Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns zunächst des folgenden Ereignisses gedenken.Mit Bestürzung und Trauer haben wir die Nachrichten und Bilder von der Naturkatastrophe im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien aufgenommen. Bei dem folgenschwersten Erdbeben seit über 80 Jahren wurden — wie bereits im Jahre 1906 — die Stadt San Francisco und die umliegende dicht besiedelte Region besonders hart getroffen. Schreckliche Verluste an Menschenleben und große Zerstörungen sind zu beklagen; über 270 Menschen starben, mehr als 600 wurden verletzt.Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Todesopfer und den Verletzten. Dem amerikanischen Volk und dem Kongreß der Vereinigten Staaten von Amerika spreche ich die tiefempfundene Anteilnahme des Deutschen Bundestages aus.Ich komme nun zur Verlesung der amtlichen Mitteilungen.Es feierten unsere Vizepräsidentin Frau Renger am '7. Oktober und Bundesministerin Frau Dr. Wilms am 11. Oktober jeweils einen runden Geburtstag, und Herr Kollege Dr. Dollinger feierte am 10. Oktober seinen 71. Geburtstag. Ganz herzlichen Glückwunsch!
Als Nachfolgerin für die verstorbene Kollegin Frau Berger hat die Abgeordnete Frau Rost am 26. September 1989 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Ich heiße sie ganz herzlich im Bundestag willkommen und wünsche uns eine gute Zusammenarbeit.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde: Diskussion über Pläne zur Erhöhung des Benzinpreises und sonstige Veränderungsprogramme für Wirtschafts- und Finanzpolitik
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Frieß, Stratmann, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN: Demokratisierung der Wirtschaft: Beschränkung der Bankenmacht — Drucksache 11/5401 —3. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der ehemaligen Vauban-Kaserne in Radolfzell, Steißlinger Straße 1 — Drucksachen 11/5065, 11/5336 —4. Aktuelle Stunde: Äußerungen des Bundeskanzlers zur Wohnungsnot und die Konsequenzen für Wohnungspolitik und Bundeshaushalt 19905. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN: Streichung des Baugebietstyps „Reines Wohngebiet" aus der Baunutzungsverordnung — Drucksachen 11/5052, 11/5397 —6. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes, eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes — Drucksache 11/5408 —7. Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN für die Wahl der vom Deutschen Bundestag gemäß § 32 Abs. 1 des Poststrukturgesetzes vorzuschlagenden Mitglieder des Infrastrukturrats beim Bundesminister für Post und Telekommunikation — Drucksache 11/5409 —8. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes — Drucksache 11/5392 —9. Aktuelle Stunde: Beteiligung und Verantwortung der Bundesregierung an der Entsendung der plutoniumbestückten Jupitersonde Galileo in den Weltraum durch die NASAMit der Aufsetzung der Zusatzpunkte soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Des weiteren besteht interfraktionelles Einvernehmen, den Tagesordnungspunkt 9 abzusetzen.Ich mache darauf aufmerksam, daß die von der Fraktion DIE GRÜNEN verlangte Aktuelle Stunde am Freitag gegen 11 Uhr stattfinden soll.
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12596 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Präsidentin Dr. SüssmuthSind Sie mit den Ergänzungen bzw. Änderungen der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.Lassen Sie mich nun die Delegation aus beiden Häusern des Sejm der Volksrepublik Polen, die auf der Tribüne Platz genommen hat, herzlich begrüßen.
Sie steht unter der Leitung von Jan Krzysztof Bielecki.Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt in der Bundesrepublik. Wir verfolgen den breit angelegten Demokratisierungsprozeß in Ihrem Lande mit großem Interesse und wünschen Ihnen dabei viel Erfolg.
Auf der Ehrentribüne nimmt jetzt der Speaker der Nationalversammlung der Republik Simbabwe, Herr Didymus Mutasa, mit einer Delegation aus seiner Nationalversammlung Platz. Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich in der Bundesrepublik Deutschland. Wir freuen uns über Ihren Besuch, in dessen Verlauf Sie offiziell Berlin besucht haben und noch nach Bremen und Hamburg reisen werden. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes und sonstiger dienst- und versorgungsrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/5372 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung VerteidigungsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 Geschäftsordnungb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungZweiter Bericht der Bundesregierung zur Errichtung von Widerspruchsausschüssen bei der Bundesanstalt für Arbeit— Drucksache 11/485 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschußc) Beratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung in Ingolstadt, Bruckner-, Hindemith- und Schubertstraße— Drucksache 11/5162 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußMeine Damen und Herren, eine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.Ich rufe jetzt Punkt 4 der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen— Drucksache 11/5289 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Finanzausschuß
Ausschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschußb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schäfer , Dr. Hartenstein, Adler, Bachmaier, Blunck, Kastner, Kiehm, Kirschner, Kretkowski, Dr. Kübler, Lennartz, Müller (Düsseldorf), Purps, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Dr. Wernitz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDÄnderung der Straßenverkehrs-ZulassungsOrdnung
— Drucksache 11/5326 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunkts 90 Minuten vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulhoff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Verbesserung der steuerlichen Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen setzt die Bundesregierung ihre erfolgreiche Umweltpolitik fort,
eine Umweltpolitik, die führend und beispielhaft in Europa ist. Nach nur vier Jahren steuerlicher Förderung schadstoffarmer Pkws sind bereits 96,7 % der neu zugelassenen Personenkraftwagen schadstoffreduziert.Mit dem zur Beratung stehenden Gesetzentwurf wollen wir den Dreiwegekatalysator als die zur Zeit wirkungsvollste Abgasreinigungstechnik bei Pkws mit unter zwei Litern Hubraum fördern und auch Anreize schaffen, die noch nicht schadstoffreduzierten Altfahrzeuge mit Katalysatoren auszurüsten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12597
SchulhoffDamit setzt die Bundesregierung ein neues Zeichen auch für unsere europäischen Nachbarn. Dabei darf mir der Hinweis erlaubt sein, daß Europa nicht zu einem umweltpolitischen Geleitzug werden darf, bei dem der langsamste das Tempo angibt. Damit haben wir uns bisher nicht abgefunden, und das werden wir auch in Zukunft nicht tun.Ergänzend zu den Ge- und Verboten im Ordnungsrecht, dem wesentlichen Grundpfeiler unserer erfolgreichen umweltpolitischen Gesetzgebung, setzen wir auch ökonomische Anreize als ergänzendes Standbein eines wirksamen Umweltschutzes ein.
Die Finanzpolitik wird ihren Beitrag zum Umweltschutz leisten. Finanzpolitik ist ja konkretisierte Wirtschaftspolitik. Mit dem, was man dem Bürger nimmt, und mit dem, was man dem Wirtschaftskreislauf wieder zuführt, steuert man den Wirtschaftsprozeß: negativ, wenn man dem Bürger zuviel wegnimmt, und positiv, wenn möglichst viel zu seiner eigenen Disposition verbleibt.
Der Bürger weiß mit seinem selbstverdienten Geld immer besser umzugehen als der Staat. Das sollten Sie auch einmal bemerken, meine Damen und Herren von der SPD.
Bedient man sich der sensiblen Steuermöglichkeiten der Finanzpolitik, müssen sich die Verhaltensweisen so verändern, daß die Umweltschädigungen eingestellt werden und dem Staat auf Dauer weniger Einnahmen aus diesen Steuern zufließen. Sonst ist der ökologische Ansatz falsch.Deshalb brauchen wir auch noch einige Zeit die Kraftfahrzeugsteuer mit ihrer Spreizung als das geeignetste Steuerinstrument zur Schadstoffreduzierung, insbesondere was den Anreiz zur Umrüstung betrifft.Es gibt noch ein real vorhandenes Umrüstungspotential von ca. 3 Millionen Pkws.Ich verkenne nicht, daß von dem Begriff Ökosteuern ein semantischer Reiz ausgeht, fast eine neue Sinngebung unserer Abgabenbelastung. Viele fühlen sich bei diesem Begriff durch Steuern nicht mehr belastet, sondern sogar förmlich entlastet. Das läßt den Fiskalpolitikern förmlich das Wasser im Munde zusammenlaufen.Welch ein Instrument auch für unsere Umverteilungstheoretiker!
— Lieber Herr Kollege, sagen Sie doch bitte einmal etwas Vernünftiges. Dann kann ich wenigstens darauf antworten. Dieses Gebabbel stört mich nur.Frau Fuchs hat es sofort begriffen, als sie die Katze aus dem Sack ließ und ihre Hand als Sozialpolitiker auf die Mehreinnahmen legte. Gestern reihten sich hier andere Kollegen ein.Damit bin ich schon, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bei Ihrem Konzept angelangt. IhreKommission „Fortschritt 90" spricht sich für einen ökologischen Umbau unserer Industriegesellschaft
mit einem umfänglichen System von Ökosteuern aus. Das hört sich ja alles ganz gut an.
Doch schauen wir einmal hinter die Fassade. Sie wollen pauschal die Energiepreise verteuern, indem Sie zusätzliche oder erhöhte Steuern erheben, und argumentieren damit, daß bei höherem Preis die Nachfrage nach Energie abnimmt und somit die Umweltbelastung zurückgeht. Das ist grundsätzlich nicht falsch, wenn sozial verträglich und umweltpolitisch wirksam.
Den Benzinpreis wollen Sie beispielsweise um 50 Pfennig erhöhen. Dabei wissen wir alle, daß die Preiselastizität der Nachfrage hier gleich Null ist. Wir machten doch diese Erfahrung in den 70er Jahren, als der Benzinpreis gegenüber heute um etwa 40 bis 50 Pfennig höher war und die Fahrleistung nicht merklich zurückging.
Eine solche Steuererhöhung würde nur den kleinen Mann treffen und ist damit unsozial,
denn alle Erklärungen, dieses sozial gerecht umzuverteilen, scheitern schon an den theoretischen und steuertechnischen Möglichkeiten eines gerecht zu gestaltenden Ausgleichssystems. Es trifft letztlich den sozial Schwächeren, der sich dann in der Tat umweltverträglich verhalten muß: Er — und nur er — fährt langsamer und weniger. Was bleibt, sind 16 Milliarden DM Steuermehreinnahmen, die sich zusammen mit den anderen Steuererhöhungen auf über 30 Milliarden DM addieren, ohne daß der Umwelt ein nennenswerter Dienst erwiesen wird. Hierbei von Ökosteuern zu sprechen ist reine Bauernfängerei.
Die Folge wäre doch nur, den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt wieder zu erhöhen, den wir in mühevoller siebenjähriger Arbeit von 49,8 % auf 45 % senken konnten.In Zeiten, in denen die kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaften zusammenbrechen, ihnen die Menschen davonlaufen und die Überlegenheit der Marktwirtschaft überdeutlich wird, will die SPD ein Stück Markt ganz einfach dem Staat wieder einverleiben.
Wir brauchen aber weniger Staat und mehr Markt, um auch die ökologischen Herausforderungen meistern zu können. Sonst sind wir auch nicht in der Lage, die Umwelttechniken zu erarbeiten, die von uns in den nächsten Jahren verlangt werden. Sie haben doch gestern gerade dies verlangt, Frau Matthäus-Maier.
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12598 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
SchulhoffDas kann doch nur eine hochentwickelte Volkswirtschaft leisten.Vor diesem Hintergrund ist die momentane Diskussion innerhalb der SPD über ihren wirtschaftspolitischen Kurs einfach abenteuerlich, sie ist gefährlich. Unsere ökologischen Ansätze müssen ordnungspolitisch systemimmanent sein. Ich warne vor inhaltslosen Hülsen, die bei gefälliger Gestaltung oft dazu verleiten, mehr über die Hülse als über den wahren Inhalt nachdenken zu lassen. Oft ist es nur eine Eloge an den Zeitgeist, ein den nahen Wahltermin reflektierender rhetorischer Kraftakt. Das haben wir doch gestern von Ihrem Herrn Lafontaine gehört. Er hat bei seinen 22 Punkten nur etwas vergessen zu versprechen: die Sterne herunterzuholen, aber das schafft er auch noch.
In einer nach Sensationen schreienden Welt ist Bewährtes zu erhalten oft schwerer. Hierbei denke ich an unser bewährtes System der Sozialen Marktwirtschaft: unglaublich strapazierfähig, aber auch sensibel reagierend, wenn die Bedingungen nicht mehr einem festen — politisch-rechtlich und moralisch — institutionellen Rahmen des Marktverkehrs entsprechen. Die Soziale Marktwirtschaft ist natürlich kein statisches Gebilde, sondern Objekt ständig aktiver Politik. Politiker werden also permanent gefordert, über die Rahmenbedingungen nachzudenken. Stillstand darf es auch hier nicht geben. Jedoch braucht, um mehr Umweltschutz zu erreichen, nicht das System geändert oder variiert zu werden, sondern es kommt darauf an, daß die im System liegenden Mechanismen richtig angewendet werden; denn es gibt keine Ordnungsform wirtschaftlichen Zusammenlebens, die auch für den Erhalt unserer Umwelt besser geeignet ist als das System der Sozialen Marktwirtschaft. Blicken wir doch nur in den Ostblock.Schon 1948 formulierte Röpke in einem Aufsatz: Dieses Element— also die Soziale Marktwirtschaft —ist das Eintreten für etwas, was man die natürliche Ordnung nennen könnte, d. h., für die Schaffung von Existenz- und Produktionsformen, die der Natur des Menschen gemäßer sind als diejenigen der heutigen Industrie- und Großstadtwelt und ihn zugleich der Natur selbst, der er mehr und mehr entfremdet worden ist, wieder näherführen.Ich will damit nicht den großen Nationalökonomen Röpke als den ersten GRÜNEN vorstellen, sondern darauf hinweisen, daß die Väter unserer Wirtschaftsordnung, zu denen auch Röpke zählt, nicht nur ein System erdacht haben, mit dem es uns im Gegensatz zur Laissez-faire-Wirtschaft des 19. Jahrhunderts gelingt und weitgehend gelungen ist, die soziale Frage zu lösen, sondern gleichzeitig auch ein Konzept anbieten, unsere natürliche Ordnung und damit gleichzeitig unsere Schöpfung zu bewahren.
In diesem Rahmen sind wir von der Union immer bereit, auch die Mittel und Möglichkeiten der Finanzpolitik für mehr Umweltschutz einzusetzen. Wir laden Sie herzlich ein, in diesem Sinne mitzudenken.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Opel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einig sind wir uns mit der Bundesregierung in der Zielsetzung des Gesetzentwurfes. Wir glauben, daß die Umweltbelastung durch Abgase aus Motoren von Kraftfahrzeugen vermindert werden muß. Uneinig hingegen sind wir uns mit der Bundesregierung in fast allen anderen Punkten des Gesetzentwurfs, in dem festgelegt werden soll, auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden soll.Erstens spricht die Bundesregierung richtigerweise von der unerträglichen Umweltbelastung durch Kraftfahrzeuge. Herr Kollege, die Betonung liegt dabei auf dem Wort Kraftfahrzeuge. Die Maßnahmen des Gesetzentwurfes beschränken sich aber ausschließlich auf Personenkraftwagen und erstrecken sich eben nicht auf alle Kraftfahrzeuge, wie es in der Begründung steht. Dabei wissen wir alle — —
— Wenn das der Fall ist, wäre das natürlich ganz prima. Dann nehmen Sie die Nutzfahrzeuge und Dieselfahrzeuge mit hinein. Im Gesetzentwurf steht davon nichts. Herr Kollege Glos, Sie sind der Verantwortliche im Finanzausschuß. Ich hoffe, daß Sie das nachbessern werden. Das würde uns und auch die Bevölkerung sicherlich freuen.Wir wissen alle, daß diese Nutzfahrzeuge einen wesentlich höheren Ausstoß an Schadstoffen erzeugen als die Personenkraftwagen. Außerdem erzeugen die Nutzfahrzeuge, wie Sie in der Broschüre des Verkehrsministers nachlesen können, eine wesentlich höhere Verkehrsbelastung und erzeugen wesentlich höhere Straßenschäden als Personenkraftwagen.Ausgerechnet diese Fahrzeuge wollen Sie nach wie vor bei der Entlastung der Umwelt ausklammern. Das verstehe, wer mag.
— Genau, das ist eine Lobby. — Die Personenwagenbesitzer werden es jedenfalls nicht verstehen. Hier zeigt sich einmal mehr die Entscheidungsschwäche dieser Bundesregierung, wenn es um konsequenten Umweltschutz geht.Zweitens soll die Kraftfahrzeugsteuer als Steuerungsinstrument eingesetzt werden, um schadstoffarme Personenkraftwagen ab dem 1. Januar 1990 befristet steuerlich zu begünstigen. Ein solches Instrument kann man nur einmal benutzen; wenn es benutzt worden ist, ist es weg.Gestern hat der Umweltminister hier riesig von ordnungspolitischen Rahmenvorstellungen geredet.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12599
OpelIch sehe überhaupt keinen Rahmen. Ich sehe eine Null ohne Rand. Da gibt es nichts, was den Namen verdient.
Sogar der Verband der Automobilindustrie hat in der gestrigen Anhörung im Finanzausschuß deutlich gemacht, daß er eine Umschichtung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer ebenfalls für richtig und für besser hält. Genau das ist die Politik der SPD.Wir fordern zusammen mit den Gewerkschaften und auch mit den meisten Sachverständigen endlich eine Umsteuerung in der Energiepolitik. Wir möchten in der Energiepolitik und vor allem bei der Primärenergie eine Einsparung erreichen. Genau daran geht der Gesetzentwurf vorbei.Die Entfernungspauschale für den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte muß unabhängig vom benutzten Verkehrsmittel auch für Radfahrer, Fahrgemeinschaften, bei Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und für Fußgänger in gleicher Höhe gewährt werden.
Solange die Defizite im öffentlichen Personenverkehr weiter bestehen — Sie bauen das Schienennetz bei der Bundesbahn ständig ab, statt es auszubauen — und leider auch noch weiter anwachsen, muß auch eine Fernpendlerpauschale zum Ausgleich der Belastungen einbezogen werden. Dieses ist unser Konzept.
Verbraucht man, wie es die Bundesregierung tut, das Instrument der Kfz-Steuer für eine halbherzige Umweltschutzmaßnahme, steht dieses Instrument für sinnvolle Einspar- und Umgestaltungsmaßnahmen im Umweltschutz bis 1996, wenn nicht verlängert wird
— Herr Kollege, gucken Sie nach; mit den Übergangsfristen — , nicht mehr zur Verfügung. Sogar die Fachleute des Bundesrates — Sie können das nachlesen — haben in diesem Zusammenhang gesagt, daß die Bundesregierung die Beibehaltung der hubraumbezogenen Kfz-Steuer nicht bis 1996 präjudizieren dürfe. So steht das in der Stellungnahme des Bundesrates. Erst dann sollen nämlich die vorgesehenen Förderungsmaßnahmen auslaufen. Ich halte diese Hoffnung nicht für realistisch.
Es wäre sicherlich viel einfacher und besser, wenn man dem Rat der Deutschen Steuergewerkschaft folgte und das Steuersystem nicht als eine Art Allzweckinstrument zur Regelung aller Staatsziele mißbrauchte.
Im übrigen wird das Kraftfahrzeugsteuersystem durch den Gesetzentwurf extrem kompliziert und unübersichtlich.
— Die Ökosteuer? Gucken Sie doch. Wir schaffen die Kfz-Steuer doch ab. Und die Mineralölsteuer gibt es ja schon. Sie brauchen sie nur zu erhöhen. Dadurch wird das doch alles einfacher.
— Wir machen uns keine Sorgen. Sie werden das Ding genauso beerdigen wie die Quellensteuer, Herr Glos.
Das Ziel der Umweltentlastung kann man auf dem Wege normaler gesetzlicher Vorschriften leichter und besser erreichen. Die technischen Möglichkeiten sind doch alle da. Sie brauchen ja nur eine Vorschrift zu machen. Herr Töpfer hat davon gestern hier in hehren Worten erzählt. Bloß, die Entschlußkraft bleibt aus.Gestern hat uns in dem Hearing auch die Industrie erzählt, daß die technischen Voraussetzungen gegeben seien. Das sei alles im Labor. Man muß das — von mir aus mit einem Jahr oder zwei Jahren Übergangszeit — nur wollen, die Kraft besitzen, das zu tun, sich dazu entschließen, und schon haben Sie das Ökosystem, das Sie brauchen. Sie sollten endlich einmal etwas für den Umweltschutz, für den Wald und für die Menschen tun. Darauf warten die Menschen.
Drittens. Die Bundesregierung schätzt selber in dem Gesetzentwurf, daß die Mindereinnahmen der Länder 800 Millionen DM und mehr betragen. Im Gesetzentwurf steht aber überhaupt nichts davon, wie die Länder dafür entschädigt werden sollen. Hier macht die Bundesregierung erneut Politik auf dem Rücken der Länder. Das ist ungerecht.
— Die werden sich selbstverständlich melden, Herr Kollege. Aber daran kann man ja vorher denken; genauso wie bei der Quellensteuer, um das noch einmal zu sagen.Viertens. Erneut werden die Schwerbehinderten durch die Bundesregierung deutlich benachteiligt. Ausgerechnet die Schwerbehinderten! Sie haben von Anfang an keinen Anreiz, einen schadstoffarmen Neuwagen zu kaufen. Damit ist der behinderte gegenüber dem gesunden Bundesbürger deutlich benachteiligt. Wir hoffen, daß die Bundesregierung von ihrer in der Begründung des Gesetzentwurfes geäußerten Absicht abrückt und aus sozialen Gründen auch den Schwerbehinderten helfen wird.Fünftens. Was die Umrüstung angeht, so sind wir ganz eindeutig dafür, daß die Zulassungsstellen den Betrag sofort entrichten. Damit würde ein unbürokratisches Verfahren geschaffen, um denen, die nachträglich ihre Pkw umrüsten wollen, schnell zu helfen. Das steht aber leider, Herr Minister, nicht in Ihrem Entwurf. Wenn wir das zusammen hineinschrieben, würde ich mich natürlich freuen.
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12600 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
OpelZusammenfassend muß man diesem Gesetzentwurf das Zeugnis „ungenügend" ausstellen. Er ist wieder einmal schlampig gemacht worden.
— Das Hearing gestern hat doch ergeben, daß der Gesetzentwurf allenfalls ein Notbehelf ist. Das haben Sie doch selber gehört.
Es werden doch weder Nutzfahrzeuge noch Dieselfahrzeuge in der notwendigen Form in Maßnahmen zur Schadstoffreduzierung einbezogen.Die bisherige Praxis hat uns gelehrt, daß es erforderlich ist, den Autoproduzenten strikte technische Vorgaben zu geben, um sie zu zwingen, den vorhandenen technischen Fortschritt auf in die Praxis umzusetzen. Die Ziele der Bundesregierung können mit umfassenden technischen Vorschriften auch erreicht werden. Damit wären die Ziele des Umweltschutzes und der Einschränkung des Energieverbrauchs wesentlich schneller erreichbar. Hier würde wieder das Ordnungsrecht greifen. Sie mißbrauchen jedoch das Instrumentarium des Steuerrechtes.Für uns ist dieser Gesetzentwurf darüber hinaus ein bürokratisches Ungetüm.
Auch hier, Herr Kollege, sind wir uns ja mit den meisten Sachverständigen, die gestern gehört wurden, einig. Die dargestellten Prinzipien könnten einfacher, besser und wirkungsvoller umgesetzt werden.
— Wenn Sie dem zustimmen, freue ich mich schon auf die Debatten im Finanzausschuß. Dort können Sie dann wieder Ihr Reparaturunternehmen anwerfen und einen Gesetzentworf erneut dahin bringen, wo wir ihn letztlich haben wollen.
Sie haben nichts gegen die Verschmutzung der Nordsee gemacht. Sie machen auch nichts für die Reinhaltung der Luft. Sie machen nichts für den Wald und nichts für die Reduzierung des Primärenergieverbrauches. Wir müssen den Primärenergieverbrauch reduzieren. Die Mindestmarge ist bis zum Jahr 2020 20 %. Die müssen wir erreichen. Dazu bedarf es einschneidender Maßnahmen. Dazu sind Sie offenbar weder in der Lage noch willens.Mit dem Gesetzentwurf wird meines Erachtens eine ganz große, die in dieser Wahlperiode eigentlich letzte Chance vertan, einen wichtigen Teil der Umweltpolitik neu zu gestalten. Ich hoffe nur darauf— Ihre Einwürfe geben mir einigen Mut, darauf zu hoffen — , daß wir in der Diskussion im Finanzausschuß dies noch reparieren können.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Rind.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Opel, die gestrige Anhörung zu dem heute zu beratenden Gesetzesvorhaben hat ein überwiegend positives Echo aus den Reihen der Sachverständigen und der Verbände erbracht.
Wenn Sie sich in Ihrer Kritik zumindest in den ersten Sätzen darauf zurückziehen, anzumahnen, daß hier die Nutzfahrzeuge nicht enthalten sind, dann sage ich Ihnen, daß wir es hier bewußt mit der Befreiung und der Begünstigung im Pkw-Bereich zu tun haben, weil wir für die Lkw andere Wege gehen. Bei den Nutzfahrzeugen kämpfen wir um die Verabschiedung der zweiten Grenzwertstufe beispielsweise im EG-weiten Rahmen. Wir führen Rußfilter-Großversuche und ähnliches durch, um die Schadstoffe zurückzuhalten. Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, dieses Problems der Umweltverschmutzung Herr zu werden. Es muß nicht immer nur die Kfz-Steuer sein.Ein Teilnehmer hat bei der gestrigen Anhörung formuliert: Wir, die Bundesrepublik, sind das einzige Land der Welt, das die Nachrüstung mit Katalysatoren mit Zuschüssen direkt an den Autobesitzer honoriert. Ich nehme dies als Beweis dafür, daß wir mit diesem neuen Weg auf dem richtigen Weg sind.
Erfreulich ist, daß bei der Anhörung auch einige grundsätzliche Fragen erwähnt wurden. Zwei davon will ich erwähnen. Sie sind schon in den Beiträgen meiner Vorredner zur Sprache gekommen.Das eine, die Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer. Es ist vielleicht nicht unbekannt, daß es sich hierbei um eine uralte FDP-Forderung handelt. Gleichwohl gebe ich zu bedenken, daß wir mit der Kfz-Steuer gerade in der momentanen Diskussion über die Umrüstung einen umweltpolitischen Regelungsmechanismus haben, den wir ausnützen sollten, bevor wir zur endgültigen Abschaffung kommen.
Vom Gesamtbestand der 30 Millionen Pkw sind derzeit 13 % mit geregeltem Katalysator und knapp 19 % mit ungeregeltem Katalysator ausgestattet. Die Ermäßigung der Kfz-Steuer oder die Befreiung von ihr sind ein hervorragendes Instrument, um diese Zahlen in den nächsten Jahren deutlich zu erhöhen. Erst wenn dieses Ziel erreicht ist und die Kfz-Steuer als Lenkungsinstrument nicht mehr benötigt wird, erscheinen mir ihre Abschaffung und Umlegung auf die Mineralölsteuer sinnvoll zu sein.
— Das ist eine Forderung, Frau Matthäus-Maier, die Sie mit der FDP bereits erhoben haben, als Sie noch nicht auf dieser Seite des Hauses saßen. Ihr Programm ist also im Grund alte FDP-Politik.
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RindDie zweite grundsätzliche Überlegung betrifft die Einführung einer Abgassteuer. Die FDP ist in dieser Diskussion offen. Aber bevor man einer solchen Steuer nähertreten könnte, ist noch eine ganze Menge von Fragen und Problemen zu lösen. Ich nenne stichwortartig nur ein paar: die Frage der technischen Machbarkeit; das Problem der Einbeziehung der Altfahrzeuge und der Nutzfahrzeuge; die Frage der sozialen Verträglickeit für sozial Schwächere mit kleinen und älteren Fahrzeugen; nicht zuletzt die Aufkommensneutralität; diese insbesondere im Interesse der Bundesländer, deren Zustimmung im Bundesrat gewährleitet sein muß.Mein Fazit aus diesen Stichpunkten: Arbeiten wir an der Klärung und Lösung dieser Probleme — wir sind dabei — , und reden wir erst dann über die Verwirklichung! Mit umweltpolitischen Augenaufschlägen nur Schlagworte in den Raum zu stellen, schadet einem an sich berechtigten Anliegen.
Nun zu den einzelnen Maßnahmen des Gesetzentwurfs. Zunächst ist — auch gestern in der Anhörung — die Frage gestellt worden, ob ein Zuschuß bei nachträglichem Einbau eines ungeregelten Katalysators von 550 DM und eines geregelten Katalysators von 1 100 DM ausreicht. Hier vertraue ich auf den Markt. Nach Schätzungen sind über fünf Millionen Gebrauchtwagen nachrüstbar, davon ca. 500 000 mit einem Dreiwegekatalysator. Diesen Markt wird sich die Kfz-Industrie nicht entgehen lassen und versuchen, möglichst viele Abnehmer für ihre Nachrüstsätze zu gewinnen. Das Volkswagenwerk hat bereits angekündigt, daß es im Bereich des ungeregelten Nachrüstkatalysators ein Modell für 550 DM auf den Markt bringen wird, also genau in unserer Zuschußhöhe. Der Kfz-Besitzer hätte dann lediglich die Einbaukosten zu tragen, und die unbestrittene Erhöhung des Wiederverkaufswerts und die Ermäßigung oder die Befreiung bei der Kfz-Steuer bieten unserer Auffassung nach einen ausreichenden Anreiz zum Nachrüsten durch dieses Zuschußsystem in dieser vorgesehenen Höhe.Ich gebe gern zu, daß wir mit diesem System der Gewährung eines Förderungsbetrags Neuland betreten, aber wir betreten es unter realistischen Einschätzungen und mit einem berechtigten Vertrauen in die Marktkräfte. Für die Akzeptanz der Katalysatornachrüstung wird von großer Bedeutung sein, wie schnell der Fahrzeughalter den Zuschuß ausbezahlt bekommt. Ich hoffe, daß wir in den Ausschußberatungen ein Verfahren finden, daß die sofortige Auszahlung nach dem Einbau ermöglicht.
Die Übergabe eines Schecks durch die Kfz-Zulassungsstelle, wie sie gestern diskutiert wurde, erscheint mir eine sehr sympathische Lösung.
Wir müssen natürlich prüfen, ob dies mit abgabenrechtlichen Vorschriften in Einklang steht. Wir müssen natürlich auch dafür sorgen, daß ein Mißbrauchausgeschlossen wird. Es ist kein geringes Risiko, wenn eine Kfz-Werkstatt, die die Anmeldung vornimmt, beispielsweise einen Scheck bekommt, den sie an den, dem er eigentlich zusteht, weitergeben soll. Hier sind noch einige Punkte zu klären; dies ist Sache des Beratungsverfahrens im Ausschuß.Der Weg zum Umrüsten wird — dies ist der Grundgedanke, den wir dabei sehen und verfolgen müssen — um so bereitwilliger bestritten, wenn der Kunde direkt bei der Bezahlung das Geld in der Hand behält.Nun noch etwas zum Thema Steuerbefreiung für die Pkw, die die US-Normen einhalten, und die Steuerermäßigung für die Fahrzeuge mit ungeregeltem Katalysator. Lassen Sie mich doch noch einmal kurz ein paar Zahlen dazu nennen: Von den Neuzulassungen werden derzeit 67 % der Fahrzeuge im Schnitt mit Dreiwegekatalysator ausgestattet. Mit einem steilen Ansteigen dieser Zahlen in den nächsten Jahren ist nach den Ankündigungen der Automobilindustrie zu rechnen. Aber diese Zahl hat es in sich: Von den Neuzulassungen über 21 Hubraum sind 94 % mit Dreiwegekatalysator ausgestattet, in der Hubraumklasse von 1,4 bis 2 1 sind es immerhin noch 79,5 %, also knapp 80 %, aber in der Hubraumklasse unter 1,4 1 sind es nur 30,4 % der Neuzulassungen. Deswegen ist es richtig, daß wir mit diesem Gesetz unser besonderes Ziel auf die Neuzulassung der Kleinwagen legen, und zwar rückwirkend, womit wir sie den größeren Fahrzeugen gleichstellen.Wir wissen, daß Fahrzeuge mit geregeltem Katalysator immerhin 90 % Schadstoffrückhalt ausweisen, während sie mit ungeregeltem Katalysator immerhin auch noch 50 % Rückhalt der Schadstoffe ausweisen. Ich glaube, daß bei den Fahrzeugen bis 2 1 Hubraum, die die US-Norm erfüllen, die Steuerbefreiung von durchschnittlich 1 100 DM auch ein ausreichender Anreiz ist, ein Auto mit Katalysator zu kaufen, und daß wir auf weitere Zwangsmaßnahmen verzichten können, daß der Markt hier der richtige Weg ist, um auch die Kleinwagenbesitzer auf den Weg des Kaufs eines Autos mit Dreiwegekatalysator zu bringen.Ein weiteres Thema, das hier von besonderer Bedeutung ist und das wir noch sehr intensiv diskutieren müssen, ist die Frage der Einbeziehung schadstoffarmer Diesel-Pkw in die Förderung, dies unter der Voraussetzung, daß sie den strengen Vorschriften der Anlage 23 zur Straßenverkehrs-Zulassungsordnung entsprechen. Unter diesen Voraussetzungen stehen wir dem Anliegen, die schadstoffarmen Diesel-Pkw einzubeziehen, sehr positiv gegenüber.
— Sie sind voll auf unserer Seite, Herr Opel. Es freut mich, daß wir auch in diesem Punkt Zustimmung finden.Natürlich ist es wichtig, da auch einmal auf die Zahlen zu achten. Wir haben bei den Zulassungszahlen nur ein Drittel der neu zugelassenen Diesel-Pkw die die strengen US-Abgasnormen der Anlage 23 erreichen, und zwei Drittel erreichen sie nicht, und dies unter dem Vorzeichen, daß gerade unter der CO2-Klimadiskussion die Rehabilitierung des Diesels ange-
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Rindzeigt ist. Minister Haussmann hat darauf schon bei seiner Rede anläßlich der Eröffnung der Internationalen Automobilausstellung hingewiesen. Wir wissen auch, daß natürlich Voraussetzung ist, daß die Krebsgefahr durch Partikelemissionen auf ein vertretbares Minimum reduziert wird. Darüber werden wir uns im Gesetzgebungsverfahren noch Gedanken machen müssen.Meine Damen und Herren, die von mir angesprochenen Anregungen sollten in den Ausschußberatungen gründlich diskutiert werden. Ich hoffe, daß wir an diesem Gesetz noch einige Verbesserungen anbringen können. Wenn wir das geschafft haben, wird dieses Gesetz ein bedeutender Schritt auf dem Weg zu mehr Umweltschutz sein, und zwar zu mehr marktwirtschaftlichem Umweltschutz. Das ist ein Anliegen, das die Koalitionsfraktionen zusammen mit der Bundesregierung durch diesen Gesetzentwurf auf dem richtigen Wege verfolgen. Anreize sind wichtiger als Verbote und Gebote. Wir sollten auf diesem Wege fortfahren. Das wird nicht der Endpunkt der Umweltpolitik im Bereich der Abgasbereinigung bei Autos sein. Aber es ist ein wichtiger Schritt auf dem richtigen Wege. Ich bitte Sie, auf diesem Wege mit uns weiter fortzuschreiten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rock.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf beginnt mit der zutreffenden Feststellung, daß die Umweltbelastungen durch Abgase aus Motoren von Kraftfahrzeugen vermindert werden müssen. Ich denke, diese Feststellung wird von allen in diesem Hause geteilt. Aber bereits im zweiten Satz beginnt die Inkonsequenz. Wenn Sie das nämlich festschreiben und umsetzen würden, dürften Sie sich nicht auf den Katalysator beschränken, sondern müßten Maßnahmen für eine drastische Reduzierung des gesamten Verkehrs einschließlich des Güterverkehrs ergreifen. Aber gerade diesen umweltpolitisch wichtigen Teil lassen Sie unangetastet. Grundsätzlich soll überflüssiger Verkehr vermieden werden, egal, welchen Träger es betrifft. Das setzt allerdings ganz andere gesellschaftliche Strukturen voraus, um den umweltbelastenden, oft unsozialen und volkswirtschaftlich unsinnigen Verkehr drastisch zu reduzieren. Dazu müssen regionale Wirtschaftskreisläufe gefördert werden. Die heutige Tendenz der Konzentration in der Wirtschaft setzt sich dagegen immer mehr durch und wird von der zentralisierenden Politik der beschleunigten Verbindungen zwischen den Ballungsräumen vorangetrieben.Der nicht vermeidbare Verkehr sollte soviel wie möglich auf den umweltfreundlichen und volkswirtschaftlich sinnvolleren Schienenverkehr verlagert werden. Im Personenverkehr muß es darum gehen, den Autobesitz zurückzudrängen. Die Neuanschaffung eines Autos muß also teurer werden und nicht etwa steuerlich begünstigt.Das müßte für diesen Gesetzentwurf konkret heißen: normaler Steuersatz für Autos mit geregeltem Katalysator. Der marktwirtschaftliche Anreiz zum ökologisch sinnvollen Verhalten ist dann, wenn die Steuer für Autos mit ungeregeltem Katalysator bzw. für Autos ohne Kat entsprechend erheblich höher liegt, zumindest so hoch, daß sich eine Umrüstung für den Halter nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen rentiert.
In Verbindung damit muß über das Ordnungsrecht gewährleistet werden, daß keine Neuzulassung mehr ohne Kat nach US-Norm erteilt wird, und das sofort.Im Güterverkehr muß der Lkw europaweit teurer werden. Wir denken hier an eine territorialisierte Schwerverkehrsabgabe, keine Lkw- Steuer-Ermäßigung, sondern eine europäische Harmonisierung.Sie beschränken sich jedoch darauf, mit einem technischen Ansatz des Problems Herr werden zu wollen, quasi Regelmechanismen in Benzinfahrzeuge einbauen zu wollen. Dabei müssen Sie wissen, daß Sie damit nicht an die Ursachen des Problems kommen. Sie verteilen damit Gute-Gewissen-Bonbons an Autofahrer und Autofahrerinnen, denen Sie vorgaukeln, mit dem Einsatz eines Katalysatorfahrzeugs die Umwelt retten zu wollen, wie Sie das z. B. auch mit Ihrer Plakataktion „Kat sei Dank" tun.Wenn Sie tatsächlich etwas ändern wollen, dann müssen Sie sehen, daß das mit dem Katalysator nicht geht. Denn ein Katalysatorauto verursacht immer noch Lärm. Dann müßten Sie im Grunde genommen demnächst die Einführung von Flüsterasphalt marktwirtschaftlich anregen.Auch ein Ökoauto verbraucht Landschaft, eine Ressource, die wir nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung haben. Die Oberflächenversiegelung durch Straßenbau ist eine Frage, die Sie nicht mit dem Katalysator beantworten können.
Der Katalysator, so wie er heute auf dem Markt angeboten wird, hat eine Vorlaufzeit von 3 km, bevor er überhaupt mit einer optimalen Abgasreinigung beginnt. Das heißt, für die allermeisten Innerortsfahrten bringt ein Katalysatorauto gar nichts.
Genauso wie Sie vor einiger Zeit den Kauf von Dieselfahrzeugen steuerlich begünstigt und damit umweltpolitisch eine Fehlentscheidung getroffen haben, sind Sie heute dabei, in dem vorliegenden Entwurf diese Fehlentscheidung zu wiederholen. Morgen werden Sie nämlich feststellen, daß Sie die Probleme so überhaupt nicht in den Griff bekommen. Sie scheuen sich einfach, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Auch mit noch soviel Technik gibt es einfach kein umweltfreundliches Auto.
Total ausgeblendet aus der Betrachtung ist die Frage der Unfälle. Sie verweisen jetzt sicherlich mit Stolz darauf, daß die Zahlen der Unfallopfer im letzten Jahr zurückgegangen sind. Das bezieht sich lediglich auf die Zahl der Todesopfer und nicht auf die Zahl der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12603
Frau RockVerletzten. Neben dem menschlichen Leid, das das verursacht, möchte ich Ihnen einige Zahlen nennen — weil Sie ja sehr zahlenfixiert sind — : Das verursacht Kosten von 15 Milliarden DM, die vom öffentlichen Gesundheitssystem zu tragen sind; und das ist nur die Summe, die nicht über die Haftpflichtversicherungen abgedeckt wird.Ich zähle Ihnen diese Fakten hier auf, um darzustellen, daß Sie mit einer finanziellen Förderung von Katalysatoren und der Festlegung von Grenzwerten nur einen Teilbereich, nämlich den direkt durch Einsatz von Technik im Auto zu beeinflussenden, regeln können. Die grundsätzlichen Fragen der Automobilität bleiben damit unbeantwortet, ja sie werden von Ihnen noch nicht einmal gestellt.Nur wenn Sie sich trauten, an einer zum Grundpfeiler dieser Republik erhobenen Säule, der Mobilität, die oft Zwangsmobilität ist, zu rütteln, gäbe es eine Möglichkeit einer Verkehrswende.
Dazu müßten Sie aber bereit sein, an den Anspruch oder Ausspruch „Freie Fahrt für freie Bürger" statt eines Ausrufezeichens zumindest ein Fragezeichen zu setzen.
Dazu müßten Sie auch bereit sein, ein Tempolimit auf allen unseren Straßen zu verordnen.
Hier möchte ich noch einmal an den sogenannten TÜV-Großversuch 1985 erinnern. Da hat die Regierung augenzwinkernd zu verstehen gegeben, daß Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht eingehalten zu werden brauchten, daß Radarkontrollen nicht stattfinden sollten, da — und hier möchte ich zitieren — das Fahrverhalten der Deutschen unter völlig normalen Bedingungen analysiert werden müsse, wie der damalige CSU-Staatssekretär Rosenbauer meinte. Folgerichtigerweise wurde dann nach nur 48 Stunden nach Abschluß des Großversuches die Festlegung auf den Katalysator getroffen, obwohl ein Tempolimit mindestens 15 % Einsparung an Schadstoffemission sofort gebracht hätte.
Damit hätten Sie einen wesentlich größeren Beitrag leisten können, als Sie das mit Ihrem marktwirtschaftlichen Umrüstungsanreiz jetzt erreichen können.
Wenn über Steuern, über Belastungen, Erhöhungen, Minderungen und Modelle geredet wird, muß sich in der allgemeinen Diskussion das Verursacherprinzip durchsetzen. Das heißt, die Politik darf die Autokäufer und Autokäuferinnen nicht als Financiers des Staates darstellen, die mit ihren Steuergeldern staatliche Wohltaten finanzieren. Sie darf sich dabei nicht länger nur ausschließlich an den Wegekostendeckungsgraden orientieren, sondern sie muß in den Köpfen ein verantwortliches gesamtgesellschaftliches Denken verankern, das von dem Bewußtsein geprägt ist, welche volkswirtschaftlichen Schäden durch die Form der Mobilität entstehen.
Die Wissenschaft kommt da zu interessanten und beachtenswerten Berechnungen: Wenn die gesamtgesellschaftlichen Kosten des Pkw-Verkehrs nach dem Verursacherprinzip den Autobesitzerinnen und Autobesitzern angelastet würden, müßte die Mineralölsteuer um ca. 2 DM erhöht werden. Dies würde ohne Ausgleich zu einer Belastung der Menschen führen, die auf das Auto als Verkehrsmittel angewiesen sind, weil es in ihrem Umfeld keinen oder einen nur noch in Resten vorhandenen öffentlichen Personennahverkehr gibt.Wir GRÜNEN leben auch nicht in irgendeinem Wolkenkuckucksheim, sondern mitten in diesem Land. Daher wissen wir, daß eine Mineralölsteuererhöhung von 2 DM zur Zeit nicht umsetzbar wäre. Deshalb diskutieren wir die schrittweise Umsetzung, beginnend bei 50 Pf. Die Wertschöpfung darf dann selbstverständlich nicht zur Deckung der Ausgaben in anderen Haushaltsbereichen herangezogen werden, sondern sie muß zweckgebunden für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs verwendet werden
— das geht durchaus auch an die Regierungskoalition — , damit die Menschen auch tatsächlich die freie Wahl des Verkehrsmittels haben und nicht auf das Auto, auch nicht auf das Auto mit Katalysator angewiesen sind.
Außerdem ist es notwendig, daß es zumindest für eine Übergangszeit eine Entfernungspauschale gibt, um so einen steuerlichen Anreiz für eine Verkehrswende, eben die Nutzung des Umweltverbundes zu schaffen; denn wenn hier über steuerliche Anreize diskutiert wird, dann muß sich diese Diskussion auf die Wahl des Verkehrsmittels beziehen. Das heißt: Die Benutzung des ökologischen Verkehrsmittels muß steuerlich gefördert werden, nicht aber die technische Verbesserung eines Verkehrsmittels, nämlich des Autos, damit das ein bißchen ökologischer wird.Ich kann mir in diesem Zusammenhang durchaus vorstellen, daß wir hier in diesem Hause in absehbarer Zeit vielleicht über Stillegungsprämien für Kraftfahrzeuge diskutieren, um damit einen Umstieg in den Umweltverbund zu fördern.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit gut vier Jahren setzen wir mit der Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen marktwirtschaftliche Mittel ein, um zur Erhaltung unserer Umwelt beizutragen. Im August 1989 waren bereits 97,8 % der neu zugelassenen Personenkraftwa-
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12604 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär Dr. Vossgen in irgendeiner Form schadstoffreduziert. Der Anteil der Pkw mit Ottomotor, die bereits mit der besten verfügbaren Abgasreinigungstechnik ausgestattet sind, ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Während es Anfang 1986 rund 60 000 Fahrzeuge waren, erfüllten zu Beginn des Jahres 1988 schon fast 1 Million die strengen US-Vorschriften. Mitte dieses Jahres hat sich der Bestand auf rund 2,5 Millionen erhöht.Der jetzt zur Beratung anstehende Gesetzentwurf paßt die bisherigen Maßnahmen den neuen Erfordernissen an. Bei Neuwagen beschränken wir uns auf steuerliche Anreize für diejenigen Fahrzeuge, die mit der technisch bestmöglichen Abgasreinigungstechnik ausgestattet sind. Neue schadstoffarme Personenkraftwagen erhalten eine zeitlich begrenzte Kraftfahrzeugsteuerbefreiung, wenn sie entweder die strengen US-Grenzwerte oder gleichwertige andere Normen erfüllen. Bei den bereits im Verkehr befindlichen noch nicht schadstoffarmen Kraftwagen fördern wir die Nachrüstung. Noch etwa 17 Millionen Fahrzeuge, also fast 60 % des Bestandes, sind noch nicht schadstoffreduziert.Das Interesse in der Öffentlichkeit an den neuen Fördermaßnahmen ist groß. Die Automobil- und Zubehörindustrie stellt sich auf die geänderte Nachfrage ein. Sie entwickelt bereits entsprechende Systeme, deren Materialkosten weitgehend durch Zuschüsse aufgefangen und deren Einbaukosten durch den niedrigen Steuersatz überwiegend ausgeglichen werden können.Die neue Regelung sieht eine unterschiedliche Behandlung von Kleinwagen und größeren Fahrzeugen nicht mehr vor. Der Steuervorteil gegenüber einem nicht schadstoffarmen Fahrzeug beträgt in allen Fällen etwa 1 100 DM.Der Entwurf sieht außerdem vor, alle Fahrzeughalter, die bereits seit 27. April dieses Jahres nachgerüstet haben, nach Inkrafttreten der Neuregelung rückwirkend in die neue Förderung einzubeziehen.Wir haben unsere Initiative in den zuständigen Gremien der Europäischen Gemeinschaft vorgetragen. Ich gehe davon aus, daß dort unser Beitrag für eine Schadstoffreduzierung im Kraftfahrzeugverkehr anerkannt und gebilligt wird.
Nach den in letzter Zeit erzielten Gesprächsergebnissen bin ich zuversichtlich, daß Brüssel dem vorliegenden Gesetzesvorhaben zustimmen wird.Meine Damen und Herren, das jetzt zu beratende Förderkonzept sollte im Interesse der Bürger, die sich vor Inkrafttreten des Gesetzes für eine Nachrüstung ihrer Fahrzeuge entschieden haben, zügig beraten und verabschiedet werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hartenstein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Monaten bemüht sich die Bundesregierung, die vorgesehene Neuregelung für schadstoffarme Kraftfahrzeuge als großen Durchbruch zu verkaufen. Ich kann mich eigentlich nur wundern, woher Sie den Mut dazu nehmen. „Durchbrüche" gibt es auf diesem Gebiet nämlich im Dutzend billiger, und zwar seit sechs Jahren, seit Bundesinnenminister Zimmermann im Juli 1983 vollmundig angekündigt hat, er werde ab 1. Januar 1986 den Kat obligatorisch vorschreiben. Es ist uns allen bekannt, daß schon dieser erste Startversuch in einer Sackgasse geendet hat, nämlich in dem erbärmlichen Luxemburger Kompromiß von 1985.Zieht man heute Bilanz, meine Damen und Herren, so ist das Ergebnis mehr als kümmerlich. Ganze 10 % der fast 30 Millionen Pkws in der Bundesrepublik sind derzeit mit einem Dreiwegekatalysator ausgerüstet. Das ist wahrlich kein Qualitätsnachweis für eine effiziente Luftreinhaltepolitik. Gemessen an den regierungsamtlichen Erwartungen muß man schlichtweg von einer Pleite sprechen.
Offenbar hat dies die Bundesregierung selber gemerkt. Denn in ihrem Gesetzentwurf heißt es:Die bisherige Entwicklung gibt Anlaß, die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen zu überdenken.Wohl wahr! Nur denken Sie nicht in die richtige Richtung.
Sie stricken munter am alten Strickmuster weiter. Das heißt, es gibt steuerliche Maßnahmen statt klarer ordnungsrechtlicher Vorgaben. Als ob damit die Riesenhypothek von immer noch fast 3 Millionen Tonnen Stickoxidemissionen wirksam abgetragen werden könnte!Fälschlicherweise ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, die Bundesregierung wolle jetzt in der Katalysatorpolitik Nägel mit Köpfen machen. Das ist leider ein großer Irrtum; genau das tut sie nicht. Der Gesetzentwurf bringt nicht die obligatorische Einführung der US-Grenzwerte. Er enthält keinen festen Termin, zu dem nur noch Neufahrzeuge mit Katalysator und umweltfreundliche Diesel zugelassen würden. Er fordert nicht einmal den bestmöglichen Stand der Reinigungstechnik bei der Abgasentgiftung. Da ginge nämlich der Weg lang.
Von einem großen Wurf kann also keine Rede sein. In Wahrheit werden ganz kleine Brötchen gebakken.Wenn die Benachteiligung der Kleinwagen gegenüber größeren Fahrzeugen ausgeglichen werden soll, dann ist im Prinzip dagegen nichts einzuwenden, auch nicht dagegen, daß Hilfen für die Umrüstung von Altwagen vorgesehen sind. Nur, solche Minimalmaßnahmen, meine Damen und Herren, bleiben weit hinter dem zurück, was technisch möglich und was umweltpolitisch nötig wäre.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12605
Frau Dr. HartensteinEin Beispiel: Zwar beseitigt der Gesetzentwurf Ungerechtigkeiten im Kleinwagenbereich. Er schafft jedoch nicht die Zulassungsmöglichkeit für sogenannte schadstoffarme Autos ab, die nur der schwachen Euro-Norm genügen müssen. Er tut also gerade nicht den entscheidenden Schritt. Diese Wagen dürfen immer noch dreimal so viel Schadstoffe ausstoßen, wie nach der US-Norm erlaubt wäre.
Weiter: Der nach vielen Verschleppungsmanövern zustande gekommene Luxemburger Kompromiß vom Juni 1989 ist ein fauler Kompromiß, Herr Minister. Er läuft nach Feststellungen des Umweltbundesamtes darauf hinaus, daß 80 % aller Kleinwagen ohne geregelten Katalysator auskommen können. Das heißt, sie werden auf Dauer ohne optimale Abgasentgiftungstechnik herumkutschieren dürfen. Wen wundert es da noch, daß in Europa dicke Luft herrscht!Besonders schlimm ist übrigens, daß sich viele Bürger in dem Glauben wiegen, auch der Kleinwagenkäufer könne jetzt sicher sein, ein wirklich sauberes Auto zu besitzen. Hier gibt es Aufklärungsbedarf, und ich denke, Herr Minister Töpfer, statt 10 Millionen DM in eine Informationskampagne mit dem arg pietätlosen Slogan „Kat sei Dank" zu stecken, sollte man dieses Geld lieber verwenden, um den Menschen klar und deutlich zu sagen, wo und wie der Umwelt wirklich genützt werden kann.
Im übrigen ist zu befürchten, daß mit der vorgesehenen Neuregelung das ohnehin schon undurchdringliche Gewirr von Steuerbefreiungen, Steuervergünstigungen und Steuererhöhungen noch um mehrere Varianten bereichert wird. Dies schreckt den Bürger eher ab, als daß es umweltgerechtes Verhalten fördert.
Nach Auffassung meiner Fraktion gibt es nur eine Regelung, die ebenso klar wie umweltpolitisch wirksam ist, nämlich die Vorschrift: Ab 1. Oktober 1991 dürfen nur noch solche Pkws neu zugelassen werden, die den strengen US-Abgas-Grenzwerten entsprechen.
Das ist der Inhalt unseres Antrages. Die Jahre des Zögerns und des Ausweichens müssen endlich vorbei sein. Wir fragen Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen: Wie wollen Sie eigentlich das Versprechen des Bundeskanzlers einlösen, der in seiner Regierungserklärung vom 27. April 1989 gesagt hat:Bereits jetzt haben mehr als 60 % der Neuwagen bei uns einen geregelten Drei-Wege-Katalysator. Zum 1. Oktober 1991 müssen es 100 % sein. Notfalls werden wir dazu nationale Regelungen erlassen!
Ich bitte um Antwort.
Die zweite Frage: Wie wollen Sie die Verpflichtung einhalten, die die Bundesregierung 1988 in Sofia eingegangen ist, wonach bis 1998 zur Reinhaltung der Luft und zum Schutz der Erdatmosphäre die Stickoxidemissionen um mindestens 30 % zu vermindern sind? Nach vorliegenden Prognosen der Umweltminister der Länder werden sich die Emissionen lediglich um 6,7 % vermindern, wenn nichts Zusätzliches geschieht. Das Umweltbundesamt kommt übrigens zu dem Schluß, daß bei Einführung weitergehender Maßnahmen eine Reduzierung bis zu 49 % erreicht werden könnte. Allerdings müßten dabei — was ohnehin überfällig ist — auch die Lkws einbezogen werden.
Jetzt zu handeln ist eine Forderung nationaler und internationaler Glaubwürdigkeit. Wir stehen mit dieser Forderung nicht allein. Im Juli hat die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder die Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen — es kommt immer wieder das gleiche Datum —, daß ab 1. Oktober 1991 alle neu zugelassenen Fahrzeuge mit einem geregelten Katalysator ausgerüstet sein müssen. Dies sei um so vordringlicher, moniert Ministerpräsident Späth, als die Luxemburger Beschlüsse nicht so eindeutig gefaßt seien, daß bei allen Fahrzeugtypen der Dreiwegekatalysator als bestmögliche Abgasreinigungstechnik notwendig werde. Recht hat er.Meine Damen und Herren, Jubelgeschrei über kleine halbherzige Schrittchen ist fehl am Platze, wenn ein mutiger, entscheidender Schritt erforderlich wäre. Man kann nicht nur vom nationalen Alleingang reden; man muß ihn auch tun.
Es gibt ausreichend stichhaltige Gründe dafür. Der Art. 130t des EWG-Vertrages in der Fassung der Einheitlichen Europäischen Akte läßt weitergehende nationale Maßnahmen zu.
Man kann auch nicht wohltönend von der Verantwortung für die Schöpfung reden, von der Verantwortung für unsere Ökosysteme, von der Verantwortung für das Klima unseres Planeten, und dann beim praktischen Handeln zurückzucken. Das paßt nicht zusammen. Wie lange soll der Smog noch unsere Städte belasten und die Gesundheit der Menschen schädigen? Wie lange soll das Waldsterben noch ungebremst fortschreiten? Experten sagen uns, daß die Luftschadstoffe um 70 % verringert werden müssen, wenn wir die Wälder erhalten wollen. Davon sind wir noch meilenweit entfernt.Fazit also: Wir brauchen den Katalysator für alle Fahrzeugtypen. Wir brauchen den umweltfreundlichen Diesel. Wir brauchen ebenso ein Tempolimit. Vor allem aber brauchen wir eine neue, zukunftsorientierte Verkehrspolitik, die endlich mit dem Grundsatz der ökologischen Verträglichkeit Ernst macht.
Davon jedoch enthält Ihre Vorlage kein einziges Wort.
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12606 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau Dr. HartensteinDanke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Schmidbauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Hartenstein, es ist immer identisch, was Sie sagen; es ist immer dasselbe Lamentieren.
Heute haben Sie nicht den Fehler begangen, anzumahnen, wir hätten das bleifreie Benzin noch nicht eingeführt. Das ist Ihnen nicht entgangen. Die anderen Dinge entgehen Ihnen. Sie müssen vorsichtig sein, wenn Sie den Bundeskanzler mit der Regierungserklärung hinsichtlich 1991 zitieren. Sie hören heute bereits zum wiederholten Male, daß über 70 % aller neuzugelassenen Fahrzeuge den geregelten Katalysator haben. Das ist eben genau der Weg, den wir gegangen sind.
Das heißt, daß wir weit vor Ihrem Termin, Oktober 1991, realisiert haben, daß es nur noch geregelte Katalysatoren in Personenkraftwagen in der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Sie können auch feststellen, daß es nicht nur dieses schmale Konzept ist, sondern daß wir sehr früh auch daran gegangen sind, eine umfassende Rahmenkonzeption zu entwickeln und Zug um Zug zu realisieren. Keiner hat hier verschwiegen, daß wir auf Grund einer höheren Motorisierung höhere Emissionen, höheren Energieverbrauch und bei den Emissionen nicht nur Stickoxide, nicht nur Kohlenwasserstoffe beachten müssen.
— Und wenn Sie, Herr Kollege Schäfer, schon über Treibhauseffekt reden, wäre es mir sehr lieb, Sie täten dies seriös. Ich jedenfalls mache es mir nicht so einfach und stelle ein paar Zahlen in den Raum. Da muß man schon ausführen, welcher Weg nach Ihrer Meinung richtig ist, CO2-Emissionen in diesem Bereich zu vermindern.
Da gibt es natürlich nicht die Technik, sondern da gibt es nur die Maßnahmen, die wir anpeilen, nämlich den spezifischen Verbrauch von Kraftfahrzeugen ordnungsrechtlich entsprechend zu regulieren,
damit unsere Fahrzeuge in wenigen Jahren immer weniger verbrauchen.
— Dann stellen Sie einmal eine saubere Zwischenfrage und plärren Sie nicht immer dazwischen!
Dann gehe ich gern darauf ein. — Mit dem Gesetzentwurf — —
Herr Abgeordneter Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?
— Aber sicher.
Herr Kollege Schmidbauer, Sie plädierten soeben für ordnungsrechtliche Maßnahmen, um den Kraftstoffverbrauch bei Pkw zu reduzieren. Bis wann ist mit einer Vorlage der Bundesregierung oder der Koalitionsfraktionen zu rechnen, in der beispielsweise eine Verbrauchsregelung vorgeschlagen wird, um das von Ihnen genannte Ziel zu erreichen?
Wir haben den Weg bereits vor vielen Monaten angedeutet.
— Im Unterschied zu Ihren 13 Jahren, in denen es keine Kat-Fahrzeuge gab, haben wir ja gehandelt.
Wir haben den Weg vorgezeichnet, Herr Kollege Schäfer. Erstens. Wir werden die Frage der CO2-Einbeziehung in die Schadstoffsteuer noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt; danach haben Sie gefragt. Zweitens. Wir werden auch die Zielvorstellungen im Hinblick auf eine Minderung des Benzinverbrauchs, des spezifischen Verbrauchs bei Kraftfahrzeugen noch in dieser Legislaturperiode ausführlich darlegen. Ich denke, das genügt. Wir werden das nicht nur ankündigen, sondern auch darüber reden.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, sind wir der EG um Jahre voraus. Und es bestand ja die Notwendigkeit, das Bremsen in der EG über viele Jahre hinweg dadurch zu umgehen,
daß wir Anreize schaffen, damit der Katalysator bei uns in der Bundesrepublik Deutschland beschleunigter eingeführt wird. Ich sagte bereits: Dies ist erfolgreich. 70 % aller Neufahrzeuge sind mit einem geregelten Drei-Wege-Katalysator ausgerüstet.Diese Entwicklung muß beschleunigt werden. Daher hat die Bundesregierung im August 1989 eine Erweiterung dieses Konzeptes beschlossen. So wird sichergestellt, daß schon ab 1990 nur noch Fahrzeuge mit der besten Abgasreinigungstechnik angeboten werden. Das neue Förderkonzept sieht vor, daß wir für Mittelklasse-, für Kleinfahrzeuge 1 100 DM steu-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12607
Schmidbauererlich begünstigt denen geben, die sich umweltgerecht verhalten, daß wir denjenigen, die nachrüsten— geregelt und ungeregelt —, einen Barbetrag bis zu 1 100 DM geben. Ich finde, daß dieses Anreizsystem seinen Praxistest bereits bestanden hat, und zwar durch die alte, bereits 1985 eingeführte Regelung.Die Dynamik des innovatorischen Prozesses zugunsten der Umwelt ist wesentlich beschleunigt worden
— und dies ohne einschneidene Belastung, wie Sie dies mit Ihrer drastischen Benzinpreiserhöhung vorschlagen. Hier hat bereits etwas funktioniert. Hier wird nicht theoretisiert, sondern dieses Prinzip hat funktioniert. Wir können heute feststellen: Unsere Maßnahmen richten sich auf der Basis marktwirtschaftlicher Mechanismen nach dem Vorsorgeprinzip.Die rasche Umstellung auf schadstoffarme Pkw ist der richtige Weg. Dies zeigt eine Untersuchung über den Pkw-Bestand bis zum Jahre 2010. Sie kommt im wesentlichen zu folgenden Ergebnissen: In diesem Jahr sind in der Bundesrepublik Deutschland erstmals mehr als 30 Millionen Pkw zugelassen. Je nach den Rahmenbedingungen wird das Maximum entweder 1995 mit 31 Millionen Pkw oder aber erst im Jahre 2010 mit fast 35 Millionen Pkw erreicht. Diese Entwicklung, Herr Kollege Schäfer, fordert bereits heute die richtigen Entscheidungen.Erstens. Durch die Förderung und damit die schnelle Einführung einer Abgasreinigung nach dem Stand der Technik wird erreicht, daß auch ein zunehmender Pkw-Bestand nicht zu ansteigenden Emissionen führt. Die Gleichung „mehr Pkw gleich mehr Emission" wird damit zur Ungleichung.Zweitens. Eine weitere Maßnahme — danach haben Sie mich vorhin ebenfalls gefragt — werden Vorgaben zur Verringerung des spezifischen Kraftstoffverbrauchs sein.Die von mir bereits zitierte Studie kommt zu folgendem Ergebnis: Für das Jahr 2010 wird beim spezifischen Verbrauch ein Rückgang von 9,4 auf 7 bzw. 6 1 unterstellt. Dies muß und wird weiter reduziert werden.Kraftstoffeinsparung ist von entscheidender Bedeutung, da so insgesamt weniger Schadstoffe entstehen. Dies ist vor allem für die CO2-Emissionen relevant, da hierfür keine technischen Rückhaltesysteme möglich sind.Unter dem Aspekt der Kraftstoffeinsparung ist auch die Einbeziehung der Diesel-Pkw in unser Anreizsystem zu prüfen. In Frage kommen solche Diesel, die sich etwa an den strengen US-Partikelgrenzwerten orientieren, darüber hinaus an der Anlage XXIII. Dies ist notwendig, weil wir der Meinung sind, daß der Diesel ein zukunftsorientiertes Fahrzeug auch im Hinblick auf weniger CO2-Emissionen und auf die Verminderung in diesem wichtigen Bereich ist.
Effektiver Umweltschutz im Verkehrsbereich verlangt nicht nur nach technischen Verbesserungen, sondern auch nach weitgehenden, politischen Weichenstellungen. Wenn wir heute über Pkw reden und darüber, daß wir den umweltfreundlichen Pkw vorangebracht haben, dann wird es morgen der Lkw sein. Ich darf Herrn Töpfer nur noch ermuntern, daß er bei der nächsten Sitzung im EG-Bereich die Kommission anmahnt, daß endlich die zweite Stufe und weitere Stufen der Reduzierung der Emissionen bei Lkw auf die Reihe kommen.Insgesamt ist festzustellen: Unsere Umweltpolitik im Kfz-Bereich ist zukunftsweisend. Bleifreies Benzin hat den deutschen und bald auch den europäischen Markt erobert. Der schadstoffarme und lärmarme Pkw ist auf dem Vormarsch. Auch Nutzfahrzeuge können sich nur schadstoffarm und lärmarm behaupten. Eine drastische Kraftstoffeinsparung im Verkehrsbereich kann mit dazu beitragen, die Treibhausproblematik zu entschärfen. Schließlich ist langfristig nur eine umweltfreundliche Autoproduktion und Entsorgung ökonomisch und ökologisch akzeptabel.Unser Maßnahmenkatalog Auto und Umwelt wird Zug um Zug realisiert: heute, wie ich sagte, der Bereich Pkw, morgen Lkw.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kastner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zerstörung der Umwelt und die Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch den Kfz-Verkehr hat die Grenzen des Verantwortbaren seit langem überschritten. Unsere Städte und Autobahnen sind vollkommen überlastet; uns droht ein Verkehrskollaps. Die Umweltzerstörung durch den Autoverkehr nimmt ständig zu.Am 20. September 1989 zog Bundesumweltminister Töpfer wieder einmal Bilanz seiner „erfolgreichen Kfz-Umweltpolitik".
Heute reden wir über einen Baustein zu dieser angeblich so erfolgreichen Politik. Man staunt und reibt sich die Augen: Wo ist er denn eigentlich, dieser Erfolg? Die Stickoxid-Emissionen durch den Verkehr haben immer noch nicht abgenommen. 1,5 Millionen t betrugen sie bereits im Jahr 1986, und bis in die 90er Jahre ist kein Rückgang zu erwarten.
Die Abgasminderungstechnik in der Bundesrepublik Deutschland hat sich bisher nur ungenügend durchgesetzt. Wenn heute einer von 9 Pkw die US-Grenzwerte einhält, dann sind das rund 90 % zuwenig.
Der Energieverbrauch auf dem Verkehrssektor steigt munter weiter, während in anderen Bereichen der Energieverbrauch abnimmt. Dementsprechend steigt auch der CO2-Ausstoß und damit die Gefährdung für unser Klima immer weiter.
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12608 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau KastnerDie Prognosen über die Zunahme von Fahrleistungen und den damit verbundenen Energieverbrauch durch Kraftfahrzeuge bis zum Jahr 2000 sind erschreckend. Dies hat verschiedene Ursachen; aber die Bundesregierung setzt mit ihrer Politik völlig falsche Signale für die langfristigen Planungen der Automobilindustrie. Aus wahltaktischen Überlegungen ist sie nicht bereit, über eine Erhöhung der Benzinpreise und damit über eine energiesparende Maßnahme auch nur nachzudenken.
Sie vernachlässigen weiter die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene und auf die Wasserstraßen.
Statt dessen verspricht Herr Zimmermann den Ausbau des Straßennetzes. Freie Fahrt für freie Bürger, dies ist weiterhin Ihre Devise, unabhängig davon, was das für unsere Umwelt bedeutet.Das Scheitern Ihrer angeblich so umweltgerechten Kfz-Politik kann doch kaum sinnfälliger und drastischer aufgezeigt werden als heute. Nahezu jeder Bundesbürger hat das Gefühl, er sei zur Befriedigung seiner Mobilitäts- und Transportbedürfnisse auf das Auto angewiesen. Gleichzeitig fühlt sich fast jeder Bürger durch das Auto inzwischen belästigt — durch Lärm, durch Abgase, durch die Gefährdungen im Straßenverkehr.Alternativen zum Pkw sind vor allen Dingen im ländlichen Bereich nicht zu sehen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind teuer, in der Regel umständlich zu erreichen und brauchen lange Fahrzeiten. In weiten Teilen der Fläche sind sie gar nicht mehr oder nur unzureichend vorhanden. Der Trend zum Individualverkehr wird durch Ihre Untätigkeit in Sachen öffentlicher Personennahverkehr nur noch verstärkt.
Es muß deshalb Schluß damit sein, daß sich das schadstoffarme Auto nur im Schneckentempo ausbreitet. Meine Fraktion fordert, daß ab 1. Oktober 1991 nur noch Pkw zugelassen werden, die die strengen US-Abgasgrenzwerte einhalten. Die Osterreicher, die vor zwei Jahren den Weg der obligatorischen Einführung des schadstoffarmen Pkw gegangen sind, haben uns heute beim Anteil sauberer Fahrzeuge bereits überholt.
Aber zu solch einem mutigen Schritt hat es bei der Bundesregierung leider nicht gereicht.
Im Lkw-Bereich droht uns nun eine Wiederholung dieses Trauerspiels. Auch hier wird eine Minderung der Schadstoffemissionen nach dem Willen der Bundesregierung allenfalls im Schneckentempo vorankommen. Es ist längst bekannt, daß sich der Lkw-Verkehr innerhalb des EG-Binnenmarktes voraussichtlich verdoppeln wird. Bekannt ist auch: Damit steigt der Stickoxid-Ausstoß des Lkw-Verkehrs auf absehbare Zeit weiter, und so werden alle kleinen Fortschritte im Pkw-Bereich kompensiert. Dennoch haben Sie erst 1988 Abgasgrenzwerte beschlossen, aber die so lasch, daß sie von allen Lkw in der Bundesrepublik eingehalten werden. Außerdem gelten sie verbindlich erst zum 1. Oktober 1990.Dennoch hält es der Bundesumweltminister für angebracht, auch die Regelungen im Lkw-Bereich mit in seine sogenannte Erfolgsbilanz aufzunehmen. Damit beweist er uns dann eindeutig, wie niedrig das Anspruchsniveau dieser Bundesregierung in Sachen Umwelt — aber nicht nur dort — wirklich ist.
Drastische weitere Absenkungen des Schadstoffausstoßes der Lkw sind nicht nur möglich, sondern dringend erforderlich. Wir fordern deshalb eine bessere Überwachung der Lkw-Geschwindigkeiten, den Einbau von Geschwindigkeitsreglern in alle Lkw und ein Aus für die unzähligen Ausnahmegenehmigungen für Lkw.
Die vorgeschlagenen Änderungen der Straßenverkehrsordnung sowie eine wirksamere Lkw-Geschwindigkeitskontrolle würden der Umwelt insgesamt Entlastungen von 1 Million 1 Kraftstoff und rund 3 Millionen t CO2 pro Jahr bringen, und dies alles ohne große Kosten für die Betreiber der Nutzfahrzeuge.Mein Fazit im Hinblick auf den Lkw-Verkehr: Es gibt keine Kfz-Umweltpolitik dieser Bundesregierung. Herr Töpfer hat dieses Feld dem Verkehrsminister überlassen.
Und für den können gar nicht genug Lkw auf unseren Straßen rollen und können gar nicht genug Straßen dafür gebaut werden, und dies, obwohl heute bereits eine Fläche fünfmal so groß wie das Saarland als Verkehrsfläche in unserem Land ausgewiesen ist.
Der Umweltminister gibt nach, wenn Herr Zimmermann im Verbund mit dem ADAC gegen das ökologisch so dringend notwendige Tempolimit zu Felde zieht, und er zieht auch den Kopf ein, wenn der Verkehrsminister gegen Österreich das Recht der Lkw-Fahrer durchpauken will, die Alpen weiter zu ruinieren. Wie verträgt sich denn dieses Verhalten, Herr Töpfer, mit Ihrer groß angekündigten Alpenschutzkonvention?
Ersatz für eine wirkliche Kfz-Umweltpolitik soll nunmehr das neuerliche Herumwursteln an den Regelungen zur steuerlichen Begünstigung von schadstoffarmen Pkw sein.
Aber als gäbe es nicht schon genug Chaos bei denAbgasgrenzwerten, bei den Fristen und bei den Terminen, wird schon wieder überlegt, die ganze Kfz-
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Frau KastnerSteuer-Regelung völlig neu zu gestalten und dabei nach Schadstoffen und Verbrauchswerten zu differenzieren. Das mag die Verwirrung erhöhen, nicht aber den umweltpolitischen Erfolg.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen die Kfz-Steuer abschaffen und auf die Mineralölsteuer umlegen. Das ist nicht nur der einfachere, sondern der vernünftigere Weg, um zu einer Kfz-Umweltpolitik zu kommen.Wir müssen alles dafür tun, damit der Straßenverkehr nicht weiter zunimmt, sondern abnimmt. Andernfalls werden wir den CO2-Ausstoß im Straßenverkehr nicht bremsen können. Es reicht heute nicht mehr aus, nur sauberer zu fahren; wir müssen auch langsamer und weniger fahren.Das Bedürfnis des Menschen nach Mobilität und Transport muß künftig mit geringerem Energieaufwand befriedigt werden. Deshalb vertreten wir die Auffassung, daß die Mineralölsteuer erheblich angehoben werden muß,
und treten für die Erhebung einer Öko-Steuer ein. Glauben Sie mir: Die Bürgerinnen und Bürger werden dies dann verstehen, wenn sie auf andere Verkehrsmittel umsteigen können und wenn sie merken, daß sie als Normalverdiener finanziell nicht schlechter wegkommen als wir Spitzenverdiener. Sie werden bereit sein, unser Konzept mitzutragen, weil es für die Umwelt dringend nötig ist und die Bevölkerung dafür eine weit höhere Sensibilität entwickelt hat als diese Bundesregierung.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Börnsen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz einer verständlichen parteipolitischen Überzeichnung von Ihrer Seite muß man sagen: Es gibt da nichts zu deuteln, die Bundesrepublik führt in der Luftreinhaltung den europäischen Geleitzug an. Durch Steuervorteile, Auflagen und Förderung der Umrüstung ist bereits heute jeder zehnte Pkw umweltschonend, jedes neunte Fahrzeug schadstoffarm.
Einsicht, Appell und kluge Politik haben zu dieser Vorreiterrolle in Europa geführt.
Trotz eines rasant ansteigenden Pkw-Bestands auf fast 30 Millionen Fahrzeuge ist der Anteil des Straßenverkehrs an der Luftverunreinigung deutlich geringer geworden; denn der Kohlenmonoxidausstoß betrug 1980 noch 8,6 Millionen t, 1986 6,3 Millionen t und wird 1995 auf 2,1 Millionen t reduziert sein.
Bei Stickoxiden registriert man jetzt eine ähnliche Enwicklung.
Das ist eine bemerkenswerte Bilanz, die sich sehen lassen kann, doch gilt es, diese Daten noch weiter drastisch zu senken. Es gilt, auch die Geräusch- und Partikelgrenzwerte drastisch zu senken. Wir haben für weniger Lärm, weniger Dreck und bessere Luft zu sorgen — zum Wohle des Menschen, aber auch zum Wohle des Waldes.
Doch fast alle wollen wir auch die Vorteile der Mobilität genießen. Wir wissen, daß ohne das Auto nichts läuft, auch in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft nicht.
Auch wenn wir feststellen, daß einige das Auto verteufeln und abschaffen wollen, andere über die Mineralölsteuererhöhung den Menschen das Auto vermiesen wollen, so kann man doch auch feststellen: Das Auto läßt sich nicht an die Kette legen. Bürger aus meinem Wahlkreis Flensburg-Schleswig, die täglich auf ihr Fahrzeug angewiesen sind, würden zu einer solchen Verkehrspolitik auf Plattdeutsch bemerken: „Wenn dat mit een Minsch dürgeit, fangt dat toerst in'n Kopp an."
Der vorliegende Antrag der Sozialdemokraten verstößt eindeutig gegen EG-Recht, weil damit Handelshemmnisse aufgebaut werden. Das sollten Sie wissen. Trotzdem haben Sie diesen Antrag eingebracht. Soll die Bundesregierung denn zum Rechtsbrecher werden? Soll sie vor dem Europäischen Gerichtshof vorgeführt werden?
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Wo bleibt denn Ihre staatspolitische Verantwortung?
Das gilt auch für die zweite Fehleinschätzung Ihres Antrags. Ändern wir einseitig die Luftgrenzwerte, scheren wir aus dem europäischen Geleitzug aus, verzichten wir auf Mitgestaltung in der Europäischen Gemeinschaft und blocken wir ausländische Fahrzeuge ab. Wir würden zum Förderer des Protektionismus. Wir, ein Land, das existentiell auf Export angewiesen ist, würden Barrieren aufbauen. Das wäre wirtschaftlich kurzsichtig, arbeitsmarktpolitisch katastrophal und umweltpolitisch ein Schuß in den Ofen. Zwar hätten wir dann punktuell einen Hauch von Lavendel über unserem Land, aber in Europa weiterhin den Dunst der 80er-Dekade, zum Nachteil der Luft, zum Nachteil des Waldes und zum Nachteil für die Menschen.
Der große Erfolg der Luxemburger Abgasbeschlüsse liegt in ihrer Europaverbindlichkeit, in ihrer Bestätigung, daß der deutsche Weg über steuerliche Anreize zum Umweltschutz der Tat zu kommen, der richtige ist.
Herr Börnsen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Ich möchte gern im Zusammenhang vortragen.Das Kat-Zeitalter ist nicht aufzuhalten. Diese neue Epoche, die unbestritten Bundeskanzler Helmut Kohl
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Börnsen
wie die Minister Töpfer und Zimmermann verantwortlich eingeleitet haben, wird sich weiter durchsetzen.
Sie alle haben die allein richtige, die europäische Lösung verwirklicht; denn in der Summe der Luftreinhaltung, in der Summe der Schadstoffreduzierung der Zwölfergemeinschaft ist eine 12fache Lösung 12mal besser für die Luft, 12mal besser für den Wald und 12mal besser für den Menschen.
Sie von den Sozialdemokraten sollten lernen, daß die Zeit für nationale Alleingänge vorbei ist. Sie kritisieren die Luxemburger Entscheidung, der Stand der Technik würde nicht erreicht. 80 % aller Kleinwagen, so sagen Sie, könnten die geforderten Werte ohne Kat erreichen. Um diesen Vorwurf zu begründen, wenden Sie einen ganz kleinen Kniff an. Sie sprechen bei den Grenzwerten — sehen Sie in Ihre Vorlage — nur von HC und NO2 und verschweigen Kohlemonoxid; denn dessen Werte sind ohne Katalysator nicht zu erreichen. Richtig ist: Bis auf drei Typen werden alle europäischen Kleinwagen erfaßt. Ihre Aussage ist falsch. Ich weiß, auch uns können Fehler in unseren Entschließungen unterlaufen, doch darf ich Sie bitten, im Parlament fair und redlich zu bleiben.Ich begrüße die aufgenommene Initiative der Bundesregierung, Altfahrzeuge umzurüsten. Sie dient der Umwelt und schafft mehr Gerechtigkeit, weil die Benachteiligung der kleineren Fahrzeuge endet. Einem 2-Liter-Wagen Kat-Qualität zu verleihen kostet heute alles in allem 1 800 DM. Der Umrästungsbonus wird 1 100 DM betragen, der Eigenbeitrag also gut 700 bis 800 DM. Das wäre erschwinglich, wenn nicht die Sozialdemokraten mit der Ökosteuer, der drastischen Benzinverteuerung, kommen würden. Ein Fernpendler der Flensburger Werft wird dadurch gut 1 100 DM im Jahr mehr bezahlen müssen.
Er, der auf das Auto angewiesen ist, muß den teuren SPD-Sprit „Fortschritt 90" tanken und auch noch den Kat bezahlen.
Entschuldigung! — Herr Stahl, wenn Sie Zwischenfragen stellen wollen, müssen Sie sich melden.
Hier bremst die Steuererhöhung den Umweltschutz.
Sie schadet dem Wald, sie schadet den Menschen.
Ihre Vorschläge nützen weder unserem Land noch unserer Umwelt. Sie läuten den Rückschritt 90 ein!
Danke.
Das Wort hat Herr Bundesminister Töpfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Meilenstein im umweltpolitischen Gesamtkonzept für das Auto, das die Bundesrepublik vorgelegt hat. Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen machen.Natürlich muß auch das Auto in ein verkehrspolitisches Gesamtkonzept eingeführt sein, und das ist der Fall. So sind wir froh und dankbar für jeden in einer Kommune Zuständigen, wenn er zum weiteren Ausbau des Radwegenetzes beiträgt und damit Attraktivitäten und Möglichkeiten schafft, den kleinen Verkehrsbedarf etwa im Einkaufsbereich wieder mit dem Fahrrad zu befriedigen. Wir sind dankbar dafür, daß es Bundesverkehrsminister Dollinger war, der als erster in der Bundesrepublik Deutschland wieder die Entscheidung für neue Verkehrsstrecken auf der Schiene getroffen hat. Es werden wieder neue Schienenstränge gebaut.
Dies nur als wenige Vorbemerkungen, damit man mir nicht den Vorwurf macht, wir würden uns nur mit dem Auto beschäftigen. Aber die Siedlungsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland hat sich so entwikkelt, daß auch und gerade der Individualverkehr notwendig ist und bleibt. Deswegen ist es sinnvoll und richtig, möglichst hohe Anforderungen der Umweltverträglichkeit an das Automobil zu richten.
In diesen Bereich hinein geht das Gesetz.
Deswegen haben wir drei Teilbereiche im Gesamtkonzept für das Auto:Erstens: Pkw mit Otto-Motor. Hier gibt es für uns eine klare Aussage: Für Neuwagen muß der DreiWege-Katalysator durchgesetzt werden. Frau Abgeordnete Hartenstein, wir können Ihnen zum wiederholten Male sagen: Es wäre uns angenehmer, dies allein durch Ordnungsrecht zu tun. Das können wir aber europarechtlich, wie Sie wissen, erst ab 1. Januar 1993. Dies ist uns zu spät. Deswegen gibt es die Entscheidung, durch finanzielle Förderung das im nationalen Alleingang bei uns durchzusetzen.Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Schäfer hat hier gestanden und mir die Niederlande als Vorbild gebracht, hinter denen ich mich nicht verstekken sollte, weil sie fördern. Wir verstecken uns nicht, sondern wir gehen über das hinaus, was die Niederlande tun, um dieses Auto durchzusetzen.
Dies ist ein nationaler Alleingang.
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Bundesminister Dr. TöpferIch möchte ganz deutlich hinzufügen: Die Förderung bezieht sich auf den Dreiwegekatalysator, nicht auf irgendeinen Grenzwert. Das wird uns in europäischer Abstimmung noch die eine oder andere Rückfrage eintragen. Ich möchte hier anmerken: Auch hier gehen wir den eindeutigen Weg zu der besten Technik, nämlich zu dem gegenwärtig Besten, dem Dreiwegekatalysator. Dies ist, ich sage es noch einmal, ein nationaler Alleingang, der übrigens vergleichsweise viel Geld kostet.Bei Neuwagen brauchen wir eine Umstellung der Kfz-Steuer auf das Emissionsverhalten, solange es dort Differenzierungen gibt. Wenn wir noch einen Beleg gebraucht hätten, wie wichtig die Kfz-Steuer ist, dann wäre das doch die Entscheidung, die wir heute treffen. Denn über diesen Weg können wir europarechtlich abgesichert diese beste Technik jetzt durchsetzen. Daß wir bei Neuwagen schon zu 70 % den Dreiwegekatalysator haben, liegt doch gerade an dieser steuerlichen Förderung.Lassen Sie mich dazu ein letztes sagen: Sie werden sicherlich nicht vergessen haben, daß wir die Autos mit einem Hubraum über zwei Liter nicht mehr fördern, weil wir dort den ordnungsrechtlichen Weg gehen konnten; dort ist er verbindlich. Es gibt dort kein Geld, sondern es gibt nur Geld bei Autos unter 1,4 Liter und zwischen 1,4 und 2 Liter. Das ist genau unsere Position: Ordnungsrahmen plus marktwirtschaftliche Anreize. Genau das, was wir gestern versucht haben Ihnen zu erläutern, findet sich hier wieder.
Als nächstes wiederhole ich einen Satz von gestern — er ist zitierfähig aufgeschrieben — : Natürlich sind wir der Überzeugung, daß wir uns über den Flottenverbrauch Gedanken zu machen haben. Das ist etwas schwieriger, Herr Abgeordneter Schäfer, als nur zu sagen: Morgen liegt das vor. Denn es ist bei uns etwas anders als in den Vereinigten Staaten, wo es integrierte Automobilkonzerne gibt. Wenn wir über Flottenverbrauch reden, müssen wir etwas genauer hinschauen. Daß aber dies ein Ordnungsrahmen ist, der sozialverträglich den Mineralölverbrauch unserer Pkw vermindert,
das wollen wir deutlich machen. Das ist ungleich sozialverträglicher, als diesen Weg allein über eine dramatische Erhöhung der Mineralölsteuer erhalten zu wollen.
Weiterer Punkt: Altwagen. Auch hier hat der Abgeordnete Schäfer uns vor nicht langer Zeit deutlich gesagt, das sei wieder einmal so eine Ankündigung des Umweltministers; den Baransatz würden wir nie durchkriegen. Lesen Sie nach: In diesem Gesetzentwurf steht der Baransatz; er ist nicht angekündigt, sondern gemacht, nicht auf die lange Bank geschoben, sondern entschieden. Es gibt nicht die Notwendigkeit des Bedankens, sondern es ist eine Frage der redlichen Argumentation, wenn Sie sagen: Okay, das habt ihr gemacht, das ist mit uns im besten Sinne abgestimmt.
Dann komme ich zum zweiten Teilbereich unserer Gesamtkonzeption, und zwar zum Diesel-Pkw. Es soll deutlich gemacht werden: Wir wollen den Diesel-Pkw umweltpolitisch nicht verteufeln, weil wir ihn mit Blick auf den Verbrauch und mit Blick auf die CO2-Frage brauchen.
— Wir haben ihn nicht verteufelt, sondern gesagt: So, wie er vorlag, können wir ihn nicht fördern, sondern nur dann, wenn sich der Diesel-Pkw in seiner Technik bessert. — Das ist jetzt erreicht, um es deutlich zu sagen. Es ist heute so, daß jeder Diesel aus deutscher Produktion und darüber hinaus die Werte der 49-Staaten-Regelung der USA einhält, und zwar auch bei den Partikeln. Wir sind der Überzeugung, daß wir in einem Stufenkonzept darüber hinausgehen müssen, um auch die Werte der kalifornischen Regelung zu erreichen. Das ist das Ziel der Bundesregierung bezüglich des Diesel.Das ist inzwischen auch durch den Oxidationskatalysator beim Diesel-Pkw möglich, der schon serienmäßig angeboten wird. Diese Dieselwagen mit einem Oxidationskatalysator in die Diskussion über die Förderung einzubeziehen ist selbstverständlich und notwendig. Ich halte das für richtig. Die Bundesregierung hat beschlossen, das zu überprüfen. Ich habe Ihnen deutlich gemacht, daß über die Förderung von Diesel-Pkw mit nachgedacht wird, wenn der Oxidationskatalysator eine entsprechende Minderung der Partikel-emission bewirkt.Es gibt also auch in bezug auf den Diesel eine klare Aussage, eine klare Perspektive, die, glaube ich, auch voll mit dem übereinstimmt, was gerade von der FDP gesagt worden ist.Dritter Teilbereich: Lkw. Nun muß ich doch wirklich einmal zurückfragen: Glauben Sie im Ernst, daß wir hier einen Fortschritt erreichen können, ohne das in die Europäische Gemeinschaft zu integrieren? Die gegenwärtige Situation sieht folgendermaßen aus. Wir haben keinen Partikelgrenzwert für Lkw. Wir haben bei den gasförmigen Emissionen einen Wert von 14,4 g/kWh. Unsere klare Aussage ist: Wir brauchen a) einen Partikelwert; er wird bei uns bei 0,35 g/kWh liegen. Wir brauchen b) eine Minderung der gasförmigen Emissionen; sie wird bei uns in der ersten Stufe bei 9 g/kWh liegen.Wir fügen hinzu: Wir setzen den Rußfilter durch. Gegenwärtig finanzieren wir mit 20 Millionen DM einen Großversuch. Das ist eine Welteinmaligkeit. 1 500 Autos fahren mit Rußfilter auf unseren Straßen. Wir setzen ihn durch. Dann haben wir ein Wertepaar — um das deutlich zu sagen, Herr Abgeordneter Schäfer, damit Sie das nicht vergessen — von 7 g/kWh bei gasförmigen Emissionen und 0,15 g/kWh bei den Partikeln. Das ist unsere zweite Komponente.
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Bundesminister Dr. TöpferDas ist ein Punkt, von dem Sie nicht sagen können, wir kündigten nur etwas an.
Vielmehr ist das unsere Position in der klaren Handlung. Es wäre hervorragend gewesen, wenn eine solche klare Position zum Auto auch in früheren Jahren entwickelt worden wäre. Das wäre hervorragend gewesen.
Zusammenfassend: Dieses Gesetz ist eine Notwendigkeit. Der Bundeskanzler hat das in seiner Regierungserklärung am 27. April diesen Jahres unterstrichen. Was in der Regierungserklärung genannt worden ist, wird mit diesem Gesetz erfüllt.
Das ist konsequentes politisches Handeln im Rahmen eines Gesamtkonzepts.
Sie werden auch davon ausgehen können, daß das zweite, was der Bundeskanzler in dieser Regierungserklärung genannt hat, eintreten wird: Zum 1. Oktober 1991 werden wir in der Bundesrepublik Deutschland nur noch Autos mit Ottomotor haben, die den geregelten Dreiwegekatalysator haben. Das werden wir Ihnen von dieser Stelle aus dann wiederum bestätigen können.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/5289 und 11/5326 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 5 und Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jens, Roth, Matthäus-Maier, Dr. Ehrenberg, Dr. Wieczorek, Bulmahn, Conradi, Dr. Emmerlich, Dr. Gautier, Dr. Hauchler, Huonker, Jung , Menzel, Meyer, Müller (Pleisweiler), Müntefering, Poß, Dr. Sperling, Vahlberg, Daubertshäuser, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Gegen wachsende Bankenmacht und für mehr Wettbewerb im Kreditgewerbe
— Drucksache 11/4553 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Rechtsausschuß
Finanzausschuß b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Roth, Dr. Jens, Dr. Ehrenberg, Dr. Gautier, Jung (Düsseldorf), Meyer, Müller (Pleisweiler), Reuschenbach, Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Sperling, Zeitler, Bulmahn, Weiler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Gegen eine Mammutfusion Daimler-Benz/ Messerschmitt-Bölkow-Blohm
— Drucksachen 11/4518, 11/5232 — Berichterstatter: Abgeordneter Hinrichs
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Frieß, Stratmann, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN
Demokratisierung der Wirtschaft: Beschränkung der Bankenmacht
— Drucksache 11/5401 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß meinem Kollegen Wolfgang Roth danke schön sagen. Er hat mir eine Brille geborgt, und sie funktioniert sogar. Wir sprechen heute über den Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gegen wachsende Bankenmacht und für mehr Wettbewerb im Kreditgewerbe. Er stammt vom 18. Mai dieses Jahres. Seitdem hat sich in der Tat eine heftige Diskussion über die wachsende Bankenmacht entfaltet. Darüber sind wir sehr froh. Das Thema muß stärker diskutiert werden, und es muß auch gehandelt werden.Ich erlaube mir eine Vorbemerkung. Wir Politiker — ich nehme mich überhaupt nicht aus — neigen alle dazu, zu taktieren.
Wir schielen nach Wählerstimmen.
Wir wollen möglicherweise sogar Schaden abwenden.
Aber in dem Maß, wie wir taktieren, verschweigen wir die Wahrheit oder sagen zumindest nicht die volle Wahrheit.
Die Kurseinbrüche an den deutschen Aktienmärkten waren am Montag größer als vor zwei Jahren in
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Dr. JensNew York, und sie waren größer als am vergangenen Freitag.
Die Unruhe an den Aktienmärkten hält an.
Die Wirtschaft sei in guter Verfassung; ein Risiko für die Entwicklung bestehe nicht.Das ist aber Taktiererei, wie ich sage. Und das wissen die, die an den Börsen agieren, sehr genau, und das ist nicht die volle Wahrheit, Graf Lambsdorff.
Die volle Wahrheit ist: Wir haben seit Jahren wesentlich mehr Geldvermögen in der Weltwirtschaft, als im realwirtschaftlichen Bereich an Deckung vorhanden ist. Es gibt kein ausgeglichenes Verhältnis mehr zwischen diesen Größen. Tatsache ist, daß die Leistungsbilanz der Vereinigten Staaten seit Jahren unausgeglichen ist und keine ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, um zu einem Ausgleich dieses Leistungsbilanzdefizits zu gelangen.
Tatsache ist auch, daß die Vereinigten Staaten ein enormes Haushaltsdefizit haben und weit über ihre Verhältnisse leben. Auch daraus resultiert das, was jetzt am Freitag und Montag an den Börsen passiert ist.Die Bundesregierung tut einfach zuwenig, um dieses weltwirtschaftliche Ungleichgewicht zu beseitigen.
Sie ignoriert es seit Jahren.Wir müssen mehr tun, um die binnenwirtschaftlichen Kräfte zu beleben, um ebenfalls einen Ausgleich zu diesen Ungleichgewichten zu leisten.
Das wird von dieser Bundesregierung nicht ausreichend angepackt.
— Das Thema, das ich zur Sprache gebracht habe, hat sehr wohl mit der wachsenden Bankenmacht zu tun.Auch die Banken haben dazu beigetragen, daß das, was an den Börsen passiert ist, geschehen konnte. Sie haben Mitschuld, daß die Kurse so exorbitant stiegen und dann in den Keller gegangen sind. Sie haben nämlich vorher ihren Kunden gesagt, kauft doch noch, obgleich sie hätten wissen müssen, daß die Kurse schon überhöht waren. Aber dieses Thema wachsende Bankenmacht und mehr Wettbewerb im Kreditgewerbe wird nicht von der Tagesordnung verschwinden — dafür werden wir sorgen — , bevor hier eine vernünftige Regelung geschaffen worden ist.
Leider hat der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU, Herr Wissmann, schon wieder die Parole ausgegeben, der Gesetzgeber solle sich doch zurückhalten, und im übrigen sei kein Mißbrauch der Bankenmacht festzustellen. Das macht mich sehr betrübt. Er ist auch nicht im Saal, er redet nur über Bankenmacht, aber er will offenbar nichts tun.Ich sage Ihnen: Wir stellen seit Jahren fest, daß es Mißbrauch der Bankenmacht in diesem Lande gibt. Ich erinnere erstens an das Urteil des Bundesgerichtshofs zur Wertstellungspraxis. Auszahlungen, Einzahlungen werden zu verschiedenen Zeiten auf den Konten der Kunden gutgeschrieben. Trotz dieses höchstrichterlichen Urteils ist in der Kreditwirtschaft eine zufriedenstellende Praxis noch immer nicht erreicht.Da gibt es ferner den Skandal über die Berechnung der Hypothekenzinsen. Auch hier hat der Bundesgerichtshof entschieden, und auch hier gibt es noch immer viele Bürgerinnen und Bürger, die noch nicht zu ihrem Recht gekommen sind.Ich kenne im übrigen kleine und mittlere Unternehmen, die von den Banken keine Kredite mehr bekommen haben. Die sind dann zur Kreditgarantiegemeinschaft gegangen. Es wurde ihnen geholfen, sie leben noch heute. Aber viele Banken haben dazu beigetragen, daß kleine und mittlere Unternehmen in Konkurs gegangen sind.Aus meiner Sicht war es auch Mißbrauch der Banken z. B. gegenüber der Monopolkommission, als sie sich weigerten, entsprechende Daten über die Verflechtung zur Verfügung zu stellen.Der Punkt, den wir hier heute auch diskutieren, der das Faß gewissermaßen zum Überlaufen bringt, ist die Mammutfusion Daimler-Benz/MBB. Auch hieran haben die Banken entscheidend mitgewirkt und haben dazu beigetragen, daß Grundlagen unserer marktwirtschaftlichen Ordnung zerstört werden.Nein, die jetzige Kritik an der Bankenmacht haben sich die Banken selbst zuzuschreiben, und Herr Wissmann irrt sich, wenn er meint, daß den Banken heute konkret kein Mißbrauch vorgeworfen werden kann.
Auch die veröffentlichten Daten des Bundesverbandes der privaten Banken vernebeln mehr, als sie darlegen und veröffentlichen. Auf den Beteiligungsbesitz wird hingewiesen, aber darüber gibt es nur globale Zahlen, mit denen man nichts anfangen kann. Interessant wäre aus meiner Sicht: Welche Banken haben die 104 Aufsichtsräte von den 100 größten deutschen Industrieunternehmen, welche ganz konkret?Wichtig wäre auch zu wissen, nicht nur wer in welchem Aufsichtsrat sitzt, sondern auch welche Bankenvertreter in sonstigen Gremien oder Beiräten der deutschen Industrie sitzen. Wir sind mittlerweile eine Republik der Gremien geworden, und in diesen Gre-
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Dr. Jensmien, die laufend irgendwo kontrollieren, werden Kreativität und Innovation verdrängt. Das ist ein Übel unserer Zeit, und dem gilt es zu begegnen.
Wir wollen mit unserem Antrag gegen wachsende Bankenmacht und für mehr Wettbewerb im Kreditgewerbe erstens die Begrenzung des Beteiligungsbesitzes der Banken an Nicht-Banken, wie es so schön heißt, also vor allem an Industrieunternehmen. Das soll in verschiedenen Etappen und in angemessener Frist passieren. Das ist aus unserer Sicht ein Beitrag zur privatwirtschaftlichen Deregulierung, denn wir wollen eine dezentrale Wirtschaftsordnung mit möglichst vielen eigenständigen Entscheidungsträgern. Ich sage aber auch: In Sanierungsfällen und bei Emissionen gibt es selbstverständlich die Möglichkeit, daß auch mal größere Anteile gehalten werden. Nur müssen die Banken in angemessener Frist wieder auf die vorgesehene Grenze heruntergehen.
In einem Punkt muß ich Herrn Glos von der CSU recht geben: Es kann nicht sein, daß es neue Steuervergünstigungen für die Banken gibt. Das kommt für uns überhaupt nicht in Frage, das wäre gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen auch überhaupt nicht zu vertreten.
Wir wollen — zweitens —, meine Damen und Herren, die Zahl der Aufsichtsratsmandate der Banken in den großen Industrieunternehmen verringern, insbesondere in miteinander konkurrierenden Unternehmen. Ich weiß einigermaßen genau, wie es in den Aufsichtsräten aussieht. Die Bankenvertreter haben Interesse vor allem daran, Informationen zu bekommen, die sie hinterher ausschlachten. Sie sagen überhaupt nichts, aber sie wollen Informationen für ihre subjektiven Zwecke. Mittlerweile haben sich aus meiner Sicht die Fronten völlig verkehrt. Die Kapitalvertreter denken an die Rendite, aber die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten denken daran, daß mehr Dynamik in die Unternehmen hineinkommen muß: Wann wird wieder investiert? Wie kann man neue Märkte erschließen? Wo sind die Innovationen, die die Zukunft des Unternehmens sichern? Das sind die Fragen, die von den Arbeitnehmervertretern aufgeworfen werden, und das ist richtig so. Das muß auch so bleiben.Wir wollen — drittens — eine Beschränkung des Vollmachtstimmrechts. So wie das bisher geregelt ist, reicht es nicht aus. Wir wollen eine Einzelweisung festlegen: daß eine Bank das Stimmrecht nur dann in Anspruch nehmen kann, wenn die Vollmacht konkret zu jedem Tagesordnungspunkt erteilt worden ist. Ich glaube auch, daß es sinnvoll ist, zu überlegen, ob nicht der Aktionär sein Stimmrecht gegenüber der Gesellschaft direkt ausüben darf. Das ist in den Vereinigten Staaten sogar üblich.Schließlich wird das Stimmrecht zur Zeit von den Banken kostenlos ausgeübt. Warum soll es dafür eigentlich keine Gebühren geben? Zur Zeit wird die Stimmrechtsausübung subventioniert, und zwar möglicherweise durch die Kontoführungsgebühren der Arbeitnehmer. Wenn wir eine Gebühr festlegen, entsteht möglicherweise ein Markt für Anbieter, dieses Stimmrecht auszuüben. Hier gibt es manches zu reformieren, was sinnvoll ist.Wir wollen schließlich — viertens — mehr Wettbewerb. Dazu muß der § 102 GWB gestrichen werden, und zwar ganz. Wenn die Banken von Wettbewerb reden, ist das aus meiner Sicht nur die ideologische Absicherung ihrer eigenen Macht. Sie wissen nämlich gar nicht, was funktionsfähiger Wettbewerb bedeutet. Ein Handelsunternehmen weiß vielleicht darüber Bescheid. Aber die Transparenz für Bankkunden ist immer noch ausgesprochen gering. Die Mobilität der Kreditkunden ist im allgemeinen noch geringer. Ich zitiere Helmut Arndt, der sich lange mit dem Thema Bankenmacht befaßt hat und der viel Kenntnis hat, einen emeritierten Berliner Ordinarius. Er schreibt 1977 in seinem Buch:Mit zunehmender Verflechtung zwischen Banken einerseits und Industrie und Handel andererseits werden elementare Voraussetzungen für das Funktionieren der Marktwirtschaft in Frage gestellt — nämlich die Selbständigkeit der Unternehmen und der Wille zum Wettbewerb!Die Banken verweisen gerne auf die Weltmarktsituation. Aber die Banken aus Japan oder aus den Vereinigten Staaten, mit denen sie sich vergleichen, haben diese Reglementierungen schon lange. Sie sind größer als unsere Banken. Aber sie sind auf diesem Gebiet eingeengt, wie auch wir es wollen. Im übrigen ist Größe an sich nicht das Entscheidende, sondern es kommt auf Effektivität an, auf Leistungsfähigkeit, auf Innovationsfähigkeit. Darauf sollten sie einmal mehr achten.Ich freue mich, daß die Liberalen dieses Thema mittlerweile auch aufgegriffen haben. Wir sind für jeden Mitfahrer sehr dankbar. Wir hoffen, wir kommen zu vernünftigen Regelungen. Leider meint vor allem die CDU, daß sie sich die Aussagen des Bundesverbandes Deutscher Banken zu eigen machen muß. Das zeugt aus meiner Sicht von wenig Verantwortung gegenüber der gesamtwirtschaftlichen Situation.Ich möchte noch einmal klarstellen: Wir sind für das bestehende Universalbankensystem. Hieran wird durch unseren Antrag grundlegend nichts geändert. Wir sind aber auch dringend für mehr Eigeninitiative und für mehr Dezentralität der wirtschaftlichen Entscheidungen. Das wollen wir erreichen. Das ist auch notwendig.
Unsere Pflicht ist es, sich verstärkt denen entgegenzustellen, die über viel, über zuviel Macht verfügen. Gerade an diesem Problem, das wir heute diskutieren, zeigt sich, ob wir noch in der Lage sind, die Entwicklung unserer Gesellschaft zu gestalten. Hier zeigt sich auch, wie stark der Einfluß der Lobby auf den Deutschen Bundestag bereits geworden ist. Wir wollen die
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Dr. JensBegrenzung der Bankenmacht — und auch der Macht der Versicherungen, füge ich hinzu. Wir wollen eine sachgerechte Lösung. Das Thema kann nicht übers Knie gebrochen werden. Ich gehe davon aus, daß wir zu diesem Thema im Wirtschaftsausschuß, möglicherweise zusammen mit dem Finanzausschuß ein Anhörverfahren machen. Ich sage: Am Anfang der kommenden Legislaturperiode müssen vernünftige Regelungen geschaffen werden.
Ich verstehe ja, daß sich Politiker, der CDU vor allem, hinstellen und von der DDR Reformen fordern — auch ich tue das zum Teil — , aber, meine Damen und Herren, wir können von anderen nur Reformen fordern, wenn auch wir selbst bereit sind, unsere Situation immer zu überprüfen, und auch bereit sind, hier Reformen durchzuführen.
Wir sind für mehr Reformen. Wir werden auch in Zukunft, ab 1990, die Weichen neu stellen, und zwar in Richtung auf mehr Umweltschutz, mehr soziale Gerechtigkeit. Wir werden für die kleinen und mittleren Unternehmen mehr tun. Und wir werden gegen zunehmende Konzentration kämpfen.Ich erlaube mir zum Schluß noch eine kurze Bemerkung zum Antrag auf Drucksache 11/5232: Wir lehnen die Mammutfusion Daimler-Benz/Messerschmitt-Bölkow-Blohm ab. Ich appelliere noch einmal an die Länder Hamburg und Bremen vor allem, aber auch Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Sie sollten gesamtwirtschaftliche Verantwortung zeigen und diese Fusion noch verhindern. Die Genehmigung dieser Mammutfusion Daimler-Benz/MBB ist ein schwerwiegender gesamtwirtschaftlicher Fehler. Wir Sozialdemokraten mißbilligen diese Fehlentscheidung von Bundeswirtschaftsminister Haussmann.
Wir reichen nicht unsere Hand dafür, wenn diese konservative Bundesregierung bewährte Grundsätze unserer wirtschaftlichen Ordnung gezielt zerstört.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Spilker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute nicht nur den Antrag der SPD gegen wachsende Bankenmacht und für mehr Wettbewerb im Kreditgewerbe, sondern auch den nachgeschobenen Antrag der GRÜNEN über die Demokratisierung der Wirtschaft und über die Beschränkung der Bankenmacht.Lieber Herr Jens, Sie stellen das alles als so aktuell und wichtig dar. Das veranlaßt mich, doch einmal darauf hinzuweisen, daß vor vielen Jahren — es war im Jahre 1974 — der ehemalige Finanzminister Dr. Apel eine Sachverständigenkommission berufen hat, die immerhin fünf Jahre brauchte, um dann 1979 dem damaligen Finanzminister Matthöfer das Ergebnis vorzulegen. Man hatte sich damals in der Kommission mehrheitlich auf eine Begrenzung des Anteilsbesitzes von Banken an Unternehmen — direkt und indirekt — auf 25 % plus eine Aktie festgelegt. Das wurde empfohlen, aber es wurde nicht realisiert.
Und seit der damaligen Zeit ist das heute Ihr erster Antrag dazu. Sie hatten aber in der Zwischenzeit schon viele Möglichkeiten, hier etwas Neues vorzuschlagen. Das haben Sie aber nicht getan.
Der Ordnung halber möchte ich aber auch noch etwas — ganz außerhalb meines Redezusammenhangs — zurückweisen dürfen: Sie unterscheiden — in der Tendenz sehr schnell erkennbar — zwischen Aufsichtsräten von der Kapitalseite und solchen von der Arbeitnehmerseite. Ich war immer und bin der Meinung, daß die Pflichten aller Aufsichtsräte die gleichen sind. Im übrigen ist es legitim, wenn diese auch auf ihre Vergütung achten. Das gilt auch für die Arbeitnehmervertreter. Da ist ihr gutes Recht.
Völlig unbestritten ist, daß in einer marktwirtschaftlichen Ordnung die Begrenzung wirtschaftlicher Macht und damit auch der Macht der Banken zu den wichtigen Aufgaben der Politik zählt. Diese Diskussion ist immer zu führen, das wird in unseren Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen auch praktiziert, mal mit Anlässen, mal ohne. Es ist eine ordnungspolitische Frage, die es natürlich nicht nur bei Banken gibt. Dieser haben wir uns ständig zu stellen. Diese Diskussion wird ganz unabhängig von aktuellen Anlässen geführt, um etwaige Befürchtungen — und das ist doch das Wichtige — von Menschen vor Machtmißbrauch zu zerstreuen. Das ist der Sinn dieser Diskussion, wenn ich von Wettbewerbsfragen im Augenblick einmal absehe. Damit wird sich mein Kollege Sprung befassen.Natürlich kann niemand ausschließen — das gilt für alle Bereiche — , daß es durch menschliches Fehlverhalten zu Machtmißbrauch im allgemeinen kommen kann. Das haben wir erlebt. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kenne keine Gesetzgebung, die menschliches Fehlverhalten, das ja hin und wieder auch bis ins Kriminelle geht, für alle Zeiten ausschalten könnte.Die wettbewerbs- und ordnungspolitische Problematik wirtschaftlicher Macht und damit auch der Macht der Banken ergibt sich vornehmlich aus deren Einflußmöglichkeiten — das wissen wir doch — über den Anteilsbesitz aus der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten sowie durch ihre Aufgaben als Kreditgeber. Abgesehen davon, daß ich noch nie gelernt habe, daß Macht an sich etwas Schlechtes ist, sondern immer noch der Überzeugung bin, daß Macht
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Spilkeretwas Notwendiges ist, bleibt es bei meiner Feststellung, daß es unsere ständige Aufgabe ist, Machtmißbrauch zu verhindern, übrigens weit über wirtschaftliche Bereiche hinaus.Unabhängig vom tatsächlichen Mißbrauch wirtschaftlicher Macht im Einzelfall — ich füge nochmals hinzu, daß es Fälle dieser Art, was Institutionen angeht, nicht gibt — können Einflußmöglichkeiten der Banken — das ist auch unbestritten — auch Gefahren für den Wettbewerb mit sich bringen. Dieser Diskussion müssen und wollen wir uns stellen. Dieser Diskussion haben sich auch die Banken zu stellen.Aber einer solchen Diskussion über wirtschaftliche Einflußmöglichkeiten müssen sich dann auch andere Bereiche der Industrie anschließen, Bereiche des Handels, aber auch Organisationen oder Institutionen aus anderen Bereichen. Ich mache gar kein Hehl daraus, daß ich in diesem Zusammenhang auch an den Deutschen Gewerkschaftsbund denke. Auch hier gibt es Macht, notwendige Macht, aber auch die ständige Frage der Verhinderung des Machtmißbrauchs.In der aktuellen Diskussion über den Antrag der SPD geht es um folgende Bereiche: Unternehmensbeteiligungen, Stimmrechte, mehr Transparenz über die Ausübung der Aufsichtsratsmandate. Wir sind bereit, ernsthafte Überlegungen zur Begrenzung des Rankeneinflusses mit zu diskutieren. Aber wir sollten die sehr komplexen ökonomischen und auch verfassungsrechtlichen Fragen nicht übersehen und sie beachten. Wir werden diese Fragen offen, unvoreingenommen, vernünftig und in Ruhe diskutieren.
Im übrigen existieren einige Regelungen im europäischen Bereich, die wir nach meiner Ansicht ebenfalls umsetzen müssen. Das heißt, daß Schnellschüsse bei diesem Thema jetzt nicht angebracht sind. Sie bergen die Gefahr in sich, daß man — jedenfalls nach meiner Meinung — etwas tut, was nicht notwendig ist.Herr Kollege Jens, ich darf noch auf etwas hinweisen, was Sie vielleicht doch überschätzen, ich meine die Beteiligungen der Banken. Wie hoch ist denn eigentlich diese Quote? Es gibt eine Zusammenfassung des Bankenverbandes, aus dem September dieses Jahres, also aus dem letzten Monat, in der festgestellt wird, daß die Beteiligungsquote der zehn größten Privatbanken an deutschen Unternehmen des Handels und der Industrie 0,6 % beträgt. Vor einigen Jahren war diese Zahl etwas anders. Da waren es 1,3 %. Das zeigt, daß hier eine rückläufige Bewegung im Gange ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Darf ich vielleicht den Gedanken gerade noch zu Ende bringen? —
Darüber hinaus ist es unbestritten — ob man es hören will oder nicht — , daß manche oder gar viele Beteiligungen aus Sanierungsfällen stammen. Bei der Diskussion tut es mir geradezu weh, wenn man auf der einen Seite im Extremfall fordert, den Banken jede Beteiligung zu untersagen, auf der anderen Seite aber nach ihnen ruft, wenn etwas passiert. Dann sagt man: So, ihr Banken, ihr habt dazustehen und zu sanieren. Das will mir nicht in meinen Kopf.
Herr Jens, damit komme ich noch einmal auf Ihren Hinweis zurück, was die Börsenentwicklung in diesen Tagen angeht. Es ist doch wirklich überflüssig, die heutige Diskussion zu benutzen, um fadenscheinige Argumente gegen die Macht der Banken einzuführen.
— Einen Moment; wenn die Börse hoch ist, habe ich noch nie von Ihnen ein Wort darüber gehört, daß das ein Erfolg der Banken oder sogar der Erfolg der Bundesregierung ist. Die Überlegungen, die Sie vorhin in bezug auf die Schuld der Bundesregierung und der Banken zitierten, halte ich — so muß ich sagen — nun wirklich für überflüssig wie einen Kropf.
Nun gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Spilker?
Ja.
Herr Spilker, könnten Sie mir denn darin folgen, daß es völlig uninteressant ist, ob alle Banken an einer bestimmten Zahl von Industrieunternehmen einen Anteil von 0,9 To haben? Diese Ziffer sagt doch überhaupt nichts aus, sondern entscheidend ist, welche Banken welchen Anteil an einzelnen Industrieunternehmen haben. Könnten Sie mir auch darin folgen, daß es ja nicht nur um diese Sache geht, sondern daß es um die Kumulierung der Einflüsse — Beteiligungen, Depotstimmrecht und Aufsichtsräte — geht, so daß schließlich überhaupt kein Wettbewerb mehr vorhanden ist? Das ist doch der entscheidende Punkt.
— Ja, natürlich meine ich auch die WestLB. Was habt ihr denn?
Lieber Herr Kollege Jens, ich komme gleich noch auf diese Frage zurück.
— Es wurde mir angerechnet. Ich glaube, Sie treffen hier nicht die Entscheidungen, sondern das macht immer noch der amtierende Präsident in diesem Hause.Lieber Herr Kollege Jens, diese Kumulation, von der Sie sprachen, ist mir natürlich bekannt. Es ist richtig, daß den Banken dadurch mehr Macht zuwächst. Aber das allein ist nicht das Problem.Aber eines möchte ich Ihnen doch sagen dürfen: Wenn Sie sich zur Universalbank — diese hat sich doch wohl bewährt — bekennen,
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Spilkerdann würde ich Ihnen eigentlich raten, einmal die positiven Seiten der Entwicklungen dieses Systems zu sehen und hier nicht etwas zu verteufeln, was sich seit Jahrzehnten im Gegensatz zu anderen Ordnungen bewährt hat.
Im übrigen darf ich Sie noch auf folgendes hinweisen — auch damit bin ich noch einmal bei der Antwort — : Es kann natürlich gute, sachliche und vernünftige Gründe für eine Begrenzung von Bankenbeteiligungen geben. Darüber werden wir zu sprechen haben.
— Wenn Sie nicht immer dazwischenreden würden, hätte man es einfacher. Aber ich bin bereit, auch darauf einzugehen. Nur, die Zeit drängt hier.
Ich muß die Uhr jetzt wieder in Gang setzen, Herr Abgeordneter Spilker. Sonst bekomme ich doch arg viel Ärger.
Es ist in der Tat ein Problem
— Herr Präsident, ich höre dann auch auf —, daß man in wenigen Minuten ein so komplexes Thema behandeln muß und daß man sich, weil das Haus dazu herausfordert, auch noch mit Zwischenrufen befaßt. Ein solches Frage-Antwort-Spiel ist leider in zehn Minuten nicht machbar.
Herr Jens, damit ich Sie ganz zufriedenstelle, damit ich Ihnen auch eine Freude mache und vielleicht auch Hoffnung gebe — ich weiß nicht, wie Sie es auffassen —, darf ich Ihnen abschließend dies sagen: Die verschiedenen Betrachtungen der Gesamtproblematik durch Sie und mich sind nichts Überraschendes. Halten Sie es denn eigentlich für möglich, daß Sozialdemokraten und Marktwirtschaftler in ordnungspolitischen Grundsatzfragen übereinstimmen? Ich halte das nicht für möglich. Wenn Sie einmal an Ihre eigenen Versuche denken, den Vorwahlkampf langsam vorzubereiten, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß es selbst bei Ihnen keine Übereinstimmung gibt.
— Lieber Herr Roth, wenn ich Frau Matthäus-Maier und Herrn Lafontaine höre, dann möchte ich Ihnen empfehlen: Bringen Sie doch erst einmal Ordnung in Ihre eigene Position. Dann können wir darüber in Ruhe weiterdiskutieren.
Damit Sie nicht beleidigt sind, daß ich jemanden vergessen habe: Ich könnte die Zahl dieser Pärchen beliebig vermehren.
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Den Anspruch, den gerade der Kollege Spilker für die CDU/CSU-Fraktion offensichtlich formuliert hat, daß sie nämlich die Wächterin der Marktwirtschaft sei, ist bei der Position, die Sie zu der Rolle und der Stellung der Banken formuliert haben, reinste Makulatur. Um direkt darauf einzugehen, möchte ich mit einem Fazit dessen beginnen, was ich eigentlich entwickeln wollte: Die wirtschaftliche und politische Stellung und Macht der Großbanken — über die Großbanken reden wir heute — stellen eine doppelte Gefährdung dar.Erstens. Die Großbanken sind eine Gefahr für eine funktionierende Marktwirtschaft, weil sie deren Funktionsprinzipien, nämlich die Funktionsprinzipien des Wettbewerbs, teilweise bzw. weitgehend außer Kraft setzen. Die Großbanken, allen voran die Deutsche Bank, stellen Quasimonopole mit Quasimonopolgewinnen dar.Zweitens. Die Großbanken, wiederum allen voran die Deutsche Bank, sind ein Staat im Staate. Sie sind eine fünfte Gewalt — neben der Legislative, der Exekutive, der Judikative und den Medien, die allgemein zu Recht als vierte Gewalt anerkannt werden —, die regulierend in die politische Demokratie eingreift, ohne selbst kontrolliert zu werden. Im Gegenteil, die Großbanken kontrollieren sich weitgehend selbst; ich werde das nachher belegen.Wenn Sie angesichts dieser Tatsachen, Herr Spilker, behaupten, Sie seien, im Gegensatz zur SPD — da muß ich die SPD mit ihrem Antrag vollkommen in Schutz nehmen — als auch zu den GRÜNEN, die Verfechter der Marktwirtschaft, stellen Sie die Tatsachen auf den Kopf.
Indem Sie faktisch die Macht der Großbanken legitimieren — da gibt es ja auch Differenzen zwischen CDU/CSU einerseits und FDP andererseits; ich bin gespannt auf das, was gleich Herr Lambsdorff zu diesem Thema sagen wird — , legitimieren Sie die Außerkraftsetzung eines funktionierenden Wettbewerbs.Die Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre zeigt eine ungleiche Entwicklung zwischen dem Bankensektor auf der einen Seite und dem Nichtbankensektor, Industrie und Handel, auf der anderen Seite. Während wir insbesondere in der Zeit von 1979 bis 1982 einen dramatischen Konjunktureinbruch und seitdem eine stabile Wirtschaftswachstumsentwicklung hatten, über deren ökologische Probleme ich jetzt hier nicht sprechen will, zeigt sich im Bankenbereich in den letzten zehn Jahren, ungetrübt von dem Konjunktureinbruch um die Jahrzehntwende von 1979 bis 1982, eine ungebrochene Gewinnentwicklung — teilweise mit prozentualen Gewinnerhöhungen von 20 bis 50 %. Bei der Deutschen Bank gab es in mehreren Jahren jährliche Gewinnsteigerungen von über 50 %; im letzten Geschäftsjahr waren es 55 %.Zwei Gründe sind für diese ungleiche Entwicklung im Bankensektor einerseits und Nichtbankensektor andererseits maßgeblich. Zum einen dürfen die Banken fast alles, was sie wollen. Zweitens sind sie durch § 102 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom Kartellverbot bei Preisabsprachen — in die-
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Stratmannsem Fall bei Zinsabsprachen — weitgehend ausgenommen.
— Lassen Sie mich gerade den Zusammenhang darstellen, Herr Wissmann.Dies führt zum einen dazu, daß die Banken im Rahmen des bei uns herrschenden Universalbanksystems— was ich ausgesprochen kritisch sehe, im Unterschied zu Ihnen, Herr Jens — aus dem Kreditgeschäft erhebliche Gewinne ziehen.
Selbst die Bundesbankberichte in vergangenen Jahren haben darauf hingewiesen, daß die Großbanken— nicht nur die Großbanken, sondern auch die Sparkassen, auch die öffentlich-rechtlichen Banken —
erhebliche Zinsgewinne daraus ziehen, daß sie die Leitzinsen der Bundesbank an ihre Kunden bzw. an ihre Kreditnehmer nicht entsprechend weitergeben. Zinserhöhungen werden in der Weise weitergegeben, daß die Großbanken noch einmal Zinsaufschläge draufschlagen und dadurch Sondergewinne erzielen. Zinssenkungen seitens der Bundesbank werden entweder gar nicht oder — nach Aussagen der Bundesbank — zeitlich erheblich verzögert an die Sparkunden weitergegeben. Das kumuliert wiederum Extraprofite bei den Großbanken.
Zum Universalbanksystem gehört ebenfalls das Wertpapiergeschäft. Hier hat die Deutsche Bank die dominierende Rolle. Aus dem Wertpapiergeschäft werden Milliardengewinne gezogen. So hat die Deutsche Bank bei der Umgruppierung des Flick-Konzerns Flick-Aktien an der Börse eingeführt und allein aus diesem einen Geschäft einen Gewinn von 2 Milliarden DM gemacht.Wenn wir allerdings die überhöhten Gewinne der Großbanken auch aus dem Wertpapiergeschäft kritisieren, muß — da teile ich den Zwischenruf von vorhin gegenüber dem Kollegen Jens — auch über die Westdeutsche Landesbank gesprochen werden. Derzeit steht die Großfusion Preussag und Salzgitter unter der Konsortialführerschaft der Westdeutschen Landesbank
an. Da will sich die Westdeutsche Landesbank, wesentlich kontrolliert von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen — absolute SPD-Mehrheit —, an der Privatisierung des Salzgitter-Konzerns beteiligen und an der Börse wiederum erhebliche Extraprofite realisieren.Das steht allerdings, Herr Jens, zum einen in schreiendem Widerspruch zu der Legitimation des Universalbanksystems, die Sie hier ja soeben vertreten haben. Und es steht zum anderen ebenfalls im Widerspruch zu dem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, in dem Sie die Reduzierung des Aktienbesitzes von Banken an Nicht-Banken auf 5 % fordern. Die Westdeutsche Landesbank aber hält heute mehr als 40 % an der Preussag und will an dem neuen Konzernkonglomerat mehr als 25 %, also mehr als die Sperrminorität, halten.
Das steht in schreiendem Widerspruch zu Ihrem eigenen Antrag, ist allerdings die Politik der Westdeutschen Landesbank und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Wir werden die Ernsthaftigkeit Ihres Antrags genau an diesem anstehenden Fusionsfall messen.
Weitere Mechanismen beim Aufbau von Bankenmacht sind die Aktienbeteiligung von Banken an Nichtbanken — ich kann das im Detail aus Zeitgründen nicht ausführen — , das Depotstimmrecht und die personellen Verflechtungen der Banken via Aufsichtsratsposten mit Nichtbanken.Ein entscheidender Faktor ist die Kumulation dieser verschiedenen Machtmöglichkeiten: Universalbanksystem, Aktienbeteiligung, Depotstimmrecht und personelle Verflechtung über Aufsichtsräte. Die Kumulation dieser Mechanismen führt dazu, daß wir es bei den Großbanken mit Quasimonopolen zu tun haben, gestützt durch die Ausnahmeregelung im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen.Um gegen diese Quasimonopolstellung der Banken vorzugehen, haben wir einen eigenständigen Antrag vorgelegt, der sich gegenüber dem Antrag der SPD dadurch auszeichnet, daß er in der Kontrolle und Beschränkung der Bankenmacht wesentlich weiter geht als der Antrag der SPD, den wir in vielen Punkten für halbherzig halten, wenn auch für einen Schritt in die richtige Richtung. Wir fordern einen demokratischen Umbau des Kreditsystems und als einen ersten Schritt die Beschränkung der Bankenmacht.Ich nenne die wesentlichen Punkte unseres Antrages: Wir wollen mehr Wettbewerb im Bankensektor. Herr Kollege Spilker: Wir GRÜNEN fordern mehr Marktwirtschaft im Bankensektor.
Dazu müssen die Privilegien der Banken, wie sie in § 102 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen abgesichert sind, fallen. Der § 102 muß ersatzlos gestrichen werden.Wir fordern die Aufnahme eines komplexen Indikators für Wirtschaftsmacht in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Ein solcher Indikator für Wirtschaftsmacht soll die Untersagungsschwellen bei Fusionen senken. Und es soll ein neuer Tatbestand in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen eingeführt werden, nämlich das Instrument der Entflechtung.
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StratmannWir fordern die Bundesregierung gerade unter dem Entflechtungsgesichtspunkt auf, Konzepte zur Entflechtung der Deutschen Bank vorzulegen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Deutsche Bank und die anderen Großbanken zu entflechten: zum einen in regionale Einheiten, ähnlich wie wir bei den öffentlich-rechtlichen Banken das Regionalprinzip haben.Zum anderen denken wir GRÜNEN darüber nach — wir sind da in einer offenen Diskussion — , ob nicht das Universalbanksystem durch ein Trendbanksystem abgelöst werden muß, wie wir es in den USA ja längst haben.
Das heißt, die argumentlose Legitimation des Universalbanksystems, Herr Jens, die Sie hier vertreten haben, kann ich angesichts der Bankenmacht und der Kumulation von Extraprofiten aus dem Wertpapiergeschäft und aus dem Kreditgeschäft überhaupt nicht verstehen.Wir fordern weiter, daß der Anteilsbesitz von Banken an Nichtbanken auf null gesenkt wird. Die 5 %ige Reduzierung, Herr Kollege Jens, die Ihr Antrag vorschlägt, reicht überhaupt nicht aus, um die verschiedenen Querverflechtungen über Aktienbesitz auch bei 5 % zu reduzieren.Wir fordern weiterhin, daß Versicherungen keinen Erwerb und Besitz von Aktienanteilen an Banken haben können. Die Allianz-Versicherung hat durch hohe Aktienanteile an der Bayerischen Hypothekenbank, an der Commerzbank und an der Dresdner Bank eine Verflechtungsmacht in diese Banken hinein, daß wir bei der Allianz-Versicherung fast von einer Quasi-bank sprechen können.Wir fordern eine aktienrechtliche Reform. Aufsichtsratsmandate von Banken an Nichtbanken dürfen gar nicht zugelassen werden. Auch die personelle Beschränkung, Herr Jens, die Sie vorschlagen, reicht überhaupt nicht aus, um das Problem der personellen Verflechtung in den Griff zu bekommen.Wir fordern die Abschaffung des Depotstimmrechts, d. h. der Übertragung des Stimmrechts auf Banken. Wir beschränken das ganz konkret auf die Banken.Wir fordern die Einführung eines Briefwahlrechts. Herr Jens, was Sie in Ihrem Antrag als Prüfauftrag vorschlagen, halten wir für einen richtigen Schritt. Wir haben uns dazu entschieden, daß die Briefwahl von Aktieninhabern direkt an die Adresse der Kapitalgesellschaften mit der Auflage möglich ist, daß es sich um Einzelanweisungen, also nicht um Pauschalvollmachten handelt.Wir fordern schließlich eine demokratische Ausweitung der Bankenaufsicht. Die Kompetenzen des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen müssen insbesondere unter dem Gesichtspunkt erweitert werden, daß Interessen der Verbraucher und Verbraucherinnen gerade auch bei der Frage der Zinspolitik gegenüber den Bankenkunden stärker zur Geltung kommen.Wir fordern ferner eine staatliche, von den Banken unabhängige Börsenaufsicht, um das Wertpapiergeschäft und die enormen Extraprofite dort stärker zu kontrollieren und den Selbstbedienungsladen der Großbanken, der sich heute Selbstverwaltung nennt, zu ersetzen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir führen hier eine unterkühlte und ruhige Debatte zu diesem Thema; das ist auch gut. Täusche man sich nicht über das Interesse draußen! Was ich besonders bemerkenswert, aber auch besonders besorgniserregend finde, sind die Zuschriften, die da lauten: „Es ist höchste Zeit, daß Sie da etwas unternehmen; aber sagen Sie bitte nicht, schreiben Sie bitte nicht und zitieren Sie bitte nicht, daß ich Ihnen das gesagt habe." Das kommt häufiger vor, als man sich das vorstellt, und zwar aus mittelständischen Kreisen und selbst aus Kreisen der großen Industrie.
Im übrigen geht es nicht nur um ein Problem der Großbanken — Herr Stratmann, Sie haben die WestLB gleich eingeführt —, es geht schon ein bißchen darüber hinaus.
Wenn man den Verlautbarungen des Bundesverbandes deutscher Banken folgte, dann allerdings gibt es das Problem der Bankenmacht nicht. Nach Meinung des Bundesverbandes ist die Diskussion, die wir ja schon lange führen, von wenig Sachkenntnis getrübt, und sie bildet lediglich ein zyklisches Phänomen. Volkswirtschaftliche Gesichtspunkte und internationale Zusammenhänge würden nicht zur Kenntnis genommen, und mit der Realität habe dies alles nichts zu tun.Führen wir also eine Phantomdiskussion? Machen wir hier nur eine Pflichtübung, weil die SPD auf einen fahrenden Zug aufgesprungen ist, der schon lange fährt,
und einen Antrag, der allerdings überzogen und unvollständig ist, gestellt hat, zu dem sie vor zehn Jahren nicht den Mut gehabt hat? Da hat das Herr Jens allerdings noch nicht durch die Brille von Herrn Roth sehen können.
Sind diejenigen, die sich besorgt zum Thema Bankenmacht äußern — Herr Spilker, hören Sie bitte gut zu —, alle Scharlatane : die Monopolkommission, der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, die Professoren Albach und Engels, die
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Dr. Graf LambsdorffJournalisten Barbier oder Herlt? Oder sind das Marktwirtschaftler?So, wie die Banken mit der Kritik umgehen, machen sie es sich zu einfach. Das Ganze ist keine fixe Idee irgendwelcher Spinner, die sich in Hinterstuben, abgehoben vom Boden der Realität, etwas ausdenken, und es ist auch keine fixe Idee der FDP oder ihres Vorsitzenden.Folglich hat die Bundesregierung — zugegebenermaßen auf unser Drängen — eine Arbeitsgruppe „Bankenmacht" eingesetzt, und diese Koalitionsgruppe hat übereinstimmend festgestellt, daß die ordnungs- und wettbewerbspolitische Problematik der Bankenmacht vor allem in der Kumulation von Einflußmöglichkeiten liegt, die sich aus dem Anteilsbesitz, der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten, der Ausübung des Depotstimmrechts und der Funktion als Kreditgeber und Beschaffer von Eigenkapital ergibt.Das Universalbankensystem abzuschaffen ist Unsinn. In der ganzen Welt marschiert das System in Richtung Universalbanken. Das Vollmachtstimmrecht abzuschaffen ist ebenfalls Unsinn, weil das zu ganz miesen Präsenzen auf den Hauptversammlungen führen würde. Das hilft uns nicht.Diese vielfältigen Einflußmöglichkeiten, die wir übereinstimmend festgestellt haben — die in der Tat bestehen und die keiner negieren kann — , geben den Banken Informationen, über die andere im Wirtschaftsgeschehen nicht verfügen. Die Banken legen dar, sie hätten ihre Macht nicht mißbraucht; das habe schon die Studienkommission 1979 festgestellt, und auch seitdem sei kein Mißbrauch getrieben und nachgewiesen worden. Das ist so richtig. Aber mit dem Argument entkräftet man die Problematik nicht; denn der Kern des Problems liegt nicht darin, daß man ein Kind in den Brunnen fallen läßt, um es dann herauszuholen, sondern der Kern der Problematik liegt in der Vorsorge. Es ist nicht Aufgabe der Wettbewerbs- und Ordungspolitik, sich erst dann Gedanken über Bankenmacht und Erhaltung von Wettbewerb zu machen, wenn Mißstände Wirklichkeit geworden sind. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, Sorge dafür zu tragen, daß die Funktionsmechanismen der marktwirtschaftlichen Ordnung erhalten bleiben.
Die Frage der Bankenmacht ist eine Frage solcher Funktionsmechanismen. Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen wird verzerrt, wenn die Banken auf Investitionsentscheidungen Einfluß nehmen, vor allem wenn dies in ansonsten miteinander konkurrierenden Unternehmen geschieht. Der Wettbewerb der Unternehmen wird dadurch beeinträchtigt, daß die Banken als Hausbanken ihre Unternehmen mit besonders günstigen oder mit besonders ungünstigen Konditionen ausstatten. Es sind auch die Fragen der Unternehmensfinanzierung berührt. Vor allem nehmen die Banken Einfluß auf die Wahl von Eigenkapital- oder Fremdkapitalfinanzierung, und das wiederum hat Rückwirkungen auf die Eigentümerstrukturen. Schließlich wird der Wettbewerb der Banken untereinander beeinflußt, vor allem dadurch, daß Unternehmen in ihrer Nachfrage nach Finanzdienstleistungen an bestimmte Banken gebunden werden. Auch da sind wir wieder bei der Hausbankenproblematik.Die wettbewerbspolitische Problematik der Bankenmacht hat sich doch in aller Schärfe bei der Fusion von Daimler-Benz und MBB, die ja heute auch auf der Tagesordnung steht, gestellt. Darauf hat die Monopolkommission zu Recht hingewiesen. Sie wissen, die FDP hat diesem Zusammenschlußvorhaben von Anfang an — vor allem aus ordnungspolitischen Gründen — skeptisch gegenübergestanden.
Der Bundeswirtschaftsminister hat eine Entscheidung getroffen, die aus einer verfahrenen Situation das Beste gemacht hat. Gleichwohl bleiben ordnungspolitische Bedenken bestehen.
Meine Damen und Herren, die Einflußnahme der Banken muß nicht unbedingt gezielt wahrgenommen werden. Es reicht, daß die Banken bei der Wahrnehmung der unterschiedlichen Funktionen ihre bankspezifischen Interessen zur Geltung bringen. Und wer wird denn bezweifeln, daß sie das tun? Nur vollzieht sich die Einflußnahme der Banken nicht mit Paukenschlägen vor der Öffentlichkeit, sondern in allmählichen Entscheidungsprozessen in stillen Verhandlungszimmern. Da ist es kein Wunder, daß der empirische Nachweis solcher Verhaltensweisen gar nicht oder schwer möglich ist. Ich bin selber 16 Jahre lang im Bankgeschäft tätig gewesen, davon allein mehr als zehn Jahre im Wertpapiergeschäft; ich rede hier nicht wie der Blinde von der Farbe.Die Banken argumentieren, daß zwischen ihnen intensiver Wettbewerb besteht, der ihre Macht eingrenzt. Generell ist das sicher richtig. Aber manchmal muß man an dieser These auch zweifeln. Ich denke an die leidige Frage der Wertstellungspraxis, wo die Banken erst durch ein Urteil des BGH gezwungen werden mußten, ihre Verzögerungspraxis aufzugeben; und dann haben sie, wie bekannt, auch noch sehr langsam reagiert. Ich denke an die Modalitäten der Zinsberechnung, wo auch erst der BGH die Banken dazu brachte, ihre die Kunden diskriminierende Praxis abzustellen. Ich denke an den mangelnden Wettbewerb im Konsortialgeschäft oder an die langsame Anpassung der Habenzinsen in der jüngsten Zinssteigerungsrunde. Ist das in Ordnung?In der Diskussion wird oft das Argument gebraucht, daß eine Rückführung des Anteilsbesitzes die deutschen Banken im internationalen Wettbewerb schwächen würde. Wer so argumentiert, vergleicht Äpfel mit Birnen. Natürlich will niemand, daß die deutschen Banken im internationalen Wettbewerb geschwächt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Aber brauchen unsere Banken Anteilsbesitz, um international wettbewerbsfähig zu sein? Sie sollen Bankgeschäft betreiben und nicht Stahlkocher, Automobilbauer oder Luft- und Raumfahrer sein. In Japan, in den USA oder in anderen EG-Ländern haben die Banken keinen dauerhaften Anteilsbesitz, und trotzdem sind sie in hohem Maße wettbewerbsfähig und sind, jedenfalls
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Dr. Graf Lambsdorffzum Teil, in ganz andere Größenordnungen als deutsche Banken hineingewachsen.Hier werden Dinge miteinander vermischt, die nichts miteinander zu tun haben. Aber leider merken das nur wenige.
Viel wichtiger für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Banken ist es, daß der Finanzplatz attraktiv ist, daß sie einen kostengünstigen und modernen Bankservice leisten, daß sie sich in der internationalen Szene flexibel den sich wandelnden Verhältnissen anpassen. Hier sind die Schularbeiten zu machen.Für die Regierung heißt das ohne Frage, daß z. B. die Börsenumsatzsteuer endlich abgeschafft wird, und zwar so schnell wie möglich.
Aber auch die Banken haben alles zu tun, damit die Finanzdienstleistungen gut und kostengünstig bei uns sind. Steuern abschaffen und Gebühren behalten oder erhöhen — das ist auch nicht das Wahre.
Ob das immer geschieht — daran kann man sehr seine Zweifel haben. Jedenfalls macht z. B. das Querfeuer, das von deutschen Banken — genauer gesagt: von einer Bank — gegen die Entwicklung eines effizienten und transparenten Berichts- und Abrechnungssystems am Eurobond-Markt abgefeuert wird, mißtrauisch, zumal wenn man weiß, daß diese Bank dabei sehr gut verdient.Wir haben das Rennen um den Finanzplatz Nummer eins in Europa bereits gegen London verloren. Wenn wir — hier spreche ich sowohl die Regierung als auch die Banken an — so weitermachen wie bisher, dann werden wir auch von Paris bald abgehängt werden.Es ist richtig, daß den Banken der Erwerb von Anteilsbesitz z. B. in Sanierungsfällen gestattet sein muß. Wir haben die positive Rolle, die die Banken hier immer wieder gespielt haben, hinreichend gewürdigt, Herr Spilker. Aber wenn in diesem Kontext darauf hingewiesen wird, daß die Firma Karstadt nicht mehr existierte, wenn die Banken nicht die Sanierung übernommen hätten, überzeugt mich das nicht sehr; denn dieser Sanierungsfall liegt jetzt 60 Jahre zurück, und so lange muß niemand ein Paket halten, um eine Sanierung endgültig abzuschließen.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß sich die Kommission „Bankenmacht" vorgestern erneut getroffen hat. Die Ergebnisse sind hier bekannt. Ich brauche sie deswegen nicht noch einmal im einzelnen darzulegen.
Wir müssen feststellen, daß unser Koalitionspartner in der ordnungspolitischen Bewertung des Themas Bankenmacht einen weniger scharfen Blick hat als die FDP. Jedenfalls sah sich die Union nicht in der Lage, ein positives Votum über die wichtige Frage der Rückführung des Anteilsbesitzes der Banken abzugeben.
Es kann ja sein, meine Damen und Herren, daß die Diskussionsveranstaltung, die auf Einladung des Mittelständlers Pieroth mit dem „mittelständischen" Bankier Herrhausen bei Ihnen stattgefunden hat, zu dieser Erkenntnis beigetragen hat.Die FDP hält nach wie vor die obligatorische Rückführung des Anteilsbesitzes der Banken ordnungspolitisch für geboten. Dabei wird es auch um steuerrechtliche Fragen gehen. Steuerrechtliche Regelungen dürfen dabei im Maximum allerdings nur so ausgelegt sein, daß das Vorhaben verfassungsrechtlich Bestand hat. Das ist die Grenze, und darüber muß man sich unterhalten.Wir werden nach der Bundestagswahl auf dieses Thema zurückkommen. Darauf kann sich jeder verlassen, nicht nur hier im Hause.
— Damals wollten Sie nicht, jetzt wollen Sie wohl. Ich kenne das ja: Immer dann, wenn Sie in der Opposition sind, lassen Sie die Muskeln spielen; wenn es nachher wieder anders geht, ist die Begeisterung sehr viel geringer.
— Meine Damen und Herren, Ihre Zurufe sind richtig ermunternd, und der Blick durch die geschärften Brillen ist es auch. Also: Auf geht's.Ich bin jedenfalls befriedigt darüber, daß wir schon in dieser Legislaturperiode mehr Transparenz in die personelle Verflechtung der Banken mit den Unternehmen bringen werden und daß wir den klaren Willen bekundet haben, die Fragen des Verbots der Stimmrechtsbeschränkung, die Fragen der Stimmrechtsbeiräte bei Kapitalanlagegesellschaften und der Untersagungsmöglichkeiten bei der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in konkurrierenden Unternehmen positiv zu prüfen. Daran werden wir weiterarbeiten.
— Bevor Sie etwas entscheiden, sollten Sie es prüfen. Ich weiß: Sie haben bei „Fortschritt 90" erst entschieden und dann geprüft. Das Ergebnis sieht ja entsprechend aus.
Ich empfehle doch, diese Reihenfolge zu wählen. Wir wollen das jedenfalls tun. Ich denke, daß wir dann auch zu Ergebnissen kommen werden.Heute ging es darum, einmal in aller Ruhe und in aller Gelassenheit — das haben wir auch getan — über die Problematik auch hier im Deutschen Bundestag zu sprechen.Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Voss.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kreditinstitute üben in unserer Volkswirtschaft eine wichtige Funktion aus. Sie begleiten Unternehmen bei der Erschließung neuer Geschäftsmöglichkeiten, finanzieren neue Arbeitsplätze, sind Partner der privaten Verbraucher und natürlich auch Objekt des wirtschaftlichen Interesses privater Anleger.Diesen verschiedenen Ansprüchen ist das deutsche Universalbanksystem bisher gerecht geworden. Dieses System, das den Kreditinstituten generell Beteiligungsbesitz erlaubt, ist bei der europäischen Bankenrechtsharmonisierung gerade erst von unseren Partnern positiv gewürdigt worden. Unser Universalbanksystem hat eine eingehende, breit angelegte Prüfung hinter sich. Die vom Bundesminister der Finanzen eingesetze Studienkommission „Grundsatzfragen der Kreditwirtschaft" hat in ihrem 1979 abgeschlossenen und in den Grundaussagen nach meiner Auffassung nach wie vor zutreffenden Bericht festgestellt — der Kollege Spilker hat bereits darauf hingewiesen —, daß den Kreditinstituten kein Mißbrauch ihrer Einflußmöglichkeiten nachgewiesen werden kann. Nun ist diese Wertung vielleicht für den einen oder anderen nicht so maßgeblich; hier spielen bestimmte Blickrichtungen wohl eine nicht ganz untergeordnete Rolle.Richtig ist allerdings, daß die Kumulation von Einflußmöglichkeiten der Banken durch Beteiligungsbesitz, Stimmrechtsregelung und Ausübung von Aufsichtsratsmandaten sowie die Funktion der Banken als Kreditgeber eine Reihe von Fragen aufwerfen, die der besonderen ordnungspolitischen Aufmerksamkeit bedürfen. Wir nehmen diese Fragen ernst, weil unsere Marktwirtschaft vom Wettbewerb lebt. Wir wollen mit Augenmaß und Präzision die Problematik dieser Anhäufung von Einflußmöglichkeiten angehen. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Bundesfinanzminister Dr. Waigel eingesetzt, die die aus der Entwicklung des letzten Jahrzehnts entstandenen Fragen aus heutiger Sicht aufarbeiten soll. Zu einer derartigen Prüfung gehört die Sammlung entscheidungserheblicher Fakten. Kürzlich hat der Bundesverband deutscher Banken für seine zehn größten Mitgliedsbanken festgestellt, daß deren Beteiligungsbesitz spürbar abgenommen hat. Nach dieser Erhebung haben diese zehn größten privaten Banken im Jahre 1976 1,32 % der Anteile an den Kapitalgesellschaften der Bundesrepublik Deutschland gehalten, im Jahre 1986, also zehn Jahre später, noch 0,66 % und Ende August 1989 nur noch 0,57 %. Zu den Fakten gehört auch, meine Damen und Herren, daß es zur Zeit gerade in den USA und in Japan, also in den klassischen Ländern des Trennbankensystems, Diskussionen über eine Umgestaltung in Richtung auf Universalbanksystem gibt. Auch das sollte zu denken geben.Ein ordnungspolitisch geeigneter Ansatz für eine Begrenzung des Einflusses der Kreditinstitute liegt darin, die Einflußmöglichkeiten stärker als bisher offenzulegen und damit wirksam gegen möglichen Mißbrauch zu schützen. Eine erweiterte Offenlegungspflicht bei den Aufsichtsratsmandaten in den Geschäftsberichten ist durchaus denkbar, Herr Kollege Jens. Damit lassen sich die Aufsichtsratsmandate, die von den jeweiligen Mitgliedern dieser Gremien ausgeübt werden, leicht feststellen. Diese Transparenzregelung soll auch personelle Querverbindungen bei beruflichen Tätigkeiten umfassen. Eine erweiterte Offenlegungspflicht, die wir noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich regeln wollen, wird sich allerdings nicht nur auf Banken, sondern auf alle Wirtschaftsbereiche beziehen müssen.Auch die jetzigen Stimmrechtsregelungen sind zu überprüfen. Eine Einschränkung der Vollmachtsstimmrechte kann jedoch dazu führen, daß die Präsenz der Anteilseigner in den Hauptversammlungen unserer Aktiengesellschaften absinkt, ein Ergebnis, das nicht im Interesse aller liegen kann; Graf Lambsdorff hat eben darauf hingewiesen.
Mit Einschränkungen hier, Herr Kollege Stratmann, würden wir nicht die Banken treffen, sondern in erster Linie viele Kleinaktionäre in ihren Eigentumsrechten.
Zudem könnte eine solche Maßnahme einzelne Aktionärsgruppen begünstigten, die Anliegen verfolgen, die weder im Interesse der Gesellschaft noch im Interesse der Kleinaktionäre liegen.Die Koalitionsarbeitsgruppe prüft auch, ob Interessenkollisionen bei Aufsichtsratsmandaten in konkurrierenden Unternehmen kartellrechtlich untersagt werden sollten. Dabei bereitet insbesondere eine rechtlich hinreichend klare praktikable Definition der konkurrierenden Unternehmen Schwierigkeiten.Schließlich prüfen wir gesetzliche oder freiwillige Lösungen für eine Beschränkung des Beteiligungsbesitzes der Banken an Industrie- und Handelsunternehmen. Dabei müssen wir auch die Stabilität und die Sicherheit unseres Bankensystems im Auge haben; denn der Beteiligungsbesitz der Kreditinstitute ist nach meiner Meinung ein wichtiges Element des Ertrags- und Risikoausgleichs.Die hinter dem Beteiligungsbesitz stehenden Reserven machen ein Stück des internationalen Ansehens unserer Kreditinstitute aus. Veräußerungsgebote können nur dann für den Gesetzgeber in Betracht kommen, wenn der Anteilsbesitz der Banken vom Markt aufgenommen werden kann. Ich möchte auch sagen, daß ich zusätzliche steuerliche Begünstigungen für eine derartige Veräußerung ablehne.Die angesprochenen Prüfungen erfordern Zeit. Wir können jetzt auf einen im siebten Jahr andauernden wirtschaftlichen Aufschwung zurückblicken. Die Aussichten, daß die Wachstumsdynamik mit der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze und Einkommen anhält, sind weiterhin gut. Wir sollten sie nicht durch übereilte Reaktionen beeinträchtigen.Ich rufe deshalb den Antragstellern ins Gedächtnis, daß vor Jahren nicht zuletzt die von Ihnen gedrängten Banken in bedeutenden Fällen dazu beigetragen ha-
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Parl. Staatssekretär Dr. Vossben, in ihrer Existenz gefährdete Unternehmen zu retten, und damit den drohenden Verlust Tausender Arbeitsplätze vermieden haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Bankraub ist eine Unternehmung von Dilettanten.Wahre Profis gründen eine Bank.Das sagt Bert Brecht und brachte unser Thema auf diese Formel. Aber machen wir uns nichts vor: Der arme BB war natürlich Kunde einer Bank und unterhielt Anfang der 50er Jahre ein ordentliches Westgeldkonto.Was meine ich damit? — Wir alle sind in dieser Bankendiskussion gespalten: Einerseits ist ein funktionstüchtiges, leistungsfähiges Bankensystem Voraussetzung der wirtschaftlichen Entwicklungen und der Innovationen in unserer Gesellschaft. Dazu braucht man nicht nur Kleinstbanken oder mittlere Banken, sondern natürlich auch größere Banken, Großbanken, die beispielsweise international agieren können. Auf der anderen Seite beobachten wir eine Machtzusammenballung, die in der Tat bedrohlich ist. Exakt über diesen Konflikt diskutieren wir.Im übrigen sollten sich die Bundesregierung und die Koalition noch einmal überlegen, ob mit dieser Privatisierungskonzeption dem Leistungswettbewerb bei uns geholfen wird. Wir haben ein fünfgliedriges Bankensystem: Großbanken, Privatbanken, öffentliche Banken, die Sparkassen und die Volks-, sprich: Genossenschaftsbanken. Es ist nicht ganz falsch, daß wir diese fünf Sektoren haben. Ich stehe im übrigen dazu, daß wir auch Großbanken im öffentlichen Besitz haben, weil sie eine gewisse Gegenmacht beispielsweise zur Deutschen Bank darstellen.Übrigens, die Bayern brauche ich daran nicht zu erinnern, dies sage ich, weil immer wieder das Thema WestLB angesprochen wird. Soll ich Herrn Neuber dafür kritisieren, daß seine Bank in den letzten Jahren erfolgreich gewesen ist? Das werde ich nicht tun. Ich bin sogar froh, daß die WestLB eine Gegenmacht zur Deutschen Bank darstellt.
: Das ist die Gegenmachttheorie!)
Für mich gibt es im wesentlichen drei Gründe, die Macht unserer Großbanken zu einem Thema der Wirtschaftspolitik zu machen: erstens ihr Einfluß auf den Wettbewerb innerhalb des Bankensystems, zweitens ihr Einfluß auf den gesamten Kapitalmarkt und ganz besonders auf den Aktienmarkt und drittens ihr Einfluß auf die Industrie- und Dienstleistungsunternehmen sowie auf den Leistungswettbewerb in unserer Volkswirtschaft überhaupt.Zum ersten Punkt möchte ich mich kurz fassen: Die Internationalisierung der Finanzmärkte hat natürlich den Wettbewerb verstärkt und schafft insofern einStück Gegenkraft und Gegenmacht. Wir sollten diese Öffnung der Märkte fortsetzen. Auch die EG hat ja als eigentliche Zielsetzung diese Vorstellung.Dennoch fällt auf, daß die Bankprovisionen in der Bundesrepublik Deutschland — das ist ein Teil des Cecchini-Berichts — deutlich höher liegen als beispielsweise in Großbritannien und damit im übrigen ein Hemmnis für den Ausbau des Finanzplatzes Frankfurt darstellen, und zwar in weit höherem Maße als die vielbeklagte Börsenumsatzsteuer. Wenn die Bedingungen viel schlechter als beispielsweise in London sind, braucht man sich eben nicht zu wundern, daß der Finanzplatz Frankfurt in seinem Rang zurückgeht.Ebenfalls fällt auf, daß fast alle Finanzinnovationen der letzten Jahre aus dem Ausland gekommen sind und derartige Ideen in der Bundesrepublik nicht entwickelt wurden. Das heißt, auf diesem Markt muß etwas unter dem Einfluß der Großbanken erlahmt sein. Es gibt ja Kenner der Szene, die sagen, der Kapitalmarkt in der Bundesrepublik sei das dienstägliche Telefongespräch unter fünf Leuten. Das mag eine Übertreibung sein, aber es stimmt zum Teil.Zum zweiten Punkt, zum Einfluß mächtiger Banken auf den Kapitalmarkt, insbesondere auf den Aktienmarkt: Wir haben in der Bundesrepublik sage und schreibe nur 470 Aktiengesellschaften. In England, selbst in der Schweiz ist es ein Mehrfaches. Ist es nicht so, daß die Großbanken über die letzten Jahrzehnte hinweg relativ wenig aktiv waren bei der Förderung des Aktiengedankens bzw. bei der Bildung von Aktiengesellschaften? Die Gründe dafür sind übrigens relativ leicht nachvollziehbar: Man kann am Kreditgeschäft, bei der Vergabe von irgendwelchen Konsortialkrediten oder bei Provisionen eben mehr verdienen als bei der Einführung einer neuen Aktiengesellschaft. Das heißt, hier haben die Banken auch eine Innovation unseres Kapitalmarkts verhindert. Das ist ein ernstes Problem hinsichtlich der Innovationsfähigkeit der gesamten Volkswirtschaft.Natürlich gibt es in diesem Zusammenhang auch ein vermögenspolitisches Problem. Dadurch, daß die Banken ihre Unternehmungen anhalten, ihre Finanzierungen möglichst mit eigenen Mitteln oder mit Bankkrediten durchzuführen, wird die Möglichkeit einer breiteren Streuung des Aktienbesitzes begrenzt. Die Idee der Vermögensbildung in breiten Schichten der Bevölkerung wird dadurch eingeengt. Auch von daher ist es, glaube ich, sinnvoll, das Problem anzupacken. Der unterentwickelte Aktienmarkt ist in der Bundesrepublik ein Hemmnis auch für die Weiterentwicklung der Wirtschaft.Zum dritten Punkt, zum Einfluß der großen Banken auf die Industrie. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Jeder Zulieferer von Daimler-Benz/MBB/ AEG/Dornier/MTU — das Unternehmen umfaßt ja diese Teile; wir lassen immer drei weg — hat natürlich gute Chancen dann, wenn er als erste Bankadresse die Deutsche Bank angibt, als Unternehmensberater Roland Berger in Anspruch nimmt — der inzwischen auch der Deutschen Bank gehört — , Versicherungen, die jetzt auch angeboten werden, bei der Deutschen Bank abschließt, seinen Mitarbeitern vorschlägt, entsprechende Verträge — z. B. Bausparverträge, die
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Rothjetzt auch angeboten werden — über entsprechende Mitarbeitervertreter bei der Deutschen Bank zu parken, wenn er in seinen Unternehmensbeirat natürlich jemanden — das zeigt auch etwas nach außen her — von der Deutschen Bank aufnimmt und wenn er Betriebs- und Bürogebäude von der Philipp Holzmann AG bauen läßt, die zu einem Drittel der Deutschen Bank gehört.Diese Skizzierung eines Geflechts zeigt doch unser Problem. Ich will damit sagen: Durch eigenen Industriebesitz, durch Depotstimmrechte, Aufsichtsrats-, Beiratsmandate hat die Deutsche Bank — und unser Bankenproblem ist weitgehend ein Problem der Deutschen Bank — ein Netz von Beziehungen aufgebaut und eine Macht erworben, die meines Erachtens mit der Idee einer Wettbewerbswirtschaft, einer Marktwirtschaft nicht vereinbar ist.
Wenn immer über Investitionslenkung bei anderen Kräften philosophiert wird: Ich bin der Ansicht, daß die Deutsche Bank kräftig an der Investitionslenkung in der Bundesrepublik Deutschland arbeitet. Sie ist der Investitionslenker in der Bundesrepublik Deutschland.
Übrigens sind das nicht nur meine Ideen.
Die „Wirtschaftswoche" — das ist doch Ihr Hausorgan, Herr Glos — sagt — Zitat — : „Das Ergebnis ist ein Netz wirtschaftlicher Rücksichtnahmen, in denen sich der Schumpetersche dynamische Unternehmer verfangen muß." Die „Wirtschaftswoche" hat mit diesem Zitat durchaus recht.Ich glaube, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland einen schärferen Leistungswettbewerb im Bankensektor, im Kapitalsektor brauchen, um beispielsweise die Aufgaben zu erfüllen, die wirtschaftspolitisch gestellt sind: unsere Löhne zu halten und weiter zu steigern, die sozialen Sicherungssysteme zu bewahren und weiter zu verbessern und die neue große Aufgabe der ökologischen Erneuerung unserer Volkswirtschaft neu in Angriff zu nehmen. Denn ein funktionstüchtiger Kapital- und Kreditmarkt, der eben den neuen Ideen und zusätzlichen Anstrengungen Kapital, auch Risikokapital zur Verfügung stellt, ist die Voraussetzung einer ständigen Erneuerung unserer Volkswirtschaft. Kollege Jens hat unsere Einzelvorschläge dargestellt. Ich brauche sie nicht zu wiederholen. Ich schließe mich dem vollinhaltlich an.Fällig sind ein paar Worte in Richtung FDP. Graf Lambsdorff, Sie fordern seit langem eine Begrenzung des Anteilbesitzes. Ich stelle fest: Sie haben sich gestern nicht durchgesetzt. Das wird verschoben — verschoben wie immer in der Vergangenheit.Da Sie sich heute als der kraftvolle Kämpfer für die Begrenzung der Bankenmacht aufspielen, muß ich sagen: 1979, nachdem die Studienkommission ihren Bericht vorgelegt hatte, habe ich — ich war bei allen Gesprächen zwischen den Koalitionspartnern anwesend — kein leidenschaftliches Engagement von Ihrer Seite gehört;
im übrigen von Herrn Friderichs, dem späteren Chef der Dresdner Bank, schon gar nicht.Aber bitte, diese Weiterentwicklung begrüße ich. Wenn es möglich ist, darüber in der nächsten Wahlperiode eines der ersten Gesetze zu machen, machen wir das gemeinsam. Ich glaube, ich habe Ihre Zwischenfrage an mich, zu der Sie sich gemeldet haben, schon vorweg beantwortet.
Das glaube ich nicht. Ich frage, ob Sie bereit sind, eventuell auch eine andere Frage zu beantworten.
Natürlich.
Bitte sehr, Graf Lambsdorff.
Bei aller hohen Ein- und Wertschätzung Ihrer Vorhersehungsgabe, verehrter Herr Kollege Roth, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Frage noch nicht beantwortet ist. Darf ich Sie fragen, ob Sie die Geneigtheit hätten, sich meinen Vortrag vor dem Bundesverband deutscher Banken aus dem Jahr 1979, den Sie erwähnt haben, zur Verfügung stellen zu lassen?
— Moment! Er hat genau dies angesprochen. — Darf ich Sie auch darauf aufmerksam machen, daß das damals auch im Kabinett — ich war ja damals im Kabinett — erörtert worden ist, aber daß das bei Ihren Parteifreunden nicht auf große Gegenliebe gestoßen ist?
Verehrter Graf Lambsdorff, ich kenne Sie ja aus Ihrer jetzigen Tätigkeit und aus Ihrer früheren Tätigkeit. Ich kenne auch Ihre Hartnäckigkeit in der sozialliberalen Koalition, dann, wenn Sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, es auch durchzusetzen. Aber ich kenne auch die damalige Verhaltensweise. Sie haben einmal aus Propagandagründen eine nette Rede öffentlich in einer Verbandsveranstaltung gehalten, damit Sie am nächsten Tag wahrgenommen wurden. Das war es dann aber schon. Den richtigen Einsatz, den Sie — ich erinnere nur an das sogenannte Lambsdorff-Papier — z. B. beim Abbau der sozialen Rechte in der Bundesrepublik gezeigt haben, haben Sie beim Abbau der Bankenmacht in der Bundesrepublik nie gezeigt. Das ist die Wahrheit.
Sie sollten sich jetzt nicht schöner machen, als Sie damals waren. Aber ich akzeptiere ja, daß wir jetzt schon gemeinsam ein Projekt für die nächste Wahlperiode haben. Das werden wir durchziehen. Dabei lassen wir uns durch keinen sozialdemokratischen, freidemokratischen oder sonstigen Banker behindern. Das machen wir.
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Eine weitere Zwischenfrage. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Ja, natürlich. Vizepräsident Cronenberg: Bitte schön.
Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen oder können Sie mir vielleicht sogar zustimmen, daß die Adressaten meines Themas „Bankenmacht" mir zwar ebenfalls viele Angriffsflächen geboten haben, aber doch nicht so viele, wie seinerzeit die Adressaten des Lambsdorff-Papiers?
Roth (SPD): Ich bitte Sie!
Zum einen hätten Sie an dieser Stelle ein bißchen Ausgewogenheit Ihrer wirtschaftspolitischen Konzeption zeigen können, wenn Sie die Bankenmacht und diese sozialen Probleme gleichzeitig angesprochen hätten. Das hätte sehr zu Ihrer Glaubwürdigkeit beigetragen. Im übrigen, Graf Lambsdorff: Jeder, der in der Bundesrepublik Politik beobachtet, weiß, wie kunstvoll Sie in der Lage sind, manchmal Kontrapunkte zu setzen, die freilich dann, wenn sie angeklungen sind, schon verklungen sind. Das haben Sie jahrelang so betrieben, und das haben Sie auch bei dem Thema der Bankenmacht so getan. Im übrigen gibt es in unseren Reihen immer noch den Verdacht, die ganze Geschichte mit Ihrer Bankendiskussion habe nicht so viel mit der Begrenzung der Bankenmacht, sondern mit der Tatsache zu tun, daß es ein sehr intelligentes, schlaues — solche Eigenschaften kann man Ihnen durchaus zubilligen — Ablenkungsmanöver bei der Sache Daimler-Benz/MBB war. Das war es, Graf Lambsdorff.
Aber, Graf Lambsdorff, die List der Geschichte wird sein, daß wir eines Tages eine Gesetzgebungsmehrheit haben, und dann müssen Sie dazu ja sagen. Sie haben das heute geschworen; das werden wir nicht vergessen, Graf Lambsdorff.
Im letzten Punkt wollte ich in unserer Diskussion noch etwas ansprechen, war mir zunehmend Bedenken macht, und ich hoffe, daß alle Kollegen im Deutschen Bundestag an der Ecke ein Stück mitdenken. Wir haben derzeit im Finanzsektor bei den Versicherungen auf der einen Seite und bei den Banken auf der anderen Seite den Wahn oder die Wahnvorstellung, man müsse jetzt Allfinanzkonzerne aufbauen: Die Deutsche Bank muß unbedingt eine Versicherung haben, die Aachen-Münchener muß schon alles haben: eine Versicherung, eine weitere Bank und selbst eine Bausparkasse in Karlsruhe. Ich habe auch nicht mit Wohlgefallen gesehen, daß die BGAG, die gewerkschaftseigene Holding, gerade die Volksfürsorge in Richtung auf die Aachen-Münchener verkauft hat. Hier zeigen sich mit der Theorie, man müsse alles unter einem Dach anbieten, nun erneute Konzentrationen von Macht und von Einfluß auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft, die ich für bedrohlich halte. Wir stehen hier im Bundestag und diskutieren noch die alten Bankenmachtthemen, und die neue Tendenz auf den Kapital- und Finanzmärkten wird überhaupt nicht diskutiert.
Sie haben in dieser Woche besprochen, daß publiziert werden solle, wer wo in welchem Umfang sitzt. Damit erspare ich mir beim Herausbekommen, wer wo zusammen sitzt, zwei, drei Stunden Arbeit, und das war dann die gesetzliche Innovation, die Sie uns bieten. In den Märkten, in der Realität der Märkte hat sich etwas ganz anderes durchgesetzt. Die Behauptung, Konglomerate, die alles anbieten, seien besser als Spezialinstitute, die beispielsweise eine gute Versicherung sind oder eine gute Bank darstellen, läßt sich doch durch nichts als durch Machtansprüche begründen. Ich finde, dem sollten wir entgegenwirken.
Ich überlege mir auch, den Vorschlag zu machen — da hätte ich gern Ihre Unterstützung — , ob wir nicht so, wie wir zu anderen Fragen Enquete-Kommissionen im Deutschen Bundestag gemacht haben, einmal eine Enquete-Kommission zum Thema der Finanzmärkte machen, wo natürlich auch die internationalen Aspekte einbezogen werden. Ich bin nicht so naiv, zu sagen: Wir brauchen keine großen Banken. Wir haben die japanischen Großbanken mit ihrem Einfluß auf die Weltkapitalmärkte, und dazu braucht es wiederum eine Gegenmacht. Aber es ist ganz selbstverständlich, daß es durch diese Allfinanzkonzerne bei uns einen Abbau von Wettbewerb gibt. Es gab sogar verhängnisvolle Finanzierungen beim Zusammenkaufen dieser Allfinanzkonzerne, wo man sich überlegen muß, ob es eigentlich legitim ist, daß eine große Versicherung ihre gesamten Zukäufe über den Kreditmarkt auf Pump finanziert und dann für künftige negative Entwicklungen am Kapitalmarkt hoch anfällig wird, z. B. für die jetzigen Hochzinsphasen. Sie wissen vermutlich, wen ich in Richtung Aachen meine. Das ist — Herr Gies hat das zugegeben — völlig auf Pump gekauft worden. Das ist nicht aus eigenen Mitteln entstanden. Man braucht nur mal eine Zinsphase wie Anfang der 80er Jahre zu betrachten und zu beobachten, was an derartigen Märkten geschehen ist, um hier bedrohliche Tendenzen auch für Arbeitsplätze und Strukturen zu sehen.
Ich wollte mit diesen letzten Bemerkungen niemanden attackieren, denn da hat jeder seine Probleme, ich möchte uns nur auffordern, wie es der amerikanische Senat und Kongreß machen, das Thema Finanzmärkte, deren Einflüsse auf unsere Wirtschaft exakter zu studieren, als das bisher geschehen ist, und in diese Kritik beziehe ich mich ausdrücklich selbst mit ein.
Vielen Dank für das Zuhören.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Sprung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jens, Sie haben heute zu einem alten Thema eine neue Variante ge-Dr. Sprungbracht: Zahlungsbilanz und Bankenmacht. Davon hatten wir bisher noch nichts gehört.Meine Damen und Herren, die Diskussion um Bankenmacht lebt mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder einmal auf. Das letztemal hatten wir sie Anfang der 70er Jahre. Damals wurde — heute schon mehrfach erwähnt — eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die über fünf Jahre hinweg das Thema Bankenmacht sehr gründlich unter die Lupe genommen hat. Was ist dabei herausgekommen? Haben wir das Ergebnis im Parlament oder in den Ausschüssen des Parlaments erörtert? Im Kabinett. Aber wo sonst? Haben wir den Sachverstand, der sich in einem umfangreichen Bericht der Kommission wiederfindet, in Anspruch genommen?Meine Damen und Herren, die SPD stellt in ihrem Antrag fest, daß die Privilegierung der Banken in unserer Wettbewerbsordnung, die ihnen als Sonderbereich im § 102 GWB eingeräumt wird, nicht mehr zu rechtfertigen sei. Herr Jens, Sie sind ein bißchen spät aufgestanden. Als Sie Ihren Antrag einbrachten, war die Neufassung des § 102 bereits auf dem Weg.
Herr Stratmann, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß sich hier einiges ändern wird.
Es ist eine Neufassung, die darauf hinauslaufen wird, daß an die Stelle der derzeitigen Mißbrauchsregelung das Verbotsprinzip tritt. Damit wird die Konsequenz aus der Erkenntnis gezogen, daß die Gründe für die derzeitige Regelung im § 102 überholt sind. Zugleich wird damit eine Angleichung an das EG-Recht vollzogen. Der Bankenbereich wird damit voll in das allgemeine Wettbewerbsrecht integriert, Herr Jens.
Meine Damen und Herren, es ist völlig richtig: Zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung gehört die Eingrenzung bzw. Begrenzung wirtschaftlicher Macht. Das gilt selbstverständlich auch für die Banken. So wie wir das Wettbewerbsrecht von Zeit zu Zeit an veränderte Marktverhältnisse anpassen, sind Anpassungen auch im Bankenbereich vorzunehmen, soweit für ihn spezielle Regelungen gelten. Dabei muß es vor allem darum gehen, Transparenz zu schaffen. Eine solche Transparenz erlaubt es dann auch, festzustellen, ob Beteiligungsbesitz, Aufsichtsratsmandate, Depotstimmrecht, Stimmrechtsbeschränkungen usw. allein oder in ihrer Kumulation zu Einflußmöglichkeiten führen, die wettbewerblich bedenklich bzw. nicht mehr zu tolerieren sind. Aber so etwas kann man nicht einfach behaupten, sondern man muß es nachweisen können, bzw. es muß sich in der Tendenz eine solche Entwicklung deutlich abzeichnen und deshalb vorbeugende Maßnahmen erfordern.Noch etwas ist hier anzumerken. Die mögliche Ausübung wirtschaftlicher Macht in der Kumulation der in Frage stehenden Faktoren ist nicht auf die Banken beschränkt. Auch in angrenzenden Bereichen — heute ebenfalls schon mehrfach angesprochen —, etwa der Versicherungswirtschaft, aber auch in den übrigen Bereichen der Wirtschaft zeigen sich ähnliche Wettbewerbsbeschränkungen, die ausgeschlossen werden sollten.
Was kann zu den Faktoren gesagt werden, die Sie in Ihrem Antrag angesprochen haben?Erstens: Aufsichtsratsmandate. Für diese Aufsichtsratsmandate ist der Transparenzgesichtspunkt, meine ich, von besonderer Bedeutung. Das Gesetz enthält bereits eine Beschränkung ihrer Zahl auf zehn. Ich meine, dabei sollte es bleiben. Aber natürlich kann und sollte über entsprechende Offenlegungen in den Geschäftsberichten der Unternehmen öffentlich werden, in welchen Unternehmen Aufsichtsratsmandate wahrgenommen werden. Der Kreis der Unternehmen und der Personen, die in eine solche Berichtspflicht einbezogen werden, sollte sehr weit gezogen sein
und auch ausländische Unternehmen umfassen. Das ist unsere Meinung. Außer Frage stehen sollte auch, daß eine solche Verbesserung der Transparenz, wenn es das Ziel der Offenlegung von Aufsichtsratsmandaten ist, potentielle Pflichtenkollisionen zu vermeiden, nicht auf Banken beschränkt werden dürfte. Mögliche Interessenkollisionen bei der Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten sind auch in anderen Wirtschaftsbereichen, aber auch bei freiberuflich tätigen Wirtschaftsprüfern und — dieser Name ist heute noch nicht gefallen; ich will ihn deshalb auch nicht bringen — auch bei Gewerkschaftsfunktionären nicht auszuschließen. Es stellt sich die Frage, ob ein kartellrechtliches Untersagungsverfahren bei Aufsichtsratsmandaten in konkurrierenden Unternehmen möglich sein sollte, und die Unterfrage, ob dafür eine Art Spürbarkeitsschwelle zur Begrenzung auf wettbewerblich relevante Fälle eingezogen werden müßte.Zweitens. Stimmrechtsbeschränkungen: Es ist richtig, auch solche Stimmrechtsbeschränkungen können Bankenmacht beeinflussen, schaffen, steigern oder aber auch reduzieren. Darüber, welche Wirkungen von Stimmrechtsbeschränkungen ausgehen, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Auffassungen, nicht nur innerhalb des Bankenbereiches, sondern auch außerhalb.Verbot oder Nichtverbot? Hier stehen sich sehr unterschiedliche Zielsetzungen gegenüber: Schutz der Kleinaktionäre vor den Großaktionären, Schutz vor unerwünschten Fremdeinflüssen und Übernahmen auf der einen Seite, Auflösung des Zusammenhanges von Kapitalrisiko und Einflußmacht, Abschreckung internationaler Anleger, Beeinträchtigung des internationalen Kapitalverkehrs, kursdämpfende Wirkungen, Herr Jens, was erst Anreize für feindliche Übernahmen schafft, auf der anderen Seite. Eines sollte klar sein: Bekannte Beispiele zeigen, daß ein Höchststimmrecht feindliche Übernahmen keineswegs verhindert.Zum Depotstimmrecht nur zwei Sätze: Eventuelle Mängel liegen weniger im Depotstimmrecht als solchem, sondern vielmehr in der Tatsache, daß die Kleinaktionäre von den ihnen zustehenden Rechten nicht genügend Gebrauch machen. Praktikable Alter-
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Dr. Sprungnativen zum geltenden Depotstimmrecht sind noch nicht gefunden worden, auch nicht von Ihnen. Herr Jens, Ihr Vorschlag von heute ist ganz gewiß kein Vorschlag, der umsetzbar und daher akzeptabel wäre.
Drittens. Beteiligungsbesitz der Banken: Auch in dieser Frage, meine Damen und Herren, ist mehr Transparenz wünschenswert. Es läge — das möchte ich hier deutlich sagen — im wohlverstandenen Eigeninteresse der Banken, solche Transparenz freiwillig zu schaffen. Gesetzlich ist Anteilsbesitz über 20 % bereits jetzt im Jahresabschluß offenzulegen. Eine Herabsetzung dieser Grenze würde die Transparenz vergrößern. Eine quantitative Begrenzung des Beteiligungsbesitzes wirft die Frage nach ihrem Sinn auf. 5 %? 10 %? 15 % ? Was, meine Damen und Herren, wird damit erreicht? Anders sieht es mit der Sperrminorität von 25 % plus ... aus. Aber letztlich ist eine solche Festlegung, ob 5 oder 10 oder 15 %, alles Vorschläge, die ja vorliegen, eine politische Entscheidung. Sachlich gibt es zu jedem Satz Gründe und Gegengründe.Relevant erscheinen mir im Hinblick auf diesen Punkt die Vorschriften des KWG. Insbesondere die zweite Bankenrichtlinie der EG wird die Kreditinstitute zwingen, ihren Beteiligungsbesitz abzubauen. In dieser Frage sollten in der Tat europäische Lösungen gefunden werden.
— Gleich, Herr Stahl.Im übrigen, meine Damen und Herren: Vielleicht kommen die Banken schon bald zu dem Schluß, daß es zweckmäßiger ist, Beteiligungen, die sie halten, abzugeben, um sich für den europäischen Binnenmarkt zu stärken und ihre Präsenz in anderen EG-Staaten zu erhöhen.
Wir setzen auf Freiwilligkeit, auf Vernunft und nicht auf gesetzliche Regelungen.
Herr Abgeordneter Dr. Sprung, nun sind Sie bereit, eine Frage zuzulassen?
Einen Satz noch. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr.
Große, größere Banken, als es die deutschen Großbanken sind, zeigen überall in der Welt, daß man auch ohne Beteiligungsbesitz erfolgreich sein kann. Allerdings, meine Damen und Herren, dürfte eines klar sein: Steuerliche Sonderbehandlungen von Beteiligungsverkäufen wird es mit der Union nicht geben.
— Herr Stahl — wenn das nicht angerechnet wird.
Herr Abgeordneter Stahl.
Herr Kollege Sprung, nachdem Sie eine flammende Rede für die Großbanken gehalten haben,
darf ich Sie fragen, wie denn Ihre Rede mit der Rede von Graf Lambsdorff, die doch sehr nachdenklich in diesem Bereich war, zu vereinbaren ist und was nun die Regierungsfraktionen insgesamt, sage ich ausdrücklich, zu diesem Punkt auszusagen haben.
Ich gebe zu, daß wir im Punkt Beteiligungsbesitz eine etwas andere Haltung einnehmen, als das von Graf Lambsdorff für die FDP vorgetragen worden ist. Aber sonst gibt es keine Meinungsverschiedenheiten.Im übrigen ist das kein flammendes Plädoyer für die Großbanken gewesen, ganz und gar nicht.
— Sie werden dazu gleich noch ein paar Sätze hören.Meine Damen und Herren, wie immer man die Macht der Banken beurteilt oder wenn man gar einen Machtmißbrauch gegeben sieht, den es auszuschalten gilt: Das beste Mittel — und, Herr Roth, hier treffen wir uns —, der beste Weg dazu ist Wettbewerb, mehr Wettbewerb. Es sollte daher alles getan werden, um Wettbewerb im Bankenbereich sicherzustellen und ihn weiter auszubauen. Das Offenhalten der Märkte, zusätzlicher Konkurrenzdruck durch Kreditinstitute aus anderen EG-Ländern und von Banken aus Drittländern können dazu einen bedeutenden Beitrag leisten.Wie sehen die Fakten aus? In der Bundesrepublik gibt es rund 4 400 Kreditinstitute. Der Anteil der privaten Banken am gesamten Geschäftsvolumen beläuft sich auf 30 %. Davon entfallen auf die drei Großbanken weniger als 9 %. Mehr als die Hälfte der Kreditwirtschaft befindet sich in öffentlichen Händen, meine Damen und Herren von der SPD. Im EG-Binnenmarkt wird der Marktanteil der deutschen Großbanken weniger als 5 % betragen.Im übrigen, die Entwicklung hin zu mehr Wettbewerb ist auf einem guten Weg; siehe Monatsbericht der Bundesbank vom April 1989. Herr Roth, die Bundesbank nimmt hier eine völlig andere Wertung vor, als Sie es getan haben. Ich zitiere nur einen einzigen Satz:Diese Strukturverschiebungen— sprich: Allfinanzstrategien —haben die Intensität des Wettbewerbs innerhalb des Finanzsektors erhöht und die traditionellen Trennungslinien zwischen den typischen Geschäftsfeldern von Banken und Versicherungen zunehmend verwischt.
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Dr. SprungI Sie sehen, wie man einen gleichen Tatbestand sehr unterschiedlich interpretieren kann.
Meine Damen und Herren, ich sage abschließend: Dennoch besteht Handlungsbedarf. Handlungsbedarf sehe ich angesichts der schon erwähnten mangelnden Transparenz. Die Banken sollten sich einmal selbstkritisch fragen, welchen Beitrag sie selbst dazu geleistet haben, daß man sie in der Öffentlichkeit vielfach für mächtig, ja, für übermächtig hält.
Ihre Öffentlichkeitsarbeit ist — ich darf es einmal drastisch ausdrücken — miserabel, und ihre Bereitschaft zur Offenheit zur Offenlegung läßt zu wünschen übrig. Es ist vordringlich nötig, mehr Transparenz zu schaffen. Wenn dies nicht freiwillig geschieht, so sollte es gegebenenfalls auch gesetzlich durchgesetzt werden. Das gilt insbesondere für die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten, aber auch für den Anteilsbesitz.Wenn dies über eine entsprechende gesetzliche Regelung geschieht, so liegt das auch im Interesse der Banken und im Interesse einer Versachlichung der Diskussion. Wenn die Banken Bankenmacht, die den Wettbewerb beeinträchtigt, bestreiten, so sind entsprechende Vorwürfe am besten dadurch zu widerlegen, daß man offenlegt. Beteuerungen allein reichen nicht aus. Der mündige Wirtschaftsbürger will es schwarz auf weiß nachgewiesen haben.Meine Damen und Herren, zum Schluß noch ein Wort zum Antrag der SPD zur Fusion Daimler-Benz/ MBB; das ist Punkt 5 b der Tagesordnung. Der zuständige Wirtschaftsausschuß hat den Antrag mit Mehrheit abgelehnt. Er empfiehlt dem Deutschen Bundestag, diesem Vorschlag zu folgen. Ich bitte Sie, sich dem Votum des Wirtschaftsausschusses anzuschließen.Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Nachdem sich das Haus angemessen gefüllt hat, können wir auch zur Abstimmung kommen.
Wir kommen zunächst einmal zur Abstimmung über Punkt 5a der Tagesordnung und Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/4553 und 11/5401 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Antrag auf Drucksache 11/5401 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuß — zur Mitberatung — überwiesen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist dies beschlossen.
Bevor wir nun zu der anderen Abstimmung kommen, hat der Abgeordnete Professor Pinger gebeten, eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben zu können.
— Wollen Sie Ihre Erklärung nach der Abstimmung abgeben? — Bitte sehr, auch diesem Wunsch werden wir entsprechen.
Dann kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf der Drucksache 11/5232. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD, der Ihnen auf Drucksache 11/4518 vorliegt, in der Fassung: „Die Genehmigung des Zusammenschlusses DaimlerBenz/Messerschmitt-Bölkow-Blohm durch den Bundesminister für Wirtschaft wird mißbilligt" abzulehnen. Wer für diese Ablehnung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. —
Wer stimmt dagegen? — Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.
So, Herr Professor, nun können Sie Ihre Erklärung nach § 31 abgeben.
Herr Präsident! Ich habe gegen den Entschließungsantrag der SPD gestimmt, weil er erhebliche Mängel enthält. Schon die Oberschrift ist aus meiner Sicht, jedenfalls was meine Intention betrifft, nicht zutreffend. Es geht nicht um „gegen wachsende Bankenmacht", sondern es geht um möglichen Machtmißbrauch in bestimmten Konstellationen.
Der Antrag schießt einerseits über das Ziel hinaus. Auf der anderen Seite enthält er für meine Begriffe einige Lücken, z. B. was die Transparenz angeht.
Ich bin jedoch der Auffassung, daß hier ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Aus der Kumulation der gegenwärtigen Einflußmöglichkeiten, und zwar Beteiligungen, Depotstimmrechte und anderes, können sich Wettbewerbsverzerrungen und Interessenkollisionen ergeben, die dann tendenziell zu Machtmißbrauch führen.
Die Forderung nach Einschränkung der Bankenmacht hat die Monopolkommission bereits im ersten und im zweiten Hauptgutachten erhoben. Die Monopolkommission hat im Zusammenhang mit der Fusion Daimler-MBB diese Forderung erneut erhoben. Ich meine, daß die Ausführungen der Monopolkommission, auf die ich mich ausdrücklich beziehe, uns Anlaß geben, über diese Dinge erneut gründlich nachzudenken. Wir sollten das tun, was in dieser Legislaturperiode noch möglich ist und dann gründlich darüber nachdenken, was in der nächsten Legislaturperiode zu leisten ist.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, nun sind wir endgültig am Ende dieses Tagesordnungspunktes, und ich kann den Tagesordnungspunkt 6 aufrufen:Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN10 Jahre Strafvollzugsgesetz — Kriminalpolitische Bestandsaufnahme und Perspektiven— Drucksachen 11/1202, 11/4302 —
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Vizepräsident CronenbergDazu liegt uns ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5404 vor.Im Ältestenrat ist beschlossen worden, Ihnen zu empfehlen, je Fraktion eine Debattenzeit von zehn Minuten zu akzeptieren. — Widerspruch erhebt sich dagegen nicht. Dann ist dies beschlossen.Wir können mit der Debatte beginnen, allerdings nicht, Frau Abgeordnete Nickels, bevor ich die notwendige Ruhe im Hause hergestellt habe. Ich möchte also alle diejenigen, die nicht an der Debatte teilnehmen wollen, bitten, den Saal zu verlassen. — Herr Abgeordneter Becker, wenn Sie da hinten ein bißchen für Ruhe sorgen würden, dann könnten wir eigentlich anfangen.Ich glaube, Frau Abgeordnete Nickels, nun geht es. Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Anwesende! Fast eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis die Bundesregierung unsere Fragen zum Strafvollzugsgesetz beantwortet hat. In derselben Zeit hat sie an den Länderberatungen zur Veränderung des Strafvollzugsgesetzes teilgenommen und sogar eine eigene Stellungnahme zum schließlich Ende 1988 eingebrachten Entwurf ausgearbeitet.Um so erstaunlicher finden wir es, daß uns der Justizminister immer wieder mit dem Argument vertröstet hat, er müsse erst Informationen über die Wirklichkeit des Strafvollzugs in den Ländern anfordern. Das erklärt dann anders herum natürlich auch wieder, warum Sie, Herr Minister Engelhard, im Grunde weder am Gesetz noch an dessen Verwirklichung grundsätzlich etwas auszusetzen haben.Die Antworten der Regierung sollen insgesamt die gute Absicht der Bundesregierung verdeutlichen und zum Ausdruck bringen, daß deren Realisierung letzten Endes eigentlich nur an der angespannten Finanzlage der Länderhaushalte scheitert.So wiederholen Sie, Herr Minister — ich zitiere —, daß eine Erhöhung des Arbeitsentgelts aus kriminalpolitischen Gründen wünschenswert wäre; weil die Gelder aber fehlten, müsse man sich bedauerlicherweise mit einer Anhebung um 1,45 DM pro Tag zufriedengeben.Gleichzeitig werben Sie jedoch auf sehr vielen Veranstaltungen für die Einführung des sogenannten Täter-Opfer-Ausgleichs, wonach der finanzielle Schadensersatz und die Wiedergutmachung im Jugendlichen-, aber auch Erwachsenenstrafrecht mehr Geltung gewinnen sollen. Ich frage Sie, wovon ein Strafgefangener mit einem monatlichen Einkommen von 175 DM bei einer schmalen und faden Anstaltskost und bei dürftiger Ausstattung mit Körperpflegemitteln in den meisten Anstalten diese Wiedergutmachung jemals leisten können soll.Wir haben deshalb in unserem vorliegenden Entschließungsantrag die gesetzliche Erhöhung des Gefängnislohns auf 40 % des durchschnittlichen Lohns aller Versicherten vorgeschlagen, wie es der Bundestag schon 1975 beschlossen hatte. Das haben wir nicht deshalb getan, weil wir meinen, daß dieser Betrag ausreicht, Gefangenenarbeit sachgerecht zu entlohnen, oder den Verurteilten wirklich befähigen könnte, seine Schulden völlig abzutragen, sondern weil dieser Vorschlag kurzfristig realisierbar und machbar ist. Wir fordern Sie auf, das auch jetzt so zu beschließen.Sie wissen ganz genau, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Geld durchaus vorhanden ist. Die Verdoppelung des Arbeitsentgelts für strafgefangene Menschen würde etwa 60 Millionen DM im Jahr mehr kosten. Abgesehen von den in Aussicht stehenden Steuersenkungen in Milliardenhöhe, die wir hier eigentlich wieder nicht erwähnen dürfen — das bekommen wir immer von Ihnen gesagt —, weil man dabei die Kostenträger vermengen würde, braucht man sich nur einmal die ungeheuer teuren Neubauten der Strafvollzugsanstalten anzusehen, die im ganzen Land aus dem Boden sprießen. Dazu kommen zahllose Um- und Ausbauten unter dem Stichwort „Wohngruppenvollzug". All das kostet ein Vielfaches dessen, was für eine wirklich spürbare Anhebung des Arbeitsentgelts für strafgefangene Menschen notwendig wäre.Die Einleitung unserer Anfrage und Ihrer Antwort zeigen darüber hinaus zwei völlig entgegengesetzte Auffassungen zu Kriminalpolitik und Strafvollzug. Sie befürworten das Gefängnissystem, wie es in der Bundesrepublik praktiziert wird, grundsätzlich und halten eine Zunahme langer Freiheitsstrafen, wie wir sie beobachten, für nicht bedenklich. Zwar wollen Sie mit dem Zauberwort des Täter-Opfer-Ausgleichs die Palette ambulanter Sanktionsmöglicheiten erweitern und, jedenfalls bei Jugendlichen, vielleicht sogar Freiheitsstrafen zurückdrängen. Wozu Sie sich aber offensichtlich nicht durchringen können, ist das Bereitstellen der dafür unabdingbar notwendigen gesetzlichen und finanziellen Voraussetzungen.Neben der Forderung nach Schadenswiedergutmachung, der wir zustimmen, steht für Sie der Behandlungsgedanke an herausragender Stelle. Dementsprechend stört es Sie kaum, wenn die langen Freiheitsstrafen zunehmen und die Bundesrepublik insgesamt mit einer Gefangenenzahl von fast 85 pro hunderttausend Einwohnern zwar unter den Spitzenreitern in Europa ausgeschieden ist, aber immer noch eine obere Position hält.Der Rückgang der Gefangenenzahlen wie auch der Untersuchungshäftlingszahlen kann sich sehr schnell wieder umkehren. Es zeigt sich jetzt schon, daß das bei den Untersuchungshäftlingen der Fall ist. Wenn wir keine wirkungsvollen Beschränkungen in die Strafprozeßordnung schreiben, ist abzusehen, daß wir bei den Untersuchungshäftlingen bald ebenso wie bei den Strafgefangenen wieder Spitzenreiter werden, wenn nicht auch eine materielle Entkriminalisierung, z. B. im Bereich des Betäubungsmittelgesetzes, endlich in Angriff genommen wird.Wir GRÜNEN haben eine ganz andere Auffassung. Wir sind im Gegensatz zur Bundesregierung der Meinung, daß Behandlung im Gefängnis ein Widerspruch in sich ist. Eine Behandlung dort bedeutet immer Zwangsbehandlung. Gefängnis ist eine völlig künstliche soziale Welt. Ich bin keine Gegnerin von Behandlungen — das will ich hier klarstellen, damit man mir nicht das Wort im Mund herumdreht — , aber ich bin Anhängerin einer Behandlung auf freiwilliger Basis. So, wie jetzt überwiegend behandelt wird, dient die
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12630 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau NickelsBehandlung immer zur Rechtfertigung von Einschränkung und Disziplinierung. Die geltenden Vollzugslokkerungen und der bereits praktizierte und sich ausbreitende Wohngruppenvollzug werden ebenfalls zur Disziplinierung der Gefangenen und weniger zur Wiedereingliederung, zu der sie eigentlich dienen sollten, gebraucht.An der Basis, in den Gefängnissen selbst, hat sich schon längst die Erkenntnis durchgesetzt und breitgemacht, daß das Gefängnis — jedenfalls der geschlossene Vollzug — absolut ungeeignet ist, Menschen zu einem straffreien Leben in Freiheit zu befähigen. Die hohen Rückfallraten erwachsener Inhaftierter und die noch höheren bei den Jugendlichen, die jedoch am ehesten einer Erziehung und Behandlung zugängig sein müßten und für die auch weitaus mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, sprechen hier eine beredte und traurige Sprache.Als Konsequenz aus diesen Erfahrungen, die schon lange bestehen, ist der Vorschlag von seiten der GRÜNEN: Begrenzen Sie die Gefängnisstrafen auf die wirklich notwendigen Fälle, bei denen die Allgemeinheit geschützt werden muß. Verzichten Sie aber dann auf alle pseudowissenschaftlich begründeten Behandlungsansprüche, und reduzieren Sie den Strafvollzug, auf das, was er leisten kann: Schutz der Allgemeinheit für eine gewisse Zeit und damit Sicherheit nach außen bei gleichzeitig größtmöglicher Freiheit im Innern! Geben Sie den Gefangenen mit den Geldern, die dann frei würden, die Möglichkeit, daß ihre Arbeit angemessen entlohnt und sie in die Lage versetzt werden, den angerichteten Schaden wenigstens finanziell zu ersetzen. Sorgen Sie dafür, daß an verurteilten Straftätern nur Freiheitsentzug vollzogen wird und sie nicht auch noch unter Gesundheitsentzug zu leiden haben, etwa weil die Arbeitsbedingungen, die Ernährung in Verbindung mit unzureichender Bewegung und die mangelhafte medizinische Versorgung sie krank machen oder noch kränker werden lassen.Entlasten Sie auch die Bediensteten von dem unerfüllbaren Anspruch, Behandlung gegenüber Strafgefangenen erfolgreich vermitteln zu sollen! Geben Sie ihnen vielmehr zur Aufgabe, die gröbsten und nach der Entlassung am schlimmsten spürbaren Auswirkungen des Gefängnisaufenthaltes soweit es geht abzumildern, wie es das Gesetz in § 3 Abs. 2 vorschreibt.Sorgen Sie dafür, daß Frauen im Vollzug nicht noch schlechtere Ausgangsbedingungen vorfinden als die Männer! Das heißt: In erster Linie sind in allen Bundesländern genügend Plätze für Frauen vom geschlossenen in den offenen Vollzug umzuwidmen. Diese müssen so fein verteilt sein, daß eine heimatnahe Unterbringung gewährleistet ist.Ich kann hier nur einige wenige Bereiche unserer Kritik ansprechen. Wir haben einige wichtige Punkte in dem vorliegenden Entschließungsantrag eingebracht. Darüber hinaus liegen ja noch etliche Initiativen von uns hier im Parlament an, die Sie ja auch kennen.Ich nenne als Beispiel dafür die in unserem Antrag geforderte Aufhebung der Übergangsvorschrift für den offenen Vollzug. Hier möchten wir endlich Klarheit dergestalt schaffen, daß § 201 Nr. 1 des Strafvollzugsgesetzes, die Übergangsregelung, endlich gestrichen wird.Wir wollen auch, daß Leerstand im offenen Vollzug in einigen Bundesländern beseitigt wird, der sich damit begründen läßt, daß diese Anstalten sehr weit wegliegen, in der Provinz, und Besuche hier kaum möglich sind oder die Arbeitsbedingungen dort unzumutbar und abschreckend sind. Wir wollen, daß das geändert wird, indem solche Bedingungen geschaffen werden, daß sie für die Strafgefangenen akzeptabel sind und der offene Vollzug auch wahrgenommen werden kann.Wir wollen darüber hinaus, daß eine Hürde im Gesetz, die absolut unnötig ist und die mit verhindert, daß der offene Vollzug wirkliche Verbreitung findet, die Soll-Vorschrift in § 10 des Strafvollzugsgesetzes — damals als Kompromiß zwischen Regierungsentwurf und Bundesratskritik konzipiert — , beseitigt wird. Mit unserem Antrag wollen wir die Soll-Bestimmung in eine Muß-Bestimmung umwandeln, wie es die damalige Regierung vorhatte.Weiterhin fordern wir in unserem Antrag, daß die unmenschlichen Hochsicherheitstrakte, in denen es nach Ihrer Auskunft mindestens 84 Zellen gibt, endlich abgeschafft werden.
Es ist allgemein bekannt, daß Ihnen die sogenannten terroristischen Gefangenen ausgegangen sind und die Länder nun zunehmend sogenannte normale Gefangene hineinstecken. Manche von diesen Menschen haben im Gefängnis wahrscheinlich wirklich aggressive Verhaltensweisen gezeigt. Aber indem man sie noch verschärfter wegsperrt, hilft man weder diesen noch den Beamten, die da arbeiten müssen.Der letzte Punkt unseres Entschließungsantrags soll sicherstellen, daß die gerichtliche Entscheidung, ob ein zu „lebenslänglich" verurteilter Mensch nach 15 Jahren entlassen wird, zügig ergeht. Wir wissen, daß Gefangene die Möglichkeit, sich durch Ausgang, offenen Vollzug oder Urlaub zu bewähren, noch immer verspätet bekommen, so daß die vielen Voraussetzungen für vorzeitige Entlassung nur sehr schleppend erfüllt werden können. So bleibt der Gefangene manches Jahr länger im Gefängnis, als schon nach der geltenden Rechtslage in § 57 a Strafgesetzbuch nötig wäre.Es ist kein Geheimnis, daß wir nach wie vor für eine völlige Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe eintreten, weil sie unmenschlich und kriminalpolitisch unsinnig ist. Anträge dazu haben wir schon öfter eingebracht; sie sind immer vehement abgelehnt worden.Wir wissen seit dem 3. Oktober vorigen Jahres von Herrn von Bülow aber auch — das sage ich abschließend — , daß im BMJ ein Referat damit betraut ist, eine Reform des Mordparagraphen vorzusehen. Nun ist wieder ein Jahr vergangen. Herr Minister, ich frage Sie, wie es mit diesem Vorhaben von Ihrer Seite steht.Danke schön.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12631
Das Wort hat der Abgeordnete Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage nach dem Sinn staatlichen Strafens, nach den Strafzwecken und nach dem Strafvollzug stellt sich immer wieder neu. Obwohl wir 1977 nach jahrzehntelanger Diskussion das Strafvollzugsgesetz erhalten haben, ist die Diskussion um den richtigen Weg im Strafvollzug längst noch nicht zu Ende gekommen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 hat diese Diskussion neu entfacht.
Nun gibt es viele übereinstimmende Momente in der Diskussion, z. B., daß wir den Täter-Opfer-Ausgleich im Ansatz genauso wollen wie Sie, Frau Nikkels. Es gibt sicherlich auch eine Übereinstimmung darüber, daß die Strafrechtspflege eine entscheidende Rolle in unserem Gemeinschaftswesen spielen muß. Daß sie die Aufgabe hat, den Bürger zu schützen, ihm die Möglichkeit zu geben, sich in seinen Rechten frei zu entfalten, ihm überhaupt erst den Spielraum zu eröffnen, innerhalb dessen er seine Freiheit nach den Gesetzen entfalten kann, über diese Frage besteht, wenn ich Sie richtig verstanden habe, bereits Streit.
Ich meine, daß ich mich hier auf wenige grundsätzliche Streitpunkte beschränken sollte, weil das ganze Spektrum in einer zehnminütigen Rede natürlich nicht erörtert werden kann.
Wir sind uns einig, wir müßten uns einig sein in der Frage, daß derjenige, der gegen unsere Ordnung verstößt, von der Polizei zu verfolgen ist, daß er von den Staatsanwälten anzuklagen ist und daß Gerichte diese Verletzung unseres Gemeinschaftswesens mit den dafür vorgesehenen Strafen zu ahnden haben.
Aber schon in dem Punkt, wie der Vollzug auszurichten sei, unterscheiden wir uns erneut. Schon in der Frage unterscheiden wir uns, ob der Vollzug mit der Strafrechtspflege überhaupt zusammen zu sehen ist, ob er mit der Strafrechtspflege eine Einheit darstellt, ob also Verfolgung, Urteil und Vollzug zusammengehören oder ob hier nicht eine Trennung vorzunehmen ist. Wir sagen: Der Vollzug muß dem Urteil folgen, weil die Strafrechtspflege sonst eine zwar teure, aber doch ziemlich lächerliche und nutzlose Veranstaltung wäre.
Viele, Sie von den GRÜNEN, aber auch andere, versuchen, wie ich schon erwähnt habe, einen Trennungsstrich zwischen der Strafverfolgung durch die Polizei und dem Urteil einerseits und dem Vollzug andererseits zu ziehen. Sie versuchen insbesondere, den Vollzug von den Überlegungen des Gerichtes zur Tat, zur Persönlichkeit des Täters und zur Schwere der Schuld abzukoppeln. Insbesondere scheint sich ein Unterschied darin aufzutun — jedenfalls zwischen Ihnen und uns — , daß wir nicht nur auf die Resozialisierung, auf die Behandlung setzen, sondern daß wir sagen, daß der Strafvollzug seinen Sinn und Zweck auch darin finden muß, die Bevölkerung vor weiteren Straftaten zu schützen. Hier scheint mir ein erheblicher Differenzpunkt zwischen Ihrer und unserer Auffassung zu sein.
Dabei meine ich, daß Ihre Auffassung gegen das geltende Gesetz verstößt, weil § 2 des Strafvollzugsgesetzes in seiner heutigen Fassung zwei Aufgaben vorsieht: einmal die Behandlung, also die Resozialisierung, zum anderen aber auch den Schutz der Bürger vor weiteren Straftaten. Diese innere Sicherheit kann der Bürger auch verlangen, dafür zahlt er Steuern, und schließlich kann sich nicht jeder eine eigene Schutztruppe leisten. Es geht im Strafvollzug also zunächst einmal um ein Zweifaches: um die Behandlung des Täters, um die Resozialisierung, aber auch um den Schutz des Bürgers.
Nun stellt sich die Frage, ob noch weitere Strafzwecke in den Strafvollzug einfließen sollten. Ich habe schon erwähnt: Natürlich kommt auch hier das Moment des Täter-Opfer-Ausgleichs, in dem wir im Ansatz übereinstimmen. Aber ich meine, daß Ihr Versuch, den Strafvollzug völlig von dem Urteil und dem Schuldspruch abzukoppeln, mißlingen muß; denn jeder Täter weiß, warum er ins Gefängnis kommt, weil er nämlich schuldhaft gehandelt hat. Die Strafe kommt schließlich nicht wie eine Urgewalt oder wie ein Naturereignis über den Täter, sondern deshalb, weil am Anfang seiner Tat seine freie Entscheidung steht. Er weiß, wenn sich die Gefängnismauern hinter ihm schließen, warum er ins Gefängnis kommt, weil er nämlich schuldhaft gehandelt hat.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja.
Bitte schön, Frau Abgeordnete Nickels.
Herr Geis, was Sie da gerade sagen, ist keine Einzelmeinung in CDU-Kreisen. Aber ich will Sie ganz präzise fragen — ich beziehe mich auf das Strafvollzugsgesetz — : Wenn Sie so argumentieren, stimmen Sie dann mit Herrn Dr. Klose aus dem Landtag von Nordrhein-Westfalen überein, der den Angleichungsgrundsatz, der im Strafvollzugsgesetz niedergelegt ist, als utopisches Ziel abqualifiziert hat?
Den Angleichungsgrundsatz?
Den Angleichungsgrundsatz.
Würden Sie das einmal näher erläutern?
Sie sind doch Jurist und nicht ich. Der Angleichungsgrundsatz im Strafvollzugsgesetz besagt, daß die Bedingungen im Strafvollzug nach Möglichkeit dem normalen Leben anzugleichen sind. Das widerspricht dem, was Sie gerade ausgeführt haben.
Nein. Ich komme darauf noch zu sprechen, wenn ich zu der Frage komme, inwieweit die Schuld bei den Behandlungsmethoden zu berücksichtigen ist.Ich will ja zunächst einmal feststellen, daß man den Strafvollzug grundsätzlich nicht von der Schuld trennen darf, weil dies ein Bruch in dem ganzen Hergang wäre. Man kann den Strafvollzug, wie ich vorhin
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12632 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Geisschon gesagt habe, nicht von der Tat, von der Hauptverhandlung und nicht von der Verurteilung des Täters abtrennen. Ein jeder Täter wird aber nur dann verurteilt, wenn er schuldhaft gehandelt hat.Wenn man dem Täter die Schuld aber ausreden will, wenn sich die Gefängnistore hinter ihm schließen, dann macht man einen entscheidenden Fehler. Denn wie will der Täter denn je zu einem vernünftigen Leben kommen, wie will er je resozialisiert werden, wenn er sich während des Strafvollzugs nicht mit seiner Tat auseinandersetzt, wenn er nicht beginnt, seine Schuld einzusehen?Ich meine, ein weiterer Gedanke kommt dabei mit ins Spiel, nämlich die Frage der Sühne. Neben dem Gedanken der Schuld muß auch der der Sühne Eingang in den Strafvollzug finden. Die Sühne ist immer ein innerer Vorgang. Die Sühne ist ein subjektiver Vorgang beim Täter.
Wenn man dem Täter die Möglichkeit zur Sühne ausreden wollte, würde man ihm dann nicht — so frage ich — letztendlich seine Würde nehmen, nämlich die Möglichkeit, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen und sich selbst zu entschulden? Wenn er wirklich nur ins Gefängnis kommen und dort behandelt werden sollte, würde er dann nicht ganz schnell nur zum Behandlungsobjekt staatlicher Erziehung werden? Wäre er dann nicht nur noch Objekt staatlicher Vergeltung, wenn man ihm die Möglichkeit ausredete, sich selbst durch Sühne gewissermaßen zu entschulden? Dieser Gedanke von Schuld und Sühne ist — das weiß ich — verpönt; er geht gegen den Geschmack verschiedener Leute. Aber ich glaube, daß er im Grunde der Würde gerade des Strafgefangenen entspricht.Das heißt aber nicht, daß der Täter, wenn wir die Schuld in den Strafvollzug einführen, besonders zu behandeln wäre.
Das heißt nicht, daß er nun ein schlechteres Essen bekäme, daß er eine schlechtere Zelle bekäme oder auf einer härteren Matratze schlafen müßte. Es heißt vielmehr, daß selbstverständlich die Schuld dann ins Spiel kommt, wenn es um die Frage geht, ob er vorzeitig in den freien Vollzug kommt, daß sie dann ins Spiel kommt, wenn es um die Frage geht, ob und wann ihm Urlaub gewährt wird. Dann muß, wie ich meine, die Schwere der Schuld herangezogen werden. Das tut ja auch der Gesetzgeber implizit,
— nämlich, Herr de With, bei der Frage, ob und wann dem Täter die Strafe endgültig zu erlassen oder zur Bewährung auszusetzen ist. Da sieht der Gesetzgeber ja ausdrücklich vor, daß die Schwere der Schuld bei der Entscheidung eine Rolle spielen muß.Ich wiederhole, daß das Bundesverfassungsgericht dies in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1983 ebenfalls ausdrücklich gesagt hat. Es hat ausdrücklich erklärt, daß die Frage nach der Schwere der Schuld bei der Frage der Behandlung natürlich eine Rolle zu spielen hat.In diesen wesentlichen Fragen unterscheiden wir uns sicherlich voneinander.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. de With zu beantworten?
Ja, bitte.
Herr Kollege Geis, würden Sie die Güte haben, bei der von Ihnen angezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die abweichende Meinung von Mahrenholz nachzulesen, der bewiesen hat, daß es bei der Konzipierung des Strafvollzugsgesetzes Meinung sowohl der SPD als auch der CDU/CSU war, daß die Schuld mit dem Strafausspruch erschöpft ist und daß es im Strafvollzug nur noch um die Resozialisierung geht?
Er hat ausdrücklich das zitiert, was damals der heutige Justizminister von Baden-Württemberg erklärt hat, nämlich daß er dem zustimmt.
Herr de With, wer — wie Herr Mahrenholz — nur auf die Karte der Resozialisierung innerhalb des Strafvollzuges setzt, wer nur danach fragt, was für den jeweiligen Täter zu seiner Resozialisierung das beste ist, der müßte dem Vorschlag von Frau Nickels folgen, nämlich dem Täter die bestmögliche Strafe zu verordnen oder ihn am besten gleich freizulassen.
Das ist doch aber absurd! Das kann doch nicht Sinn und Zweck der Strafe sein, das kann nicht Sinn und Zweck unserer Strafrechtspflege sein.
Sie haben Herrn Mahrenholz mit der Minderheitsmeinung zitiert, und ich brauche das, was er gesagt hat, nicht zu wiederholen. Die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts sagt eindeutig, daß die Frage der Schuld bei der Behandlung des Täters innerhalb des Strafvollzugs natürlich heranzuziehen ist und eine Rolle spielen muß. Tun wir das nicht, setzen wir also einseitig nur auf Resozialisierung, können wir unter Umständen gefährliche Irrtümer begehen, Irrtümer wie beispielsweise bei dem Gladbecker Geiseldrama. Ich meine, daß wir diese Überlegung, die vom Bundesverfassungsgericht so ausgesprochen wurde, sehr wohl mit ins Kalkül ziehen müssen. Alle Strafzwecke, der Täter-Opfer-Ausgleich und die Resozialisierung — sie sogar an erster Stelle, was ich überhaupt nicht abschwächen will —, aber auch der Gedanke von Schuld und Sühne und die Sicherheit der Bevölkerung, müssen im Strafvollzug Berücksichtigung finden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12633
Dr. de Withhat sich in den letzten zwei Jahren wiederholt mit Problemen des Strafvollzugs beschäftigt. Gut so, sagen wir; denn nur durch eine immerwährende öffentliche Diskussion kann den vielerorts leider immer noch anzutreffenden Vorurteilen gegen den Strafvollzug wirklich begegnet und kann letztlich der Strafvollzug selber fortentwickelt werden.Es gab eine Kleine Anfrage der SPD und eine der GRÜNEN, die die Bundesregierung am 20. August 1987 behandelt hat. Es ging schon damals um Fragen der Einbeziehung der Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversicherung, um die Festsetzung eines angemessenen Arbeitsentgelts für die Strafgefangenen.Es ging aber auch — damit bin ich schon bei Ihnen, Herr Geis — um die Vorstellung der von der CDU und der CSU geführten Länder — es war in erster Linie Bayern, und Sie sind ein Bayer —, einen Teil der Reformen wieder zurückzudrehen.
— Aber ich gehöre nicht der Partei an, die die Bayerische Staatsregierung trägt, nämlich nicht der CSU.
— So ist es. — Aber das sind Vorstellungen, Herr Geis, die wir Sozialdemokraten nicht akzeptieren können und die, jedenfalls was die Änderung des Strafvollzugsgesetzes anlangt, Gott sei Dank ihre Beerdigung im Bundesrat gefunden haben.Wir Sozialdemokraten wollen nicht, daß das Schuldprinzip den Straftäter doppelt belastet, nämlich einmal bei der Strafzumessung und zum zweiten bei der Behandlung im Rahmen des Strafvollzugs. Das Maß der Schuld des Täters spiegelt sich wider in der Strafe. Unter diesem Gesichtspunkt ist damals der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs refomiert worden. Bei der Behandlung im Strafvollzug aber darf die frühere Schuldfeststellung nicht notwendige und erfolgversprechende Resozialisierungsmaßnahmen behindern. Das ist der Punkt und nichts anderes.Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden uns mit allem Nachdruck dagegen wehren, daß die von mir geschilderten Prinzipien eine Änderung erfahren und damit § 2 des Strafvollzugsgesetzes im Sinne der bayerischen Vorstellungen zurückgedreht wird.Um so bedauerlicher ist es, daß die Justizminister von Baden-Württemberg und Bayern Erlasse herausgegeben haben, die dem widersprechen, wenn auch unterhalb der Gesetzgebung. Das kommt dem allerdings gleich.
Ich nehme an, Sie sind bereit, eine Frage zu beantworten.
Sicher.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Geis.
Herr de With, stimmen Sie mir zu, daß nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983 die Hereinnahme von Schuldüberlegungen in den Strafvollzug zumindest nicht gegen die Verfassung und damit auch nicht gegen das Gesetz verstieße, sondern daß auch § 2 des Strafvollzugsgesetzes diese Möglichkeit offenläßt?
Ich gehe davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht hier einem Irrtum erlegen ist; denn es war der erklärte Wille des Gesetzgebers
— hier kann ich nur Herrn Eyrich zitieren — , daß
— genau, wie die SPD es vorgeschlagen hat — die Schuld durch das Ausmaß der Strafe verbraucht sein sollte. Das Bundesverfassungsgericht hat das, was Sie hier vortragen dazu noch an zwei Fällen exemplifiziert, die generell zum Strafvollzug überhaupt nicht passen. Es ging nämlich darum, ob zwei wegen NS-Gewaltverbrechen zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte beurlaubt werden können. Das paßt generell überhaupt nicht zu dem, was wir hier erörtern. Ich meine, der Gesetzgeber sollte den Mut haben, auch zu sagen, daß das Bundesverfassungsgericht hier einem Irrtum erlegen ist. Das Bundesverfassungsgericht
— das sagen Richter ja auch selbst — macht sicher nicht alles richtig.
Sie wollen noch einmal nachfassen? — Bitte sehr.
Würden Sie sagen, daß viele Oberlandesgerichte, die dieselbe Entscheidung getroffen haben, sich ebenfalls geirrt haben?
Das ist meine Auffassung.Wir haben am 8. Dezember 1988 die erste Lesung des Gesetzentwurfs des Bundesrates zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes gehabt. Frau Nickels hat darauf schon hingewiesen. Das hat erst in der letzten Woche zu entsprechenden Ausschußberatungen geführt. Mit diesem Gesetzentwurf soll u. a. das Arbeitsentgelt des Strafgefangenen — ich sage das hier so — von sage und schreibe 146,60 DM auf 175,92 DM im Monat angehoben werden.
Das ist eine Maßnahme, von der zu sagen ich nicht müde werde, daß sie eigentlich einem entsprechenden Beschluß des Hauses nicht würdig ist. Wir brauchen wenigstens eine Anhebung des Arbeitsentgeltes um zwei Punkte, aber nicht nur um einen Punkt. Wird hier nur von einem Punkt angehoben, werden das viele als bloße Farce verstehen.
Ich darf auch darauf verweisen, daß sich die Fachwelt 1977 aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des Strafvollzugsgesetzes ausgiebig mit dieser Thematik befaßt hat und im Kern dem zustimmt, was ich hier ausführe.Die GRÜNEN sprechen in ihrer Großen Anfrage davon, daß das Strafvollzugsgesetz nach seiner Entstehung und Wirkung — ich zitiere jetzt wörtlich —„eine Geschichte scheiternder Ansprüche" sei und sich — das ist noch gravierender — „als Teil symbolischer Gesetzgebung" darstelle. Dem setze ich, Frau Nickels, entgegen: Trotz einer Reihe von Mängeln— jedes große Gesetz, auch dieses, ist letztendlich ein
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12634 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Dr. de WithKompromiß — hat das Strafvollzugsgesetz, das wir jetzt haben, mehr als 100 Jahre Gesetzlosigkeit für den Gefangenen beseitigt und sich seit seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1977 im Grunde bewährt. Niemand darf vergessen, daß es für den Bundesgesetzgeber nicht einfach ist, den Strafvollzug zu regeln, den Strafvollzug, den allein die Länder zu bezahlen haben; denn es gibt bekanntermaßen keine Bundesstrafvollzugsanstalt. Niemand darf übersehen, daß mit dem Strafvollzugsgesetz zum erstenmal in unserer Rechtsgeschichte überhaupt erstens dem Strafgefangenen verbriefte Rechte zugesprochen wurden, zweitens als Vollzugsziel die Resozialisierung festgeschrieben wurde und drittens auf dem Gefüge dessen der Reformzug wirklich erst in Bewegung gekommen ist: Arbeitslosenversicherung und Arbeitsentgelt hat der Strafgefangene erhalten, Kranken- und Rentenversicherung freilich noch nicht, aber sie werden gesetzlich eingefordert. Urlaub, offenen Vollzug, eine Fülle von Neubauten auch und eine stete Weiterentwicklung nehmen wir seitdem als gegeben hin. Daß wir eine Menge verbessert wissen wollen, ist auch klar. Aber wir alle wissen, daß es auch Fragen der Finanzen zu beachten gilt und daß die elf Länder unter einen Hut gebracht werden müssen. Deshalb ist die Kritik der GRÜNEN, die in dem Begriff der „symbolischen Gesetzgebung" gipfelt, nicht nur überzogen, Frau Nickels, sie ist ungerecht.Natürlich wünschen wir Sozialdemokraten uns weiter, daß es neben einer besseren finanziellen Ausstattung ein Fortschreiten gibt, zum Teil im Sinne dessen, was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegt haben. Aber ich meine — das sollten wir eigentlich alle beherzigen —, daß wir erst seit dem 1. Januar 1977 davon sprechen können, daß bei uns der Strafvollzug im Kern unseren Verfassungsansprüchen und einer modernen Zielgebung wirklich entspricht.Bei aller berechtigten Kritik am mangelnden Geldzufluß, aber auch an dem vielerorts anzutreffenden Unverständnis zur Notwendigkeit der Fortentwicklung des Strafvollzugs und natürlich auch — was wir bisher nicht erwähnt haben — der Besserung und Sicherung im Maßregelvollzug sollten wir eines nicht aus dem Auge lassen: daß nämlich das Strafvollzugsgesetz nur ein Reformgesetz im Gefüge des Strafrechtswesens überhaupt war und das Wort von unseren Gefängnissen als den „steingewordenen Riesenirrtümern" keineswegs allein durch eine teure Resozialisierung aus der Welt geschaffen werden kann. Das Strafvollzugsgesetz war ein Teil der Strafrechtsreformen der 60er und 70er Jahre, ja bis zu einem gewissen Grade deren Schlußstein. Die Einheitsstrafe unter Abschaffung von Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung und Haft, die Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe und die Erweiterung der Bewährungshilfe, die Überlegungen zur Schuld als Grundlage der Strafe, die Einführung des Bundeszentralregistergesetzes, die Verbreiterung der Gerichtshilfe, das waren nicht nur begleitende Maßnahmen zur Reform des Strafvollzugsgesetzes. Es waren gewissermaßen die Voraussetzungen, die Freiheitsstrafe letztendlich einzudämmen und, wenn sie schon verhängt werden muß, diese Maßnahmen zur Verkürzung der Freiheitsstrafe zu nutzen und den Vollzug deutlich zu verbessern. Wir alle wissen, daß der Strafvollzug, dasGefängnis, leider nach wie vor nicht nur als Makel im bürgerlichen Leben empfunden wird, sondern — sagen wir es ehrlich — ein wirklicher Makel ist. Noch immer ist auch unbestritten die Rückfallquote zu hoch. Aus diesem Grund kann bei einer Bewertung nach der Bewährung des Strafvollzugsgesetzes am Schluß nur die Forderung stehen, daß unser Sanktionenkatalog weiter reformiert werden muß, um, Herr Minister, unnötige Freiheitsstrafen, ich sage es ganz einfach: das Einsitzen im Knast vermeiden zu helfen.
In diesem Zusammenhang muß kritisiert werden, daß CDU/CSU und leider auch FDP mit der Bundesregierung unseren Vorschlag ablehnten, die Strafaussetzung zur Bewährung auszuweiten. Es ist zu bedauern, daß die Bundesregierung die Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes nicht zum Anlaß nimmt, den Jugendstrafvollzug auf neue Beine zu stellen. Früher war es der Jugendstrafvollzug, der reformierend dem Erwachsenenvollzug vorangegangen ist. Jetzt ist es zum Nachteil der jungen Leute leider genau umgekehrt.All das kostete wenig Geld, aber vielleicht Popularität. Die Bundesrepublik Deutschland war in den 60er und 70er Jahren der Motor der Rechtspolitik auf europäischer Ebene. Jetzt laufen wir Gefahr hinterherzuhinken.Wir Sozialdemokraten können den Bundesminister der Justiz nur ermuntern, hier etwas mehr Mut zu zeigen. Die Sache ist es wert. Der Strafgefangene ist nicht nur das schwächste Glied der Gesellschaft; unsere Gesellschaft hat Anspruch darauf, daß der Staat alles tut, daß für einen Bürger dieser Zustand nach Möglichkeit gar nicht erst eintritt. Das hat nichts mit Humanduselei zu tun. Es ist auch ein Stück Verbrechensbekämpfung.
Herr Präsident, bitte noch ein Wort zu dem Antrag, den wir erst heute zu Gesicht bekommen haben; ich habe auch Fragen beantwortet.
Herr Abgeordneter, ich habe Ihnen zwar die Zeit nicht angerechnet, aber wenn Sie sich kurzfassen, bin ich damit einverstanden.
Frau Nickels, ich kann verstehen, daß die GRÜNEN durch Anträge ihre Progressivität zeigen wollen. Nur, bei einem Thema dieser heiklen Art wäre es angezeigt, einen solchen Antrag früher vorzulegen, ihn vielleicht mit der einen oder anderen Fraktion abzusprechen,
damit wir gemeinsam mit der Macht des Parlaments die Regierung unterstützen und den Ländern zeigen, wohin die Reise mit dem Bundestag geht. Wenn Sie als einzelne Fraktion aber vorpreschen und zum Teil Absolutheitsansprüche stellen, können wir dem nicht folgen. Sie haben hier vieles aufgeführt, was wir alle unterschreiben. Aber wir können zur Zeit nicht vom
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Dr. de WithFleck weg — um nur einen Punkt zu nennen — das Gefangenenentgelt um 40 % erhöhen. Da streiken die Länder, und es passiert überhaupt nichts. Eine kleine Erhöhung ist besser als gar nichts. Genauso ist es mit vielen anderen Dingen.Deshalb verstehen Sie bitte, daß wir einem solchen Antrag, so hastig vorgelegt und so wenig abgeglichen, so nicht zustimmen können.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der GRÜNEN „ 10 Jahre Strafvollzugsgesetz — Kriminalpolitische Bestandsaufnahme und Perspektiven" wäre sicherlich hilfreicher und, Frau Nickels, auch sinnvoller gewesen, wenn dieser Anlaß, zehn Jahre Strafvollzugsgesetz, nicht mit unsachlichen und auch falschen Unterstellungen verbunden worden wäre.Das gleiche gilt — das hat Herr Dr. de With eben ausgeführt — auch für den Entschließungsantrag der GRÜNEN, der erst vor wenigen Minuten in meinem Büro eingetroffen ist. So kann man miteinander nicht arbeiten, und wir sind auch nicht bereit, solche Anträge zu unterstützen.Grundsätzlich begrüßen wir es, daß solch wichtige Gesetze wie das Strafvollzugsgesetz der ständigen Überprüfung auf Zweckmäßigkeit und tatsächliche und richtige Durchführung unterzogen werden. Denn der Strafvollzug betrifft nicht nur diejenigen, die als Häftlinge direkt betroffen sind, sondern auch die gesamte Öffentlichkeit in Verfolg des Strafanspruchs des Staates gegenüber dem Rechtsverletzer. Strafvollzug ist aber nicht nur eine Frage der Durchsetzung des Strafanspruchs des Staates, sondern auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe zur Resozialisierung und Wiedereingliederung des Täters.Wenn man diese drei Kriterien zur Prämisse nimmt, sind zehn Jahre Strafvollzugsgesetz insgesamt positiv zu beurteilen.Ich verkenne aber nicht, daß bei der faktischen Umsetzung des Strafvollzugsgesetzes noch eine Reihe von Mängeln vorhanden sind, die auch angesprochen werden müssen und zu beheben sind. Zehn Jahre Strafvollzugsgesetz — oder besser muß man sagen: zwölf Jahre Strafvollzugsgesetz, nämlich seit 1977 — sind also überhaupt kein Anlaß zur Jubelfeier, sondern eher Anlaß zur Nachdenklichkeit, wie dieses an und für sich moderne Gesetz noch besser umgesetzt werden kann.Ein wichtiger Punkt des Strafvollzugs ist, in welcher Form und in welcher Höhe Häftlinge Arbeitsentgelt zu erhalten haben. Herr Dr. de With hat gerade darauf hingewiesen. Sie wissen, daß es eine Gesetzesinitiative des Bundesrates gibt, dieses Entgelt zu erhöhen. Der Rechtsausschuß des Bundestages hat ja gerade in der letzten Woche beschlossen, hierzu eine Anhörung durchzuführen. Die vom Bundesrat vorgesehene Erhöhung scheint mir zu gering zu sein. Wir treffen uns dort; wir sind da völlig einer Meinung, Herr Dr. de With.Ich glaube auch, daß es nicht weiterhilft, wenn die Bundesländer immer nur das Gesetz der leeren Kassen geltend machen. Die Erhöhung des Arbeitsentgeltes könnte nämlich in Zukunft auch die Länder von Zahlungen im Bereich der Sozialhilfe entlasten und würde auch die Wiedereingliederung der Strafgefangenen nach ihrer Entlassung bzw. im Freigang erleichtern.Ein höheres Arbeitsentgelt diente auch eher den Bemühungen um einen besseren Täter-Opfer-Ausgleich und damit der gesellschaftlichen Befriedigung. Ein vernünftiger Täter-Opfer-Ausgleich setzt ja u. a. auch voraus, daß der Täter in die Lage versetzt wird, dem Opfer etwas zu geben.Das gleiche gilt für die Einbeziehung der Gefangenen in die Kranken- und in die Rentenversicherung. Die diesbezüglichen Bemühungen der Bundesregierung sind leider immer wieder auf den entschiedenen Widerstand der Bundesländer gestoßen. Ich meine, daß die Länder auch hier kurzsichtig handeln; denn bei Nichteinbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung werden sie irgendwann einmal im verstärkten Umfang der Sozialhilfe und damit wiederum den Ländern zur Last fallen. Wir haben ja auch im Plenum vor wenigen Wochen hierauf hingewiesen.Die Bundesregierung hat in den Eingangsbemerkungen ihrer Antwort auf die Große Anfrage auf die Belastbarkeit der Länderhaushalte und auch auf andere Fragen des Strafvollzugs hingewiesen. Hierzu zählt sicherlich auch die bauliche Situation der Strafvollzugsanstalten. Es ist nicht zu verkennen, daß die räumlichen Verhältnisse der häufig uralten Strafvollzugsanstalten dem Zweck der Resozialisierung — um es vornehm auszudrücken — nicht gerade förderlich sind. Das gilt nach wie vor auch für die Art und Weise der Unterbringung der Strafgefangenen, bei der auf die besondere Situation und auch auf die besonderen persönlichen Verhältnisse der Strafgefangenen kaum eingegangen werden kann. Ich verkenne nicht, daß einzelne Länder große Anstrengungen unternommen haben, um diese Situation zu verbessern. Aber auch hier wird nach wie vor das Gesetz der leeren Kassen geltend gemacht, obwohl gerade durch die besonderen baulichen Verhältnisse Gefängnisse wiederum zu Brutstätten des Verbrechens werden können.In diesem Zusammenhang weise ich ganz besonders auf den umfangreichen Drogenmißbrauch und den Drogenhandel in den Strafvollzugsanstalten hin. Ich teile nicht die Auffassung derer, die sagen, daß nur durch verschärfte Haft diese Drogenproblematik überwunden werden kann. Hier muß eine Sozialtherapie mit besserer Personalausstattung und besseren räumlichen Voraussetzungen gefordert werden. Es wäre kurzsichtig, sich auch hier auf die leeren Kassen zu berufen. Hier müssen die Länder aus besonderer gesellschaftspolitischer Verantwortung handeln, um die Strafanstalten von dem Makel zu befreien, besondere Brutstätten des Verbrechens zu sein.Ein humaner Strafvollzug mit guter Sozialtherapie kann die Rückfallquoten senken und damit auch langfristig gesellschaftspolitisch hilfreich sein. Ich weiß, daß diese Forderungen nach einem humanen Strafvollzug nicht sehr populär sind. Das gleiche gilt für
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12636 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Funkeden offenen Strafvollzug, den Freigang und den Urlaub aus der Haft. Mancher Politiker fordert z. B. anläßlich von Gewaltverbrechen — ich denke etwa an das Gladbecker Geiseldrama — allgemein die Verkürzung des Hafturlaubs und verschärften Strafvollzug. Dies kommt in der Öffentlichkeit natürlich gut an und wird von den Medien unterstützt. Dabei wird verkannt, daß nur wenige Strafgefangene den Hafturlaub zur Flucht oder zu neuen Straftaten nutzen.
Diese Form des Strafvollzugs ermöglicht vielmehr den Zusammenhalt der Familien und die Integration und Reintegration der Strafgefangenen. Einen Schritt zurück von diesem Strafvollzug wird es mit uns Liberalen, Herr Geis, nicht geben.
Lassen Sie mich abschließend sagen, daß das Strafvollzugsgesetz von 1977 insgesamt gute Voraussetzungen für einen humanen und gesellschaftspolitisch verantwortlichen Strafvollzug gibt. Der Bund hat das Seine getan. Die Länder sind aufgefordert, das ihre zur Umsetzung dieses Gesetzes weiter beizutragen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz, Hans Engelhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 12. Februar 1976 war es, daß der Deutsche Bundestag das Strafvollzugsgesetz einstimmig beschlossen hat. Ich lege auf diese Einstimmigkeit besonderen Wert. Man sollte sie ausdrücklich noch einmal hervorheben. Denn die Einstimmigkeit zeigt, daß das Strafvollzugsgesetz nicht die Kriminalpolitik einer Mehrheit des Parlaments widerspiegelt, sondern die gemeinsame Überzeugung aller damals hier vertretenen Parteien ist.Ich weise deshalb, Frau Nickels, ganz entschieden den Versuch der GRÜNEN zurück, das Strafvollzugsgesetz als — so wörtlich — symbolisches Gesetz zu diskreditieren. Der Vorwurf, das Gesetz genüge formal rechtsstaatlichen Anforderungen, ist unrichtig, und er ist herabsetzend und beleidigend.
Es sollte sich mittlerweile bei allen hier im Hause herumgesprochen haben, daß es durch unsere Verfassungskonstruktion im Grundgesetz mit der starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts keine Gesetze gibt, die nur legal, aber nicht legitim sind. Denn jederzeit kann sich jeder Bürger an das Bundesverfassungsgericht wenden und eine Überprüfung genau jenes Punktes herbeiführen.Der tatsächliche Erfolg des Gesetzes in der Praxis hat auch unsere damaligen Überlegungen aus dem Jahr 1976 bestätigt. Über dieses klare und eindeutige Ergebnis bin ich mir auch mit der Konferenz der Justizminister und Justizsenatoren der Länder einig, also mit denen, die für den Strafvollzug verantwortlich zeichnen.Hier vielleicht eine Bemerkung zu Ihrer nochmaligen Anfrage, Frau Nickels, warum die Beantwortung so lange gedauert hat. Es ist in der Tat mühsam, in einem föderalistisch strukturierten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland, wo elf Länder mit ihrer Politik und ihrem Personal die Verantwortung tragen, sich entsprechende Angaben zusammenholen zu müssen. Das nimmt in der Tat, je umfangreicher die Anfrage ist, beträchtliche Zeit in Anspruch.Wenn es ihnen politisch nicht paßt, nehmen die GRÜNEN diesen Befund natürlich nicht so gern zur Kenntnis, und so wird beispielsweise in der Frage 37 pauschal behauptet, die Ziele des Strafvollzugsgesetzes seien im Frauenstrafvollzug am wenigsten verwirklicht. Genau dies ist nicht richtig. Tatsächlich haben weibliche Strafgefangene eine deutlich niedrigere Rückfallquote als Männer, und wenn es das Hauptstrafvollzugsziel ist, die Eingliederung in das soziale Leben zu bewirken,
die Resozialisierung herbeizuführen, so wird man aus diesen Zahlen ganz zwangsläufig positive Schlüsse ziehen müssen, ohne das Ganze allzusehr zu vereinfachen. Dagegen bin ich auch. Aber es zeigt eben doch, daß hier durchaus gute Ergebnisse erzielt wurden.
Wir wollen jetzt in dem Fall — —
Wenn man einmal nachfragt, ob sich ein Gesetz, mehr als zehn Jahre gültig, ab dem 1. Januar 1977, bewährt hat oder nicht, muß man sich schon etwas mit den Zahlen beschäftigen. Dies hindert nicht, daß dies dann nicht eine Jubelveranstaltung zu werden braucht und wir mit rhythmischem Klatschen sagen: Hier haben wir alles so toll und prima, da ist nichts mehr notwendig! Nein, man kann durchaus Verbesserungen anstreben.Nur steht bei den GRÜNEN im Vordergrund — da will ich fortfahren — , daß sie von dem Ganzen eben nichts halten und daß sie, von der Freiheitsstrafe angefangen, ganz generell den geschlossenen Vollzug und vieles mehr überhaupt beseitigen wollen. Nun wissen wir alle, daß Sie diese Auffassungen haben, und wir widersprechen hier sehr deutlich. Da widerspreche ich nicht nur für das Bundesministerium der Justiz, sondern ich kann bei Ihrer generellen Ablehnung wahrscheinlich für alle widersprechen, die damals an der Beratung und Verabschiedung des Strafvollzugsgesetzes mitgewirkt haben. Es ist neben der Resozialisierung die Aufgabe des Strafvollzuges, die Bürger vor der Begehung weiterer Straftaten zu schützen. Da mag man die Dinge, die Akzente setzen, wie immer man will, dies ist eine Aufgabe, die erbracht werden muß und die um so stärker notwendig ist, je
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Bundesminister Engelhardgefährlicher im Einzelfall ein Täter oder auch einmal eine Täterin ist.Nun sind wir uns ganz sicherlich darüber einig, daß man mit einer viel stärkeren Bereitschaft, entgegenzukommen und deutliche Akzente zu setzen und nicht so hart hinzulangen, nichts unversucht zu lassen, Erststraftätern entgegenkommen sollte, und so wird man im Bereich der Jugendlichen und Heranwachsenden handeln müssen. Daran richtet sich unsere Politik auch aus.Die einfache Frage, die man in anderen Bereichen des Lebens ebenso stellen kann, ist: Wo sollte man sonst eigentlich beginnen, wenn nicht am sogenannten grünen Holz, an denen, die ihr Leben noch nicht so lange geführt haben, die jetzt zum erstenmal gestrauchelt sind? Ist es da in der Tat richtig, sie einzusperren? Kann da nicht etwas anderes unternommen werden?Die Bundesregierung ist hier der Überzeugung, daß die freiheitsentziehenden Sanktionen weiter zurückgedrängt werden sollten. Die von mir erarbeitete Änderung des Jugendgerichtsgesetzes reduziert deshalb die Freizeitarreste auf zwei Freizeiten, streicht das Institut der unbestimmten Jugendstrafe gänzlich. Ambulante Maßnahmen und die Strafaussetzung zur Bewährung wollen wir noch mehr als bisher zur Regel werden lassen. Die Jugendgerichtshilfe soll in erster Linie eine Hilfe zur Haftvermeidung sein. Die Untersuchungshaft soll beschränkt werden.Wir werden uns im übrigen mit dieser Frage morgen wieder beschäftigen: anläßlich eines Antrags der SPD-Fraktion. Ich werde wegen anderweitiger Verpflichtungen im Bundesrat — um dies hier schon zu sagen — wohl nicht anwesend sein können. Aber der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn wird Ihnen Rede und Antwort stehen, wo dies gewünscht wird.Nun ist auch völlig außer Streit, daß wir während der Freiheitsstrafe alles für den Täter tun müssen, um ihm später ein straffreies Leben zu ermöglichen. Für die Einbeziehung der Gefangenen in die Rentenversicherung, in die Krankenversicherung und die Erhöhung des Arbeitsentgelts haben wir uns schon in der Vergangenheit immer stark gemacht. Ich erinnere: In der 8. und 9. Legislaturperiode wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt, der damals gescheitert ist. Wir haben weitere Vorstöße unternommen. Auch ich bin der Meinung, daß jetzt die Erhöhung des Arbeitsentgelts von 5 % auf 6 % der Bemessungsgrundlage ungenügend ist, zu wenig ist.
Ich gehöre zu denen, die stolz sind, daß das Bundesministerium der Justiz nur einen Minihaushalt hat, der ein reiner Personalhaushalt ist, der nur ein Sechshundertstel des Bundeshaushalts umfaßt. Aber ich sage mit der gleichen Deutlichkeit, daß in den Ländern, wo die Justizhaushalte auch sehr klein gehalten werden, dies nicht angeht, weil dort wichtige und zentrale Aufgaben, etwa auch des Strafvollzuges, erfüllt werden müssen. Dafür ist eine gewisse Menge an Geld ganz einfach notwendig. Darüber einmal nachzudenken sollte in allen Ländern auch bei einer Grundsatzdebatte ein wichtiges Anliegen sein.
Herr Minister, Sie haben Ihr Redekonzept auf die rote Lampe gelegt, die leuchtet.
Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit eigentlich abgelaufen ist. Da einige dringend in den Ältestenrat müssen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie zum Schluß kämen.
Herr Präsident, ich trage dem Rechnung.
Meine Damen und Herren, gerade im Strafvollzug ist Realismus notwendig. Denn denjenigen, die in der Strafanstalt einsitzen müssen, ist nicht damit gedient, nein, es ist besonders bitter, wenn ihnen ganz besondere Hoffnungen gemacht werden, die sich dann nicht erfüllen. Realismus ist gerade im berechtigten Interesse der Gefangenen notwendig, die keinesfalls zum Spielball kriminaltheoretischer Erörterungen werden dürfen.
Danke.
Meine Damen und Herren, nun sind wir am Ende dieser Aussprache.Wir haben den Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/5404 vorliegen. Da die Fraktion der GRÜNEN keinen Widerspruch erhebt und alle Fraktionen einverstanden sind, empfehle ich Ihnen die Überweisung an den Rechtsausschuß. — Das ist damit so beschlossen.Wir haben jetzt noch einige Tagesordnungspunkte ohne Debatte abzuwickeln.Ich rufe den Punkt 7 der Tagesordnung sowie den Zusatzpunkt 3 zur Tagesordnung auf:Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 zum Europäischen Übereinkommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen— Drucksache 11/1822 —Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/5380 —Berichterstatter:Abgeordnete Hörster Schmidt
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik
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12638 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Vizepräsident Cronenbergzur Beratenden Versammlung des Europarats— Drucksache 11/4182 —Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 11/5271 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Müller Voigt
IrmerDr. Lippelt
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für einen Beschluß des Rates zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen zur Investitionsförderung in der Gemeinschaft aufzunehmen— Drucksachen 11/3882 Nr. 3.2, 11/5291 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Grünewaldd) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 133 zu Petitionen— Drucksache 11/5323 —e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 134 zu Petitionen— Drucksache 11/5324 —f) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens— Drucksache 11/5350 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. RüttgersZP3 Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der ehemaligen Vauban-Kaserne in Radolfzell, Steißlinger Straße 1— Drucksachen 11/5065, 11/5336 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Diederich Roth (Gießen)ZywietzFrau VennegertsWir kommen zunächst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 zu dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen. Er liegt Ihnen auf den Drucksachen 11/1822 und 11/5380 vor. Ich rufe das Gesetz mit seinen Artikeln 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist dieses Gesetz angenommen.Tagesordnungspunkt 7 b: Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den interfraktionellen Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Beratenden Versammlung des Europarates — Drucksachen 11/4182 und 11/5271.Ich rufe die Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung.Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Angenommen.Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 7 c: Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 11/5291 ab. Es handelt sich um einen Vorschlag für einen Beschluß zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen zur Investitionsförderung in der Gemeinschaft aufzunehmen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 7 d und 7 e: Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 11/5323 und 11/5324 ab — Sammelübersichten 133 und 134.Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sind diese Beschlußempfehlungen bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Tagesordnungspunkt 7 f: Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens — Drucksache 11/5350 — ab.Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung: Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung zur Veräußerung der ehemaligen Vauban-Kaserne in Radolfzell — Drucksache 11/5336.Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12639
Vizepräsident CronenbergMeine Damen und Herren, damit können wir in die Mittagspause eintreten. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 11/5381 —
Ich möchte dem Hause zunächst einmal bekanntgeben, daß die Aktuelle Stunde nach einer verkürzten Fragestunde etwa um 14.30 Uhr beginnt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer zur Verfügung.
Ich rufe Frage 9 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher auf:
Ist die Bundesregierung bereit, in Birma und auf internationaler Ebene nachhaltig für eine faire und freie Vorbereitung und Durchführung der von der dortigen Regierung für Mai 1990 angekündigten allgemeinen Wahlen einzutreten?
Frau Abgeordnete, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Bundesregierung ist allein und zusammen mit ihren europäischen Partnern wiederholt für demokratische Wahlen in Myanma eingetreten, sowohl unmittelbar gegenüber der dortigen Militärregierung als auch auf internationaler Ebene. Dabei wurde der myanmarischen Seite deutlich gesagt, daß wir die Aufhebung der Repressionsmaßnahmen gegen die Opposition als Voraussetzung für die faire Durchführung der versprochenen Wahlen betrachten. Die Bundesregierung wird sich hierfür auch weiterhin einsetzen.
Bitte schön, Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Frau Staatsministerin, da demnächst wohl Beratungen zwischen der EG und der ASEAN-Gruppe bevorstehen — ich glaube, sogar in Thailand —, darf ich Sie zusätzlich fragen, ob die Bundesregierung und das Auswärtige Amt beabsichtigen, auch bei dieser Gelegenheit die Frage der Garantie bei der Vorbereitung dieser Wahlen, soweit das überhaupt möglich ist, zur Sprache zu bringen.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Die regelmäßigen Beratungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den ASEAN-Staaten sind für Dezember in Malaysia vorgesehen. Mit Sicherheit werden auch die Situation in Birma und die Vorbereitung der dortigen Wahlen ein Thema sein.
Ich kann das Ergebnis der Beratungen heute nicht vorwegnehmen. Die Bundesregierung wird sich aber gemeinsam mit ihren Partnern auch dafür einsetzen, daß die Staaten in der Region alle Möglichkeiten nutzen, um zu demokratischen Wahlen in der Republik Myanma beizutragen.
Ihre zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatsministerin, der letzte Satz war ein wenig tröstlich, aber ich möchte das durch eine weitere Frage doch noch einmal festklopfen und die Bundesregierung und das Auswärtige Amt bitten, uns nach den Beratungen in Malaysia — wahrscheinlich in Kuala Lumpur — einen Bericht zu geben, welches Ergebnis die Beratung dieses Themas hatte, weil der Deutsche Bundestag ein ganz großes Interesse daran hat, das Seine dazu beizutragen, daß diese Wahlen in einigermaßen geordneten Verhältnissen ablaufen.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, die Bundesregierung wird dem Bundestag entweder in dem zuständigen Ausschuß oder im Plenum sehr gerne über diese Beratungen berichten.
Wir teilen Ihre Auffassung, die Sie durch Ihre Frage zum Ausdruck gebracht haben, daß die Vorbereitung wirklich fairer Wahlen dort sicherlich ein sehr schwieriges Problem darstellt, das wir als in keiner Weise gelöst ansehen.
Dann rufe ich die Frage 10 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher auf:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, für eine Beobachtung der Wahlen — besonders in den Gebieten ethnischer Minderheiten — international und bei der birmanischen Regierung zu sondieren?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, wie in allen ähnlich gelagerten Fällen beabsichtigt die Bundesregierung nicht, die Entsendung eigener Wahlbeobachter zu betreiben. Sie ist jedoch bereit, deutsche Parlamentarier, die möglicherweise zur Beobachtung der Wahlen nach Myanma reisen wollen, in der üblichen Weise zu unterstützen. Zunächst sollte aber die Festsetzung des Wahltermins abgewartet werden.
Die Durchführung der Wahlen in den Gebieten der ethnischen Minderheiten würde eine Einigung zwischen diesen und der Zentralregierung voraussetzen. Die ethnischen Guerillagruppen entziehen bekanntlich der Zentralregierung weite Teile der Kontrolle. Eine solche Einigung in dem seit über 40 Jahren andauernden Konflikt ist nach Kenntnis der Bundesregierung nicht in Sicht. Daß Wahlen in diesen Gebieten durchgeführt werden können, ist daher eher unwahrscheinlich. Ein Aufenthalt in diesen Gebieten ist zudem gefährlich.
Ihre Zusatzfrage.
Ich möchte gerne eine Zusatzfrage stellen, die mit der Problematik der bürgerkriegsähnlichen oder echten Bürgerkriegssituation in diesem Land zu tun hat. Diese Bürgerkriegssituation ist ja ein Erschwernis im Hinblick auf die Wahlen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man hört ja immer wieder, daß bestimmte deutsche Firmen unter der Firmierung „Unterstützung von Polizeikräften in Burma" weiterhin Lieferungen nach Burma tätigen. Ist Ihnen bekannt, ob
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12640 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau Dr. Hamm-Brücherdiese Lieferungen zwischenzeitlich endlich eingestellt worden sind, weil sie zweifellos dazu beitragen, daß keine innere Befriedigung stattfindet und somit wahrscheinlich keine einigermaßen freien Wahlen stattfinden können?Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, es gibt keine Genehmigung für den Kriegswaffenexport in dieses Land. Dies ist schon seit einiger Zeit der Fall.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Es handelt sich eben wohlweislich nicht um einen Kriegswaffenexport, sondern um die Ausstattung der Polizei. Ich möchte noch einmal fragen, ob dort ebenfalls ein Stopp angeordnet worden ist; er erschiene mir sehr dringlich.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, über die nicht genehmigungspflichtigen Exporte hat die Bundesregierung keinen Überblick.
Aber auch der Bereich, der von Ihnen angesprochen wurde, würde in das Gebiet der Außenwirtschaft fallen. In all diesen Fragen hat die Bundesregierung die innere Situation dieses Landes immer wieder im Auge gehabt und entsprechend gehandelt.
Vielleicht ist es möglich, mir darüber schriftlich noch etwas Genaueres mitzuteilen.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Das wird dann das Wirtschaftsministerium machen.
Die Kompetenzen können ja geklärt werden. Im Zweifel ist in der Tat der Wirtschaftsminister zuständig.
Ich rufe nunmehr die Frage 11 des Abgeordneten Jäger auf:
Weshalb weicht das Auswärtige Amt in seinen Antworten auf Fragen nach der Geltung des Hitler-Stalin-Paktes vom 25. August 1939 hartnäckig der Frage aus, ob dieses Abkommen nicht bloß seit dem Eintritt des Kriegszustandes zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR ungültig, sondern wegen seines gegen zwingende völkerrechtliche Normen verstoßenden Inhalts, insbesondere wegen des berüchtigten geheimen Zusatzprotokolls, dessen Existenz die UdSSR-Regierung heute nicht mehr leugnet, als von Anfang an nichtig zu behandeln ist?
Frau Staatsminister, Sie können die Frage 11 des Abgeordneten Jäger beantworten.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich habe mich zu Ihren Fragen, die Sie in ähnlicher Form bereits gestellt haben, am 28. September 1989 eindeutig geäußert. Erneut verweise ich auch auf das, was der Herr Bundeskanzler in der Regierungserklärung am 1. September dieses Jahres als Auffassung der Bundesregierung zu den politischen und rechtlichen Aspekten des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 dargelegt hat. Ich zitiere:
Die damaligen Vereinbarungen bedeuten eine schändliche Mißachtung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität Polens, der baltischen Staaten, Finnlands und Rumäniens. Dieser Anschlag auf das Völkerrecht, nicht zuletzt auf das Selbstbestimmungsrecht, war durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Wir verurteilen ihn und die nachfolgenden Gewalttaten ohne jede Einschränkung.
Die Bundesregierung hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinbarungen von 1939 für die Bundesrepublik Deutschland nicht rechtsgültig sind. Das bedeutet auch, daß wir aus dem Pakt selbst und aus seinen Zusatzvereinbarungen keinerlei Rechtfertigung für nachfolgende Völkerrechtsverstöße des Deutschen Reiches und der Sowjetunion herleiten.
Eine Zusatzfrage; bitte schön, Herr Abgeordneter Jäger.
Frau Staatsminster, da Sie heute erneut nicht auf die Frage antworten, ob der Hitler-Stalin- oder Ribbentrop-Molotow-Pakt wegen der schweren Rechtsverstöße, die er enthält, als von Anfang an nichtig zu betrachten ist, möchte ich die Frage wiederholen und auch die in meiner mündlichen Anfrage gestellte Frage noch einmal hinzufügen, weshalb sich die Bundesregierung, wenn sie schon diese schweren Rechtsverstöße feststellt, nicht dazu äußert, ob dies als von Anfang an nichtig betrachtet wird.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Aussage der Bundesregierung zu Ihrer Frage ist ausreichend präzise. Die Bundesregierung hat klar und deutlich gesagt und mehrfach wiederholt, daß die Vereinbarungen von 1939 für die Bundesrepublik Deutschland nicht rechtsgültig sind und daß wir aus den Vereinbarungen keinerlei Rechtfertigung für nachfolgende Völkerrechtsverstöße des Deutschen Reiches und der Sowjetunion herleiten. Dies alles ist ausreichend präzise.
Weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, erlauben Sie mir bitte noch folgende Zusatzfrage: Kann denn die Ungeklärtheit des Zeitpunktes, zu dem dieser Vertrag von der Bundesregierung für nichtig gehalten wird, nicht dazu führen, daß man die Bundesregierung auch in Polen fragen wird: Wie haltet ihr es denn mit dieser Nichtigkeit? Denn die Polen waren ja das allererste Opfer dieses Paktes.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat eindeutig klargestellt — sollte es entsprechende Fragen geben, wird sie auf diese sicherlich entsprechend antworten — , daß die Verletzung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität Polens, der baltischen Staaten und Rumäniens nicht durch diese Vereinbarungen zweier Diktatoren gerechtfertigt werden kann.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12641
Frau Staatsminister, es geht ja nicht nur um die Rechtfertigung, sondern darum, ob keine Folgerungen, wie Sie eben ausführten, für die Rechtsgültigkeit ab 1941 oder schon vom Abschluß der Geheimdokumente an — hier ist der entscheidende Punkt — angenommen werden. Wenn das letztere der Fall ist, müßte es ja bedeuten, daß sie von der Bundesregierung als nichtig betrachtet werden und entsprechende Bemühungen auch bei den anderen Kontrahenten auf Nichtigkeit von Anfang an betrieben werden.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung betrachtet diese Vereinbarungen als nicht rechtsgültig.
Ich denke, was für alle diejenigen, die davon betroffen waren, zählt, ist, das dies eine nicht rechtsgültige Vereinbarung gewesen ist. Dies ist eine präzise Aussage.
Frau Abgeordnete Hamm-Brücher.
Frau Staatsministerin, nachdem Sie eine so eindeutige, so klare und wiederholte Antwort auf die Fragen gegeben haben: Können Sie sich vorstellen, aus welchen politischen Gründen die Fragen hier eigentlich gestellt werden?
Frau Abgeordnete, ich kann die Frage nicht zulassen. Es handelt sich um eine Dreiecksfrage. Ich nehme aber an, daß mit Ihrer Frage der Sinn der Aktion schon erfüllt ist.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, die Bundesregierung nimmt zu Spekulationen in der Fragestunde keine Stellung.
Nun rufe ich die Frage 16 des Abgeordneten Jäger auf:
Werden die polnischen Grenzbehörden nach den Erkenntnissen der Bundesregierung die Zusage des polnischen Außenministers beachten, wonach ohne Erlaubnis nach Polen eingereiste Deutsche aus der DDR nicht gegen ihren Willen in die DDR zurückgeliefert werden, oder bleibt es bei der bisherigen gegenteiligen Handhabung?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Frage 16 beantworte ich wie folgt:
Die Zusage des polnischen Außenministers wird nach den Erkenntnissen der Bundesregierung beachtet. Deutsche aus der DDR werden gegen ihren Willen nicht in die DDR zurückgeführt, auch wenn sie nicht über die erforderlichen Reisedokumente verfügen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatsminister, darf ich aus dieser erfreulichen Beantwortung meiner Frage schließen, daß die polnischen Grenz- und Innenbehörden ihren Widerstand gegen die Erklärung des polnischen Außenministers aufgegeben haben?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich beziehe mich in meiner Antwort auf die tatsächlichen Verhältnisse, so wie sie auch von der Regierungssprecherin der polnischen Regierung dargestellt worden sind. Ich denke, daß dies gerade für die Menschen, die aus der DDR in die Volksrepublik Polen reisen, entscheidend ist.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, darf ich diese Zusatzantwort so interpretieren, daß sich Deutsche aus der DDR, die aus welchen Gründen auch immer, z. B. um dort Zuflucht zu suchen, in die Volksrepublik Polen reisen, sich darauf verlassen können, daß sie im Fall des Aufgriffs durch polnische Grenzbehörden nicht wieder in die DDR zurückgeschoben werden?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Die Regierungssprecherin der polnischen Regierung hat darauf hingewiesen, daß in den letzten Tagen kein einziger DDR-Flüchtling von polnischen Grenzbeamten festgenommen und an die DDR-Behörden übergeben worden ist. Dies entspricht auch nach den Erkenntnissen unserer Botschaft den Tatsachen. Nach den Aussagen des polnischen Außenministeriums ist dies ein dauerhafter Zustand.
Zusatzfrage des Abgeordneten Czaja.
Frau Staatsminister, haben sich — in Vollzug der Schutzpflicht für Deutsche — Vertreter der deutschen Botschaft an der Oder-Neiße-Linie davon überzeugt, daß in den letzten Tagen keine Festnahmen oder Zurückweisungen, insbesondere unter Beachtung von Art. 12 Abs. 2 des Menschenrechtspakts, erfolgt sind, oder stützen Sie sich nur auf die polnischen — zwischen den einzelnen Regierungsressorts in Polen unterschiedlichen — Aussagen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich denke, ich habe Ihre Frage soeben mit der Antwort auf die Frage Ihres Kollegen Jäger beantwortet. Die Botschaft überzeugt sich, soweit das irgend möglich ist, natürlich von den Gegebenheiten auch selbst, u. a. durch Gespräche mit denjenigen, die in der Botschaft Zuflucht suchen.
Danke schön.Dann rufe ich die Frage 12 der Abgeordneten Frau Geiger auf:Stellen die von Bundesminister Genscher am Rande der diesjährigen UNO-Generalversammlung in New York gegenüber Journalisten gemachten Äußerungen zur politischen Zweckmäßigkeit und zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Friedensmissionen die Meinung der gesamten Bundesregierung dar, insbesondere sind diese Äußerungen als Abschluß und Ergebnis der Meinungsbildung der Bundesregierung, die laut Auskunft des Bundesministeriums der Justiz vom 7. und 23. August 1989 noch nicht abge-
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Vizepräsident Cronenbergschlossen war, zu werten, und wann gedenkt die Bundesregierung das Parlament über das Ergebnis ihrer Meinungsbildung zu unterrichten?Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, ich bitte, Ihre beiden Fragen zusammen beantworten zu dürfen.
Einverstanden? —
Dann rufe ich auch die Frage 13 der Abgeordneten Frau Geiger auf:
Hat die Bundesregierung bei ihrer Meinungsbildung zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Friedensmissionen Rechtsgutachten führender Verfassungsrechtler eingeholt, und welche Bedeutung mißt sie in diesem Zusammenhang den Ergebnissen der Tagung des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht in Heidelberg zu, die diese Frage mit großer Mehrheit bejaht hat?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Ich beantworte beide Fragen wie folgt.
In einem Beschluß der Bundesregierung vom 30. August 1989 ist festgestellt worden, daß für Aufgaben im Rahmen von VN-Friedensmissionen, die über eine polizeiliche oder sonstige zivile Aufgabenstellung hinausgehen, nur der Einsatz der Bundeswehr in Betracht kommt, falls eine dahingehende Entscheidung getroffen wird. Die Meinungsbildung der Bundesregierung darüber ist noch nicht abgeschlossen.
Zusatzfrage.
Habe ich jetzt vier Zusatzfragen? — Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wann kann man denn davon ausgehen, daß die Bundesregierung ihren Meinungsbildungsprozeß abschließt? Da wir konkrete Anfragen der UNO haben, müßte es eigentlich auch einen Zeitplan geben, wann man im Kabinett über diese Dinge spricht.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Erstens. Es gibt keinerlei Anfrage der UNO zu einem Einsatz von Bundeswehrsoldaten in irgendeiner Friedensmission der Vereinten Nationen.
Zweitens. Ein Zeitplan für eine weitere Behandlung dieser Frage in der Bundesregierung ist nicht festgelegt.
Zweite Zusatzfrage.
Aber es dürfte inzwischen sicherlich auch ins Auswärtige Amt getragen worden sein, daß es gewisse Überlegungen in bezug auf Zentralamerika gibt. Was steht einer zügigen Beschlußfassung der Bundesregierung entgegen, wenn die Zweckmäßigkeit eines solchen Einsatzes bereits mehrfach festgestellt wurde?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Für die Friedensmission, die die Vereinten Nationen in Zentralamerika vorgesehen haben, die sogenannte ONUCA, liegt die Anforderung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen der Bundesregierung vor. Sie bezieht sich auf den Einsatz sowohl von medizinischem als auch von technischem Personal, also keineswegs der Bundeswehr. Die Bundesregierung wird darüber in Kürze entscheiden. Insofern ist keinerlei Zeitdruck gegeben, die weitere Frage, die Ihrer Anfrage zugrunde liegt, zu behandeln.
Nächste Zusatzfrage.
Ich möchte Sie, Frau Staatsministerin, noch fragen, ob es denn vorstellbar wäre, daß die Bundesregierung eine Entscheidung treffen würde, die im Widerspruch zu der eindeutigen Mehrheit der führenden Verfassungsrechtler stünde, wonach eine Änderung des Grundgesetzes für die Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Friedenstruppen nicht erforderlich ist.
Frau Abgeordnete, ich kenne die Zahl der Verfassungsrechtler in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Insofern kann ich auch nicht sagen, wie groß die Zahl derer sein muß, die sich für Ihre Ansicht — —
— Frau Abgeordnete, ich beantworte Ihre Frage trotzdem wie folgt: Ich kenne die Zahl der in der Bundesrepublik tätigen Verfassungsjuristen nicht. Deswegen weiß ich auch nicht, wieviel sich zahlenmäßig in Ihrem Sinne äußern müßten, um festzustellen, daß es dafür eine Mehrheit gäbe. Ich weiß allerdings, daß es auch unter Verfassungsjuristen durchaus möglich ist, daß sie ihre eigene Meinung ändern. Ich weiß darüber hinaus, daß die Frage, die Sie angesprochen haben, auch unter Verfassungsjuristen äußerst umstritten ist.
Und letztens: Die Bundesregierung wird ihre eigene Meinungsbildung nicht an einer Mehrheitsmeinung von Juristen, sondern an ihrer eigenen Einschätzung — dafür gibt es innerhalb der Bundesregierung im übrigen Verfassungsressorts — und den politischen Notwendigkeiten ausrichten.
Weitere Zusatzfrage.
Darf ich des weiteren davon ausgehen, daß die Äußerungen von Bundesaußenminister Genscher am Rande der UN-Vollversammlung mehr seine eigene Meinung als die Meinung des Bundeskabinettes waren?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, ich habe auf diese Frage bereits mit meiner ersten Antwort Bezug genommen und sie ausreichend beantwortet.
Dann hat der Abgeordnete Irmer die Möglichkeit, eine Frage zu stellen.
Frau Staatsminister, ist die Bundesregierung mit mir der Auffassung, daß es unerträglich wäre, in diesem Bereich eine Art verfassungsrechtliche Grauzone entstehen zu lassen, daß es z. B. unerträglich wäre, wenn UNO-Friedenstruppen aus der Bundeswehr in Marsch gesetzt würden, dann einem
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12643
IrmerSoldaten bei einem Einsatz etwas passieren würde und das Bundesverfassungsgericht dazu feststellen würde, daß dieser Einsatz verfassungswidrig war? Ist die Bundesregierung also der Auffassung, daß es zumindest zur Klarstellung erforderlich wäre, eine Grundgesetzänderung vorzunehmen?Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wie ich soeben auf mehrfache Nachfragen der Kollegin Geiger ausgeführt habe, hat die Bundesregierung diese Frage insgesamt noch nicht abschließend bewertet. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß die Bundesregierung — auch diese Bundesregierung — durch Beschlüsse des Bundessicherheitsrats, zuletzt vom 3. November 1982, festgestellt hat, daß militärische Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs vom Grundgesetz grundsätzlich nicht gedeckt sind. Eine weitergehende oder andere Entscheidung der Bundesregierung gibt es nicht.
Abgeordneter Rüttgers.
Frau Staatsministerin, Sie haben sich gerade zur Anzahl der Verfassungsjuristen in der Bundesrepublik Deutschland geäußert. Ist Ihnen bekannt, daß es bei Juristen so etwas wie eine herrschende Meinung gibt, an die sich nach gängiger Lehre alle Beamten halten müssen? Wenn nein, sind Sie bereit, sich darüber einmal zu informieren?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich habe bisher immer der Auffassung angehangen, daß das Verfassungsorgan Bundestag die Gesetze beschließt. Die Meinung von Juristen ist selbstverständlich ein wichtiges und wertvolles Instrument zur Meinungsbildung auch der Bundesregierung als Exekutive, aber die Entscheidungen werden nicht von Juristen getroffen.
Herr Abgeordneter Lüder.
Ist die Bundesregierung — das darf ich im Anschluß an die beiden vorhergehenden Fragen fragen — bereit, zu berücksichtigen, daß es verfassungsgerichtliche Entscheidungen auch gegen herrschende Lehren gegeben hat und daß dem Individuum Vorrang vor der herrschenden Meinung gegeben werden sollte, d. h. lieber eine Verfassungsabsicherung mehr als eine zuwenig?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Darstellung des generellen Grundsatzes entspricht sicherlich der Praxis innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Bezogen auf diesen konkreten Fall kann ich für die Bundesregierung nur noch einmal sagen: Es gibt einen Beschluß der Bundesregierung von 1982, den ich zitiert habe. Es gibt einen Beschluß der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Entsendung von Polizeitruppen nach Namibia, den ich ebenfalls zitiert habe. Eine weitere Meinungsbildung der Bundesregierung liegt nicht vor.
Frau Dr. HammBrücher.
Ich würde gerne auf die Frage zurückkommen und um ganz konkrete Beantwortung bitten, Frau Staatsministerin, weil immer wieder behauptet wird, die Vereinten Nationen würden uns bedrängen und immer wieder anfragen, wann wir endlich Bundeswehrsoldaten für Friedenseinsätze bereitstellen. Ich möchte Sie fragen: Liegen hier irgendwelche offiziellen Anfragen vor oder nicht?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Frau Abgeordnete, es liegen keine Anfragen der Vereinten Nationen — weder des Generalsekretärs noch des Sicherheitsrates, noch anderer Institutionen der Vereinten Nationen — auf Entsendung von Bundeswehrtruppen in Friedensmissionen vor.
Die Bundesregierung hat sich in der letzten Zeit auf Anfrage der Vereinten Nationen entschlossen, ein Polizeikontingent im Rahmen der Vorbereitung der Wahlen in Namibia zu entsenden. Es liegt jetzt eine weitere Anforderung für die Friedensmission in Zentralamerika vor, die sich, wie ich ausgeführt habe, auf zivile Mitarbeiter erstreckt. Weitere Anfragen liegen nicht vor.
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß sich die Bundesregierung materiell natürlich an allen Friedensmissionen der Vereinten Nationen beteiligt.
Herr Abgeordneter Czaja, auch Sie haben noch eine Frage.
Frau Staatsminister, würden Sie mir darin zustimmen, daß die Erfüllung von Aufgaben, die durch internationale Abmachungen erforderlich erscheinen könnten, durch das Grundgesetz nicht verhindert wird, oder ist die Bundeswehr davon ausgenommen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der Einsatzbereich der Bundeswehr ist im Grundgesetz in verschiedenen Artikeln geregelt. Das gilt auch für das, was zur Interpretation der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr herangezogen werden kann.
Es hat bei allen Bundesregierungen einen Konsens darüber gegeben, daß ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets nicht zulässig ist. Dieser Konsens ist 1982 auch von der gegenwärtigen Bundesregierung noch einmal bestätigt worden. Dies ist der Stand der Beschlußlage der Bundesregierung.
Nun rufe ich Frage 14 des Abgeordneten Dr. Kübler auf:Wird die Bundesregierung für den Fall, daß die USA auch — wie es in der Presse heißt — weiterhin chemische Waffen behalten werden, erklären, daß sie jede Form der Lagerung oder der Anwendung dieser chemischen Waffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ablehnen wird?Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, daß die in der Bundesrepublik Deutschland lagernden amerikanischen C-Waffen ersatzlos abge-
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Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzerzogen werden. Eine Stationierung neuer amerikanischer C-Waffen in Europa steht nicht zur Debatte.Im übrigen verweise ich auf die ausführliche und eindeutige Erklärung zu diesem Thema, die die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesminister des Auswärtigen und den Bundesminister der Verteidigung, bereits in der Debatte des Deutschen Bundestages vom 15. Mai 1986 abgegeben hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Kübler.
Frau Staatsministerin, können Sie mir jedoch bestätigen — und steht das dann nicht im Widerspruch zu Ihrer jetzigen Aussage —, daß die Bundesregierung vor einiger Zeit — ich weiß nicht mehr genau, wann — gegenüber der US-Regierung erklärt hat, daß sie bereit ist, die Lagerung von neuen binären chemischen Waffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu dulden, weil seinerzeit der US-Kongreß seine Entscheidung über die Mittelfreigabe für die Entwicklung dieser Waffen davon abhängig gemacht hat, daß sie gegebenenfalls auch in Europa zum Einsatz kommen können?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich verweise dazu nochmals auf die Erklärung des Bundesministers des Auswärtigen vom 15. Mai 1986 und zitiere wörtlich:
Der Bundeskanzler hat am 11. April 1986 erklärt: Es wird keine Stationierung neuer binärer chemischer Waffen in der Bundesrepublik Deutschland geben. Wir sind uns mit den Vereinigten Staaten einig: Es wird in Friedenszeiten keine Verbringung binärer chemischer Waffen in die europäischen Mitgliedstaaten der NATO geben, auch nicht im Rahmen einer Eventualfallplanung, es sei denn, es wird vom Aufnahmeland eigens gewünscht und gebilligt.... Das heißt, daß für uns wie für jedes andere NATO-Land klargestellt ist: Es bedarf unserer Zustimmung.
Am 6. März 1989 hat der Bundeskanzler erklärt, daß er nicht die Absicht hat, einer solchen Stationierung zuzustimmen. — Ich denke, das ist eindeutig und beantwortet Ihre Frage.
Herr Dr. Kübler, Sie haben zwar noch eine Zusatzfrage, aber ich würde empfehlen, erst die Beantwortung der Frage 15 abzuwarten; die kommt dann noch zur Beantwortung.
Dann rufe ich Frage 15 des Abgeordneten Dr. Kübler auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Dr. Wagner, der die umgehende Abschaffung aller Sonderrechte der US-Streitkräfte auf deutschem Boden — etwa auch bei militärischen Tiefflügen — gefordert hatte, in bezug auf die Frage nach der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, oder ist sie — wie in der Antwort auf eine mündliche Frage von mir mitgeteilt — der Auffassung, daß auch bei den Verhandlungen der Bundesregierung mit den USA über die Reduzierung von Tiefflügen keine Souveränitätsdefizite bestehen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung sieht es nicht als ihre Aufgabe an, Äußerungen von Verfassungsorganen der Länder zu kommentieren.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein souveräner Staat. Somit bestehen auch bei den Verhandlungen der Bundesregierung mit den NATO-Verbündeten über die Reduzierung von Tiefflügen keine Souveränitätsdefizite.
Eine Zusatzfrage.
Frau Staatsministerin, wenn ich auch Ihrer Auffassung zustimmen möchte, daß generell möglicherweise keine Souveränitätsdefizite bestehen, so möchte ich Sie doch fragen, ob Sie nicht der Auffassung sind, daß speziell durch das Truppenstatut die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik ungleich stärker eingeschränkt worden sind als die von anderen Alliierten im NATO-Bündnis?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der Abschluß des Truppenstatuts unterstreicht ja gerade die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, denn sie hat dieses Truppenstatut mit ihren NATO-Partnern als souveräner Staat abgeschlossen.
Soweit in der Zusatzvereinbarung auf bestimmte Rechte unter bestimmten Voraussetzungen verzichtet worden ist — z. B. auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit — , kann dies im Einzelfall jeweils wieder aufgehoben werden. Insofern sieht die Bundesregierung die Souveränität voll gewährleistet.
Weitere Zusatzfrage.
Wie würden Sie auf Grund Ihrer Aussage dann die beiden Urteile des Verwaltungsgerichts Darmstadt beurteilen, die sich, was die Aussagen zur Tiefflugreduzierung angeht, ausdrücklich auf die deutsche Luftwaffe beschränken, und sich ausdrücklich nicht auf Flugzeuge der Alliierten erstrekken?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, vielleicht darf ich Sie bitten, diese Frage noch einmal zu stellen, wenn der Kollege aus dem Verteidigungsressort anwesend ist, weil er Ihr zuständiger Partner für die Beantwortung ist.
Die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten Frau Walz werden auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Aus diesem Grunde und weil wir ohnehin in der Zeit sind, kann ich die Fragestunde schließen. Frau Staatsminister, wir bedanken uns.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12645
Vizepräsident CronenbergIch rufe nunmehr den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf :Aktuelle StundeÄußerungen des Bundeskanzlers zur Wohnungsnot und die Konsequenzen für Wohnungspolitik und Bundeshaushalt 1990Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion hat gemäß unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde beantragt.Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in unserem Lande eine Wohnungsknappheit und immer mehr Wohnungsnot. Die Regierung Kohl ist der Hauptschuldige für diese Entwicklung.
Der Bundeskanzler hat jetzt etwas gemerkt. Er hat dieser Tage mitteilen lassen, es müsse geprüft werden, was man denn tun solle.Ich frage Sie: Was hat denn die Bundesregierung in den letzten zwei, drei Jahren eigentlich getan,
als alle ringsum in der Republik erklärt haben, und zwar von Monat zu Monat deutlicher: Da ballt sich ein Problem zusammen, die Wohnungsknappheit nimmt zu, die Wohnungsnot nimmt zu? Was hat die Bundesregierung in den letzten zwei, drei Jahren getan, wenn der Bundeskanzler nun erklärt, es müsse geprüft werden, was denn jetzt getan werden solle?Die Wahrheit ist: Die Bundesregierung hat die wachsende Wohnungsnot der Menschen ignoriert. Sie konnten erkennen, wie sich die Dinge entwickeln, aber Sie wollten an Ihrer Politik festhalten und waren nicht bereit, sich auf das Problem zu konzentrieren und sich zu korrigieren. Sie waren nicht bereit, Ihre Politik zu ändern.Man konnte wissen, was da passierte: daß die Zahl der Haushalte steigt, daß eine Gruppe geburtenstarker Generationen in das Alter kommt, in dem sich Lebensgemeinschaften und Familien bilden, daß die Zahl der Alleinerziehenden, die keine Wohnung finden, zunimmt, daß jährlich 100 000 Wohnungen abgebrochen oder in ihrer Nutzung verändert werden, daß die Neubauzahlen halbiert werden. Das konnte man alles wissen.Aber alles das hat nichts genutzt, auch nicht die Mahnungen von Mieterbund, Bauindustrie und Maklern, die alle gesagt haben: Wir laufen auf ein riesiges Problem zu.
Sie haben das ignoriert. Der Bundeskanzler hat erklärt: Wir stehen vor einem Überangebot.Der Bauminister hat Weihnachten 1988 erklärt: Die Wohnungsversorgung in unserem Lande ist nicht gut, sie ist nicht sehr gut, sie ist ausgezeichnet. Das war die blanke Ignoranz gegenüber den Problemen der Menschen, die in einer Wohnungsnot stecken.
Sie wollten Ihre politische Linie fortsetzen, die da lautet: kein sozialer Wohnungsbau, weder bei den Neubauten noch im Bestand. Sie wollten diese Linie aus ideologischen Gründen nicht aufgeben. Das tragen Sie auf dem Rücken der Menschen aus, die keine Wohnung bzw. keine Wohnung haben, die sie noch bezahlen können.
Die Regierung hat diejenigen im Stich gelassen, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können, die nicht bauen können, die nicht kaufen können, die nicht mieten können.
Sie haben seit 1986 keine Sozialmietwohnungen mehr gefördert. Sie haben die Bedingungen für das selbstgenutzte Wohneigentum verschlechtert. Sie haben die falschen Signale an diejenigen gegeben, die als freifinanzierende potentielle Bauherren in Frage kommen.Die Regierung Kohl hat die Wohnungspolitik in eine Sackgasse gefahren.
Der Aktionismus dieser Tage kann den angerichteten Schaden nicht heilen. Vor allem: Wer in einer Sackgasse steckt, muß wissen, daß er, bevor er Gas gibt, die Richtung ändern muß, sonst gibt es irgendwo einen Crash. Diese Richtungsänderung haben Sie bisher noch nicht vorgenommen.
Frau Hasselfeldt versucht es mit Zuckerguß, aber ihr Bekenntnis zum sozialen Wohnungsbau ist immer noch sehr ambivalent. Das ist noch sehr undeutlich und müßte verstärkt werden.Nun versucht die Bundesregierung in diesen Tagen, sich im Zusammenhang mit diesen Problemen hinter den Menschen, die als Übersiedler zu uns kommen, zu verstecken.
Das Wohnungsproblem ist aber kein Aussiedler- und auch kein Übersiedlerproblem. Das Wohnungsproblem wurde 1985/86 programmiert. Es gäbe eine Wohnungsnot bei uns auch dann, wenn die Menschen aus der DDR und den osteuropäischen Ländern nicht zu uns kämen.
Wohnungsnot belastet das Verhältnis zwischen den Menschen, die als Einkommensschwache um Wohnungen, die es zum Teil noch gar nicht gibt, in Konkurrenz stehen. Deshalb muß die Bundesregierung
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Münteferingwenigstens jetzt den Mut haben, ehrlich zu sagen: Wer in dieser Situation in unser Land kommt, der wird relativ lange in Übergangs-, in Behelfsunterkünften wohnen müssen, ehe er eine neue Wohnung bekommen kann. Die Illusion, die Sie immer noch vor sich hertragen, als ob das Problem ganz schnell zu lösen wäre, sei es durch Trabantenstädte mit Fertigbauten auf dem freien Feld, ist eine blanke Illusion. Sagen Sie den Menschen: Wir haben eine Wohnungsnot, die wir verursacht haben, die Sie verursacht haben. Sagen Sie den Menschen, die jetzt kommen: Sie werden hier relativ lange auf Wohnungen warten müssen, die den Ansprüchen genügen. Sie werden lange Zeit in Behelfsunterkünften wohnen müssen.Wer das verschweigt, hilft nicht, die Akzeptanzprobleme, die es in diesem Lande gibt, zu lösen. Sie wissen doch, welche Probleme inzwischen in der Konkurrenz zwischen denen bestehen, die schon lange hier leben und mit Recht auch eine Wohnung haben wollen, und denen, die neu dazukommen und dieselben Erwartungen an uns haben.Den I-Punkt hat in der letzten Woche Graf Lambsdorff gesetzt, er möchte den Mieterschutz schleifen. 1983 hat er zusammen mit dem Bundeskanzler Zeitmietverträge eingeführt. Das reicht ihm aber jetzt wohl auch nicht mehr, sondern er möchte mehr. Ich kann Ihnen nur sagen: Hände weg vom Mieterschutz! Der Kahlschlag gegen die Mieter darf nicht weitergehen.
Das ist mein Appell auch an die, die in der Koalition da ein Stückchen sozialer denken als der Graf.
Das Wort hat der Abgeordnete Kansy.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition und die Parteien der Koalition haben im Laufe dieses Jahres verschiedenste Maßnahmen zur Verbesserung der Situation am Wohnungsmarkt beschlossen, bereiten weitere vor und loten alle realistischen Möglichkeiten aus, nicht nur langfristig, sondern auch kurzfristig zu neuem Wohnraum zu kommen. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, machen Pressekonferenzen, veranstalten Aktuelle Stunden
und wiederholen Ihre unsinnigen Anschuldigungen gegen die Bundesregierung, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen will; das macht mein Kollege Geis.
— Ich werde Ihnen einmal etwas sagen: Es war Ihr Ministerpräsident, Herr Reschke, der hier noch vor wenigen Jahren auf der Matte stand und forderte, das Bundesbauministerium abzuschaffen.
Es war Herr Zöpel, Ihr Bauminister, der die Häuserabreißen wollte. Und Sie stellen sich jetzt hier als großer Zampano hin und zeigen mit dem Finger auf die Regierung, statt mitzuhelfen, daß wir aus dieser Situation herauskommen.Was Ihr sogenanntes Dringlichkeitsprogramm betrifft, das Sie gestern der Presse vorgestellt haben,
so will ich es folgendermaßen zusammenfassen: Es steht manches Neue und manches Richtige drin, nur, das Richtige ist nicht neu, und das Neue ist nicht richtig. Aber wir begrüßen es, wenn die Vorschläge wie die kurzfristige Mobilisierung von zusätzlichem Wohnraum auch aus dem Bestand, die Errichtung eines Fonds, um den Kommunen zu ermöglichen, Bindungen einzukaufen, und vor allen Dingen die Steigerung der Bauproduktion auch Ihre Unterstützung finden.Dann sind Sie auf die Schnapsidee gekommen, meine Damen und Herren, zu sagen, wir hätten kein Baulandbeschaffungsproblem, und Sie sind auf die böse Behauptung gekommen, alle diese Maßnahmen sollten nur Aus- und Umsiedlern zugute kommen.
Das ist völliger Unsinn. Wir haben immer gesagt, dasgilt für jeden, der im Wohnungsmarkt Probleme hat.
— Sehen Sie sich doch Ihre eigene Presseverlautbarung von gestern an! — Sie unterstellen uns, wir wollten Schlichtwohnungsbau machen statt, wie wir es vorhaben, Normalqualität und vernünftige Stadtentwicklung. Mit solchen Behauptungen wird der Einstieg in die Gemeinsamkeit leider etwas dünn ausfallen.Was will die CDU/CSU? Wir haben gemeinsam mit unserem Koalitionspartner in den letzten Wochen eine ganze Reihe von Beschlüssen gefaßt, die den Wohnungsbau ankurbeln, die Wohnprobleme der Studenten lösen helfen, das Wohngeld verbessern, Wohnraum aus dem Bestand mobilisieren und anderes. Eine Reihe weiterer Beschlüsse,
— das wissen Sie ja — steht auf der Tagesordnung unserer Koalitionsgespräche.Zusätzlich haben in den letzten Wochen Politiker der Unionsparteien aus Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam mit Fachleuten aus Wohnungswirtschaft, Bauwirtschaft, Finanzwirtschaft, Baurechtspraxis und anderen überlegt, was wir in dieser Situation zusätzlich tun können, um mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung alle Möglichkeiten auszunutzen, die wir als Wirtschaftsgroßmacht Bundesrepublik Deutschland haben.
— Herr Reschke, Sie passen in die Kette, die ich jetzt aufzähle. Überall Bedenkenträger: Das haben wir noch nie gehabt! Das war schon immer so! Das finde ich gut, aber warum so schnell? Die Bauwirtschaft ist zu stark ausgelastet! Die Staatsfinanzen sind überstra-
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Dr.-Ing. Kansypaziert! Die Umwelt ist gefährdet! Und so weiter. Lang ist die Liste der Bedenken.Um den Wohnraumsuchenden, zu denen zur Zeit täglich mehr als 1 000 Menschen hinzukommen, zu helfen, müssen wir in dieser Situation etwas wagen, was machbar ist, aber nicht erprobt ist,
um statt der bisherigen 300 000 Wohnungen für 1990 aus Ausbau und Bestandsmobilisierung möglichst 400 000 zu machen. Ich kann hier in der Kürze der Zeit unser Programm nicht vorstellen; Sie haben es ja sicherlich gelesen. Wir haben die Sache noch nicht abschließend in der Koalition behandelt.Zum Schluß möchte ich noch folgendes sagen: Es ist richtig, daß unsere Bauwirtschaft gut beschäftigt ist. Es ist aber auch richtig, daß wir noch 75 000 arbeitslose Bauarbeiter in Nürnberg registriert haben, Wenn es uns gelingt, in diesem Bereich zu mobilisieren, brauchen wir wahrscheinlich nicht über die Grenzen der Bundesrepublik hinauszusehen. Es ist auch richtig, daß es ungenutzte Kapazitäten im Fertigbau gibt, und zwar keine Nissenhütten, sondern vernünftige Konstruktionen ohne die Fehler der 70er Jahre.Aber eins möchte ich sagen: Wenn wir statt Bedenken nun nicht endlich Ideen zusammentragen und nicht mit den gegenseitigen Vorwürfen zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und Parteien aufhören, statt alle zusammenzustehen,
werden wir dieses Problem nicht lösen. Wir als CDU/ CSU stehen dazu zur Verfügung.Vielen Dank, Herr Präsident.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich heute morgen die Berliner Tageszeitung aufschlug und sah, daß die SPD-Fraktion jetzt ein Fünfjahresprogramm mit 100 000 Wohnungen pro Jahr vorschlägt, da konnte ich nur lachen. Genau das haben wir letztes Jahr vorgeschlagen, und genau das wurde mit den Stimmen Ihrer Fraktion abgelehnt. — Das nur nebenbei.
— Das ist richtig, leider. Aber ich freue mich, daß Sie offensichtlich gewillt sind, die Position zu ändern; es genügt nur noch nicht.Zu dem plötzlichen Übereifer des Bundeskanzlers und zu den Krokodilstränen, die Sie alle heute hier über die Wohnungsnot vergießen, möchte ich folgendes sagen: Als die Wohnungsnot in der Bundesrepublik noch das Problem von bundesdeutschen Haushalten mit niedrigem Einkommen war, als sie das Problem von Alleinerziehenden, von Kinderreichen, vonAusländerinnen und Ausländern, von Menschen war, die aus dem sozialen Wohnungsbau ausgegrenzt sind, weil sie in Wohngemeinschaften leben oder weil sie Lesben oder Schwule sind, als sich die Warteschlangen vor den Wohnungsämtern nur — nur! — aus den Opfern der freien Marktwirtschaft und nicht aus den Einwandererinnen und Einwanderern aus dem real existierenden Sozialismus bildeten, da kümmerte sich von den Koalitionsfraktionen kein Mensch um die Wohnungsnot, und die SPD-Fraktion tat es nur sehr, sehr halbherzig.
Damals sagte die Bundesregierung: Uns geht es so gut wie noch nie. Bauminister Schneider dachte laut darüber nach, Wohnungen abreißen zu lassen, und keine müde Mark floß mehr in den sozialen Wohnungsbau. Ganz im Gegenteil: Der Ablauf der Preis-und Belebungsbindung im sozialen Wohnungsbau wurde durch das Haushaltsstrukturgesetz von 1982 durch die SPD/FDP-Regierung beschleunigt,
und die Spekulation mit Gebrauchtwohnungen wurde dadurch unheimlich begünstigt, daß seit 1987 der Kauf einer Altbauwohnung in gleicher Höhe von der Steuer abgesetzt werden kann wie der Bau einer Neubauwohnung.
Diese politischen Entscheidungen führten dazu, daß jährlich Hunderttausende von Mietwohnungen und Hunderttausende von Sozialwohnungen verlorengegangen sind. Diese politischen Entscheidungen sind die eigentlichen Ursachen für die Wohnungsnot und nicht hauptsächlich die Einwanderer und Einwandererinnen aus der DDR. Die Wohnungsnot gab es, lange bevor die erste Einwanderungswelle aus dem Osten eingesetzt hat.
Die Neuankömmlinge hatten ganz einfach das Pech, in ein Land einzuwandern, in dem es bereits Wohnungsnot gab. Sie kamen sozusagen vom Regen in die Traufe. Die meisten von ihnen sind darüber wahrscheinlich gar nicht besonders überrascht.Niemand soll sagen, die Wohnungspolitik der Bundesregierung habe versagt. Im Gegenteil: Sie war sehr erfolgreich. Sie haben eine Politik für Leute gemacht, die dazu in der Lage sind, sich Wohnungen zu kaufen oder sich Häuser zu bauen. Das ist Ihnen gelungen. Wer es sich leisten kann, hat bereits Wohneigentum. Sie haben eine Politik für Spekulanten und Konzerne gemacht. Das ist Ihnen auch gelungen. Diesen Leuten geht es heute so gut wie nie.Sie haben eine Politik gegen den sozialen Wohnungsbau, gegen das untere Drittel der Gesellschaft gemacht. Davon sind jetzt zufällig und ganz nebenbei auch die Neuankömmlinge aus der DDR betroffen. Das allein scheint Sie zu besorgen. Alle anderen, die
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12648 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau Oesterle-Schwerinschon vorher davon betroffen waren, haben Sie nie interessiert.Was Sie jetzt vorschlagen, ist der reinste Horror,
der reinste Horror ist das: Schlichtbauten in Form von Fertighäusern, neue Trabantenstädte, neue „Märkische Viertel", neue „Chorweiler" ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Berücksichtigung aller bisherigen Erfahrungen.Die Wohnungspolitik der Bundesregierung ist unökologisch. Sie ist destruktiv. Sie ist aber auch immer sehr lukrativ für diejenigen gewesen, die es verstanden haben, ein Geschäft daraus zu machen.
Nur diese Leute können ein Interesse daran haben, jetzt möglichst schnell möglichst schlechte, sozial nur kurzfristig gebundene Wohnungen aus dem Boden zu stampfen. Niemand anders kann daran Interesse haben.
Es geht allerdings auch anders. Wie, das werde ich im Verlauf der Debatte noch darstellen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohnungspolitische Debatten verlaufen hierzulande zyklisch.
Seit Anfang der 70er Jahre wechseln sich mit schöner Regelmäßigkeit Leerstands- und Haldendiskussionen und Wohnungsnotdiskussionen ab.
Das ist nicht verwunderlich, weil Wohnungsversorgungsprobleme außerordentlich emotionsbefrachtet sind und weil Planung, Produktion — —
— Entschuldigung, ich habe doch überhaupt nichts beklagt, verehrter Kollege. Daß das ein emotionsbefrachtetes Thema ist, aus dem Sie Kapital schlagen wollen, das spürt hier doch wohl jeder.
Weil die Planung — —
Ich bitte, mir die Zeit hinzuzurechnen, die diese unqualifizierten Zwischenrufe einnehmen.
Herr Abgeordneter, fahren Sie fort.
Meine Damen und Herren, ich sagte: weil das ein emotionsbefrachtetes Thema ist und weil Planung, Produktion und Finanzierung des besonderen Wirtschaftsgutes Wohnung sehr viel Zeit und sehr viel Geld kosten.
Um so mehr sind wir aufgefordert, eine ruhige Bewertung vorzunehmen, weil nämlich bei dieser Kombination der Umstände ganz leicht Versorgungsengpässe oder Überangebotsituationen überzeichnet oder verniedlicht werden.
Damit kein Irrtum entsteht: Wir haben zur Zeit dicke Probleme,
die teilweise oder sogar in ganz erheblichem Umfang Wohlstandsprobleme sind. Die vermehrte Wohnflächennachfrage breiter Schichten der Bevölkerung auf Grund gestiegener Realeinkommen, die extreme Zunahme von Einpersonenhaushalten, die auf den Wohnungsmarkt drängenden geburtenstarken Jahrgänge und die in dieser Höhe nicht vorhersehbare Zahl von Neubürgern, die wir versorgen müssen, haben unsere Leerstandsreserven aus den Jahren 1984, 1985 und 1986 schwinden lassen wie Schnee in der Sonne
und haben Versorgungsprobleme gravierender Art jetzt auf den Tisch gelegt.
— Verehrter Kollege — —
— Verehrter Kollege!
— Es ist nur so störend, wissen Sie, akustisch störend, Frau Kollegin.
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen aber nicht den Freiraum schaffen, daß Sie sozusagen ohne Zwischenrufe sprechen.
Nein, nein, Herr Präsident.
Aber ich wäre dankbar, wenn wenigstens der Redner etwas mehr reden dürfte als die Zwischenrufer.
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Herr Präsident, ich verlange von Ihnen gar nicht, daß Sie mir das verschaffen.
— Der betreffende Rufer muß nur hinnehmen, daß es qualifiziert wird, wie es sich gebührt.
Es muß gehandelt werden. Und diese Bundesregierung hat gehandelt. Wir haben im Frühjahr die bekannten Beschlüsse gefaßt: Aufstockung der Mittel im sozialen Wohnungsbau, drastisch verbesserte Abschreibungsbedingungen für den Mietwohnungsbau. Wir haben vor 14 Tagen richtungweisende Beschlüsse gefaßt. So etwas wie die Mobilisierungsabschreibung für Wohnungen aus der vorhandenen Gebäudesubstanz mit fünfmal 20 % hat es in der Steuergeschichte dieses Landes noch nicht gegeben. Wir haben das 2-Milliarden-Zinsverbilligungsprogramm bei der KfW für den studentischen Wohnungsbau und für diejenigen, bei denen steuerliche Anreize nichts bewirken, aufgelegt. Wir prüfen jetzt auch noch Fertigbauprogramme — das ist richtig — , aber sicher nicht in Schlichtbauweise. Wir werden auch noch das Notwendige tun, um Zeitabläufe zu raffen und um administrative Hemmnisse zu beseitigen.
Ich finde, es ist richtig, daß der Bundeskanzler die Wohnungspolitik zu einem innenpolitischen Thema mit Priorität für die nächste Zeit erklärt hat.
Aber ich sage mit aller Deutlichkeit, was das nicht bedeutet. Es bedeutet erstens nicht, daß Wohnungen sich aus dem Boden stampfen ließen. Unerfüllbare Erwartungshorizonte wären das Schlimmste, was wir uns leisten können.
Zweitens. Die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten für die Wohnungspolitik, verehrter Kollege, sind beim Bund lediglich in Form einer bestimmten Rahmengesetzgebung für Steuerrecht und Baurecht und in einer gewissen Finanzierungsverpflichtung aus dem 2. Wohnungsbaugesetz, wo wir die gesetzliche Verpflichtung mit einem zehnfachen Übersoll erfüllen.
Davon abgesehen liegt die Zuständigkeit ausschließlich bei den Ländern und den Kommunen. Es geht überhaupt nicht an, Probleme, die sich aus unzulänglichen Entwicklungen von Flächennutzungsplänen, örtlichen Bauplänen und sozialem Wohnungsbau vor Ort ergeben, vor dem Bundeskanzleramt abgeladen werden. Da gehören sie nämlich nicht hin.
Trotzdem ist es richtig, daß der Bundeskanzler diese Initiative ergriffen hat. Sie muß jetzt — ich bitte darum — in den Konsens aller staatlichen Ebenen münden, auch in den Konsens mit der beteiligten Bauwirtschaft und der beteiligten Wohnungswirtschaft.
Wir haben ein Problem.
Aber wir haben auch alle Voraussetzungen, um es in überschaubarer Zeit sachgerecht, ohne Hektik und mit Augenmaß zu lösen.
Das Wort hat der Abgeordnete Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Gattermann, Sie haben anscheinend Keynes nicht richtig gelesen. Die letzte Aktuelle Stunde war vor acht Monaten. Insofern sind wir in einem antizyklischen Bereich, und die Hektik der Diskussion wird sicher noch größer werden, wenn die Zunahme der Wohnungsnot sich noch deutlicher zeigt.Damals, vor acht Monaten, haben der Wohnungsbauminister und die gesamte Regierungskoalition jeden Hinweis auf Wohnungsnot hier im Plenum noch verhöhnt.
Ich zitiere dazu eine Äußerung des Pressesprechers der Bundesregierung vom 19. März 1989:Die Bundesregierung erwartet bereits in den nächsten Jahren eine deutliche Entspannung auf dem Wohnungsmarkt und eine Begrenzung des Anstiegs der Mieten.
— Da muß ich Sie fragen: Unter welchen Faktoren haben Sie das vor acht Monaten erwartet, wo sich der Bereich doch Monat für Monat verschlimmert hat?Kollege Kansy, ich hätte erwartet, Sie hätten heute, wo Sie immer noch viele Bereiche ignorieren, hier ein anständiges Konzept vorgelegt, wie Wohnungen entstehen sollen und was die Bundesregierung tatsächlich betreiben will. Was Sie tun, ist im Endeffekt nichts anderes als Flickschusterei. Sie reden über Schlichtwohnungsbau, Tafelbauweise, Fertighäuser, die kaum neuen Wohnraum bringen; das sagt Ihnen mittlerweile ja auch die Industrie. Statt ein vernünftiges Programm der Regierung vorzulegen, haben Sie etwas anderes getan. Die Behauptung, die Sie soeben hier aufgestellt haben, stimmt nicht. Sie haben wortwörtlich gesagt: Wir haben in den vergangenen Jahren verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung der Situation auf dem Wohnungsmarkt beschlossen. Sie haben dies beschlossen: Seit 1984 wird der soziale Mietwohnungsbau von dieser Regierung praktisch nicht mehr gefördert. Die Bundesregierung sieht tatenlos dem Auslaufen der Sozialbindung bei öffentlich geförderten Wohnungen zu. Die Bundesregierung unternimmt nichts gegen die fortschreitende Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Aus ideologischen Gründen wurde die Wohnungsgemeinnützigkeit zerschlagen und damit die letzte Wohnraumreserve, die wir dringend brauchen, um sozialpolitische Verteilung in den Städten zu ermöglichen, vernichtet.
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12650 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
ReschkeIn der Eigentumsförderung fördern Sie ganz besonders diejenigen, die die Förderung eigentlich gar nicht brauchen,
denn Steuervorteile bis zu 70 000 oder 80 000 DM bekommt derjenige, der über 100 000 DM Einkommen hat, und der andere liegt im Bereich von 35 000 bis 40 000 DM.
— Selbstverständlich. Wir kämpfen auch für eine Mehrheit.Eine Bestandsförderung, die sinnvolle Modernisierung und Energiesparmaßnahmen beinhaltet, findet bei Ihnen nicht statt.Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Antrag für ein Sofortprogramm vorgelegt. Das war übrigens schon im Februar, und wir haben gestern noch einmal deutlich mit konkreten Maßnahmen daran erinnert. Dies sieht vor, daß in den nächsten fünf Jahren in Form eines Dringlichkeitsprogramms die Wohnungsnot bekämpft wird. Dazu gehört, daß dauerhaft nutzbare Wohnungen jährlich in einer Größenordnung von 350 000 Wohnungen entstehen, davon mindestens 100 000 Sozialwohnungen; dies ist für uns ein wichtiger Punkt. Ich halte es für sehr wichtig, weil es ein Skandal ist, daß Wohnungsbauprogramme dieser Regierung aufgelegt werden, die eine Bindung und Sozialpflichtigkeit von nur wenigen Jahren haben.
Jeder weiß, daß die Ziele für die nächsten zehn Jahre heißen müssen: Neubau, Ausbau, Umbau, um Wohnraum zu schaffen, und es reicht nicht, darum herumzureden. Wohnungswechsel und Dachgeschoßausbau helfen da allein nicht. Jeder weiß, daß der Bestand gesichert und nicht in Fortführung der heutigen Sanierung vernichtet oder abgerissen werden muß. Jeder weiß, den Gemeinden muß geholfen werden, damit sie tatsächlich Bauland bereitstellen können und nicht mit ökologischer Belastung, wie es teilweise vorgeschlagen worden ist, in die Freifläche gehen müssen.Wir wollen den neuen Wohnraum über sozialen Wohnungsbau schaffen. Wir haben vorgeschlagen, die Bindungen im Sozialbestand weiterhin zu verlängern, und wir haben vorgeschlagen, was Sie abgelehnt haben, die Geltung des Gemeinnützigkeitgesetzes für Wohnungen zu verlängern. Wir wollen die Ablösung der öffentlichen Mittel erschweren, und wir wollen eine vertragliche Regelung zwischen Eigentümern für die Inanspruchnahme frei finanzierter Wohnungen. Dazu gehört es natürlich auch, Zweckentfremdung und Umwandlung preisgünstiger Mietwohnungen zu unterbinden.Ich möchte hier noch einmal deutlich hervorheben, daß die SPD-Bundestagsfraktion ein geschlossenes Programm vorgelegt hat, mit dem qualitativ guter Wohnungsbau geleistet werden kann. Weder Mietrechtsänderungen noch Baurechtsänderungen, wie Sie sie teilweise in den Diskussionen vorschlagen, schaffen neuen Wohnraum in qualitativer und sozial gesicherter Form. Die Bundesregierung muß endlich die Rahmenbedingungen sozial und nicht nur ökonomisch gestalten, um dem Recht auf familiengerechtes Wohnen wieder Raum in doppeltem Sinne zu schaffen.
Das Wort hat der Abgeordnete Geis.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten endlich mit den falschen Schuldzuweisungen aufhören; die helfen nicht den Wohnungsuchenden.
Ich werde Ihnen das gleich sagen. Sie schüren den Konflikt und helfen damit den Wohnungsuchenden überhaupt nicht.
Wer den Konflikt schürt, der handelt diametral gegen die Interessen der Wohnungsuchenden, weil wir nämlich im Augenblick ein Klima brauchen, in dem es den privaten Investoren ermöglicht wird, sich überhaupt auf dem Baumarkt zu engagieren, denn der Staat allein kann die Nachfrage nicht stillen, auch nicht mit einer dutzendfachen Erhöhung des sozialen Mietwohnungsbaus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle wissen doch, woher die jetzige Wohnungsverknappung kommt. Herr Müntefering, ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie heute nicht von einer Wohnungsnot, sondern von einer Wohnungsverknappung geredet haben.
— Dann sollten Sie sich mal mit Ihrem Kollegen Müntefering unterhalten; vielleicht kommen Sie dann auf bessere Gedanken.
Wir alle wissen, woher die Wohnungsverknappung kommt. Wir wissen, daß das hohe Realeinkommen der Familien es diesen ermöglicht, sich neue, bessere, schönere Wohnungen zu suchen. Das schafft Nachfrage. Und wir wissen, daß junge Menschen aus den Familien ausziehen und sich eine eigene Wohnung suchen können, weil sie das Geld dazu haben, um die Miete zu bezahlen. Das schafft Nachfrage. Wir wissen, daß alte Menschen so hohe Renten haben — wir sollten dafür dankbar sein —, daß sie die Mieten für ihre Familienwohnungen zahlen können. Das schafft Nachfrage. Wir wissen auch, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Mitte der 80er Jahre die privaten Investoren auf Grund des desolaten Zustands der Wohnungswirtschaft — denken Sie an den Zu-
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Geissammenbruch der Neuen Heimat oder an die großen Leerstände — nicht bereit waren, sich im Wohnungsbau zu engagieren. Das ist der Grund für die Wohnraumverknappung.Nun kommt noch hinzu — das können sie nicht verschweigen; das darf man auch nicht verschweigen —, daß wir in diesem Jahr natürlich für 600 000 Aussiedler, Umsiedler, Übersiedler und Flüchtlinge Wohnraum beschaffen müssen.
Das schafft die momentan vorhandene Verknappung.Vor zwei, drei Jahren, Herr Müntefering, haben Sie überhaupt noch nicht von Wohnungsnot geredet.
Warum hat ihre Regierung in Nordrhein-Westfalen beispielsweise Mitte der 80er Jahre ihre Mittel für den Sozialwohnungsbau 1983 bis 1988 von sage und schreibe 1,8 Milliarden auf 660 Millionen DM zurückgeführt, also um mehr als zwei Drittel?
Warum haben Ihre Länderministerpräsidenten gefordert, der Wohnungsbauminister solle zurücktreten? Weil er nach wie vor dafür eingetreten ist, daß der Wohnungsbau nicht ganz am Boden liegt, daß nach wie vor investiert wird.
— Herr Müntefering, einer meiner ersten Eindrücke hier im Deutschen Bundestag war, daß Sie in dem Ausschuß, in dem wir beide gemeinsam sitzen, gefordert haben, das Bundesbauministerium aufzulösen. Das war noch vor zwei Jahren Ihre Rede.
Herr Müntefering, wir können gemeinsam im Protokoll nachschauen. Wir werden dann entdecken, daß richtig ist, was ich sage.Sie haben damals überhaupt nicht an Wohnungsnot und auch nicht an Wohnraumverknappung gedacht. Sie konnten auch gar nicht daran denken. Nach dem Ergebnis der Volkszählung haben wir nun einmal — bitte lachen Sie nicht darüber, sondern erkennen Sie die Wahrheit an — in der Bundesrepublik Deutschland pro Einwohner im Durchschnitt einen Wohnraum von 35 Quadratmetern.
1968 waren es nur 24 Quadratmeter. Wir liegen damit — daran kommen Sie nicht vorbei — , wenn man die Schweiz einmal wegläßt, an der Spitze der westlichen Welt.
Wir hatten den Fall der Neuen Heimat. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat sein Wohnungsbauvermögen von 17 Milliarden DM für sage und schreibe 1 DM an den Berliner Bäcker Schießer verschleudert.Das war und ist doch Fakt. Das hat dazu geführt, daß die privaten Investoren nicht mehr bereit waren zu investieren.
— Nein, das ist nicht böse. Ich kann hier gar nicht mehr anders reagieren, Frau Matthäus-Maier. Sie müssen einmal daran denken, was Sie selber die ganze Zeit gesagt haben.
Sie sollten mit falschen Schuldzuweisungen aufhören.
Ich wiederhole: Wir kommen damit nicht weiter. Wir brauchen die Hilfe aller. Wir brauchen die Hilfe der Gemeinden, und wir brauchen auch die Hilfe der Länder. Die Gemeinden dürfen nicht blockieren, wie das im Augenblick in München passiert. Die Stadt München ist an der Meinradstraße bereits seit fünf Jahren im Besitz eines großen Geländes, das sie vom Bund erworben hat und wofür der Bebauungsplan bereis seit fünf Jahren rechtskräftig ist. Die Stadt München ist bis heute nicht in der Lage, dort Wohnungen zu bauen. Gut und gerne 650 Wohnungen könnten dort gebaut werden.Wir müssen die Gemeinden bitten, wir müssen die privaten Investoren bitten und müssen ein Klima schaffen, damit neue Wohnungen gebaut werden. Denn Wohnungen brauchen wir. Darüber wollen wir nicht streiten.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Oesterle-Schwerin.
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mein Versprechen von vorhin wahrmachen.
Wenn Sie das, was ich vorhin gesagt habe, nicht auf sich sitzen lassen wollen, wenn Sie gegen die Wohnungsnot und nicht auf Kosten der Ökologie wirklich etwas tun wollen, dann machen Sie folgendes: Öffentlich geförderte Sozialwohnungen dürfen nicht mehr aus der Bindung herausfallen oder vorzeitig herausgekauft werden. Ändern Sie also das Wohnungsbindungsgesetz.
Verändern Sie die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Streichen Sie den § 10 e des Einkommensteuergesetzes.
Stoppen Sie die Mietenexplosion.
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Frau Oesterle-SchwerinÄndern Sie das Miethöhengesetz, damit Mieterinnen und Mieter nicht weiterhin Angst haben müssen, daß sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können.
Je mehr Wohnungen wir im Bestand erhalten, desto weniger neue Wohnungen werden wir bauen müssen. Das ist das Konzept der GRÜNEN:
den Bestand zu erhalten. Streichen Sie die neuen Steuervergünstigungen der degressiven Abschreibung.
Sie sparen 15 Milliarden DM, die wir dringend brauchen. Legen Sie ein Bauprogramm auf, um in den nächsten fünf Jahren 500 neue soziale Mietwohnungen zu bauen. Fördern Sie nur noch Wohnungen, die nach ökologischen Kriterien gebaut sind, und nur noch Wohnungen, die dauerhaft sozialgebunden sind. Einmal öffentlich gefördert muß heißen: immer sozial gebunden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hitschler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir die Äußerungen des Bundeskanzlers in dem Interview, das er der Zeitung „Sonntag aktuell" gegeben hat, sehr genau durchgelesen und kann jedes dort geäußerte Wort nur nachdrücklich unterstützen.
Die Wohnraumversorgung ist angesichts der Übernachfrage insbesondere in Ballungsgebieten in der Tat eines unserer dringlichsten innenpolitischen Probleme.
Sie wissen wie wir, daß diese Übernachfrage verschiedene Ursachen hat: den Zuzug von außen, Veränderungen unserer Lebensgewohnheiten, in erster Linie aber ein enorm gestiegenes Realeinkommen, so daß sie durchaus als Wohlstandsnachfrage bezeichnet werden kann.Die Tatsache, daß die Mietsteigerungen — hören Sie gut zu — in der Zeit von 1986 bis 1988 halb so hoch gewesen sind wie die realen Einkommenssteigerungen, zeigt die gute wirtschaftliche Verfassung, in der wir uns gegenwärtig befinden. Die Tatsache, daß die Einkommenssteigerungen die Kosten der Lebenshaltung bei weitem übersteigen, ist Grund dafür, daß Sie sich grün und blau ärgern und deshalb krampfhaft versuchen, von diesen Erfolgen der Regierung abzulenken.Aber auch auf dem Gebiet der Wohnungspolitik wird diese Regierung mit denselben Mitteln erfolgreich sein, mit denen sie in anderen wirtschaftlichenSektoren so erfolgreich ist: dem Setzen günstiger Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich private Investoren frei entfalten können. Wir brauchen den Bau von Eigenheimen, Eigentumswohnungen und privaten Mietwohnungsbau.Die Abschreibungserleichterungen, die wir beschlossen haben, und die Mittel, die im Haushalt hierfür bereitgestellt wurden, beginnen zu wirken. Die Investitionsbereitschaft privater Investoren ist vorhanden, auch das erforderliche private Kapital; denn Investitionen im Wohnungsbau rechnen sich gottlob wieder.Zweitens nenne ich den Ausbau und Umbau von Wohnungen aus dem Bestand. Die Abschreibungsmöglichkeit derartiger Kosten innerhalb von fünf Jahren, also fünfmal 20 %, ist ein Vorzug, den es noch nie in dieser Form und Größenordnung gegeben hat. Sie werden sich wundern, wie viele Wohnungen auf diese Weise mobilisiert werden. 1,5 Milliarden DM für Zinsverbilligungen stehen alternativ zur Verfügung. 500 Millionen DM werden für den Bau von Studentenwohnungen bereitgestellt.Das sind Taten dieser Bundesregierung, während Ihre roten Kultus- und Finanzminister sprachlos und gelähmt der Entwicklung an unseren Universitäten zuschauen,
obwohl in erster Linie ihnen die Verantwortung in dieser Sache zukommt.Und was bieten Sie als Alternativen an?
Sie wollen durch Behinderung der privaten Investoren deren Engagement am Wohnungsmarkt bremsen. Sie glauben immer noch, mit Eingriffen ins Mietrecht, in die freie Preisbildung den Markt steuern zu können,
und meinen, die dann ausbleibenden privaten Investitionen durch öffentliche ersetzen zu können.
Das können nur Hasardeure betreiben, die leichtfertig mit anderer Leute Geld umgehen. Der kleine Mann müßte über seine Steuergroschen die irrsinnigen Subventionen bezahlen, die ein solches Vorhaben erforderte. Wir brauchen keine 100 000 im ersten Förderweg geförderten Sozialwohnungen im Jahr; denn in unserer Gesellschaft wächst die Zahl der Bedürftigen nicht Jahr für Jahr um 100 000,
sondern sie wird gottlob kleiner.Nein, wir brauchen nicht jährlich häßliche neue Betonkästen, wie sie im sozialen Wohnungsbau produziert wurden. Wir brauchen schönere, qualitativ besser ausgestattete und größere Wohnungen. Wir kön-
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Dr. Hitschlernen auf Ihre Rezepturen von anno Tobak gerne verzichten.
Wir wollen eine Stärkung der Eigentumsbildung im Wohnungsbau und setzen auf private Investoren, denen wir verläßliche Rahmenbedingungen bieten wollen. Dann wissen wir auch: Es wird gebaut.Sorgen Sie in Ihren Rathäusern dafür, daß Ihre roten Oberbürgermeister bei der Baulandausweisung von der Bremse heruntergehen, daß sie nicht päpstlicher als der Papst die Baubestimmungen auslegen und sich in ihrer Baugenehmigungspraxis nicht kleinlichst gerieren. Dort liegt der Engpaß. Dort befindet sich das Nadelöhr, über das sich alle Bauwilligen allenthalben beklagen.Wir vergessen auch nicht diejenigen, meine Damen und Herren, die Schwierigkeiten haben, ihre Mieten zu bezahlen, und jene Randgruppen, die überhaupt Probleme haben, Zugang zu einer Wohnung zu finden. Ihnen helfen wir einerseits mit dem Wohngeld und andererseits damit, daß Belegrechte gegen eine Miet- und Instandsetzungsgarantie für die Vermieter erworben werden. Hier sollten sich die Kommunen in besonderer Weise engagieren, statt ständig neue Forderungen nach mehr öffentlichen Mitteln zu erheben, wenn die zur Verfügung stehenden noch nicht einmal zügig bewilligt werden.Wenn man diese ständige Miesmacherei und dieses ständige Lamentieren hört und beispielsweise über eine Äußerung eines Journalisten namens Zabeck in WDR 3 nachdenkt, der die Zwangsbelegung von Wohnungen heraufbeschwört, verdichtet sich die Vermutung einer bewußt gewollten und propagierten Verunsicherung der Bürger. Das Gift der Verunsicherung ist ein übles Geschäft. Denjenigen, die es betreiben, können die Bürger jedenfalls kein Vertrauen entgegenbringen, wenn es um die Lösung eines wichtigen Problems in Gegenwart und Zukunft geht. Die Bürger bauen deshalb besser auf uns und mit uns. Sie erhalten ein solides Fundament für ihre eigenen vier Wände und müssen sich nicht nach der Decke einer miesen öffentlichen Sozialwohnung strecken.Vielen Dank.
Das Wort hat die Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Frau Hasselfeldt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Anlaß für diese Aktuelle Stunde, nämlich die Äußerung des Bundeskanzlers zum Stellenwert der Wohnungspolitik, zeigt, daß die Bundesregierung und der Bundeskanzler persönlich die Probleme der Wohnungssuchenden ernst nehmen und über das bisher Geleistete hinaus politischen Handlungsbedarf sehen.
Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß wir einen großen Mangel an Wohnungen in vielen Städten und Gemeinden unseres Landes haben. Die Ursachen sind vielschichtig, vielfältig. Sie wurden von meinen Vorrednern fast ausnahmslos angesprochen.Aber eines ist auch klar: Die jetzige Situation allein auf die Rückführung der Bundesmittel im sozialen Wohnungsbau der letzten Jahre zurückzuführen, ist unredlich; es ist nur die halbe Wahrheit.
Sie wissen genausogut wie ich, daß 1984 ein einstimmiger Beschluß der Ministerpräsidenten der Länder gefaßt worden ist, in dem die Forderung erhoben wurde, der Bund solle sich aus dem sozialen Wohnungsbau zurückziehen. Sie wissen auch, daß sich die Länder ihrerseits in den letzten Jahren sehr stark aus der Förderung im sozialen Wohnungsbau zurückgezogen haben, von 8 Milliarden DM im Jahre 1982 auf nur noch 3 Milliarden DM im vergangenen Jahr.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Gründe für den Rückgang der öffentlichen Förderung, nicht nur diesen Beschluß der Ministerpräsidenten der Länder, sondern auch die damals vorherrschende und noch bis in das letzte Jahr reichende öffentliche Diskussion um leerstehende Wohnungen. Das war eine Situation in unserem Lande, die nicht von den Politikern geschürt wurde, sondern das war eine Diskussion, die sich durch weite Teile unseres Landes — über die ganzen Medien, über die Forschungsinstitute — zog und die weder privaten Investoren noch der öffentlichen Hand Anlaß gab, verstärkt im Wohnungsbau zu investieren.Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen hier ein Zitat des Hamburger Bausenators aus dem Jahre 1988 vortragen — ich zitiere —:Was die Schaffung von Wohnungen angeht, wobei vielleicht Leerstände produziert werden, bin ich dafür, daß das eigentlich eine Aufgabe ist, die den privaten Wohnungsunternehmen überlassen werden sollte.
Ich möchte nicht so gern mit Steuermitteln leerstehende Wohnungen produzieren.Der Hamburger Bürgermeister Voscherau hat dann auch gesagt, daß dies nicht nur die persönliche Meinung seines Bausenators war, sondern die Meinung des gesamten Senats in Hamburg.
Meine Damen und Herren, wenn man so etwas schwarz auf weiß liest, dann wundert man sich. Man könnte die Liste fortführen. Man könnte sie genauso fortführen mit den Handlungen und Äußerungen des Bauministers Zöpel aus Nordrhein-Westfalen,
der den Abriß von Wohnungen nicht nur gefordert,sondern auch praktiziert hat. In dieser Situation, mit
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Bundesminister Frau Hasselfeldtdiesem Wissen zu sagen, der Bund habe sich einseitig zurückgezogen, ist in höchstem Maße unredlich.Meine Damen und Herren, ich will jedoch keine Vergangenheitsbewältigung machen. Ich will auch nicht darüber reden, welchen Beitrag die Neue Heimat in den letzten Jahren geleistet hat. Mir geht es darum, hier mit offenen Karten zu spielen.Der deutlich gewordene Mangel an Wohnungen war für keinen von uns in dieser Größenordnung vorhersehbar. Die Bundesregierung hat entsprechend gehandelt. Sie hat rechtzeitig gehandelt.
— Sie hat rechtzeitig gehandelt mit den Grundsatzbeschlüssen im Frühjahr dieses Jahres zur Verbesserung der Abschreibungsbedingungen, mit einer deutlichen Erhöhung der Mittel im sozialen Wohnungsbau auf 1,6 Milliarden DM. Mit diesen Mitteln werden wir im nächsten Jahr 100 000 Sozialwohnungen fördern.
— In diesem Jahr, Herr Kollege Müntefering, sind wir bereits bei etwa 80 000 Sozialwohnungen. Wir brauchen uns nicht darüber zu streiten, wie das hier zwischen den beiden Oppositionsparteien deutlich geworden ist, wer zuerst die Forderung nach 100 000 Sozialwohnungen pro Jahr aufgestellt hat. Wir stellen die Weichen dafür, daß dies auch im nächsten Jahr gesichert ist.
Ich weiß, meine Damen und Herren, daß der soziale Wohnungsbau auch künftig einen hohen Stellenwert in der gesamten wohnungspolitischen Auseinandersetzung, in der Wohnungspolitik insgesamt haben wird. Deshalb setze ich mich dafür ein, daß die Ansätze in der mittelfristigen Finanzplanung entsprechend den jetzt erkennbaren Anforderungen angepaßt werden.
Schließlich lassen wir auch die Mieter nicht im Stich. Wir lassen sie angesichts der steigenden Mieten nicht im Stich und haben auch hier durch die Einführung der sechsten Wohngeldstufe in einer ganzen Reihe von Gemeinden gehandelt.Meine Damen und Herren, die Entwicklung der Wohnungsbaugenehmigungen zeigt deutlich, daß inzwischen ein Umschwung am Wohnungsmarkt eingetreten ist. Die Zahl der Baugenehmigungen ist in diesem Jahr deutlich gestiegen, und zwar um insgesamt 25 % in den ersten sieben Monaten des Jahres im Vergleich zum gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Beim Mehrgeschoßbau, beim Mehrfamilienhausbau gab es sogar 60 % mehr Baugenehmigungen als im vergangenen Jahr.
Meine Damen und Herren, das ist die Realität, die auch von Ihnen nicht geleugnet werden kann.
Wir wissen aber auch, daß der Neubau seine Zeit braucht. Wir wissen, daß dies alles nicht von heute auf morgen geht. Deshalb müssen wir darüber nachdenken — und haben wir darüber nachgedacht —, wie wir zu den bisherigen Maßnahmen noch zusätzliches leisten können. Wir haben dies auch durch eine ganze Reihe von Beschlüssen vom 3. Oktober getan, und zwar dahin gehend, daß wir Umbaumaßnahmen fördern und daß wir die Gemeinden bei der Erschließung ihres Baulandes unterstützen.
— Dieser Beschluß ist erst in den letzten Wochen gefällt worden, meine Damen und Herren.
Auch die Zurverfügungstellung der Bundes-, Landes- und Kommunalgrundstücke ist jetzt in der aktuellen Diskussion. Sie können davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung hier ihrer Verantwortung bewußt ist. Das ist ein Teil dessen, was gerade in diesen Tagen in besonderer Weise mit geprüft wird.Wir greifen auch denen unter die Arme, die für Studenten zusätzlichen Wohnraum zur Verfügung stellen, weil wir wissen, daß gerade dieser Personenkreis einer besonderen Hilfe bedarf.Meine Damen und Herren, die gefaßten Beschlüsse zeigen ihre Wirkung. Aber wir müssen auch darüber nachdenken — und wir denken gerade in diesen Tagen darüber nach — , wie wir es noch schneller bewerkstelligen können, wie wir die Maßnahmen schneller wirksam werden lassen können.Ein ganz wesentlicher Punkt dabei ist das Baurecht, sind die Vorschriften, die wir uns selbst in den letzten Jahrzehnten auf kommunaler, auf Landes- und auf Bundesebene immer wieder geschaffen haben. Deshalb müssen wir an die Durchforstung und an die Überprüfung der Bauvorschriften gehen. Ich habe morgen ein erstes Gespräch mit Verantwortlichen in diesen Bereichen, mit dem Ziel, die Verfahren beschleunigter durchzuführen, aber auch mit dem Ziel, so manche Vorschrift, die heute nicht mehr angemessen ist, zu durchforsten und sie entweder auszusetzen oder zu erleichtern oder ganz abzuschaffen.
Ein Wort zum Dachgeschoßausbau. Auch das ist eine dieser Vorschriften auf kommunaler Ebene. Es kann doch nicht angehen, meine Damen und Herren, daß unsere Beschlüsse durch Entscheidungen der Kommunen konterkariert werden, wie es beispielsweise in der Stadt München geschieht, wo der Dachgeschoßausbau dadurch verhindert und behindert wird, daß zigtausend DM für einen Stellplatz verlangt werden,
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Bundesminister Frau Hasselfeldtder dann aber nicht zur Verfügung gestellt und gebaut wird, nur um die Erleichterung des Dachgeschoßausbaus zu verhindern. Meine Damen und Herren, das ist nicht das, was wir uns unter gesamter Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden vorstellen.
Wir sind in diesen Tagen innerhalb der Koalitionsfraktionen in Gesprächen, um in dieser Situation ganz gezielt und bewußt zusätzlich zu helfen. Der Bundeskanzler hat den Bürgern unseres Landes versichert, daß wir die wohnungspolitischen Probleme lösen werden. Die bisher beschlossenen Maßnahmen und die jetzt erarbeiteten zusätzlichen Hilfen werden dies auch sicherstellen.
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Wenn ich über die Bundestagsneubauten rede, Herr Kollege Schroeder, dann werde ich hier Herrn Echternach zitieren, der uns noch vor sechs Wochen erklärt hat, der Plenarbereich könne für 202,3 Millionen DM gebaut werden. Das war zu einem Zeitpunkt, als er längst hätte wissen müssen, daß die Zahlen unterkalkuliert waren. Gestern hat die Ministerin das ja zugegeben — wenn Sie mich provozieren wollen, kriegen Sie hier dargelegt, wie gewaltig sich das Bundesbauministerium verkalkuliert hat.
— Nun mal ganz friedlich.Wir erleben hier den verzweifelten Versuch einer Bundesregierung, das Scheitern ihrer Wohnungspolitik zu kaschieren. Im Jahre 1988 — Herr Hitschler, darüber können Sie nicht hinwegreden — sind weniger Wohnungen gebaut worden als in jedem Jahr seit 1949. Das nenne ich eine gescheiterte Wohnungspolitik. Sie wollen das hier mit blindem Aktionismus übertünchen. Mit täglich neuen Zahlen, mit kurzatmigen, zum Teil windigen Programmen, mit Taschenspielertricks
— denn ein Teil der Finanzmittel, die Sie nennen, verteilt sich auf Jahre hinaus und muß von den Ländern vorfinanziert werden — versuchen Sie, die zu Recht aufgebrachte Öffentlichkeit zu täuschen.Es hilft doch nichts, Frau Ministerin, die Schuld vom Bund den Ländern und den Gemeinden zuzuschieben. Tatsache ist: Unter der Führung Ihrer Bundesregierung sind der Wohnungsbau und der soziale Wohnungsbau auf den Tiefstand seit 1949 abgesackt. Die Wohnungswirtschaft und die Investoren, die Mieter und die Gemeinden brauchen keine hektischen Schnellschüsse. Sie brauchen eine solide, eine langfristig angelegte, eine verläßliche Wohnungspolitik. Dazu ist diese Regierung nicht in der Lage.Alle Fachleute sind sich über die Fehler im sozialen Wohnungsbau der Vergangenheit einig. Die Bundesregierung will diese Fehler aber munter wiederholen. Die Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre beispielsweise haben schwere städtebauliche, architektonische und vor allem soziale Mängel. Der Bundeskanzler jedoch will neue Trabantenstädte bauen. Ich muß fragen: Sind Ihnen eigentlich die Rep-Stimmen in den Trabantenstädten von gestern noch nicht genug?
— Wir haben diese Siedlungen besucht und stimmten über die Mängel dieser Siedlungen überein. Wir wollen versuchen, sie abzustellen. Jetzt wollen Sie aber neue Siedlungen dieser Art bauen.
— In allen Zeitungen steht: Der Bundeskanzler will neue Trabantenstädte bauen.
Die Großtafelbauweise der 60er und 70er Jahre hat lieblose und häßliche Wohnsilos und schreckliche Bauschäden produziert. Jetzt will die Bundesregierung den Fertigbau wiederbeleben. Vielleicht meint der Bundeskanzler das mit seiner Forderung, die DDR-Übersiedler sollten sich hier wie zu Hause fühlen. Die kommen nämlich aus diesen Großtafelbauten.Sie wollen mit ihren Zinssubventionen die Mieten am Anfang auf 7 DM pro Quadratmeter für eine Wohnung — naß, kalt, also mit Wasser und ohne Heizung— heruntersubventionieren. Sie verschweigen den Mietern aber, daß diese Mieten in wenigen Jahren auf 15 DM und höher steigen. Damit betrügen Sie die Mieter. Sinnvoll allein wäre die Förderung mit langfristigen Darlehen und Bindungen. Das sei zu teuer, sagen Sie. Das kostet mehr als 100 000 DM pro Wohnung. Die Stadt Stuttgart gibt aber zur Zeit für eine vierköpfige Aussiedlerfamilie in einem miesen Hotel im Jahr 50 000 DM aus. Das ist offenbar nicht zu teuer; dafür ist das Geld da. 150 000 DM für eine vernünftige, bezahlbare Sozialmietwohnung wollen Sie aber nicht flottmachen.Überall bemühen sich die Städte, die Planungsfehler und die Umweltschäden der Vergangenheit zu reparieren. Sie wollen jetzt aber das Planungsrecht Lokkern. Sie, Frau Ministerin, wollen den Schutz der Nachbarn und den Schutz der Umwelt lockern.
— Ich lese, was mit § 34 und § 35, dem Bauen im Außenbereich, geplant ist. Wahrscheinlich wollen Sie auch die lästige Bürgerbeteiligung weiter verkürzen. Nur denken Sie daran: Die Übersiedler, die aus der DDR zu uns kommen, kommen unter anderem auch,
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Conradiweil es drüben keine Demokratie und keine Bürgerbeteiligung gibt.
Diese Bundesregierung ist angesichts des Scheiterns ihrer Wohnungspolitik in Panik geraten. Sie kann nicht mehr klar denken. Sie wirkt hilflos und ist offenbar zu jeder Dummheit bereit. Ich traue Ihnen sogar zu, daß Sie die Neue Heimat wiederbeleben würden,
damit sie dann Ihre Trabantenstädte in Großtafelbauweise baut. Das heißt: Zu einer soliden, zu einer verläßlichen und langfristig angelegten sozialen Wohnungspolitik sind Sie nicht in der Lage.
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Conradi, wir können nahtlos die Diskussion fortsetzen, die wir vor einigen Jahren zum Baugesetzbuch geführt haben. Planungsrecht ist heute zum Beispiel mein Thema.
Ich will Ihnen aber sagen: Wer mit Milliarden Hunderttausende von Wohnungen fördern will, der muß die Frage beantworten, wo er diese Wohnungen baut. Da hilft Ihr Hinweis auf vorhandene Baulücken nichts. Derjenige muß zu der Erkenntnis kommen, daß wir zusätzliches Bauland brauchen. Wenn Rot-Grün in den Gemeinden die Anträge der CDU/CSU-Ratsfraktionen blockiert, dann werden wir eine derartige Blokkadepolitik hier in diesem Bundestag zur Sprache bringen, um Ihnen nachzuweisen, daß es Ihnen um Polemik und vordergründigen Aktionismus geht, aber nicht um eine rationale Auseinandersetzung mit unseren Fragen.
Meine Damen und Herren, natürlich: Wenn wir Ihren Ratschlägen bei der Formulierung des Baugesetzbuches gefolgt wären, dann bräuchten wir uns heute über bestimmte Lockerungen nicht zu unterhalten. Dann würde nämlich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr gebaut. Dann würde vielleicht noch geplant, aber gebaut würde nicht.
Wir haben Sie damals davor gewarnt, sich extrem auf das Leitbild der Innenentwicklung zu konzentrieren, weil die Fragen mit diesem Leitbild nicht zu lösen seien. Ich erinnere Sie: Sie haben sich gegen alles gewandt.
— Nein, Sie haben sich gegen die Anzeige als Ersatz für die Genehmigung bei Bebauungsplänen gewandt. Sie haben sich gegen Erleichterungen in den §§ 31, 33 und 34 Baugesetzbuch gewandt. Sie haben unsere behutsamen Versuche, die Probleme im Außenbereich zu lösen, damit verteufelt, wir wollten Bauernhäuser in Freudenhäuser umwandeln. Das war das Argument des Herrn Conradi in dem sattsam bekannten Hamburger Magazin.
Meine Damen und Herren, da Sie unfähig waren,
die Probleme zu erkennen, dürfen wir jetzt, die wir einen anderen Weg gegangen sind — zu Recht, wie Frau Hasselfeldt gesagt hat — , die Frage stellen: Sollten wir nicht, zeitlich befristet und gezielt, die eine oder andere baurechtliche Bestimmung lockern, um schneller an Genehmigungen, schneller an Wohnungen zu kommen?
Das erste: Wir müssen erkennen, daß der Wohnbedarf in der Abwägung, auch in der Abwägung öffentlicher Belange, heute einen anderen Stellenwert hat als ehedem.
Deswegen wird er in der Abwägung auch Gesichtspunkte von Landesplanung und Raumordnung, zumindest zeitlich befristet, überlagern, ja, überlagern müssen, wenn wir die Probleme lösen wollen.
Das zweite: Wir müssen die Bebauungspläne auch von ihren rechtlichen Rahmenbedingungen her untersuchen. Wir müssen sehen, ob wir die Verfahren beschleunigen: durch konzentriertere Bürgerbeteiligung, durch die Verkürzung von Fristen
— nein, nein — bei der Auslegung, bei der Anzeige gegenüber der Rechtsaufsichtsbehörde.
Und, meine Damen und Herren: Wir brauchen auch mehr Flexibilität und Tempo bei Einzelvorhaben: bei der Genehmigung nach § 30 Baugesetzbuch, bei der Vorweggenehmigung nach § 33 Baugesetzbuch, bei der Befreiung nach § 31 Baugesetzbuch, wo der Wohnbedarf im Mittelpunkt stehen muß, bei der Ausdehnung des § 34 Baugesetzbuch auf andere Tatbestände, nicht nur auf Gewerbe. Und wir brauchen auch eine vertiefte Diskussion über eine nochmalige Lockerung im Außenbereich. Wir können den Strukturwandel im ländlichen Raum nicht negieren.
Ich baue in ein freistehendes Ökonomiegebäude lieber drei Wohnungen ein, als dieses Gebäude vergammeln zu lassen.
Was dieses vergammelte Gebäude mit Umweltschutz zu tun hat, das müssen Sie mir zunächst einmal erklären.
Gehen wir unideologisch im Interesse derer, die Wohnungen suchen, an die Lösung der Probleme heran! Dann haben wir eine Chance, die Probleme zu lösen, aber weder mit Milliardenforderungen noch mit irgendwelchen ideologischen Verklemmungen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schroeder.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte den Kollegen Conradi nicht provozieren. Ich bin ja ein friedlicher Mensch; das ist ja amtsbekannt. Herr Kollege Conradi, ich wollte Ihnen nur Anregungen für eine neue, aktuelle Debatte geben, die in diesem Hohen Haus demnächst sicher kommen wird.
Aber leider muß ich mich mit der ganzen SPD und auch mit den GRÜNEN anlegen und schon sagen: Während Sie hier lamentieren und draußen die Bürger verunsichern, haben die Bundesregierung, wie Sie vorhin gehört haben, und die Koalition in Sachen Wohnungsbau bereits Hervorragendes geleistet.
Der Bundeshaushalt 1990 wird die Anstrengungen der Bundesregierung und der Koalition zu einer verstärkten Förderung von Wohnraum, insbesondere auch für die sozial schwächeren Bürger, in hervorragender Weise unterstützen — und das, Frau Matthäus-Maier, alles sauber durchfinanziert, was man von Ihren Vorschlägen so nicht immer behaupten kann.
Um zielgenau und treffsicher auf die aktuelle wohnungsbaupolitische Situation reagieren zu können, hat der Haushaltsausschuß die abschließende Beratung der Wohnbauförderung auf die Bereinigungssitzung am 16. November verschoben.
Bereits jetzt steht jedoch fest, Herr Müntefering, daß die Mittel für den sozialen Wohnungsbau für 1990 drastisch auf 1,6 Milliarden DM Bundeszuschüsse erhöht werden, und den Ländern ist bereits jetzt signalisiert worden, daß die vorgesehene Erhöhung für Zuschußbewilligungen im voraus in Anspruch genommen werden kann.
Auch in der mittelfristigen Finanzplanung sind die Fördermittel des Bundes für den sozialen Wohnungsbau für die Jahre nach 1990 im Interesse einer kontinuierlichen Verstetigung der Wohnbauförderung gegenüber bisherigen Ansätzen deutlich verstärkt worden.
Wir fordern, daß die Länder ihre verfassungsmäßige Zuständigkeit für den Wohnungsbau ernst nehmen und die Finanzhilfen des Bundes um spürbare eigene Beiträge ergänzen und auch die Gemeinden ihren wohnungspolitischen Beitrag leisten. Zunehmend — ich kann das nur ergänzen, was vorhin die Frau Ministerin gesagt hat — verhindern rot-grüne Gemeinderatskoalitionen die Ausweisung von Bauflächen in unseren Gemeinden aus vorgeschobenen ökologischen Gründen.
Jetzt fehlt nicht mehr Geld, sondern es fehlen Flächen. Ich würde mich gerne mit den verehrten Kolleginnen und Kollegen, insbesondere aus Baden-Württemberg — Frau Hämmerle, Herrn Conradi, Herrn Professor Osswald und anderen — , unterhalten und ihnen vorführen, wie das in Freiburg oder in München abläuft.
Wir haben neben der drastischen Anhebung der direkten Bundesförderung für den sozialen Wohnungsbau unser Wohnungsbauprogramm durch steuerliche Hilfen ergänzt. Bereits zum 1. März sind hier sehr wirksame neue Förderungen in Kraft getreten, die ihre wohltuende Wirkung für den Wohnungsbau bereits zeigen. Jetzt wird noch einmal nachgebessert — ich darf hier auf das Bezug nehmen, was Frau Ministerin Hasselfeldt ausgeführt hat — , nämlich für Anbau und Umbau. Hier rechnen wir mit weiteren 110 000 Wohneinheiten in den nächsten drei Jahren. Die Steuerausfälle sind mit etwas über 1 Milliarde DM genau kalkuliert. Mit einem 1,5-Milliarden-Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau werden Zinsen der Bauherren verbilligt. Auch dadurch wird der Haushalt in vertretbarer Weise belastet, genauso mit dem 500-Millionen-Programm, mit dem 10 000 Studentenwohnungen neu geschaffen werden.
Die Weichen für eine schnelle Beseitigung der Wohnungsengpässe sind in die richtige Richtung gestellt. Die Erfolge mit mindestens 400 000 neuen Wohnungen jährlich
werden bald auf die Kritik der Opposition eine überzeugende Antwort geben. Unser Sofortprogramm greift bereits, wie der steile Anstieg der Zahl der Baugenehmigungen zeigt. Damit sind wir auf dem richtigen Weg, um die Wohnungsengpässe dort, wo es sie gibt, insbesondere in den Ballungszentren, so schnell als möglich durch Taten zu beseitigen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Zahlen am Anfang: 1983 wurden im sozialen Wohnungsbau noch 50 000 Mietwohnungen gefördert, 1988 nur noch 10 000. Die Bundesregierung hatte sich systematisch aus der Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus zurückgezogen.
Diese Zahlen zeigen, Herr Gattermann: Nicht die SPD — so haben Sie es soeben wirklich gehässigerweise gesagt — versucht, aus der Wohnungsnot Kapital zu schlagen. Nein, Sie sind dafür verantwortlich, daß die Partei der Republikaner aus der Wohnungsnot tatsächlich überhaupt erst Kapital schlagen kann, meine Damen und Herren; sonst wäre das nicht möglich.
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Frau Matthäus-MaierIhre Finanzplanung zeigt, daß die Bundesregierung diese falsche Wohnungspolitik fortsetzen will. Nach der Finanzplanung sollen die Finanzhilfen folgendermaßen zurückgehen: 1990 1,6 Milliarden DM, 1991 1,4 Milliarden DM, 1992 1 Milliarde DM und 1993 0,5 Milliarden DM.
Sie machen schon wieder den gleichen Fehler wie in den 80er Jahren. Unsere Forderung: Ersetzen Sie diese viel zu geringen Zahlen Jahr für Jahr durch die Zahl „2,5 Milliarden" . Meine Damen und Herren, das ist das, was wir brauchen.
Die Bundesregierung zieht sich aus dem sozialen Wohnungsbau systematisch zurück, nicht weil es sachgerecht wäre, sondern weil sie aus ideologischen Gründen ausschließlich auf den privaten Wohnungsbau fixiert ist. Sie setzen dort auf den Markt, wo er noch nie funktioniert hat und wo er nicht funktionieren kann. Dabei weiß jeder, daß die Stärke unseres Systems die gesunde und bewährte Mischung von Sozialwohnungen und frei finanzierten Wohnungen, von Mietwohnungen und Eigenheimen ist.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen keine Ideologie, wir brauchen neue Wohnungen.
Deswegen haben wir als SPD Vorschläge gemacht, mit denen wir zur Stetigkeit und zu einer gesunden Mischung zurückkehren. Wir fordern die dauerhafte Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus. Mindestens 100 000 Sozialwohnungen müssen jährlich gefördert werden, d. h. in zehn Jahren 1 Million neue Sozialwohnungen. Damit erreichen wir, daß auch einkommensschwache Bevölkerungsgruppen Wohnungen zu tragbaren Mieten finden können.Auf der anderen Seite, zur Stärkung des frei finanzierten Eigenheimbaus, brauchen wir ein neues Bausparzwischenfinanzierungsprogramm. Dazu haben Sie heute bisher nichts gesagt. Dieses Instrument ist bewährt und schnell wirksam. Wir erreichen damit, daß vorhandenes privates Investitionskapital rasch in den Wohnungsbau fließt.
Wir brauchen auch Reformen über den Tag hinaus. Die steuerliche Förderung des Wohneigentums nach dem heutigen § 10 e des Einkommensteuergesetzes muß aufkommensneutral umgestaltet werden. Es ist ungerecht und wohnungspolitisch absurd, daß Bauherren mit Spitzeneinkommen fast dreimal soviel Förderung bekommen wie die Bezieher niedriger Einkommen. Wohnungspolitisch ist das deswegen absurd, weil die Bezieher hoher Einkommen ja ohnehin — auch ohne staatliche Förderung — bauen, während die geringe Förderung für die Bezieher niedriger Einkommen nicht ausreicht und ihnen dadurch der Weg zum Eigentum versperrt wird. Unser Vorschlag „gleich hoher Förderbetrag für alle" ist nicht nur gerecht, sondern schafft auch zusätzliche Wohnungen.Meine Damen und Herren, wer sagt, für die Beseitigung der Wohnungsnot sei kein Geld da, der täuscht sich und andere. Diese Bundesregierung senkt zum 1. Januar 1990 den Spitzensteuersatz für Einkommen über 260 000 DM im Jahr. Dieses Geld wäre im Wohnungsbau besser angelegt.
Die Spitzenverdiener haben schon den Vorteil, daß sie von der Wohnungsnot nicht betroffen sind. Für sie sind die Zuwanderer keine Konkurrenten auf dem knappen Wohnungsmarkt. Die Wohnungsnot wird voll und ganz auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen. Wäre es da nicht auch aus staatspolitischen Gründen besser, wäre es nicht vernünftig und gerecht, auch die Spitzenverdiener ihren Teil zur Bekämpfung der Wohnungsnot beitragen zu lassen? Aber auf diesem Ohr sind Sie leider völlig taub. Noch schlimmer, für die nächste Legislaturperiode versprechen Sie schon wieder Steuergeschenke an Spitzenverdiener und Unternehmen in Höhe von 25 Milliarden DM und mehr. Ich fordere Sie auf: Verzichten Sie auf die angekündigten ungerechten und wirtschaftspolitisch unsinnigen Steuergeschenke für Spitzenverdiener,
und nehmen Sie statt dessen das Geld, um jedem Bürger zu einer menschenwürdigen und erschwinglichen Wohnung zu verhelfen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rönsch.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Wir brauchen keine Ideologie, sondern Initiativen. Frau Matthäus-Maier, ich hätte von Ihnen natürlich auch einige Initiativen erwartet, nicht aber, wie von Ihnen und Ihren Kollegen vorgetragen, fast nur Ideologie.
Meine Herren und Damen von der Opposition, ich will heute mit einem Dank an Sie beginnen, nämlich mit dem Dank dafür, daß Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben und daß wir damit die Gelegenheit haben, hier im Bundestag und vor der Öffentlichkeit über die Initiativen, die die Bundesregierung in der Vergangenheit ergriffen hat, und über die Initiativen, die sie in der Zukunft ergreifen wird, ausführlich zu diskutieren. Dafür herzlichen Dank.
Ich darf Ihnen versichern: Wir werden dieses Thema hier im Bundestag permanent behandeln,
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Frau Rönsch
wir werden es unter unserer Anleitung im kommenden Jahr immer wieder behandeln,
denn wir haben einiges vorzuweisen, und das werden wir Ihnen hier immer und immer wieder erzählen.
Es war für mich ganz erstaunlich, zu sehen, daß die Propheten von heute diejenigen sind, die 1986/87 die Personen waren, mit denen wir die Großsiedlungen bereist haben. Damals waren wir uns fast über alle Fraktionen hinweg einig, daß wir die Bausünden der Nachkriegszeit zurückbauen, daß wir schwer vermietbare Wohnungen endlich sanieren oder vermietbar machen, weil es in den Großsiedlungen große Wohnungsleerstände gab.Die Wohnungen, die heute fehlen, hätten 1986 geplant und beantragt werden müssen. Aber stellen wir uns doch einmal das Jahr 1986 vor: Wir sind gemeinsam gereist, haben die Großsiedlungen und die Leerstände besichtigt. Gleichzeitig haben wir im Untersuchungsausschuß „Neue Heimat" gesessen, wo wir feststellen konnten, daß 1 Million Wohnungen für einen Bäcker den Gegenwert von genau 1 DM hatten. Das war 1986, veranlaßt durch die Leute, die heute alles besser wissen.
Ich danke Ihnen auch dafür, daß wir heute Gelegenheit haben, noch einmal auf die Ursachen der Wohnungsengpässe in den Großstädten hinzuweisen. Wohnungsengpässe entstehen dadurch, daß z. B. 18-, 19jährige zu Hause ausziehen, kaum daß das Einfamilienhaus der Eltern bezahlt ist, auf den Wohnungsmarkt gehen und nach einer Wohnung fragen. Engpässe entstehen dadurch, daß z. B. Scheidungsvertriebene auf den Markt stoßen: Eine Ehe geht auseinander, jeder nimmt sich eine eigene Wohnung, sucht einen neuen Lebenspartner, die neuen Lebenspartner bleiben in ihrer bisherigen Wohnung, und durch unsere hohen Einkommen ist jeder in der Lage, eine Drei- oder Vierzimmerwohnung voll zu finanzieren.Wohnungsengpässe entstehen dadurch, daß ältere Mitbürger durch hohe Pensionen und Renten auch in der Lage sind, in ihrer großen Wohnung zu bleiben.
Wohnungsengpässe entstehen auch dadurch, daß die Kommunen nicht mehr in der Lage sind, finanzielle Mittel bereitzustellen, weil sie sich seinerzeit beim Kauf der Wohnungen von der „Neuen Heimat" ausgereizt haben, weil sie ausgeblutet sind, was die Finanzierung von Wohnungen betrifft.Wohnungsengpässe entstehen durch die Aus- und Übersiedler, die jetzt in großer Zahl zu uns kommen.Mich hat etwas betroffen gemacht, meine Kollegen von der SPD, daß Sie in dieselbe Sprache verfallen wie Ihr Herr Albertz, wie es in der Presse nachzulesen ist.Ich bitte Sie aber, einmal in ein Übersiedlerheim zu gehen und sich dort umzusehen.
— Nicht nur bei Fototerminen, sondern Sie sollten sich auch die Wände ansehen, wo die Wohnungen und die Arbeitsplätze angeboten werden.Ich meine, wir müssen dort die stillen Reserven, die wir noch haben, jetzt mobilisieren.Wir diskutieren in der CDU ein Modell, nach dem die Gemeinden sich als Hauptmieter mit einer Belegungsbindung im Wohnungsbestand einkaufen können,
um dem Vermieter eine Zusage zu geben, daß dieser die Garantie hat, daß er nach drei, vier oder fünf Jahren den Mieter, dem er die Wohnung vermietet hat, an die Gemeinde weitergeben kann. Wir wollen mit Bundes- und Landesmitteln sowie mit kommunalen Mitteln einen Wohnungspool schaffen. Aus diesem Wohnungspool muß die Gemeinde dann den Mieter übernehmen.Ich meine, daß das ein Verfahren ist, durch das wir Wohnungsreserven, die überall noch vorhanden sind, ganz aktuell mobilisieren können. Ich meine, es ist dringend notwendig, jetzt die Wohnungen zur Verfügung zu stellen.Wir müssen auch die Kommunen auffordern, die Baubehörden zu schnelleren Genehmigungsverfahren zu veranlassen. Herr Müntefering, Sie haben dauernd nach Modellstädten gefragt, wo es so gehandhabt wird, wie es die Kollegen hier angesprochen haben.Ich kann Ihnen meine Stadt Wiesbaden nennen. In Wiesbaden werden jetzt die Baulücken gesucht. Wir haben vor der Stadt Wiesbaden ein großes Gelände — auch noch aus der Konkursmasse der „Neuen Heimat" ; es ist erschlossen —, auf dem man bauen könnte.Ich fordere Sie, meine Kollegen und Kolleginnen von der Opposition, auf,
jetzt gemeinsam mit uns kreativ zu sein und Initiativen zu entwickeln. Es ist jetzt keine Zeit für parteipolitische Jongliererei und Spielereien. Wir müssen gemeinsam initiativ werden, damit den Menschen, die dringend eine Wohnung brauchen, geholfen wird.Ich fordere Sie zur Gemeinsamkeit in der Arbeit auf. Das, was wir heute hier erlebt haben, zeigt nur, daß Sie das Problem der Wohnungssuchenden ausnützen wollen, um parteipolitische Polemik zu veranstalten. Wir werden uns auf diesen Weg nicht einlassen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 und Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:8. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bau-
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12660 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Vizepräsident CronenbergWesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENNovellierung der Baunutzungsverordnung — Drucksachen 11/2648, 11/5134 —Berichterstatter:Abgeordnete Dörflinger ConradiZP5 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNENStreichung des Baugebietstyps „Reines Wohngebiet" aus der Baunutzungsverordnung— Drucksachen 11/5052, 11/5397 —Berichterstatter:Abgeordnete Dörflinger ConradiDer Ältestenrat schlägt eine Debattenzeit von je fünf Minuten pro Fraktion vor. — Widerspruch dagegen erhebt sich nicht, so daß ich dies als beschlossen feststellen darf.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Teubner.
Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Herr Kollege Schroeder, bitte hören Sie auch noch eine Minute zu; es ergibt sich nämlich eine ganz gute Überleitung von dem, was Sie bezüglich Freiburg gesagt haben, zu diesem nächsten Tagesordnungspunkt. Sie wollen ja gerne eine Besichtigung der Baulandreserven machen.
— Ich bin als Südbadenerin auch gerne dabei. — In Freiburg gibt es die glückliche Situation, daß schon seit mehreren Jahren Untersuchungen bezüglich der Baulandreserven im Innenbereich und im Außenbereich durchgeführt wurden.
Ihnen müßte dann auch bekannt sein, daß diese Untersuchungen ergeben haben, daß im Innenbereich solche Reserven durchaus noch vorhanden sind. Bei dem, was jetzt passiert und morgen auch bei der Ministerin von dieser schnell zusammengetrommelten Notstandstruppe zur Bekämpfung der Wohnungsnot festgelegt werden soll, habe ich die größten Befürchtungen, daß mit Brachialgewalt ein Kahlschlag gegen alles geführt wird, was wir an ökologischen Elementen z. B. im herrschenden Baurecht noch haben. Es ist ohnehin nicht allzuviel, was wir davon im Baugesetzbuch und in der Baunutzungsverordnung noch haben.Der Bundestag hat nur ein eingeschränktes Recht, sich dazu zu äußern. Die GRÜNEN haben trotzdem den Antrag gestellt, gegenüber der Bundesregierung seitens des Bundestags Empfehlungen im Rahmen dieser Novellierung auszusprechen. Wir beziehen uns gern ausnahmsweise auch einmal auf den ehemaligen Minister Schneider. Er hat nicht nur Falsches gesagt, sondern er hat auch Richtiges gesagt, vielleicht auch, weil ihm das gute Leute im Ministerium aufgeschrieben haben. Bezüglich der Baunutzungsverordnung hat er, als es um die Novellierung ging, gesagt — eine Selbstverständlichkeit, aber trotzdem zitierenswert — :Ein wesentliches Anliegen muß die Ausrichtung der Baunutzungsverordnung auf Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Städtebaus sein. Im Vordergrund muß dabei die Innenentwicklung stehen als wichtiger Beitrag zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.Die Baunutzungsverordnung ist ein planungsrechtliches Instrument vorsorgenden Umweltschutzes.Wir sehen das auch so. Allerdings sehen wir auch, daß die gegenwärtige Baunutzungsverordnung kein ausreichendes Planungsinstrumentarium zur Verfügung stellt, um eines der wichtigsten und auch in der heutigen, wohnungspolitisch äußerst brisanten Situation drängendsten städtischen Umweltprobleme zu lösen. Dies ist der Raubbau an Grün- und Freiflächen und die zunehmende Versiegelung. Es wäre eine Katastrophe, wenn man diese Bedenklichkeiten für die nächsten fünf Jahre einfach außer acht ließe. Wenn Sie einmal versiegelt haben, bekommen Sie die Flächen nicht mehr frei.
Wir haben deswegen einen sehr gründlich erarbeiteten eigenen Entwurf zur Baunutzungsverordnung vorgelegt, mit der Option, daß der Bundestag der Regierung empfehlen möge, die entsprechenden Hinweise zu berücksichtigen. Das ist im Ausschuß abgelehnt worden. Es wurde zum Teil formal argumentiert, daß wir uns nicht einzumischen hätten. Da dem Ausschuß aber völlig klar war, daß das als Begründung nicht ausreicht, wurde z. B. noch gesagt, daß einer der wesentlichsten Vorschläge, die wir in die Baunutzungsverordnung eingefügt haben wollten, wissenschaftlich nicht ausreichend begründet sei. Ich meine den Vorschlag, die Baunutzungsverordnung zu einer allgemeinen Nutzungsverordnung weiterzuentwikkeln. Das bedeutet, daß man in den Gemeinden nicht nur die bebauten Flächen berücksichtigt, sondern endlich auch die Flächen, die nicht überbaut sind, aber trotzdem planungsrechtlich stärker berücksichtigt werden müssen. Dieser Vorschlag beruht auf Erfahrungen der Praktikerinnen und Praktiker, der Architektenverbände , der Landschaftsplanerverbände, der Verbände der Stadt- und Regionalplaner. Sie alle haben sich in diesem Sinne ausgesprochen. Ich halte die Begründung der Ausschußmehrheit, der Vorschlag sei wissenschaftlich nicht ausreichend begründet, daher für eine ziemlich dürftige Argumentation. Wir halten unseren Vorschlag aufrecht, daß die weitgehende Neuorientierung in der Baunutzungsverordnung empfehlende Richtlinie für die Bundesregierung sein sollte.
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Frau TeubnerWir haben schon in unserem Antrag, den wir 1988 eingebracht haben, die Streichung des Baugebietstyps „Reines Wohngebiet" als eines Sondergebietes vorgeschlagen, wo einzelne Bevölkerungsgruppen vor allen sogenannten lästigen oder störenden Einflüssen der Umgebung total geschützt sind.Wir haben diesen Antrag im Laufe des Sommers erneuert, als es diese skandalösen Urteile gab, daß in einem reinen Wohngebiet keine Unterkünfte für Asylbewerberinnen und -bewerber und keine Altenpflegeheime errichtet werden dürfen.Diese Vorschläge werden jetzt zum Teil aus formalen Gründen abgeschmettert, indem man sagt: Das kann man nicht rückwirkend gelten lassen. Die Klarstellung, die die Bundesregierung jetzt vornimmt, indem sie sagt: Als Wohngebäude ist auch ein solches Gebäude zu verstehen, das ganz oder teilweise der Betreuung der Bewohner dient, kann auch auf ein allgemeines Wohngebiet und muß nicht auf den Baugebietstyp „Reines Wohngebiet" bezogen sein.Ich komme zum Schluß. Es ist einfach nicht einzusehen, daß Sie hergehen und sagen: Die Zahl der lärmschutzbedürftigen Mitbürger und der Bürger, die sich durch Emissionen belästigt fühlen, steigt. Das ist zwar richtig. Aber der Schutz vor Lärm, der Schutz vor Emissionen und vor anderen Störungen darf nicht nur für die wenigen gelten, die in einem reinen Wohngebiet wohnen, sondern der muß tendenziell für alle Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde gelten. Deswegen ist es völlig überflüssig und anachronistisch, ein solches Reservat, ein solches totales Schutzgebiet weiter aufrechtzuerhalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dörflinger.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Formal hätten wir es uns leichtmachen und sagen können: Es ist keine Zuständigkeit des Deutschen Bundestages für diesen Antrag gegeben. Die Bundesregierung berichtet laufend; sie hat auch gehandelt. Wir sind uns allerdings darüber im klaren, daß die Baunutzungsverordnung eine große Bedeutung für die Entwicklung der Gemeinden und Städte hat. Deswegen haben wir uns inhaltlich damit auseinandergesetzt, und deswegen begründe ich die Ablehnung des Antrages auch nicht formal, sondern inhaltlich.Erster Punkt: Der Antrag ist zuwenig fundiert. Erstes Beispiel: Die Forderung nach Ausweitung der BauNVO zu einer allgemeinen Bodennutzungsverordnung folgt — das ist auch das Ergebnis meiner Teilnahme an einem wissenschaftlichen Kongreß — eher einem ideologischen Leitbild als fachwissenschaftlichen Grundlagen. Diese Frage ist sorgfältig und gründlich zu prüfen; die Bundesregierung hat entsprechende Forschungsaufträge vergeben. Wir sind durchaus bereit, über diesen Punkt später noch einmal zu diskutieren, halten ihn aber jetzt nicht für entscheidungsreif.Zweites Beispiel: Die Forderung nach Streichung des Baugebietstyps des reinen Wohngebietes. Liebe Frau Kollegin Teubner, wollen wir das nicht lieber denGemeinden überlassen? Sie können doch vor Ort viel eher als wir entscheiden, ob sie ein reines Wohngebiet oder ein allgemeines Wohngebiet oder welches Baugebiet auch immer ausweisen. Wollen wir angesichts dieses Gerichtsurteils, das auch ich kaum verstehe, das Kind mit dem Bade ausschütten?Es ist doch besser, Lücken in der bestehenden Baunutzungsverordnung zu schließen und für Klarheit zu sorgen. Deswegen muß doch der Baugebietstyp des reinen Wohngebiets nicht aufgegeben werden.Frau Kollegin, ich sage Ihnen aus Erfahrungen in meinem eigenen Wahlkreis: Ich erlebe manche Auseinandersetzungen in reinen Wohngebieten, wo es hohe Prozentsätze grüner Wählerstimmen gibt, wobei ich manchmal den Eindruck habe, daß es gerade eine Ideologie der GRÜNEN sei, ein 1 000 qm großes Baugrundstück zu besitzen und die bebaute Umwelt durch das Fernrohr in vielleicht 3 km Entfernung zu sehen. Das ist die Realität in manchen Wahlkreisen.
Der zweite Grund für die Ablehnung: Die Regierung hat gehandelt. Sie hat den Vorschriften den veränderten städtebaulichen Gegebenheiten angepaßt. Sie ist den Intentionen des Baugesetzbuches gefolgt. Sie hat dieses Baugesetzbuch auch in der Baunutzungsverordnung konkretisiert. Ich will das kurz an sieben Beispielen verdeutlichen:Die Neufassung der BauNVO stärkt den ländlichen Raum. Das Dorfgebiet wird stärker für außerlandwirtschaftliche Nutzung geöffnet, ohne daß wir die notwendige Rücksichtnahme auch der Wohnbebauung auf gewachsene Strukturen verändern.
— Wenn wir uns soviel Mühe mit Ihrem Antrag machen, dann wird es mir doch wohl noch erlaubt sein, die Alternative der Koalitionsfraktionen zu Ihrem Antrag darzulegen. Was ist das für ein Verständnis von parlamentarischer Beratung?Weiterhin geht es um die Standortsicherung für Handwerk und Gewerbe. Wir gehen das Problem der Vergnügungsstätten an und sind dabei, den Kompromiß, den wir in der Koalition erzielt haben, noch zu verbessern; das darf ich schon ankündigen. Wir schaffen einen besseren Interessenausgleich zwischen Sport und der Ruhebedürftigkeit der Bevölkerung. Wir bringen die notwendigen Erleichterungen für den Ausbau von Dachgeschossen und Untergeschossen und befinden uns damit auch in Parallelität zu unserem Wohnungsbauprogramm.Wir schaffen eine Begrenzung der Bodenversiegelung; ein wesentlicher Bestandteil ist auch das Bauen unter Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse. Wir beseitigen die Rechtsunsicherheit bei Altenpflegeheimen und Gemeinschaftsunterkünften für Aussiedler, wie sie insbesondere das Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Mannheim ausgelöst hat. Diese
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Dörflingersollen künftig ausnahmsweise auch in reinen Wohngebieten zulässig sein.Insgesamt wird die BauNVO nach Abschluß der Beratungen im Bundesrat — er steht ja bevor — ein noch wirkungsvolleres Instrument, eine noch wertvollere Hilfe für die Gemeinden sein. Der Antrag der GRÜNEN entspricht dem Anforderungsprofil, wie wir es sehen, nicht. Deswegen folgen wir der Beschlußempfehlung des Ausschusses. Natürlich lehnen wir daraus resultierend, auch den Antrag der GRÜNEN auf Streichung des Baugebietstyps „Reines Wohngebiet" ab.
Frau Abgeordnete Teubner, wenn ich die Maßstäbe, wie sie eben durch Ihren Zwischenruf zum Ausdruck kamen, anlegen würde, kämen wir mit der halben Debattenzeit aus.
Jetzt hat der Abgeordnete Conradi das Wort.
Die Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim, nach denen ein Altenpflegeheim und ein Wohnheim für Asylbewerber im reinen Wohngebiet nicht zulässig sein sollen, haben großes Aufsehen und lebhafte Kritik ausgelöst. Die Klagen wie die Urteile sind Ausdruck einer wachsenden Ellenbogenmentalität. Wer nicht ins Erfolgsschema paßt, wer im Leistungswettbewerb nichts mehr bringt
— so heißt es heute — , wird gnadenlos ausgesondert.
Hier wird eine soziale Apartheid deutlich. Diese Koalition sollte darüber nachdenken, wieweit sie mit ihrer Politik das Denken, die Gesinnung, die hinter diesen Klagen und Urteilen stehen, befördert hat,
— inwieweit Sie mit Ihrer sozialen Ausgrenzungspolitik die Gesinnung befördert haben.
Der VGH Mannheim hat behauptet, er habe streng nach Recht und Gesetz entschieden. Die Presse hat das eilfertig übernommen. Ein Journalist hat sogar behauptet, es handele sich hier um — Zitat — „verfassungsfeindliches Gesetzesrecht". Ein Blick in das Bundesbaugesetz hätte das Urteilsvermögen des Journalisten nicht getrübt. Im Gesetz kommt nämlich das reine Wohngebiet überhaupt nicht vor. Wer das Baugesetzbuch ernsthaft gelesen hat, weiß, daß diese Urteile dem Willen des Gesetzgebers kraß zuwiderlaufen.
Die Verwaltungsrichter haben ihre Entscheidung damit begründet, bei pflegebedürftigen Alten und bei Asylbewerbern handele es sich nicht um — Zitat — „auf Dauer angelegte Häuslichkeit". Aber im reinen Wohngebiet sind kleine Beherbergungsbetriebe, also Hotels, zulässig. Das halten die Verwaltungsrichter offenbar für auf Dauer angelegte Häuslichkeit. Ihre Behauptung, pflegebedürftige Menschen und Asylbewerber würden gar nicht wohnen, sie seien nur untergebracht, ist eine menschenfeindliche Konstruktion.
Im übrigen ist das nicht der einzige Fall, in dem Verwaltungsrichter den Willen des Gesetzgebers mißachten. Das OVG Münster hat beispielsweise einen Kindergarten in einem Mischgebiet nicht zugelassen, weil seine Lage im Plan nicht genau festgelegt sei und weil Lärmbelästigungen zu erwarten seien. Der Fall ist uns ganz nahe. Es handelt sich um den geplanten Kindergarten des Bundestages im Mischgebiet zwischen Landesvertretungen und Pressevertretungen, dort drüben bei der Heussallee. Da sind nach Aussagen der Verwaltungsrichter Lärmbelästigungen der Kinder und ihrer Eltern zu erwarten. Angesichts der Lärmbelästigungen durch die Feste der Landesvertretungen und die Journalistenautos eine abenteuerliche Begründung!
Ich komme zur Baunutzungsverordnung zurück. Die Bundesregierung und der Bundesrat sollen bei der anstehenden Novellierung unmißverständlich klarstellen — so klarstellen, daß auch die kaltherzigsten Verwaltungsrichter das begreifen —, daß Wohnen mit Pflege und Wohnheime zum Wohnen gehören und damit im reinen Wohngebiet zulässig sind. Diese definitorische Klarstellung soll auch rückwirkend für bestehende Bebauungspläne gelten; sonst müßten wir nämlich die bestehenden Bebauungspläne entweder ändern oder Befreiungen erteilen. Das wäre erstens zeitraubend, und zweitens würden wir dann wieder bei irgendwelchen Verwaltungsrichtern landen.
Der Antrag der GRÜNEN will das reine Wohngebiet in der Baunutzungsverordnung ganz streichen. Das ist im Prinzip richtig. Denn es ist ein anachronistischer Gebietstyp. Aber die Streichung würde nur in der Zukunft helfen. Für all die vielen Bebauungspläne aus der Vergangenheit würde sie nicht helfen. Deswegen können wir dem nicht zustimmen.
Unabhängig davon bleibt unsere Forderung nach einer Baunutzungs- und Flächenverordnung, die den heutigen sozialen und ökologischen Notwendigkeiten entspricht. Dazu sind diese Parlamentsmehrheit und diese Bundesregierung nicht bereit. Wir hoffen, diese Mehrheiten zu ändern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zywietz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Tagesordnungspunkt geht es auch um einen Entschließungsantrag der GRÜNEN zur Baunutzungsverordnung. Nach unserer grundgesetzlichen Ordnung hat der Deutsche Bundestag nicht die Kompetenz, an Verordnungen der Bundesregierung, die auf Grund einer Ermächtigung im Gesetz erlassen werden, unmittelbar mitzuwirken oder eigene Formulierungen einzubringen. Diese Vorbemerkung macht neben der Sachargumentation klar, warum wir den Antrag der GRÜNEN zur Baunut-
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Zywietzzungsverordnung, der weit über die Ermächtigung im Baugesetzbuch hinausgeht, ablehnen müssen.Der Bundesrat wird voraussichtlich in Kürze über die von der Bundesregierung eingebrachte Novelle zur Baunutzungsverordnung entscheiden. Ich begrüße dies außerordentlich. Mit der Novelle zur Baunutzungsverordnung werden mehrere Probleme, die sich im Baurecht in den vergangenen Jahren aufgestaut haben, nachhaltig, so hoffe ich, gelöst. Es sind die folgenden Punkte:Erstens. Wir schaffen mehr Flexibilität im Wohnungsbau. Die Baunutzungsverordnung erleichtert den Ausbau von Dach- und Untergeschossen bzw. Souterrainwohnungen.Zweitens. Die Baunutzungsverordnung schafft Erleichterungen in den bebauten Ortslagen, indem sie das Nebeneinander von landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben mit der Wohnbebauung stärker als bisher fördert.Drittens. Die Baunutzungsverordnung schafft wesentliche Erleichterungen für die mittelständischen Betriebe in Ortslagen.Viertens. Die Baunutzungsverordnung löst das Problem, das durch das Urteil des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs entstanden ist: Künftig werden auch Altenwohn- und Pflegeheime in reinen Wohngebieten zugelassen werden können. Ein offensichtlicher Mißstand, der durch das Urteil entstanden war, wird damit zu unserer Zufriedenheit beseitigt.Fünftens. Die Baunutzungsverordnung trägt dazu bei, negative städtebauliche Auswirkungen von Vergnügungsstätten zu verhindern. Die Koalition hatte sich im Frühjahr dieses Jahres auf einen ganzen Katalog von Maßnahmen zur Behandlung von Vergnügungsstätten geeinigt. Die Baunutzungsverordnung setzt den Beschluß des Deutschen Bundestages in geeigneter Weise um.
Ich meine, für die Behandlung braucht der Bundesrat keine weitergehende Aufforderung durch die Bundesregierung und keinen Vormund. Wir sind praktizierende Föderalisten. Der Bundesrat hat in diesem Sachbereich seine eigene Kompetenz. Ich bin sicher, er wird sie wahrnehmen.Wir begrüßen es auch, daß die Bundesregierung, über die konkrete Novelle zur Baunutzungsverordnung hinaus, schon morgen eine weitere baurechtliche Entrümpelungsrunde veranstalten wird. Die Frau Ministerin hat dies in der Debatte über den vorigen Tagesordnungspunkt angemerkt. Wir können das aus voller Überzeugung nur unterstützen. Dieses Gespräch hat das Ziel, zu prüfen, ob mit weiteren Erleichterungsmaßnahmen auch im Baurecht der Wohnungsbau beschleunigt werden kann.Wer das Szenario betrachtet, kommt nach meiner Meinung zu dem Schluß, daß es genug Interessenten für den Neubau von Wohnungen und Eigenheimen gibt. Sie sollten nur nicht verschreckt oder abgeschreckt werden. Leider ist es im Baubereich üblich, daß mit Erschließung, Baugenehmigung und der langen Bauphase ein bis zwei Jahre bis zur Fertigstellung eines Baus ins Land gehen. Es ist unser Ziel, diese Frist entscheidend zu verkürzen. Das ist der Lage genau angemessen.Ich appelliere daher an Länder und Gemeinden, ihre Verantwortung im Wohnungsbereich und bei der Ausweisung von Grundstücken stärker wahrzunehmen.Der Bund und wir hier im Bundestag können in der eigenen Verantwortung nur begrenzt tätig werden. Die eigentliche praktische wohnungspolitische Weichenstellung in diesem Bereich erfolgt bei Ländern und Gemeinden. Sie sind angesprochen, aktiver und schneller als bisher tätig zu werden. Wir von der FDP betrachten es als eine Gemeinschaftsaufgabe, die Regelungsdichte im Baugenehmigungsbereich noch weiter abzubauen. Denn nur durch einen stärkeren Abbau der Regelungsdichte wird es möglich sein, das Wohnungsangebot zu vermehren. Das ist das, was wir wollen. Wir halten dies für den geeigneten Weg in der gegebenen Situation.Vielen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Echternach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast auf den Tag genau vor drei Jahren haben wir hier in diesem Haus das Baugesetzbuch verabschiedet. Gleichzeitig hat der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, auf der Basis des Baugesetzbuchs auch die Baunutzungsverordnung zu novellieren. Damit wäre allerdings ein Antrag wie der der GRÜNEN nicht zu vereinbaren, der die Bundesregierung ausdrücklich auf bestimmte inhaltliche Vorgaben verpflichten will, und damit wäre auch nicht zu vereinbaren, wenn jetzt aus der Baunutzungsverordnung eine allgemeine Bodennutzungsverordnung werden würde. Das wäre mit Sicherheit von der Ermächtigung des Baugesetzbuches nicht gedeckt.Mit der Neufassung der Baunutzungsverordnung hat die Bundesregierung einen weiteren Eckstein des Städtebaurechts auf die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben ausgerichtet. Denn unsere Gemeinden brauchen verbesserte Planungsgrundlagen, um auf die neuen wohnungs- und städtebaulichen Herausforderungen richtig reagieren zu können. Zu diesen Herausforderungen gehören genauso langfristige Strukturveränderungen im ländlichen Raum wie auch aktuelle Aufgaben, z. B. die Schaffung von Wohnraum, z. B. die besorgniserregende Ausbreitung der Spielhallen, z. B. die Notwendigkeit, dem steigenden Stellenwert des Sports gerecht zu werden oder auch den aktuellen Entscheidungen, die uns vor einiger Zeit von den Gerichten erreicht haben.Angesichts der schwierigen Lage auf dem Wohnungsmarkt, die wir ja heute nachmittag eingehend diskutiert haben, ist die Erleichterung des Ausbaus von Dachgeschossen besonders dringlich. In Zukunft darf die festgesetzte Geschoßfläche unter bestimmten Voraussetzungen insoweit überschritten werden. Wir wollen damit ein unnötiges Hemmnis für die Schaf-
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Parl. Staatssekretär Echternachfung von Wohnraum abbauen, denn gerade hier läßt sich schnell mit verhältnismäßig geringen Kosten und darüber hinaus ohne die Inanspruchnahme von Grund und Boden zusätzlicher Wohnraum schaffen,
den wir schließlich auch finanziell zusätzlich fördern. Aber mit diesen baurechtlichen Erleichterungen beseitigen wir nicht die landesrechtlichen Stellplatzanforderungen, und deswegen möchte ich von dieser Stelle aus an die Länder und Gemeinden appellieren, diese Bestimmungen so flexibel zu handhaben, daß nicht vor Ort der notwendige Dachgeschoßausbau de facto unmöglich wird.Das neue Recht der Vergnügungsstätten soll den Gemeinden besondere Möglichkeiten geben, die Ansiedlung und Ausbreitung gerade der Spielhallen zu steuern, denn wir alle verfolgen mit Sorge die städtebaulichen Auswirkungen dieser Entwicklung. Spielhallen sind in Zukunft in Wohngebieten generell unzulässig. Sie können nur ausnahmsweise zugelassen werden in besonderen Wohngebieten und in den nicht gewerblich geprägten Teilen von Mischgebieten. Aber auch dort, wo sie zulässig sind, ist eine Konzentration von Spielhallen ausgeschlossen. Die Gemeinden können sogar in ihren Planungen darüber hinausgehende, weiterreichende Regelungen treffen.Ein weiterer Schwerpunkt der Nutzungsverordnung ist die Stärkung des ländlichen Raumes. Der Strukturwandel der Landwirtschaft macht es erforderlich, die Dörfer stärker für außerlandwirtschaftliche Nutzung zu öffnen. Das ist nötig, um die Lebensfähigkeit des ganzen ländlichen Raumes sicherzustellen. Zugleich werden auch die verbliebenen landwirtschaftlichen Betriebe rechtlich besser geschützt. Wer in Dorfgebieten wohnt, muß künftig auf die Belange der Landwirtschaft Rücksicht nehmen.Die Verordnung sieht eine Fülle von Verbesserungen zugunsten des Sports vor. Denn für eine moderne Freizeitgestaltung sind wohnungsnahe Sportanlagen wichtiger denn je. Daher werden Anlagen für sportliche Zwecke künftig in allgemeinen Wohngebieten generell zulässig sein. Das gleiche gilt für Kerngebiete. Bei der Zuordnung von Sportanlagen zu den Wohngebieten ist ein vernünftiger Interessenausgleich zwischen dem berechtigten Ruhebedürfnis der Anwohner und den Belangen des Sports notwendig. Hierin liegt auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe der Bauleitplanung.Ein weiteres wichtiges Anliegen ist die Begrenzung der Bodenversiegelung, Frau Teubner, die wir keineswegs außer acht lassen. Auch in den Fällen, in denen eine verdichtete Bebauung angestrebt wird, muß ein bestimmtes Maß an unversiegelter Grünfläche erhalten bleiben. Die Novellierung sieht hier verbesserte Instrumente vor.Zwei weitere Änderungen möchte ich noch ansprechen, deren Notwendigkeit durch die Verwaltungsgerichtsentscheidungen von Mannheim deutlich geworden ist. Es handelt sich zum einen um die Zulässigkeit von Pflegeheimen in reinen Wohngebieten. Wir sind uns mit den Ländern darin einig, daß solche Einrichtungen in reinen Wohngebieten selbstverständlich zulässig sein müssen. Denn es wäre unerträglich, wenn ältere Menschen am Ende ihres Lebens das Gefühl haben müßten, gleichsam aus der Gesellschaft ausgegrenzt und abgeschoben zu werden.
Hier haben wir gemeinsam mit den Ländern die notwendigen Klarstellungen vorgenommen.Gleiches gilt für Gemeinschaftsunterkünfte für Aussiedler und Asylbewerber. Auch diese Sozialeinrichtungen sollen künftig in reinen Wohngebieten ausnahmsweise zugelassen werden können.
Mit diesen rechtlichen Änderungen, meine Damen und Herren, wird die Baunutzungsverordnung zu einem modernen und leistungsfähigen planungsrechtlichen Instrument, mit dem die städtebauliche Planung auf die neuen Aufgaben reagieren und sie angemessen lösen kann.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/5134. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/2648 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der SPD mit Mehrheit angenommen.Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/5397 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/5052 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Gegenstimme der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe den Punkt 10 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDBeschäftigungswirksamer Solidarbeitrag — Drucksachen 11/3010, 11/3913 —Berichterstatter:Abgeordnete Fellner RichterLutzFrau Schmidt-BottNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12665
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Antrag, den Sie heute ablehnen werden, ist vor gut einem Jahr eingebracht
und in erster Lesung im Plenum behandelt worden. Die Berechtigung unserer Forderungen haben Sie im Grunde nie bestritten. Trotzdem haben Sie immer dagegen argumentiert. Sie werden es auch heute tun. Das ist zwar alles nicht logisch, aber es geschieht. Und es geschieht immer wieder. Erlauben Sie deshalb, daß ich Ihnen noch einmal in Erinnerung rufe, was wir vor über einem Jahr gefordert haben.Im ersten Punkt des Antrags haben wir gefordert, daß die tarifpolitische Zurückhaltung der Gewerkschaften, die sich auch in den mäßigen Zuwachsraten bei der Beamtenbesoldung widerspiegelte, durch Neueinstellungen im öffentlichen Dienst kompensiert wird. Geschehen ist das allerdings in den seltensten Fällen.
Die solidarische Zurückhaltung der Gewerkschaften hat sich nicht ausgezahlt. Die Gewerkschaften sind von den öffentlichen Vertragspartnern schlicht übers Ohr gehauen worden.
Nicht viel anders ging es mit der zweiten Entwicklung, die wir in unserem Antrag angesprochen haben. Zwar ist die Arbeitszeitverkürzung des öffentlichen Dienstes für den Beamtenbereich übernommen worden, mit der Ausnahme Hessens, das besonders spektakulär und schlicht unsinnig aus der Reihe tanzte. Aber dann haben sich die öffentlichen Arbeitgeber höchst trickreich um beschäftigungspolitische Folgen eines solchen Schrittes herumgemogelt, mit ein paar rühmlichen Ausnahmen. Nordrhein-Westfalen gehört dazu, Hamburg und Bremen auch. Schleswig-Holstein zog mit. Berlin ist jetzt dazugekommen. Im großen ganzen jedoch führte die Arbeitszeitverkürzung zu einer Arbeitsverdichtung, bis hin zu so neckischen Spielchen wie einer verlängerten Pause.
Das hat bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst böses Blut gemacht.
Das führt letztlich dazu, daß die Tarifverhandlungen des nächsten Jahres unter einem schlechten Omen stehen werden. Noch einmal — das wage ich zu prophezeien, meine Kolleginnen und Kollegen — werden die öffentlichen Arbeitgeber ihre Tarifpartner nicht mehr mit vagen Zusagen abspeisen können, die nicht oder nur sehr unzulänglich eingehalten werden. Das waren Pyrrhus-Siege der vermeintlich Pfiffigen.
Wir haben davor gewarnt. Unsere Warnung ist überhört worden. Wir haben schon mehrmals gesagt: Das kann man nur einmal machen.
Es gibt kein Tarifgebiet, wo das öfter funktioniert hätte.
— Ja, das geschieht leider häufiger, Herr Kollege.Im zweiten Punkt unseres Antrages halten wir es für sinnvoll, daß die öffentlichen Arbeitgeber alsbald, so formulierten wir vor einem Jahr, in Grundsatzgespräche über eine solidarische und gerechte Weiterentwicklung der Besoldungs- und Tarifstruktur eintreten. Dagegen konnte schon vor über einem Jahr kein vernünftiger Mensch etwas einwenden. Geschehen ist allerdings nichts. Auch dies kann man nur als bedenkliche Belastung des Tarifgeschehens im öffentlichen Dienst ansehen.Grundlage solcher Gespräche hätte der Bericht zur strukturellen Fortentwicklung des öffentlichen Dienstrechts sein sollen, den der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit schon 1985 angefordert hatte. Daß seine Abfassung von ungeheuren Geburtswehen begleitet war, daß die gesetzten Termine ein ums andere Mal verstrichen, bis dem Parlament der Geduldsfaden riß, hätte man noch hinnehmen können, nicht aber das Ergebnis. Vom durchaus löblichen Vorsatz der Verfasser, nun wirklich auf die zahlreichen Ungereimtheiten in der Besoldungsstruktur hinzuweisen, ist nicht sehr viel übriggeblieben.
Da hat im entscheidenden Augenblick der Finanzminister in diesem Bericht herumredigiert. Und so schaut er nun auch aus: ein paar praktische Vorschläge, von denen man annahm, daß sie finanziell zu befriedigen sein würden, aber keine Studie, die zu einer umfassenden Prüfung und Neuordnung der Struktur die Grundlage hätte bilden können. Ein wichtiges und immer drängender werdendes Problem ist wieder einmal auf die lange Bank geschoben worden. Es blieb beim Herumdoktern an Einzelsymptomen,
wobei — bitter sei das angemerkt — der Schwerpunkt dessen, was vorgeschlagen wird, sehr häufig nach dem Prinzip herausgefiltert wurde: Wo ist der Unmut am größten? Wer beklagt sich am lautesten? Und: Wo finden wir zu den derzeitigen Bedingungen keine Arbeitskräfte mehr?
— Danke, Herr Kollege.
Die ersten Konsequenzen aus dem so verstümmelten und abgemagerten Strukturbericht haben wir gemeinsam im November letzten Jahres gezogen.
— Die ersten Konsequenzen. Aber schon damals, Herr Kappes, haben wir gemahnt, daß dies ja wohl nicht alles sein könne und daß die große Reformaufgabe noch ausstehe.Nun ist wieder ein Jahr vorübergegangen, und es ist mit den Händen zu greifen, daß im Grunde eine ganze
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12666 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
LutzLegislaturperiode vertan wurde. Was wird in der uns verbleibenden Zeit noch geschehen?
— Doch.Wahlen rücken näher, und, wie den Vorlagen des Hauses Schäuble zu entnehmen ist, werden noch einmal ein paar Korrekturen nachgeschoben. In wenigen Wochen wird sich der Deutsche Bundestag damit zu beschäftigen haben.Ich will einige Positionen nennen, die Sie noch zu verbessern beabsichtigen: Der Innenminister schlägt vor, im unteren und mittleren Einkommensbereich die Einkommen durch eine gestaffelte Anhebung der Grundgehaltssätze zu verbessern, um damit zugleich eine Annäherung an die tarifliche Bezahlung im öffentlichen Dienst zu erreichen. Der Innenminister empfiehlt, die Harmonisierungszulagen, die tatsächlich seit 1971 in der Höhe unverändert sind, in die Grundgehaltstabellen bis zur Besoldungsgruppe A 8 einzuarbeiten. Das sind in der Tat zwei längst überfällige Schritte, gegen die auch wir nichts einzuwenden haben.Sie werden unsere Zustimmung auch zu dem Vorschlag erwarten können, die Strukturverbesserungen für Kranken- und Altenpfleger im Tarifbereich des öffentlichen Dienstes auf die beamteten Krankenpfleger zu übertragen.Wir werden mit Ihnen darüber zu diskutieren haben, wie die Erschwerniszulagen im öffentlichen Dienst für den Schichtdienst und die Arbeit zu ungünstiger Zeit zu verbessern sein werden.
Hier haben ja nicht nur die Krankenpfleger berechtigte Wünsche.Die vom Innenminister vorgeschlagene Erhöhung der Polizeizulage von gegenwärtig 120 auf 200 DM im Monat, ihre Dynamisierung und beabsichtigte Ruhegehaltsfähigkeit wird von uns ebenfalls mitgetragen werden. Nur, wiegen Sie sich bitte nicht in der Hoffnung, daß damit alle Ungereimtheiten beseitigt sind und allem berechtigten Unmut der Wind aus den Segeln genommen ist.
Schlüssig, meine Kollegen von der Koalition, scheint uns auch Ihr Vorschlag zu sein, die Eingangsämter für Techniker im einfachen und mittleren Dienst von der Besoldungsgruppe A 3 nach A 4 und von A 5 nach A 6 anzuheben. Hier wird eine Entwicklung fortgeführt, die sich schon bei den Verbesserungen im Rahmen der Besoldungsanpassung 1988 abzeichnete.Sie werden auch unser Okay für das Vorhaben bekommen, die Sicherheitszulage zu dynamisieren und ihre Ruhegehaltsfähigkeit herzustellen. Das alles sind Schritte in die richtige Richtung. Es ist gut, wenn wir dafür gemeinsam die Verantwortung übernehmen.
— Ja, wir kommen schon noch auf die paar Fallstricke.Diskutabel erscheint uns ferner Ihre Absicht, den Leitern großer Ortsbehörden in A 16 eine Amtszulage einzuräumen und eine Amtszulage für Rechtspfleger in herausgehobenen Funktionen in der Besoldungsgruppe A 13 vorzusehen. Für all die genannten Positionen gibt es einleuchtende Gründe.Wir haben aber die Frage zu bedenken, ob alle diese Verbesserungen nun zu einer besseren und vor allem schlüssigeren Besoldungsstruktur insgesamt führen. Sie erleben ja jetzt schon, welche Wellen der Referentenentwurf, aus dem ich zitiert habe, im öffentlichen Dienst schlägt.
— Es ist ein Referentenentwurf und den Ländern als solcher zugegangen. Es muß also ein gewisses Maß an Autorität dahinterstehen.Bei uns und bei Ihnen stapeln sich die Schreiben der Gewerkschaften und Berufsverbände, die man nicht einfach mit einem Achselzucken ablehnen kann. Wenn sie richtig gerechnet haben, werden die genannten Schritte, die Sie vorhaben, zu finanziellen Mehrbelastungen von zirka 400 Millionen DM führen. Damit, so werden Ihr Finanzminister und die Finanzminister der Länder wohl erklären, sei aber für diese Legislaturperiode in Fragen der Besoldungsstruktur das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich sehe jetzt schon, daß sich das Haus Schäuble sozusagen noch eine Sicherheitsmarge vorbehalten hat nach dem Motto: Wer sich jetzt noch am nachhaltigsten meldet, dem kann vielleicht auch noch geholfen werden.Gemeldet haben sich z. B. die Zollbeamten, die mit großem Nachdruck und recht gut begründet die Polizeizulage auch für die Zollfahndung fordern. Gemeldet haben sich die Justizminister und -senatoren der Länder, die mit guten Gründen die Ansicht vertreten, daß eine grundlegende Strukturverbesserung der Besoldung des Justizwachtmeisterdienstes keinen Aufschub mehr duldet. Die Gewerkschaften von Post und Bahn halten — ebenfalls schlüssig belegt — eine Erhöhung der Zulage für den Dienst zu ungünstigen Zeiten für unausweichlich. Es geht, so mahnt die ÖTV, für die Beschäftigten in der Dienststelle Marienthal — das ist der Regierungsbunker — um eine gerechte, einheitliche und ruhegehaltsfähige Zulage für den Dienst in der Untertageanlage. Der Bundesgrenzschutzverband hat recht präzise Verbesserungsvorschläge für seinen Bereich, und die Bundesbankbediensteten bombardieren uns und Sie auch förmlich mit Schreiben die Bundesbankzulage betreffend, die es in ihrer derzeitigen Höhe, so wird argumentiert, unmöglich mache, engagierte und qualifizierte neue Beschäftigte zu gewinnen.Ich nenne nur einige Schreiben; die Liste ließe sich beliebig weiterführen. Die Forderungen werden in den nächsten Wochen noch dringlicher erhoben werden; das ist jetzt schon abzusehen.Die Regierung hat ihre Vorschläge gemacht. Die Verbände haben sich geäußert und äußern sich noch.
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LutzJetzt stellt sich die Frage — sie stellt sich ziemlich bald — , wie sich das Parlament dazu stellt.
— Nein, wir entscheiden nicht nur nach Aktenlage, sondern im Gesamtzusammenhang. Das verstehen Sie noch nicht so genau.Eine ganze Reihe von Antworten habe ich für unsere Seite schon zu geben versucht. Es wird Ihnen auffallen, daß ich in meinen Erörterungen die Sogenannte Armenliste des Innenministers im B-Bereich völlig ausgeklammert habe.
— Das hat seinen guten Grund, Herr Kollege. Was wir im Referentenentwurf dazu finden, ist merkwürdig formuliert. Sie können sicher sein, daß wir uns Position für Position mit Ihnen gemeinsam vornehmen werden und sehr viel präzisere Auskünfte, als wir bisher vorliegen haben, von der Bundesregierung erwarten.
Das weitere Verfahren — deshalb rede ich jetzt zu dieser Stunde, in diesem unserem Hause und in diesem unserem Lande — wird überhaupt mehr als nur eine Stilfrage sein. Ich denke, auch darüber müßten Sie sich einmal den Kopf zerbrechen.Wir haben — einer der Herren Berichterstatter sitzt hier; den anderen sehe ich nicht — , wie Sie sich erinnern werden, schon in einem sehr frühen Stadium und im Beisein von Vertretern des Innenministers erste gemeinsame Überlegungen zu noch fälligen Strukturverbesserungen angestellt. Wir haben Ihnen signalisiert, daß wir kein Interesse daran haben, uns in Fragen der Besoldungsstruktur durch die Übernahme jeder Forderung jedes Verbandes bei den Verbänden als Opposition lieb Kind zu machen. Das ganze Parlament hat nämlich in solchen Fragen nicht die Aufgabe, vor Wahlen den Weihnachtsmann oder den Osterhasen zu spielen, sondern mit den Geldern der Steuerzahler sorgsam umzugehen.Wir haben darauf zu achten, daß der öffentliche Dienst ein fairer Dienstherr ist, der eine angemessene Besoldungsstruktur als Parameter hat und mit deren Hilfe eine leistungsgerechte Besoldung garantiert. Wir haben ferner darauf zu achten, daß die Einkommen für vergleichbare Tätigkeiten in der privaten Wirtschaft und bei den öffentlichen Arbeitgebern nicht allzusehr auseinanderdriften. Niemandem, den Bürgerinnen und Bürger am allerwenigsten, kann daran gelegen sein, bei steigenden öffentlichen Aufgaben schlecht besoldete und in der Folge letztlich auch minderqualifizierte Staatsdiener zu bekommen.Ich sage das so ausführlich, weil unsere Bereitschaft zur Mitarbeit und Mitverantwortung natürlich an die selbstverständliche Voraussetzung geknüpft ist, daß wir den Umfang und die Grenzen dessen, was in den nächsten Wochen zu entscheiden sein wird, gemeinsam abstecken. Das lief auch am Anfang sehr korrekt. Dann aber ist eine merkwürdige Sendepause eingetreten. Sollte sie etwa an das Motiv geknüpft sein, sozusagen das Erstgeburtsrecht an solchen Veränderungen der Besoldungsstruktur aus wahltaktischen Überlegungen absichern zu wollen? Vergessen Sie es!
Das ganze Haus muß letztlich dafür geradestehen, wenn etwas in der Besoldungsstruktur verändert wird. Es ist auch nicht Ihr Geld, aus dem Sie die anstehenden Verbesserungen finanzieren wollen. Sie haben die gleiche Treuhänderrolle wie wir. Vergessen Sie das bitte nie. Schon allein das sollte Sie zu einem Höchstmaß an Gemeinsamkeit veranlassen.Ich fasse zusammen. Heute lehnen Sie einen Antrag ab, der bei seiner Einbringung rundum vernünftig war und es in seinen wesentlichen inhaltlichen Positionen auch bleibt. Den Problemen, die unser Antrag aufgreift, können Sie nicht davonlaufen. Das zeigen Sie jetzt schon durch die ersten zaghaften Schritte, die Sie anpeilen. Wie immer Sie heute entscheiden werden — eine Legislaturperiode ist in der Frage einer umfassenden Besoldungsstrukturreform vertan worden.
Sorgen wir nun wenigstens gemeinsam dafür, daß die Teilschritte, die uns jetzt noch möglich sind, vernünftig ausfallen!Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Dr. Kappes.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der uns hier vorliegende Entschließungsantrag der SPD-Fraktion vom September 1988 war nicht nur von Anfang an überflüssig und weithin unannehmbar, sondern hat sich auch inzwischen in wesentlichen Teilen erledigt. So wurde insbesondere der Tarifabschluß des Jahres 1988 einschließlich der Arbeitszeitverkürzung längst auch auf die Beamten des Bundes — nur für sie sind wir zuständig — übernommen. Auch der damals noch anstehende Bericht zur strukturellen Fortentwicklung des öffentlichen Dienstes liegt unterdessen vor.Einige Konsequenzen aus dem Bericht wurden bereits gezogen: mit der Einrichtung eines neuen Spitzenamtes für herausgehobene Funktionen des einfachen Dienstes, mit der Hebung des Eingangsamtes des mittleren Dienstes für Meister und staatlich geprüfte Techniker, mit der Gewährung von Anwärterzuschlägen für Bereiche mit erheblichem Bewerbermangel, mit der Rücknahme der Absenkung der Eingangsbesoldung im gehobenen und ab 1. Januar 1990 auch im höheren Dienst — um nur das Wichtigste zu nennen.Außerdem liegt, wie wir eben gehört haben, schon der Referentenentwurf für ein fünftes Gesetz zur Änderung besoldungsrechtlicher Vorschriften vor, mit dem wir weitere Konsequenzen aus dem Strukturbericht ziehen werden.
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12668 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Dr. KappesDer Kollege Lutz hat eine respektable Liste von all den Dingen aufgeführt, bei denen wir uns auf dem richtigen Weg befinden.
Sie haben so viele Dinge aufgezählt, daß man sich fast fragen müßte, ob man nicht bald am Ziel angelangt sei. Bei diesen Dingen — das wissen wir — bleiben natürlich immer Wünsche offen. Das ist ganz ohne Frage so; das wird immer so sein. Ich muß Sie auch fragen, ob Sie denn wirklich alle Wünsche erfüllen wollen. Das scheint nicht so zu sein; denn Sie haben in diesem Zusammenhang auch auf den Steuerzahler hingewiesen. Irgendwo ist eine Grenze; da können wir uns treffen.Sie sehen, meine Damen und Herren, diese Bundesregierung redet nicht nur. Sie tut vielmehr etwas für den öffentlichen Dienst. Die Probleme sind nicht nur erkannt; zu ihrer Bewältigung geschieht auch eine Menge.Der Opposition freilich reicht dies wieder einmal nicht aus. Sie fordert munter — ich möchte sagen: in altbekannter Weise — zusätzliche Stellen, diesmal unter der Überschrift ihres Antrages „Beschäftigungswirksamer Solidarbeitrag".Aber, meine Damen und Herren, müßten wir nicht bei anhaltender rückläufiger Bevölkerungsentwicklung trotz aller neuen Aufgaben eher zu einer Reduzierung des öffentlichen Dienstes kommen? Sie dagegen fordern, nachdem Sie die Apparate in Ihrer Regierungszeit doch bereits in bis dahin nicht gekanntem Maße aufgebläht haben,
wieder einmal mehr Planstellen, diesmal zum Ausgleich von Arbeitszeitverkürzung. Anscheinend teilen Sie einfach — so macht es jedenfalls die ÖTV — die durch Arbeitszeitverkürzung wöchentlich verlorenen Arbeitsstunden durch die Wochenarbeitszeit, und flugs hätten wir dann den beschäftigungspolitischen Beitrag des Bundes in Gestalt einer beachtlichen Stellenvermehrung. So einfach ist das.
In Wahrheit, meine Damen und Herren, Herr Kollege Nöbel, hat es in den seinerzeitigen Tarifverhandlungen derartige Zusagen nach meiner Kenntnis nicht gegeben, noch wären sie verantwortbar gewesen.
Natürlich gibt es Bereiche des öffentlichen Dienstes, in denen sich Arbeitszeitverkürzungen so auswirken müssen. Das gilt z. B. für die Polizei oder für die Krankenhäuser. Aber im allgemeinen ist das keine zwingende Konsequenz. Und hier liegt gewissermaßen der Hase begraben. Für die meisten Bereiche wäre es nicht nur nicht finanzierbar — jetzt hören Sie einmal gut zu! — , sondern überhaupt nicht organisierbar, die ausfallende Arbeitszeit durch zusätzliche Planstellen auszugleichen. Wer die Praxis der Verwaltung kennt, weiß das.In Wirklichkeit geschieht auf den meisten Feldern des öffentlichen Dienstes etwas ganz anderes. Durch die Arbeitszeitverkürzungen nimmt die Arbeitsdichte immer mehr zu. Streß und Leistungsdruck steigen. Viele Mitarbeiter fühlen sich überlastet, und am Ende sind sie weniger zufrieden als vorher. Lieber würden die meisten auf weitere Arbeitszeitverkürzungen verzichten und statt dessen mehr Geld verdienen. Wer die Interessen der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst vertreten will, sollte dies bedenken. Jedenfalls besteht für die Bundesregierung nach meiner Auffassung überhaupt kein Grund, beim öffentlichen Dienst— entgegen diesen Interessen der Mehrheit der Arbeitnehmer — auf einem Weg fortzuschreiten, der für die Betroffenen mehr Nachteile als Vorteile bringt.
Dieser Weg vermag kaum nennenswert zu Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt beizutragen, während er jedoch mehr Kaufkraft der Arbeitnehmer und damit auch mehr Arbeitsplätze schafft.Wie sehr, meine Damen und Herren, diese Betrachtung zutrifft, hat sich gerade erst gestern in der von Herrn Kollegen Lutz erwähnten Sitzung des Innenausschusses in Berlin bestätigt. Dort hat nämlich der Berliner Innensenator, Herr Lutz, berichtet — —
— Pätzold, glaube ich; wußten Sie das nicht, Herr Kollege Penner?
— Ah, so, hätte ich nicht gedacht. — Dort hat nämlich der Berliner Innensenator berichtet, daß sich die neue Koalition aus SPD und Alternativer Liste — anders als ihre Vorgängerin — für 2 250 neue Planstellen als Konsequenz aus der Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst entschieden habe, aber eben keinesfalls als Ausgleich — und das ist mir jetzt wichtig — auf den bisherigen Arbeitsgebieten, sondern nur — und das Wort „nur" hat der Senator sehr betont — für neue Aufgaben. Also auch hier: Arbeitszeitverkürzung bedeutet für die meisten mehr Arbeitsdichte und zugleich weniger Geld, als ohne Arbeitszeitverkürzung.
— Also, ich kann nur sagen: Es geht um 2 250 Stellen, die eben nicht zum Ausgleich der Arbeitszeitverkürzung, sondern für neue Aufgaben verwendet werden.
Wer soll das auf Dauer alles bezahlen?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12669
Dr. KappesIm übrigen sollten wir uns, soweit es sich nicht um den öffentlichen Dienst handelt, meine Damen und Herren, mit Empfehlungen an Tarifvertragsparteien zurückhalten. Auch aus diesem Grunde können wir der Entschließung nicht zustimmen, was Sie ja nicht überrascht, wie Sie vorhin schon zu Beginn Ihrer Ausführungen bemerkt haben. Wir lehnen die Vorlage als teilweise überholt, im übrigen als offenkundig überflüssig und als sachlich unannehmbar ab.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der zur Diskussion stehende Antrag der SPD ist hinsichtlich der Aufforderung, den Strukturbericht vorzulegen, überholt. Die Koaltionsfraktionen haben unmittelbar nach Vorlage des Berichts im Oktober 1988 gehandelt und erste strukturelle Verbesserungen für den öffentlichen Dienst beschlossen.
— Immerhin! Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, Herr Kollege Nöbel.
Weitere Verbesserungen werden mit dem Strukturgesetz 1990 erzielt, das wir in Kürze beraten werden. Herr Kollege Lutz hat ja die Debatte, die vor uns liegt, heute schon gewissermaßen antizipiert. Das Motto dabei kann ganz sicher nicht sein — ich glaube, ich habe Sie da richtig verstanden, Herr Lutz, daß Sie diese Meinung teilen — : Wir wollen alles, und zwar sofort. Es wird also darum gehen — das werden wir mit Ihnen sicherlich intensiv besprechen können —, die richtigen Prioritäten zu setzen.Bleibt also der Teil des Antrages, der sich auf die im Zusammenhang mit den Tarifergebnissen erzielten Vereinbarungen zur Arbeitszeitverkürzung und die Forderung der SPD nach einem beschäftigungswirksamen Solidarbeitrag bezieht.
Meine Damen und Herren, es ist für die FDP keine Frage, daß der Staat Verantwortung für eine aktive Beschäftigungspolitik trägt. Das heißt allerdings nicht, daß neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst geschaffen werden müssen, sondern daß die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für insgesamt mehr Beschäftigung verbessert werden müssen.Ich glaube, daß die wirtschaftliche Entwicklung den Erfolg unserer Arbeitsmarktpolitik bestätigt. Die Zahlen sind bekannt: Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem niedrigsten Stand seit 1982. Die Jugendarbeitslosigkeit und die Zahl der Kurzarbeiter sind inzwischen auf das Niveau von 1980 gesunken, die Zahl der Beschäftigten ist seit 1984 um über 1 Million gestiegen.Auch die Konjunkturentwicklung ist positiv. Die deutsche Wirtschaft befindet sich im siebten Jahr des Aufschwungs. Im vergangenen Jahr betrug das Wirtschaftswachstum 3,4 %. Im laufenden Jahr wird — trotz Erhöhung der Verbrauchsteuern — eine Wirtschaftswachstumsrate von annähernd 31)/0 erwartet.Die Investitionstätigkeit deutscher Unternehmen hat im vergangenen Jahr um 8 % zugenommen.Neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst heißt: Ausbau der staatlichen Dienstleistungen, und das ist nicht der Weg, den wir beschreiten wollen. Der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen ist von 12,5 % im Jahre 1965 auf zur Zeit etwa 20 % gestiegen. Beschäftigungspolitische Erfolge sind aber nur möglich, wenn die Haushaltskonsolidierung nicht gefährdet wird. Mehr Personalausgaben können insbesondere die Städte und Gemeinden im übrigen nicht verkraften. Im Gegenteil, sie gefährden bestehende Arbeitsplätze, weil dadurch der ohnehin knappe Investitionsspielraum weiter eingeschränkt würde. Der Staat als Arbeitgeber muß sich an den fiskalpolitisch vorgegebenen Rahmen halten. Beschäftigungspolitische Erfolge sind deshalb nur möglich, wenn die Haushaltskonsolidierungspolitik konsequent fortgesetzt wird.Insgesamt muß der öffentliche Dienst rationeller und effektiver werden. Dazu gehören neben ständigen Wirtschaftlichkeitsrechnungen für die öffentliche Verwaltung eine Ausweitung der Befugnisse der Rechnungshöfe, Leistungsanreize für Mitarbeiter, wie wir sie z. B. durch beschlossene und noch zu beschließende strukturverbessernde Maßnahmen anstreben, aber auch eine Anpassung an die demographische Entwicklung.Die Veränderung des Alterskegels erfordert eine Verschiebung des Leistungsangebots hin zu einem stärkeren Engagement, z. B. im Bereich der Altenpflege und des Gesundheitswesens. Dazu kommt unbestreitbar auch die zukünftige Aufgabenverdichtung im Bereich des Umweltschutzes.Sicher ist, daß die Arbeitsmarktprobleme, insbesondere die Probleme der Arbeitslosigkeit, nicht allein durch den öffentlichen Dienst gelöst werden können.
Dazu ist das Problem der Arbeitslosigkeit auch viel zu vielschichtig. Die öffentlichen Hände können und dürfen keine Vorreiterrolle einnehmen. Wenn es Möglichkeiten gibt, Vorreiter zu spielen, dann auf Gebieten, wo es eher um Humanisierung und Individualisierung des Arbeitslebens geht.Mehr Freiheit für eine individuelle Gestaltung des Arbeitslebens im öffentlichen Dienst könnte auch für andere Bereiche Vorbild sein. Teilzeitregelungen, Beurlaubungsmöglichkeiten, Flexibilisierung der Arbeitszeit, all dies sind Themenkreise, wo die Dienstherren, die Verbände, die Personalvertretungen und die Mitarbeiter neue Akzente für neue und bessere Gestaltungsmöglichkeiten und Fortschritte im Interesse der Angehörigen des öffentlichen Dienstes setzen könnten.Die Koalitionsfraktionen haben wegen der nach wie vor zu hohen Arbeitslosigkeit kurzfristige Maßnahmen auch im öffentlichen Dienst ergriffen. Wir haben die gesetzlichen Höchstfristen für die Bewilligung von Teilzeitbeschäftigung und Urlaub im öffentlichen Dienst ausgedehnt. Wir haben durch eine Flexibilisierung der Freistellungsregelungen die Beschäfti-
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Richtergungsmöglichkeiten ausgeweitet. Diesen Weg wollen wir weiterhin gehen. Wer sich aber etwa vorstellt, man könne die Arbeitsmarktprobleme durch Übernahme in den öffentlichen Dienst lösen, der, meine Damen und Herren, irrt sich.
Meine Damen und Herren, ich habe keine weiteren Wortmeldungen vorliegen. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/3913. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3010 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" für den Zeitraum 1989 bis 1992
— Drucksache 11/4330 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die künftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"
hier: Rahmenplan 1990 bis 1993 und Sonderrahmenplan 1988 bis 1993
— Drucksache 11/5211 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes 45 Minuten vorgesehen. — Kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauter.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 1989 ist ein Jubiläumsjahr auch für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" .
— Jetzt lassen Sie mich doch einmal reden, Frau Flinner.
Vor 20 Jahren wurde das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe verabschiedet. Ich denke, daß die segensreiche Wirkung dieses Gesetzes allenthalben bekannt ist. In diesem Zeitraum sind 37,5 Milliarden DM der Landwirtschaft zugute gekommen. Aber ich füge hinzu, daß in entscheidender Weise auch die Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum erreicht worden ist. Wenn heute 85 % der Einwohner an Kläranlagen und 90 % an öffentliche Wasserversorgung angeschlossen sind, ist das ein bemerkenswerter Fortschritt.Ich möchte an diejenigen appellieren, die da die gute alte Zeit heraufbeschwören wollen. Sie wissen eigentlich nicht mehr, wie es früher in den Dörfern gewesen ist. Wir haben in unseren Gemeinden heute einen vergleichsweise hohen Lebensstandard. Wer dies bezweifelt, dem empfehle ich, einmal zum Vergleich ins Ausland zu gehen.In diese Gemeinschaftsaufgabe ist der Küstenschutz mit einbezogen worden. Ich denke, daß dies eine richtige Entscheidung gewesen ist, denn die betroffenen Länder wären nicht in der Lage gewesen, diese schwierigen Aufgaben alleine zu meistern.Vielleicht müßte man sich bei einer später stattfindenden Novellierung überlegen, ob der Name des Gesetzes eigentlich das noch richtig trifft, was durch dieses Gesetz bewirkt worden ist. Eine zentrale Aufgabe ist es gewesen, die Landwirte in den benachteiligten Gebieten zu fördern und zu unterstützen. Im Jahre 1982 lagen die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe bei zirka 1 Milliarde DM, 1989 bei 1,5 Milliarden DM.Die Ausgleichszulage ist von Anfang an ein besonders wichtiges Element gewesen und ist es in immer stärker werdendem Maße geworden. Im Jahre 1975 sind 75 000 Betriebe in den Genuß dieser Ausgleichszulage gekommen; 1989 sind es 280 000 Betriebe. Das Gebiet ist von 1,2 Millionen ha auf 6 Millionen ha im Bundesgebiet ausgeweitet worden. Ich sage dazu, daß diese Bundesregierung die Landwirte, die in schwierigen Regionen arbeiten, nicht im Stich läßt.Meine Damen und Herren, diese Ausgleichszulage ist aber auch ein wichtiger und entscheidender Beitrag zur Erhaltung der Kulturlandschaft.
Sie ist ein Honorar für die Landschaftspflege. Ich denke, daß wir damit gerade den Landwirten und den Betrieben in diesen Regionen Mut gemacht haben.In der jetzigen agrarpolitischen Situation habe ich die Sorge, daß gelegentlich zu viel über Resignation gesprochen wird und daß es ein bißchen am Mut für die Zukunft fehlt. Ich füge allerdings hinzu — und halte das für wichtig — , daß 286 DM, die in Bergbauerngebieten als Höchstbetrag gewährt werden, für diejenigen Landwirte, die unter ganz schwierigen Bedingungen arbeiten, noch zu wenig sein könnten. Ich frage mich, ob es morgen oder übermorgen noch gelingt, im Schwarzwald, auf der Schwäbischen Alb,
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Sauter
in der Eifel oder in der Rhön Betriebe aufrechtzuerhalten, die dort für eine Infrastruktur sorgen und die Landschaft pflegen.Ich füge hinzu, daß wir auch an diejenigen Betriebe denken, die in besonderer Weise von ihren Einnahmen aus dem Wald abhängig sind. Es hat ein Urteil des Bundesgerichtshofes gegeben, nachdem von einem Landwirt eine Klage eingereicht worden war. Dieses Urteil besagt, der Gesetzgeber sei verpflichtet, eine angemessene Entschädigung für neuartige Waldschäden zu gewährleisten. Ich bin ehrlich genug, zu sagen, daß es noch nicht gelungen ist, hierzu ein überzeugendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Dennoch haben wir die Landwirte, die Waldbesitzer sind, nicht im Stich gelassen. Gerade auch über die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz haben wir wirksame Maßnahmen ergriffen.Die Flurbereinigung, eine zentrale Aufgabe im Gemeinschaftsaufgaben-Gesetz, ist in den letzten Jahren ein wenig in Verruf geraten. Da hat es die ausgeräumte Landschaft, den schnurgeraden Weg und dann die Monokulturen gegeben. Wer sich heute ein abgeschlossenes Flurbereinigungsverfahren ansieht, kann feststellen, daß hier eine Kulturlandschaft entstanden ist, daß Dorferneuerung auf den Weg gekommen ist, daß sich Mensch und Kreatur auch nach einem solchen Flurbereinigungsverfahren wohlfühlen können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur enthält einen Sonderrahmenplan. In diesem Sonderrahmenplan ist in besonderer Weise die schwierige Aufgabe der Extensivierung angesprochen. Ich glaube, daß es des Schweißes von uns allen wert ist, überzeugende Methoden zu entwickeln, mit denen wir diese notwendige Extensivierung voranbringen können. Ich glaube, daß die Pilotprojekte, die jetzt auf den Weg gebracht worden sind, durchaus Maßstab für eine künftige Extensivierung, die wir für notwendig und wichtig halten, sein können. Die Schwierigkeit besteht allerdings in der Kontrolle solcher Extensivierungsmaßnahmen. Auch der Opposition ist es bisher, wenn ich es richtig weiß, nicht gelungen, überzeugende Alternativen auf den Weg zu bringen.
— Kollege Müller, ich habe bloß noch drei Minuten. Deshalb kann ich Ihnen nicht antworten.Eine andere Maßnahme ist die Umstellungsprämie für Landwirte, die sich von sich aus überlegen, ob sie in Zukunft weiter im Haupterwerb wirtschaften wollen. Das sogenannte Bogener Modell, das hier auf den Weg gebracht worden ist, ist verheißungsvoll. Ich meine, wir sollten, da die Bundesanstalt in Nürnberg nicht in der Lage ist, umschulungswilligen Landwirten Hilfestellung zu geben, versuchen, dieses Modell bundesweit einzuführen, um den Wechsel vom Vollerwerbsbetrieb zum Nebenerwerbsbetrieb zu forcieren.Ich darf meinen kurzen Beitrag zusammenfassen. Ich kann feststellen, daß wir 20 Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes sagen können, daß der Erfolg unverkennbar ist. Durch die Gemeinschaftsaufgabe haben wir erreicht, daß die Neuorientierung der Agrarpolitik, die unverzichtbar notwendig gewesen ist, in die Praxis umgesetzt wurde.Landwirte sind heute nicht nur Ernährer — das sind sie nach wie vor — , sondern sie haben auch die Aufgabe, die Natur zu schützen, die Umwelt zu pflegen, die Schöpfung zu bewahren. Ich denke, daß wir mit dieser Gemeinschaftsaufgabe dieser Verpflichtung nachgekommen sind, daß es über diese Gemeinschaftsaufgabe auch gelungen ist, die Einkommen der Landwirte in diesen schwierigen Regionen zu verbessern, und daß darüber hinaus das Leben auf dem Lande dadurch lebenswerter geworden ist.
Sicher hat diese Gemeinschaftsaufgabe einen Schönheitsfehler — dies ist uns ja nicht neu —:
Es ist die unzulängliche Mitwirkung der Parlamente. Aber ich glaube, wir müssen dies in Kauf nehmen. Es ist uns immerhin gelungen, daß wir in den zuständigen Ausschüssen eine Mitberatung bei der Festlegung des Rahmenplans haben. Ich denke, daß wir hier gemeinsam dazu beitragen können — dazu möchte ich Sie alle auffordern —, diese erfolgreiche Politik, die bisher eingeleitet worden ist, fortzuführen.Ich füge abschließend hinzu, meine sehr verehrten Damen und Herren: Das, was hier geleistet worden ist, ist ein Beweis dafür, daß diese Bundesregierung, die mehr als jede Vorgängerin für die Landwirtschaft geleistet hat — —
— Lieber Kollege Pfuhl, darf ich Sie einmal daran erinnern, wie Sie beispielsweise die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe gekürzt haben, wie Sie die Mittel für die Agrarsozialpolitik gekürzt haben?
— Da waren Sie noch nicht dabei. —
Ich darf Sie ferner daran erinnern, wie Sie die Mittel für die Unfallversicherung auslaufen ließen. Diese Liste ist noch völlig unvollständig.Tatsache ist — ich wiederhole es, und Sie müssen mir erst einmal das Gegenteil beweisen; vielleicht kann das ein Redner der Opposition — , daß keine Regierung so viel für die Landwirte getan hat wie diese Bundesregierung. Deshalb besteht auch Veranlassung — ich sage das mit allem Vorbehalt — zu vorsichtigem Optimismus draußen in der Landwirtschaft, den wir überall feststellen können.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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12672 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Alle kommen nachher noch zu Wort. Jetzt hat der Herr Abgeordnete Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über die Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, mit 1,75 Milliarden DM Bundesmitteln der zweitgrößte Posten im Haushalt des BML. Herr Kollege Sauter, ob diese Mittel überall wirklich so effektiv eingesetzt werden, wie es notwendig wäre, — ich glaube, wir sind uns wohl einig: Es gäbe manches dabei zu verbessern.
Die Gemeinschaftsaufgabe ist in der Bundesrepublik aber trotzdem das wichtigste Instrument zur Verbesserung der Agrarstruktur. Sie soll darüber hinaus in Verbindung mit der regionalen Wirtschaftsförderung, der Verkehrs- und Infrastrukturpolitik zur weiteren Entwicklung der ländlichen Räume beitragen. Aus diesem Grunde, und nur aus diesem, halten wir die Gemeinschaftsaufgabe auch heute noch für erforderlich. Ob das bei der Regierung so der Fall ist, kann ich heute eigentlich schlecht beurteilen, denn es ist weder der Minister noch auch nur ein Staatssekretär anwesend.
Das ist sehr bedauerlich. Es sollte eigentlich etwas anders sein.
An der Schwelle zum EG-Binnenmarkt müssen wir aber fragen, Herr Kollege Sauter, ob diese Gemeinschaftsaufgabe in der derzeitigen Form die neuen auf sie zukommenden Aufgaben auch erfüllen kann. Das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung über die Auswirkungen der Vollendung des Binnenmarktes, über die wir gestern im Ausschuß diskutierten, festgestellt: Nicht alle Regionen werden von der Integration der Märkte im gleichen Umfang profitieren können. Regionen, deren Wettbewerbsfähigkeit bereits heute gering ist, werden geringere Wachstumsimpulse zu erwarten haben als die starken Regionen. — Zumindest hier sollten wir nachdenken und überlegen, was besser zu machen wäre. Denn all dies gilt besonders für die ländliche Region, für Randgebiete, Berggebiete, Insel- und Grenzregionen sowie auch Industrieregionen im Niedergang.
Gestatten Sie einen Moment. Ihr Kollege Pfuhl möchte gerne eine Frage stellen.
Herr Kollege, halten Sie es für richtig, daß wir über diese wichtige Frage bisher in Abwesenheit der Kabinettsmitglieder diskutiert haben?
Ich weiß nicht, ob der Herr Staatssekretär oder das Ministerium diesen Sachverhalt als so wichtig ansieht, vielleicht nicht; es könnte durchaus sein. Ich kann das nicht beurteilen.
Vielleicht können Sie den Herrn Staatssekretär persönlich fragen.
Wenn Sie noch eine Zwischenfrage zulassen.
Aber natürlich. Bitte.
Herr Kollege Müller, könnte es sein, daß die Tatsache, daß wir mit der Debatte eine halbe Stunde früher begonnen haben, eine Erklärung für die viertelstündige Verspätung des Staatssekretärs ist?
Das ist natürlich möglich. Aber ich gehe davon aus, daß man im BML wohl auch einen Fernseher hat, auf dem man sehen kann, ob etwas vorgezogen wird oder nicht. Ansonsten müßten wir im Haushalt möglichst schnell Mittel bereitstellen, damit das in Zukunft viel besser funktioniert.
Wir haben in der Bundesrepublik nach wie vor eine kleinbäuerliche Struktur. Knapp 70 To aller landwirtschaftlichen Betriebe sind kleiner als 20 Hektar. Von den ungefähr 660 000 landwirtschaftlichen Betrieben sind rund die Hälfte Zu- und Nebenerwerbsbetriebe. Vollerwerbsbetriebe sind im Schnitt 28 Hektar, Nebenerwerbsbetriebe 5,5 Hektar groß. — Frau Präsidentin, ich gehe davon aus, daß mir die Zeit von drei Minuten, die ich jetzt verbraucht habe, gutgeschrieben wird. — Ich bedanke mich.Gegenüber den Hauptkonkurrenzländern in der EG mit vergleichbaren Produktpaletten wie Getreide, Zucker, Milch, Schweine- und Rindfleisch bestehen hinsichtlich der Betriebskapazität bei uns große strukturelle Nachteile, zugegeben bei regionalen Unterschieden. Die deutschen Landwirte arbeiten deshalb im Durchschnitt kostenungünstiger als die EG-Konkurrenz. Denken wir nur an die Arbeits- und Maschinenkosten! Es ist leider so, daß selbst Betriebe, die noch vor wenigen Jahren gut dastanden, einzelbetrieblich gefördert wurden, nun im europäischen Wettbewerb, im Binnenmarkt erst recht nicht mehr werden bestehen können, weil ihre Kapazitäten nicht ausreichen.Ich füge hinzu: Natürlich spielt die Kapazitätsgröße in bezug auf die Erlöse eine ganz entscheidende Rolle. Deshalb sollte man das nicht außer acht lassen. Aber sicher wird sich in den kommenden Jahren manches ändern, weil 25 % aller über 45 Jahre alten Betriebsleiter keinen Hofnachfolger haben.
— Ich weiß nicht, warum, Herr Kollege Kreuzeder; da müssen Sie schon die Bauern selber fragen. Ich kann das nicht beurteilen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12673
Müller
— Es gibt sicher sehr unterschiedliche Gründe; darüber sind wir uns wohl einig.Alle Überlegungen über die Zukunft der deutschen Bauern müssen diese Realität berücksichtigen. Wer vorgibt, trotz dieses nicht zu verhindernden Strukturwandels die gegenwärtige Agrarstruktur in der Bundesrepublik erhalten zu können oder zu wollen, ist entweder falsch informiert oder sagt die Unwahrheit.Aufgabe der Politik in den nächsten Jahren muß es deshalb sein, diesen Strukturwandel sozial abzufedern und Fehlentwicklungen — z. B. spielt die Entstehung von Agrarfabriken in der Diskussion eine große Rolle — zu verhindern.Nur, kann die Gemeinschaftsaufgabe dies alles leisten? Ich bin überzeugt: allein sicher nicht. Deswegen fragt sich: Dienen eingeleitete Maßnahmen, soweit sie sich auf die landwirtschaftlichen Betriebe beziehen, der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit oder vielleicht doch vorrangig weiterhin der Konservierung der bestehenden Agrarstruktur? Stimmen noch die Finanzierungsinstrumente? Ist die Gewährung von Zinszuschüssen in der einzelbetrieblichen Investitionsförderung noch zeitgemäß? Denn von den insgesamt knapp 137 Millionen DM an geplanten Zinszuschüssen in der einzelbetrieblichen Investitionsförderung werden beispielsweise allein 1989 knapp 136 Millionen DM zur Bedienung von Bewilligungen aus Vorjahren benötigt. Es bleiben also nur 1 Million DM. Wir schieben 1,5 Milliarden DM zinsverbilligter Darlehen aus zurückliegenden Jahren vor uns her. Der Spielraum für eine gestaltende Politik ist also in diesem Bereich nahezu Null.Die Folge ist, daß Landwirte noch eineinhalb Jahre nach Antragstellung und Bewilligung auf ihre Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe warten müssen. Dies ist wenig erfreulich. Denn Bauern müssen, wie jeder andere Unternehmer auch, in der Lage sein, sich schnell und flexibel veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen.
Staatliche Gelder sollen dabei helfen. Sie sollen nicht durch Bürokratie und lange Fristen Flexibilität behindern. Das tun sie leider in zunehmendem Maße.
Positiv — ich soll auch etwas Positives sagen — bewerte ich in diesem Zusammenhang z. B. die ab 1990 beabsichtigte Förderung der Umschulung von Vollerwerbslandwirten; da stimme ich Ihnen voll zu, Herr Kollege Sauter. Denn dies dient der Erhaltung unserer dörflichen Struktur und auch unserer Kulturlandschaft.Wir müssen uns aber weiterhin die Frage stellen, ob die sachliche Schwerpunktbildung im Bereich der einzelbetrieblichen Förderung heute so noch richtig ist. Ich denke dabei nicht nur an die notwendige Anpassung an die Erfordernisse des nahenden EG-Binnenmarktes, sondern auch an die Möglichkeit, mehr als bisher ökologische und tierschützerische Belange bei der Förderung berücksichtigen zu können.
Warum ist z. B. die Umwandlung einer nicht artgerechten Tierhaltung in eine artgerechte nicht allein förderbar?Dem Bericht der Bundesregierung zufolge sind auch die Grundsätze für die Flurbereinigung zur Gestaltung des ländlichen Raumes weiterentwickelt worden. Das ist zu begrüßen; denn wir alle wissen: Durch Flurbereinigung ist in der Vergangenheit manch ökologischer Schaden angerichtet worden. Beispiele, verkürzte Schlagwörter belegen dies: Ausräumung der Landschaft, Trockenlegung von Feuchtwiesen, Bachbegradigungen usw.
— Ich will ja nur darauf hinweisen, Herr Kollege. Sie wissen, wir haben uns oft darüber unterhalten.Die schädlichen Auswirkungen auf Flora und Fauna sind uns bekannt. Ich gebe zu: Vieles ist in den letzten Jahren besser geworden. Wir alle hoffen — ich sage: wir alle; ich schließe Sie ein —, ja ich möchte sagen: wir fordern, daß solche Fehler in Zukunft nicht mehr gemacht werden, daß sie repariert werden, wo es nur irgend möglich ist. Ich denke hier gerade an die Bachläufe.Wir messen auch, Herr Kollege Sauter, der Dorferneuerung eine besondere Bedeutung zu. Sie ist in besonderer Weise geeignet, Voraussetzungen für eine lebenswerte Umwelt in unseren Dörfern zu schaffen, und sie schafft Arbeitsplätze in den Dörfern. Sie ist vom Mittelvolumen her bisher kein Schwerpunkt in der Gemeinschaftsaufgabe. Bayern führt sie lediglich im Rahmen von Landesprogrammen, also außerhalb der Gemeinschaftsaufgabe durch.Das aber sollte Anlaß sein, grundsätzlich darüber nachzudenken, welche Maßnahmen im Zuge der sachlichen Schwerpunktbildung überhaupt noch gemeinschaftlich durchgeführt werden sollten. Hierüber gibt es unterschiedliche Auffassungen bei uns, aber auch bei den Ländern. Das ist verständlich. Allerdings meinen wir, die Maßnahme Dorferneuerung sollte zur Verbesserung der Attraktivität unserer Dörfer in dieser Gemeinschaftsaufgabe verbleiben.
Wir müssen den ländlichen Raum als Gegengewicht und Alternative zu den Ballungsgebieten erhalten. Der Programme gibt es viele, von der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur" über Länder- und Regionalprogramme bis hin zu Programmen der Landkreise, Städte und Gemeinden. Selten gehen sie miteinander, sehr, sehr häufig gegeneinander. Bessere Koordinierung ist hier dringend erforderlich; denn der Sog der Ballungsgebiete ist groß.Durch die Mittel, die dorthin fließen — nur zwei Beispiele: Nahverkehr, Industrieansiedlung —, hat es der ländliche Raum sehr, sehr schwer. Ich füge hinzu: Auch wir Abgeordnete aus dem ländlichen Raum haben es in allen Fraktionen schwer.
Es ist nicht leicht, sich gegen unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Ballungsgebieten durchzusetzen. Sie alle wissen: Wenn es um große Beträge, um Milliarden für den Nahverkehr in den Ballungsgebieten
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Müller
geht, wird auch bei uns über den Haushalt nicht viel diskutiert. Aber wenn es um kleine Beträge für den ländlichen Raum geht, gibt es große Diskussionen. Dann ist es nicht leicht, eine gemeinsame Entscheidung herbeizuführen.Was wir brauchen — ich sage das ganz deutlich —, ist kein Gegeneinander Stadt — Land. Auch die Stadtbevölkerung braucht das Land als Naherholungsgebiet. Das geht aber nur, wenn Landschaft und Infrastruktur intakt sind, von den Straßen bis zu den Gasthäusern; sonst wird niemand dorthin gehen. Wer sich dort erholen will, will auch etwas essen und trinken. Deswegen ist all das wichtig, was zu dieser Infrastruktur gehört. Deswegen unterstützen wir alle diesbezüglichen Maßnahmen, zusätzlich Gelder für den Gesamtbereich Fremdenverkehr einzusetzen.Wir werden im Ausschuß über die aufzustellenden bzw. aufgestellten Programme zur Entwicklung des ländlichen Raumes im Rahmen des Strukturfonds sprechen. Wir haben gestern im Ausschuß einstimmig einen Bericht der Bundesregierung angefordert. Wir werden dann ausgiebigst über den ganzen Komplex diskutieren. Es gibt viele Fragen, die der Klärung bedürfen. Das hat sich gestern schon im Ausschuß gezeigt.Noch eins füge ich hinzu, weil es der Kollege Sauter angesprochen hat: Flächenstillegung halten wir nach wie vor für eine ökologisch und ökonomisch falsche Maßnahme.
Problematisch ist auch der Sonderrahmenplan; denn Flächenstillegung ist eine Art Marktsteuerung und hat mit Struktur nichts zu tun. Das gilt für das andere, Herr Kollege Sauter, das Sie erwähnt haben, auch.
— Ja, ja; wissen Sie: Je weiter man das ausbreitet, desto näher kommt man an manches heran. Das wissen wir, Herr Kollege Susset. Aber es paßt nicht hinein. Es ist überhaupt sehr fraglich, ob das mit unserem Grundgesetz in dieser Hinsicht übereinstimmt. Ich will das aber gar nicht vertiefen.Es ist jedenfalls nicht sinnvoll, das Flächenangebot künstlich zu verknappen. Denn Boden ist so und so knapp. Ausreichend vorhanden ist nicht der Boden, ausreichend vorhanden sind Kapital und Arbeit im Agrarbereich.Die Maßnahme wird in den meisten EG-Ländern, wie wir wissen, nicht oder sehr wenig in Anspruch genommen.
— Ja, natürlich, Herr Kollege Heinrich. Haben Sie das noch gar nicht bemerkt? Ist Ihnen das unbekannt? Schauen Sie sich doch die Mechanisierung und Maschinisierung in der Landwirtschaft bei uns an! Schauen Sie sich an, was an Kapital pro Hektar in den Agrarbereich hineingeht! Und schauen Sie, was an Arbeits- und Kapitalkosten bei uns auf 100 ha gegen- über anderen EG-Staaten anfällt! Darüber brauchen wir doch nicht zu diskutieren. Das sind doch Tatsachen, Herr Heinrich.Diese Maßnahme wird — ich habe es erwähnt — in den meisten EG-Ländern nicht in Anspruch genommen. Ob sich das jetzt nach Erhöhung der Mittel in Brüssel ändern wird? Ich bin skeptisch. Aber die Leidtragenden sind die deutschen Landwirte. Im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt ist ein einseitiger Verzicht auf Marktanteile schädlich für die deutsche Landwirtschaft.Bei einer Diskussion über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" muß deshalb auch die Frage erlaubt sein: Welche Rolle spielt der Natur- und Umweltschutz? Aus meiner Sicht sind dabei vorrangig zwei Punkte zu berücksichtigen:Erstens. Aktiver Naturschutz kann nur mit den Landwirten, nicht gegen sie betrieben werden. Zweitens. Aktiver Naturschutz kostet Geld.Nicht alles, was der Naturschutz fordert und was der Erhaltung der Umwelt dient, fällt unter die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Ausgleichsregelungen für die Landwirtschaft sollten keine neuen Subventionstöpfe öffnen. Aber sie müssen die Einkommensverzichte kompensieren, die der Landwirtschaft auf Grund von Wirtschaftsbeschränkungen im Interesse des Natur- und Umweltschutzes entstehen und über ein zumutbares Maß hinausgehen.Kosten entstehen auch durch aktive Leistungen für den Naturschutz, etwa Biotop- und Artenschutz, oder durch Leistungen für die Erhaltung eines bestimmten Erscheinungsbilds unserer Kulturlandschaft.Es ist von der Sache her richtig, die meisten dieser Maßnahmen dezentral von den Ländern finanzieren zu lassen. Aber wegen der Bedeutung des Naturschutzes für alle wäre es notwendig, daß übergeordnete Programme auf Grund der Finanzierung doch vom Bund mit durchgezogen werden, weil die Finanzausstattung der Länder unterschiedlich ist. Deshalb liegt der Gedanke nahe zu prüfen, ob eine eigenständige Gemeinschaftsaufgabe „Naturschutz" einzuführen wäre. Die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes wäre eine gute Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Lassen Sie uns einen gemeinsamen Weg suchen!Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Der Herr Abgeordnete Paintner hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicher ist nichts so gut, daß es nicht verbessert werden könnte. Das trifft auch für das Gesetz über diese Gemeinschaftsaufgabe zu. Die Revision dieses Gesetzes hat wesentliche Änderungen bei Flurbereinigung, einzelbetrieblichen Investitionen, benachteiligten Gebieten, Marktstruktur, Wasserwirtschaft, Forstwirtschaft, Milchkuhprämie, Dorferneuerung sowie eine stärkere Berücksichtigung ökologischer Belange bei allen Maßnahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe gebracht. Das wird im neuen
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PaintnerRahmenplan sehr deutlich. Ich begrüße das und danke der Bundesregierung ausdrücklich dafür
— auch das soll man tun; auch das gehört zur politischen Kultur —,
daß sie auf diesem Gebiet außerordentlich aktiv ist. Dies trifft auch auf die Flächenstillegung und auf die Extensivierungsmaßnahmen zu, die jetzt neu hinzukommen.
Meine Damen und Herren und auch Frau Flinner, bei der Flächenstillegung hätten wir noch viel weiter sein können, wenn nicht die EG-Kommission so lange gezögert hätte. Im zweiten Jahr der Anwendung sind jetzt bis auf Dänemark und Luxemburg alle Mitgliedstaaten dabei. Mit einem Umfang von 450 000 Hektar stillgelegter Fläche ist EG-weit zu rechnen.
Dies entspricht etwa 1,5 Millionen Tonnen Getreide, die aus der Produktion ausscheiden.Wie schon gesagt, diese Zahlen wären weit höher, hätte die EG-Kommission schneller gehandelt. Dies bedauert die FDP außerordentlich. Die EG-Kommission stellt dann schließlich fest, daß die Maßnahme mit höheren Prämien viel besser laufen würde. Daraufhin hat der Agrarrat auf Vorschlag der Kommission die Beteiligungssätze deutlich angehoben. Bei einer in der Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich gezahlten Prämie von 1 100 DM je Hektar entspricht dies einer Beteiligung von rund 47 statt vorher 34 %. Dies hätten wir auch schon im vorigen Jahr haben können. Statt dessen hat die Kommission verfügbares Geld den Mitgliedstaaten zurücküberwiesen und die Inanspruchnahme der Maßnahme verzögert.Hierzu kann ich nur sagen: Sicherlich sparen, ja, und überall, wo es nur geht, aber zuvor soll man sicherlich die Probleme lösen, für die das Geld vorgesehen war.
Daß dies ein Sparen am falschen Ende war, zeigen jetzt die Signale der bislang zögerlichen Mitgliedstaaten. Sie werden ihre Prämienregelung nun verbessern. Eine deutliche Antwort — das möchte ich auch Ihnen, Frau Flinner, sagen —
sage ich all den Kritikern der Flächenstillegung und der Extensivierungsmaßnahmen.
— Wenn ich auch so laut schreien würde wie Sie, dann würden wir uns überhaupt nicht mehr verstehen.
Es kann doch nicht im Interesse unserer Getreidebauern sein, noch weitere Stützpreissenkungen hinzunehmen.
Ohne diese Maßnahmen zur Einschränkung der Produktion stünden uns diese sicherlich hundertprozentig bevor.Den Kritikern, die der Bundesregierung und auch unserem Staatssekretär Georg Gallus immer wieder vorwerfen, mit Flächenstillegung und Extensivierung würden Marktanteile aufgegeben,
kann ich nur sagen: Sie sollen einmal ganz genau nachdenken, wo der Nutzen von Marktanteilen liegt, die gar keine sind, weil der Absatz mehr als unsicher ist bzw. in der Intervention landet.
Vorhin sagte ich: Wir haben leider noch keine Alternative zur Flächenstillegung und Extensivierung. Ich hoffe sehr, daß sich mit den nachwachsenden Rohstoffen endlich eine Alternative entwickeln läßt, doch derzeit gibt es leider noch sehr viele offene Fragen.Wir ermuntern die Bundesregierung allerdings, auf ihrem Weg der Doppelstrategie fortzufahren, national alles zu tun, um hier keine Chance zu verpassen, und in der EG darauf zu drängen, dieses Thema ernsthaft anzupacken.
In der Diskussion dieses Themas tauchen so viele verlockende Stichworte auf. Die darin möglicherweise steckenden Innovationen rechtfertigen den Einsatz von Forschungsmitteln. Nur so kann ermittelt werden, ob diese Rohstoffe wettbewerbsfähig sein können. Auch die Finanzierung von Demonstrationsprojekten kann helfen, Antworten zur Wirtschaftlichkeit zu finden und in der interessierten Öffentlichkeit die positiven Umweltwirkungen darzustellen.
— Aber sicher. Sie müssen auch mal schauen, was da los ist.Das über die Gemeinschaftsaufgaben geforderte Bogenberger Modell zu Umschulung von Landwirten ist nach unserer Auffassung ein voller Erfolg. Wir unterstützen die Bemühungen des Bundeslandwirtschaftsministers, mit den Ländern zusammen zu einer generellen Umschulung für umschulungswillige
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PaintnerLandwirte zu kommen. Durch die Umstellungshilfe sollen junge Bauern, die ihre Chance in der Landwirtschaft negativ beurteilen, eine Qualifikation in einem außerlandwirtschaftlichen Beruf erhalten.Die FDP ist außerdem fest entschlossen, noch in dieser Legislaturperiode ein Naturschutzgesetz zu verabschieden. Das kann aber nur gelingen, wenn die Finanzierung geregelt ist. Sollte es dazu kommen — es zeichnet sich ab, daß die Finanzierung über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" erfolgt — , so dürfen die traditionellen Maßnahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe aber nicht gekürzt werden. Das möchte ich hier ausdrücklich anmerken.
Jetzt hat Frau Abgeordnete Flinner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuallererst möchte ich ganz kurz auf das Gesagte eingehen, obwohl ich nur fünf Minuten Redezeit habe. Herr Paintner, ich möchte Ihnen nur folgendes sagen. Bauern, die selbst Flächenstillegung machen, haben mir gesagt, sie müßten in den Folgejahren erhöhte Pestizideinsätze fahren, weil das ganze Unkraut ausgesamt ist. Sie hatten Klee eingesät. Das Unkraut ist über den Klee hochgekommen. Sie konnten nicht mähen, sonst wäre der Klee kaputt gewesen. Wenn Sie ein Bauer wären, wüßten Sie, daß man, wenn Klee eingesät ist, nicht mähen kann, bevor der Klee eine bestimmte Höhe hat. Denn sonst ginge er kaputt. Die Bauern haben mir selbst gesagt, es gebe jede Menge Unkraut. Wenn sie umbrechen, müssen sie vermehrt Pestizide einsetzen. Deshalb kann das Ziel, das Sie mit der Flächenstillegung anstreben, nie erreicht werden, nämlich die Natur zu schonen. Das läuft überhaupt nicht.
Meine Damen und Herren, die Gemeinschaftsaufgabe ist bei näherem Hinsehen nichts anderes als ein Programm zur Beschleunigung des Strukturwandels in der Landwirtschaft.
Für die Regierung stehen trotz der Überschußprobleme und der Umweltschäden noch Betriebsvergrößerungen, Rationalisierung und Spezialisierung sowie Flurbereinigung und Konzentration in der Vermarktung im Vordergrund. Das alles vergrößert die Probleme des ländlichen Raumes und schadet der bäuerlichen Landwirtschaft.Deshalb wollen wir eine Umorientierung der Gemeinschaftsaufgabe. Sie soll Maßnahmen für die Wiederherstellung und Erhaltung der ökologischen und wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des ländlichen Raumes und gegen das Waldsterben enthalten. Es darf mit der Intensivierung der Landwirtschaft, mit dem Wachsen oder Weichen und mit dem unverminderten Einsatz von Düngemitteln und Spritzmitteln nicht weitergehen.
Wir fordern, daß endlich eine breit angelegte Förderung der bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft eingeleitet wird. Wir wollen, daß Maßnahmen zum Schutz von Boden und Grundwasser gegen den Pestizid- und Nitrateintrag ergriffen werden. Wir brauchen eine Dorferneuerung unter ökologischen Gesichtspunkten. Wir erwarten eine deutliche Erleichterung der Direktvermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Dazu gehört die Förderung der Errichtung hofeigener Schlacht- und Verkaufsräume. Statt der Flurbereinigung, die in der Vergangenheit größte Schäden an Ökologie und Landschaftsbild verursacht hat, wollen wir den freiwilligen Landtausch fördern.
— Wir haben schon Flurbereinigungen gehabt, Herr Susset. Das müßten Sie eigentlich wissen. Ich kenne eine Gemeinde, die schon drei Flurbereinigungen hinter sich hat. Wie viele sollen wir noch machen, damit die Regierung an immer noch mehr Land kommt so wie in Boxberg? Das ist ein Unding.
Sie sollten sich als CDU-Regierung schämen, daß Sie hier solche Sachen vorbringen.
Insbesondere muß aber auch dringend ein Maßnahmenbündel zum Schutz und zur Sanierung des Waldes durchgeführt werden. Dazu sind folgende Vorhaben notwendig: ein Notprogramm zur Schutzwaldsanierung in der Alpenregion,
die Wiederanpflanzung von Jungwald, Finanzhilfen für Waldbesitzer, deren Wälder durch das Waldsterben geschädigt sind, sowie die Unterstützung von Maßnahmen zur biologischen Bekämpfung des Borkenkäfers. Den Erfordernissen, die alle die vorgenannten Maßnahmen notwendig machen, kommt das gegenwärtige Konzept der Gemeinschaftsaufgabe nicht nach. Im Gegenteil: Es schreibt die Fortsetzung der zur Zeit gemachten Fehler fest.Noch schlimmer sieht es mit dem Sonderrahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe aus. Drei Viertel des Finanzvolumens sind für die Flächenstillegung vorgesehen — und das, obwohl wir alle inzwischen doch genau wissen, daß die erwarteten positiven Effekte ausbleiben, daß aber die erwarteten negativen Folgen für Landwirtschaft und Ökologie eingetreten sind. Ich habe es vorhin schon ganz kurz geschildert.Auch die neu aufgelegte Extensivierung ist enttäuschend.Eine wirkliche Ökologisierung der Landwirtschaft, die allein den drängenden Problemen des Boden- und Grundwasserschutzes wirksam begegnen kann, läßt nach wie vor auf sich warten. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine andere Agrarpolitik und deshalb auch eine andere Gemeinschaftsaufgabe.
— Das sowieso.
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Frau FlinnerSie soll bäuerliche Arbeitsplätze erhalten, sie soll die vielfältige Kulturlandschaft und die ländliche Sozialstruktur wiederherstellen. Wir wollen, daß damit die bäuerlich-ökologische Landwirtschaft und das ländliche Handwerk erhalten und gefördert werden und daß eine eigenständige ökologische Regionalentwicklung ermöglicht und unterstützt wird.Leider ist Herr Kiechle nicht da. Aber ich möchte trotzdem noch etwas anfügen, was für ihn speziell gilt. Herr Kiechle sagte in der letzten Ausgabe der „Wirtschaftswoche" in einem Interview, daß er kein verkappter Grüner sei, sondern ein wirklich Grüner. Wenn das stimmt, sollte er seinem grünen Gewissen folgen und unsere Agrarpolitik unterstützen,
die eine wirkliche Zukunftsperspektive für die Bäuerinnen und Bauern und für den ländlichen Raum bietet.
Danke schön.
Jetzt hat der Staatssekretär Gallus das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich hier entschuldigen, daß ich zu spät gekommen bin. Ich möchte aber gleichzeitig dem Parlament meinen Glückwunsch aussprechen, daß es heute gelungen ist, eine halbe Stunde früher dran zu sein und damit heute abend eine halbe Stunde früher Schluß zu bekommen.
Insbesondere an Sie, Frau Kollegin Parlamentarische Geschäftsführerin Schulte, möchte ich sagen: Ich versichere Ihnen, meine Hochachtung vor dem Parlament ist nicht zu überbieten.
Gestatten Sie gleich eine Zwischenfrage, verehrter Herr Gallus?
Ja.
Herr Staatssekretär, Sie provozieren mich zu der Frage: Ist das Ministerium wenigstens in der Lage, die Beamten dahingehend zu triezen, daß sie zukünftig auch einen früheren Beginn der Debatte erkennen?
Ich verspreche Ihnen jegliche Besserung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" ist 1988 mit der Änderung des Gemeinschaftsaufgabengesetzes in ihrem Ziel- und Aufgabenkatalog in wichtigen Punkten erweitert worden. Ich glaube, das kann nicht hoch genug gewertet werden.Die Berücksichtigung ökologischer Belange wurde, Herr Kollege Müller, gesetzlich fixiert, nachdem zuvor schon entsprechende Formulierungen in die Förderungsgrundsätze der jährlichen Rahmenpläne aufgenommen worden waren.Das Ziel der Verbesserung der Produktions- und Arbeitsbedingungen als einer der sachlichen und finanziellen Schwerpunkte wurde um die Aufgabe „Anpassung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe an die Marktentwicklung" erweitert.Der Gesetzesänderung folgten die finanziellen Konsequenzen:Für den regulären Rahmenplan wurden 1989 die Bundesmittel auf 1,525 Milliarden DM aufgestockt. 1990 werden voraussichtlich die gleichen Mittel zur Verfügung stehen, die von den Ländern auf über 2,5 Milliarden DM ergänzt werden.Für die Maßnahmen zur Marktentlastung wurde ein Sonderrahmenplan eingeführt, der über fünf Jahre läuft, und zu 70 % vom Bund, zu 30 % von den Ländern finanziert wird. Der Bund stellt jährlich 250 Millionen DM zur Verfügung.Mit dem heute zur Debatte stehenden Rahmenplan 1989 bis 1992 und den Vorschlägen für den kommenden Rahmenplan 1990 bis 1993 setzt die Bundesregierung ihre agrarpolitischen Zielvorstellungen weiter um, soweit das mit der Gemeinschaftsaufgabe möglich ist und sie das auf Grund ihrer Zuständigkeit kann.Die unmittelbar einkommenswirksame Förderungsmöglichkeit durch die Ausgleichszulage wird in Kürze mit der Anerkennung der zusätzlichen „kleinen Gebiete" vervollständigt. Die Feinabgrenzung der benachteiligten Gebiete steht in Brüssel nach zwei Jahren endlich vor dem Abschluß. Dies ist ein großer Erfolg.Für die notwendige Anpassung der Landwirtschaft an den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt werden im betrieblichen, überbetrieblichen und auch im außerbetrieblichen Bereich weitere Möglichkeiten eröffnet. Dabei wird auf die regionalen Besonderheiten Rücksicht genommen.Ich verweise auf die Aufnahme der Förderung betrieblicher Investitionen, Frau Flinner, zur Direktvermarktung selbsterzeugter land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse sowie im Bereich Freizeit und Erholung, auf die Anhebung der Prosperitätsgrenze in der einzelbetrieblichen Förderung von 65 000 DM auf 80 000 DM und auf die Aufnahme der Förderung von Investitionen zur Herstellung von tiefgefrorenem Obst und Gemüse im Vermarktungsbereich im Rahmenplan 1989 sowie auf die Bundesvorschläge für den Rahmenplan 1990 zur Einführung einer Förderung der Vermarktung nach besonderen Regeln erzeugter landwirtschaftlicher Erzeugnisse — Frau Flinner, Sie
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Parl. Staatssekretär Gallussollten die Bundesregierung und die Bundesländer loben und nicht kritisieren —, zur Gewährung einer Umstellungshilfe während der Teilnahme an einer beruflichen Umschulung und zur wesentlichen Verbesserung der Förderungsmöglichkeiten für Kooperationen.Den ökologischen Erfordernissen wird bei allen Förderungsmaßnahmen nicht nur Rechnung getragen; sie werden, soweit das rechtlich im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe möglich ist, in die Förderung einbezogen. Beispielsweise darf der Ausbau von Fließgewässern nur noch gefördert werden, wenn naturnahe Ausbauverfahren angewendet werden, können Investitionen zur Verbesserung des Tierschutzes im Zusammenhang mit anderen betrieblichen Investitionen gefördert werden.
— Herr Kollege Müller, genau das ist das Stichwort: „im Zusammenhang". Die Gemeinschaftsaufgabe ist nämlich zur Strukturverbesserung und nicht für den Tierschutz und für den Naturschutz geschaffen worden. Wenn wir das nämlich nicht im Zusammenhang machen — wie übrigens auch bei der Flurbereinigung — , müssen die Länder es selber finanzieren.
Deshalb haben wir diesen Weg gewählt. Herr Kollege Müller, ich kann nur sagen: Tragen wir alle dazu bei, daß die Länder bei der Anpassung der deutschen Landwirtschaft an die ökologischen Notwendigkeiten sowie in bezug auf das Wasserhaushaltsgesetz und dessen Vollzug und jetzt auch in bezug auf die Finanzierung des Naturschutzgesetzes bereit sind, schnell mitzumachen.
Enthusiasmus sehe ich nirgends. Ich muß allerdings Baden-Württemberg loben, wie es das Wasserhaushaltsgesetz vollzogen hat. Das muß ich hier einmal sagen.
Nach unserem Gesetz können Naturschutz- und Umweltschutzmaßnahmen zur Sicherung eines nachhaltig leistungsfähigen Naturhaushalts in die Förderung von Flurbereinigungsverfahren einbezogen werden.Besonderen Wert legt die Bundesregierung auf die konsequente Weiterführung des Sonderrahmenplans zur Marktentlastung. Im ersten Jahr sind in der Bundesrepublik 170 000 ha stillgelegt worden; in der EG waren es leider nur 452 000 ha. Vor allem auf unser Drängen hin wurde eine deutliche Verbesserung der EG-Erstattung vorgenommen, so daß nun auch in den übrigen EG-Mitgliedstaaten die Maßnahme in Zukunft verstärkt in Anspruch genommen werden dürfte.
— Was Sie sagen, ist total verkehrt. Sowohl die Bauern, die mitmachen, als auch die Naturschützer sind zufrieden.
Inzwischen ist auch die Extensivierung angelaufen. Dabei wird der Schwerpunkt sicher auf den produktionstechnischen Maßnahmen liegen, die bundesweit eingeführt wurden. Der Umstellung ganzer Betriebe auf weniger intensive Produktion mißt die Bundesregierung besondere Bedeutung zu. Die nach der EG-Verordnung vorgesehene Förderung wurde deshalb erweitert und wird insoweit aus nationalen Mitteln aufgestockt. Die EG hatte nämlich bei der Umstellung eines ganzen Betriebes nicht vorgesehen, auch das Grünland mit einzubeziehen. Ich will hier nur einmal ganz deutlich sagen, daß wir ganz großzügig verfahren.Obwohl die Flächenstillegung — wenn auch nicht in gewünschtem Ausmaße — sicher ihren Teil zu dem diesjährigen Ernteergebnis beigetragen hat, halte ich die Entscheidung der EG-Kommission, das Ernteergebnis bei Getreide auf 160,5 Millionen t festzusetzen, für falsch, zumal wir wissen, daß ein Spielraum von 2 bis 3 % bei solchen Mengen ganz natürlich ist. Von daher hätte keine Notwendigkeit bestanden, den europäischen Getreidebauern eine weitere Preissenkung von 3 % für das nächste Jahr aufzuzwingen.
Der Kommission hätte es gut angestanden, wenn sie sich für die Interessen der europäischen Getreidebauern stark gemacht hätte.
Die jetzige Haltung kann nur als Verbeugung vor dem GATT verstanden werden.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/4330 und 11/5211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bachmaier, Catenhusen, Dr. Holtz, Dr. Scheer, Reuter, Schäfer , Schmidt (Salzgitter), Singer, Dr. Soell, Jung (Düsseldorf), Bulmahn, Fischer (Homburg), Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Vosen, Dr. Kübler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDKündigung des deutsch-brasilianischen Abkommens über Zusammenarbeit auf dem Ge-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12679
Vizepräsidentin Rengerbiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie— Drucksache 11/5266 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung und TechnologieAuswärtiger AusschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stratmann, Dr. Daniels , Frau Garbe, Hoss, Dr. Knabe, Frau Teubner, Weiss (München) und der Fraktion DIE GRÜNENKündigung des Deutsch-Brasilianischen Atomvertrages von 1975— Drucksache 11/5358 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung und TechnologieAuswärtiger AusschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes 45 Minuten vorgesehen. — Das Haus erhebt keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 18. November ist ein wichtiges Datum. Bis zu diesem Tag haben wir die Chance, unseren zunehmend angeschlagenen Ruf, eine verantwortungsbewußte Rüstungsexportpolitik zu betreiben, wieder zu verbessern. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Fakten und Vermutungen über die Verstrickung deutscher Firmen in die nuklearen und nichtnuklearen Rüstungsaktivitäten von Drittländern bekanntwerden. Die Chemiewaffenfabrik von Rabda, die illegale Unterstützung des pakistanischen Atomwaffenprogramms durch deutsche Firmen und deutsche Wissenschaftler, Blaupausen für den U-Boot-Bau in Südafrika und die Aktivitäten deutscher Firmen beim Raketenbau sind Stichworte, die aufzeigen, wie berechtigt die Sorge ist, wir könnten immer tiefer in trübe und unverantwortliche Waffengeschäfte verstrickt werden.Das deutsch-brasilianische Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie aus dem Jahre 1975 hat eine Laufzeit von 15 Jahren und endet somit im November 1990. Dieses Abkommen verlängert sich aber automatisch um weitere fünf Jahre, wenn wir es nicht spätestens bis zum 18. November dieses Jahres aufkündigen.Die zunächst ins Auge gefaßte Laufzeit von 15 Jahren hatte den Zweck, nach Ablauf dieses Zeitraums zu überprüfen, ob sich die mit dem Vertrag verbundenen Erwartungen erfüllt haben oder nicht.Das Kooperationsabkommen war schon im Jahre 1975 auch in Kreisen der damaligen Bundesregierung nicht unumstritten. Schon damals gab es die Sorge, daß die umfassenden Leistungen, die wir im Rahmen dieses Vertrages zu erbringen haben, zur autonomen, nichtkontrollierten und möglicherweise auch militärischen Nutzung mißbraucht werden könnten. Man hoffte jedoch, durch diese gezielte Unterstützung und durch die anlagenbezogene Überwachung Brasilien in die internationale Kontrolle mit einbeziehen zu können, und sah darin die Chance, Brasilien von autonomen Nuklearaktivitäten abzuhalten. Diese Erwartungen haben sich jedoch mittlerweile als Trugschluß erwiesen.Im Zuge der bisherigen atomaren Zusammenarbeit haben wir Brasilien durch Lieferungen von Technologien und durch die Vermittlung von umfassendem Know-how zu einem geschlossenen Brennstoffkreislauf entscheidend mitverholfen.Seit 1983 weiß die Bundesregierung davon, daß Brasilien neben dem mit deutscher Hilfe aufgebauten friedlichen Atomprogramm ein der internationalen Überwachung entzogenes und offensichtlich militärischen Zwecken dienendes Parallelprogramm betreibt und seine atomaren Aktivitäten zunehmend auf dieses Parallelprogramm verlagert.Unbestreitbar ist auch, daß dieses Parallelprogramm in erheblichem Umfang von den Kenntnissen gespeist wird, die brasilianische Atomwissenschaftler und Atomtechniker durch die deutsch-brasilianische Zusammenarbeit gewonnen haben.Wenn der Bundeskanzler dieser Tage in einem Schreiben an den Fraktionsvorsitzenden der SPD die Abwanderung in der Bundesrepublik ausgebildeter brasilianischer Atomtechniker in das besser dotierte autonome Programm als „Selbstverständlichkeit" — so wörtlich — bezeichnet, dann nimmt er damit bewußt in Kauf, daß deutsches Know-how für die militärische Nutzung der Kernenergie eingesetzt wird.
Die Bundesregierung weiß außerdem seit langem, daß die im deutsch-brasilianischen Abkommen vereinbarten Meldepflichten, die die Voraussetzung dafür sind, daß die internationale Atomenergiekommission ihre Überwachungsarbeiten durchführen kann, nicht im entferntesten erfüllt werden. Das heißt, daß auch die Leistungen, die im Rahmen des Abkommens erbracht werden und die nach den bestehenen Verträgen zwingend unter internationale Kontrolle gestellt werden sollen, bislang allenfalls unzureichend überwacht werden konnten, weil insbesondere die Brasilianer ihren vertraglichen Meldepflichten nicht nachkommen. Aber auch auf deutscher Seite — dies verschweigt der Bundeskanzler — gibt es gravierende Mängel in der Notifizierungspraxis, zumindest erhebliche Verzögerungen bei den uns obliegenden Meldepflichten.Zum 1. September 1988, also vor knapp einem Jahr, wurde dann auch noch durch Dekrete des brasilianischen Staatspräsidenten das deutsch-brasilianische Kooperationsprogramm mit dem autonomen brasilianischen Nuklearprogramm verschmolzen. Spätestens durch diesen Akt ist offenbar geworden, daß der mit uns geschlossene Vertrag offensichtlich nur dazu da war, aus der Bundesrepublik atomare Technologien und umfassendes Know-how zu erhalten, um dann diesen Technologie- und Know-how-Transfer dem internationalen, nicht kontrollierten, vorwiegend
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Bachmaiermilitärischen Zwecken dienenden Bereich zuzuführen.
Die schon bislang kaum funktionierenden Kontrollen werden nach der Verschmelzung des deutsch-brasilianischen Kooperationsprogrammes mit dem autonomen brasilianischen Nuklearprogramm geradezu gänzlich ad absurdum geführt.Wir wissen heute, meine Damen und Herren, daß sich die mit dem deutsch-brasilianischen Abkommen verbundenen Erwartungen nicht erfüllt haben, vielmehr das Gegenteil eingetreten ist. Wer heute sehenden Auges diesen Vertrag nach der damals vereinbarten Laufzeit von 15 Jahren nicht beendet und über das Jahr 1990 hinaus fortsetzt, räumt selbst ein, daß er um möglicher guter Geschäfte willen bereit ist, eine nicht kontrollierte Nutzung deutscher atomarer Technologien und deutschen atomaren Know-hows mit militärischer Zielsetzung hinzunehmen.
Wer eine aktive Nichtweiterverbreitungspolitik betreiben will, wie dies allenthalben auch von seiten der Bundesregierung bekundet wird, muß nach den vorliegenden zwingenden Erkenntnissen und Belegen diese Kooperation beenden und bis zum 18. November dieses Jahres die Kündigung des Vertrages aussprechen.
Die Entwicklung, die das deutsch-brasilianische Abkommen seit 1975 genommen hat, ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, daß es die immer wieder beschworene Trennung von friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie nicht gibt.
Beide Bereiche sind lediglich die unterschiedlichen Seiten derselben Medaille.Meine Damen und Herren, die Frage, ob wir das deutsch-brasilianische Abkommen fristgerecht zum 18. November 1989, d. h. in wenigen Wochen, kündigen oder nicht, ist ein Testfall für unsere Glaubwürdigkeit, alles dafür zu tun, daß sich die militärische Nutzung der Kernenergie nicht noch weiter ausdehnt. Sie ist ein Testfall einer glaubwürdigen Nonproliferationspolitik und damit auch ein Testfall für eine glaubwürdige Abrüstungspolitik.Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Jäger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Abkommen mit Brasilien, das die Opposition jetzt kündigen will, ist ein Stück Außenpolitik der SPD-geführten Regierung von Helmut Schmidt.
Es ist 1975 von der von Ihnen geführten Bundesregierung mit der brasilianischen Regierung abgeschlossen worden. Es ist zu bemerken, daß Brasilien damals von einer Militärdiktatur regiert wurde, mit der Sie diesen Vertrag geschlossen haben. Heute wollen Sie ihn einer Demokratie gegenüber kündigen auf der Basis von völlig haltlosen Unterstellungen und Verdächtigungen.
Schon damals war bekannt, meine Damen und Herren von der Opposition, daß die Brasilianer nicht daran denken, dem Kernwaffen-Nichtverbreitungsvertrag beizutreten. Das hat man bewußt in Kauf genommen. Deswegen klingt Ihre Beschwörung, daß es sich hier um ein Stück Glaubhaftigkeit bei der Nichtverbreitung handele, hohl und unglaubwürdig.
Meine Damen und Herren, dieser KernwaffenNichtverbreitungsvertrag steht für uns nicht zur Debatte. Wir stehen ohne Wenn und Aber dazu. Aber was Sie hier mit Ihrem Ablehnungsantrag machen — —
— Natürlich! Aber wir haben immer den Grundsatz vertreten: Pacta sunt servanda. Sie haben doch gegen den NATO-Beitritt gestimmt und stehen heute auch zum Nordatlantischen Bündnis. Das ist doch kein Argument, meine Damen und Herren!
Meine Damen und Herren, was die SPD mit diesem Kündigungsantrag macht, ist nichts anderes als ein abenteuerlich anmutender Schlag gegen die Außenwirtschaftsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu dem größten lateinamerikanischen Land, eine politische Dummheit ersten Grades.
Meine Damen und Herren, die SPD trampelt mit diesem Kündigungsvorschlag im außenpolitischen Porzellan herum. Dabei steht die Begründung für diesen Antrag auf völlig tönernen Füßen. Es ist einfach eine Unterstellung und entspricht überhaupt nicht den Tatsachen, daß Brasilien Kernwaffen entwickelt, schon gar nicht mit deutscher Hilfe. Aus dubiosen „Spiegel"-Berichten und aus völlig mißdeuteten Berichten des BND
hat die SPD ein Kernwaffenmärchen zusammengebastelt, das wirklich in die Rumpelkammer der politischen Märchen, aber nicht in die Realitätengeschichte deutscher Außenwirtschaftspolitik gehört.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, würden Sie mir zugeben, daß Sie, Ihre Fraktion und die Koalition insgesamt, Meldungen über Rüstungsexport und ähnliche Geschäfte in den letzten Monaten schon mehr-
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Müller
mals als dubios bezeichnet haben, die sich hinterher als richtig dargestellt haben?
Ob Geschäfte, die irgendwo sonst gemacht worden sind, dubios waren oder nicht, steht hier nicht zur Debatte.
Hier geht es um den Vertrag mit Brasilien. Was Sie hier als Begründung für Ihren Antrag vorbringen, hält einer sorgfältigen Nachprüfung nicht stand. Übrigens waren Sie bei der Abfassung des Antrags selbst sehr vorsichtig. Dort haben Sie nicht expressis verbis behauptet, sondern nur insinuiert, daß es sich hier um die Herstellung von Kernwaffen handle.
Da wird nur sehr geschickt der Eindruck erweckt, Sie behaupten es nicht direkt. Aber das stimmt einfach nicht, meine Damen und Herren, sondern es ist ganz klar erkenntlich, daß die eigenen Nuklearanstrengungen der Brasilianer ausschließlich darauf gerichtet sind, ein nuklear angetriebenes, aber nicht mit Kernwaffen ausgestattetes U-Boot zu bauen — etwas, was auch Staaten, die dem Kernwaffen-Nichtverbreitungsvertrag beigetreten sind, erlaubt wäre. Das verschweigen Sie bei Ihrem Antrag.Und weiter wissen Sie auch ganz genau, daß alles das, was die Bundesrepublik Deutschland bisher geliefert hat, sowohl an Know-how als auch an tatsächlichen Ausrüstungen und Techniken, bei weitem nicht ausreicht, weder unmittelbar noch mittelbar, um irgendeine Kernwaffe herzustellen. Das taugt nur zur Herstellung von Anlagen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Auch das verschweigen Sie. Meine Damen und Herren, darum ist Ihr Antrag nicht nur töricht, sondern auch noch unredlich.Meine Damen und Herren, das gilt schließlich auch für die Begründung dafür, daß man Fachleute ausbildet. Wenn man die Maßstäbe, die Sie da anlegen wollen, übernehmen wollte — Sie können die Leute nachher doch nicht einsperren —, dann könnten wir derartige Ausbildungsprogramme mit überhaupt keinem Land mehr durchführen, weil erworbenes Wissen immer irgendwo mißbraucht werden kann. Das ist doch kein ernsthaftes Argument, sondern das ist — entschuldigen Sie — Unfug. Meine Damen und Herren, wo bleibt in dem Zusammenhang der von Ihnen immer wieder beschworene Respekt vor der Mündigkeit unserer Partner in der Dritten Welt? Mit der Begründung, die Sie da bringen, können wir im Grunde die ganze Politik zugunsten der Dritten Welt an den Nagel hängen.Richtig ist die Kritik — und die teilen wir — an dem Dekret der brasilianischen Regierung vom 31. August 1988. Aber auch hier wissen Sie, daß die Bundesregierung ein Aide-mémoire abgegeben hat, wonach sie in intensiven Gesprächen und Verhandlungen mit der brasilianischen Regierung steht, um die Beanstandungen auszuräumen. Wir können sagen: Diese Gespräche und Verhandlungen sind auf gutem Weg. Ich nehme an, daß wir von der Bundesregierung nachher noch etwas darüber hören werden.Weshalb also dieser unselige Kündigungsantrag der SPD? Das will ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Es ist nichts anderes als die panische Angst, beim Antinuklearwettlauf mit den GRÜNEN nicht mithalten zu können.
Es ist nichts anderes als Ihre Kernenergiepanik, die bei solchen Gelegenheiten immer wieder die Ansätze zur rationalen Politik durchbricht.
Man muß es Ihnen immer wieder sagen — auch die linksradikalen GRÜNEN sagen es Ihnen ja immer wieder — : Die Masse dessen, was an Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland gebaut wurde und steht, geht auf die SPD-Regierung Helmut Schmidt zurück.
Das ist es doch, was Sie wurmt: weil Sie sich das vorhalten lassen müssen, weil Sie diesem Vorwurf von seiten der Linksradikalen Tag für Tag ausgesetzt sind. Das löst bei Ihnen von der SPD doch allmählich eine Neurose aus, die Sie veranlaßt, in einen immer neuen Wettbewerb einzutreten, bei dem Sie hoffen, die Nase vorn zu haben. Das ist der Grund, warum Sie einen solchen Antrag stellen.Deswegen nehmen Sie ja sogar, meine Damen und Herren von der SPD, einen Vertragsbruch in Kauf.
Sie beantragen nämlich, sofort alle Genehmigungen für Exporte einzustellen, obwohl der Vertrag selbst bei Kündigung noch ein Jahr weiterliefe und in Art. 3 des Vertrages die Verpflichtung enthalten ist, Exportgenehmigungen zu erteilen. Sie wollen also sogar den Vertragsbruch der Bundesrepublik Deutschland in Kauf nehmen nur, um hinter den GRÜNEN nicht zurückzubleiben.Dennoch schaffen Sie es nicht. Die GRÜNEN haben inzwischen einen noch viel radikaleren Antrag eingebracht und haben Sie erneut übertrumpft. Ich kann der SPD-Fraktion nur raten: Lassen Sie diese vergeblichen Wettlaufversuche im Antinuklearkampf bleiben. Sie schaffen es nicht, die GRÜNEN zu übertrumpfen. Sie schaffen es nicht, noch kernkraftfeindlicher als die Linksradikalen zu sein.Die Kündigung des deutsch-brasilianischen Nuklearabkommens wäre ein Hohn auf alle Grundsätze, die auf diesem Gebiet bisher auch von der SPD hochgehalten worden sind. Technisch-wissenschaftlicher Fortschritt, Partnerschaft mit der Dritten Welt und internationale Zusammenarbeit, alles fegen Sie vom
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JägerTisch, um Ihre Antinuklearpolitik durchziehen zu können.Meine Damen und Herren von der SPD, ich möchte Ihnen den Rat geben: Ermannen Sie sich, und ziehen Sie diesen unseligen und schädlichen Antrag zurück.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Nach dem Redebeitrag meines Vorredners Kollegen Jäger muß ich meine Haltung gegenüber einigen CDU-Rednern differenzieren. Der erste Teil Ihrer Rede, Herr Kollege Jäger, war in seinem außenpolitischen, ich sage einmal: Dünnschiß ausgesprochen dürftig.
Der SPD und damit implizit auch den GRÜNEN vorzuwerfen — ich frage einmal Frau Kollegin Adam-Schwaetzer, was sie davon hält — , eine rechtmäßige und rechtzeitige Kündigung des Atomvertrages sei Zerschellen von außenpolitischem und außenwirtschaftlichem Porzellan, ist so dümmlich, wie es kaum noch geht.
Die Einhaltung der Kündigungsfrist ist im Vertragsentwurf von 1975 ausdrücklich vorgesehen.
Dem zweiten Teil Ihres Redebeitrags, allerdings mit Ausnahme der letzten Sätze, kann ich Wort für Wort zustimmen. So etwas aus dem Munde eines CDU-Kollegen zu hören, finde ich beeindruckend.
Vor wenigen Jahren hat der Präsident von Brasilien, Sarney, erklärt, daß Brasilien im Besitz des technischen Know-how zum Zünden einer eigenen Atombombe ist. Brasilien hat den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet, hat aber den Vertrag von Tlatelolco für eine atomwaffenfreie Zone in Lateinamerika unterzeichnet, allerdings mit dem bemerkenswerten Zusatz, daß die Unterzeichnung des Vertrages von Tlatelolco der Zündung von Kernexplosionen zu friedlichen Zwecken nicht widerspreche.
Wenn wir uns in diesem Zusammenhang die vielfachen Äußerungen, insbesondere zu Zeiten der brasilianischen Diktatur, von führenden Militärs der Luftwaffe und der Marine anhören, die eindeutig erklärten, daß es das Ziel der brasilianischen Marine und Luftwaffe sei, in den Besitz einer eigenen Atomwaffe zu kommen, und das in Verbindung mit dem Zusatz zu dem Vertrag von Tlatelolco setzen, ein Know-how zur Zündung von Kernexplosionen zu friedlichen Zwekken zu bekommen, merken wir, welches hochgefährliche Spiel in Brasilien getrieben wird.
Aus diesem Grunde haben wir GRÜNEN gemeinsam mit brasilianischen Initiativen und Parteienvertretern — insbesondere der Partei der Arbeiter — schon vor drei Jahren, im Jahre 1986, eine deutschbrasilianische Initiative zur Kündigung des deutschbrasilianischen Atomvertrages ins Leben gerufen.
— Lassen Sie mich bitte diesen Satz noch zu Ende sprechen. — Diese bilaterale Initiative ist gerade in den letzten Wochen ausgesprochen erfolgreich. Am 5. Oktober ist von dem brasilianischen Kongreßabgeordneten Fabio Feldmann eine parlamentarische Initiative zur Kündigung des Atomabkommens in den Nationalkongreß in Brasilia eingebracht worden. Morgen werden sowohl in Rio de Janeiro als auch in Sao Paulo zwei Großkundgebungen zur Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomvertrags abgehalten werden. Wir betrachten dies als eine gemeinsame deutsch-brasilianische Initiative zur Kündigung des Atomvertrags, getragen von der gemeinsamen Sorge um die Gefahr auch der Weiterverbreitung von Atomwaffen.
Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage? — Bitte, Herr Jäger.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß es seit dem vergangenen Jahr, seit 1988, in Brasilien eine Verfassung gibt, die ausdrücklich die Herstellung und die Verwendung von Kernwaffen in und durch Brasilien verbietet, und muß ich aus Ihren Äußerungen schließen, daß Sie bereits wieder unterstellen, daß dort bald eine neue Militärdiktatur kommt, die diese Verfassung außer Kraft setzt?
Die Verfassung ist mir bekannt, insbesondere weil ich wenige Wochen vor ihrem Inkrafttreten selbst in Brasilia war, auch in der konstituierenden Versammlung.
Nur wissen Sie ganz genau, was selbst auf der Basis von gültigen Verfassungen durch interessierte Kräfte gemacht werden kann und was nicht. Dafür bietet doch die Weltgeschichte, auch die Gegenwartsgeschichte, hinreichende Beispiele.
Wir GRÜNEN haben unmittelbar vor der Sommerpause die anderen Fraktionen aufgefordert, eine gemeinsame Initiative zur Kündigung des Atomvertrages einzureichen. Ich freue mich, daß die Sozialdemokraten in der Sommerpause selbst eine Initiative ergriffen haben, möchte allerdings durchaus die Nebenbemerkung machen, daß wir ursprünglich auch und gerade die SPD zu einer gemeinsamen Initiative aufgefordert hatten, daß sie es dann aber offensichtlich aus parteipolitischem Kalkül vorgezogen hat, eine Einzelinitiative zu unternehmen. Trotzdem werden wir auch ihrem Antrag zustimmen, weil die Stoßrichtung genau die gleiche ist wie unsere.Wir meinen allerdings, daß über die Gefahr der Proliferation hinaus, die das Zentrum Ihres Antrages ist, weitere Gefahren im deutsch-brasilianischen Atom-
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Stratmannvertrag gesehen werden müssen. Sollte Angra II und später, Mitte der 90er Jahre, vielleicht auch Angra III mit bundesdeutscher Hilfe in Betrieb gehen, droht dort das atomare Risiko jeglicher Atomkraftwerke, das wir auch in der Bundesrepublik tagtäglich erleben und durch das wir einen GAU befürchten. Diese Gefahr besteht in Brasilien um so mehr, als die Geologie in der Meeresbucht von Angra dadurch gekennzeichnet ist, daß es einen ausgesprochen unsicheren Boden und eine große Erdbebengefahr gibt. Das werden Ihnen die Initiativen und die Fachleute vor Ort darstellen können.Eine zweite Gefahr ist, daß Brasilien nicht über ein Atomrecht verfügt wie die Bundesrepublik. Gerade zu Zeiten der Diktatur sind gegen den Willen der Bevölkerung und ohne jegliche Befragung und Einbeziehung der Bevölkerung Atombauten wie in Angra durchgeführt worden.Der Bau der Atomkraftwerke in Brasilien verhindert, daß dort eine dezentrale und ökologisch verträgliche Energieversorgung eingerichtet wird, im wesentlichen unter Nutzung der Wasserkraft, wobei wir sicherlich einen Konsens darüber haben, daß die Großstaudämme, die in Brasilien in der Vergangenheit gebaut wurden oder derzeit gebaut werden, abgelehnt werden; aber Brasilien hat vielfältige Möglichkeiten der dezentralen und ökologisch verträglichen Nutzung der Wasserkraft, und Brasilien ist hochgradig, ja, höchstgradig zur Nutzung der Sonnenenergie geeignet.
Kommen Sie bitte zum Ende!
Ja. — Ein weiterer, gerade außenwirtschaftlich schlimmer Aspekt des deutschbrasilianischen Atomvertrages ist, daß das deutschbrasilianische Atomgeschäft ein wesentlicher Bestandteil der brasilianischen Außenverschuldung ist; es ist mit ca. 10 % an der brasilianischen Außenverschuldung beteiligt. Brasilien leistet Jahr für Jahr allein für dieses deutsch-brasilianische Atomgeschäft einen Schuldendienst von über 300 Millionen Dollar.
Aus diesen verschiedenen Gründen sind wir der Meinung, daß bis zum 18. November gemeinsam mit den brasilianischen Initiativen und mit den Parlamentariern aus der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens und der Partei der Arbeiter Brasiliens dieser Vertrag gekündigt werden muß. Ein letzter Satz: Auch der Kandidat für die anstehende Präsidentschaftswahl der Partei der Arbeiter, Lula, unterstützt mit seiner Parteiführung ausdrücklich die Initiative zur Kündigung des Atomvertrages.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Irmer.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die beiden Anträge zeigen es: Die Opposition ist tief enttäuscht. Sie versucht nämlich ständig, der Bundesregierung die Verwicklung in tatsächliche Skandale nachzuweisen. Aber es gelingt ihr nicht, sosehr sie sich auch Mühe gibt. Da ist die Konsequenz, daß sie Skandale erfindet. Die Methode kennen wir auch.
Der Initiator des SPD-Antrages, der Kollege Bachmaier, ist ja bekanntermaßen auch der Vorsitzende des 2. Untersuchungsausschusses.
Und er als Vorsitzender wie auch wir als die Mitglieder dieses 2. Untersuchungsausschusses haben natürlich Akten gelesen. Da fand sich ein Hinweis auf einen Bericht des Bundesnachrichtendienstes, der mit Brasilien zu tun hatte. Da hat man sich gesagt, da hat man einen wunderschönen Skandal. Wir wissen ja, wie das immer abläuft: Man geht zur „Schmuddelpresse", man steckt denen etwas zu
die „Schmuddelpresse" greift es auf, und dann kann man nachher sagen: Hier ist der Skandal. Wir berufen uns dabei auf Presseberichte. Das ist doch der übliche Ablauf.
Ich will jetzt einfach einmal folgendes tun: Ich will einmal die Behauptungen aufgreifen, die hier in die Welt gesetzt worden sind und will sie dann dem gegenüberstellen, was Tatsache ist. Ich berufe mich hier auf Ihre eigene Quelle, nämlich den Bundesnachrichtendienst. Ich mache das an drei Beispielen fest. Ich habe mir die Zitate aufgeschrieben und werde mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitieren.
Man sieht daraus, wie Sie vorgegangen sind.Herr Kollege Bachmaier, Sie schreiben in Ihrem Antrag, Brasilien sei in der Lage, Kernwaffen zu produzieren.
Wir haben am 6. Oktober, also vor knapp zwei Wochen, im Untersuchungsausschuß den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Dr. Wieck, gehört. Der hat dazu folgendes gesagt. Ich zitiere jetzt aus dem nicht eingestuften, also offen zugänglichen Protokoll des Ausschusses. Da heißt es zu der Behauptung, Brasilien sei in der Lage, Kernwaffen zu produzieren:Argentinien und Brasilien sind zur Zeit noch nicht in der Lage, hochangereichertes waffenfähiges Uran herzustellen.
Und weiter sagt er:
Ebenso ist in beiden Ländern die Produktion von waffenfähigem Plutonium aus technischen Gründen bisher nicht möglich. Außerdem stehen bisher keine nicht kontrollierten bestrahlten Brenn-
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Irmerelemente zur Verfügung, da alle Reaktoren internationalen Sicherungsmaßnahmen unterliegen.
— Lassen Sie mich das eben weiterführen.Im Antrag, Herr Bachmaier, behaupten Sie weiter, das sogenannte autonome Programm sei — ich zitiere nach einem Bericht des Bundesnachrichtendienstes vom 3. Februar 1987 — „eindeutig auf militärische Zielsetzungen" ausgerichtet. Dann behaupten Sie im gleichen Zusammenhang, brasilianische Militärs hätten mehrfach ihr Streben nach der Atomwaffe bekundet.
Das war zu Zeiten der Militärdiktatur. Unbestritten! Aber dadurch erwecken Sie den Eindruck, als stelle Brasilien Atombomben her. Das ist auch hier von den GRÜNEN behauptet worden. Dazu hat der Zeuge Wieck gesagt — ich zitiere — :
Richtig dagegen ist, daß der BND in den bisher zu den Nuklearaktivitäten Brasiliens und Argentiniens erstellten Berichten feststellt, daß Hinweise auf Programme zur Entwicklung von Kernwaffen, auf Vorbereitung oder einer Absicht hierfür nicht vorliegen.
Wissen Sie, was da war? — Ich erzähle es Ihnen. Sie bauen einen Antriebsreaktor für ein U-Boot.
Da kommt der militärische Bezug her. Das U-Boot ist aber mit konventionellen Waffen bestückt. Das hat doch mit Atombomben nicht das mindeste zu tun.
So gehen Sie mit der Wahrheit um. Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Irmer — —
Ein drittes kleines Beispiel: Sie behaupten in dem Antrag — es ist wieder wörtliches Zitat —, „selbst bei Lieferungen von Kernenergiewaren aus der Bundesrepublik Deutschland nach Brasilien, für die eine Kontrolle durch die IAEO vorgesehen ist," könne „ein Mißbrauch zu unfriedlichen Zwecken nicht ausgeschlossen werden."
Herr Abgeordneter Irmer — —
Dazu wiederum Herr Wieck:
Nachrichtendienstliche Hinweise auf eine Verletzung des zwischen der IAEO, Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen Safeguards-Abkommens vom 26. 2. 76 oder des deutsch-brasilianischen Abkommens vom 27. 6. 75 durch die autonomen Nuklearaktivitäten Brasiliens liegen bisher nicht vor. Insbesondere wurde bisher keine vertragswidrige Verwendung von Komponenten aus der gemeinsam mit der Bundesrepublik Deutschland errichteten
Urananreicherungsanlage in Resende festgestellt.
So, meine Damen und Herren, lautet die Aussage des Herrn Wieck nach dem Protokoll des Untersuchungsausschusses.
Herr Abgeordneter Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage — Sie sind dermaßen schnell — des Abgeordneten Stratmann?
Ich wollte die Zeit ausnutzen. — Bitte sehr, Herr Stratmann.
Herr Irmer, Sie bekommen es doch hinzugerechnet.
Stimmen Sie mir zu, daß die These von Herrn Bachmaier, auch von uns GRÜNEN, und die Aussage des brasilianischen Präsidenten Sarney, daß Brasilien technisch in der Lage ist, eigene Atomwaffen herzustellen, durchaus zusammenpassen, und daß dies eine andere Aussage ist als die, daß Brasilien heute schon in Massenumfang eigene Atombomben herstellen kann — es ist technisch in der Lage, eigene Atomwaffen herzustellen —, in Kombination mit der Tatsache, daß Brasilien 1987 in Sorocaba, Arama, also im Staate Sao Paulo, eine Ultrazentrifugen-Urananreicherungsanlage unter strengster militärischer Luftwaffengeheimhaltung in Betrieb genommen hat? Weder der BND-Chef noch wir, noch Sie wissen, was dort tatsächlich passiert, und die Geheimhaltung hat natürlich ihren Sinn.
— Kurz nach der Eröffnung war ich auf Einladung örtlicher Initiativen dort. Das geht durch die Presse. — Stimmen Sie mir zu, daß die Kombination dieser beiden Tatsachen — Präsident Sarney sagt: Wir sind technisch in der Lage, und die Urananreicherungsanlage unter militärischer Geheimhaltung in Sorocaba
— den Verdacht und die Gefahr erhärtet, daß Brasilien auf dem Weg ist, nicht nur über das Know-how zu verfügen, sondern auch zu einer größeren Produktion von eigenen Atomwaffenarsenalen zu kommen?
Frau Präsidentin, ich komme in Schwierigkeiten mit meiner Redezeit, wenn die Zwischenfrage länger dauert als meine Redezeit.
Herr Abgeordneter, die Zwischenfrage und Ihre Antwort werden nicht angerechnet.
Vielen Dank. — Jetzt freue ich mich besonders — auf der Bundesratsbank sitzt mein Freund Heinrich Jürgens, wir waren früher zusammen in einem anderen Parlament — , daß wir jetzt einmal wieder im gleichen Raum sitzen.
Herr Stratmann, ich möchte Ihre Frage beantworten. Ich weiß natürlich nicht, was Brasilien kann und was nicht, Sie wissen es auch nicht, und Herr Bachmaier weiß es ebenfalls nicht. Ich nehme Herrn Bachmaier und auch Ihnen übel, daß er etwas behauptet, was er nicht weiß, und wo derjenige, der es allenfalls
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Irmerweiß, nämlich der Herr Wieck, den wir zu diesem Zweck als Zeugen und sachverständigen Zeugen im Untersuchungsausschuß vernommen haben, der dort unter Eid steht, sagt: Das weiß ich, und das weiß ich nicht. Und der sagt genau das Gegenteil von dem, was in Ihren Anträgen behauptet wird.Meine Damen und Herren, das ist die Methode, die ich anprangere. Man merkt die politische Meinung. Sie haben ohne ausreichende sachliche Grundlage das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland geschädigt; darauf läuft es hinaus.
Sie haben ein Entwicklungsland der Dritten Welt schamlos diskreditiert, indem Sie ihnen unterstellen, daß sie ihre eigene Verfassung brechen. In ihrer Verfassung steht: nur friedliche Nutzung, und Sie sagen, die wollen die Bombe bauen. Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Um der innenpolitischen Effekthascherei willen setzen Sie hier außenpolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland aufs Spiel. Ich kann das nur schärfstens verurteilen.Wir werden diesen Anträgen nicht zustimmen können. Wir werden sie dem Schicksal zuführen, das sie allein verdienen: Wir werden sie in den Orkus senden.Danke schön, Frau Präsidentin.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Catenhusen.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, die erste Debatte, die ich im Deutschen Bundestag verfolge, in der von allen Seiten des Hauses versucht wird, an Hand von Aussagen des BND die volle Wahrheit über einen Sachverhalt zu ergründen, und in der der BND der qualitativ hochwertigste Zeuge in diesen Dingen ist.
Ich möchte mir es etwas einfacher machen und die Sachverhalte, die dem Antrag der SPD-Fraktion zugrunde liegen, kurz und knapp, aber, denke ich, auch korrekt darstellen.Meine Damen und Herren, es steht zum einen fest, daß das deutsch-brasilianische Nuklearabkommen von 1975 zur Zusammenarbeit auf dem Gebiete der friedlichen Nutzung der Kernenergie die mit ihm verbundenen ökonomischen und energiepolitischen Zielsetzungen, soweit sie von brasilianischer Seite überhaupt ernst gemeint waren, nicht einlösen konnte. Der erste mit deutscher Unterstützung gebaute Reaktor soll 1994 fertig sein. Der Vorwurf, wir wollten den noch stoppen, oder der Versuch von Herrn Stratmann, den noch zu stoppen, ist natürlich deshalb etwas komisch, weil zur Beendigung nicht die deutsche Technologie fehlt — die liegt in Brasilien eingemottet komplett vor — , sondern der brasilianische Beton, den die dort wegen Geldmangels nicht herstellen können.
Es ist aber nach 15 Jahren klar, daß eine derart kapitalintensive Technik wie die Nukleartechnologie die falsche energiepolitische Technologie für ein industrielles Schwellenland wie Brasilien darstellt.Zweiter Punkt: Von Anfang an hat es ein Parallelprogramm unter der Kontrolle des brasilianischen Militärs gegeben, bei dem brasilianische Militärs nie einen Zweifel gelassen haben, warum sie es machen wollen. Es gibt z. B. ein Zitat eines prominenten Militärs aus Brasilien im „Jornal do Brasil" von 1983. Er sagt ganz klar, daß sie die Kapazitäten vorbereiten, die Bombe in zehn bis 15 Jahren produzieren zu können.Der Unterschied zwischen der Situation in Brasilien und etwa der Situation zwischen Indien und Pakistan besteht darin, daß es zur Zeit auf Grund der guten Zusammenarbeit zwischen den beiden Vormächten Argentinien und Brasilien keine regionalpolitischen Spannungen gibt, in der beide ihre Fähigkeit, die Bombe zu bauen, nutzen wollen. Das Entscheidende ist, daß ihr außenpolitisches Instrument die Fähigkeit ist, die Bombe jederzeit bauen zu können. Deshalb ist die Diskussion, ob sie heute die Bombe haben, müßig. Das Entscheidende ist, daß sie in einer Konfliktsituation jederzeit die Bombe bauen und einsetzen könnten und daß sie mittlerweile auch die Trägersysteme dafür vorbereiten. Sie sind nämlich im Besitz von Mittelstreckenraketen, die nach Auffassung vieler Proliferationsexperten darüber entscheiden, ob die Fähigkeit, eine Bombe zu bauen, auch militärisch realisiert werden kann. Deshalb lassen Sie uns die müßige Diskussion beenden, ob etwas Militärisches dahintersteckt.Ich möchte Ihnen noch zum Besten geben, daß auch der heutige Präsidentschaftskandidat Brizola 1982 in einem Interview die Modernisierung der Waffen in Brasilien und auch den Bau einer Atombombe in Brasilien befürwortet hat.Das Problem der brasilianischen Demokratie besteht darin — davon konnte ich mich bei einem Besuch in Brasilien Ende letzten Jahres überzeugen —, daß der zivile Sektor weder Einblick noch Kontrolle über das hat, was im militärischen Teil passiert. Deshalb ist das, was wir an Vorwürfen äußern, nicht auf die brasilianische Demokratie gerichtet, sondern es ist eine nüchterne Beschreibung des Zustandes, daß die brasilianischen Demokraten ihre Verfassungsgebote gegenüber dem eigenen Militär bisher nicht durchsetzen können.
Daraus ergibt sich unserer Auffassung nach die zwingende Konsequenz, daß wir die Zusammenarbeit mit Brasilien beenden, weil das militärische Parallelprogramm unkontrollierbar ist und weil ein ständiger Know-how-Transfer in diesen Bereich vor allem durch mit deutscher Hilfe ausgebildete Techniker und Wissenschaftler stattfindet.
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CatenhusenIch denke, Henry Kissinger hat 1974 einen wahren Satz zu diesem Zusammenhang ausgesprochen. Er sagte:In einer Welt, in der viele Nationen Kernwaffen besäßen, würden die Gefahren immer größer. Es wäre unendlich schwieriger, wenn nicht unmöglich, unter einer großen Zahl von Kernwaffenmächten eine Stabilität aufrechtzuerhalten. Keine Nation kann der Ausbreitung der Nukleartechnologie indifferent gegenüberstehen; denn die Sicherheit einer jeden Nation wäre von dieser Entwicklung betroffen.Wir ziehen daraus die Konsequenz, dieses Abkommen zu kündigen. Ich sage ganz deutlich: Es war ein Fehler der deutschen Außenpolitik, die Proliferations-politik von Präsident Carter nicht zu unterstützen und hier Sonderwege zu gehen. Wir möchten diesen Sonderweg gegenüber Brasilien hiermit beenden.
Herr Catenhusen, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Ja.
Herr Kollege Catenhusen, wenn Sie den Brasilianern die Intentionen unterstellen, die Sie gerade vorgetragen haben, was spricht dann aus Ihrer Sicht für die Wahrscheinlichkeit, daß sie diese Ambitionen aufgeben, wenn wir diesen Vertrag kündigen?
Es geht um die deutsche Mitverantwortung für eine Entwicklung in einem anderen Lande.
Ich bin der Meinung, daß wir Konsequenzen aus unserer Mitverantwortung ziehen sollen, auch wenn wir wissen, daß das alleine nicht ausreicht. Aber wir würden dann eine geschlossene Haltung der Industriestaaten, die im Besitz der Nukleartechnologie sind, gegenüber solchen Staaten ermöglichen.
Wir sind einen Sonderweg gegangen. Wir haben in den 70er Jahren versucht, aus kommerziellen Interessen — ich sage das einmal — die Anforderungen an Proliferationssicherheit zu senken. Diesen Weg wollen wir beenden. Ich denke, das ist nicht ein Vorwurf gegen die Brasilianer, sondern eine nüchterne Beschreibung der Situation, daß in Brasilien das militärische Programm bislang zivil nicht kontrollierbar ist. Es ist leider so; ich bedaure das sehr. Aber man muß den Fakten, die in Brasilien gegeben sind, nüchtern ins Auge schauen.
Danke.
Das Wort hat Frau Staatsministerin Adam-Schwaetzer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht in dieser Debatte um das deutschbrasilianische Abkommen vom 27. Juni 1975 über Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Dieser Vertrag ist in der Öffentlichkeit immer wieder diskutiert worden, weil Brasilien nicht Mitglied des Kernwaffensperrvertrages ist.Die Bundesregierung hat schon damals bei Abschluß dieses Vertrages, aber auch immer wieder während der Geltung des Vertrages größten Wert darauf gelegt, daß lückenlose Kontrollen in Zusammenarbeit mit der Internationalen Atomenergieorganisation erfolgen können und erfolgt sind.Die in den Anträgen der Opposition enthaltenen Vorwürfe hat die Bundesregierung sehr sorgfältig geprüft. Sie ist ihnen intensiv nachgegangen, vor allem soweit sie Neues gegenüber der Lage bei Abschluß des Abkommens im Jahre 1975 enthalten. Der Staatssekretär im Bundesministerium für Forschung und Technologie hat alle in diesen Anträgen aufgeführten Probleme in der Sitzung der deutsch-brasilianischen Kommission für die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit Ende August 1989 nachdrücklich angesprochen. Er hat bei dieser Gelegenheit ein ausführliches Aide-mémoire der Bundesregierung überbracht.Diesen Beratungen folgten im September diesen Jahres zwei Gesprächsrunden zwischen deutschen und brasilianischen Regierungsvertretern am Rande der Generalkonferenz der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien. Das Auswärtige Amt hat danach den Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation, Blix, mit Schreiben vom 22. September 1989 gebeten, die Kontrollfunktion der IAEO weiterhin mit Nachdruck und größtmöglicher Sorgfalt wahrzunehmen. Dieser hat zugesagt, sich dieser Bitte persönlich anzunehmen.Als Ergebnis dieser Bemühungen ist festzuhalten: Alle deutsch-brasilianischen Nuklearaktivitäten unterliegen weiterhin den Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation.
Es gibt keinen Hinweis auf unzulässigen Transfer deutscher Nukleartechnik in nicht IAEO-kontrollierte Bereiche.
Es gibt keine Hinweise auf die Entwicklung von Kernsprengkörpern in Brasilien.
Ich möchte deshalb noch einmal kurz darstellen, was sich nach unseren Erkenntnissen in Brasilien tatsächlich abspielt. In Brasilien soll in der Tat ein kleiner Atomreaktor entwickelt werden, der dazu dienen soll, U-Boot-Motoren anzutreiben. Die hierfür erforderlichen Kernbrennstoffe sollen in einer selbständig entwickelten Anlage auf weniger als 20 % Uran angereichert werden. Jeder weiß, daß das nicht zum Bombenbau ausreichen würde.
Das ist Brasilien auch nach keiner völkerrechtlichenNorm verboten. Es wäre selbst dann nicht verboten,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12687
Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzerwenn Brasilien Mitglied des Kernwaffen-Nichtverbreitungsvertrages wäre
oder den auch von Herrn Stratmann zitierten Vertrag von Tlatelolco tatsächlich ratifiziert hätte.In der Tat hat Brasilien sein eigenes Nuklearprogramm im vergangenen Jahr umorganisiert. Mit dem Präsidialdekret vom 31. August 1988 wurde der gesamte Nuklearsektor reorganisiert. Das sollte vor allem der Rationalisierung dienen.Wir haben in den vergangenen Monaten in gründlichen Gesprächen mit Brasilien sicherstellen können, daß eine nachweisbare Trennung zwischen dem bilateralen und dem eigenständigen Nuklearprogramm erhalten bleibt und daß eine umfassende Anwendung der Safeguards der Internationalen Atomenergieorganisation auf die aus der Bundesrepublik Deutschland stammenden Gegenstände und ihre Folgeprodukte auch in Zukunft gewährleistet ist.Wir haben dabei auch einige Unstimmigkeiten über Umfang und Form der Notifizierungen an die IAEO klären können, die ja auch angesprochen worden sind. Das ist in einer Weise geklärt worden, die wir für befriedigend halten.
In der Tat ist in der Vergangenheit nicht alles so vor sich gegangen, wie wir uns das gewünscht hätten. Wir haben aber die berechtigte Erwartung, daß dies in der Zukunft zu unserer Zufriedenheit laufen wird.Schließlich wird auch das gemeinsame deutschbrasilianische Unternehmen zur Trenndüsenanreicherung mit seinem deutschen technischen Direktor und den ihm übertragenen Kontrollfunktionen fortgeführt — alles unter zusätzlicher Kontrolle der IAEO.Bisher gibt es auch keinen Hinweis auf unzulässigen Transfer deutscher Nukleartechnik in das nicht IAEO-kontrollierte eigenständig entwickelte Programm, das im übrigen in sich gar nicht unzulässig ist, wie ich schon erwähnte. Trotzdem werden die jetzt noch bestehenden Forschungsprojekte nur im eigenständigen Programm fortgeführt; sie betreffen zudem Gebiete wie Reaktorsicherheit, Strahlenschutz, Abfallbeseitigung oder Nuklearmedizin.Vor diesem Hintergrund hat sich die Bundesregierung nach sorgfältiger Prüfung entschieden, daß sie keine Gründe sieht, die langjährige Zusammenarbeit mit Brasilien zu kündigen.Ich möchte in dem Zusammenhang auch auf die Tatsache hinweisen, daß Brasilien bei Vertragsabschluß von einer Militärregierung regiert worden ist, heute hingegen von einer demokratisch gewählten Regierung regiert wird. Unter dieser Regierung ist im vergangenen Jahr eine neue Verfassung verabschiedet worden. Bestandteil dieser Verfassung ist eine Verpflichtung, die Kernenergie ausschließlich zur friedlichen Nutzung vorsieht. Alle Zitate von brasilianischen Politikern, die heute hier gebracht worden sind, stammen aus einer Zeit vor der Verabschiedung dieser Verfassung.
Ich bitte alle Kollegen, die diese Zitate gebracht haben, sich doch einmal gründlich zu überlegen, ob mit der Verabschiedung dieser Verfassung sich nicht die eigene Einstellung auch zur Verpflichtung auf die Demokratie in Brasilien geändert haben könnte.
— Ich habe Vertrauen zu demokratisch gewählten Regierungen, Herr Catenhusen, weil ich sehr viel Vertrauen zur Demokratie habe;
denn ich habe seit vielen Jahren Erfahrung damit, wie gut es ist, in einer Demokratie zu leben.Die Bundesregierung ist sich wohl bewußt, daß der Umgang mit Atomenergie ein hochsensibler Bereich ist, und wir wissen wohl, daß wir sehr hohe Anforderungen an den Umgang mit allen Materialien und allem Know how stellen müssen, die hier zur Verfügung gestellt werden.Unter Abwägung all dieser Aspekte sehen wir dennoch gute Grundlagen für die Fortführung dieses Programms. Wir werden auch in der Zukunft die weitere Entwicklung sorgfältig beobachten und im Auge behalten.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auf den Drucksachen 11/5266 und 11/5358 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Technologie und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Die Überweisung ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDÜbernahme der Kosten der Volkszählung am 25. Mai 1987 durch den Bund— Drucksachen 11/3584, 11/4312 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Blens LüderFrau Dr. Sonntag-Wolgast Frau Schmidt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5419 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Nöbel.
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12688 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Festsetzung der Finanzzuweisung von 4,50 DM pro Einwohner sind Bund, Länder und Gemeinden davon ausgegangen, daß die Gemeinden nur ein Viertel der Kosten der Volkszählung aus eigenen Mitteln zu bestreiten haben. Dies war Geschäftsgrundlage für die Gemeinden bei der Durchführung der Volkszählung, insbesondere für ihre teilweise mit großem Engagement durchgeführten kostenträchtigen Aktivitäten, um die Volkszählung trotz des politischen Widerstands, für den nicht die Gemeinden durch ihr Verhalten Ursachen gesetzt hatten, durchzuführen.
Wenn sich der Bund, Herr Kollege, jetzt nicht mehr an diese Geschäftsgrundlage gebunden fühlt und die Finanzzuweisung entgegen den berechtigten Erwartungen der Kommunen angesichts der nicht vermeidbaren Kostensteigerungen nicht erhöhen will, handelt er schlichtweg unseriös.
Dieses Verhalten des Bundes ist im übrigen kein Einzelfall: Ich erinnere an die Entwicklung bei den Kosten der Personalausweise. Auch hier hat der Bund die Gemeinden bei den Mehrkosten, die den Gemeinden durch die Preiserhöhung der Bundesdruckerei für Personalausweise entstanden sind, im Stich gelassen.
Über die Reaktion der Gemeinden auf diesen Vertrauensbruch darf er sich nicht wundern. Es geht also nicht nur um den Bruch finanzieller Vereinbarungen, sondern um Vertrauensbruch im unmittelbar staatlichen Bereich, und es geht um fortgesetzten Vertrauensbruch.
Im Privatleben — Herr Kollege Penner, Sie waren Staatsanwalt — wären es Sachen für den Staatsanwalt. In unserem Fall führen sie berechtigterweise zum Boykott, aber dieser ist nicht gerade eine gute Visitenkarte für diese Bundesregierung.
Da nützen Lippenbekenntnisse und deren ständige und inständige Wiederholungen nichts. Was nutzt es, wenn jetzt der Innenminister bekräftigt:
Die Bundesregierung bekennt sich zu ihrer Mitverantwortung für die Kommunen und Kreise. Sie bekennt sich zur kommunalen Selbstverwaltung. Dies schließt für sie insbesondere die Bereitschaft ein, den kommunalen Handlungsspielraum zu stärken. Ihrer Mitverantwortung kommt die Bundesregierung in der praktischen Politik nach.
So am 28. September in Kassel unter dem Stichwort: Deutsche Kreise ziehen Bilanz.
Meine Damen und Herren, beim Personalausweis wurden für 5,1 von 13,5 Millionen Ausweisen von den Gemeinden statt der vom Bund geforderten 11,90 DM nur 9,70 DM gezahlt. Der Bitte an die Bundesregierung, den vollen Preis zu zahlen, wird nach wie vor nicht nachgekommen.
Herr Abgeordneter Dr. Nöbel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Bitte.
Herr Kollege Nöbel, würden Sie der staunenden Öffentlichkeit vielleicht mitteilen, daß mit der Einführung der neuen Personalausweise eine Gebühr von 10 DM erhoben wird, die es bei den alten Personalausweisen nicht gab, und daß, von daher gesehen, in einer Nettoberechnung in Zukunft auf Grund der neuen Ausweise weniger Kosten für die einzelne Gemeinde anfallen als früher, als es keine Gebühren gab?
Nein, Ihre Rechnung ist falsch. Ich sage Ihnen, die kommunalen Spitzenverbände, die Städte und Gemeinden haben doch recht, wenn sie sich auf den Standpunkt stellen: Wer sich verrechnet und nachher andere dafür zur Kasse bittet, zahlt selbst. So ist es.
Anderes widerspräche doch jeder zivilisierten Handlungsweise, zumal in einem sonst so anspruchsvollen Staat.
Wenn sich der Bundespostminister beim Präsidenten des Deutschen Städtetages, Herrn Oberbürgermeister Rommel, eine Abfuhr holt, das Präsidium des Deutschen Städte- und Gemeindebundes jetzt die Gemeinden des kreisangehörigen Raumes nicht auffordert, den Boykott einzustellen, und die Oberstadtdirektoren Nordrhein-Westfalens im Deutschen Städtetag sich notfalls vom Bund verklagen lassen wollen, dann muß doch die jetzige Mehrheit, Herr Gerster, hier in Bonn endlich einmal anfangen zu denken, bevor sie fragt.
Herr Dr. Nöbel, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja, bitte.
Herr Kollege Nöbel, würden Sie mir zugestehen, daß der neue Ausweis 11,90 DM kostet und eine Gebühreneinnahme von 10 DM gegengerechnet wird, während der alte Ausweis 2,50 DM gekostet hat und keine Gebühr erhoben wurde, so daß sich die Gemeinden rechnerisch besserstehen?
Das hat mit dem Thema nichts zu tun, Herr Kollege Gerster.
— Nein, das hat wirklich gar nichts damit zu tun; das ist eine mathematische, aber keine politische Frage.
Der Beschluß des Deutschen Städtetages, daß zukünftige Volkszählungen und ähnliche Erfassungen unter gleichen Bedingungen wie 1987 von den Gemeinden nicht mehr unterstützt werden, zeigt, daß es
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Dr. Nöbelsich bei diesem Boykott gegen die Preiserhöhung für Personalausweise nicht um eine isolierte Maßnahme handelt, sondern daß die Verbitterung in den Gemeinden und die Bereitschaft wachsen, sich gegen derartige Vertrauensbrüche — das ist mein Thema — zu wehren. Die Städte und Gemeinden sollen wissen, daß sie die sozialdemokratische Bundestagsfraktion geschlossen auf ihrer Seite haben.Der Bund war bei der Verabschiedung des Volkszählungsgesetzes 1987 bereit, drei Viertel der den Gemeinden entstehenden Kosten als Finanzzuweisung — wie gesagt: 4,50 DM pro Einwohner — an die Länder weiterzugeben. Nach der endgültigen Abrechnung ergab sich dann, daß dieser Betrag nur noch gut ein Drittel der tatsächlich entstandenen Kosten ausmacht. Die Städte und Gemeinden haben die Volkszählung aus eigenen Mitteln mit rund 400 Millionen DM finanzieren müssen. Natürlich haben die Kommunen von der Volkszählung profitiert. Das werden wir hier gleich zu hören kriegen. Nur ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen nicht adäquat. Daher ist die Forderung nach Aufstockung des Bundeszuschusses auf 8 DM je Einwohner gerechtfertigt, zumal das im Grunde zufriedenstellende Ergebnis der Volkszählung nur durch die erheblichen zusätzlichen finanziellen Aufwendungen der Städte und Gemeinden und durch deren großenteils überfordertes Engagement erzielt werden konnte.
— Eben. Schließlich gingen auch die bekannten Widerstände und die damit verbundenen Umstände zu Lasten der Städte und Gemeinden. Das können wir feststellen, wenn wir ehrlich sind.Natürlich ist es unstreitig, daß die Gemeinden nach unserer Verfassungs- und Rechtsordnung verpflichtet sind, Gesetze des Bundes und der Länder zu beachten und auszuführen. Das ist völlig klar. Jede Rechts- und Verfassungsordnung lebt jedoch davon — das will ich hier betonen —, daß das in der Regel freiwillig geschieht. Voraussetzung für diese Freiwilligkeit ist jedoch das Grundvertrauen der Gemeinden, daß der Bund ihre berechtigten Interessen angemessen berücksichtigt und insbesondere die Gemeinden nicht im Stich läßt, wenn sich seine Prognosen über die von den Gemeinden bei der Durchführung von Bundesgesetzen zu tragenden Kosten als in erheblichem Umfang unzutreffend erweisen.
Wer auch in solchen Fällen unsere Rechts- und Verfassungsordnung auf Kosten der Gemeinden und zugunsten der Bundeskasse bis an die Grenzen der Belastbarkeit testen will, gefährdet dieses Grundvertrauen. Das ist das Thema.Die Tatsache, daß die Kommunen künftig eine Volkszählung unter solchen Bedingungen nicht mehr unterstützen, wird noch durch das Mißtrauen z. B. in das in Vorbereitung befindliche Bevölkerungsstatistikgesetz angereichert, ob es nämlich für die Städte und Gemeinden nutzungsgerecht ausgestaltet sein werde.So gibt das eine das andere. Dazwischen hängen auch noch die Länder mit ihren Problemen. Da sage ich abschließend: Die Väter des Grundgesetzes
haben sich unter Föderalismus etwas ganz anderes vorgestellt. Wir sagen heute dazu — wir sind ja hier in Bonn — : Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an. Das sollten Sie sich merken.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Blens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe jedes Verständnis für den Kämmerer einer Gemeinde, der versucht, über die Mittel hinaus, die er vom Bund bekommen hat, weitere Mittel für die Volkszählung zu erhalten.
Ich habe auch jedes Verständnis für eine Opposition wie die SPD, die froh ist, wenn sie eine Initiative findet, die sie hier einbringen kann.
Aber ich denke, daß jeder Kämmerer einer Gemeinde auch Verständnis dafür hat, daß wir diesen Antrag der SPD ablehnen,
und zwar aus einigen Gründen,
die ich Ihnen kurz nennen will, oder besser: noch einmal nennen will. Denn wir haben das ganze Problem im Innenausschuß nun wirklich erschöpfend besprochen.
— Das sind wir immer, wenn es um Ihre Anträge geht. —An sich wäre es nicht erforderlich gewesen, das alles hier noch einmal öffentlich zu erörtern. Aber da Sie es angefangen haben, will ich darauf antworten.Zunächst einmal — Herr Nöbel hat schon darauf hingewiesen — ist die Ausführung von Bundesgesetzen laut unserer Verfassung Sache der Gemeinden. Diese Verfassung ist übrigens, Herr Nöbel, nicht nur von Vätern, sondern auch von Müttern gemacht worden.
Ich denke an die Quotenregelung.
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12690 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Dr. BlensDas müßte für Sie von Bedeutung sein.
Für die Ausführung dieser Bundesgesetze steht den Gemeinden keineswegs Kostenerstattung durch den Bund zu.
Sie haben eigene Steuereinnahmen, aus denen sie das zu finanzieren haben. Wenn Sie sich einmal die Einnahmen der Gemeinden ansehen, lieber Herr Penner, werden Sie feststellen, daß die Gemeinden gerade in den letzten Jahren finanziell so gut dastehen, daß sie ihre Aufgaben, auch die Durchführung von Bundesgesetzen, durchaus mit eigenen Mitteln finanzieren können.
Es kommt hinzu, daß der Bund die Gemeinden schon über das hinaus, was er an sich tun muß, bei der Finanzierung der Volkszählung unterstützt hat.
Der Bund hat 400 Millionen DM zu den Kosten der Volkszählung zugeschossen. Das sind pro Einwohner 4,50 DM. Ich sage noch einmal: Das geschah über das hinaus, wozu er rechtlich verpflichtet war.Und schließlich: Den Hauptnutzen aus der Volkszählung hat ja nicht der Bund,
sondern Hauptnutznießer der Volkszählung sind die Gemeinden; denn sie sind, wenn sie Kommunalpolitik nicht über den Daumen, sondern mit dem Verstand machen wollen, am meisten auf Daten aus der Volkszählung angewiesen.
Rationale Kommunalpolitik ist nur mit seriösen Daten der Volkszählung möglich. Wenn Sie einmal Probleme nehmen, die wir zur Zeit diskutieren und die in erster Linie die Kommunen lösen müssen, wird Ihnen das deutlich.
— Gesetze sind Gesetze, Herr Nöbel.
Und da stehen 400 Millionen DM und nicht mehr drin. So ist das.Nehmen Sie das Beispiel Wohnungsbau, das zur Zeit eine Rolle spielt.
Der Wohnungsbau, in dem wir sehr viel tun müssen, in dem zu wenig getan worden ist,
ist ja nicht nur dadurch anzukurbeln, daß der Bund Geld gibt, was relativ schnell zu machen ist, sondern Wohnungsbau in größerem Umfang wird in den Kommunen nur möglich sein, wenn genügend Bauland zur Verfügung steht. Und Bauland steht nur zur Verfügung, wenn man beplantes Bauland hat, also, eineausreichende Zahl von Bebauungsplänen, in denen Wohnungsbau ausgewiesen ist.
— Das hat etwas mit der Volkszählung zu tun, Herr Penner;
denn die Gemeinden haben, weil sie in den vergangenen Jahren davon ausgegangen waren, Wohnungsbaubedarf bestehe nicht mehr, zu wenig Bebauungspläne für Wohnungsbau aufgestellt. Besonders in den Ballungsräumen ist das so.
Erst nachdem auf Grund der Volkszählung bekannt war, daß ein erhöhter Wohnungsbaubedarf zu erwarten sei, haben die Gemeinden damit begonnen, wieder Bebauungspläne aufzustellen. Nur, bevor ein Bebauungsplan so weit ist, daß man auf Grund dessen auch bauen kann, braucht man drei bis vier Jahre Planungszeit.Grade dieses Beispiel zeigt, daß die Gemeinden, wenn sie ihrer Aufgabe, Daseinsvorsorge für ihre Bürger zu betreiben, gerecht werden wollen, Daten brauchen, und zwar rechtzeitig. Und die können sie nur aus der Volkszählung bekommen.
Oder, Herr Nöbel, nehmen Sie ein anderes Beispiel: die Versorgung mit Kindergärten. Wir beraten hier über einen Gesetzentwurf, in dem es darum geht, ob es einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz geben soll oder nicht. Lassen Sie mal den Rechtsanspruch weg; ich halte den für zweitrangig. Mir kommt das so ähnlich vor wie ein Recht auf Arbeit. Das Entscheidende ist, daß die Leute Arbeit haben, nicht, daß sie ein Recht auf Arbeit haben.
Und das Entscheidende ist, daß die Leute einen Kindergartenplatz haben, nicht, daß sie einen Rechtsanspruch darauf haben. Was nützt ihnen denn der beste Rechtsanspruch, wenn die Kindergartenplätze nicht da sind?Und diese Kindergartenplätze werden nur da sein, und zwar an der richtigen Stelle, nämlich da, wo auch die Kinder sind, wenn man rechtzeitig weiß, wie in den einzelnen Stadtteilen einer Großstadt die Bevölkerung zusammengesetzt ist, wie viele junge Leute da sind, wie viele Wohnungen für junge Leute da sind, die voraussichtlich Kinder bekommen werden. Erst wenn man das weiß — und das weiß man nur auf Grund der Volkszählung — , kann man auch rechtzeitig die Kindergärten dahin planen, wo sie später gebraucht werden, und auf Grund der Planung dann dahin bauen, wo sie gebraucht werden.Oder nehmen Sie Alteneinrichtungen: Was nützen Altenwohnungen und andere Alteneinrichtungen z. B. in Stadtteilen, in denen überhaupt keine alten Menschen leben? Man kann Menschen im Alter nicht von einem Stadtteil in den anderen verpflanzen, son-
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Dr. Blensdern die Einrichtungen müssen dort sein, wo alte Leute sind. Das kann man nur vernünftig vorausplanen, wenn man Zahlen über die Bevölkerung hat, und die Zahlen hat man nur, wenn man eine Volkszählung macht.
— Bitte, Herr Nöbel.
Stellen Sie sich vor: Der Blens kommt zum Nöbel und sagt: Da ist eine gute Sache; wir treffen eine Vereinbarung. — Beide finden das gut. Dann sagt der Blens: Du brauchst nur ein Viertel zu bezahlen; ich übernehme die anderen drei Viertel.
— Wenn es zur Sache geht, kommt er her und sagt: Du muß jetzt zwei Drittel übernehmen, und ich übernehme ein Drittel. — Was würden Sie an Nöbels Stelle dann sagen?
Herr Nöbel, der Blens kommt zum Nöbel — bleiben wir bei dem Beispiel —
und sagt: Lieber Nöbel, wir beide kaufen uns jetzt ein Auto. Dieses Auto soll zwar dir gehören, du hast doch den Hauptnutzen davon, aber von den 20 000 DM, die das Auto kostet, übernehme ich 4 000 DM. — Nach einiger Zeit kommen Sie zu mir und sagen: Ich habe mir das Auto gekauft, aber es kostet nicht 20 000 DM, sondern 30 000 DM, und jetzt will ich von dir statt 4 000 DM 10 000 DM haben. Dann kriegen Sie von mir zur Antwort: Vertrag ist Vertrag. 4 000 DM haben wir vereinbart, und den Rest muß du nun selbst bezahlen. Lieber Herr Nöbel, so ist das.
— Nein, vom Rechnen haben Sie ja keine Ahnung. Das haben Sie soeben gesagt, als es um den Personalausweis ging. Als es darum ging, Ihnen klarzumachen
— Herr Gerster hat es ja versucht —, daß die Gemeinden beim Personalausweis in Zukunft weniger zu bezahlen brauchen als bisher, nämlich 60 Pfennig, haben Sie gesagt, daß sei ein mathematisches Problem. In Wirklichkeit ging es natürlich um ein Finanzproblem. Aber ich gebe zu, rechnen ist schwierig, für Juristen erst recht. „Judex non calculat" gilt eben auch für andere Juristen.
— Ich weiß; es gilt manchmal für andere Juristen auch.
Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei: Was den Gemeinden zugesagt worden ist, nämlich 400 Millionen DM, hat der Bund gezahlt. Hauptnutznießer der Zahlen der Volkszählung sind die Gemeinden.
Ich füge noch hinzu: Der Umfang des Fragebogens ist wesentlich durch Intervention der Gemeinden zustande gekommen,
denn die Gemeinden waren diejenigen, die berechtigterweise eine Vielzahl von Fragen über das hinaus haben wollten, was der Bund für seinen Bedarf brauchte.
Aus all diesen Gründen gehen wir davon aus, daß die Kostenerstattung durch den Bund angemessen ist. Es bleibt dabei: Wir sind nicht bereit, darüber hinauszugehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Such.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Blens, ich werde gleich etwas zu den Zahlen sagen, die man braucht.Gestatten Sie mir zu dem Thema „Kosten der Volkszählung" eine kurze Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen des Unternehmens, eines Unternehmens, das insbesondere für die Gemeinden zu einem Groschengrab geworden ist. Darin stimmen wir der SPD zu.Die Volkszählung — so stand es im Gesetzentwurf — sollte insgesamt 716 Millionen DM kosten. Bereits im Herbst 1986 wiesen DIE GRÜNEN im Bundestag darauf hin, daß diese Zahl weit unter den tatsächlichen Ausgaben angesetzt wurde. Eine Aufstellung des Deutschen Städtetages im Frühjahr 1987 machte deutlich, daß nicht mit 5 DM pro gezählter Person, sondern mit bis zu 21 DM pro Zähleinheit gerechnet werden mußte, was dann den Durchschnitt von 11 DM ergab. Aus einem Anteil der Gemeinden von 341 Millionen DM wurden so 630 Millionen DM. Rechnet man noch die Kosten hinzu, die durch juristische Beratung der Verwaltung, Umsetzung und Ausfall von Personal, Wartezeiten für die Bürgerinnen und Bürger in behördlichen Dienstleistungsbereichen, Stundenausfall in Schulen, deren Lehrer und Lehrerinnen als Zählerinnen und Zähler verpflichtet wurden, entstanden, so sind diese Gesamtkosten mit schätzungsweise 2 Milliarden DM sicherlich nicht zu gering geschätzt.Nicht zu beziffern ist sicher der gesellschaftliche Schaden, der darüber hinaus durch sinnlose Verwaltungsakte und Strafmaßnahmen gegen Bürger und Bürgerinnen angerichtet wurde, die sich nicht erfassen lassen wollten.
Lassen Sie mich hierzu einige Beispiele nennen: Da werden einem Beamten in Rheinland-Pfalz noch am 25. August 1989 fünf Tage Erzwingungshaft angedroht, wenn er sein Bußgeld, das im Zusammenhang mit der Volkszählung verhängt wurde, nicht bezahlt. Da sind drei Frauen für vier bzw. neun Tage in die Justizvollzugsanstalten Koblenz und Mainz eingeliefert worden, weil sie sich geweigert haben, ihren Volkszählungsbogen auszufüllen. Da setzt die Stadt Remagen nicht nur das Bußgeld für einen Boykotteur
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12692 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Suchauf 1 000 DM fest, sondern will es auch noch mit Erzwingungshaft gegen einen Studenten eintreiben, der die entsprechenden Raten nicht mehr bezahlen kann, weil sein BAföG ausgelaufen ist.Meine Damen und Herren, welcher Nutzen der Volkszählung — so frage ich — steht diesen finanziellen und ideellen Kosten der Volkszählung gegenüber?
Was steht denn real hinter dem Satz, den das Statistische Bundesamt, die Bundesregierung und alle Volkszählungsbefürworter gebetsmühlenartig bei jeder Gelegenheit parat haben und der lautet, Herr Dr. Blens: Statistiken sind unverzichtbare Voraussetzung für eine vorausschauende und soziale Politik?
Die erste Erkenntnis aus der Volkszählung war angeblich ein Defizit von 1 Million Wohnungen in der Bundesrepublik. Jetzt kommen Ihre Planungen, veröffentlicht um den 1. Dezember 1988 und am selben Tage von dem damaligen Wohnungsbauminister Schneider damit kommentiert, dies könne kein Grund für die Regierung sein, nun etwa wieder mehr Sozialwohnungen zu fördern oder zu bauen. Das sind Ihre Planungen auf Grund der Volkszählung.Tatkräftiger erschienen da schon die Maklerinnen und Makler, deren Interessenverband vorschlug, die Mieten um 6 % zu erhöhen.Die zweite Erkenntnis der Regierung aus der Volkszählung: Ganz im Sinne der bis dahin schon geschönten Arbeitslosenstatistiken kam heraus, daß es wesentlich mehr Beschäftigte gebe als vermutet. In Anbetracht der Berichte über die Durchführung der Volkszählung, wie sie von Bürgerinitiativen stammen, oder der unter Verschluß gehaltenen Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Volkszählung sind erhebliche Zweifel an diesen Zahlen angebracht.Laut Meldung des Statistischen Bundesamtes vom 16. August 1989 gibt es genau 32 319 Mitbürger und Mitbürgerinnen, die zur jüdischen Religionsgemeinschaft gehören. Woher stammen diese genauen Zahlen, wenn es z. B. der Regierende Bürgermeister von Berlin, Diepgen, 1987 auf Proteste der Berliner jüdischen Gemeinden hin den Bürgerinnen und Bürgern anheimstellte, die entsprechende Frage zu beantworten oder nicht?Hier wurde also ein Haufen Zahlenschrott produziert, für den die steuerzahlenden Bürger und Bürgerinnen auch noch zahlen sollen.
Meine Damen und Herren, wir beantragen deshalb, daß der für die Volkszählung verantwortliche Bund die Mehrkosten übernimmt, mit der Maßgabe, daß die überflüssigen und nicht im öffentlichen Interesse liegenden Verfolgungen von Volkszählungsgegnerinnen und -gegnern eingestellt und die Bußgelder zurückgezahlt werden.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit der Einbringung des Antrags der SPD sind viele Ergebnisse der Volkszählung bekanntgegeben worden. Über die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Volkszählung, lieber Herr Such, kann heute eigentlich nicht mehr ernsthaft gestritten werden.
Die Streiterinnen und Streiter, die Nörglerinnen und Nörgler, um es in Ihrer Sprache auszudrücken, müßten eigentlich zu Verstummern oder zu Verstummerinnen werden.Meine Damen und Herren, heute streiten wir uns um die Kostentragungspflicht. Wir haben im Mehrheitsbericht des Ausschusses noch einmal an den Grundsatz erinnert, daß die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Volkszählung an und für sich schon außergewöhnlich ist. Diesen Anteil des Bundes jetzt noch zu erhöhen, würde falsche Maßstäbe setzen.Die pauschale Zahl des Städtetages von 11 DM die im Bericht zugrunde gelegt ist, ist — darauf hatte Herr Such eben zutreffend hingewiesen — eine Durchschnittszahl. Wir würden praktisch eine Durchschnittszahl der Kommunen zum Anlaß nehmen, hier neu zu berechnen. Die Zahlen gehen bis zu 19 DM pro Wähler in Berlin und bis zu 21 DM im Extremfall. Wir würden damit letztlich eine Kostenexplosion, die wir weder zu steuern noch zu verantworten hatten, mit zur Begründung von Bundesfinanzierung nehmen.Wir bedauern, daß nicht alle Bundesländer die Kostenerstattung durch den Bund an die Kommunen weitergeleitet haben. Daß einzelne Landesregierungen ihre Kommunen nicht bedient haben, darf aber nicht dazu führen, daß die Bundeskasse mehr zahlen muß. Deswegen empfehlen wir die Ablehnung des Antrages der SPD-Fraktion und die Zustimmung zur Resolution des Innenausschusses. Wir sehen auch nicht, daß hier irgendwo ein Vertrauensbruch vorliegt.Wir meinen auch, daß die Kostentragungsregelung, wie sie vorgesehen ist, insbesondere deswegen sachlich gerechtfertigt ist, weil die Kommunen die größten Nutznießer der Volkszählungsergebnisse sind.
Die Volkszählung hat gerade für den Bereich der Kommunen viele wichtige Erkenntnisse, die die Administration erleichtern, die Fehlentwicklungen aufzeigen und die auf neue Problemstellungen hinweisen, erbracht. Beispiele dafür sind genannt worden.Vielleicht darf ich aus aktuellem Anlaß den Berliner Innensenator zitieren. Wir haben ihn heute schon einmal zitiert; der Zuname unseres gemeinsamen Freundes Erich ist ja schon vom Kollegen Kappes vor einer Stunde genannt worden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12693
LüderDer Innensenator hat während seiner regulären Dienstzeit eine Anfrage der AL in Berlin beantwortet, die zu Punkt 8 die Fragestellung hatte:Welches Kosten-Nutzen-Verhältnis weisen nach Ansicht des Senats von Berlin die Großzählungen bislang auf?Der Berliner Innensenator hat zutreffend folgendes ausgeführt:Erst die Kenntnis der relevanten Daten und die Möglichkeit, die durch sie vermittelten Informationen mit Hilfe der Chancen, die eine automatische Datenverarbeitung bietet, für die Statistik zu nutzen, schafft die für eine am Sozialstaatsprinzip orientierte staatliche Politik unentbehrliche Handlungsgrundlage.Diesem Satz des Berliner Innensenators können wir uneingeschränkt zustimmen.
Hier werden Nutzen für die Kommunen, hier werden Vorteile für die Gemeinden erzielt. Wenn wir uns daran mit einem Anteil beteiligen, wie er vorher vorgegeben war, so ist das gerecht. Aber mehr zu fordern, weil es mehr gekostet hat, halten wir nicht für akzeptabel.Ich möchte, gerade nach dem, was Herr Such gesagt hat, zur Volkszählung noch vier Punkte feststellen.Erstens. Auch in Zeiten noch so feiner repräsentativer Erhebungen und statistischer Analysen kann auf das Instrument der Volkszählung nicht verzichtet werden.Zweitens. Nachdem die gegenüber früheren Volkszählungsplänen vom Bundesverfassungsgericht anerkannten rechtlichen Bedenken beseitigt waren, haben auch unsere Bürger bei der Zählung mitgemacht. Unsere Bürger sind bereit, sich von sachlich richtigen Entscheidungen überzeugen zu lassen, wenn sie die Gewißheit haben, daß sie notwendig und korrekt ergehen.Drittens. Deswegen halte ich es für ein ganz wichtiges Ergebnis der Volkszählung, daß die Schranken des Datenschutzes in einem sehr hohen Maße eingehalten worden sind, so daß es nur ein Minimum an berechtigten Beschwerden gegeben hat.Viertens. Es zeigte sich — dies sollte uns auch Lehre für die Zukunft sein — , daß die Rücksichtnahme auf die Privatsphäre der Bürger, auf den Schutz ihrer eigenen Daten, gerade für die Bürger motivierend wirkte, an der gemeinsamen Aufgabe der Volkszählung mitzuwirken. Dafür sollten wir den Bürgern, die fleißig, ehrlich und aufmerksam an der Volkszählung mitgewirkt haben, aus diesem Anlaß noch einmal unseren Dank aussprechen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5419. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/4312. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3584 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/ CSU-FDP-Koalition angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten
— Drucksache 11/4571 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
— Drucksache 11/5384 —
Berichterstatter: Abgeordneter Jaunich
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/ ... —
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Männle.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz über den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten. Viele fragen sich sicherlich: Um was für einen Beruf handelt es sich denn hier? Der Urspruch des Wortes kommt aus dem Griechischen. Orthoo heißt: Ich mache gerade, ich stelle aufrecht.Wenn man nun weiterfragt, dann stellt man fest, daß es sich hier um einen Beruf handelt, der Augenkrankheiten heilen hilft, nämlich Schielerkrankungen, Sehstörungen, Sehschwächen und Augenzittern. Es ist dies ein Tätigkeitsbereich aus dem nichtärztlichen Heilberuf. Diejenigen, die dort arbeiten, arbeiten neben dem Augenarzt.Es handelt sich um eine sehr kleine Berufsgruppe. Aber ich denke, es ist sicherlich gerechtfertigt, daß wir uns hier im Deutschen Bundestag auch um die Anliegen einer ganz, ganz kleinen Gruppe kümmern, uns damit beschäftigen und den Berufsweg regeln.Dieses Gesetz wurde notwendig, da die Anerkennung des Berufes in der EG im Rahmen des Binnenmarkts eine bundeseinheitliche Regelung voraussetzt. Grundlage für die Anerkennung als Orthoptistin oder als Orthoptist ist künftig eine dreijährige Ausbildung, die an staatlich anerkannten Schulen für Orthoptistinnen und Orthoptisten stattfindet, Schulen, die in Anlehnung an die Krankenhäuser bestehen.
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12694 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau MännleFür diejenigen, die in diesem Berufszweig bisher tätig waren, werden in § 11 Vorkehrungen dahin getroffen, daß eine Gleichstellung hinsichtlich der Anerkennungen erfolgt, die bisher nach Landesrecht gegeben wurden. Wir wissen, daß die jeweiligen Bundesländer ganz unterschiedliche Voraussetzungen hatten. Aber wir wollen dies akzeptieren und auch denen, die in diesem Berufszweig bisher beschäftigt waren, die Möglichkeit der Anerkennung im Bereich der EG geben.Dieser Gesetzentwurf wurde sehr schnell beraten; denn er fand auch die volle Zustimmung der Berufsgruppe, er fand die Zustimmung aller Fraktionen. Ich denke, daß wir ihm deswegen in zweiter und dritter Lesung hier einstimmig zustimmen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wittich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt grundsätzlich die Tatsache, daß der Entwurf eines Gesetzes über den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten heute in den abschließenden Gesetzgebungsprozeß einmündet. Dieser Schritt ist fällig, ja geradezu überfällig. Angesichts der alarmierenden Zunahme der Menschen, deren Handlungsfähigkeit durch Schielen, Schwachsichtigkeit, Störungen des beidäugigen Sehens und Augenzittern beeinträchtigt wird, sind wir in die Pflicht genommen, im Interesse der Gesundheitsvorsorge und -fürsorge optimale Bedingungen für Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen zu schaffen.Zu diesen optimalen Bedingungen gehört die qualifizierte Ausbildung der Orthoptistinnen und der Orthoptisten. Ja, wir dürfen nicht weiter hinnehmen, daß gerade dort, wo es um die Beseitigung gravierender Benachteiligungen der Kinder im Vorschulalter und Schulalter, aber auch um die Aufhebung erhöhter Unfallgefahren im Arbeitsprozeß wie im Straßenverkehr geht, die Hilfe nicht angemessen und ausreichend ist, weil die Orthoptistinnen und Orthoptisten an der Seite der Augenärzte nicht umfassend genug ausgebildet worden sind.Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang einen Hinweis: Die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag hatte im Jahre 1985 einen Gesetzentwurf zur Regelung dieses Berufes vorgelegt. Die wesentlichen Ecksteine dieses Gesetzentwurfes waren: erstens Teilnahme an einer dreijährigen schulischen Ausbildung; zweitens Bestehen der staatlichen Prüfung; drittens Zuverlässigkeit; viertens geistige und körperliche Eignung zur Ausübung des Berufes.Wenn ich nun in die Bundestagsdrucksache 11/4571 schaue und die gleichen Strukturmerkmale entdecke, dann muß ich fragen: Warum haben Sie eigentlich unserem Gesetzentwurf im Jahre 1986 die Zustimmung verweigert? Sie haben damit drei Jahre verschenkt.
Sie haben damit drei Jahre lang verhindert, daß diesem Berufsstand die schon lange geforderte dreijährige bundeseinheitliche Ausbildung vorenthalten wurde. Das ist und bleibt Ihr Versäumnis.Ich darf nachstehend kurz die Gründe zusammenfassen, die uns veranlassen, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.Erstens. Bei den Regelungen für den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten gibt es zwischen den Ländern gravierende Unterschiede. Die Ausbildung in Hessen und Hamburg umfaßt drei Jahre, in den übrigen Ländern zwei Jahre. Dazu kommt: Baden-Württemberg und Bayern haben keine Vorschriften über Ausbildung, Prüfung und staatliche Anerkennung erlassen. Diese Entwicklung, die durch unterschiedliche Ausbildungszeiten und Anforderungen gekennzeichnet ist, ist unerträglich und begründet schon allein die Notwendigkeit der Reform, ja sie ist im Interesse der gleichmäßigen Versorgung der Bevölkerung und der beruflichen Mobilität der Berufsgruppe dringend erforderlich.Zweitens. Ein deutsches Examen wird im Ausland, auch in den EG-Ländern, nicht anerkannt. Weil das Berufsbild in allen EG-Ländern einheitlich geregelt ist, können Orthoptistinnen und Orthoptisten aus unseren westlichen Nachbarstaaten jederzeit und ohne Schwierigkeiten ihre berufliche Tätigkeit aufnehmen. Deshalb ist die Einheitlichkeit des Ausbildungsganges die Voraussetzung dafür, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Berufsstandes im Rahmen des europäischen Wirtschafts- und Sozialraumes keine Nachteile erfahren. Nur wenn es eine Vergleichbarkeit der Ausbildung und der damit verbundenen Qualifikation gibt, kann der Zustand herbeigeführt werden, der den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Freizügigkeit in Europa garantiert.
Drittens. Die Zahl der Kinder im Vorschul- und Schulalter nimmt zu, bei denen schwerwiegende Störungen des beidäugigen Sehens vorliegen, Störungen also, die mit Schielen, Schwachsichtigkeit und Augenzittern verbunden sind. Diese Kinder sind häufig äußerlich entstellt und dadurch auch in ihrer psychischen Entwicklung gefährdet. Ihre Lernfähigkeit ist beeinträchtigt und ihre Berufswahl eingeschränkt. Ihre Lebensqualität — man denke nur an Ballsport — ist durch Sehschwäche erheblich gemindert. Diese Kinder bedürfen allesamt intensiver Behandlung.Wer diesen Jugendlichen zu Chancengleichheit verhelfen, wer ihnen Mut zum Leben geben und Selbstwertgefühl aufbauen will, muß der Früherkennung und der gezielten Therapie eindeutig den Vorrang einräumen. Nur derjenige wird jungen Menschen helfen können, der fachlich kompetent, aber auch einfühlsam und geduldig ist und über pädagogisches und psychologisches Geschick verfügt. Deshalb dürfen wir den Orthoptistinnen und Orthoptisten, die eine besondere Leistung für die Allgemeinheit erbringen, nicht die Qualifikationen vorenthalten, die zur Wahrnehmung dieser wichtigen Aufgabe einfach erforderlich sind.Viertens. Sieben Unfälle in einem einzigen Jahr verursachte ein Kran- und Stapelfahrer in einem metallverarbeitenden Betrieb infolge schlechter Sehleistungen. Dies ist ein besonders krasses Beispiel, über das
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12695
Wittich1 ein Betriebsarzt aus dem Ruhrgebiet berichtete. Deshalb muß nicht nur das Bewußtsein dafür geschärft werden, daß gutes Sehen wegen der Anforderungen, die heutzutage in Beruf und Freizeit gestellt werden eine unabdingbare Voraussetzung für die eigene Sicherheit und für die Teilnahme am sozialen Leben ist. Darüber hinaus sollten in Betrieben regelmäßig durchgeführte Sehtests überall ein wesentlicher Bestandteil der ärztlichen Untersuchungen sein.In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen anderen Aspekt des Problems: Die heutige Berufs- und Arbeitswelt macht die Menschen krank. Auf Grund der rasanten technologischen Entwicklung, wegen des Zerlegens des Arbeitsprozesses in winzige Einzelschritte und im Hinblick auf die massive Zunahme von bildschirmorientierten Arbeitsplätzen werden einzelne Sinnesorgane einseitig und über das vertretbare Maß hinaus strapaziert, auch das Auge.
Deshalb ist ein deutliches Ansteigen der Zahl behandlungsbedürftiger Patienten festzustellen.Im Bereich des Verkehrswesens registrieren wir eine besorgniserregende Zunahme von Unfällen, die auf Sehfehler der Fahrerinnen und Fahrer zurückzuführen sind; aber auch die Folgen dieser Unfälle sind nicht selten mit Kopfverletzungen und der Einschränkung der Sehkraft verbunden.Ich fasse zusammen: Immer höhere Anforderungen an die Sehleistung am Arbeitsplatz, Erkrankungen des zentralen Nervensystems und auch Folgen von Arbeits- und Verkehrsunfällen führen zur ständigen Erweiterung des Aufgabenfeldes der Orthoptistinnenund Orthoptisten.Ich komme zum Schluß. Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Das schulden wir den Frauen und Männern, die bislang schon ein hohes Maß an Idealismus und Einsatzbereitschaft in den Beruf, in den Dienst an der Gemeinschaft und am Nächsten eingebracht haben. Dieses Gesetz ist ein wesentlicher Schritt nach vorn, weil es zum einen der Volksgesundheit dient und zum anderen die berufliche Mobilität und die Freizügigkeit für Orthoptistinnen und Orthoptisten in Europa gewährleistet.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Lieber Kollege, alle Achtung, was man alles unter ein Orthoptistengesetz packen kann!
Wenn wir dieses Gesetz nun endlich über die parlamentarischen Hürden gebracht haben, erfüllt dies hoffentlich nicht nur die Orthoptistinnen und Orthoptisten mit Freude; auch wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben Anlaß dazu, denn erstens hat es lange genug gedauert, bis wir es auf den Weg bringen konnten — damit hat die Opposition vollkommen recht — , und zweitens kommt es nicht häufig vor, daß ein Berufsgesetz aus dem Bereich des Gesundheitswesens im Ausschuß einmütig gebilligt wird, wie es im vorliegenden Fall ja geschehen ist.Ich verzichte daher gerne auf die üblichen, eher rituellen Redeinhalte und möchte statt dessen die Gelegenheit nutzen, einen alten Wunsch meiner Fraktion vorzutragen. Wir wollen schon lange ein einheitliches Gesetz für alle — oder vielleicht bescheidener: für möglichst viele — nichtakademischen Gesundheitsberufe, strukturiert nach Ausbildungsvoraussetzungen, Ausbildungsinhalten, damit auch Tätigkeitsfeldern und Ausbildungsdauer.Sie wissen ja, wir haben vor wenigen Wochen das Gesetz über den Rettungsassistenten verabschiedet. Heute werden wir das Gesetz über den Beruf der Orthoptistin und des Orthoptisten abschließend beraten.
Ab nächste Woche befassen wir uns mit dem Gesetz über Masseure und Krankengymnasten. Im gesamten Altenpflegebereich gibt es Handlungsbedarf, und auch die Medizinisch-Technischen Assistentinnen sehen sich nach eigenen Angaben einem Verdrängungswettbewerb durch Ärzte ausgesetzt und wünschen ein eigenes Berufsgesetz. Vor kurzem sind auch die Fußpfleger an uns mit der Bitte herangetreten, für sie ein eigenes Berufsgesetz zu schaffen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erschöpfen die Beratungszeit im Ausschuß und im Plenum und unsere Arbeitszeit als Parlamentarier mit einer Vielzahl von Einzelregelungen. Wir diskutieren im Grunde genommen immer wieder über dieselben Punkte. Ich finde das reichlich unbefriedigend. Ich bitte also alle Fraktionen, mit uns zu überlegen, ob wir nicht in der nächsten Legislaturperiode die Mühe auf uns nehmen sollten,
gemeinsam ein einheitliches Berufsgesetz für die nichtakademischen Berufe im Gesundheitswesen zu erarbeiten;
denn meiner Meinung nach ist dies sicherlich auch die beste Möglichkeit, den Anforderungen der Europäischen Gemeinschaft zu entsprechen, und darüber hinaus können wir so am ehesten eventuelle Wettbewerbsnachteile für unsere deutschen Berufsangehörigen vermeiden.Ich würde es also sehr begrüßen, wenn sich alle vier Fraktionen über ein solches Projekt grundsätzlich einigen könnten. Ich will mich gern im Vorfeld bemühen, mit allen Kolleginnen und Kollegen, die noch starke Bedenkenträger sind, zu einvernehmlichen Regelungen zu kommen.Es ist ein hohes Verdienst der Orthoptistinnen und Orthoptisten, eine große Anzahl von Personen vom Schielen zu befreien. Sollten wir Politiker davon profitieren können und in Zukunft weniger scheel ange-
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12696 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau Würfelsehen werden, kann es uns nur recht sein. Wir stimmen also diesem Berufsgesetz mit Freude zu.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Seufzer der Erleichterung dürfte heute durch die Reihen der Orthoptisten und Orthoptistinnen gehen. Der Gesetzentwurf, der heute hier zur Verabschiedung ansteht, hat lange genug auf sich warten lassen. Er hat einen beschwerlichen Weg hinter sich, einen unnötig beschwerlichen Weg jedenfalls für den betroffenen Heilberuf, der sehr lange auf eine harte Geduldsprobe gestellt wurde. Schließlich ist der uns vorliegende Gesetzentwurf nicht der erste in diesem Hause. Eben wurde ja schon die Vorgeschichte aus der letzten Legislaturperiode gestreift.
Das Ergebnis war jedenfalls, daß die Betroffenen weiterhin mit der pauschalen Begründung hingehalten wurden, die Regierungskoalition wolle lieber eine umfassende Regelung für alle bisher berufsrechtlich nicht geregelten Heilberufe anstreben. Das ist bis heute leider nicht geglückt. Nun aber, nach fast 15 Jahren voll intensiver Bemühungen von seiten des Berufsverbandes der Orthoptisten und Orthoptistinnen, stehen wir endlich vor dem Ziel, eine Regelung des in Rede stehenden Berufsbildes für die gesamte Bundesrepublik schwarz auf weiß zu verabschieden und somit bindend vorzuschreiben.
Der von mir soeben erwähnte Seufzer der Erleichterung bei den Orthoptisten und Orthoptistinnen kommt wohl nicht zuletzt deshalb zustande, weil endlich einmal auf die Wünsche und Belange der Betroffenen eingegangen worden ist. Sie wurden richtig mit berücksichtigt. Es wurde Zeit für eine einheitliche Vorschrift über die Zusammensetzung sowie die Dauer der Ausbildung. Es wurde Zeit für eine einheitliche Vorschrift über die abzulegende Prüfung. Es wurde auch Zeit für eine einheitliche Vorschrift über die staatliche Anerkennung. Besonders hervorzuheben ist hier die Integration von Theorie und Praxis in die Ausbildung, die dazu führen wird, daß sich die Qualität der angebotenen Leistungen enorm verbessern wird und die Auszubildenden mit der modernen Entwicklung Schritt halten können. Übrigens sind gerade in diesem Punkt Forderungen verwirklicht worden, wie sie auch von anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen aufgestellt werden. Warum kann diesen vernünftigen Forderungen nicht auch nachgegeben werden?
Neben all diesen äußerst wichtigen Punkten des Entwurfs dürfen wir aber nicht vergessen, einen Blick in die nahe Zukunft zu werfen. Für die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes ist es auch mit Bezug auf den kommenden EG-Binnenmarkt höchste Zeit. Das Schlagwort „Einheitlichkeit" befindet sich ja bereits in aller Munde. Die Bundesrepublik Deutschland bildet EG-weit die große Ausnahme bei der Regelung des Berufsbildes des hier zur Sprache stehenden Heilberufes. Nicht nur, daß die Orthoptisten und Orthoptistinnen sogar in der Bundesrepublik mit erheblichen, ja zum Teil mit unüberbrückbaren Schwierigkeiten bei einem Wechsel von einem Bundesland in das andere zu rechnen hatten. Das bisherige deutsche Orthoptistenexamen wird in anderen Staaten nicht anerkannt, während Kollegen und Kolleginnen mit ausländischem Examen bei uns keine Schwierigkeiten hatten, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Aus alledem geht hervor, daß dieser Gesetzentwurf inhaltlich den Wünschen des betroffenen Berufsstandes entspricht und längst überfällig ist. Folgerichtig können wir GRÜNEN im Bundestag dieser Gesetzesvorlage nur zustimmen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße die Einmütigkeit, die in diesem Hause zu diesem Gesetz besteht. Es ist in der Tat so, daß dies die Orthoptisten und Orthoptistinnen in der Bundesrepublik sicherlich freuen wird, aber nicht nur sie, sondern auch die Patienten.In der Bundesrepublik Deutschland werden jährlich etwa 2,5 Millionen Patienten wegen Schielerkrankungen oder ähnlicher Augenkrankheiten untersuchungs- und behandlungsbedürftig. Zur Früherkennung von Fehlsichtigkeit und Sehschwächen, zur Vermeidung einer lebenslänglichen Einäugigkeit beim Sehen mit Störungen im Stereo-Sehen, zur Erkennung von Störungen im beidäugigen Sehen und auch zur Betreuung von Sehbehinderten sowie zur Behandlung dieser Patienten ist eine hohe Qualifizierung des Berufes der Orthoptisten notwendig.Orthoptistinnen und Orthoptisten werden in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren ausgebildet. Die Ausbildung erfolgt an Universitäts- und anderen Augenkliniken und richtet sich bisher nach unterschiedlichen Regelungen. In zwei Bundesländern dauert sie beispielsweise drei Jahre, in anderen Ländern zweieinhalb Jahre.Mit dem vorliegenden Gesetz erreichen wir eine Vereinheitlichung der Ausbildungsanforderungen und der Regelungen über den Zugang zu dieser Ausbildung. Wir erreichen damit zugleich — darauf hat Herr Kollege Wittich hingewiesen — die Freizügigkeit der Berufsangehörigen im Hinblick auf den bevorstehenden europäischen Binnenmarkt. Das Gesetz ermächtigt die Bundesregierung darüber hinaus, die inhaltliche Ausgestaltung der vorgesehenen dreijährigen Ausbildung in einer Ausbildungs- und Prüfungsordnung festzulegen. Wir werden einen entsprechenden Entwurf für diese Ausbildungs- und Prüfungsordnung in den nächsten Tagen vorlegen und mit den Beteiligten abstimmen.Ich möchte gern noch auf die Frage eingehen, auf die Frau Kollegin Würfel zu Recht hingewiesen hat. Der vorliegende Gesetzentwurf ist in der Tat Teil eines umfangreichen Gesetzgebungsprogramms, mit
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12697
Parl. Staatssekretär Pfeiferdem wir Schritt für Schritt die Ausbildung in den nichtakademischen Gesundheitsberufen auf zeitgemäße Anforderungen hin ausrichten. Wir haben die Ausbildung des Rettungsassistenten neu geregelt. Ein Gesetzentwurf über die Berufe der Krankengymnasten und Masseure liegt Ihnen vor.Das vorliegende Gesetz regelt erstmals bundeseinheitlich die Ausbildung einer zwar zahlenmäßig nicht starken, aber für die gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung gleichwohl wichtigen Berufsgruppe.Wir arbeiten an einem Gesetzentwurf über den Beruf des Altenpflegers und der Altenpflegerin. Wir wollen noch in diesem Jahr einen Referentenentwurf vorlegen.
Auch noch für diese Legislaturperiode ist nach intensiven Vorarbeiten beabsichtigt, zumindest die Eckdaten für ein Psychotherapeutengesetz vorzustellen.Meine Damen und Herren, Sie ersehen daraus, daß wir uns um eine umfassende Neuregelung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe bemühen, in deren Rahmen das heutige Gesetz ein weiterer Baustein ist.
— Ich sehe, daß Sie immer sehr schnell sind. Sie hätten den nächsten Satz abwarten müssen. — Ob wir dann zu einem umfassenden Gesetz kommen wollen und kommen sollen, sollten wir meiner Meinung nach in der Tat am Beginn der nächsten Legislaturperiode diskutieren. Wir hätten dann die ganze Legislaturperiode Zeit, um die Bereiche, die gesetzgeberisch noch nicht geregelt sind, in einem solchen Gesetz zu regeln. Ich bin also sehr dafür, daß das, was Frau Würfel hier angeregt hat, zum Gegenstand unserer Überlegungen am Beginn der nächsten Legislaturperiode wird.Für heute darf ich Sie bitten, diesem Gesetz zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über das von der Bundesregierung eingebrachte Orthoptistengesetz. Ich rufe aus der Drucksache 11/4571 die §§ 1 bis 13, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hensel und der Fraktion DIE GRÜNEN
Verbot von Abfallexport in Nicht-EG-Mitgliedstaaten
— Drucksache 11/4265 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Export giftiger Abfälle in die Dritte Welt
— Drucksache 11/2486 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Meine Damen und Herren, wir haben im Ältestenrat eine gemeinsame Beratung über die Vorlagen unter diesem Tagesordnungspunkt festgelegt und einen Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart. Stimmen Sie dem zu? — Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste Frau Abgeordnete Hensel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der GRÜNEN zum Verbot von Abfallexporten in Nicht-EG-Mitgliedstaaten formuliert die ganz klare Perspektive des Ausstiegs aus jeglicher Form des Abfallexportes. Dabei verlangen wir konkret in der ersten Stufe von der Bundesregierung, den Export in Nicht-EG-Mitgliedstaaten sofort zu verbieten.Wir beantragen dies nicht nur, weil wir das Ministerium beschäftigen wollen, sondern weil ein klares Verbot von Giftmüllexport einmal den skrupellosen Praktiken der bundesdeutschen Industrie endgültig einen Riegel vorschieben kann und zum anderen auch der derzeitigen Hilflosigkeit der Bundesregierung eine ganz konsequente Maßnahme entgegensetzt.Bundesminister Töpfer hat im März dieses Jahres in der „Zeit" erklärt: Es gibt keinen Giftmüllexport aus der Bundesrepublik Deutschland in die Länder der Dritten Welt. Wenn so etwas vorkommt, dann ist das illegal. — Dann, Herr Minister Töpfer, setzen Sie sich doch bitte einmal mit der Studie von Greenpeace über den internationalen Müllhandel auseinander, und beziehen Sie doch einmal eindeutig Stellung. Denn die Zahlen der pro Jahr verschobenen Abfälle in andere Länder sprechen für sich.Es geht nicht an, daß die Bundesregierung einerseits erklärt: Müllexporte innerhalb wie außerhalb der EG benötigen die vorherige Zustimmung der Zielländer, und andererseits durch die Länderarbeitsgemeinschaft Abfall erklärt wird: Für Müllexporte in die Dritte Welt wird grundsätzlich keine Genehmigung erteilt. Dabei kann man natürlich über das Wörtchen
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12698 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Frau Hensel„grundsätzlich" stolpern; denn das kann auch bedeuten, daß Ausnahmen gestattet werden.Das alles zeigt an, daß die Bundesregierung eigentlich ein Verbot von Müllexporten in die Dritte Welt will, aber wiederum keinerlei internationale Bestimmungen unterzeichnet, die etwa vorsehen, daß der Standard für Entsorgungsanlagen in den Importländern mindestens ebenso hoch sein muß wie in den Exportländern.Herr Töpfer würde, wenn er da wäre, an dieser Stelle auf die Abfallverbringungsverordnung und die Rechtsverordnung zum Gefahrgutgesetz verweisen. Aber leider ist nicht zu erkennen, daß diese geeignete Maßnahmen beinhalten, um die Verantwortungsbereitschaft des Industrielandes Bundesrepublik Deutschland gegenüber den armen und ärmsten Ländern dieser Welt deutlich zu machen.Tatsächlich hat sich doch unter Beteiligung deutscher Firmen, Zwischenhändler und Reeder ein internationaler Giftmüllhandel entwickelt, der in seinen Organisationsformen dem Waffenschmuggel ähnelt und in seinen Gewinnspannen dem Drogenmarkt vergleichbar ist.Bereits im März 1988 hat das türkische Parlament ein generelles Verbot des Imports von Industrieabfällen jeglicher Art beschlossen und gleichzeitig darauf hingewiesen, daß die Einhaltung dieses Verbots in Anbetracht mangelnder Ausstattung der türkischen Behörden vor allem in den Herkunftsländern kontrolliert werden muß. Ähnliche Einschätzungen kennen wir aus Afrika, Südamerika und den karibischen Inseln.Das ist genau der Punkt. Denn es waren nicht die Industriestaaten, die auf Grund ihrer Verantwortungsbereitschaft den Abschluß der Baseler Giftmüllkonvention beschleunigt haben, sondern es waren die Entwicklungsländer, die aus der Betroffenheit von Schmutzgeschäften den eindringlichen Hilferuf nach einer internationalen Giftmüllvereinbarung ausgesendet haben.Auch das muß an dieser Stelle gesagt werden: Nach Aussagen von Beobachtern waren es gerade die Vertreter der Bundesregierung, die sich als einer der schwersten Bremsklötze auf dem Weg zu einer Konvention mit wirksamen Schutzvorschriften für die Länder der Dritten Welt hervorgetan haben.
— Ich kann Ihnen das belegen.Wir fordern die Bundesregierung an dieser Stelle auf, angesichts der nach wie vor stattfindenden Abfallexporte einen wegweisenden Beschluß zu fassen, die gesetzliche Grundlage für ein generelles Verbot von Abfallexporten zu schaffen, gemäß den Ankündigungen und Verlautbarungen aus Kabinett und Umweltministerium zu verfahren und die Abfallprobleme grundsätzlich im eigenen Lande zu lösen.Damit darf allerdings nicht gemeint sein, daß ein Verbot von Abfallexporten in eine forcierte Planung von heimischen Entsorgungseinrichtungen mündet — wie derzeit nämlich erkennbar — , etwa in die Planung von bundesweit 20 neuen Sondermüllverbrennungsanlagen.
Damit würden Herr Töpfer oder die Bundesregierung es sich zu einfach machen.Ein derartiges Verbot muß selbstverständlich an verantwortungsvolle, ernstgemeinte und ernst zu nehmende Maßnahmen zur Vermeidung und Reduzierung der Giftmüllentstehung gekoppelt sein. Dies erfordert gerade in diesem Bereich eine klare und konsequente Politik der Sonderabfallvermeidung und eine Politik der klaren ordnungspolitischen Eingriffe. Letzter Satz: Die Abfallvermeidung am Entstehungsort ist die einzig ökologisch verantwortbare Antwort; denn Abfallexport kann nur an der Quelle wirksam bekämpft werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Harries.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dem Gesamtkomplex der von der Fraktion der GRÜNEN vorgetragenen Wünsche und Forderungen auf Änderung der Abfallexportpolitik sind einige Zielrichtungen inhaltlich durchaus so gestaltet, daß sie unsere Zustimmung finden. Nur darf dabei nicht übersehen werden, daß Ihr Antrag, verehrte Frau Hensel, nicht mehr aktuell ist und nicht mehr dem neuesten politischen Stand entspricht.
Er ist überholt durch eine Entschließung des Europäischen Parlaments in Straßburg — gemeinsam verabschiedet —, durch eine Konvention der Vereinten Nationen und durch eingeleitete und gefaßte Beschlüsse der Bundesregierung.Schon § 2 des Abfallgesetzes des Bundes aus dem Jahre 1986 — Sie haben es in Ihrem Antrag zitiert — besagt, daß Abfälle, die hier entstehen, auch hier zu entsorgen sind. Ich weiß genau, daß dieses Ziel noch nicht erreicht ist. Wir sind aber auf dem besten Wege. Wie Sie wissen, wurde Rom auch nicht an einem Tage erbaut. Aber es geht bei uns schneller.Die von mir zitierte Entschließung des Europäischen Parlaments in Straßburg stammt aus dem Juni 1988. Danach sollen giftige Abfälle nicht in die Dritte Welt exportiert werden. In dieser Entschließung des Europäischen Parlaments — wir können es nachlesen — werden der Ministerrat und damit die EG ausdrücklich aufgefordert, sich sehr schnell und mit Nachdruck in die Verhandlungen der Vereinten Nationen einzuschalten. Das ist geschehen.Im März 1989 ist der erste Entwurf einer Konvention über die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs mit Sonderabfällen und ihrer Beseitigung bekanntermaßen in Basel verabschiedet worden. Die Bundesregierung hat inzwischen entschieden, daß dieser Konvention zugestimmt, daß sie gezeichnet wird. Nach meinen Informationen ist das Ratifizierungsverfahren eingeleitet.
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HarriesBevor ich kurz auf die Ziele dieser Konvention der Vereinten Nationen und auf die fortgesetzte Abfallpolitik der Bundesregierung eingehe, zwei kurze Bemerkungen zur Abfallpolitik der Fraktion der GRÜNEN. Es ist immer wieder überraschend, daß Sie auf doppeltem Boden turnen. Man kann in diesem Hause gelegentlich Grundsätze hören, denen man durchaus zustimmen kann. Nur, in der konkreten Politik vor Ort sieht es völlig anders aus.Wer in der Kommunalpolitik engagiert ist, wird z. B. beobachten und auch erleiden können und müssen, daß dort völlig anders gesprochen und daß dort alles getan wird, um die Errichtung moderner Abfallbeseitigungsanlagen in unserem Lande, die den Export überflüssig machen sollen, zu verhindern. Denken Sie nur an den schwierigen Komplex der Verbrennung von Abfällen in der Nordsee. Wir wollen das abstellen; Fristen sind gesetzt. Die Errichtung von modernen Verbrennungsanlagen in den Ländern wird aber wie gesagt, erschwert bzw. verhindert. Ich appelliere an Sie, sachlich und ehrlich zu sein sowie für eine Dekkungsgleichheit Ihrer Aussagen zu sorgen.Ein Weiteres, was in dem Antrag der Fraktion der GRÜNEN deutlich wird, ist, daß von Ihnen, Frau Hensel, ein Unterschied gemacht wird zwischen dem Export in EG-Länder und dem Export in Nicht-EG-Länder. Diesen Unterschied haben Sie nach meiner Meinung nicht überzeugend dargelegt.
— Entschuldigen Sie, dann habe ich das überhört. — Nach meiner Meinung müßte ein Unterschied zwischen Industrieländern und Nicht-Industrieländern gemacht werden. Wenn ich das sage, plädiere ich damit keineswegs für eine Dauernutzung der Deponie in der DDR bei Lübeck, obwohl eigentlich alle Länder ohne Schönberg noch nicht auskommen können. Aber das bedarf ganz sicher einer Änderung. Die Zielrichtung stimmt.Die Probleme liegen aber im Export von Sonderabfällen in Dritte-Welt-Länder. Hier wird einfach oft die wirtschaftspolitische und finanzielle Not dieser Länder — ich sage das bewußt — schamlos ausgenutzt,
auch von uns. Dem muß begegnet, daß muß abgestellt werden. Das ist völlig klar. Ich kann nur wiederholen: Die Baseler Konvention und das eingeleitete Ratifizierungsverfahren der Bundesregierung — wir werden uns bereits zu Beginn des nächsten Jahres damit beschäftigen können, wenn ich richtig informiert bin, Herr Staatssekretär — führen uns auf den richtigen Weg.Ich kann jetzt schon die Zustimmung der Regierungskoalition zu dem Ratifizierungsgesetz ankündigen.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kübler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Herr Harries, auch Sie haben Schönfärberei betrieben, wie Sie sie einer anderen Seite des Hauses vorwerfen.Ich möchte einige Defizite des Baseler Übereinkommens hier sehr deutlich herausstellen.Lassen Sie mich zu Beginn sagen, daß es hier wirklich um eine ganz zentrale Frage des Gesundheits- und Umweltschutzes geht und daß die Bundesregierung, Herr Staatssekretär Gröbl, hier in vielem vielleicht doch nicht so gehandelt hat, wie sie hätte handeln müssen.Der uns heute hier vorliegenden Entschließung des Europäischen Parlaments mit dem Ziel, jeglichen Export gefährlicher Stoffe in Entwicklungsländer — sicher, das betone ich, eine Form postkolonialen Verhaltens — zu verurteilen, müßten wir eigentlich alle zustimmen. Ich will auch zum Ausdruck bringen, daß der Antrag der GRÜNEN in die richtige Richtung zielt und daß auch die Kleine Anfrage der SPD aus dem Jahr 1988 ein Schritt in die richtige Richtung war.Herr Harries, wenn wir ganz ehrlich sprechen, stimmen Sie mit mir wahrscheinlich darin überein, daß die Äußerung von Herrn Töpfer, es gebe keine Giftmüllexporte in Entwicklungsländer mehr, wohl doch zu optimistisch ist.Wie verhält sich nun die Bundesregierung, was das Zentrale der Baseler Konvention angeht? Da muß man feststellen, daß die Bundesregierung nach langem Zaudern, Herr Staatssekretär Gröbl, in der vorigen Woche — wenn ich richtig unterrichtet bin — im Kabinett die Zustimmung erteilt hat. Ich rufe bei der Gelegenheit dazu auf, daß der Deutsche Bundestag sich auf keinen Fall so lange Zeit nehmen möge, wie seit Frühjahr dieses Jahres verstrichen ist.Es fällt auch auf — das muß man einfach sagen —, daß die Bundesregierung nicht gerade zu den ersten Unterzeichnern des Vertragswerks zählt. Vor ihr haben — wenn ich richtig informiert bin — bereits 70 Staaten unterzeichnet.Es fällt weiter auf, daß sich die Bundesregierung während der Verhandlungen jeweils für Regelungen ausgesprochen hat, die weniger konsequent als in den Verhandlungsentwürfen vorgesehen waren. Wenn andere Delegationen eine Verschärfung vorgeschlagen haben, hat die Bundesregierung sie im allgemeinen abgelehnt. Die Bundesregierung hat bei diesem ganz zentralen Komplex des Umwelt- und Gesundheitschutzes weder eine klare Führungsrolle noch eine Vorreiterrolle eingenommen. Im Gegenteil, sie gehörte zu den Staaten, die strengere Regelungen für den Giftmüllexport immer wieder zu verhindern suchten.Die Konvention ist sicher ein erster Schritt. An ihr ist allerdings insbesondere zu bemängeln, daß sie nicht das von vielen Staaten geforderte Verbot mit Ausnahmevorbehalt enthält, sondern ein Genehmigungsverfahren mit Verbotsvorbehalt im Einzelfall unter bestimmten Voraussetzungen. Der Kernpunkt, zu einem generellen Verbot, wenn auch in Form eines Stufenplans, zu kommen, ist hier nicht angegangen worden. Dies hätte zur Vollständigkeit hier gesagt werden müssen.
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12700 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Dr. KüblerIch mache mir in dem Zusammenhang die Meinung von Greenpeace zu eigen, daß nach wie vor die Frage der Haftung, eine ganz zentrale Frage, z. B. für arme Länder, nicht geregelt ist und daß der Art. 11 der Konvention, der Müllhandelsverträge mit Nichtunterzeichnerstaaten erlaubt, praktisch auf ein Unterlaufen der Konvention hinausläuft und nicht sein Ziel erreicht, den Mülltourismus auf Unterzeichnerstaaten zu begrenzen. Dafür ist die Bundesregierung mitverantwortlich.Lassen Sie mich zum Abschluß sagen: Ohne ein zeitlich gestuftes absolutes Exportverbot für Giftmüll, z. B. einen Stufenplan, der ein sofortiges Verbot des Exports in außereuropäische Länder vorsieht und in dem Giftmüllexporte in die bisherigen europäischen Abnahmeländer nur noch — um ein Zeitbeispiel zu nennen — bis 1995 erlaubt sind, ist der Mülltourismus nicht wirksam zu bekämpfen. In der Tat offenbart das Verhalten der Bundesregierung im Zusammenhang mit der von Ihnen so hochgelobten Baseler Müllkonvention, daß hier ganz erhebliche Handlungsdefizite bestehen,
und es widerlegt auch die öffentlichen Aussagen des Bundesumweltministers, Herr Staatssekretär Gröbl, er wolle dem internationalen Mülltourismus mit aller Macht entgegenwirken. Ich und viele andere haben den Eindruck, die Bundesregierung spielt hier eher — ich erlaube mir dies zu sagen — eine traurige Bremser- und Nachzüglerrolle.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, wenn, wie Sie sagen — ich weiß das nicht — 70 Staaten diese Konvention gezeichnet haben, kann sie ja nicht so schlecht sein, denn unter den 70 Staaten werden sich viele befinden, die der Dritten Welt angehören, und in der Tat haben diese Staaten ja in Basel mitgewirkt.
Der Export von Giftmüll in die Dritte Welt, dessen ordnungsgemäße Entsorgung nicht gesichert ist, führt zu unvertretbaren Risiken. An die Entsorgung von Abfällen, insbesondere von Sonderabfällen, müssen strengste Maßstäbe gesetzt werden, die nicht durch unverantwortliche Sondermüllexporte unterlaufen werden dürfen. Auch wir sind schon immer der Meinung gewesen, daß die Abfallprobleme grundsätzlich im eigenen Land gelöst werden müssen. Übrigens geht davon auch das Abfallgesetz aus.
Die Industrieproduktion und die Abfallwirtschaft müssen noch umweltfreundlicher werden, die Vermeidung muß stärker werden, aber so viel, Frau Kollegin Hensel, können wir nicht vermeiden, daß wir uns die Entsorgung sparen können. Wir haben Filterstäube, wir haben Klärschlämme, wir müssen verantwortlich im eigenen Lande dafür sorgen, daß sie ordentlich entsorgt werden, und dazu muß man ja sagen und darf sich nicht drücken.
Die bei uns entstehenen Abfälle sind also grundsätzlich bei uns zu entsorgen. Leider erteilen die Bundesländer jeder politischen Führung immer noch in weitem Umfang Genehmigungen für den Export. Sie müssen das tun, weil es einen Nachholbedarf bei der Umsetzung des Abfallgesetzes gibt. Es fehlen Sonderabfallverbrennungsanlagen, Vermeidungsstrategien und Verwertungsstrategien.
Wir meinen, daß die Länder so restriktiv wie nur möglich bei der Genehmigung von Abfallexporten verfahren sollten, um damit einen Druck auszulösen. Notwendig ist aus unserer Sicht auch das marktwirtschaftliche Instrumentarium. Wir brauchen wirtschaftliche Anreize für höherwertige Entsorgungsund Behandlungsverfahren. Wir werden über eine Deponieabgabe diskutieren. Wir brauchen die TA Abfall, Teil 2. Auf der EG-Ebene brauchen wir im Hinblick auf den Binnenmarkt klare Abfallziele. Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, daß durch EG-Recht unser eigenes Recht abgeschwächt wird. Im Grunde brauchen wir eine europäische TA Abfall. Die EG-Richtlinienvorschläge über Abfälle, gefährliche Abfälle sind verbesserungsbedürftig; der EG-Vorschlag über eine Gemeinschaftsstrategie in der Abfallwirtschaft muß von uns so schnell wie möglich behandelt werden.
Der Dritten Welt müssen wir bei der Bewältigung ihrer eigenen Abfallprobleme helfen. Sie haben ja erhebliche eigene Probleme, die sie nicht lösen können.
Das Baseler Übereinkommen, meine Damen und Herren, ist sicherlich nicht optimal, aber es ist ein Schritt auf dem richtigen Weg. Ich gebe zu bedenken, daß es neben dem Montreal-Abkommen das zweite wichtige, eine Region weit überspannende Abkommen ist, an dem die UNO, die UNEP, mitgewirkt hat. Das sind wirklich wichtige Schritte, daß sich die Völkergemeinschaft nun auf dem Weg zu einem eigenen Umweltrecht, zu Umweltvölkerrecht befindet.
Dieses Abkommen befriedigt auch uns nicht in allen Punkten, aber das ist kein Anlaß dafür, es abzulehnen. Man muß die positiven Elemente nehmen, mit diesem Instrument arbeiten und es eines Tages weiterentwikkeln.
Auch wir werden diesem Abkommen zustimmen und haben an dem Verhalten der Bundesregierung keine Kritik zu äußern.
Das Wort hat der Staatssekretär Gröbl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung unterstützt vorbehaltlos ein Verbot des Exports von Abfällen in Entwicklungsländer und in Schwellenländer. Dieser Standpunkt wurde in Beantwortung Kleiner Anfragen aus dem Deutschen Bundestag bereits wiederholt deutlich gemacht.Das Bundeskabinett hat am 11. Oktober beschlossen, die Baseler Konvention über die Kontrolle grenzüberschreitender Verbringungen gefährlicher Abfälle
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989 12701
Parl. Staatssekretär Gröblund ihrer Beseitigung zu zeichnen. Diese Zeichnung ist noch im Laufe dieses Monats vorgesehen.Frau Hensel, die Bundesregierung hat von Anfang an engagiert und konstruktiv am Zustandekommen dieser Baseler Konvention mitgearbeitet.
— Die Bundesregierung hat sich in vielen Bereichen für strengere, für konsequentere Fassungen eingesetzt.
— Das ist nicht richtig, Herr Dr. Kübler. Die Bundesregierung war auf der Seite der Entwicklungsländer, als es um die Frage eines generellen Verbots der Einfuhr von Giftmüll gegangen ist.
Das ist die Haltung der Bundesregierung.
Die Bundesregierung hat sich bis zur letzten Minute in vielen Fällen an der Seite der Entwicklungsländer für eine strenge, konsequente Fassung des Baseler Übereinkommens eingesetzt. Wir werden in der ersten Hälfte 1990, Herr Harries, einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Konvention in nationales Recht vorlegen.Genauso wie das Europäische Parlament halten auch wir es für unverantwortlich, daß Industriestaaten ihre Abfälle in den ärmsten Ländern abladen. Wir haben immer wieder erklärt, daß Abfallexporte in Entwicklungsländer für die Bundesregierung auch aus moralischen Gründen nicht in Frage kommen. In diesem Zusammenhang darf ich auf den Beschluß der Länderarbeitsgemeinschaft Abfall hinweisen, der ja ein faktisches Exportverbot ausgesprochen hat.
Zur Entschließung des Europäischen Parlaments— eine Entschließung, die ich ausdrücklich begrüße — über den Export gefährlicher Abfälle in die Dritte Welt weise ich auf folgendes hin. Der Europäische Rat hat sich seinerseits mit den Punkten 5 bis 7 dieser Entschließung befaßt und sie konkretisiert. Die Kommission hat sich an den Beratungen zum Baseler Übereinkommen beteiligt und dieses gezeichnet. Die Verhandlungen der Kommission im Rahmen des Lomé-Abkommens sind auf dem Weg. Eine Ergänzung des Abkommens mit dem Ziel der Einbeziehung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes im allgemeinen und der Fragen grenzüberschreitender Abfallentsorgung im besonderen wird zwischen der Kommission und den AKP-Staaten verhandelt.Die Bundesregierung hofft, daß die Entwicklungsländer die Möglichkeiten der Baseler Konvention nutzen und daß sie Verbote für den Import gefährlicher Abfallstoffe unverzüglich erlassen. Hierzu habe ich die Entwicklungsländer auch in Basel ausdrücklich ermuntert.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hensel?
Bitte schön, wenn es mir nicht auf die Zeit angerechnet wird.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Sie haben gesagt, daß Sie der Entschließung des Europäischen Parlaments ausdrücklich zustimmen. Dann gehe ich davon aus, daß Sie auch der Passage zustimmen, daß das Europäische Parlament jeglichen größeren Export von gefährlichen Abfällen verurteilt. Wie, bitte schön, darf ich verstehen, daß das Europäische Parlament jeglichen größeren Export von Abfällen verurteilt?
Auch hier gehe ich mit der Entschließung des Europäischen Parlaments d'accord. Ich persönlich habe bei der Umweltministerkonferenz Nord die dort vertretenen Länder ermuntert, ihre Exporte an Sondermüll, Hausmüll und Bauschutt in andere Länder innerhalb einer entsprechenden Zeit zu reduzieren. Das gleiche gilt natürlich auch z. B. für die Exporte Berlins in die DDR.
Auch hierfür gilt dieser Punkt der Entschließung des Europäischen Parlaments. Ich frage zurück: Was würde Berlin, was würde der rot-grüne Senat tun,
wenn wir den Export von Sondermüll in Nichtunterzeichnerstaaten der Baseler Konvention oder in Nicht-EG-Mitgliedsländer generell verbieten würden?
— Herr Schäfer, diese Antwort paßt nicht in Ihr Konzept. Das ist auch verständlich.
Aber diese Antwort ist richtig.
Jetzt darf ich noch auf einiges zu Ihrem Antrag hinweisen: Die Bundesregierung strebt ebenfalls einen Ausstieg aus den Abfallexporten an. Sie fühlt sich auch hierzu gesetzlich verpflichtet. Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN zielt allerdings auf ein Verbot von Abfallexporten in Nicht-EG-Mitgliedstaaten mit den Konsequenzen, die ich bereits aufgezeigt habe. Er entspricht deshalb nicht der Realität. Ich möchte Ih-
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12702 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 167. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Oktober 1989
Parl. Staatssekretär Gröblnen deshalb vorschlagen, diesen Antrag der GRÜNEN abzulehnen.
Er ist überholt. Kollege Harries hat es bereits zum Ausdruck gebracht.Ich möchte Ihnen empfehlen, sich auf die Ratifizierung der Baseler Konvention zu konzentrieren. Diese wird uns einen erheblichen Schritt in unserem internationalen Bemühen zur Unterbindung der Abfallexporte weiterbringen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/4265 und 11/2486 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Freitag, den 20. Oktober 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.