linkenpolitikern dieses Landes zu ver-teidigen . Ich werde gleich dezidiert den Kolleginnen undKollegen der Linken die Tarifautonomie gemäß Artikel 9Absatz 3 – es lohnt sich, ihn zu lesen, Frau Kollegin – er-läutern . Ich möchte feststellen, dass wir uns mit der ini-tiierten Aktuellen Stunde in laufende Tarifverhandlungenim öffentlichen Dienst einmischen .
Aber mich wundert bei den Linken mittlerweile nichtsmehr, nicht einmal der Widerspruch, dass sie beim The-ma Tarifeinheit jegliche staatliche Regelung zur Tarifau-tonomie verdammen, während sie sich heute in aktuelleTarifverhandlungen einmischen wollen .Wir haben in Deutschland ein grundgesetzlich ge-schütztes Recht für Tarifpartner, durch freie Vereinba-rungen Tarifverträge auszuhandeln, ohne dass eine staat-liche Stelle mitwirkt . Das nennt man Tarifautonomie . DieQuelle im Grundgesetz ist genannt . Das, was derzeit imöffentlichen Dienst passiert, ist gelebte Tarifautonomie .Der Begriff „Autonomie“ als solcher macht schon deut-lich, dass die Beteiligten, nämlich die Gewerkschaftenauf der einen Seite und die Arbeitgeberverbände auf deranderen Seite, ihre Angelegenheiten selbst betreiben undin Verhandlungen zu einem für beide Seiten vertretbarenTarifabschluss kommen . Dass dem einen oder anderenaus Ihrer Fraktion der Rollenwechsel vielleicht manch-mal schwerfällt und keine klare Unterscheidung zwi-schen Gewerkschaft und Fraktion erfolgt, mag ich Ihnenpersönlich nachsehen .
Sie haben grundsätzlich das Thema nicht verstanden .Ich will hier festhalten, dass die Tarifparteien keine Rat-schläge aus der Politik bzw . aus dem Parlament benöti-gen . Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie es beider Gewerkschaft Verdi nach:Ein Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag zwi-schen einem Arbeitgeber oder ArbeitgeberverbandBernd Rützel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 2016 16297
(C)
(D)
und einer Gewerkschaft . Einmischung ist nicht er-laubt,– jetzt bitte gut zuhören -das gilt auch für den Staat .Die Politik ist also gut beraten, sich nicht einzumi-schen . Die CDU/CSU wird das auch nicht tun und wirdsich dementsprechend in dieser Debatte verhalten .Wenn es der Linken tatsächlich um tarifbeschäftigteArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ginge, dann hättenSie zum Beispiel in Brandenburg fünf Jahre Zeit gehabt,entsprechend zu handeln . Dort ist die Linke Regierungs-partei . Sie hätten durchaus die Möglichkeit, in Ihrer Ar-beitgeberfunktion Einfluss zu nehmen. Mir ist nicht inErinnerung, dass Sie von der Linken in den Tarifrunden2011, 2013 oder 2015 über die von der Tarifgemeinschaftder deutschen Länder ausgehandelten Entgelterhöhun-gen hinaus mit gutem Beispiel vorausgegangen wären .Nein, Brandenburg hat natürlich eins zu eins alle drei Ta-rifrunden übernommen . Es gibt dort keine höheren Ver-gütungen . Es bleibt vielleicht noch die Hoffnung, dasssich demnächst in Thüringen, wo Sie als Arbeitgebernoch mehr Einfluss haben, etwas ändern wird.Ich habe recherchieren lassen, ob es sich vielleicht aufkommunaler Ebene bei der Linken anders verhält, ob esOberbürgermeister oder Landräte gibt, die sich bei denkommunalen Arbeitgeberverbänden für entsprechendhöhere Abschlüsse und freiwillige höhere Leistungenbzw . für eine Eins-zu-eins-Übernahme der Forderungender Gewerkschaften einsetzen würden . Es ist ehrlicher-weise nirgendwo überliefert, dass es derartige Forderun-gen seitens Ihrer Kommunalpolitiker gibt .
– Ja, in der Tat, da sprechen Sie einen gewichtigen Punktan . Wir haben bei den Verhandlungen, die anstehen, nichtnur Verhandlungen, die die Beschäftigten des Bundesbetreffen, sondern auch die Beschäftigten der Kommu-nen . Dementsprechend müssen wir auch an dieser StelleRücksicht nehmen .Wir sind uns alle einig, dass der Staat, die Verwaltung,die Beschäftigten im öffentlichen Dienst gerade in diesenschwierigen Monaten der Flüchtlingskrise sehr viel ge-leistet haben und dass wir darauf angewiesen sind, dassdie Menschen gute Arbeit leisten und diese Arbeit gutentlohnt wird .
Ich stimme dem Bundesinnenminister daher zu, dassdas Anliegen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter imöffentlichen Dienst nach angemessener Lohnerhöhungnatürlich berechtigt ist . Am Ende des Tages müssen dieForderungen auch umsetzbar sein . Leider ist es nicht so,dass der Staat eine Kuh ist, die im Himmel frisst und aufErden gemolken werden kann . Ich habe es bereits gesagt:Die Finanzlage der Kommunen ist in vielen Bereichenprekär . Das müssen wir bedenken .Lassen Sie also die Tarifparteien in Ruhe verhandelnund uns das Ergebnis der Tarifverhandlungen abwarten .Ich bin mir sicher, dass auch in dieser Tarifrunde eine füralle Beteiligten vertretbare Einigung erzielt wird .
Abschließend noch ein Hinweis dazu, wo wir tatsäch-lich etwas tun können, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken: Die Aufgabe des Deutschen Bundestageswird darin bestehen, für die knapp 300 000 Beamtinnenund Beamten des Bundes einschließlich der Soldaten undRichter eine möglichst inhaltsgleiche Übertragung desTarifabschlusses zu gewährleisten . Das haben wir in denletzten Jahren geschafft . Das sollten wir zu gegebenerZeit entschlossen anpacken .Herzlichen Dank für Ihr Zuhören .
Das Wort hat der Kollege Albert Weiler für die CDU/
CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne!Die Linke will sich abermals in die Aufgaben und Zu-ständigkeiten der Tarifparteien einmischen . Das habenwir oft genug gehört . Jetzt stellt sich aber die Frage: Wa-rum? Ich sage Ihnen, warum: weil sie Geld daran ver-dient .
Jetzt schauen wir einmal auf die offiziellen Seiten desDeutschen Bundestages . Die Linke klagt immer wiederüber Mandatslobbyismus . Hier sage ich: Wasser predi-gen und Wein trinken .Die Linke leistet sich Abgeordnete, die sich nebenihrer eigentlichen Aufgabe in einem Nebenjob von Ge-werkschaften zusätzlich ordentlich bezahlen lassen,
zum Beispiel die Sozialpolitikerin Frau Zimmermannoder auch Sie, Frau Krellmann, und die bis zu 42 000 Euroim Jahr verdienen . Das verdienen die meisten Menschenin Deutschland nicht . Sie vermischen Ihren hochbezahl-ten Nebenjob mit dem Bundestagsmandat und nutzenIhre Position, um öffentlich auf Staatskosten Lobbyis-mus zu betreiben .
Wenn Sie glauben, dass der Wähler das nicht erkennt,dann befinden Sie sich auf dem sogenannten Holzweg.
Mark Helfrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 165 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 15 . April 201616298
(C)
(D)
Tarifverhandlungen werden am Verhandlungstisch derTarifpartner geführt und nicht im Deutschen Bundestag .Die Arbeitgeber wollen eine zügige und konsensorien-tierte Tarifrunde . Streiks im öffentlichen Dienst gehennur zulasten der kleinen Leute . Deshalb fordert zumBeispiel der Verband kommunaler Arbeitgeber zur kon-struktiven Kompromisssuche auf . Das wünsche ich mirauch von Ihnen, besonders als Abgeordnete, aber auchals Gewerkschaftsvertreter .Wir stimmen dem deutschen Beamtenbund zu, wenner sagt, dass die Flüchtlingssituation allen gezeigt hat,wie wichtig ein motivierter, funktionsfähiger und per-sonell angemessen ausgestatteter öffentlicher Dienst ist .Ich stimme auch der Polizeigewerkschaft zu, wenn diesesagt, dass die Polizistinnen und Polizisten bei der Bewäl-tigung des Flüchtlingsstroms Übermenschliches geleistethaben . Aber was ich nicht will, meine Damen und Her-ren, ist, dass es heißt: Wir erkaufen uns die Menschlich-keit . – Das würde keinem gerecht werden, weder denEhrenamtlichen noch den Hauptamtlichen .Als ehemaliger Gewerkschafter stehe ich ganz klarfür eine angemessene Tarifanpassung . Aber noch einmal:Die Diskussion gehört nicht in den Deutschen Bundes-tag, sondern an den Tisch der Tarifpartner .
Als ehrenamtlicher Bürgermeister meiner Heimatge-meinde trage ich eine enorme Verantwortung für die Ent-wicklung meiner Gemeinde und für ein gutes Bildungs-und Freizeitangebot . Der Schuldenstand der Kommunenist auf einem neuen Rekordniveau . Die Höhe der Ver-schuldung beträgt nunmehr 145 Milliarden Euro . DerInvestitionsstau liegt bei weit über 100 Milliarden Euro .Eine Erhöhung der Tabellenentgelte um 6 Prozent unddie anderen Forderungen bedeuten Mehrkosten in Höhevon etwa 6 Milliarden Euro, und das können wir unsnicht leisten . Das verhindert Investitionen, auch in denKindergärten und Schulen, die dringend notwendig sind .Die Länder sind nicht bereit, das zu kompensieren .Bestes Beispiel – da sind wir wieder bei den Linken – istdie von Bodo Ramelow, also von den Linken, geführteThüringer Landesregierung . Hier werden nicht einmaldie Gelder, die der Bund für die Kommunen zur Beseiti-gung der Flüchtlingskrise bereitgestellt hat, eins zu einsweitergegeben .
Jetzt bitte ich die linken Gewerkschaftsvertreter, dieselbst noch aktive und bezahlte Gewerkschafter sind:Nehmen Sie bitte Einfluss auf die Gewerkschaft, dassein moderates Tarifergebnis erzielt wird, das beide Sei-ten, sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer,überleben lässt .
Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen: Ichbin für eine angemessene Anpassung der Löhne undGehälter für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter desöffentlichen Dienstes . Aber eine Forderung von 6 Pro-zent bei einer Inflationsrate von unter 1 Prozent ist weitvon dem entfernt, was man Augenmaß nennt . Wenn dieKommunen pleitegehen, meine Damen und Herren, istkeinem geholfen, auch nicht den Mitarbeitern .An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganzherzlich bei den vielen Helferinnen und Helfern, obehrenamtlich oder hauptamtlich, bedanken, die in derschwierigen Zeit der Bewältigung der Flüchtlingskri-se, bei der momentan Gott sei Dank Licht am Ende desTunnels zu erkennen ist, tatkräftig mitgearbeitet haben .Ohne sie hätten weder die Länder noch der Bund diesalles stemmen können . Sie sollen eine angemessene Ta-riferhöhung bekommen . Aber bitte, liebe Kolleginnenund Kollegen der Linksfraktion, sehen Sie das nicht alsBezahlung in der Flüchtlingsarbeit . Menschlichkeit kannman sich nicht erkaufen .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Ich wünscheIhnen allen ein schönes Wochenende .
Die Aktuelle Stunde ist beendet .
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 27 . April 2016, 13 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute .