Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, heute feiert der Herr Parlamentarische Staatssekretär Höpfinger seinen 60. Geburtstag. Ich darf Ihnen, Herr Kollege Höpfinger, die besten Wünsche des Hauses übermitteln.
Meine Damen und Herren, die heutige Tagesordnung wird gemäß § 39 unserer Geschäftsordnung um den Zusatzpunkt
Einspruch des Abgeordneten Lange gegen den am 5. September 1985 erteilten Ordnungsruf
erweitert. Der Einspruch liegt Ihnen vor. Über diesen Einspruch entscheidet der Bundestag gemäß § 39 unserer Geschäftsordnung ohne Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einspruch des Abgeordneten Lange stattgeben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Gegen einige Stimmen ist der Einspruch zurückgewiesen.
Wir kommen nun zum einzigen Punkt der ursprünglichen Tagesordnung:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1986
— Drucksache 10/3700 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1985 bis 1989
— Drucksache 10/3701 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Die Debatte des heutigen Morgens wird sich der Arbeits- und Sozialpolitik zuwenden. Wir sind uns sicherlich darüber einig, daß die Marktwirtschaft an sich als Wirtschaftssystem nicht ohne weiteres sozial ist. Der Oppositionsführer hat darauf gestern hingewiesen, und ich erinnere an manche lebhafte Debatte zu diesem Thema in diesem Hohen Hause.Es liegt ja auf der Hand: Ein Wirtschaftssystem, das in höchstem Maße auf Produktivität, auf Gewinnmaximierung angelegt ist, ist aus sich heraus nicht auf soziale Absichten eingestellt. Da bedarf es der sozialen Korrektur, und deshalb ist die Sozialpolitik so wichtig. Sozialpolitik macht die Marktwirtschaft menschlich.Ein Zweites kommt hinzu. Der Bundesfinanzminister hat gestern unter Berufung auf unseren ehemaligen SPD-Kollegen Lohmar darauf hingewiesen, die Soziale Marktwirtschaft sei die Voraussetzung für die Demokratie. Dies ist eine sehr wichtige Aussage, die wir uns in solcher Stunde grundsätzlich ins Gedächtnis rufen müssen. Planwirtschaft setzt einen autoritären Staat voraus, denn nur der autoritäre Staat kann die Vorgaben der Planwirtschaft auch durchsetzen. Umgekehrt: Wenn die ökonomischen Entscheidungen bei den einzelnen Unternehmen liegen, fordert dies den Staat nicht heraus, sich betriebswirtschaftlich einzuschalten. Das heißt, die Marktwirtschaft ist eine Voraussetzung für die Demokratie. Beides zusammen, die Vermenschlichung der Marktwirtschaft und die Schaffung der Voraussetzungen für die Demokratie, macht Sozialpolitik so wichtig.
Meine Damen und meine Herren, wer nun meint, wir könnten diese soziale Komponente für rund 60 Milliarden DM haben — das ungefähr ist der Umfang des Bundessozialhaushalts —, der täuscht sich; denn soziale Ausgaben sind beim Bund nicht nur beim Arbeitsminister, sondern auch in anderen Ressorts etatisiert, zum Beispiel, Herr Kollege George, beim Familienminister, natürlich auch bei den Bundesunternehmen wie Post und Bahn. Aber auch Gemeinden und Kreise leisten Sozialausgaben, auch die Unternehmen leisten in sehr großem Um-
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Dr. Friedmannfang Sozialausgaben, und die Sozialversicherungen tun es natürlich auch.Dies alles hat sich im Jahre 1983 — aus diesem Jahre stammt die letzte greifbare Zahl — auf einen Sozialetat in Deutschland von 550 Milliarden DM hochgerechnet. Im selben Jahr war das Bruttosozialprodukt, also das, was wir miteinander produziert haben, dreimal so hoch wie der Sozialetat insgesamt.
Das heißt: Wir in Deutschland geben rund ein Drittel aller Einnahmen, jede dritte Mark, die wir erwirtschaften, unter sozialen Gesichtspunkten aus. Das muß man wissen, wenn man die Finanzansätze, die beim Arbeits- und Sozialminister verbucht sind, etwa kritisieren sollte. Sozialpolitik hat also einen außerordentlich hohen Stellenwert.
Nun haben wir — das liegt in der Natur der Sache — in dieser Debatte viel über Arbeitslosigkeit gesprochen; das ist ganz selbstverständlich. Angesichts des harten Schicksals, das Arbeitslosigkeit bedeutet, muß das dieses Hohe Haus hier bewegen. Aber in einer Haushaltsdebatte geht es auch um die finanziellen Auswirkungen. Im letzten Jahr hat die Arbeitslosigkeit uns 54 Milliarden DM gekostet. Darin stecken das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe mit etwa 15 Milliarden DM. Aber es kommen auch die Beiträge der Nürnberger Anstalt an die Sozialversicherung dazu. Das heißt: Die direkten Ausgaben im Zusammenhang mit der Situation Arbeitsloser kosten uns gut 30 Milliarden DM. Dazu kommen dann allerdings auch noch Mindereinnahmen. Arbeitslose zahlen keine oder weniger Steuern. Dazu kommen Mindereinnahmen, weil z. B. die Rentenversicherung für Arbeitslose weniger Beiträge bekommt. Solche Mindereinnahmen machen noch einmal 24 Milliarden DM aus. Das gibt dann die genannte Summe von 54 Milliarden DM, die die Arbeitslosigkeit uns kostet. Nicht inbegriffen in dieser Zahl, meine Damen und Herren, ist die Tatsache, daß Arbeitslose ja nicht im Produktionsprozeß stehen. Das heißt: 9 % Arbeitslose bedeuten natürlich entsprechend weniger Sozialprodukt. Dies ist eine Dimension, der man sich widmen muß.In dieser Diskussion hat nun immer wieder auch eine Rolle gespielt, daß bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg Überschüsse entstehen. Es mag in der Tat grotesk erscheinen, daß dort angesichts einer hohen Arbeitslosenzahl Überschüsse entstehen. Ich möchte dies einmal spezifizieren: Wir hatten in Nürnberg zum Jahresbeginn einen Überschuß von mehr als 3 Milliarden DM. Dazu werden im Laufe dieses Jahres nochmals 2 Milliarden DM kommen, so daß am Jahresende in Nürnberg gut 5 Milliarden DM Überschuß zu verzeichnen sind — und dies, wie gesagt, trotz der hohen Arbeitslosigkeit.Warum? Zum einen wissen wir, daß die Arbeitslosigkeit bei vielen heute länger dauert. Der Arbeitslose bekommt aber nur ein Jahr lang Arbeitslosengeld. Ab dann zahlt, wenn überhaupt, der Staat Arbeitslosenhilfe, und diese belastet nicht Nürnberg. Die längere Arbeitslosigkeit entlastet Nürnberg also. Zum anderen ist die Zahl der Kurzarbeiter heruntergegangen, und zwar stärker, als wir geglaubt haben. Wir haben nur noch rund 80 000 Kurzarbeiter. Es waren einmal mehr als eine Million. Heruntergegangen gegenüber dem Ansatz ist auch — trotz des langen Winters — das Schlechtwettergeld, weil die Situation in der Bauwirtschaft nicht gerade erfreulich war. Heruntergegangen ist auch die Inanspruchnahme für berufliche Weiterbildung. Dies alles addiert sich auf einen Jahresüberschuß von etwa 2 Milliarden DM, der zu dem übernommenen Überschuß von 3 Milliarden DM dazukommt.
— Heruntergegangen, Herr Kollege, heißt — wir sind hier in einer Haushaltsdebatte —: heruntergegangen gegenüber den etatisierten Ansätzen im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit.
Wir reden hier konkret und nüchtern über Finanzansätze, nicht über Emotionen.
In dieser Art können wir nachher weiterdiskutieren. Hier geht es jetzt kühl und nüchtern um Zahlen,
die wir, Frau Fuchs, einmal nicht unter den Teppich kehren wollen.Nun hat eine Diskussion darüber begonnen, was mit den Überschüssen in Nürnberg geschehen soll. Das war j a auch Gegenstand der Gespräche gestern abend im Kanzleramt. Ich gehe davon aus, daß der Bundesarbeitsminister Dr. Blüm in seiner Rede darauf eingehen wird.
Er hat ja auch schon im Deutschlandfunk dazu Stellung genommen. Theoretisch sind drei Möglichkeiten denkbar: Entweder man senkt die Beiträge für Nürnberg. Da gab es einen Vermittlungsvorschlag von unserem geschätzten Kollegen Dr. George. Es gibt auch die Möglichkeit der Weiterbildung der Arbeitslosen. Schließlich gibt es auch die Möglichkeit, länger Arbeitslosengeld zu bezahlen. In diesem Spektrum wird sich die Verwendung des Überschusses zu bewegen haben.Nun kommt immer wieder die Frage auf: Ist denn genug im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit unternommen worden?
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Dr. FriedmannDie Opposition bestreitet das. Dennoch möchte ich nochmals sagen: Unsere Konsolidierungspolitik ist der wichtigste Beitrag dafür, daß es im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit vorangeht.
— Doch, das glaube ich sehr wohl, Frau Fuchs.Ich möchte das auch kurz begründen. Konsolidierung bedeutet, daß der Staat nicht mehr wie bisher in so hohem Umfang Geld am Kapitalmarkt nachfragt. Die Neuverschuldung sinkt ja, d. h. der Staat ist nicht mehr der Zinstreiber wie in früheren Jahren. Deshalb haben wir heute niedrigere Zinsen. Öffentliche Anleihen werden heute im Schnitt mit 6,25% verzinst. Auf dem Höhepunkt der Verschuldung waren es immerhin 11 %. Zinsen sind aber Kostenfaktoren für die Wirtschaft. Niedrige Zinsen tragen also zu stabilen Preisen bei. Stabile Preise bedeuten wiederum, daß wir im Konkurrenzkampf auf internationalen Märkten sattelfest sind, d. h. in einer exportorientierten Wirtschaft sind stabile Preise unerläßliche Voraussetzung für das Bestehen des Wettbewerbs und damit arbeitsplatzschaffend.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zander?
Nein. Entschuligung, Herr Zander, meine Zeit ist recht kurz.
Ich rechne Ihnen das nicht auf Ihre Redezeit an, Herr Kollege Friedmann.
Dann bitte, Herr Zander.
Herr Kollege Friedmann, da wir bis jetzt noch nicht gemerkt haben, wie dieser Mechanismus zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit führt — denn sie ist dauernd gestiegen —, frage ich Sie: Wieso hat denn die Bundesregierung, wenn Ihre Voraussetzung stimmt, bis zum Ende des Jahrzehnts in der mittelfristigen Finanzplanung mit 2 Millionen Arbeitslosen gerechnet?
Herr Zander, ich muß auch wieder auf die andere Seite hinweisen. Wir haben die Zahl der Arbeitslosen zunächst einmal stabilisiert. Das kann niemand bestreiten. Die Zahl nimmt nicht mehr zu.
Aber im Gegensatz dazu hat die Zahl der Beschäftigten zugenommen. Das wird übersehen. Im letzten und im vorletzten Jahr um 260 000.
Und das eben nicht wegen der Arbeitszeitverkürzung; denn die gab es damals überhaupt noch nicht. Sie dürfen die zeitliche Reihenfolge nicht durcheinanderbringen.
Erfolg unserer Konsolidierungspolitik ist es also, daß die geburtenstarken Jahrgänge verstärkt Arbeit finden; siehe 260 000 mehr Beschäftigte.
Konsolidierungspolitik ist ein Beitrag im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
Auch die Steuersenkung wirkt in diese Richtung. Sie entlastet den Steuerzahler, sie führt bei ihm zu mehr Kaufkraft und bringt genau das, was der Oppositionsführer gestern angemahnt hat: mehr Kaufkraft beim Konsumenten.
In Richtung Arbeitslosigkeit wirkt auch der Vorruhestand. Allerdings wäre zu wünschen, daß von ihm mehr Gebrauch gemacht wird. Bisher sind es erst 24 000 Fälle, die geregelt sind. Weitere 18 000 Anträge liegen vor. Wir hatten damit gerechnet, daß im Jahresdurchschnitt 80 000 Fälle geregelt würden, was bedeuten würde, daß zum Jahresende gut 100 000 Anträge bearbeitet sein müßten. Das wird kaum noch zu schaffen sein. Der Vorruhestand bringt also nicht ganz die Entlastung, die wir uns von ihm versprochen hatten.
Auch das Arbeitsförderungsgesetz ist ein Beitrag im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Ich möchte damit nicht sagen, daß alles getan worden ist, was man tun kann. Hier möchte ich auf einen entscheidenden Punkt hinweisen. Es ist unbestritten, daß Investitionen zu mehr Arbeitsplätzen fürhen.
— Zumindest die Erweiterungsinvestitionen und bei Umschichtungen auch Rationalisierungsinvestitionen, Frau Fuchs.
Der Bundeskanzler hat gestern darauf hingewiesen, daß die Investitionen zugenommen hätten. Aber — und nun kommt das große Aber, und da möchte ich einmal an dieser Stelle ein ganz deutliches Wort sprechen —
die Investitionen haben bei den kleineren Unternehmen zugenommen, bei den Großkonzernen dagegen nicht in dem erwünschten Umfang. Die Gewinne der Großkonzerne haben sich sehr stark entwickelt. Wir gönnen ihnen dies; denn Gewinne machen die Unternehmen sicherer
und sichern auch Arbeitsplätze.
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Dr. Friedmann
Aber es ist nicht in Ordnung, wenn Großkonzerne Rücklagen in Form von Wertpapieren und flüssigen Mitteln haben, die wesentlich größer sind als z. B. die kurzfristigen Verbindlichkeiten. Ich verrate kein Betriebsgeheimnis, wenn ich mich auf Bilanzen beziehe, die von Aktiengesellschaften veröffentlicht sind. So hat z. B. der Bosch-Konzern — bezogen auf seine kurzfristigen Verbindlichkeiten —240% flüssige Anlagen. Das muß man sich einmal vor Augen halten.
Auch die Veba AG, an welcher der Bund nach wie vor beteiligt ist, hat Wertpapiere, die 220 % ihrer kurzfristigen Verbindlichkeiten ausmachen.
Die ganzen Autokonzerne, angefangen von BMW über Daimler bis hin zu VW,
haben flüssige Reserven, die höher sind als die kurzfristigen Verbindlichkeiten.
Das Haus Siemens wies Ende vergangenen Jahres einen Wertpapierbestand von fast 10 Milliarden DM aus. Der Siemens-Konzern hatte einen Zinsüberschuß von 1,5 Milliarden DM— ich wiederhole: von 1,5 Milliarden DM —. Das ist z. B. mehr, als die Westdeutsche Landesbank an Zinsüberschüssen erwirtschaftet hat.
Meine Damen und Herren, es geht nicht an, daß die Großkonzerne Gewinne machen, aber die Arbeitslosen bleiben draußen vor der Tür.
Eigentum verpflichtet. Das gilt auch für industrielle Vermögen. Das ist ein Stück soziale Verpflichtung.
Auch das, was betriebswirtschaftlich nicht immer sinnvoll ist, muß manches Mal — vor allem bei Konzernen — unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten abgewogen werden.
Nur, Frau Fuchs, Sie und Ihre Kollegen und der DGB möchten sich bitte hinter die Ohren schreiben: Alle Konzerne, die ich eben genannt habe,
haben Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat und im Vorstand. Was machen diese Vertreter denn im Sinne der Arbeitnehmer, wenn es darum geht, die flüssigen Mittel stärker zu investieren?
Herr Abgeordneter Friedmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Nehm?
Bitte schön, Herr Nehm.
Herr Kollege Friedmann, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß die Entwicklung, die Sie gerade kritisiert haben, entscheidend beschleunigt wurde durch die Vermögensteuersenkung, die von der jetzigen Regierung beschlossen wurde?
Dieser Hintergrund, Herr Nehm, den Sie aufgezeigt haben, war sicherlich nicht ausschlaggebend. Ich möchte gern einmal mit Ihnen außerhalb dieser Debatte in aller Offenheit darüber reden. Sie sind ja in einem der von mir genannten Konzerne auf der betreffenden Ebene tätig.
Mein Appell geht also an den DGB, mein Appell geht an die Gewerkschaften, mein Appell geht an die Betriebsräte, auf die Unternehmen einzuwirken, daß nicht Finanzanlagen, sondern Sachanlagen getätigt werden.
Ein zweiter Punkt. In dieser Diskussion, meine Damen und Herren, war viel von Beschäftigungsprogrammen die Rede. Sie von der Opposition fordern sie immer wieder; wir von der Koalition lehnen sie rundweg ab, weil damit eine Neuverschuldung verbunden ist, die wir nicht gebrauchen können.
Ich möchte auf der ersten Ebene diese Argumente gar nicht vertiefen.
Ich möchte auf eine zweite Argumentationsebene eingehen, die mir auch sehr wichtig erscheint. In diesem Jahr zahlt die öffentliche Hand insgesamt 56 Milliarden DM für Zinsen für öffentliche Schulden.
Diese Zinsen werden nicht aus ordentlichen Steuereinnahmen, Herr Kolb, finanziert, sondern diese Zinsen werden über Kredite finanziert. Sie werden damit in die Zukunft verschoben. Die Zinsen, welche die öffentliche Hand an ihre Kapitalgeber zahlt, sind dort nicht als Arbeitseinkommen gedacht. Die Kreditgeber der öffentlichen Hand kassieren die Zinsen, ohne daß dem eine Arbeit gegenüberstehen würde. Nun mag es riskant sein, das so zu definieren. Ein bekannter Journalist hat dieser Tage vorgeschlagen — ich möchte mich damit nicht identifizieren, aber der Gedanke ist interessant —, das beste Beschäftigungsprogramm des Staates wäre eine Währungsreform. Ich sage ausdrücklich: Ich möchte mich damit nicht identifizieren.
Aber der Gedanke, der dahintersteckt, ist interessant. Wenn sich nämlich der Staat von seinen Verbindlichkeiten distanzieren würde — das wäre ja Währungsreform —, dann könnte er mit denselben Krediten beschäftigungswirksame Aufträge vergeben. Das sei genau die Situation 1948 gewesen. Vor dem Währungsstichtag hätten wir damals etwa so-
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Dr. Friedmann
viel Arbeitslose wie jetzt gehabt, und hinterher
hätte ein wahres Beschäftigungswunder begonnen.
— Ist klar, Herr Kollege Eigen.
— Das war eine andere Situation. Deshalb möchte ich auf diesen Gedanken und das Rezept nicht einsteigen. Aber der Gedanke, der dahintersteckt, ist interessant: Je mehr Zinsen der Staat zahlen muß, um so weniger Geld hat er für investive Ausgaben. Das jedenfalls muß unbestritten sein.
Wir alle müssen, meine Damen und Herren, im Kampf gegen Überstunden und Schwarzarbeit intensiver mitmachen. Die Überstunden ergäben umgerechnet sicherlich eine Million Arbeitsplätze. Überstunden hängen nicht nur mit Facharbeitermangel zusammen. Wo guter Wille ist, ist mehr zu machen. Hier sind wir mit aufgerufen. Bei Schwarzarbeit gilt Gleiches. Wer schwarzarbeitet oder wer Aufträge dazu vergibt, versündigt sich an dem System, von dem er im Alter oder in der Not leben will.
Gerade die zwei letzten Beispiele zeigen, meine Damen und Herren, daß man in der Sozialpolitik und in der Arbeitsmarktpolitik mit Gesetzen allein nicht alles tun kann. Es ist eine Wandlung der inneren Einstellung nötig. Dazu müssen wir als Politiker beitragen. Ich bitte Sie von der Opposition, das nicht in parteipolitischer Konfrontation zu tun. Dafür ist das Schicksal der Arbeitslosen viel zu hart. Wir müssen hier miteinander helfen, für die Arbeitslosen wieder Arbeit zu finden. Das ist nicht immer mit Geldausgabe verbunden, das ist auch nicht durch gegenseitige Schuldzuweisung möglich,
sondern das müssen wir angesichts des Ernstes der Lage miteinander tun, indem wir die Situation richtig einschätzen und darstellen.
— Meine Redezeit ist um.
Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wieczorek .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, ich muß heute morgen doch eine andere Rede halten als die, die ich mir eigentlich vorgenommen hatte; denn das, was Herr Dr. Friedmann hier gesagt hat, muß, glaube ich, zunächst einmal richtiggestellt werden.
Ich bin furchtbar erschüttert darüber, Herr Dr. Friedmann, daß Sie vor dem Deutschen Bundestag eine Entschuldung des Staates über eine Währungsreform
an die Wand malen und damit die Bürger in diesem Lande verunsichern.
So, wie Sie es dargestellt haben, kann es niemand verstehen. Darum will ich Ihnen nochmals sagen: Mit Sozialdemokraten ist dieser Staat über eine Währungsreform oder über eine Inflation nicht zu entschulden.
Den Bürgern draußen sei gesagt: Wenn Sozialdemokraten regieren, werden Ihre Sparguthaben genauso sicher sein wie Ihre Renten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen. Ich möchte meine Gedanken in Ruhe zu Ende entwickeln.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Friedmann?
Damit wir uns klar verstehen: Ich gestatte heute morgen überhaupt keine Zwischenfragen. Sie brauchen es nicht mehr zu versuchen.
— Meine Damen und Herren, Ihre Geiferei bin ich heute schon gewohnt. Die letzten zwei Tage haben Sie hier genug herumgegeifert.Lassen Sie mich den nächsten Punkt von Herrn Dr. Friedmann nach vorne nehmen. Der gefiel mir als Sozialdemokrat sehr gut.
Er kritisierte nämlich, daß große Unternehmen mehr Erträge aus Zinsen als aus ihrem unternehmerischen Engagement haben. Herr Dr. Friedmann, Sie haben meine und der Sozialdemokraten
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ausdrückliche Unterstützung, wenn Sie diese Dinge angreifen.
Nur, es geht hier nicht darum, über innerbetriebliche Mitbestimmung eine Unternehmenspolitik zu betreiben, die so etwas verhindert, sondern es geht darum, daß der Gesetzgeber von vornherein klare gesetzliche Vorschriften erläßt, damit solche Unternehmen nicht zu Kapitalsammelstellen werden
und der deutschen Wirtschaft Kapital entziehen, indem sie es anderswo anlegen. Ein Industrieunternehmen hortet praktisch „Lohn", wenn Sie so wollen — —
— Nein, nicht die „Neue Heimat"; denn die „Neue Heimat" ist kein Unternehmen — —
— Die „Neue Heimat" gefällt Ihnen zwar sehr gut, und ich war gerade auf dem Wege, die „Neue Heimat" aufzunehmen, aber jetzt lasse ich das sein.
Ich will mich also nur mit dem Beispiel Bosch beschäftigen, das Sie hier angeführt haben, Herr Dr. Friedmann.Ein solches Unternehmen, das so viel Rücklagen bildet, kann das tun, weil Menschen in den Betrieben ein Produkt erarbeitet haben, das dies ermöglicht.
— Die Sachanlagen hätten sich rentiert, wenn man die Zinsen eingerechnet hätte, die aus dem Gewinn der Arbeitnehmerleistung entstanden wären.
In jedem Falle folgt das Geld dem höheren Zins.
— Da gebe ich Ihnen recht. Das ist auch der Punkt gewesen, warum wir in der letzten Zeit so viele Kapitalabflüsse gehabt haben und das Zinsniveau in der Bundesrepublik den hohen amerikanischen Zinsen anpassen mußten. Aber das wissen Sie doch ganz genau.
Das waren aber nur meine Vorbemerkungen in Antwort auf das, was Herr Dr. Friedmann gesagt hat. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wenn Sie eine Politik machen wollen, die diese Dinge in den Vordergrund rückt, nämlich Unternehmen so weit zu bringen, daß sie ihre Gewinne auch wieder hier investieren, wäre das eine vorzügliche Geschichte.Meine Damen und Herren, ich habe diese Debatte in den letzten drei Tagen ständig verfolgt. Ich glaube, ich war bis auf eine Stunde ständig hier im Plenum.
Ich muß sagen: Der Stil dieser Plenardebatte hat sich von dem der Debatten der Vergangenheit abgehoben.
— Wen Sie da herausgreifen, ist Ihre Sache. Aber ich muß Ihnen sagen: Als der Finanzminister erklärte, er wolle mit härteren Bandagen arbeiten, habe ich mir gedacht: Das kann er haben, darüber können wir uns gern unterhalten.
Wir können uns gern darüber unterhalten, wie wir hier miteinander umgehen, und wir können uns auch darüber unterhalten, wie die Politik zu kritisieren ist. Es kann aber nicht angehen, daß Sie Ihre Selbstgefälligkeit hier weiter führen; denn Ihre Selbstgefälligkeit ist schon gar nicht mehr zu überbieten. Sie haben hier mit einer Arroganz und Kaltschnäuzigkeit über Menschen und ihre Schicksale geredet, die für einen Sozialdemokraten nicht zu ertragen ist.
Mit Süffisance und Zynismus haben Sie die angeblichen Leistungen dieser Regierung hier gepriesen. Ich wiederhole noch einmal: mit Süffisance und Zynismus. So etwas würde ich mit „Selbstgefälligkeit" und „Selbstgerechtigkeit" umschreiben. Wenn Sie einmal etwas Selbstkritik übten — und wenn es nur im stillen Kämmerlein wäre —, wäre dem deutschen Volk schon sehr geholfen.
— Wissen Sie, ich gehe nicht auf jeden Schmäh ein. Aber ich lasse Sie zu Ende reden, damit Sie Ihre innere Befriedigung finden. Sonst gibt es bei Ihnen den Aggressionsstau. Ihr Kopf, Herr Kollege ist schon so rot: Sie stehen vor einem Herzinfarkt.
Die Kritik meines Freundes Hans Apel
muß den Bundesfinanzminister, der hier leider nur unvollkommen von Herrn Häfele vertreten wird, wohl sehr getroffen haben; denn es war am Mittwoch doch schon ganz eigenartig, daß der Herr
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Bundesfinanzminister, nachdem er hier 1 3/4 Stunden geredet hatte, nach der Rede des Oppositionsführers sofort noch einmal vor dieses Hohe Haus getreten ist und vor der Mittagspause Dinge richtigstellen wollte. Man könnte natürlich auch meinen: Es war vielleicht nur ein Trick, um die öffentlichkeitswirksame Fernsehzeit weiter zur Selbstbeweihräucherung auszunutzen. Selbst wenn dazu formal nichts zu sagen ist — das will ich ausdrücklich sagen —, muß man es trotzdem anmerken und es trotzdem einmal in die richtige Reihenfolge bringen.
Der Bundesfinanzminister hat eine härtere Gangart angekündigt. Also wollen wir da mitgehen.Der Bundesfinanzminister ist für den Stil dieser Debatte verantwortlich, nicht wir. Nicht die Sozialdemokraten haben hier mit Schmutz geworfen, sondern das war ausschließlich Sache der Regierung.
Ich wurde an eines der ersten Theaterstücke, die ich gesehen habe, erinnert: an „Biedermann und die Brandstifter" von Frisch. Ich weiß jedenfalls: Biedermann und Brandstifter sind hier in einer Person zu finden, und diese Person ist nicht bei der sozialdemokratischen Opposition.Ich habe dem Bundesfinanzminister schon einige Male vorgeworfen, daß er seine Politik in Form der Echternacher Springprozession macht. Er macht zwei negative Schritte nach vorn, nimmt einen anschließend zurück und läßt sich für den Erfolg feiern.Meine Damen und Herren, die von Ihnen beschworene Form der Sozialen Marktwirtschaft ist heuchlerisch. Sie ist nicht mehr die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard, sondern Ihre Politik ist eine Rückkehr zu einer brutalen freien Marktwirtschaft,
zu einer Ellbogengesellschaft, bei der den Schwachen und Armen in die Tasche gegriffen wird und sich die Reichen die Hände reiben und ungeschoren bleiben, wie das Beispiel von Herrn Dr. Friedmann hier ja deutlich gezeigt hat.
Meine Damen und Herren von der CDU, der Bundesfinanzminister ist für mich ein Subventionsminister, ein Minister des Sozialabbaus, ein Minister, der seine Versprechen nicht gehalten hat und die Schwachen dieser Gesellschaft vergißt.
Mein Fraktionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel hatgestern ausgeführt, daß soziales Unrecht noch keinen wirtschaftlichen Erfolg bedeutet. Das möchte ich hier noch einmal ganz ausdrücklich unterstreichen.Die Bundesregierung hat ihre Glaubwürdigkeit vollkommen verspielt. Was haben Sie den Wählern nicht alles versprochen! Sie wollten die Arbeitslosigkeit abbauen. Sie wollten die Investitionen verstärken. Sie wollten die Subventionen abbauen. Aber Sie haben keines dieser Versprechen gehalten.Vor der Wahl wurde versprochen, die Zahl der Arbeitslosen bis 1986 um 1 Million zu senken. Tatsache ist, daß in Ihrer Zeit die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 angestiegen ist.
Sie können diese Tatsache nicht verdrängen, meine Damen und Herren.Vor der Wahl wurde versprochen, den Bundeshaushalt umzustrukturieren und mehr investive Ausgaben zu tätigen. Tatsache ist jedoch, daß der Anteil der investiven Ausgaben am Gesamthaushalt historische Tiefstände erreichen wird. 1986 gehen die investiven Ausgaben des Bundes gegenüber dem Vorjahr sogar in absoluten Zahlen zurück.Vor der Wahl wurde versprochen: Die Subventionen werden abgebaut. Tatsache ist jedoch, daß die Steuervergünstigungen seit 1982 um mehr als 10 Milliarden DM angestiegen sind. Das sind mehr als 30 %.Vor der Wahl wurde versprochen, die Finanzierungslücken im Haushalt zurückzuführen. Tatsache ist jedoch, daß die Finanzierungslücken jährlich durch hohe Bundesbankgewinne gestopft worden sind, von 1983 bis 1986 allein mit 48 Milliarden DM.Das sind Tatsachen, die wir in drei Jahren Ihrer Regierungsverantwortung festzustellen haben.
Das sind die Tatsachen, durch die diese Bundesregierung ihre Glaubwürdigkeit, Herr Kollege, vollkommen verspielt hat.
Und was ist mit Ihrer angeblichen Konsolidierungspolitik, meine Damen und Herren? Sie ist doch nichts weiter als eine Umschichtungs- und Umverteilungspolitik von unten nach oben.
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben seit der Wende Ausgabenkürzungen vor allem im Sozialbereich von über 50 Milliarden DM vorgenommen. Und Sie haben selber gesagt, Ihr Konsolidierungserfolg in den ersten drei Jahren Ihrer Regierung liege bei 10 Milliarden DM.
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Wo sind denn die anderen 40 Milliarden DM, meine Damen und Herren? Vor zwei Jahren habe ich gesagt: Sie konsolidieren nicht, Sie haben noch nicht einmal damit begonnen.
— Sie haben nicht weniger Schulden. Sie haben in Ihrer Zeit mehr Schulden gemacht, als es in den vier Jahren davor der Fall war.
— Haushälter sind ja auf konkrete Zahlen aus, Herr Austermann. In den letzten vier Jahren der sozialliberalen Koalition gab es im Bundeshaushalt ein Finanzierungsdefizit von 140 Milliarden DM. Von 1983 bis 1986 wird das Finanzierungsdefizit des Bundesfinanzministers Stoltenberg — hochgerechnet über Ihre Finanzplanung — 158 Milliarden DM betragen.
— Ich rede hier vom Finanzierungsdefizit. Herr Kollege, wenn Sie von Zahlen und von Geld keine Ahnung haben, dann halten Sie sich raus.
Ich rede davon, welche Bilanz wir nach vier Jahren ziehen. Der Bundeskanzler wollte ja eine Eröffnungsbilanz oder eine Überleitungsbilanz aufstellen. Ich warte darauf. Ich würde dann gern in eine Bilanzbesprechung mit ihm eintreten. Wissen Sie, im Gegensatz zum Bundeskanzler habe ich noch Bilanzverantwortung in einem Unternehmen. Wenn er so rechnen würde, dann würde er die nächste Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr sehen, weil ihn der Aufsichtsrat schon zum Teufel jagen würde.
Aber ich will noch einmal untersuchen, wohin die 40 Milliarden DM aus den Ausgabenkürzungen gegangen sind. Der Kollege Dreßler hat ja gestern sehr temperamentvoll vorgetragen,
wer wie getroffen worden ist. Ich will das an Hand von Zahlen noch einmal sehr deutlich machen. Sie haben diese Mittel zum Großteil für Zwecke verwendet, die vorher gar nicht vorgesehen waren, die möglicherweise aber notwendig waren. Sie haben die Gelder beispielsweise zur Abdeckung des Haushaltsdefizits 1984 und 1985 der EG und zur Erhöhung der Eigenmittel eingesetzt. Sie haben sie für die Landwirtschaft durch die Vorsteuerpauschale verwendet, für die Milchrente und die landwirtschaftliche Unfallversicherung. Lassen Sie mich hier ein Beispiel geben. Alles, was Sie für die Landwirtschaft getan haben, müssen Sie wohl für wohlhabende Landwirte getan haben, denn den Land-wirten, die ich kenne, die im Solling arbeiten, ist es noch nie so schlecht gegangen wie im Augenblick,
obwohl unter Ihrer Ägide Mittel in die Landwirtschaft geflossen sind, deren Höhe nicht mehr zu beschreiben ist.
— Ich kenne eine ganze Menge Landwirte, Herr Kollege.
— Das möchte ich gerne wissen. Die sind selbstverständlich zu Ihren Großbauern und zu Ihren Fleischfabriken gegangen, zu Ihren Mastumwandlungen.
Aber ich gehe noch weiter. Die Mittel sind natürlich auch in die Arbeitslosenhilfe geflossen, weil nämlich die Kürzungen im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit und der anhaltende Trend zur Langzeit-Arbeitslosigkeit wieder zu einer Verlagerung der Kosten der Arbeitslosigkeit auf den Bundeshaushalt geführt haben. Sie sind weiter zur Verwirklichung neuer Maßnahmen — ich nenne die vorgesehene Steuersenkung — verwendet worden. Die vorgesehene Steuersenkung ist unsozial, und sie wird beschäftigungspolitisch kaum etwas bewegen.Die Mittel sind in das kurzatmige Sonderprogramm für den sozialen Wohnungsbau geflossen, das im übrigen durch die Verfassungswidrigkeit der Investitionshilfeabgabe für Besserverdienende heute den Bundeshaushalt belastet. Herr Bundesminister, das ist Ihre angebliche Konsolidierungspolitik: Umschichtung und Umverteilung von unten nach oben. Der Kurs dieser Bundesregierung ist unhaltbar geworden. Ein Konzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nicht vorhanden. Deshalb haben Sie in den vergangenen Jahren auch nicht gehandelt. Die angeblich beschäftigungsfördernden Ansätze im Haushalt 1986 sind konzeptionslos und kontraproduktiv.
Sie sind deshalb konzeptionslos, weil sie — wie vieles bei Ihnen —, mit heißer Nadel genäht sind und jede Differenzierung vermissen lassen. Beim Städtebau wird die Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen überhaupt nicht berücksichtigt. Die Finanzkraft der Gemeinden wird nicht berücksichtigt. Im übrigen wird auch hier nur ein kurzes Strohfeuer entfacht. Wenn der Bundesfinanzminister über die Gesundheit der Gemeindefinanzen redet, dann bitte ich ihn herzlich nicht über München und Stuttgart zu reden, sondern er sollte über Duisburg, Dortmund und über die mittleren Städte reden. Davon könnte er reden.
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— Diese Städte werden von Sozialdemokraten regiert, damit wir uns richtig verstehen; und sie werden auch in Zukunft von Sozialdemokraten regiert werden.
Sie können eine noch so gezielte Umverteilungspolitik zu Lasten sozialdemokratisch regierter Städte machen, wie Sie wollen, die Menschen in diesen Städten wissen, wer sie vertritt. Darauf können Sie sich verlassen.
— Herr Kollege, ich glaube j a, daß es Ihnen wehtut, wenn die CDU in einer Stadt wie Duisburg mit 600 000 Einwohnern bis an die Grenze einer Splitterpartei kommt;
sie hat dort deutlich unter 25% der Stimmanteile erhalten. Das tut weh; das glaube ich Ihnen j a gern.
Genauso tut es uns natürlich weh, wenn wir uns in irgendwelchen anderen katholischen Bereichen nicht so durchsetzen können, wie wir das gern möchten. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.
Ich muß Ihnen aber noch meine wesentlichsten Bedenken sagen, damit Sie in aller Ruhe nach Hause gehen können und wissen, wo Ihr Finanzminister das Geld gelassen hat. Hier sind zunächst die Abschreibungen zu nennen, die uns als die große Offenbarung dargestellt werden, aber als neue Geschenke an Unternehmer nur Mitnahmeeffekte haben. Ich möchte den Unternehmer sehen, der auf Grund der neuen Abschreibungen eher investiert; denn diese Abschreibungen werden für ihn im Augenblick nicht finanzwirksam, sondern die Finanzwirksamkeit ergibt sich erst später, und insofern war auch der Einwand gestern vom Bundesminister nicht in Ordnung.Die Ausweitung der Programme von Sondervermögen des Bundes sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein und lassen keine Wirkung erwarten. Die Maßnahmen sind kontraproduktiv, weil gleichzeitig die investiven Ausgaben des Bundes zurückgehen und die Finanzkraft der Gemeinden über konjunkturell sinnlose Verkürzung der Abschreibungsfristen bei Gewerbebauten gemindert wird. Es reicht nicht aus, halbherzig ein paar Maßnahmen als Alibi zu verabschieden und dabei immer noch zu hoffen, daß das Problem der Massenarbeitslosigkeit von selbst gelöst wird.
Die Bundesregierung glaubt offenkundig selbst nicht an die Wirkung ihrer Maßnahmen; denn nach ihren eigenen Annahmen soll die Zahl der Arbeitslosen um ganze 10 000 auf jahresdurchschnittlich 2,24 Millionen zurückgehen
und die Zahl der Langzeitarbeitslosen wieder ansteigen.
Was ist das für eine Politik, Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie Ihre Maßnahmen in höchsten Tönen anpreisen und selbst nicht damit rechnen, daß hiervon entspannende Wirkungen auf den Arbeitsmarkt ausgehen? Mit einer Steigerungsrate von 1,8%, die der Finanzminister selbst in seiner Einbringungsrede als rechnerisch richtig dargestellt hat, steigen die Ausgaben des Bundes weniger als das reale Sozialprodukt.Dieser Haushalt 19i6 — meine Damen und Herren, über die Tragweite sind Sie sich noch gar nicht klar — ist ein Minushaushalt. Die Bundesregierung ist jetzt seit fast drei Jahren im Amt und trägt
— Es ist ein Minushaushalt. Die Ausgaben des Bundes steigen deutlich weniger als das reale Sozialprodukt. Mit diesem Haushalt bringen Sie das Wachstum insgesamt nach unten. Das sage ich, damit Sie das klar sehen.
Sie haben in den vergangenen Tagen immer wieder versucht, von diesen Tatsachen abzulenken, und ich muß sagen, daß Ihnen das in Teilbereichen sogar gelungen ist. Aber die Aufgabe der Opposition ist es, da etwas klar aufzuzeigen, wo Sie verschleiern wollen, Herr Kollege.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Investitionen zurückkommen, die hier bei Ihnen so verschwiegen oder blumenreich überspielt werden. Man rechnet die Gewährleistungen zu den Investitionen, was in der Wirkung durchaus zulässig ist, und geht dann davon aus, daß das dem Art. 115 der Verfassung entspricht, daß wir nämlich eine Regelung bekommen, die verfassungskonform ist.
— Sie haben in den letzten Jahren immer wieder den Art. 115 unserer Verfassung verletzt, indem Sie — —
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11552 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985
Wieczorek
— Wir nur einmal, Sie jetzt schon dreimal.
— Wenn Sie fertig sind, Herr Kollege, mache ich natürlich gern weiter. Ich freue mich, daß Sie heute morgen so gute Laune haben. Ich glaube allerdings, daß das bei Ihnen mehr Galgenhumor ist; denn in Ihrer ganzen Politik klaffen Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinander.Sie begründen die Absenkung der investiven Ausgaben mit dem Rückgang der Kapitalzuführungen an Bundesunternehmen. Was ist das nur für eine Argumentation? Bei ernsthaften Absichten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hätten die Mittel an anderer Stelle aufgestockt werden müssen. Wir werden Ihnen die Stellen nennen, wo Sie durch Aufstockung Ihrer Investitionsmittel sofort Arbeit schaffen können.Auch die Entschuldigung, daß die begriffliche Abgrenzung der investiven Maßnahmen die Wurzel des Übels sein soll, hat die CDU/CSU schon in ihrer Verfassungsklage belegt.
— Sie haben die Stahlhilfe leider gestrichen, das tut mir sehr leid. — Aber die Ergebnisse dieser „grundsoliden" Finanzpolitik, meine Damen und Herren, werden Sie sich auch beim Bundesverfassungsgericht bescheinigen lassen müssen.
Gegenüber dem letzten Finanzplan sind die Gewinne der Deutschen Bundesbank um mehr als 11,5 Milliarden DM heraufgesetzt worden. Bis 1989 werden über 40 Milliarden DM an weiteren Ablieferungen erwartet.Wie hieß es dazu in Ihrem letzten Finanzplan? Das würde ich gerne einmal zitieren:Angesichts der großen Unsicherheiten, mit denen die künftige Gewinnentwicklung der Bundesbank behaftet ist, sind die Ansätze in der Finanzplanung bis 1988 rückläufig bemessen. Die Grundsätze einer soliden Finanzpolitik erfordern nicht nur, den Risiken in der Gewinnentwicklung auf diese Weise Rechnung zu tragen, sondern auch, sich nicht auf Dauer auf hohe jährliche Bundesbankgewinne einzurichten.Herr Kollege, das ist Ihr eigener Finanzplan.
Was ist aus Ihren Absichten in den letzten Jahren geworden, Herr Finanzminister? Ist es Ausdruck Ihrer soliden Finanzpolitik, daß Sie sich auch bei denBundesbankgewinnen anders verhalten, als Sie reden? Die SPD hat Ihnen die Alternativen dargestellt, und sie wird in entsprechenden Anträgen zur zweiten und dritten Beratung hier für ein konkretes Programm zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit eintreten.Wir stellen erneut die Forderung, das von uns vorgeschlagene Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" zu verwirklichen.
Herr Kollege Friedmann, es ist kein Beschäftigungsprogramm, wie Sie uns hier immer sagen wollen. Das Sondervermögen, „Arbeit und Umwelt" ist ein Programm, das aus bescheidenen Abgaben finanziert wird,
das aber ein großes Volumen in Bewegung setzt.
Es wäre wunderschön, wenn wir einen Pakt gegen die Arbeitslosigkeit schließen könnten; und es wäre wunderschön, wenn Sie einmal objektiv in dieses Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" hineinsehen könnten. Ich biete Ihnen an, im Haushaltsausschuß mit Ihnen gemeinsam darüber zu reden. Das Geld kommt nicht aus dem Bundeshaushalt.
Wenn Sie sich einmal die Zeit nehmen würden, sich intensiv mit den Vorschlägen der Opposition zu beschäftigen, dann kämen Sie auch dahinter, wie Sie Ihre Politik anlegen müssen, um auf Dauer erfolgreich zu sein.
Für uns ist der Schwerpunkt unserer Politik in dieser Haushaltsberatung darauf gerichtet, bei der Arbeitsmarktpolitik einzugreifen. Wir müssen dahin kommen, daß wir die Massenarbeitslosigkeit nicht als feststehenden Teil annehmen, sondern die Arbeitslosigkeit ist zu beseitigen.
Wir haben das Gefühl, daß Sie eine Sockelarbeitslosigkeit in enormer Größenordnung für die Unterstützung Ihrer Politik gebrauchen. Das ist das, was wir Ihnen ankreiden.
Das ist auch der eigentliche Grund dafür, daß Sie in die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht alle Ihre Intelligenz stecken, die sicherlich vorhanden ist.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11553
Wieczorek
Ich würde Sie herzlich bitten, mit uns zu gehen und dieses Programm umzusetzen.Herzlichen Dank, auch wenn es Ihnen schwergefallen ist, mir zuzuhören, Herr Kollege!
Zu einer kurzen Erwiderung erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Friedmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Sie, Herr Kollege Wieczorek, mir nach der verfälschenden Wiedergabe meiner Rede keine Gelegenheit zu einer klarstellenden Frage gegeben haben, möchte ich hiermit erklären:
Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß ein bekannter Journalist dieser Tage eine Währungsreform im Zusammenhang mit einem Beschäftigungsprogramm angesprochen habe. Ausweislich des Protokolls — ich empfehle, es nachzulesen — habe ich mich von dieser Vorstellung ausdrücklich distanziert.
Jede andere Interpretation entspricht nicht der Wahrheit und ist unredlich.
Schönen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Cronenberg.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach dem engagierten Plädoyer des Kollegen Wieczorek für Subventionskürzungen — ich unterstelle einmal: Subventionskürzungen bei der Stahlindustrie in Duisburg und Dortmund — möchte ich mich dem Thema des heutigen Morgens zuwenden, dem Thema der Sozialpolitik.Die erste Lesung in der Haushaltsdebatte ist, so meine ich, der richtige Ort, um sich mit grundsätzlichen Fragen der Politik, hier der Sozialpolitik, auseinanderzusetzen. Die Einzelbewertungen der verschiedenen Haushaltsansätze können wir dann in der zweiten und dritten Lesung vornehmen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Voraussetzung für eine gute, für eine solide Sozialpoltik ist eine funktionierende Wirtschaft.
Wir können nicht dankbar genug sein, daß wir über das effektivste Wirtschaftssystem auf der Welt verfügen, das System der Sozialen Marktwirtschaft, das uns ein Maß an Wohlstand für breite Schichtenunserer Bevölkerung gebracht hat, von dem Generationen nicht zu träumen wagten.
Aber alles Menschenwerk, Kollege Bueb, ist nicht perfekt, es bedarf der dauernden Verbesserung,
der dauernden Anpassung an sich wandelnde wirtschaftliche, soziale und auch demographische Gegebenheiten.
Dieses System wird aber nur funtionieren, wenn wir uns immer wieder bewußt machen, daß soziale Leistungen nicht wie Manna vom Himmel fallen,
sondern erarbeitet werden müssen. Soziale Sicherheit, sozialer Fortschritt basieren auf der Leistungskraft unserer Wirtschaft. Deswegen kann es nicht oft genug wiederholt werden: Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik ist eine solide Finanzpolitik,
eine solide Haushaltspolitik und eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Nur wenn Neues, wenn mehr Werte geschaffen werden, wenn die Volkswirtschaft wächst, können wir alte Sozialleistungen finanzieren und dort, wo nötig, neue begründen. Wer umverteilt statt erwirtschaftet, zerstört die Grundlagen unseres Wohlstandes.
Abgaben, egal ob in Form von Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen, sind eine Last für die Wirtschaft. Sie dürfen weder den Arbeitnehmer noch die Betriebe erdrücken. Deswegen ist Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik, daß wir die Sozialabgaben- und Steuerquote immer wieder überprüfen. Jedes Zehntel weniger Steuern, jedes Zehntel weniger Sozialversicherungsbeiträge ist aktive Beschäftigungspolitik.
Deswegen unterstützen wir die notwendige Steuerreform, deswegen fordern wir höhere Entlastungen in der Steuerreform; deswegen lassen wir uns von Ihnen als „Steuersenkungspartei" beschimpfen; deswegen bemühen wir uns um eine Stabilisierung der Rentenversicherungsbeiträge, auch durch sinnvolle Anpassungssätze in der Rentenversicherung; deswegen bemühen wir uns um stabile Krankenversicherungsbeiträge, auch durch materielle Anreize für vernünftiges Verhalten der Versicherten und der Leistungsträger; deswegen bemühen wir uns um die Senkung der Arbeitslosenversiche-
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Cronenberg
rungsbeiträge, wenn Überschüsse in den Kassen vorhanden sind.Zu hohe Lohnnebenkosten verteuern nun einmal den Faktor Arbeit, behindern die Wettbewerbsfähigkeit unserer exportorientierten Wirtschaft, fördern die Schwarzarbeit. Sie zerstören letztendlich die Grundlagen unserer sozialen Sicherheit.
Arbeitslosigkeit hat viele Ursachen. Wie schon oft gesagt, sind dies auch erhebliche Strukturprobleme. Wie selbstverständlich hat der Strukturwandel in vielen Branchen und Betrieben, insbesondere kleineren und mittleren Betrieben, stattgefunden. Ich frage mich oft, ob vielleicht der Strukturwandel bei manchem Großen ausgeblieben ist, weil er sich, Herr Wieczorek, auf staatliche Subventionen und Investitionshilfen verlassen zu können glaubte. Es stimmt eben, wie ein Kollege aus dem Deutschen Bundestag gesagt hat: Zum Mittelstand gehört alles, was Pleite machen kann, ohne daß Staat, Gewerkschaften und neuerdings auch Kirchen dies zu verhindern versuchen. Es ist leider wahr: Auch für viele von uns sind nun einmal 5000 Beschäftigte in einem Betrieb offensichtlich sehr viel mehr als je 5 Beschäftigte in 1000 Betrieben. Sturkturwandel ist Anpassung. Und dies wird mit Recht von jedem kleinen und mittleren Betrieb verlangt.Anpassung wo möglich müssen wir auch von Arbeitnehmern erwarten. Denn eine weitere Ursache für die Arbeitslosigkeit ist die Tatsache, daß viele Arbeitslose falsch oder überhaupt nicht qualifiziert sind. Deswegen unterstützen wir die Qualifizierungsoffensive, die mit einem Teil der Überschußmittel der Bundesanstalt begonnen wird.
Ich bin kein Prognosefetischist, und Statistiken mißzuinterpretieren ist wahrhaftig keine Kunst. Man sollte Statistiken nicht überbewerten. Kosmetische Operationen an den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit sind nach meiner Auffassung überflüssig. Auch Bedürftigkeitsprüfungen bei verlängertem Arbeitslosengeld entsprechen nicht dem von uns gewünschten Versicherungsprinzip. Natürlich weiß ich, daß es schwarze Schafe bei den Arbeitslosen gibt und manchmal der ehrliche Wille, Arbeit zu finden, nicht vorhanden ist. Aber ich möchte mich ganz energisch gegen die pauschalierende Abqualifizierung der Arbeitslosen wehren.
Meine Fraktion und ich stimmen vorbehaltlos der deutschen Bischofskonferenz und den Forderungen der Evangelischen Kirche zu, Arbeitslose nicht zu diskriminieren. Ich bin den Kirchen dankbar dafür, wenn sie mit ihrer Autorität Mißständen und Vorurteilen entgegenwirken.Die Liberalen bejahen die solidarische Absicherung gegen Invalidität, gegen Krankheit und im Alter. Weil wir aber die individuelle Freiheit und die soziale Gerechtigkeit gewährleistet sehen wollen, fordern wir, daß die solidarische Absicherung dem einzelnen genug Spielraum für Selbsthilfe und Eigenfürsorge läßt.Sozialleistungen sollten nach drei unterschiedlichen Grundsätzen gewährt werden: nach dem Fürsorgeprinzip, nach dem Versorgungsprinzip und nach dem Versicherungsprinzip.Fürsorgeleistungen müssen nachrangig sein, also nach dem Grundsatz der Subsidiarität gewährt werden und deutlich unter dem Einkommen aus aktiver Tätigkeit liegen. Steuerfinanzierte Versorgungsleistungen, die keinen Bezug zu Beitragsleistungen haben, tragen am meisten zur Umverteilung bei. Da in vielen Fällen jeder Bürger einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen hat und Einkommensgrenzen sich als wenig praktikabel erwiesen haben, wäre es durchaus sinnvoll, die eine oder andere Leistung beim Bürger der Lohn- und Einkommensteuer zu unterziehen. Eine solche Maßnahme z. B. beim Kindergeld würde bei denen, wo es notwendig ist, höhere I eistiingen ermöglichen und die fruchtlose Diskussion um Einkommensgrenzen beenden. Darüber hinaus würde, saldiert mit einem weit geringeren Finanzvolumen, eine weit höhere Leistung ermöglicht.Das wichtigste Prinzip in unserer sozialen Sicherheit ist das Versicherungsprinzip. Hier ist für die Liberalen unerläßlich, daß das Äquivalenzprinzip „Hoher Beitrag, hohe Leistung" wo immer möglich durchgesetzt wird. Das ist besonders in der Rentenversicherung von Bedeutung. Die Beiträge sind einkommensbezogen. Also müssen auch die Leistungen beitrags- und einkommensbezogen sein. Deswegen sind wir gegen beitragsfinanzierte Mindestrenten. Deswegen sind wir gegen die Kappung höherer Renten. Deswegen haben wir uns im Zusammenhang mit der Hinterbliebenenversorgung
energisch gegen irgendwelche Anrechnungen bei der Rente selbst gewehrt. Wir Liberale sind auch der Meinung, daß die Aufbringung der Versicherungsbeiträge hälftig durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich bewährt hat und daß alle anderen Modelle, egal, wie sie genannt werden, z. B. Maschinensteuer oder Wertschöpfungsabgabe, nichts anderes sind
als zusätzliche Inkassomöglichkeiten und zusätzliche Abgaben, mit denen der Bürger und die Betriebe belastet werden sollen; letztendlich also beschäftigungsfeindliche Maßnahmen.
Deswegen freuen wir uns sehr darüber, daß der Vorsitzende des Verbandes der Rentenversicherungsträger, Quartier, gestern festgestellt hat, seiner Meinung nach sei auf Grund der Mehreinnahmen, die, meine Kollegen von den Sozialdemokraten, infolge von mehr Beschäftigung bei der Rentenversi-
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Cronenberg
cherung zu verzeichnen sind, eine Beitragssenkung von 0,5 % ab 1986 möglich.
Ich will jetzt noch gar nicht sagen, ob das 1986 möglich ist, vielleicht erst 1987, aber zumindest ist damit bewiesen, daß es keine Illusion war, den Beitragsrückgang auf 18,7 % zu beschließen.
Wir wissen, daß strukturelle Veränderungen in der Rentenversicherung allein schon auf Grund der demographischen Entwicklung unumgänglich sind. Deswegen erkläre ich zum wiederholten Male: Für uns ist weder der Beitragssatz noch das Rentenniveau, noch der Bundeszuschuß, noch das Rentenzugangsalter tabu. Vergessen wir nicht: Ein Jahr mehr Lebensarbeitszeit bedeutet 7 Milliarden DM mehr in der Kasse der Rentenversicherung.
Dies ist eine nicht zu vernachlässigende Geldmenge.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mann?
Herr Präsident, ich habe, solange ich die Ehre hatte, an diesem Pult zu sprechen, noch immer Zwischenfragen zugelassen. Ich würde aber darum bitten, diesen Komplex im Zusammenhang vortragen zu können.
Bitte sehr.
Verbleibt mir die Zeit, stehe ich gern dafür zur Verfügung.Meine Damen und Herren, deswegen haben wir schon vor Jahren — genau 1979 — immer wieder gesagt: Die Einkommen der Rentner dürfen im Verhältnis zu den Nettoeinkommen der aktiv Tätigen nicht überproportional steigen. Heute kann ich feststellen, daß sich die beiden großen Volksparteien dankenswerterweise unserer Vorstellung angenähert haben.
Weil wir auch in der Sozialpolitik mit begrenzten finanziellen Mitteln sparsam umgehen müssen, müssen wir in unserem Gesundheitssystem Anreize für sparsames Verhalten schaffen, deswegen dürfen wir nicht auf marktwirtschaftliche Steuerungsinstrumente wie Selbstbeteiligung der Versicherten, Preistransparenz und Wettbewerb bei den Leistungserbringern verzichten.Die Strukturen in unserem Gesundheitswesen müssen überprüft und reformiert werden. Dies muß gründlich vorbereitet werden. Deswegen, Herr Bundesarbeitsminister, sind wir gegen kurzfristiges Herumdoktern an den Symptomen.
Gut gemeint ist häufig nicht gut getan. Dies gilt für viele Regelungen, auch im Arbeitsleben.Weil wir gegen die Zweiklassengesellschaft der Arbeitsplatzbesitzenden und der Arbeitslosen sind, fordern wir mehr Flexibilität im Arbeitsleben. Das gilt für die Arbeitszeitgestaltung ebenso wie für die Arbeitsbedingungen.Wir Liberalen sagen mit Überzeugung ja zu den Gewerkschaften und ja zu Arbeitskampfmaßnahmen. Arbeitskampfmaßnahmen dürfen aber nur Ultima ratio sein, und deswegen fordern wir einen Verhaltenskodex der Tarifpartner für den Arbeitskampf, deswegen fordern wir, wo notwendig, die ausdrückliche Bekräftigung und gesetzliche Absicherung der Neutralität des Staates und seiner Einrichtungen. Gemeint ist, um es deutlich zu sagen, die Bundesanstalt für Arbeit.
Diese Neutralität war der Wille des Gesetzgebers, und wenn Richter Zweifel an dieser Neutralitätspflicht haben aufkommen lassen,
so ist es die Pflicht des Gesetzgebers, dies klarzustellen
Ich freue mich, daß diese unsere Auffassung vom Bund der Arbeitsrichter nachdrücklich unterstützt wird. Ich habe kein Verständnis dafür, daß die Arbeitslosenversicherungsbeiträge, die von Millionen von Beschäftigten aus Handwerksbetrieben, aus kleinen und mittleren Betrieben gezahlt werden, die Streikkassen der IG Metall auffüllen sollen.
Hier sollte der alte Sauerländer Grundsatz praktiziert werden: Wer die Musik bestellt, muß sie auch bezahlen.
Ich weiß, daß unser Einsatz für mehr Chancen auf Arbeit, für mehr Arbeitsplätze gerade und insbesondere bei den kleineren und mittleren Unternehmen, die ja fast 80 % der Arbeitnehmer beschäftigen, böse diffamiert wird. Ich weiß, daß unsere Positionen boshaft, als „soziale Demontage" oder gar als „soziale Kälte" bezeichnet werden. Meine Damen und Herren, dies ist unfair, weil falsch.
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Cronenberg
Eiskalte Spekulanten sind diejenigen, die nicht Erwirtschaftetes verteilen wollen.
Wer die Chancen, zu arbeiten, zu investieren, Geld zu verdienen, um richtige und vernünftige Sozialpolitik zu machen, durch Abgabenerhöhung zerstören will, wer, statt mehr zu arbeiten, um mehr Werte zu schaffen, abkassiert und umverteilt, der zerstört unsere soziale Sicherheit. Das ist soziale Demontage.
Das ist eiskalte Wählerspekulation, das ist herzlos, das ist kurzsichtig.
Dabei, meine Damen und Herren, spielen wir nicht mit. Für uns ist eine Politik für gesunde Finanzen, für die Konsolidierung der Sozialhaushalte, für wirtschaftliches Wachstum, so daß mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, eine menschliche Sozialpolitik.
Für eine solche Politik, meine Damen und Herren, bitte ich um Unterstützung. Darum bemühen wir Liberalen uns, auch dann, wenn uns, wie jetzt, der Wind ins Gesicht bläst.
Meine Damen und Herren, ich möchte mit einem Zitat von Klaus von Dohnanyi schließen:In der Politik ist es wie an Deck eines Schiffes auf Hoher See: Diejenigen, die verantwortlich sind, werden naß. Die Opposition sitzt immer unter Deck.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Herr Blüm,
daß gestern bei dem Treffen nichts weiter herauskommen konnte als heiße Luft, war Leuten, die von der Materie etwas verstehen, klar.
Denn was können Sie in der Verhandlung denn anbieten? Sie bieten wahrscheinlich an, über neuen Sozialabbau zu sprechen. Sie bieten Überlegungen an, wie man Arbeitsschutzrechte weiter abbauen kann, und wollen damit die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes und der Wirtschaft stärken. Dabei konnte dann natürlich nichts herauskommen. Ein Kommentator hat gestern sehr richtig gesagt: Dieses Gespräch nützt nur der Imagepflege des Kanzlers.
Das ist wirklich das, was gewollt ist.
Ich will Ihnen sagen, was wir verhandelt hätten, wenn wir an diesem Gespräch beteiligt gewesen wären.
: Blümchen würden da
sprießen! — Lachen und weitere Zurufevon der CDU/CSU)Erstens. Ihre Leute haben gestern mehrmals gesagt, daß diejenigen, die nicht gut ausgebildet seien, keinen Arbeitsplatz bekämen. Das ist von Ihnen statistisch angeblich nachgewiesen worden. Wenn das so ist: Warum führen Sie keine Ausbildungsplatzabgabe für Betriebe ein, die nur unzureichend ausbilden,
und nehmen dann dieses Geld und bilden diese Leute in überbetrieblichen Ausbildungswerkstätten aus? Warum machen Sie das denn nicht, damit die Leute besser ausgebildet sind?
Das wäre der erste Punkt gewesen.
Der zweite Punkt ist doch: Wie können Sie Arbeitsplätze für Schwerbehinderte schaffen? Es ist doch ein Hohn, wenn man sich überlegt, daß Betriebe, die ihr Quorum nicht erreichen, mit 100, 200, 300 oder 400 Mark zur Kasse gebeten werden sollen und gebeten werden, wenn sie keine Schwerbehinderten einstellen. Wir fordern eine wesentliche Erhöhung der Schwerbehindertenabgabe, damit dann, wenn Betriebe Schwerbehinderte nicht einstellen, wirklich überbetriebliche Werkstätten für Schwerbehinderte geschaffen werden, damit Schwerbehinderte, die heute unterrepräsentiert sind, einen Arbeitsplatz finden.
Wir hätten mit der Gewerkschaft und den Unternehmern über unsere Arbeitszeitordnung gesprochen. Bei dieser Arbeitszeitordnung geht es darum,
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Buebsowohl die Erwerbsarbeit als auch die Nichterwerbsarbeit auf die Erwachsenen beiderlei Geschlechts gerechter zu verteilen. Das ist die entscheidende Frage, die wir klären müssen: nicht die Frauen an den Herd zu schicken, sondern die Erwerbsarbeit gerechter zu verteilen.
Ich will Ihnen noch einmal ganz kurz sagen, was in unserem Gesetzentwurf steht: eine drastische Begrenzung der Überstunden, die Einführung einer Obergrenze für erwerbsgebundene Zeit, die Behandlung von Arbeitsbereitschaft als eine Form regulärer Arbeit, die Begrenzung des Umfangs und Anteils der Rufbereitschaft an der arbeitsgebundenen Zeit, vor allen Dingen Vorrang von Arbeitszeitausgleich vor Entgeltzahlung bei Überstunden und Mehrarbeit, Nachtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit. Warum sprechen Sie denn darüber nicht mit den Tarifpartnern?
Wir hätten den Teilnehmern dieses Gesprächs noch folgendes vorgeschlagen. Wir haben in einem Nachtragshaushalt ein ökologisches und soziales Umbauprogramm vorgeschlagen. Dieses ökologische und soziale Umbauprogramm zielt darauf, ökologische und soziale Folgekosten dieser Wachstumsproduktion zu verhindern. Es zielt darauf, mehr soziale Arbeitsplätze, wichtige Arbeitsplätze, zu schaffen. Was machen Sie denn in dieser Richtung?Das ist aber auch kein Programm, meine Damen und Herren von der SPD, wie Sie es zur Schadensreparatur durchführen wollen: „Arbeit und Umwelt". Das ist ein alter Hut. Das haben sie in den 70er Jahren schon versucht.
Sie haben in den 70er Jahren praktisch die Großproduktion angeheizt und haben versucht, die Schäden, die die Großproduktion anstellt, zu reparieren. Das gleiche wollen Sie jetzt mit Ihrem Programm „Arbeit und Umwelt" machen. Das ist Schadensreparatur und keine Prävention von Schäden.
Die Humanität, die Menschlichkeit einer Gesellschaft ist am besten daran zu messen, wie eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern, also mit Kindern, Behinderten, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen, umgeht. Vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, in denen wir sind, wird deutlich, was von den hohen, vor allem von Politikern verkündeten Zielen — als da sind Menschenwürde, Solidarität, Anteilnahme — zu halten ist. Diese Regierung hat es geschafft, durch ihre Prioritätensetzung im Haushalt Menschenwürde zur hohlen Phrase verkommen zu lassen;
denn diese christlich-liberale Regierung handelt nach dem Prinzip: Der Stärkere gewinnt, der Schwächere bleibt auf der Strecke.
Nicht umsonst haben die beiden Kirchen auf die Gefahr neuer Weimarer Verhältnisse hingewiesen. Sie sehen die Gefahr eines Zerbrechens des sozialen Grundkonsenses zwischen Arbeitslosen und Arbeitsplatzbesitzern. Das scheint Sie aber nicht zu stören.Auf dieser Regierungsbank sitzen eben nicht die Anwälte der Schwachen, sondern die Prokuristen der Konzerne, der Rüstung, der kapitalstarken Interessenlobby.
Das machen die vielen Schmiergeldaffären in der letzten Zeit
und auch die effektive Steigerung der Rüstungsausgaben — worauf ich noch zu sprechen kommen will — überdeutlich. Diese Regierung und die Fraktionen, die sie stützen, betreiben bewußt und gezielt eine Politik, die zur Entsolidarisierung, zur Ausgrenzung und Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen führt. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen.An erster Stelle sind die Frauen zu nennen. Ich erinnere an die sogenannte Reform der Hinterbliebenenrenten. Was haben Sie denn da gemacht? Sie spielen jüngere Frauen gegen ältere aus,
indem Sie für ältere Frauen, die vor 1921 geboren sind, kein Erziehungsjahr anrechnen. Das sind Ihnen die älteren Frauen eben nicht wert, obwohl diese Frauen zum großen Teil nach dem Krieg diese Gesellschaft praktisch aufgebaut haben.
Die zweite von sozialen Ausgrenzungen betroffene Gruppe sind die Behinderten. Zum Anfang wurde ihnen in allen Bereichen das Geld zusammengestrichen. Während Sie auf der Regierungsbank die Stirn hatten, olympiareifen Berufsoffizieren für die Frühpensionierung 1,2 Milliarden DM zur Verfügung zu stellen,
machen die Kürzungen bei den Behinderten, die Sie seit 1983 durchgeführt haben, 300 Millionen DM aus. Sie weigern sich, diese Kürzungen zurückzunehmen. 300 Millionen DM sind eine läppische Summe gegenüber den 1,2 Milliarden DM, die Sie zur Frühpensionierung verwendet haben.
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11558 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985
BuebWelche Ausmaße Ihre Ausgrenzungspolitik annimmt, zeigt die Tatsache, daß nur noch 30 % der Arbeitslosen Arbeitslosengeld bekommen, daß ebenso viele Arbeitslosenhilfe beziehen müssen und daß heute jeder dritte Arbeitslose ohne Geld auskommen muß; er geht leer aus.Wie hieß es so schön in Ihrem CDU-Wahlkampfprogramm 1983? — „Wir schaffen Arbeit und stellen die soziale Gerechtigkeit wieder her."Sie rühmen sich, diesen Vorsatz mit Hilfe des Beschäftigungsförderungsgesetzes erfüllt zu haben. Aber können Sie mir vielleicht einmal erklären, für wen Sie angeblich die soziale Gerechtigkeit wiederhergestellt haben,
wenn es in Zukunft zwei Klassen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen geben wird, nämlich eine Stammbelegschaft im Betrieb auf der einen Seite und eine Schicht von flexibel austauschbaren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mit 18-Monats-Verträgen auf der anderen Seite, die dann wieder in die Arbeitslosigkeit entlassen werden? Ist das Ihre soziale Gerechtigkeit?
Als weitere Betroffene Ihrer Ausgrenzungspolitik sind selbstverständlich auch die Sozialhilfeempfänger zu nennen. Hier zeigt sich wohl am auffäligsten, wie wenig ernst es der Regierung mit ihrer sozialen Verantwortung ist. Nach und nach wurde auf diesem Gebiet durch fortwährende Einschnitte das Bedarfsprinzip ausgehöhlt. Damit wurde gleichzeitig weiteren Kürzungen Tür und Tor geöffnet.
Daß damit die Grenze dessen, was man in einem wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik als Existenzminimum anzusehen hat, längst unterschritten wurde, scheint Sie überhaupt nicht zu kümmern. Zwar wurde im Juli dieses Jahres ein sogenannter neuer Warenkorb eingeführt. In Wirklichkeit konnte aber die 8%ige Erhöhung der Regelsätze, auf die Sie so stolz sind, höchstens die Preissteigerungen der letzten Jahre ausgleichen.
Hier zeigt sich die Wahrhaftigkeit der so sehr herausgestellten Familien- und Frauenpolitik der Regierung. Ihr Propagandaminister Geißler rennt j a immer durch das Land und erzählt es.
Ich ziehe eine kurze Bilanz. Die strukturellen Auswirkungen der Sozialabbaupolitik der letzten Jahre — hier hat sicherlich auch die vorausgegangene sozialliberale Koalition ihren Anteil — wirken fort, auch wenn Sie dieses Jahr ohne Haushaltsbegleitgesetze auskommen.Erstens. Die zahlreichen Kürzungen bei den Sozialleistungen, die zu Niveausenkungen bei der Sozialhilfe, beim Arbeitsförderungsgesetz, beimWohn- und Kindergeld und bei den Renten geführt haben, sind weiterhin wirksam, auch wenn sie im diesjährigen Haushalt nicht auftreten. Wir schätzen — und das sagen auch alle Leute, die etwas davon verstehen —, daß in den letzten drei Jahren 260 Milliarden DM von unten nach oben verteilt worden sind.Zweitens. Durch Änderungen der Zugangsbedingungen und Anspruchsvoraussetzungen, vor allem für das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe, aber auch für den Bezug von EU- und BU-Renten, werden zahlreiche Leistungsberechtigte aus dem sozialen Sicherungssystem an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Wir wissen, daß die Zahlen bei 5 bis 6 Millionen liegen.Drittens. Es ist ein drastischer Abbau von Schutzrechten erfolgt, wobei vor allem auf das schon vielfach zitierte Beschäftigungsförderungsgesetz verwiesen wird.Viertens. Es wurden auf allen Ebenen soziale Dienstleistungen abgebaut — das ist eine wichtige Komponente, die hier noch nicht angesprochen wurde —, deren Wegfall, einmal abgesehen davon, wie wir im einzelnen deren Qualität beurteilen, zu einer weiteren Verschlechterung der Lebensqualität der sozial Schwachen führt.Fünftens. Es wurde im Zuge der Einsparungen auf kommunaler Ebene die Praxis der Vergabe von Sozialleistungen zunehmend restriktiver gehandhabt, was zu einer Ausweitung des damit zusammenhängenden Kontrollapparats geführt hat. Ich möchte hier nur ein gravierendes Beispiel nennen.
Die zunehmende Schnüffelei bei der Praxis der Sozialhilfegewährung und die Ausweitung der sogenannten Hilfe zur Arbeit, wie es der Herr Fink in Berlin immer so schön zitiert, und die vielzitierte Kostendämpfung im Gesundheitswesen, die nun mit Hilfe von Computern allein — —
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich möchte zum Schluß kommen und ganz kurz in einigen Punkten sagen, was wir gemacht hätten.
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen keine längere Redezeit geben. Alle anderen Kollegen halten sich auch an die vorgegebenen Redezeiten. Ich muß Ihnen das Wort entziehen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
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Bundesminister Dr. BlümSozialpolitik besteht nicht nur aus Geld. Aber da wir in der Haushaltsdebatte sind, beginne ich mit einer Zahl. 86,33 Milliarden DM dieses Haushalts werden für soziale Sicherheit ausgegeben. Ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts geht in soziale Sicherheit. Der größte Einzelplan dieses Haushaltes ist der Einzelplan 11, Arbeit und Sozialordnung. Er steigt im nächsten Jahr um 3,5 %. Er steigt stärker als der Haushalt.
Wie man angesichts dieser Zahlen die Katastrophenlitanei von Untergang, Pleiten, Zertrümmerung, Skandal herunterbeten kann, bleibt mein Rätsel und Ihr Betriebsgeheimnis.
Wenn freitags Frau Fuchs noch nicht das Wort Skandal in den Mund genommen hat, dann weiß ich: Die Woche ist noch nicht zu Ende; irgend etwas stimmt noch nicht.
Meine Damen und Herren, wir sparen. Wir mußten sparen. Wir sparen nicht aus Selbstzweck. Was ist denn die Alternative zum Sparen? Die Alternative wäre gewesen, die Beiträge wären mit einem Katapultstart in die Höhe geschossen. Wer bezahlt denn die Beiträge? Die Arbeitnehmer. Insofern ist Sparen auch eine Politik für die Arbeitnehmer.
Wir sparen auch, um die Funktionsfähigkeit des Systems der sozialen Sicherung zu erhalten. Hätten wir in der Rentenversicherung nicht gespart, wäre die Rentenversicherung im Sommer 1983 zahlungsunfähig gewesen.
Als wir die Regierung übernahmen, hatte die Bundesanstalt 14 Milliarden DM Schulden.
— Herr Bueb, zum Mitschreiben: 14 Milliarden; können Sie sich die Nullen vorstellen? 14 Milliarden DM ist mehr als der ganze Kriegsopferhaushalt.
Wir mußten eine Politik des Sparens machen, um die Bundesanstalt für Arbeit überhaupt funktionsfähig zu halten.
— Herr Kollege Arbeitsdirektor, wenn Sie mir nocheinen Augenblick gestatten, auf die Wirkungen fürdie Arbeitnehmer hinzuweisen, bin ich sicher, daßich auch Ihren Beifall finde. Wir haben gespart, weil wir die Schulden abbauen. Denn wer bezahlt die Schulden? Wer bezahlt denn die Zinsen, die der Staat zahlen muß?
Das zahlen die Lohnsteuerzahler. Und wer erhält die Zinsen? Diejenigen, die dem Staat Geld leihen konnten. Das sind nicht die Sozialhilfeempfänger, nicht die Rentner, nicht die kinderreichen Familien. Schuldenpolitik ist eine Politik gegen die kleinen Leute.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Bitte.
Herr Bundesminister, irren Sie sich denn da nicht, wenn sie sagen, die Sozialversicherung hätte 14 Milliarden DM Schulden gehabt, als Sie sie übernommen haben? Waren es nicht etwa 20 Milliarden DM, die zu dieser Zeit noch auf der hohen Kante lagen? Das, was Sie machen, ist doch eine Rechnung nach dem Muster: Wenn etwas geschehen wäre, was gar nicht geschehen ist. Auch wir sind nicht untätig gewesen, Herr Minister.
Verehrter Herr Kollege und Vorgänger, vielleicht ist Ihnen entgangen, daß ich von der Bundesanstalt sprach, also von der Arbeitslosenversicherung, als ich von der drohenden Unterdeckung von 14 Milliarden DM sprach.
— Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Die Rentenversicherung wäre im Sommer 1983 zahlungsunfähig gewesen,
und die Bundesanstalt in Nürnberg hatte 14 Milliarden DM Schulden. Das ist die Tatsache.
— Ich bleibe noch bei den Zahlen. Wir sind noch nicht in der Abteilung Ideologie. Nur langsam.Der drittgrößte Titel dieses Haushalts heißt Zinsen. 30 Milliarden DM geben wir im nächsten Jahr nur aus, um die Zinsen der Schulden zu bezahlen, die Sie uns hinterlassen haben, 30 Milliarden. 30 Milliarden DM: Was könnte ein Sozialminister mit 30 Milliarden DM machen, wenn Sie uns den Haushalt in dem Zustand übergeben hätten, wie wir ihn 1969 in Ihre Hände übergeben haben?
30 Milliarden DM! Ich fange an zu träumen: Mankönnte eine 14., eine 15. Rente zahlen, man könntemehr Familienpolitik machen. 30 Milliarden DM,11560 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985Bundesminister Dr. Blümdas ist mehr als alle Löhne und Gehälter, die der Bund zahlt.
— Ach, Sie können auch noch befriedigt werden.Mehr als für Entwicklungspolitik, Umweltschutz, innere Sicherheit, Wohnungsbau, Wissenschaft, Forschung, Ausbildungsförderung geben wir nur aus, um die Zinsen für die Schulden zu zahlen, die Sie uns hinterlassen haben.
Weil ich weiß, daß Ihnen das lästig ist: Ich werde so lange über Erblast reden, bis die letzte Mark der Schulden abgebaut ist, die Sie uns hinterlassen haben.
— Wie einer, der die Privatkasse nicht in Ordnung hat, keine Sparkasse aufmachen soll, so soll einer, der die Parteikasse nicht in Ordnung hat, sich auch nicht um die Bundesfinanzen kümmern dürfen. Das ist ganz einfach.
— Nein, das ist doch nicht mein Thema. Ich heiße doch nicht Wischnewski, ich heiße Blüm.
Wozu sparen? Ich stelle noch einmal die Frage. Wir sparen für die Beitragszahler. Wir sparen, um auch sozialpolitisch wieder Luft zum Atmen, Gestaltungsmöglichkeiten zu haben. Wir haben nämlich nicht nur gespart, wir haben gestaltet. 10 Milliarden mehr für den Familienlastenausgleich im nächsten Jahr. Meine Damen und Herren, wenn wir das vor zwei Jahren angekündigt hätten, hätten Sie uns für Hochstapler erklärt. 10 Milliarden DM, obwohl gespart werden muß.
— Wir haben die Sozialhilfe, Herr Bueb, erhöht, und zwar mehr als sozialdemokratische Länder, z. B. Nordrhein-Westfalen, beantragt haben.
Wir haben das Wohngeld erhöht. Wir haben den Arbeitslosengeldbezug für ältere Arbeitslose verlängert, die jüngeren Arbeitslosen wieder in Krankengeld und Kindergeld hineingenommen. Die hatten Sie vorher hinausgeworfen, wir haben sie wieder hereingenommen.
-- Ja, das sind alles Tatsachen, nicht irgendwie Vermutungen.Meine Damen und Herren, es gibt zwei Möglichkeiten des sozialpolitischen Fortschritts. Der eine Weg ist der mit Pauken, Trompeten und Schellenbaum; der andere Weg ist der leise — auf weichen Sohlen.
Beschäftigungsprogramme, Subventionen, staatliche Umverteilung, das ist die Sozialpolitik, von der ich zugebe, daß sie spektakulärer ist. Die leise Sozialpolitik heißt Preisstabilität, heißt Zinssenkung. Senkung der Preissteigerungsrate ist die beste Sozialpolitik für die kleinen Leute.
Fragen Sie doch mal die Rentner — es wird manchen geben, der uns zuhört —, was sie von einer Rentenerhöhung von 4% 1981 hatten — da ist man ja zunächst in Versuchung, Beifall zu spenden —, als die Preissteigerungsrate 6 % betrug. Was haben Sie von der schönsten Lohnerhöhung, von 5%, 6%, wenn die Preise anschließend um 7 % steigen? Es kommt nicht nur darauf an — da setze ich auf den gesunden Menschenverstand der Arbeiter -, was du im Geldbeutel hast, sondern es kommt darauf an, was du damit kaufen kannst. Daß wir die Preissteigerungsrate halbiert haben, heißt 21 Milliarden DM mehr Kaufkraft für Arbeitnehmer und Rentner — 21 Milliarden DM.
Daß wir eine Politik gemacht haben, die es ermöglicht hat, die Zinsen zu senken, heißt Nachschub für Investitionen von 37 Milliarden DM. Herr Vogel, Sie träumen doch davon, ein Beschäftigungsprogramm von 37 Milliarden DM zustande zu bringen. Wir haben durch Zinssenkung eines zustande gebracht. Wir glauben: Es ist besser, der einzelne, die Verbraucher, die Unternehmer entscheiden, wo investiert wird, als daß das große, bürokratische Planungsabteilungen machen.Lassen Sie mich auch zum Arbeitsmarkt selber etwas sagen. Herr Dreßler hat ja gestern in der ihm eigenen Weise wieder den Untergang dargestellt. Herr Dreßler, wie kommen denn eigentlich in Ihrem Koordinatennetz folgende Zahlen unter: 1982 für Arbeitsmarkt, Umschulung, Fortbildung und Rehabilitation — 1982, Herr Dreßler, das war Ihr letztes Jahr als Parlamentarischer Staatssekretär —6,9 Milliarden DM, 1985 9,3 Milliarden DM? Also, da braucht man gar nicht höhere Mathematik: 6,9 Milliarden DM sind weniger als 9,3 Milliarden DM. Und wie kommen ausgerechnet Sie, die Sie weniger als wir gemacht haben, dazu, uns vorzuwerfen, wir würden auf dem Arbeitsmarkt nichts machen?
Sehr verehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär außer Diensten, in dem letzten Jahr, wo Sie Mitverantwortung hatten, hatten wir 29 200 ABM-Plätze. Inzwischen haben wir 90 000. Was ist mehr: 29 000 oder 90 000? Wie kommen Sie dazu, uns vorzuwerfen, wir machten nichts? Dann hätten Sie ja ein Minus gemacht! Wie kommen Sie dazu, uns Vor-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11561
Bundesminister Dr. Blümwürfe zu machen, wenn Sie weit unter dem geblieben sind, was wir machen?
Wir haben die Vorruhestandsregelung gemacht. Wenn Sie von einem Flop des Vorruhestandes reden, dann muß ich den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes hier vor den Angriffen der Sozialdemokraten in Schutz nehmen. Er hat noch in einer der jüngsten Ausgaben der „Gewerkschaftlichen Monatshefte" den Vorruhestand als eines der — ich zitiere — wichtigsten und wirksamsten Instrumente des Arbeitsmarkts bezeichnet.Wir haben auch die Rückkehrförderung gemacht. Sie sehen, meine Damen und Herren, bei uns muß man sich nicht auf Ankündigungen verlassen.Ich gebe zu: Wir haben gewisse Wettbewerbsnachteile. Sie verstehen zu verpacken, selbst wenn in der Verpackung gar nichts drin ist. In der Verpackungsabteilung sind Sie Weltmeister.
Sie haben doch selbst den wirtschaftlichen Rückgang so verpackt, daß die Leute gemeint haben, es wäre etwas Positives. Sie sprachen von „Minuswachstum". Wenn ich schon dieses sozialdemokratische Nebelwerferwort höre! „Minuswachstum" ist Rückgang. Nennen Sie die Sachen doch beim Namen! Zu einer Überschwemmung sage ich doch auch nicht, es sei eine „Minustrockenlegung".
Meine Damen und Herren, es geht mir nicht um Vergangenheitsbewältigung. Es geht in der Tat um die Zukunft. Da stehen auf dem Arbeitsmarkt große Herausforderungen an. Niemand kann sich mit über 2 Millionen Arbeitslosen zufriedengeben. Darüber geht doch niemand zur Tagesordnung über.Notwendig ist jetzt auch eine große Anstrengung zur Qualifizierung. Die Hälfte der Arbeitslosen sind sogenannte Ungelernte. Wenn die Hoffnung, wenn der Fortschritt unserer Wirtschaft in Modernisierung besteht — die Arbeitsplätze sind bei den alten Klamotten weggefallen, nicht dort, wo modernisiert wurde —, dann kann das nicht nur Modernisierung von Maschinen bedeuten, sondern auch Qualifizierung von Arbeitnehmern; denn sonst stehen die Ausstattungen leer.Meine Damen und Herren, es gibt ernsthafte Voraussagen, wonach schon in fünf Jahren 70 % der Arbeitnehmer mindestens Grundkenntnisse in Elektronik und Informatik haben müssen. Das schaffen wir gar nicht, wenn wir es nur durch Lehrlingsausbildung, nur bei der Erstausstattung machen. Daher brauchen wir lebenslanges Lernen. Wenn wir es nur über die Erstausstattung machen wollten, dann können Sie sich ausrechnen, wann wir bei den 70 % sind. In der Zeit haben die Japaner den Mond verkabelt.
Nein, wir müssen berufliche Bildung als einen lebenslangen Begleitweg verstehen.Im übrigen glaube ich, daß die Vermittlungschancen der älteren Arbeitnehmer auch durch Qualifizierung wachsen. Denn ihre Position hat sich verändert. Früher war der ältere Kollege der Kollege, der die größten Berufserfahrungen, den reichsten Schatz an Berufswissen hatte, der alle Tricks beherrschte, bei dem man sich Rat holte. Heute ist er in der Gefahr, der Kollege zu sein — oder die Kollegin —, der ein veraltetes Berufswissen hat. Deshalb kommt es darauf an, durch Weiterbildung aufzutanken. Bildung ist nicht nur eine Chance für die Jugend. Bildung sollten wir nicht nur auf das erste Drittel des Lebens konzentrieren, sondern auch als eine Chance für den gesamten beruflichen Bildungsweg ansehen.
Ich denke dabei nicht nur an die großen Institutionen der Bundesanstalt. Macht das auch in den Betrieben! Ein älterer Arbeitnehmer wird sich nicht mehr auf die Schulbank setzen. Im Betrieb! Das ist im Grunde die Fortsetzung auch einer praxisorientierten Bildung.
Außerdem glaube ich, daß die Betriebe flexibler sind, daß sie auch näher an der — ich verwende das Wort — Verwertbarkeit von Bildung orientiert sind. Dadurch ist die Gefahr geringer, daß sozusagen auf Halde produziert wird. Im übrigen könnten die Betriebe ihre Kapazitäten auch für Arbeitslose zur Verfügung stellen. Auch das wird von der Bundesanstalt finanziert.Wir wollen ganz unkonventionell vorgehen. Ich trete hier gar nicht mit dem Anspruch an, ein Jahrhundertgesetz zu machen. Mir langt es, in ungewöhnlichen Zeiten befristete Angebote zu bringen. Wir sind lern- und korrekturfähig. Wir arbeiten nicht mit Dogmen.Wollen wir nicht auch Teilzeitarbeit wieder mit Bildung verbinden? Wenn von 40 ausgebildeten Lehrlingen nur 20 übernommen werden können, dann teilt die 20 Arbeitsplätze, damit alle 40 unterkommen! Macht keine Zweiklassengesellschaft! Seid unkonventionell: Verbindet Teilzeit mit Bildung! Solche Wege wollen wir gehen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ströbele?
Bitte.
Herr Minister, könnte dasselbe Prinzip nicht auch hinsichtlich der Arbeitslosen gelten, d. h. daß die über 2 Millionen Arbeitslosen Arbeit bekommen und daß die Arbeitenden dafür etwas weniger arbeiten müssen? Wäre das nicht eine sinnvolle Umverteilung, damit die auch etwas mehr Freizeit bekommen?
11562 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985
Sehr verehrter Herr Kollege, ich antworte gar nicht mit einem dogmatischen Nein. Nur, ich denke, daß wir hier nicht mit der Dampfwalze neue Formen praktizieren sollten, sondern wir sollten die ganze Vielfalt von Arbeitszeitmöglichkeiten anbieten: Teilzeitarbeit, Lebensarbeitszeitverkürzung. Mit anderen Worten: Ich glaube, daß wir hier nicht Mangelverwaltung betreiben sollten, sondern wir sollten die Chance der Krise auch darin sehen, daß wir uns auf neue Arbeitszeitgewohnheiten einstellen.
Ich verspreche mir mehr von Arbeit nach Maß, die den Bedürfnissen des einzelnen entspricht, als von den großen kollektiven Mustern. Ich glaube, daß der Parademarsch in der Arbeitszeit einer vergangenen Zeit angehört
und daß wir die moderne, auch von Ihnen häufig pessimistisch dargestellte Technologie auch dazu nutzen können, Arbeitszeiten zu individualisieren. Der große Takt der Fließbandgesellschaft gehört der Vergangenheit an. Ich weiß, daß die Kollektivisten immer gern in Massen operieren. Für uns ist Politik nicht erst Politik, wenn sie eine Million Menschen erreicht, sondern Politik besteht für uns aus vielen kleinen Schritten.Ich will auch den zweiten Punkt gerne nennen. In der Tat — das ist heute morgen schon beklagt worden —, viele Arbeitslose, vor allen Dingen ältere, sind länger arbeitslos als früher, und viele von ihnen verschwinden sozusagen in der Arbeitslosenhilfe. Auch hier ist nicht das Dogma Auslöser unserer Politik. Entspricht es nicht auch unserem Gerechtigkeitsgefühl, daß einer, der länger Beitrag gezahlt hat, auch länger Arbeitslosengeld beziehen soll, daß die älteren Arbeitslosen, die 30 Jahre Beitrag gezahlt haben, nicht nach derselben Zeit in die Arbeitslosenhilfe fallen wie ein 20jähriger, der nur drei Jahre gezahlt hat und der es auch sehr viel leichter hat, wieder Arbeit zu finden? Auch hier gilt: Ich denke, wir machen Sozialpolitik nicht aus Ideologie, sondern mit Verstand.Ich will an dieser Stelle auch von dem gestrigen Gespräch zwischen der Bundesregierung, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände berichten. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir jedoch eine Vorbemerkung. Finden Sie es nicht — ich sage das ohne Schuldzuweisung — ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, daß ein solches Gespräch acht Jahre nicht stattgefunden hat? Ist das nicht ein Luxus, den sich eine aufgeklärte Gesellschaft vernünftiger Menschen nicht leisten sollte? Bei 2 Millionen Arbeitslosen muß doch jeder über seinen Schatten springen. Es schafft doch niemand allein. Ist jemand im Saal, der glaubt, die Gewerkschaften allein würden es schaffen? Ist jemand im Saal, der glaubt, die Arbeitgeber allein würden es schaffen? Wir schaffen es doch nur zusammen. Der Austausch von Kommuniqués ist doch kein Ersatz für das Gespräch.Ich will als meinen Eindruck wiedergeben, daß dieses Gespräch mit großer Offenheit, mit großem Ernst geführt wurde.
— Sie wissen schon etwas, bevor ich berichtet habe. Sie scheinen hellseherische Gaben zu haben. — Meine Damen und Herren, das Gespräch war getragen von dem Willen, aufeinander zu hören, voneinander zu lernen und miteinander zu handeln. Dabei braucht niemand Standpunkte aufzugeben. Warum denn immer das Alles-oder-Nichts'? Laßt uns das, was wir gemeinsam machen können, gemeinsam machen! Laßt uns mit dem, mit dem wir unterschiedlicher Meinung sind, friedlich zusammenleben! Es wird doch niemand gezwungen, seinen Standpunkt aufzugeben. Nur: Es muß doch möglich sein, daß man aufeinander hört, daß man die Möglichkeiten des Konsenses und der Gemeinsamkeit erkundet. Darauf sind wir angewiesen.Ich denke, es ist auch ein Gewinn — ich hoffe, er bleibt uns auch in den kommenden Wochen erhalten und gilt nicht nur für Gespräche hinter verschlossenen Türen —, daß niemand dem anderen den guten Willen bestritten hat, daß jeder dem anderen die Sorge um die Arbeitslosen abgenommen hat. Wir können leichter miteinander streiten, wenn wir dem anderen keine bösen Absichten unterstellen.
Ich hoffe, dieses wechselseitige Vertrauenskapital bleibt uns — bei allem Streit, der sich nicht vermeiden läßt — erhalten.Wir haben die Bundesrepublik Deutschland nicht mit Konfrontation, sondern durch Kooperation aufgebaut. Hans Böckler und Konrad Adenauer gehörten ganz unterschiedlichen Welten an, aber sie wußten, was sie den Arbeitnehmern und diesem Staat schuldig waren. Keiner, weder die Arbeitnehmer noch die Arbeitgeber noch der Staat, hat durch Zusammenarbeit und Partnerschaft verloren. Das war der Weg aus Schutt und Asche, und das wird auch der Weg aus der Krise sein.
Wir sind auch darauf angewiesen, meine Damen und Herren, weil wir zum Unterschied — —
— Ich komme noch dazu. Es tut vielleicht ganz gut, auch möglicherweise unterschiedliche Einstellungen hier klarzustellen. Wir sind beispielsweise als Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft auf Einsicht angewiesen. Eine Befehlswirtschaft braucht keine Einsicht, da kommandiert der Staat. Eine Soziale Marktwirtschaft ist auf Mitwirkung qua Konstitution ihrer Wirtschaftsordnung angewiesen. Sie hat es nicht in der Hand, den Arbeitnehmerorganisationen Befehle zu geben, wie das in östlichen Diktaturen ist. Sie hat es nicht in der Hand, qua Planungsapparat Produktionsziele anzugehen. WirDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11563Bundesminister Dr. Blümsind auf das Mitwirken aufgeklärter Partner, vernünftiger Partner angewiesen.
Wir haben über die arbeitsmarktpolitischen Notwendigkeiten gesprochen, denen wir uns ausgesetzt sehen. Wir haben unterschiedliche Meinungen über die Wirkung von staatlichen Beschäftigungsprogrammen.
Lassen Sie doch auch hier die Weltanschauungskriege weg!
Wir haben doch etwas für die Bauwirtschaft getan. Sie können doch nicht sagen, wir würden mit leeren Händen dastehen. Sie sagen, wir würden nur eine Angebotspolitik machen. Die beste Nachfragepolitik hat Gerhard Stoltenberg durch Preisstabilität ermöglicht. Das schafft doch Nachfrage, das schafft doch Kaufkraft, mehr als alle Gießkannenprogramme.
Meine Damen und Herren, ich will auch klarstellen, daß sich die Bundesregierung mit Arbeislosenstatistiken und ihren Festschreibungen nicht abfinden kann. Wir erstellen zwar vorsichtige Prognosen, haben aber durchaus das Zutrauen, auch unsere eigenen Prognosen zu übertreffen; denn es ist besser, die Realität übertrifft die Prognosen, als wenn man sich, wie das bei Ihnen immer war, mit Prognosen gesundgerechnet. Wir gehen den umgekehrten Weg. Übrigens werden von Prognosen keine Beiträge gezahlt; das ist der Nachteil von Prognosen.
Wir halten es deshalb mit einer vorsichtigen Einschätzung in der Erwartung, daß unsere eigenen Prognosen auch durch das Zusammenwirken der Sozialpartner übertroffen werden können.In der Frage einer notwendigen AFG-Novelle stimmen die Partner sowohl hinsichtlich der Notwendigkeit einer Qualifizierung als auch hinsichtlich der Verlängerung der Zahlung des Arbeitslosengeldes überein. Wir wollen dazu eine Arbeitsgruppe aus den Beteiligten bilden, aus Gewerkschaften, Arbeitgebern und Bundesregierung. Wir glauben, daß es nicht damit getan ist, nur Paragraphen zu produzieren. Diese müssen auch ankommen. Deshalb muß hier die Erfahrung der Praxis, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, in die Gesetzgebung einfließen.Wir möchten eine Verbesserung der Beschäftigtenstatistik; denn in der Tat sagt die Arbeitslosenstatistik noch nicht alles über die Bewegung am Arbeitsmarkt aus.
In diesem Jahr treten allein 120 000 junge Leute mehr auf den Arbeitsmarkt, als ältere ausscheiden. Da brauchen wir schon 120 000 Arbeitsplätze mehr, nur um den Stillstand in der Arbeitslosenstatistik zu erreichen. 70 000 Frauen kommen mehr auf den Arbeitsmarkt als in früheren Jahren. Wir brauchen schon 200 000 mehr Arbeitsplätze, nur um in der Arbeitslosenstatistik Stillstand herzustellen.
Sie sehen, daß die Beschäftigtenstatistik für den Arbeitsmarkt und seine Vorgänge aussagekräftiger ist als eine Arbeitslosenstatistik.Überstundenabbau: Wir bleiben dabei, daß Überstunden als Regelarbeitszeit, sozusagen als Normalarbeitszeit eine Rücksichtslosigkeit gegenüber denjenigen ist, die null Stunden arbeiten.
Damit sage ich nichts dagegen, daß Überstunden aus unvorhergesehenen Fällen notwendig sein könnten. Wenn ein Wasserrohr platzt, kann der Installationsmeister nicht erst beim Arbeitsamt anrufen, ob es vielleicht einen Arbeitslosen hat; da muß das Rohr repariert werden. Dennoch bleiben wir dabei: Überstunden müssen aus Solidaritätsgründen zurückgenommen werden. Die Frage ist nur, wie. Da warne ich vor übertriebenen Hoffnungen auf den Gesetzgeber.Warum? Die Überstunde beginnt doch jenseits der betrieblichen Regelarbeitszeit. Aber die betrieblichen Regelarbeitszeiten differenzieren stärker. Wenn das Programm der Differenzierung, auch im Metalltarif niedergelegt, fortschreitet, dann sind die Regelarbeitszeiten sogar im Betrieb unterschiedlich. Wie wollen Sie dann mit einem Gesetz, das von Kiel bis Konstanz alle Fälle regelt, die Überstundenzahl definieren können? Der Tarifpartner — das ist doch der Vorteil der Tarifautonomie, und das ist auch ihre Rechtfertigung — ist doch viel näher am Ball, viel praxisnäher und flexibler.
Wir haben auch zugesagt, zu prüfen, wie im öffentlichen Dienst dem Programm „Einstellen vor Überstunden" Raum zu schaffen ist. Wir wollen die Antragsaltersgrenze im öffentlichen Dienst für Bundesbeamte von 63 auf 62 Jahre senken.Eine weitere Arbeitsgruppe ist angeboten, die sich mit dem Thema „Kooperation der Sozialpartner, Technologie, Mitwirkung und Mitbestimmung" beschäftigt. Beide Sozialpartner haben sich ausbedungen, uns zu antworten, ob sie einem solchen gemeinsamen Unternehmen Aussicht auf Erfolg geben. Wir bieten Gespräche dazu an.Ein sehr wichtiges und auch in der heutigen Debatte schon eingeführtes Thema ist das Arbeitskampfrecht. Ich möchte hier für die Bundesregierung klarstellen, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, das gesamte Arbeitskampfrecht zu kodifizieren. Das Arbeitskampfrecht ist ein Friedensrecht, und es erfüllt seine Friedensfunktion nur,
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11564 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985
Bundesminister Dr. Blümwenn sich die Kontrahenten auf Spielregeln einigen. Im Widerstreit der Interessen müssen die Regeln klargestellt sein.
Es kann nicht der eine Freistil und der andere griechisch-römisch ringen. Wenn diese Friedensfunktion erhalten bleiben soll, ist es die erste Aufgabe der Partner selber, einen solchen Verhaltenskodex zu finden. Im übrigen beginnen sie nicht bei Null. Schlichtungsabkommen sind nichts anderes als ein Verhaltenskodex für das Arbeitskampfrecht.Die wichtige Frage, die allerdings in der Diskussion steht und bleibt, ist die Frage, wie die Neutralität des Staates im Arbeitskampf gesichert werden kann. Denn, meine Damen und Herren, zu den ungeschriebenen Gesetzen des Arbeitskampfrechts gehört die Kampfparität, das Gleichgewicht der Kräfte.
Deshalb gehört zu den konstitutionellen Merkmalen einer solchen Tarifautonomie, daß sich der Staat nicht mit seinen Finanzmitteln auf die Seite eines der Partner schlagen darf.Die Frage ist, wie diese Parität zu sichern ist. Die Arbeitgeber sehen Handlungszwang des Gesetzgebers, die Gewerkschaften verneinen jeden Handlungsbedarf. Die Bundesregierung appelliert an beide, daß dies nicht das letzte Wort sein kann, daß versucht werden muß, Brücken zu schlagen. Wir wollen den Tarifpartnern die Vorfahrt lassen, und wir wollen die Chance, daß beide darüber nachdenken, nicht durch Schnellschüsse beenden.Ein weiterer Gesprächskreis wird sich mit der Alterssicherung, mit der mittel- und langfristigen Sicherung der Renten beschäftigen. Meine Damen und Herren, zur Demokratie gehört Streit, und wir streiten uns in diesem Haus. Der Streit ist auch ein Teil des demokratischen Lustgewinns. Aber es muß neben Konflikt auch noch die Möglichkeit des Konsenses geben. Ich denke, daß die Alterssicherung ein bevorzugtes Gebiet von Übereinstimmung sein muß, denn soziale Sicherheit hängt nicht nur von der Höhe der Sozialleistungen ab, sondern auch davon, ob sie im Streit der Parteien bleibt oder ob Grundsätze geradezu tabuisiert werden. Wir wollen mit den Sozialpartnern einen Kristallisationskern eines solchen Konsenses bilden, und jedermann ist eingeladen mitzumachen.
— Herr Bueb, man soll der Gnade Gottes nie Grenzen setzen. Auch Sie sind eingeladen zum Konsens.Meine Damen und Herren, nun zur Rentenversicherung wenige Bemerkungen. Ich trete heute mit zwei guten Nachrichten vor Sie.
— Bitte schön!
IG-Metall-Kollege Norbert Blüm, Sie haben im Juni im Ausschuß für Arbeit uns Sozialordnung doch einen Termin mit den Obleuten des Ausschusses angesetzt, bei dem es um die Rentenproblematik gegangen wäre. Sie sprechen jetzt von Konsens. Ich staune jetzt darüber
Herr Kollege, bitte stellen Sie eine Frage!
Ja.
Ich frage Sie, warum Sie dann dieser Konsensmöglichkeit aus dem Weg gegangen sind, indem Sie dieses Gespräch damals im Juni platzen gelassen haben, wo doch diese Bereitschaft besteht.
Ich entsinne mich an kein Platzen, ich werde nie einem Konsensgespräch aus dem Weg gehen. Sie haben sich wahrscheinlich akustisch verhört. Ich bin in Sachen Rentenversicherung nicht geplatzt.
Nun nochmals zur Rentenpolitik. Da habe ich zwei gute Nachrichten. Die erste gute Nachricht: Im ersten Halbjahr 1985 sind die Einnahmen der Rentenversicherung höher als erwartet. Sie liegen im ersten Halbjahr 1985 um 4,5 % über unseren Erwartungen. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie vor einem halben Jahr geschrien haben wegen Mindereinnahmen, dann müssen Sie jetzt, finde ich, aus Paritätsgründen jubeln, weil wir Mehreinnahmen haben.
Der Kollege Quartier, stellvertretender Vorsitzender der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, hat am 4. September — auf ihn berufe ich mich — zu den Beiträgen gesagt:Die Beiträge fließen besser als erwartet. Wir haben keine Schwierigkeiten, die Rente aus eigenen Mitteln zu zahlen. Wenn es keinen wirtschaftlichen Einbruch gibt, brauchen wir bis 1990 keine Beitragserhöhung.Der Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger hat das gestern bestätigt.Was soll es also — so frage ich Sie —, wenn der sozialdemokratische Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen davon spricht, daß die Rentenversicherung vor der Pleite stünde? Was soll denn eigentlich diese Verunsicherung der Rentner?
Er braucht nur dpa zu lesen. Oder vielleicht erkundigt er sich bei seinem Vorgänger, dem verehrten Kollegen Farthmann, der noch im Februar erklärt hat: Die einzelne Rente wird nicht unsicher; das sollten wir niemandem sagen. — Das ist nichts als eine bodenlose Verunsicherung der Rentner, und damit muß jetzt Schluß gemacht werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11565
Bundesminister Dr. BlümWir brauchen eine Strukturreform. Natürlich, das weiß jedermann. Aber laßt uns die nicht mit heißer Nadel machen! Laßt uns die Gunst der Stunde nutzen, nicht von heute auf morgen Jahrhundertgesetze aus dem Ärmel schütteln zu müssen! Wir sollten eine solide Strukturreform machen, die auch die nächsten Generationen überdauert.Der Weg dahin ist jedenfalls nicht der, uns vorzuwerfen, die Beiträge seien zu hoch und die Renten zu niedrig. Wie man diese sozialdemokratischen Vorwürfe unter ein Dach kriegen kann, einerseits zu sagen: Blüm, du hast zu hohe Beiträge, und andererseits: Blüm, du hast zu niedrige Renten, weiß ich nicht. Adam Riese scheint noch nie Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen zu sein.
10 Milliarden DM kosten allein die Vorschläge, die die SPD zur Strukturreform gemacht hat. 10 Milliarden DM mehr! Wie kann man heute 10 Milliarden DM mehr ausgeben — in dem sicheren Wissen, daß man das morgen wieder einsammeln muß! Das ist nichts anderes als Wahlkampftaktik. Laßt uns doch den Versuch unternehmen, die Rente aus dem Wahlkampf herauszuhalten!
Wir haben Maßnahmen ergriffen. Hinterbliebenenreform! Ich will noch einmal voller Stolz sagen: Ich empfehle jedem die Broschüre des Deutschen Gewerkschaftsbundes, in der er ausführlich schildert, warum er sich hinter das Modell der Hinterbliebenenreform der Regierung stellt und warum er das der Opposition ablehnt. — Ich übergebe sie, falls sie gebraucht wird, gern der Opposition.
Wir haben die Rente aktualisiert. Wir sind das Thema Fremdleistungen angegangen. Wir haben den Kinderzuschuß, der nicht durch Beiträge finanziert werden soll, aus der Rentenversicherung herausgenommen. Wir haben die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente neu geregelt.Und jetzt komme ich mit der zweiten guten Nachricht, für die ich um Ihre Aufmerksamkeit bitte: Wir haben, wie Sie wissen, die Mindestbeitragszeit für die Altersrente von 15 auf 5 Jahre gesenkt. Wie Sie wissen, mußte man bisher 15 Jahre Beitrag gezahlt haben, um Anspruch auf Altersrente zu erhalten. Viele, vor allen Dingen Frauen, haben diese 15 Beitragsjahre nicht zustande gebracht; sie haben 10 Jahre, 12 Jahre Beitrag gezahlt. Wir haben die Grenze gesenkt. Und nun läßt sich nach einem Jahr das erste Ergebnis feststellen: 36 000 neue Altersrenten. 36 000 Mitbürger, die früher keine Altersrente bekommen haben, haben auf Grund dieser Neuregelung nach dem ersten Jahr Altersrente erhalten, und zwar in Höhe von 225 DM monatlich. Das ist nicht viel, aber es sind 225 DM mehr, als sie bisher erhalten haben. Und 100 000, die bisher nur einen Anspruch auf Invaliditätsrente hatten, konnten diesen umwechseln in einen Altersrentenanspruch. Das macht im Durchschnitt eine Erhöhung um rund 80 DM aus. Das ist konkrete Rentenpolitik.Und 90% der so Begünstigten sind Frauen. Deshalb wäre ich vorsichtig mit dem Vorwurf, unsere Politik sei eine Politik gegen die Frauen.Meine Damen und Herren, ich will diese Haushaltsdebatte auch dazu benutzen, in wenigen Bemerkungen zur Notwendigkeit einer Reform der Gesundheitspolitik Stellung zu nehmen. Die Beiträge sind gestiegen. Hämische Bemerkungen sind völlig überflüssig, vor allem aus den Reihen der Opposition.
— Die Beiträge, Frau Fuchs, liegen immer noch unter dem Prozentsatz, den wir übernommen haben, als Sie die Regierung verließen. Damals waren es 12%. Wir liegen immer noch unter 12 %. Das ist keine Entwarnung für unsere Anstrengungen.Wir haben ein Krankenhausgesetz, eine Pflegesatzverordnung, eine Gebührenordnung vorgelegt. Ich will auch anerkennen, daß die Selbstverwaltung eine große Anstrengung unternommen hat. Ärzte und Krankenkassen haben eine Honorarvereinbarung, in der zum ersten Mal auch über Mengen Vereinbarungen getroffen werden. Liebe Frau Fuchs, wenn das in Ihrer Zeit gelungen wäre, hätten Sie Beflaggung aller sozialdemokratischen Häuser angeordnet.
Sie haben doch vor einem halben Jahr in der Aktuellen Stunde den absoluten Bankrott erklärt. Jetzt haben wir es zustande gebracht. Da sollten Sie auch der Selbstverwaltung Ihren Beifall spenden.
Ich erwähne die Großgeräterichtlinien und die Preisvergleichsliste. Ich mahne hier vor dem Deutschen Bundestag an, daß sich auch die Zahnärzte einer solchen Anstrengung nicht entziehen können.
Denn wenn die Zahnärzte sich in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen einer solchen subsidiären Anstrengung entziehen, laden sie den Gesetzgeber zum Handeln ein.Die sozialdemokratische Ecke sollte im übrigen auch vorsichtig sein, mir dauernd Ratschläge zur Gesundheitspolitik zu geben. Ich sehe, was Ihr gesundheitspolitischer Sprecher beim Parteivorstand, Herr Brückner, in Bremen für Musterstücke arbeitet. 300 Millionen hält er den Krankenkassen vor. Jetzt hat man sich auf einen Vergleich geeinigt, der den Steuerzahler 200 Millionen kostet. Mein Gott, wenn das mir passieren würde, würden Sie den Rücktritt fordern. Und ausgerechnet Herr Brückner macht mir Vorschläge. Das kommt mir so vor, wie wenn einer gegen einen Baum fährt, aussteigt und sagt: So; jetzt bewerbe ich mich als Fahrlehrer.
Ich will auf die Fragen eingehen, die gestern Herr Dreßler gestellt hat, übrigens in nicht ganz fairer Weise. Zu einer Zeit, in der ich, was er wußte, beim
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11566 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985
Bundesminister Dr. BlümDGB/BDA-Gespräch war, meine Anwesenheit anzumahnen, widerspricht den kollegialen Gepflogenheiten in diesem Haus. Das nur zur Stilbildung.
— Aus guter Höflichkeit werden Sie mir sicher nicht zumuten, daß ich erst im letzten Moment zu diesem Gespräch komme.Herr Kollege Dreßler hat mir einen ganzen Katalog,
einen sozialpolitischen Horrorkatalog, vorgelesen. Er hat gesagt, er sei ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Deshalb, Herr Kollege Dreßler, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir, auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die Frage beantworten würden, ob es arbeitnehmerfeindlich ist, daß wir die Inflationsrate halbiert haben, daß wir wieder Wachstum haben, daß wir 1984 nicht 605 000 Lehrverträge wie 1981, sondern 705 000 hatten, daß wir eine gesetzliche Vorruhestandsregelung eingeführt haben, daß die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein finanzielles Rekordvolumen und einen Rekordbeschäftigungseffekt wie nie zuvor, auch nicht in 13 sozialdemokratischen Jahren, haben, daß wir — ich muß mich beeilen, den Katalog zu Ende zu bringen — die Kurzarbeit von 1,2 Millionen auf 73 000 senken konnten, daß wir 36 000 Anpassungsschichten — fragen Sie mal den Kollegen Schmidt in Ihrer Fraktion — für die Bergleute durchgeführt und damit auch Strukturwandel ohne Entlassungen ermöglicht haben — ist das arbeitnehmerfeindlich oder arbeitnehmerfreundlich, Herr Dreßler? —, daß wir ein Rentenrekordniveau haben — 10,5 Prozentpunkte über dem Jahr 1970 —, daß wir die Mindestbeitragszeiten von 15 auf 5 Jahre gesenkt haben, daß wir eine Hinterbliebenenrentenreform verwirklicht haben, die von den Gewerkschaften für sozial und frauenfeindlich erklärt wurde, daß wir zum ersten Mal Kindererziehungszeiten ins Rentenrecht eingeführt, daß wir ein Erziehungsgeld geschaffen, daß wir den Förderungsrahmen für Vermögensbildung von 624 auf 936 DM aufgestockt haben, während Sie vorher die Vermögenspolitik gekürzt hatten, daß wir zum ersten Mal den Bundeszuschuß erhöhen, während Sie ihn in Ihrer Regierungszeit siebenmal entweder gekürzt oder verschoben haben — Sie haben den Bundeszuschuß als den Geldautomat des Finanzministers benutzt; wir sind die erste Bundesregierung, die den Bundeszuschuß erhöht? Wir haben das Wohngeld um 30% erhöht. Wir haben die Sozialhilfesätze angehoben. Im nächsten Jahr gibt es éin Entlastungspaket für die Familien von 10 Milliarden. Wir haben die älteren Arbeitslosen in verlängerten Arbeitslosengeldbezug gebracht. Wir haben die jüngeren Arbeitslosen wieder in den Krankengeld- und Kindergeldbezug gebracht.Meine Damen und Herren, sehr verehrter Herr Kollege Dreßler, der Anstand gebietet es, daß Sie nun auch zu diesen Fragen Stellung nehmen und sagen, ob diese Maßnahmen arbeitnehmerfreundlich oder arbeitnehmerfeindlich sind.
Ich setze auf die Fairneß unserer Kollegen in den Betrieben, die wissen, daß diese Politik ihnen genutzt hat, und deshalb setze ich auf die Zustimmung auch der Arbeitnehmer.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rappe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister, zum ersten Teil Ihrer Rede möchte ich Sie nur daran erinnern, daß wir beide uns ja aus früheren Jahren aus dem A-und-S-Ausschuß kennen, in dem ich Vorsitzender zu sein die Ehre hatte und in dem Sie Mitglied der Oppositionsfraktion waren. Wann immer Sie über „Erblast" reden, möchte ich Ihnen eigentlich die Sammlung Ihrer Anträge mitgeben, die zeigt, was Sie zusätzlich beantragten und was Sie dann oft im Bundesrat draufsatteln wollten. Das wäre eine nette Bilanz!
Ihr Erinnerungsvermögen ist an diesem Punkt ein bißchen unterentwickelt.
Nun, meine Damen und Herren, die Haushaltswoche hat sich mit den großen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Themen befaßt. Es sind präzise dieselben Themen, die auch gestern abend die Gesprächsrunde beim Bundeskanzler beschäftigt haben. Es ist vor diesem Gespräch genügend gesagt worden, und es wird dieses Gespräch noch oft kommentiert werden. Was der Minister dazu gesagt hat, will ich aber in einigen Punkten geraderücken oder ergänzen.
Zunächst, Herr Minister: Daß die Gesprächspartner des gestrigen Abends wie vernünftige Bürger miteinander umgegangen sind,
daß das Ganze in einem normalen Klima stattfand, daß sich jeder die Meinung des anderen in Ruhe anhörte und dagegenredete, ist das Selbstverständlichste von der Welt.
Nicht selbstverständlich war es für die Bundesregierung bisher wohl, daß dieses Gespräch überhaupt stattfinden sollte. Ich will Ihnen und auch den übrigen Mitgliedern des Kabinetts in Erinnerung rufen, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund — ich zumal von Anfang an — die Bundesregierung aufgefordert hatte, die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaftsspitze an einen Tisch zu holen, um die entstandene schwierige Lage besonders un-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11567
Rappe
ter dem Gesichtspunkt der Arbeitslosigkeit und ihrer Bekämpfung zu bereden. Daß Sie dafür erst Anfang September dieses Jahres Zeit gehabt haben, nicht schon in den Jahren 1983 und 1984
und auch nicht in der ersten Hälfte des Jahres 1985, ist ein schweres Versäumnis. Man hätte der Sache eher dienen können!
Aber nun, meine Damen und Herren, zu den Inhalten. Ein besonderes Thema der Wirtschaftspolitik ist in jeder Facette auch gestern abend behandelt worden. Es geht um die Grundfrage, ob zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Überwindung der damit verbundenen Probleme staatliches Handeln notwendig ist oder nicht. Dies ist die Grundfrage, und in dieser Grundfrage sind wir prinzipiell unterschiedlicher Auffassung. Mich wundert dies nicht, es wundert sicher auch niemanden in den Reihen der Bundestagsfraktion, der ich angehöre, oder auf den Bänken des DGB, weil konservative politische Kräfte, wenn der Wähler sie wählt, natürlich auch eine konservative Wirtschafts- und Finanzpolitik — aus ihrer Sicht völlig folgerichtig — machen. Da ist nichts anderes zu erwarten. Dies muß nun auch in aller Ruhe in der Öffentlichkeit dargelegt werden.
Über diesen Punkt sind wir uns gestern — für mich sehr bedauerlich — auch in der Perspektive nicht nähergekommen.Nun, um was geht es dabei? Das will ich nach den Darlegungen dieser Woche und des gestrigen Abends einmal knapp zusammenfügen: Wir bezweifeln nicht, daß die wirtschaftswissenschaftlichen Institute, einschließlich der OECD, die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik richtig einschätzen, daß also in den nächsten Jahren mit einem Wachstum zwischen 2 % und höchstens 3 % zu rechnen ist.
Ich will eindeutig sagen: Niemand im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Gesprächspartner des gestrigen Abends auf unserer Seite ist Wachstumsgegner. Wir sind auch keine berufsmäßigen Pessimisten und wünschten uns lieber eine andere Entwicklung als diese. Aber wir können uns auch nicht mit Beruhigungspillen füttern lassen. Wenn man in den nächsten zehn Jahren ein Wachstum in dieser Größenordnung hätte, wir alle zusammen, dann hätten wir eine außerordentlich gesunde und vernünftige volkswirtschaftliche Entwicklung, und wir könnten alle miteinander darüber froh sein.
Ein solches Wachstum ist aber nur erreichbar,wenn es keine größeren oder mittleren internationalen Konflikte irgendwo in der Welt gibt. Es darf nichts passieren, wenn wir damit rechnen wollen.
— Es geht um den Schnitt, in den Branchen und auch regional wird es sowieso unterschiedlich sein. —
Nun ein weiterer Punkt — auch das war Gegenstand in dieser Woche und auch gestern abend —: Wir alle miteinander erwarten — ebenfalls nach gleichen nüchternen Unterlagen — eine technologische Entwicklung, die sich durch eine Steigerung der Produktivität je Arbeitsstunde in einer Größenordnung von 3 bis 3,5% jährlich ausweisen soll oder wird. Auch dies bezweifelt kein wirtschaftswissenschaftliches Institut, auch nicht die OECD, die unser Land da einschätzt.
Wenn diese durch den technologischen Prozeß bedingte Produktivitätssteigerung von 3 bis 3,5% kommt,
dann gilt auch hier: Niemand — manchmal wider besseres Wissen und auch Reden — im Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Gesprächspartner von gestern abend wird sich in die Ecke drängen lassen, er sei ein Gegner der technologischen Entwicklung oder wolle den technologischen Prozeß behindern.
Wir wissen sehr wohl, daß man den technologischen Prozeß nicht behindern darf,
weil dies die gesamte deutsche Volkswirtschaft, die Sicherheit der Arbeitsplätze und unsere eigene Lage schon kurz- oder mittelfristig gefährdet.
Darum geht es also nicht.
— Nein.
— Im Moment nicht.Nun will ich beide Punkte zusammenfügen, damit Sie unser Denkschema erkennen. Wenn man Wachstumsprozeß und technologische Entwicklung nebeneinander stellt — das kann nicht für jede Branche und für jedes Jahr, sondern sinnvoller-
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11568 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985
Rappe
weise nur für einen überschaubaren Zeitraum eingeschätzt werden —,
dann entsteht für uns in der SPD und in den Gewerkschaften die Sorge, daß wir bei diesen beiden Entwicklungen jährlich — man braucht überhaupt nicht zu übertreiben oder schwarze Teufel an die Wand zu malen — ein halbes Prozent mehr Arbeitslose produzieren. Jedenfalls kommt kein einziger Arbeitsloser durch diesen Prozeß von der Straße.
Das ist der Punkt, ohne daß wir von irgendwelchen apokalyptischen Vorstellungen getrieben wären.Nun bleibt die Frage: Können die Wirtschaft und alle Arbeitgeber zusammen, wenn diese Einschätzungen richtig sind, dennoch eine Entwicklung einleiten, bei der die Arbeitslosen von der Straße kommen, und zwar durch Erweiterungsinvestitionen?
Unser Eindruck ist, daß die internationale Lage und die eigene Kaufkraft im Lande nicht dazu reizen, in wesentlichen Punkten Erweiterungsinvestitionen vorzunehmen.Es geht um folgenden Punkt, den ich, auch wenn es einigen GRÜNEN nicht paßt, in Ruhe und Sachlichkeit entwickeln will; denn nur das wirkt.
Ich unterstelle niemandem, keinem einzigen Unternehmer — warum sollte ich das tun? —, daß er nicht einstellen würde, wenn er könnte, daß er nicht Erweiterungsinvestitionen vornähme, wenn er könnte, wenn Absatzerwartungen vorhanden wären; denn er will doch verdienen. Das ist doch normal.
Wenn sie aber nicht vorhanden sind, wird er, Herr Friedmann, Ihre Frage, die Sie heute morgen zu meinem Erstaunen an die Adresse einiger Mitbestimmungsträger und der Firmen gerichtet haben, eben so nicht beantworten können. Dann kann er nicht in Sachinvestitionen gehen. Er geht in Geldanlagen.
Nun kommt der Punkt, der uns trennt — das weiß ich —, und er ist tief in der Wolle gefärbt. Das wird sich auch nicht ändern, also auch nicht ändern unter dem Eindruck des gestrigen Gesprächs. Muß in einer solchen Lage nicht ganz nüchtern die Frage beantwortet werden, ob man sich — auch nach der mittelfristigen Finanzplanung — mit 2 Millionen Arbeitslosen abfinden darf,
und zwar angesichts der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung. Oder ist es vernünftig,menschlich und sozialpolitisch richtig, die Frage zustellen — darf man das mit den Dingen verteufeln, wie Sie das manchmal tun? —:
Welche Maßnahmen der öffentlichen Hände und welches staatliche Handeln sind nötig, um diesen Zustand zu beenden? Darum geht es.
Meine Damen und Herren, Ideologie sollte hier herausbleiben.
Ich würde Ihnen sonst den Vorwurf machen, daß die Ideologen in dieser Frage der angebotsorientierten Theorie rechts und nicht links sitzen.
Aber das hat doch keinen Sinn. Wir müssen über einen Maßnahmenkatalog und über Möglichkeiten des staatlichen Handelns reden.
Die öffentlichen Hände müssen besser ausgestattet werden. Herr Bundeskanzler, Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß Sie in Ihren Etatvorstellungen einen Ansatzpunkt haben, nämlich etwa 1 Milliarde DM für die Gemeinden zum Zwecke von Umwelt- und Sanierungsmaßnahmen. Dieser Ansatz ist richtig.
Ob dieser Ansatz aus wahlpolitischen Gründen gewählt wurde, weiß ich nicht.
Daß er arbeitsmarktpolitisch nicht wirken kann und nicht zieht, das weiß ich auf alle Fälle aus Gründen des wirtschaftlichen Ablaufs.
Wozu wir Sie auffordern, ist, diesen Tatbestand zu bedenken und uns eine Antwort auf die Frage zu geben, wie 2 Millionen Arbeitslose von der Straße kommen. Sie müssen von der Straße kommen, und es dürfen nicht noch neue Arbeitslose hinzukommen.Ich will ein Letztes sagen. Die Gewerkschaften — das haben wir auch gestern abend erklärt, und das erkläre ich hier ebenfalls — tragen dazu ihren Teil bei.
Wir wissen, daß wir in der Tarifpolitik der nächsten Jahre nicht nur Geld verteilen können. Das sagt sich leichter, als es getan ist; denn die Menschen sind wie die Leute und nehmen mit, was man kriegt.Wir wissen, daß das, was zu verteilen ist, auf Zeit und Geld aufgeteilt werden muß und daß an einem Verhandlungstisch nicht beides zum gleichen Zeitpunkt gemacht werden kann.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11569Rappe
Dies, meine Damen und Herren, ist der Erfahrungswert des Jahres 1984 und der ersten Monate des Jahres 1985. Den Diskussionsprozeß bezüglich solidarischem Verhalten und Umverteilung haben wir in den Gewerkschaften hinter uns.
— Doch. Sehen Sie sich die Tarifabschlüsse der IG Metall an. Dann werden Sie präzise diesen Punkt feststellen.
— Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich das gern näher begründen.Nun bleibt uns noch ein Punkt, um den Rest, den anderen Teil, machen zu können. Ich will Ihnen, obwohl Sie zum Teil schon auf dem Weg dieser Gesetze sind oder ihn auch weiter gehen werden, sagen, da wir unterschiedliche Grundauffassungen haben: Auf dem Stuhl des Finanzministers kann sitzen, wer will — eine Mark kann nur einmal ausgegeben werden.
Deswegen will ich Ihnen sagen, worin meine Sorgen im Zusammenhang mit Ihrem Handeln liegen. Wenn Sie aus Ihrer Theorie heraus 20 Milliarden DM Staatseinnahmen durch eine Steuerreform zurückgeben, sind sie für eine Infrastrukturpolitik nicht mehr vorhanden.
Ich wollte Ihnen noch zu überlegen geben, daß es eine alte Bauernregel gibt — damit Sie die dabei wenigstens nicht vergessen —:
Steuern zurückerhalten kann nur jemand, der vorher welche gezahlt hat.
— Langsam. Die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger, diejenigen, die sich gar nicht als arbeitslos registrieren lassen und damit eine Dunkelziffer darstellen, die kleinen Rentner, die alleinverdienenden Arbeitnehmer mit Familie und mehreren Kindern, die auf Grund dieser Situation Gott sei Dank eh schon wenig Steuern bezahlen, haben von einer Steuerreform im wesentlichen nichts.
Nur was diese Schichten bekämen, wäre Kaufkraftstärkung.
Ich gönne jedem das Geld. Aber es kommt auf die hohe Kante und nicht in die Kaufkraft. Deswegen hilft es in diesem Bereich nichts.
Aber Sie müssen wissen, was Sie tun, wohin Sie die Staatseinnahmen geben, wie Sie sie verteilen. Wenn Sie sie privatisieren, haben wir sie nicht für die staatlichen Aufgaben eines sozialrechtsverantwortlichen Staates.
Nun, meine Damen und Herren, noch eine Bemerkung zu § 116 AFG. Unsere Standpunkte sind in dieser Woche und auch gestern abend sehr deutlich dargelegt worden, sowohl die Haltung der Arbeitgeber als auch die Haltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ich möchte den Bundeskanzler und die anwesenden Minister des Kabinetts noch einmal bitten, die unterschiedlichen Standpunkte zu werten und das Wort des Bundeskanzlers ernst zu nehmen, daß er vor einer Regelung dieser Frage mit den beiden Partnern weiter spricht und beide aufgefordert hat, selbst miteinander zu reden. Hier möchte ich Sie deutlich unterstützen.Ich will auf einen Punkt hinweisen. Wenn die Frage der Neutralitätspflicht — wie man das so schön nennt — zuungunsten einer Möglichkeit zur Zahlung an die mittelbar Betroffenen geändert werden soll, entsteht durch die technologische Entwicklung der Verbundwirtschaft unter den Betrieben folgender denkbarer Fall. Es wird in einem bestimmten Bereich gestreikt, und die mittelbare Wirkung wird vorgeführt, wenn man sie herbeiführen will. Das kann die unternehmerische Seite genauso tun, wenn sie einer Streikaktion begegnen will, um über die Kasse den Zusammenbruch der Gewerkschaften zu erreichen.Nun kommt das Problem. Darüber bitte ich Sie in Ruhe nachzudenken, wenn unsere Gewerkschaften nicht kaputtgehen sollen. Und das kann niemand erwarten, das kann in niemandes Interesse sein.
Es darf die ordnende Hand der Tarifvertragsparteien und es darf der Tarifvertrag, der auch ein Friedensvertrag auf Zeit ist, nicht verlorengehen, auch nicht die gleiche Chance der Unternehmer am Markt durch die Bedingungen eines Tarifvertrages. Auch das spielt eine Rolle. Wenn das geschähe, müßten wir unsere gesamte Tarifkompetenz und Zuständigkeit verändern. Ich sage Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes englische Verhältnisse voraus;
denn wir müßten uns von Betrieb zu Betrieb anders verhalten und andere Möglichkeiten finden.
Ich hoffe, Sie bedenken, was passieren kann.Was ist eigentlich los, daß eine solche Diskussion überhaupt aufkommt?
Wo kann denn der politische Appetit herkommen,
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Rappe
selbst wenn man die Mehrheit hat, nach 35 Jahren Tarif- und Gewerkschaftserfahrung in diesem Lande auf solche Ideen zu kommen?
Ich bitte Sie, mit uns über Realitäten zu reden, und besondere Lagen, die es alle paar Jahre einmal gegeben hat, nicht zur Elle einer gesamten Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse in der Bundesrepublik zu machen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte den Kollegen Rappe zunächst für die Form und die Art beglückwünschen, wie er hier seine Argumente vorgetragen hat.
Solche Beiträge dienen dem Ansehen des Parlaments, und sie dienen vor allen Dingen auch der Debatte, die wir hier führen — weil er in großer Klarheit und von seinem Standpunkt mit Argumenten, die er mit Überzeugung vorgetragen hat, hier etwas gesagt hat, was Gegenstand einer Auseinandersetzung sein kann.Aber Sie müssen natürlich auch akzeptieren — und ich weiß, der Kollege Rappe jedenfalls wird das tun —, daß andere andere Gesichtspunkte haben und von ihrem Standpunkt aus dafür auch Argumente vorbringen können. Das möchte ich jetzt noch einmal tun.In einem Punkt muß eine kleine Korrektur angebracht werden: Die Bundesregierung hat das Gespräch von gestern abend nicht hinausgezögert. Ich habe schon im Juli, glaube ich, des letzten Jahres, bei meinem ersten Besuch beim DGB in Düsseldorf, den Vorschlag gemacht, man möge in dieser Dreierrunde doch über die Probleme insbesondere der Arbeitslosigkeit sprechen. Damals hat der DGB, was ich verstehe, was ich nicht kritisiere — ich möchte nur nicht, Herr Rappe, daß der Eindruck entsteht, die Bundesregierung habe dieses Gespräch, wie Sie gesagt haben, hinausgezögert —, gesagt: Sie müssen verstehen, daß wir das, weil das eine schwerwiegende organisationspolitische Frage ist, erst beantworten können, nachdem wir einen Abklärungsprozeß herbeigeführt haben. Ich habe mich dann, nachdem wir die Vorbereitungsgespräche vereinbart hatten, zunächst in den Arbeitsgruppen, bilateral, sehr gefreut, als dieses Gespräch zustande kam. Aber man kann wirklich nicht davon sprechen, die Bundesregierung habe damit zu lange gewartet.Nun haben Sie richtig gesagt, Herr Rappe: Die Grundfrage ist — und diese Frage haben Sie so gestellt —: Ist staatliches Handeln notwendig? —Diese Frage kann man ganz einfach beantworten — nämlich mit einem Ja.
— Daß Sie sich an dieser Debatte nicht in der gleichen Weise beteiligen können, Frau Fuchs, wie Ihr Kollege Rappe, das bedaure ich sehr. Aber vielleicht sollten Sie mal zehn Minuten lang den Versuch machen.
Die Grundfrage kann man mit einem einfachen Ja beantworten. Aber die eigentliche Frage ist: Welches staatliche Handeln ist notwendig? Und in diesem Punkt haben wir auch gestern abend den Unterschied festgestellt, der sich durch die ganze Debatte gezogen hat. Sie sagen nämlich: Staatliches Handeln ist insbesondere notwendig im Bereich zusätzlicher Nachfrage, die von der staatlichen Hand her initiiert wird. Wie man das dann im einzelnen macht, sind nur Unterschiede in den Instrumenten. Ob es das Programm „Arbeit und Umwelt" ist, mehr direkte öffentliche Investitionen oder ein Beschäftigungsprogramm klassischen Musters, sind dann nur noch graduelle Unterschiede. Das Einheitliche, der rote Faden — wenn Sie mir den Ausdruck gestatten —, der sich durch Ihre Vorschläge zieht, ist aber: Der Staat muß mehr Geld ausgeben, um damit Nachfrage und auf diese Weise Arbeitsplätze zu schaffen,
während wir sagen: Dieses ist sicher teilweise möglich, dann, wenn Sie diese zusätzlichen Mittel, die Sie brauchen, auf eine Weise zustande bringen können, die unsere generelle Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik nicht in Gefahr bringt;
denn, Herr Rappe, dieser Staat hat ja gehandelt, durch die Wirtschaftspolitik, durch die Haushaltsund Steuerpolitik. Ich will Ihnen z. B. sagen: Die Tatsache, daß bei uns das Zinsniveau ständig gesunken ist, daß wir stabile Preise haben, hat natürlich einen wirtschafts- und arbeitspolitischen Effekt allerhöchsten Ranges. Die Tatsache, daß wir ein niedriges Zinsniveau haben, ist auch der beste Anreiz dafür, daß die Investitionen in Sachanlagen gehen und nicht mehr Geldanlagen über die Rendite den eigentichen Anziehungspunkt bilden. Das kann man auch an den Zahlen nachweisen. Es geht also nicht darum, ob, sondern darum, wie gehandelt werden muß.Eine zweite Bemerkung zur Technologie. Richtig ist — Sie haben es hier wiederholt —, daß die Gewerkschaften am Anfang dieser Debatte sagen: Wir sind nicht gegen Technologie, wir sind keine Maschinenstürmer. Das wäre in der Tat auch eine katastrophale Ausgangsposition. Aber sie sagen dann im gleichen Atemzug — und da ist der Bruch in Ihrer Argumentation —, moderne Technologie werde bedeuten, daß es in Zukunft jährlich ein hal-
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Bundesminister Dr. Bangemannbes Prozent mehr Arbeitslose gebe. Aber das ist falsch. Wenn das nämlich richtig wäre. Herr Rappe, dann könnten Sie ja gar nicht für die moderne Technologie sein. Richtig ist, daß sich eine Volkswirtschaft, die zu einem Drittel auf Exporte angewiesen ist, wettbewerbsfähig halten muß, und das bedeutet: Sie muß moderne Technologie einsetzen, um auf diese Weise Arbeitsplätze sicher zu machen.
Das sieht man auch bei den Branchenvergleichen. Arbeitsplätze sind dort sicher geworden oder werden dort neu geschaffen, wo moderne Technologie verwendet wird.
während dort, wo dies nicht der Fall ist, die Arbeitsplätze gefährdet bleiben.Wir haben schon gestern nachmittag versucht, Ihnen zu sagen — Herr Kollege Stoltenberg wird darauf sicher noch eingehen —, wie die mittelfristige Finanzplanung und die Zahlen, die darin bezüglich der Arbeitslosigkeit enthalten sind, zu erklären sind. Wir wollten den Fehler vermeiden, den frühere Regierungen allzuoft gemacht haben, nämlich solche Zahlen zu optimistisch einzusetzen mit der Folge, die mittelfristige Finanzplanung mit bedrückten Gesichtern ins Negative korrigieren zu müssen. Diese Zahlen werden wir natürlich nicht als unsere Ziele ausgeben. Aber sie sind das, was wir zunächst einmal bei realistischer Finanzierung der Aufgaben zugrunde legen müssen, um nicht unangenehme Überraschungen zu erleben. Das ist der Grund, warum die Zahlen dort drin sind.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn Sie zu Recht darauf hinweisen, daß die Beschäftigtenzahl in jenen Branchen, in denen der technische Fortschritt besonders groß war, gestiegen ist, dann müssen Sie der Redlichkeit halber gleichzeitig darauf hinweisen, daß in diesen Branchen das Produktionsergebnis noch stärker gestiegen ist als die Produktivität. Überall, wo das nicht der Fall ist, kommt es logischerweise zu mehr Freistellungen als Einstellungen. Das ist es doch, worum es in dem Beitrag von Herrn Rappe geht, daß eben gesamtwirtschaftlich das Produktivitätswachstum höher geschätzt wird als das Wachstum des Sozialprodukts.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Ehrenberg, das war zwar keine Frage, aber ich möchte sie trotzdem beantworten.
Wir sind uns doch darüber einig, daß ein Produktivitätsfortschritt, der volkswirtschaftlich erzielt wird, natürlich in einzelnen Branchen Arbeitsplatzverluste bedeutet, aber volkswirtschaftlich nie verlorengehen kann. Produktivitätsfortschritt heißt doch, daß man zu geringeren Kosten produziert.Wenn man zu geringeren Kosten produziert, dann wird dieser Vorteil entweder bei dem Unternehmen, das ihn erzielt, oder bei den Verbrauchern, die in den Genuß geringerer Preise kommen, volkswirtschaftlich erhalten bleiben. Der Vorteil wird neue Nachfrage schaffen. Auf diese Weise geht er nicht verloren.
Herr Rappe sieht dies übrigens genauso wie ich. Wenn Sie, Herr Ehrenberg, meine Aufklärungen weniger gern annehmen, dann sollten Sie sich einmal mit dem Kollegen Rappe unterhalten.Jetzt möchte ich noch etwas zum AFG sagen, denn das war gestern abend zu Recht ein wichtiger Erörterungsgegenstand. Zunächst einmal finde ich es gut — in dem Punkt haben wir j a auch eine übereinstimmende Position gefunden —, daß die Absichten der Regierung über die Verwendung der Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, einmal die Qualifikation der Arbeitslosen zu heben und zum anderen den Bezug von Arbeitslosengeld länger möglich zu machen, von allen geteilt wurden. Da gibt es also eine Übereinstimmung, so daß wir dort, wie ich meine, ein Gespräch geführt haben, das auch zu Ergebnissen geführt hat.Allerdings muß ich den Kollegen Vogel korrigieren, der in einer Presseverlautbarung heute gemeint hat, es sei die Tatsache zu begrüßen, daß die Forderung der FDP, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken, bei dem Gespräch am Donnerstag von der Bundesregierung endgültig abgelehnt worden sei.
— Nein. Diese Information trifft nicht zu. Ich sage Ihnen das, damit Sie diese Nachricht nicht weiter so verbreiten.Hinsichtlich § 116 AFG sind wir allerdings nach wie vor unterschiedlicher Meinung. Herr Rappe, so ernst ich das nehme, was Sie hier zu der Frage zukünftiger Tarifverträge und der Haltung der Gewerkschaften dazu gesagt haben, Sie müssen auch einräumen, daß Ihr Tarifpartner — die Arbeitgeber— selber diese Frage in der Tat für regelungsbedürftig hält. Unsere Frage an die Tarifpartner war ja gerade: Sind Sie in der Lage, das gemeinsam zu besprechen und zu regeln?
— Na, ja, sie haben gesagt, sie sähen keinen Regelungsbedarf. Ich habe sie so verstanden, daß sie gesagt haben — das ist auch meine Meinung —, über Fragen des Arbeitskampfrechtes sollten sie zunächst einmal gemeinsam im Kreise der Tarifpartner reden. Dann haben Sie — nicht Sie persönlich, sondern die Seite der Arbeitnehmervertretung— allerdings hinzugesetzt, Sie sähen bei § 116 AFG keinen Regelungsbedarf, während die Arbeitgeber eindeutig gesagt haben, sie sähen einen Regelungsbedarf, und sie sähen keine Möglichkeit, das in Gesprächen der Tarifparteien zu regeln, weil sie der
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Bundesminister Dr. BangemannMeinung seien, das müsse ein Gegenstand der Gesetzgebung sein. Das war nun genau der Grund, warum wir unsere Frage gestellt haben; das wollten wir erfahren. Wir wollten wissen: Gibt es es eine Chance zur Regelung durch die Tarifparteien oder müssen wir uns ans Werk machen? Dann werden Sie es der Regierung, von der Sie ja staatliches Handeln fordern, nicht übelnehmen, daß sie diese Frage nach der mangelnden Bereitschaft der Tarifpartner, sie zu regeln, regeln wird. Aber Sie können sicher sein: Die Argumente, die Sie hier vorgetragen haben, müssen bei den Beratungen eine Rolle spielen. Ich wünschte mir — um das Lob am Schluß noch einmal auszusprechen —, daß die Beiträge der Opposition immer so ausfallen wie der Ihrige heute morgen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Suhr.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, ich verletze die Würde des Hohen Hauses nicht zu sehr,
wenn ich dem scheidenden Gesundheitsminister Geißler ein kleines Abschiedsgeschenk mache, einen edlen Tropfen, eine 83er Beerenauslese, die auf dem Glykol-Index an hervorragender Stelle steht.
— Bitte bringen Sie es ihm doch. — Dieses Fläschchen sollte man wegen der Gesundheitsgefährdung natürlich nur zu besonderen Anlässen trinken, beispielsweise heute nachmittag im bayerischen Kreml bei der Geburtstagsfeier des Franz Josef Strauß oder aber nächste Woche, wenn Bum-BumBecker zum Kinderfest ins Kanzleramt kommt.
Ich möchte kurz auf die Ausführungen von Herrn Rappe eingehen. Herr Rappe, leider hatten wir bei Ihrem Beitrag den Eindruck, daß die Ökologie-Diskussion der letzten 15 Jahre nahezu spurlos an Ihnen vorbeigegangen ist.
Was heißt denn Behinderung des technischen Fortschritts, wenn Ihre Partei propagiert, eine qualifizierte erweiterte Mitbestimmung bei der Einführung neuer Technologien verwirklichen zu wollen? Was heißt denn Behinderung des technischen Fortschritts, wenn wir versuchen, den technischen Fortschritt an ökologischen und sozialen Kriterien auszurichten?
Was heißt Behinderung des technischen Fortschritts, wenn wir fordern, den neuesten technischen Stand in der Umweltschutztechnik, wo wir in
den letzten 15 Jahren vieles verschlafen haben, einzuführen'?
Es kommt doch nicht von ungefähr, daß die Filteranlage von Buschhaus in japanischer Lizenz gebaut werden muß. Wir sind absolut keine Maschinenstürmer. Wer dieses Märchen nach wie vor aufrechterhält, der verhetzt und stellt die Grünen in ein völlig falsches Licht.
Wir sind für einen technischen Fortschritt, der sozial kontrollierbar ist, der ökologisch orientierbar ist, und wir sind vor allem für einen technischen Fortschritt und eine wirtschaftspolitische Entwicklung, die die Hunderte von Milliarden an ökologischen Folgekosten mit in die Wachstumspolitik einrechnet. Dann haben wir nämlich eine völlig andere ideologische Grundlage für die wirtschaftspolitische Diskussion.
Sowohl von links wie von rechts im Bundestag, von Willy Brandt bis Heiner Geißler, von Lothar Späth, Biedenkopf und vielen anderen, wurde uns seit unserer Existenz im Bundestag bestätigt, daß wir Grüne die richtigen und wichtigen Fragen zur Gegenwart und zur zukünftigen Entwicklung dieser Gesellschaft stellen.
Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren ungefähr 2 500 Fragen gestellt. Ich muß sagen: Die Antworten sind leider sehr dürftig ausgefallen.
Wir mußten feststellen, daß diese Bundesregierung in den zentralen Fragen der Friedenssicherung, der Umwelterhaltung, der gerechten Verteilung vorhandener Arbeit und der Kontrolle des bisher unkontrollierbaren Molochs Technik keine praktikablen und keine wirksamen Antworten gefunden hat.
Wir wissen jetzt, daß Sie nichts über die ökologischen Folgekosten wissen, und wir wissen auch, daß wir nicht darauf warten können, bis Sie Antworten gefunden haben, die in der Bevölkerung überzeugend wirken.
Wir müssen unsere eigenen Konzepte entwickeln, und wir sind mit Hochdruck dabei, eigene Konzepte zu entwickeln.
Hochverehrter Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.
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Ich bin sofort fertig.
Ich sage Ihnen: Wir stellen uns mit unseren Konzepten den Wählern dann zur Entscheidung.
Leider ist es oft so, daß die wichtigen Beiträge hier schnell unter den Tisch fallen.
Ich danke Ihnen.
Das kommt davon, wenn man erst Flaschen auf den Tisch stellt.
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir einige wenige Anmerkungen zur Bildungspolitik. Wenn wir heute so viel von den sozialpolitischen und den arbeitsmarktpolitischen Problemen reden, muß auch ein Wort zur Lehrstellensituation in diesem Jahr gesagt werden. Ich glaube, man muß auch hier in diesem Hohen Hause noch einmal sehr deutlich sagen, daß wir in diesem Jahr noch einmal eine sehr angespannte Lehrstellensituation haben. Wir haben eine sehr große Zahl von jungen Menschen, die sich um Lehrstellen bewerben, aber wir haben — dies ist die positive Meldung — auch ein wachsendes Angebot an Lehrstellen in diesem Jahr zu verzeichnen.
Das Erfreuliche ist, daß sich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage nicht weiter öffnet, sondern sich zu schließen beginnt. Um es deutlich zu sagen: Die Zahl der Lehrstellenangebote nimmt stärker zu als die Zahl der Lehrstellenbewerber.124 000 Lehrstellen haben wir in den letzten drei Jahren zusätzlich geschaffen, und dies ist, glaube ich, ein herausragender Erfolg. Ich möchte von dieser Stelle die Betriebe der Wirtschaft bitten, auch in diesem Jahr, wo wir sozusagen auf dem Berg der Lehrstellennachfrage stehen, noch einmal voll zuzugreifen, noch einmal ein volles Angebot zu machen. Ich möchte vor allen Dingen auch die Betriebe, die bisher noch nicht ausgebildet haben, aber sehr wohl zur Ausbildung geeignet sind, ermahnen, daß sie auch hier ihre Möglichkeiten ausschöpfen und auch ihrer Verpflichtung nachkommen. Ausbildungsverbund und vieles andere, Zusammenarbeit mit überbetrieblichen Einrichtungen sind gute Möglichkeiten dazu.Aber auch dies sei den Kollegen aus der Opposition gesagt: Meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit der jungen Menschen unter 20 Jahren ist in diesem Jahr geringer als im Vorjahr.
Man sollte mit den Zahlen die jungen Leute nicht noch mehr erschrecken und noch mehr verunsichern, als notwendig ist.Was uns sicherlich in den nächsten Jahren noch weiter beschäftigen wird, sind die strukturellen Verzerrungen im Bildungssektor, die zunehmend größer werden. Benachteiligte junge Menschen haben ihre Schwierigkeiten; aber ich möchte darauf hinweisen, daß wir im Etatansatz das Benachteiligtenprogramm auf 275 Millionen DM erhöht haben. Ich muß noch einmal drauf hinweisen, daß im Oktober 1982, als ich das Amt aus den Händen des SPDKollegen übernommen habe, das Benachteiligtenprogramm bei 49 Millionen DM lag.
Damit ist deutlich geworden, was diese Bundesregierung unter Helmut Kohl für die Benachteiligten in unserem Lande tut.
Ein zweites Problem: Die regionalen Verzerrungen auf dem Ausbildungsmarkt werden zunehmend größer. In Süddeutschland stellt sich das Ausbildungsproblem anderes dar als in Nordrhein-Westfalen oder auch in den norddeutschen Bundesländern mit Ausnahme von Schleswig-Holstein. Aber was uns vor allem stutzig macht — hier muß die Hilfe ansetzen —: Die Statistiken weisen jetzt im August aus, daß es 20 % mehr offene Ausbildungsstellen gibt als im Vorjahr. Es wird deutlich, daß diese offenen Stellen im süddeutschen Raum liegen und daß diese offenen Stellen im gewerblich-technischen Bereich liegen.Meine Damen und Herren, hier kommt eine Entwicklung auf uns zu. Wir müssen dafür Sorge tragen — wir haben alle Weichen in diese Richtung gestellt —, daß die jungen Leute mehr als in der Vergangenheit auch technisch-gewerbliche Berufe in ihre Berufswahlvorstellungen einbeziehen.
Ich sage das auch für die Mädchen. Ich sage aber auch in Richtung auf die Betriebe, daß sie Mädchen mehr als bisher in die Ausbildung aufnehmen sollten, weil sich dazu der gewerblich-technische Bereich, insbesondere auch der Bereich, der sich mit der Computerentwicklung befaßt und stark vom Computer geprägt ist, sehr wohl eignet.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wort zu den Abiturienten sagen, die sich in großer Zahl umorientieren, weil das in der Diskussion der letzten Tage eine Rolle gespielt hat. Ich sage hier sehr deutlich: Die Bundesregierung begrüßt es, daß mehr Abiturienten als in den Jahren zuvor in eine betriebliche Ausbildung wollen.
Ich sage hier sehr deutlich, daß es nicht mit der Umstellung des BAföG auf Darlehen zusammenhängt, daß Abiturienten eine berufliche Ausbildung suchen. Daraus spricht vielmehr eine realistische Berufseinschätzung der Abiturienten. Der Lehrerberuf ist eben nicht mehr der attraktive Beruf, wie das noch in den 70er Jahren der Fall gewesen ist.
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Bundesminister Frau Dr. WilmsDies haben junge Leute Gott sei Dank jetzt erkannt.Wir müssen den Abiturienten in der gewerblichen Wirtschaft die entsprechenden Ausbildungschancen, Weiterbildungschancen und Karrierechancen bieten. Ich freue mich, daß auch Mädchen wieder die Ausbildungsmöglichkeiten außerhalb der Universität für sich erkannt haben. Ich betone aber auch, daß wir unseren jungen Frauen sagen müssen: Wenn das Lehramtsstudium nicht mehr attraktiv ist, dann müssen sich unsere jungen Frauen auch im Bereich der Hochschulen um andere Studienmöglichkeiten bemühen.
Die Palette der Studienangebote geht über die Lehramtsstudienfächer weit hinaus. Hier muß noch ein Umdenken auch in der Generation der jungen Frauen, allerdings auch an den Hochschulen, stattfinden.Ich halte es nicht für seriös, wenn von Politikern der Opposition deutlich gemacht wird, daß durch die Umstellung von BAföG auf Darlehen jetzt etwa eine Umorientierung zu Lasten der sozial schwachen Schichten stattfinde. Mit der Kategorie Akademiker und Nichtakademiker ist noch längst nichts über die Einkommens- und die soziale Situation der Eltern der Studenten ausgesagt. Die höheren Einkommen finden sich zum großen Teil in Nichtakademikerschichten, wenn ich etwa an Kaufleute, Unternehmer und technisch orientierte Berufe denke. Wir sollten sehr vorsichtig sein, hier sofort wieder mit sozialen Plaketten zu arbeiten. Ich darf Ihnen nur sagen, daß die Bundesregierung alles dazu tun wird, um die Hochschulen offenzuhalten, und zwar für alle Schichten unseres Volkes, für die Frauen genauso wie für die Männer.Wir haben — das möchte ich auch noch in Erinnerung rufen — die Mittel für den Hochschulbau wieder auf 1,1 Milliarden DM festgelegt, nachdem die frühere Bundesregierung diese Mittel auf 800 Millionen DM heruntergefahren hatte. Wir leisten unseren Beitrag für die Offenhaltung der Hochschulen. Wir leisten unseren Beitrag zur Verhinderung weiterer Zulassungsbeschränkungen. Wir haben unseren Beitrag geleistet, um das Fach Informatik offenzuhalten, weil es ein zukunftsorientiertes Fach ist. Wir leisten unseren Beitrag zur Unterstützung sozial Benachteiligter durch die Erhöhungen im BAföG, durch das Benachteiligtenprogramm in Höhe von 275 Millionen DM.Meine Damen und Herren, die Politik der Bundesregierung ist darauf ausgerichtet, ein differenziertes Bildungswesen zu stützen und zu erhalten, ist darauf ausgerichtet, die Breitenausbildung offenzuhalten und weiter zu fundieren, ist aber auch darauf ausgerichtet, individuelle Bildungsangebote zu machen, ist auf die Herausforderung des begabten ebenso wie auf die Förderung des benachteiligten jungen Menschen ausgerichtet.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Bemerkung an die Adresse des Bundeswirtschaftsministers. Herr Bangmann, es reicht nicht aus, mit den Gewerkschaften Freundlichkeiten auszutauschen, sondern Sie müßten die von den Gewerkschaften vertretene richtige Sache dann auch in Ihr Programm aufnehmen.
Nun einige wenige Bemerkungen zum Bundesarbeitsminister. Herr Blüm, das Publikum hat es satt, von Ihnen immer nur mäßig gemachte Kabarettnummern zu sehen, statt daß Sie sich ernsthaft um die Probleme der Arbeitslosen, Rentner, Behinderten kümmern, wie es Ihre Pflicht als Bundesarbeitsminister wäre.
Sie können doch nicht verdrängen, daß in der Amtszeit von Herrn Blüm die massivsten Einschnitte ins soziale Netz in der Geschichte der Bundesrepublik vorgenommen worden sind,
daß diese Bundesregierung eine neue Armut verursacht hat, und Sie können auch nicht verdrängen, daß trotz dreier Jahre konjunktureller Belebung, die ja die Bundesregierung „Aufschwung" nennt, noch immer die größte Massenarbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik von dieser Regierung verantwortet wird.
Ich könnte ja noch einmal alles aufzählen, was Herr Dreßler der Bundesregierung gestern ins Stammbuch geschrieben hat. Das ist eine lange Liste, die alle angeblichen Erfolgsbilanzen des Bundesarbeitsministers in der Länge und in der Qualität erheblich übertrifft.Nun haben Sie gestern abend versprochen, aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit etwas für die Qualifizierung von Arbeitslosen zu tun. Sie wollen dafür einen Teil der Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit verwenden, die von den Arbeitslosen durch die Kürzung der Leistungen beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe finanziert wurden. Wollen Sie wirklich, Herr Bundesarbeitsminister, verantworten, daß die Arbeitslosen für ihre eigene Umschulung bzw. Fortbildung auch noch bezahlen müssen?Daß Sie in dieser Debatte an vielen Stellen verkündet haben, wir müßten eine Qualifizierungsoffensive starten, ist eine späte, aber nicht falsche Erkenntnis, Herr Blüm. Wenn es allerdings heute in bestimmten Sparten oder Regionen Facharbeitermangel gibt,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985 11575
Kuhlweindann hat das j a doch wohl auch damit zu tun, daß viele Betriebe in der Vergangenheit viel zuwenig ausgebildet haben.
Wer sich die Ausbildungsquoten mancher Großbetriebe ansieht, wird diese Feststellung bestätigen. Es hat auch damit zu tun, daß immer noch viel zuviel in Berufen ausgebildet wird, von denen man heute schon mit Sicherheit sagen kann, daß die jungen Leute dort nach ihrer Ausbildung arbeitslos sein werden,
weil es so viele Arbeitsplätze in diesen Berufen nicht geben kann. Sehen Sie sich einmal an, wohin ein großer Teil der zusätzlichen Ausbildungsplätze in den letzten Jahren gegangen ist.
— Das ist richtig, aber man muß auch das wissen, wenn man darüber redet, warum zusätzlich qualifiziert werden muß.
Niemand sollte uns weismachen und schon gar nicht den Arbeitslosen einreden, das Gesamtproblem der Arbeitslosigkeit ließe sich lösen, wenn nur alle Arbeitslosen bereit wären, sich umschulen oder fortbilden zu lassen. Bei nur 117 000 offenen Stellen wäre das ein höchst unzulängliches Rezept.Um nicht mißverstanden zu werden: Wir sind für eine Qualifizierungsoffensive, wie wir immer dafür gewesen sind — und zwar auch mit politischen Taten —, daß mehr Menschen immer mehr Chancen bekommen, mehr zu lernen. Aber diese Offensive muß auf allen Ebenen einsetzen: in der Erstausbildung, in den Hochschulen, in der Weiterbildung.Da vermissen wir die Belege für die Neuorientierung der Bundesregierung im Haushalt vor allem des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, der doch eigentlich für Inhalte und Struktur von Bildung der zuständige Minister sein sollte. Dieser Haushalt ist eingefroren worden. Deshalb muß es erlaubt sein, Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Qualifizierungsoffensive anzumelden.Der Bundesfinanzminister hat vorgestern behauptet, regionaler und sektoraler Facharbeitermangel heute habe seine Ursache in einer falschen politischen Weichenstellung in den 70er Jahren und in dem Versuch linker Planer, das Bildungssystem vom Beschäftigungssystem abzukoppeln. Nun frage ich mich, was ein Beschäftigungssystem mit 2,2 Millionen Arbeitslosen an Auskünften für das Bildungssystem geben kann und wohin denn Ausbildung laufen sollte, damit man hinterher einen Arbeitsplatz bekommt.
Aber die Behauptung Stoltenbergs zeugt insgesamt von sehr wenig Sachkunde und wirft ein bezeichnendes Licht auch auf andere angebliche Tatsachenfeststellungen des Bundesfinanzministers.
Deshalb ein paar Fakten zur Anreicherung des Spickzettels von Herrn Stoltenberg. Es waren Sozialdemokraten, die zu Beginn der 70er Jahre gegen den Widerstand von Union und Wirtschaft
die berufliche Erstausbildung und Fortbildung überhaupt erst zum Gegenstand einer politischen Debatte gemacht haben.
Es waren Sozialdemokraten, die das duale System quantitativ und qualitativ entscheidend verbessert haben.
Noch zu Ende der 60er Jahre — nach 20 Jahren Unionsregierung — war etwa ein Viertel der Jugendlichen nach dem Schulabschluß überhaupt nicht ausgebildet. In den 70er Jahren ist diese Zahl unter 10 % gesunken. Die Ausbildungsordnungen wurden angepaßt. Wenn der deutsche Facharbeiter immer wieder die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte auf dem Weltmarkt sichern kann, ist es nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, daß die Ausbildungsordnungen von sozialdemokratischen Bundesbildungsministern rechtzeitig korrigiert und angepaßt wurden.
Es wäre hilfreich, wenn zwischen den Tarifparteien vereinbarte Ausbildungsordnungen — das richtet sich an den Wirtschaftsminister —, etwa für den zentralen Bereich der industriellen Metallberufe, nicht in den bürokratischen Maschen des Bundeswirtschaftsministeriums hängenblieben. Vorfahrt lassen für die Tarifparteien, hat Herr Blüm gesagt. Das muß auch in diesem Fall gelten. Hier ist es dringend notwendig, die Ausbildungsordnungen zu modernisieren. Da darf die Bundesregierung nicht zusätzlich Hemmschuhe einbauen.Wesentlich für die Ausbildung im Handwerk ist auch das flächendeckende Netz der überbetrieblichen Ausbildungsstätten, die nicht Sie entwickelt oder erfunden haben, sondern die wir in den 70er Jahren zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der Union durchsetzen mußten.
Viele Handwerksbetriebe könnten heute überhaupt nicht mehr ausbilden, wenn es diese überbetrieblichen Ausbildungsstätten nicht gäbe. Dies nur für den Spickzettel von Herrn Stoltenberg, damit er11576 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1985Kuhlweinnicht wieder zu diesen Fragen wie zu anderen auch so viel Unsinn oder — ich weiß nicht, ob „Unsinn" parlamentarisch genug ist — schwer zu erklärende Unwahrheiten hier dem Hohen Haus mitteilt.
Wir haben in der Berufsbildungspolitik ein gut fundiertes Erbe hinterlassen, Frau Wilms.
Sie sind dabei, dieses Erbe zu verwirtschaften. Ihr Ministerium wird von Jahr zu Jahr bedeutungsloser. Die Zahl der Unversorgten, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, ist in den letzten Jahren ständig gestiegen. Wenn in diesem Jahr Hoffnung besteht, daß es einige tausend weniger sein werden — immer noch in der Größenordnung zwischen 50 000 und 100 000, je nachdem, wie man definiert —, die keinen Ausbildungsplatz bekommen werden, dann ist das schlimm genug, denn das sind 50 000 bis 100 000 junge Menschen, denen die Gesellschaft den von ihnen gewollten Einstieg in diese Gesellschaft verwehrt.
Selber etwas leisten könnte der Bund, Frau Wilms, beim Benachteiligten-Programm, das im übrigen sozialdemokratische Bildungsminister entwickelt haben, zum Teil gegen den Widerstand Ihrer Freunde, jedenfalls in den Ländern. In dieses Benachteiligten-Programm sind in den letzten Jahren Jahr für Jahr 5 000 junge Leute nicht hineingekommen, weil die Mittel nicht ausreichten. Deswegen korrigieren Sie doch bitte Ihre Erfolgsmeldungen! In diesem Jahr werden überhaupt nur 4 000 neu aufgenommen werden können, d. h. das Geld reicht nicht hinten und nicht vorne, um den gesamten Personenkreis, der für dieses Programm in Frage käme, auch wirklich in eine Ausbildung aufzunehmen.Dasselbe gilt übrigens für das Sonderprogramm für Mädchen und junge Frauen, das vor zwei Jahren aufgelegt wurde. Sie beklagen immer mit uns die besonderen Ausbildungsprobleme von Mädchen, aber Sie sind nicht bereit, eigene Anstrengungen zu unternehmen.Meine Damen und Herren, der Widerspruch zwischen der offiziell angekündigten Qualifizierungsoffensive und den Tatsachen im Haushalt des Bildungsministeriums ließe sich noch an vielen weiteren Beispielen deutlich machen, etwa bei den Mitteln für Modellversuche, bei den Mitteln für überbetriebliche Ausbildungsstätten, bei der Bildungsplanung, bei der Weiterbildung. Was nützt es, wenn in den Erläuterungen zum Haushalt und hier in der Debatte immer wieder der schnelle technologische, wirtschaftliche und soziale Wandel beschworen wird, der eine dynamische und praxisnahe Erstausbildung und Weiterbildung erforderlich mache, was nützt das, wenn die Ausgaben des Bundes dafür stagnieren bzw. zurückgefahren werden?Die Erkenntnis, daß gut ausgebildete Menschen das wichtigste Kapital unserer Volkswirtschaft sind, begrüßen wir. Das lasen wir früher bei Ihnen manchmal anders. Wir hoffen, daß Sie jetzt auch dem dümmlichen Gerede in Ihren Reihen von einer angeblich drohenden Überqualifizierung ein Ende machen. Wir hoffen auch, daß Sie mit der Qualifizierungsoffensive nicht nur Ihre sogenannten Hochbegabten meinen, sondern allen jungen Menschen eine Chance geben wollen. Wir hoffen schließlich vor allem, daß Sie dieser Erkenntnis auch bildungspolitische Taten folgen lassen.
Das gilt dann auch und vor allem für die Beratungen zum Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft.Meine Damen und Herren, ein letzter Satz zu den gesamten Haushaltsberatungen dieser Tage: Dieser Haushalt der Bundesregierung korrigiert weder den von Ihnen verantworteten Sozialabbau noch unternimmt er etwas Wirksames gegen die Arbeitslosigkeit. Uns als Sozialdemokraten bleibt nur die Schlußfolgerung: Dieser Haushalt ist ein weiterer Markstein auf dem Weg in die Ellenbogengesellschaft.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Die Vorlagen auf den Drucksachen 10/3700 und 10/3701 sollen gemäß dem interfraktionellen Vorschlag an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. — Es erhebt sich kein Widerspruch; ich danke Ihnen.
Damit sind wir am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch, den 11. September 1985, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.