Protokoll:
9136

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 9

  • date_rangeSitzungsnummer: 136

  • date_rangeDatum: 9. Dezember 1982

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:35 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 9/136 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 136. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 Inhalt: Eintritt der Abg. Frau Erler in den Deut- schen Bundestag 8367 A Verzicht des Abg. von Schoeler auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag . 8367 A Erweiterung der Tagesordnung 8367 B Zurücknahme eines Ordnungsrufes . . 8367 B Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Müntefering, Ewen, Dr. Linde, Antretter, Berschkeit, Börnsen, Dr. Diederich (Berlin), Fischer (Osthofen), Frau Dr. Hartenstein, Kolbow, Dr. Kübler, Frau Dr. Lepsius, Frau Dr. Martiny-Glotz, Meininghaus, Möhring, Müller (Schweinfurt), Neumann (Stelle), Schlatter, Schreiber (Solingen), Frau Steinhauer, Stiegler, Dr. Struck, Thüsing, Tietjen, Weinhofer, Dr. Feldmann, Dr. Haussmann, Funke, Frau Noth, Gattermann, Merker, Dr. Riemer, Bredehorn, Schmidt (Kempten), Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktionen der SPD und FDP Fremdenverkehr — Drucksachen 9/1781 (neu), 9/2082 - Müntefering SPD 8367 D Engelsberger CDU/CSU 8371 A Dr. Feldmann FDP 8373 C Heyenn SPD 8375 D Dr. Olderog CDU/CSU 8377 D Merker FDP 8380 D Stiegler SPD 8381 D Dr. Jobst CDU/CSU 8383 C Dr. Linde SPD 8385 C Wolfgramm (Göttingen) FDP 8387 A Grüner, Parl. Staatssekretär BMWi . . 8388 B Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Glombig, Kirschner, Egert, Ibrügger, Jaunich, Dr. Linde, Schmidt (Kempten), Cronenberg, Eimer (Fürth), Hölscher, Frau Dr. Adam-Schwaetzer und der Fraktionen der SPD und FDP Behindertenpolitik nach dem Internationalen Jahr der Behinderten 1981 — Drucksachen 9/1155, 9/1635 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" — Drucksache 9/2038 - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 9/2258 - Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit — Drucksache 9/2234 — Kirschner SPD 8390 A Dolata CDU/CSU 8391 D Neuhausen FDP 8394 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 8395 D II Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 Glombig SPD 8398 C Gilges SPD 8400 B Erste Beratung des von den Abgeordneten Rohde, Glombig, Lutz, Dreßler, Egert, Frau Fuchs, Ginnuttis, Heyenn, Kirschner, Frau Dr. Lepsius, Peter (Kassel), Rappe (Hildesheim), Schreiner, Frau Steinhauer, Stockleben, Urbaniak, Westphal, Weinhofer, von der Wiesche und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes — Drucksache 9/2196 — Lutz SPD 8401 D Dr. Graf Lambsdorff, Bundesminister BMWi 8403 D Günther CDU/CSU 8424 C Dreßler SPD 8426 D Kolb CDU/CSU 8429 A Cronenberg FDP 8430 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 8431 D Collet SPD 8433 C Beratung des Antrags der Abgeordneten Fischer (Osthofen), Dr. Emmerlich, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Gnädinger, Klein (Dieburg), Dr. Klejdzinski, Lambinus, Schmidt (München), Dr. Schöfberger, Dr. Schwenk (Stade), Stiegler, Dr. Ueberschär, Dr. Schmude, Dr. de With, Dr. Linde, Börnsen und der Fraktion der SPD Nichtigkeit der Entscheidungen der als „Volksgerichtshof" und „Sondergerichte" bezeichneten Werkzeuge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes — Drucksache 9/2244 — 8435 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes — Drucksache 9/1598 - Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit — Drucksache 9/2221 — in Verbindung mit Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Abgabe von Fütterungsarzneimitteln in der Gemeinschaft — Drucksachen 9/1349 Nr. 1, 9/2209 - Frau Dr. Adam-Schwaetzer FDP . . . . 8436 B Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Pfeifer, Daweke, Dr. Probst, Frau Dr. Wilms, Dr. George, Keller, Rossmanith, Frau Benedix-Engler, Frau Geiger, Nelle, Graf von Waldburg-Zeil, Frau Dr. Wisniewski, Austermann, Dr. Lammert, Lenzer, Frau Hürland, Gerstein, Dr. Laufs, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Waffenschmidt, Dr. Jobst, Dr. Pohlmeier, Dr. Schwörer, Schartz (Trier), Zierer, Kraus, Horstmeier, Müller (Wadern), Frau Dr. Hellwig, Kittelmann, Pohlmann, Dr. Möller, Ganz (St. Wendel), Kroll-Schlüter, Spilker, Sauter (Ichenhausen), Vogt, Müller (Wesseling), Dr. Bugl, Neuhaus, Frau Dr. Wex, Dr. Stavenhagen, Berger (Lahnstein), Dr. Olderog, Repnik, Rühe, Hinsken, Müller (Remscheid) und der Fraktion der CDU/CSU Ausbildungsplatzsituation — Drucksachen 9/1711, 9/1866 — in Verbindung mit Beratung der Berichts der Bundesregierung zum Stand der Beratungen sowie zum weiteren Verfahren der Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans — Drucksache 9/2012 — in Verbindung mit Beratung des Berichts der Bundesregierung zu den in der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 1. Oktober 1981 gestellten grundsätzlichen Fragen zur Berufsausbildung — Drucksache 9/1934 Frau Benedix-Engler CDU/CSU . . . 8437A Schätz SPD 8439 B Neuhausen FDP 8441 D Rossmanith CDU/CSU 8443 C Vogelsang SPD 8445 B Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMBW 8447 C Frau Weyel SPD 8451 D Austermann CDU/CSU 8453 D Frau von Braun-Stützer FDP 8455 C Kuhlwein SPD 8457 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundeskleingartengesetzes — Drucksache 9/1900 - Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — Drucksache 9/2232 - Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 III Magin CDU/CSU 8458 D Schreiber (Solingen) SPD 8461 A Frau Noth FDP 8463 B Zierer CDU/CSU 8464 C Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär BMBau . 8466A Müller (Schweinfurt) SPD 8467 B Beratung des Antrags der Abgeordneten Pfeifer, Daweke, Lenzer, Dr. Probst, Frau Dr. Wisniewski, Frau Benedix-Engler, Frau Geiger, Nelle, Rossmanith, Austermann, Graf von Waldburg-Zeil, Frau Dr. Wilms, Boroffka, Dr. Bugl, Engelsberger, Gerstein, Dr. Stavenhagen, Lagershausen, Maaß, Neuhaus, Prangenberg, Weirich, Rühe, Susset, Dr. Kunz (Weiden), Niegel, Weiß, Frau Roitzsch, Bühler (Bruchsal), Dr. Jobst, Lowack, Frau Verhülsdonk, Lattmann, Dr. Hennig, Dr.-Ing. Kansy, Clemens, Dallmeyer und der Fraktion der CDU/CSU Förderung der Drittmittelforschung im Rahmen der Grundlagenforschung — Drucksache 9/1936 — in Verbindung mit Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerstein, Dr. George, Lenzer, Pfeifer, Dr. Probst, Dr. Bugl, Engelsberger, Eymer (Lübeck), Dr. Hubrig, Maaß, Neuhaus, Prangenberg, Weirich, Dr. Riesenhuber, Dr. Stavenhagen, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Freiherr Spies von Büllesheim und der Fraktion der CDU/ CSU Neutrale Überprüfung des Programms „Humanisierung des Arbeitslebens" — Drucksachen 9/833, 9/2099 - Frau Dr. Wisniewski CDU/CSU 8469 B Auch SPD 8470 C Dr.-Ing. Laermann FDP 8473 C Dr. Probst, Parl. Staatssekretär BMFT 8475 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes — Drucksache 9/1493 - Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses - — Drucksache 9/2222 — Rapp (Göppingen) SPD 8476 C Spilker CDU/CSU 8477 D Dr. Feldmann FDP 8479 B Dr. Häfele, Parl. Staatssekretär BMF . 8480 C Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes — Drucksache 9/1829 - Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 9/2229 - Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 9/2228 - Stutzer CDU/CSU 8481 C Peter (Kassel) SPD 8482 C Dr. Zumpfort FDP 8484 A Vogt, Parl. Staatssekretär BMA 8485 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen zu dem Antrag der Abgeordneten Lorenz, Baron von Wrangel, Jäger (Wangen), Böhm (Melsungen), Graf Huyn, Werner, Schulze (Berlin), Lamers, Dr.-Ing. Oldenstädt, Dallmeyer, Lowack, Frau Geier, Dr. Hennig, Berger (Lahnstein), Sauer (Salzgitter), Dr. Kunz (Weiden), Dr. Hüsch, Dr. Todenhöfer, Dr. Köhler (Wolfsburg), Dr. Marx, Dr. Hornhues, Dr. Hupka, Rühe, Repnik, Dr. Mertes (Gerolstein), Lintner, Gerster (Mainz), Dr. Abelein, Straßmeir, Clemens, Dr. Arnold, Würzbach und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU Reiseverkehr aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland — Drucksachen 9/926, 9/1725 — Werner CDU/CSU 8486 D Frau Terborg SPD 8487 D Frau Fromm FDP 8490 A Dr. Hennig, Parl. Staatssekretär BMB . . 8491 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1981 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Republik Somalia über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen — Drucksache 9/2192 — 8492 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen vom 1. April 1982 zum Kooperationsabkommen vom 2. April 1980 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien sowie zum Abkommen vom 2. April 1980 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und IV Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 Stahl und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl einerseits und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien andererseits im Anschluß an den Beitritt der Republik Griechenland zu den Europäischen Gemeinschaften — Drucksache 9/2212 — 8493 A Beratung der Sammelübersicht 49 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 9/2136 — 8493 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Köhler (Wolfsburg), Pieroth, Frau Fischer, Herkenrath, Höffkes, Dr. Hornhues, Dr. Hüsch, Dr. Kunz (Weiden), Lamers, Dr. Pinger, Dr. Pohlmeier, Repnik, Schmöle, Schröder (Lüneburg) und der Fraktion der CDU/CSU Verstärkung der personellen Hilfe im Konzept der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland — Drucksachen 9/423, 9/2220 — . . . . 8493 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3164/76 über das Gemeinschaftskontingent für den Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und der Verordnung (EWG) Nr. 2964/79 — Drucksachen 9/2009 Nr. 7, 9/2210 — . 8493 C Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung des Rates über die Preisbildung im Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten — Drucksachen 9/2036 Nr. 16, 9/2211 — . 8493C Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über ein begrenztes Vorgehen auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur — Drucksachen 9/1950 Nr. 55, 9/2214 — . 8493 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Erleichterung der Fomalitäten und Kontrollen im Güterverkehr zwischen den Mitgliedstaaten — Drucksachen 9/1686 Nr. 15, 9/2225 — . 8493 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Anwendung der Verordnung (EWG, EURATOM, EGKS) Nr. 2891/ 77 des Rates vom 19. Dezember 1977 zur Durchführung des Beschlusses vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften Vorschlag für eine Verordnung (EWG, EURATOM, EGKS) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG, EURATOM, EGKS) Nr. 2891/77 zur Durchführung des Beschlusses vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften — Drucksachen 9/1964 Nr. 16, 9/2208 — . 8493 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag eines Beschlusses des Rates zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des Neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen zur Investitionsförderung in der Gemeinschaft aufzunehmen — Drucksachen 9/2102 Nr. 9, 9/2224 — . 8494A Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorlage der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Politik der industriellen Innovation - Leitlinien für eine Gemeinschaftsstrategie — Drucksachen 9/1156, 9/2177 — . . . . 8494 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der aufhebbaren Zweiundfünfzigsten Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung — Drucksachen 9/1938, 9/2181 — . . . . 8494C Fragestunde — Drucksache 9/2226 vom 3. Dezember 1982 — Zinssenkungen des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank 1982 MdlAnfr 67, 68 03.12.82 Drs 09/2226 Müntefering SPD Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 V Antw PStSekr Dr. Voss BMF . . . . 8407 B,C,D, 8408 A, B, C ZusFr Müntefering SPD . . . . 8407C, 8408B,C ZusFr Wolfram (Recklinghausen) SPD . 8407 C ZusFr Dr. Jens SPD 8407 D ZusFr Schlatter SPD 8408 A Gesamtwirtschaftliche Vorgaben für die Steuerschätzungen vom Juni und Oktober 1982 MdlAnfr 103, 104 03.12.82 Drs 09/2226 Purps SPD Antw PStSekr Dr. Voss BMF . 8408 C, D, 8409A,B ZusFr Purps SPD 8409A, B ZusFr Schlatter SPD 8409 B Nebentätigkeiten, insbesondere Lehrverpflichtungen, des Chefs des Bundeskanzleramtes und eines Abteilungsleiters MdlAnfr 1, 2 03.12.82 Drs 09/2226 Schäfer (Offenburg) SPD Antw StMin Dr. Jenninger BK 8409 C, D, 8410A,B ZusFr Schäfer (Offenburg) SPD 8409C, 8410A,B Anwendung des Art. 66 GG auf alle Mitglieder der Bundesregierung MdlAnfr 3 03.12.82 Drs 09/2226 Scheer SPD Antw StMin Dr. Jenninger BK . . . 8410 B,C,D, 8411 A, C, D, 8412 A, B, C, D, 8413A,B ZusFr Dr. Scheer SPD 8410 C ZusFr Roth SPD 8410 D ZusFr Frau Hürland CDU/CSU 8411A ZusFr Horn SPD 8411A ZusFr Frau Dr. Hamm-Brücher FDP . 8411 B ZusFr Jungmann SPD 8411C ZusFr Dr. Penner SPD 8411 D ZusFr Collet SPD 8411 D ZusFr Herberholz SPD 8412A ZusFr Immer (Altenkirchen) SPD . . . 8412 B ZusFr Kleinert FDP 8412C ZusFr Gansel SPD 8412 D ZusFr Dr. Soell SPD 8413A ZusFr Schlatter SPD 8413A ZusFr Graf Stauffenberg CDU/CSU . . 8413 B Interessenkonflikt des Regierungsprechers Diether Stolze durch die Mitgliedschaft im ZDF-Fernsehrat und die persönliche Haftung gegenüber der Nerka-Media GmbH MdlAnfr 4, 5 03.12.82 Drs 09/2226 Paterna SPD Antw StMin Dr. Jenninger BK . . . . 8413C,D, 8414 A, B, C, D ZusFr Paterna SPD 8413C,D, 8414 A, B ZusFr Dr. Hirsch FDP 8414 B ZusFr Haase (Fürth) SPD 8414C ZusFr Dr. Scheer SPD 8414 D Stil der Antwort des Bundeskanzleramts auf den Brief einer Nürnberger Schülerin an den Bundeskanzler MdlAnfr 6, 7 03.12.82 Drs 09/2226 Wolfram (Recklinghausen) SPD Antw StMin Dr. Jenninger BK 8414D, 8415A, B, C ZusFr Wolfram (Recklinghausen) SPD 8415A ZusFr Broll CDU/CSU 8415B ZusFr Catenhusen SPD 8415B ZusFr Jäger (Wangen) CDU/CSU . . . 8415C Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministers im Ermittlungsverfahren gegen Friedrich MdlAnfr 84 03.12.82 Drs 09/2226 Gansel SPD Antw StMin Dr. Jenninger BK 8415D, 8416 B,C,D, 8417 A ZusFr Gansel SPD 8416A,B ZusFr Schlatter SPD 8416C ZusFr Jungmann SPD 8416D ZusFr Kleinert FDP 8416 D ZusFr Catenhusen SPD 8417A Auswirkungen des Einsatzes der „Cap Anamur" auf die Zahl der vietnamesischen Flüchtlinge MdlAnfr 8 03.12.82 Drs 09/2226 Neumann (Bramsche) SPD Antw StMin Möllemann AA 8417 B,C ZusFr Neumann (Bramsche) SPD . . . 8417C ZusFr Oostergetelo SPD 8417 C Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge durch die Staaten der EG MdlAnfr 11 03.12.82 Drs 09/2226 Thüsing SPD Antw StMin Möllemann AA . 8417D, 8418 A, B, C ZusFr Thüsing SPD 8418A,B ZusFr Neumann (Bramsche) SPD . . . 8418B ZusFr Oostergetelo SPD 8418C Festnahme des in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ibrahim Fares durch israelische Behörden auf einer Urlaubsreise nach Beirut MdlAnfr 12 03.12.82 Drs 09/2226 Pauli SPD Antw StMin Möllemann AA . . 8418D, 8419A,B VI Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 ZusFr Pauli SPD 8419A ZusFr Neumann (Bramsche) SPD . . . 8419A ZusFr Herberholz SPD 8419 B Unterstützung der Genfer Verhandlungen über den NATO-Doppelbeschluß sowie Verbesserung des Informationsflusses nach außen MdlAnfr 13, 14 03.12.82 Drs 09/2226 Collet SPD Antw .StMin Möllemann AA 8419 C, D, 8420 A, B, C, D, 8421 A, B, C, D, 8422 A, B, C, D, 8423 A, B, C, D, 8424 A ZusFr Collet SPD 8419D, 8420A, 8422A, 8423 C ZusFr Jungmann SPD 8420B, 8423 A ZusFr Frau Erler SPD 8420 C ZusFr Dr. von Bülow SPD . . . . 8420D, 8422 C ZusFr Dr. Soell SPD 8420D, 8422 D ZusFr Broll CDU/CSU 8421A ZusFr Catenhusen SPD 8421 B ZusFr Schreiner SPD 8421 D ZusFr Oostergetelo SPD 8423 A ZusFr Bindig SPD 8423 B ZusFr Dr. Penner SPD 8423 D Verfolgung der Baha'i im Iran MdlAnfr 15 03.12.82 Drs 09/2226 Schmitt (Wiesbaden) SPD Antw StMin Möllemann AA . . . . 8424 A, B, C ZusFr Schmitt (Wiesbaden) SPD . . . 8424 B,C Nächste Sitzung 8494 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 8495* A Anlage 2 Schriftliche Erklärung des Abgeordenten Wartenberg (Berlin) (SPD) gemäß § 31 Abs. 1 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Bundeskleingartengesetzes . 8495* B 136. Sitzung Bonn, den 9. Dezember 1982 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Daweke 10. 12. Dr. Enders * 10. 12. Funk (Gutenzell) 9. 12. Dr. von Geldern 10. 12. Dr. Götz 9. 12. Junghans 10. 12. Dr. Klejdzinski 10. 12. Lampersbach 10. 12. Löffler 10. 12. Dr. Marx 10. 12. Dr. Meyer zu Bentrup 10. 12. Mischnick 10. 12. Dr. Mitzscherling 9. 12. Dr. Müller* 10. 12. Müller (Bayreuth) 10. 12. Frau Pack * 10. 12. Rösch * 10. 12. Frau Roitzsch 10. 12. Schlaga 10. 12. Schmöle 10. 12. Freiherr von Schorlemer 9. 12. Dr. Solms 10. 12. Weiskirch 10. 12. Wissmann 10. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Schriftliche Erklärung des Abgeordneten Wartenberg (Berlin) (SPD) gemäß § 31 Abs. 1 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Bundeskleingartengesetzes: Auch namens der Berliner SPD-Bundestagsabgeordneten gebe ich folgende Erklärung zu Protokoll: Anlagen zum Stenographischen Bericht Die Berliner SPD-Bundestagsabgeordneten begrüßen das neue Bundeskleingartengesetz und glauben, daß auf der Grundlage des Bundesverfassungsgerichtsurteils das Kleingartenrecht in vernünftiger Weise neu gestaltet worden ist. Wir stellen aber fest, daß dieses Bundeskleingartenrecht insbesondere für Berlin einige unübersehbare Schwächen enthält. Kleingärten haben in Berlin eine andere Bedeutung als im übrigen Bundesgebiet. Die Ausgleichs- und Erholungsfunktionen der Kleingärten sind in der eingemauerten Stadt Berlin weitaus höher zu bewerten. Ersatzland kann bei Kündigungen von Kleingärten kaum bereitgestellt werden. Deswegen sind wir aus Berliner Sicht mit den Entschädigungs- und Kündigungsregelungen, wie sie in dem Gesetz vorgesehen sind, nicht einverstanden. Wir glauben auch, daß eine angemessene Entschädigung gezahlt werden sollte, wenn der Pachtvertrag ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist aus besonderen Gründen gekündigt wird. Wegen der besonderen Schwierigkeit, Ersatzland bereitzustellen, hätten wir gewünscht, daß die Übergangsfrist, die nur bis zum 31. März 1987 reicht, bis zum 31. Dezember 1990 verlängert worden wäre. Wir begrüßen, daß in das Gesetz die Berliner Laubengröße von 24 Quadratmetern Eingang gefunden hat, nachdem ursprünglich eine geringere Laubengröße vorgesehen war. Insofern ist ein Berliner Forderungspunkt erfüllt worden. Die anderen Punkte sind nicht in das Gesetz eingearbeitet worden. Da das Berliner Abgeordnetenhaus in einem einstimmigen Beschluß die Forderungen des Berliner Landesverbandes der Gartenfreunde unterstützt hat, sehen wir uns als Berliner SPD-Abgeordnete nicht in der Lage, unter diesen Bedingungen der Verabschiedung des Gesetzes zuzustimmen. Wir hoffen, daß das Land Berlin über den Bundesrat noch Verbesserungen im Sinne der Berliner Gartenfreunde durchsetzen kann.
Gesamtes Protokol
Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913600000
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich folgende amtliche Mitteilungen zu machen.
Erstens. Als Nachfolgerin für den ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Böhme (Freiburg) hat am i. Dezember 1982 die Abgeordnete Frau Erler die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die uns bereits bekannte Kollegin sehr herzlich und wünsche ihr eine erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.

(Beifall)

Zweitens. Der Abgeordnete von Schoeler hat am 8. Dezember 1982 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet.
Drittens. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung am Freitag um die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen - Drucksache 9/2248 — erweitert werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, in der gestrigen Fragestunde habe ich den Kollegen Lambinus im Zusammenhang mit einem Zwischenruf zur Ordnung gerufen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Zu Recht!)

Nun hat mir der Herr Kollege Lambinus in launiger Art eine Deutung seines Zwischenrufs übermittelt, wonach man meinen müßte, ihm sei bitteres Unrecht geschehen; denn der bloße Wortlaut eines Zwischenrufs an den Redner „Sie sind doch ein Witzbold" kann natürlich, wenn man den Ton wegnimmt, als launige Bemerkung aufgefaßt werden. Ich hoffe aber, daß dieser Zwischenruf nicht zu einem festen Bestandteil der Zwischenrufe im Bundestag wird, und weil ich diese Hoffnung habe, nehme ich den Ordnungsruf zurück.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Müntefering, Ewen, Dr. Linde, Antretter, Berschkeit, Börnsen, Dr. Diederich (Berlin), Fischer (Osthofen), Frau Dr. Harten-
stein, Kolbow, Dr. Kübler, Frau Dr. Lepsius, Frau Dr. Martiny-Glotz, Meininghaus, Möhring, Müller (Schweinfurt), Neumann (Stelle), Schlatter, Schreiber (Solingen), Frau Steinhauer, Stiegler, Dr. Struck, Thüsing, Tietjen, Weinhofer, Dr. Feldmann, Dr. Haussmann, Funke, Frau Noth, Gattermann, Merker, Dr. Riemer, Bredehorn, Schmidt (Kempten), Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktionen der SPD und FDP
Fremdenverkehr
— Drucksachen 9/1781 (neu), 9/2082 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Das Wort zur Aussprache hat der Herr Abgeordnete Engelsberger.

(Widerspruch bei der SPD)

— Einen Moment, Herr Abgeordneter Engelsberger! Mir liegt ein Vermerk vor, auf dem steht: Nr. 1 Abg. Engelsberger, Nr. 2 Abg. Müntefering.

(Dr. Linde [SPD]: Die Große Anfrage ist von uns, und damit fangen traditionell wir an!)

— Herr Abgeordneter Engelsberger, ich bitte um Entschuldigung. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müntefering.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID0913600100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Engelsberger, wir kommen heute morgen alle dran!

(Tillmann [CDU/CSU]: Sauerland vor BaySauerland vor Bayern; lassen Sie uns da zusammenstehen, Herr Tillmann. Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung in Sachen Fremdenverkehr ist auch ein Dokument des Wohlstandes in unserem Land. Welche Zahlenreihe und welche Hinweise in der Antwort der Bundesregierung man auch ansieht, die Zahl der Urlaubsreisen, die Ausgaben für Urlaub, die Ferienangebote, alles ist über viele Jahre 8368 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 Müntefering kontinuierlich angestiegen. Die Bundesbürger haben die Spitzenstellung im internationalen Tourismus. Die Qualität unserer Fremdenverkehrsinfrastruktur ist verbessert worden. 1970 nahmen 37 von 100 Bundesbürgern aktiv am Urlaub teil; 1980/81 sind es fast 50 % gewesen. Dieser Aspekt der Anfrage und der Antwort auf die Große Anfrage überrascht nicht. Ich erwähne ihn trotzdem, weil er in so deutlichem Kontrast zu den Parolen derer in der neuen Koalition steht, die über die letzten 13 Jahre so wie über eine Notstandszeit reden und die jetzt tönen, unser Land wieder in Ordnung bringen zu wollen. Was den Urlaub angeht, darf ich fragen: in welche Ordnung denn? Wohlstand und Freizeit haben im letzten Jahrzehnt zugenommen. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich der Urlaub des Bundesbürgers um durchschnittlich eine Woche verlängert. Die 40Stunden-Woche ist heute für 95 % aller Arbeitnehmer als regelmäßige Arbeitszeit vereinbart. 1960 betrug die Jahresarbeitszeit durchschnittlich 2154 Stunden, 1980 waren daraus rund 1750 Stunden geworden. Das ist gut so. — Denn in der Bibel steht nicht geschrieben, daß wir im Schweiße unseres Angesichts in möglichst vielen Stunden das Brot verdienen sollen. Es dürfen auch weniger sein. Dieses Streben nach Arbeitszeitverkürzung hat gute Tradition im Denken und im Handeln der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratischen Partei. Daß Müßiggang der Anfang allen Lasters sei, ist nur ein mit gutem Geschick verbreitetes Wort derer, die Zeit haben, sich solche Sprüche auszudenken. Nun ist Nicht-Arbeitszeit noch nicht automatisch Freizeit. Lange Wege — Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeit und Wohnung und Schule und Wohnung und Einkaufen spielten in unseren Planungen der vergangenen Jahre ja keine Rolle mehr —. Lange Wege und Wartefristen fressen also viel freie Zeit auf, und der immer größer werdende Leistungsdruck in immer weniger Arbeitsstunden erfordert längere und nicht kürzere Zeiten für die Regeneration. Trotzdem hat Freizeit, wirklich freie Zeit, zugenommen und wird weiter zunehmen. Das ist auch eine Herausforderung an die Politik. Dabei verstehen wir Sozialdemokraten Freizeitpolitik nicht als Flucht in unverbindliche Gefilde, nicht als Ersatz für aktive Beschäftigungspolitik, nicht als Ersatz für die Humanisierung der Arbeitswelt und nicht als Ersatz für eine menschenfreundliche Wohnumwelt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ein Arbeitsplatz, eine humane Arbeitswelt und eine menschengerechte Stadtentwicklung sind die Voraussetzungen für eine menschenwürdige Freizeit. Arbeit und Freizeit gehören zusammen. Fremdenverkehr, Urlaub, Tourismus sind ein Teil dieser Freizeit. Rund 50 %Yo der Bundesbürger machten in den vergangenen Jahren mindestens eine Urlaubsreise pro Jahr, die länger als vier Tage dauerte, Naherholung und Kurzurlaub nicht mitgerechnet. Dieses kann sich allerdings bald ändern, wenn die neue Regierung mit ihrer Kaufkraftschöpfung und ihrer Umverteilung von unten nach oben so weitermacht, wie sie es angekündigt hat. Die Dampfwalze rollt. Wenn nicht alles täuscht, wird in dieser und in der nächsten Woche all das beschlossen, was von der neuen Bundesregierung angedroht worden ist. Man geht auf die guten Argumente, die von unserer Seite vorgetragen werden, nicht ein. Man muß nur wissen: Wer Mehrwertsteuer, Mieten, Grunderwerbsteuer und Versicherungsbeiträge erhöht, gleichzeitig BAföG streicht, gleichzeitig Wohngeld, Kindergeld, Renten, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld kürzt (Dr. Schwörer [CDU/CSU]: Alles wegen Ihrer Schulden!)


(Zurufe von der CDU/CSU)


(Zurufe von der CDU/CSU)

und gleichzeitig für eine halbjährige Lohnpause eintritt, der minimiert auch die Urlaubsetats der privaten Haushalte und der sorgt dafür, daß der Schichtarbeiter, die Verkäuferin im Kaufhof, der Postbeamte am Schalter und ihre Familien in den nächsten Jahren möglicherweise nicht mehr wie bisher am Urlaub teilnehmen können.

(Dr. Schwörer [CDU/CSU]: 31 Milliarden DM Zinsen!)

Man muß befürchten: Auch im Freizeitbereich werden durch die Regierung Kohl/Genscher die Grenzen zwischen oben und unten wieder deutlicher, man wird — und will vielleicht auch — in der neuen alten Ordnung wieder unter sich sein, auch im Urlaub.

(Dr. Schwörer [CDU/CSU]: Dummes Geschwätz!)

Zwei Gruppen haben schon in den vergangenen Jahren nur unterdurchschnittlich am Urlaubsleben teilgenommen: Familien mit drei und mehr Kindern und Alleinerziehende. Das hat mehrere Gründe. Ein Grund ist, daß noch immer nicht überall in unserem Lande die Kinder in Ferieneinrichtungen gern gesehen sind und daß überhaupt die bedarfsgerechten Ferienangebote für Familien und besonders für die genannten Gruppen nicht ausreichen. Das läßt sich mit gutem Willen und gezielter Politik ändern. Wenn wir die Kinder so akzeptieren - auch im Urlaub —, wie sie sind, wenn sich Kinderfreundlichkeit nicht auf Kinderbett und Kinderteller reduziert, wenn alle helfen, eine ausreichende Zahl von Urlaubsplätzen in Ferienwohnungen, auf Campingplätzen und auf Bauernhöfen zu sichern und zu schaffen, die sich als besonders familienfreundlich erwiesen haben, wenn die Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", die speziell für Fremdenverkehrsförderung vorgesehen sind, vorrangig für familienfreundliche Einrichtungen eingesetzt werden, wenn in einem Wettbewerb modellhaft besonders familienfreundliche Ferienangebote — es gibt sie j a — herausgestellt und prämiert werden, so sind dies alles hilfreiche Schritte. Die SPD unterstützt eine Politik, die in diese Richtung geht. Es wäre, weil die Familienfreundlichkeit des Urlaubs ein so wichtiges Motiv in unserer Politik ist, sicher auch begrüßenswert — ich unterstelle das der Ko-
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Müntefering
alition ja auch —, wenn der Familienminister sich auch für diese Sache stärker interessieren würde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Er hat dafür mehr übrig als Sie!)

Vielleicht ist ja nach dem 6. März 1983 jemand Familienminister, der ein bißchen mehr Zeit hat, als der gegenwärtige Familienminister, sich um diese Dinge zu kümmern.

(Beifall bei der SPD)

Bei dieser Gelegenheit möchten wir unsere Anerkennung all denen aussprechen, die sich schon bisher besonders für Familienferien engagieren. Ich nenne z. B. die Wohlfahrtsverbände, die sich sehr verdient gemacht haben, oder das Deutsche Jugendherbergswerk, das seinen Mitgliedern jetzt Familienferien in Jugendherbergen anbietet.
Zur familienfreundlichen Ferienpolitik und Fremdenverkehrspolitik gehört auch, die Umwandlung von Ferienwohnungen in Zweitwohnungen zu stoppen. Wir sind dagegen, daß Gutverdienende sich durch solche Umwandlungen an den schönsten Stellen in unserem Lande ihre Wohlstandsnischen einrichten dürfen und damit bisherige Angebote für Familienferien verringern und verteuern. Außerdem belasten diese Umwandlungen die Infrastruktur der betroffenen Orte; denn sie können ja an Zweitwohnungen, bei denen die meiste Zeit im Jahr die Jalousien herunter sind, bekanntlich wenig verdienen. Der Appell, hier etwas zu tun, kommt ja auch von den Kommunalpolitikern, auch von solchen, die der Koalition angehören, wie ich hier ausdrücklich sagen will. Wir Sozialdemokraten waren und sind dafür, den Gemeinden mit einem Genehmigungsvorbehalt ein Instrument an die Hand zu geben, mit dem sie solche Umwandlungen nötigenfalls stoppen können. Die neue Regierung hat gestoppt — aber leider den Gesetzentwurf, der dieses Instrument schaffen sollte. Das ist nicht familienfreundlich. Das ist auch nicht gemeindefreundlich. In der Antwort auf die Große Anfrage ist der Tenor zu diesem Thema allerdings moderater. Wir hoffen, es bleibt nicht nur bei schönen Worten, denn die Gemeinden brauchen schnell die Hilfe des Gesetzgebers um sich gegen diese Umwandlungsflut wehren zu können.

(Beifall bei der SPD)

Der deutsche Fremdenverkehr hat aber nicht nur mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Er hat auch gute Chancen und erfreuliche Perspektiven. Zu Pessimismus besteht kein Anlaß. Stärker als bisher wird bei Urlaubsentscheidungen der Preis eine Rolle spielen. In dieser Hinsicht hat der deutsche Fremdenverkehr einiges zu bieten. Wir halten es deshalb für richtig und wichtig, deutlicher und gezielter als bisher mit der Preisgünstigkeit und der Vielfalt des Angebots zu werben. Der Preis wird in den nächsten Jahren wichtiger sein als Glanzdruckprospekte. Preis und Vielfalt sind Trümpfe, die bisher noch nicht ausgereizt sind. Die Politik kann allerdings nur appellieren. Geleistet werden muß diese noch einfallsreichere Ansprache der Urlauber von den Fremdenverkehrsverbänden und der Branche selbst. Mit Warten auf Selbstläufereffekte ist es nicht getan. Das gilt für den Deutschen Fremdenverkehrsverband, das gilt für die Arbeit vor Ort. Wir sind sicher, daß Einrichtungen wie das Deutsche Seminar für Fremdenverkehr, an dessen Zustandekommen die Bundesregierungen in den vergangenen Jahren großen Anteil gehabt haben, hilfreich sind bei der Erfüllung der Aufgabe, die Fachleute vor Ort — die sich schon bisher als qualifiziert gezeigt haben — weiter zu fördern und sie so bei ihrer sicher nicht leichten Aufgabe in den nächsten Jahren wirkungsvoll zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, kürzlich sind aus Baden-Württemberg Appelle lautgeworden, aus grundsätzlichen Erwägungen — sozusagen demonstrativ — keinen Urlaub im Ausland zu machen, sondern den Urlaub im Inland zu verbringen. Wir Sozialdemokraten identifizieren uns ausdrücklich nicht mit dieser besonderen Art von Späth-Patriotismus mit protektionistischem Einschlag. Es gibt keinen Grund, Auslandsurlauber unter moralischen Druck zu stellen. Wir wollen das jedenfalls nicht. Aber es gibt gute Gründe, mit den Vorzügen unserer Urlaubsangebote für den Inlandsurlaub zu werben und zu überzeugen. Das hat j a auch etwas mit Marktwirtschaft zu tun.

(Beifall bei der SPD)

Das muß ich denen einmal sagen, die jetzt auf einmal Ideen des Protektionismus verbreiten. Wir haben uns in den ganzen vergangenen Jahren dagegen gewehrt, daß in den Ländern rund um uns herum so etwas wie Protektionismus auftauchte, auch was Urlaubsreisen angeht. Wir sollten jetzt nicht diesen schlechten Beispielen folgen, auch nicht Herr Späth. Die Bundesbürger sollen reisen können, wohin sie wollen. Das ist gar keine Frage.
Dieses Werben für Urlaub in Deutschland bleibt unverändert auch im Ausland erforderlich. Die Deutsche Zentrale für Tourismus leistet da seit Jahren, oft im Zusammenwirken mit unseren Fremdenverkehrsverbänden und der Fremdenverkehrswirtschaft, erfolgreiche Arbeit. Die Ausgaben von Auslandsurlaubern in der Bundesrepublik sind von 4,9 Milliarden in 1970 auf 11,9 Milliarden in 1980 gestiegen. Das hat mehrere Gründe. Aber ohne DZT wäre das so nicht möglich gewesen, besonders was die überaus positive Entwicklung im Städtetourismus angeht. Und das Potential im Ausland ist keineswegs erschöpft.
Wir begrüßen es deshalb sehr, daß im gemeinsamen Entschließungsantrag der drei Fraktionen, der j a heute vorliegt, zur Auslandswerbung weiterführende Perspektiven formuliert werden konnten. Wenn es uns gelingt, die Arbeit der DZT im Ausland im Zusammenwirken mit dem deutschen Fremdenverkehr auszuweiten, hin zu der Funktion eines Verkäufers von Angeboten, dann wäre das sicher eine große Hilfe in den nächsten Jahren für das, was unser Fremdenverkehr zu bieten hat.
Dieser Kampf um Urlauber, dieses Werben um Urlauber zeigt die große Bedeutung, die der Fremdenverkehr als nationaler und als internationaler Wirtschaftsfaktor gewonnen hat. In unserem Land finden durch den Fremdenverkehr mehr Menschen
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Müntefering
Arbeit und Einkommen als in der Autoindustrie: rund 1,5 Millionen. Diese Arbeitsplätze wollen wir stabil halten helfen.
Fremdenverkehr ist eine raumordnerische Aufgabe. Er hat die Qualität einer standortabhängigen Industrie. Er ist keine Küraufgabe, die man bei Gegenwind vernachlässigen darf. Gemeinden und ganze Regionen leben in hohem Maß von ihm. Deshalb müssen u. a. die Ungereimtheiten des Beherbergungsstatistikgesetzes ausgebügelt werden, die zu Lasten der Orte mit kleinen Beherbergungsbetrieben gehen.

(Beifall bei der SPD)

Wir sehen in der Antwort der Bundesregierung einen positiven Ansatz und sind gern bereit, das zusammen mit den anderen Fraktionen dieses Hauses so schnell wie möglich in gesetzgeberischer Weise aufzunehmen.
Besondere Sorgen haben zur Zeit die Kurorte. Darauf wird mein Kollege Heyenn sogleich ausführlich und ausdrücklich eingehen. Ich will nur sagen: Wir sollten das, was in den Kurorten in diesem Jahr geschieht und was sich offensichtlich fortsetzt, als Warnung nehmen, nicht an der einen Stelle zu sparen — mit dem Ergebnis, daß in Wirklichkeit Arbeitsplätze und Infrastrukturen kaputtgehen und uns das Ganze vielleicht sozial und auch volkswirtschaftlich mehr kostet, als überhaupt gespart wird.

(Beifall bei der SPD)

Aber der Kollege Heyenn wird noch ausführlich erläutern, wie unsere Position dazu aussieht.
Ein Eckpfeiler des deutschen Fremdenverkehrs ist das Hotel- und Gaststättengewerbe, zu dessen Situation in der Großen Anfrage eine ganze Reihe von Fragen enthalten ist. Die Leistungsfähigkeit unserer Hotels und Gaststätten ist gut, auch im Vergleich mit anderen Ländern. Sie zeugt von der Flexibilität dieser mittelständischen Unternehmer, die sich überwiegend mit großem Geschick und Fleiß auf die Bedürfnisse ihrer Gäste einzustellen vermögen und dies auch tun.
Die Branche hat aber auch Sorgen, z. B. wegen der relativ großen Zahl von Pleiten und Aufgaben in ihrem Bereich. Sie fordert einen Befähigungsnachweis, einen Beweis von Sach- und Fachkunde.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort dagegen ausgesprochen. Sie hat statt dessen auf die von ihr mitgeförderten Informationen für potentielle Existenzgründer in diesem Gewerbe verwiesen. Sicher, das wird helfen, Risiken und Erfolgsaussichten besser einzuschätzen. Trotzdem scheint es wünschenswert, daß Interessenten vor Erteilung der Betreibererlaubnis noch besser auf ihre Aufgaben vorbereitet sind und daß sie sich nicht in Abenteuer stürzen, indem sie das Gastgewerbe mit einer Goldgrube und Umsatz mit Gewinn verwechseln. Die Konsequenzen für alle Betroffenen sind ärgerlich. Wenn der gemütliche „Dorfkrug", wenn das leistungsfähige Speiserestaurant oder das bedarfsgerechte Hotel fehlen, ist der Lack von manchem Urlaubs- und Ferienort bald ab. Das kann keiner wollen.
Noch vor einem Jahr hatten wir Sozialdemokraten Arger mit Verbandsfunktionären, weil wir uns weigerten, daß Saisonarbeiter für die Ferienzeit „importiert" und nach getaner Arbeit wieder abgeschoben werden. Inzwischen ist es da ruhiger geworden. Das Problem löst sich offensichtlich von selbst, wie wir immer behauptet haben.
Ruhiger geworden ist es auch um die Forderung einiger CDU/CSU-Kollegen aus vergangenen Jahren, die Mehrwertsteuer für das Hotel- und Gaststättengewerbe zu halbieren. Wir haben diese Forderung nie mitgemacht und werden das auch in unserer Rolle als Opposition nicht tun. Von der neuen Regierung hört man dazu natürlich auch nichts mehr. Es geht übrigens um über 1 Milliarde DM jährlich. Und niemand könnte garantieren, daß eine solche Entlastung an die Kunden weitergegeben würde. — Man soll eben, wenn man Opposition ist, nicht Dinge versprechen, die man ersichtlich nicht wird halten können.

(Beifall bei der SPD)

Ein anderer Eckpfeiler des deutschen Fremdenverkehrs ist die Natur. Natur ist gewissermaßen der Rohstoff unserer Erholungsorte. Wer sie zerstört, entzieht dem Fremdenverkehr um kurzfristiger kommerzieller Vorteile wegen mittel- und langfristig die Basis. Es gibt gute und es gibt schlechte Beispiele für den Umgang mit der Natur im Bereich Fremdenverkehr. Wenn man aber aufmerksam und ehrlich ist, muß man zwischen Küste, Mittelgebirge und Alpen schon manche Einrichtung, schon einige Gemeinden als in diesem Sinne gefährdet ansehen. Die Gedankenlosigkeit, mit der mancherorts die Natur auf DIN-Format gebracht und der Charme unserer Dörfer überschminkt wird, muß aufhören.
Wenn wir diesen teilweisen Interessenkonflikt zwischen Fremdenverkehr und Naturschutz bestehen wollen, brauchen wir vor allem Sensibilität vor Ort. Wir brauchen aber auch eine gemeinsame Strategie von Bund und Ländern zur Sicherung der natürlichen Vorzüge unserer Landschaft. In der Antwort der Bundesregierung gibt es Andeutungen in dieser Richtung. Wir halten es für dringend erforderlich, hier voranzumachen und nicht länger zuzuwarten. Dabei müssen wir sorgfältig darauf achten, daß nicht zum Schaden unseres Fremdenverkehrs Panikmache ausbricht. Das wäre sachlich nicht gerechtfertigt. Aber es gilt, hier aufzupassen und da, wo nötig, Pflöcke zu setzen gegen den unnötigen Raubbau an der Natur.
Zum Schluß ein kurzes offenes Wort an die Verantwortlichen im Deutschen Fremdenverkehrsverband: Wir begrüßen die Konsolidierungsphase beim Deutschen Fremdenverkehrsverband, die — nach Monaten des Schleuderkurses — offensichtlich eingeläutet worden ist. Wir hoffen auf neue Impulse für den deutschen Fremdenverkehr von dieser Seite; denn die Politik kann, bei allem guten Willen, nur Rahmenbedingungen setzen helfen. Der Fremdenverkehr, die Urlauber und die Erholungsorte selbst brauchen dringend und besonders in dieser
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8371
Müntefering
I sicher nicht leichten Zeit der nächsten Jahre einen aktiven Deutschen Fremdenverkehrsverband. Wir hoffen darauf und sind bereit, ihn in seiner Arbeit zu unterstützen.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913600200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelsberger.

Matthias Engelsberger (CSU):
Rede ID: ID0913600300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, ich bin dankbar dafür, daß der Kollege Müntefering das Wort vor einem Redner der CDU/CSU ergriffen hat. Ich hatte mir vorgestellt, daß bei einem so sachbezogenen Thema, wie es das der Fremdenverkehrspolitik ist, nicht im Hinblick auf den 6. März polemisiert werden würde, Herr Müntefering.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin auch darüber enttäuscht, daß Sie einen gemeinsamen Entschließungsantrag der drei Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP hier im Deutschen Bundestag mit eingebracht, aber dann, abweichend davon, neue Gesichtspunkte in diese Debatte eingeführt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Müntefering es ist einfach unglaubwürdig, wenn Sie in Ihrer Presseerklärung beklagen, daß der Zustand, daß die Ausgaben für den Fremdenverkehr reduziert werden müssen, der neuen Regierung zuzuschreiben wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Die Politik der letzten 13 Jahre und die Mißwirtschaft sind dafür verantwortlich, daß sich die Leute jetzt im Urlaub weniger leisten können.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

— Ich weiß nicht, was es hier zu lachen gibt.
Meine Damen und Herren, ich muß auch gleich sagen: Die Forderung, daß die Selbstbeteiligung bei den Kosten für Kuren wieder abgeschafft werden solle, ist unsolide, haben doch gerade Sie im letzten halben Jahr unter der Führung eines SPD-Bundeskanzlers dieses hier im Deutschen Bundestag beschlossen. Und kaum sind Sie in der Opposition, fordern Sie das Gegenteil dessen, was noch vor einem halben Jahr richtig war.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat auf die Große Anfrage der Fraktionen von SPD und FDP und auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine umfassende Antwort betreffend die Situation und die Probleme des Fremdenverkehrs gegeben. Dabei wurde auf die Verhältnisse im Inland und auf den Auslandstourismus Bezug genommen und die künftige Entwicklung des Fremdenverkehrs und der sie begleitenden Probleme näher erläutert. Dem Fremdenverkehr kommt eine bedeutende Funktion in vielen Bereichen zu. Er ist wichtig für die, die davon leben, und für die, die jedes Jahr neu die Freuden des Urlaubs genießen dürfen.
Politik und Regierung haben entsprechende Rahmenbedingungen zu gewährleisten, damit die Frei-
heit für die Gestaltung der Freizeit gegeben ist. Freizeit hat für die Erholung des Menschen, für seine persönliche Entfaltung und Selbstverwirklichung und seine schöpferische Betätigung, aber auch für die Erhaltung seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit eine entscheidende Bedeutung.
Die Freizeit und die Art, wie sie genutzt werden kann, hängt entscheidend auch vom politischem System ab. Unserer freiheitlichen Grundordnung würde sowohl eine Politisierung und staatliche Reglementierung — der unsere Landsleute in der DDR ausgesetzt sind — als auch eine Polarisierung zwischen Arbeit und Freizeit diametral entgegenstehen.
Die beiden Anfragen, die noch zur Zeit der sozialliberalen Koalition eingebracht worden sind, sind nun zwischenzeitlich ausführlich von der neuen CDU/CSU-, FDP-Bundesregierung beantwortet worden. In dieser Aussprache können allerdings nicht alle Aspekte umfassend behandelt werden.
Was die Nachfrage nach Dienstleistungen im Fremdenverkehr und Tourismus ganz allgemein anbelangt, so hat sich diese in der jetzigen Phase einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung als relativ stabil erwiesen. Es hat sich gezeigt, daß Urlaub und Tourismus einen festen Bestandteil im Jahresrhythmus unserer Bevölkerung geworden sind. Die Zahl der Urlaubsreisenden ist auch in der derzeitigen rezessiven Phase nicht wesentlich zurückgegangen. Die sinkenden Realeinkommen — Herr Müntefering, das ist Ausfluß Ihrer Politik, die Sie in den letzten 13 Jahren gemacht haben —, die steigenden Energiekosten und die sonst unvermeidbaren Kostenbelastungen haben 1981 und 1982 viele Deutsche veranlaßt, nicht mehr so weit zu verreisen, den Aufenthalt zu verkürzen und bei der Verpflegung bzw. bei den Nebenausgaben sich einzuschränken. Es wird nicht so sehr am Urlaub aber im Urlaub gespart.
Tourismus und Fremdenverkehr haben für unsere heutige Beschäftigungssituation, wo jeder Arbeitsplatz in Gold aufzuwiegen ist, eine ganz wesentliche Bedeutung. 750 000 Beschäftigte im engeren Sinne und 1,5 Millionen im weiteren Sinne hängen von der Fremdenverkehrswirtschaft ab, so daß dieser Wirtschaftszweig die meisten Beschäftigten überhaupt aufweisen kann. Wenn auch in der Antwort der Bundesregierung der Forderung nach genauer Spezifizierung der in der Fremdenverkehrswirtschaft beschäftigten Personen nicht Rechnung getragen werden konnte, weil Schwierigkeiten und Aufwand einer detaillierten Statistik zu groß sind, muß doch auf die Bedeutung des Wirtschaftsfaktors Fremdenverkehr, der vor allem im mittelständischen Bereich dominierend ist, mit Nachdruck hingewiesen werden.
Über Jahre hinweg bestand im Hotel- und Gaststättengewerbe von Fremdenverkehrsgebieten ein erheblicher Arbeitskräftemangel, der des öfteren hier im Bundestag und in den Massenmedien zur Sprache gekommen ist. Es ist erfreulich, daß die Bundesregierung in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage dieses Problem als im wesentlichen gelöst darstellen konnte.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8373
Engelsberger
Weiterer Zuruf von der SPD: Und was sa-
gen Sie zu Herrn Späth?)
— Wenn Sie mich in Form eines Zwischenrufs fragen, was ich zu Herrn Späth sage, kann ich nur antworten, daß Herr Späth den Urlaub im eigenen Land ebenfalls auf der Basis der Freiwilligkeit empfohlen und die Zustimmung seiner Minister zu dieser Empfehlung bekommen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Müntefering [SPD]: Freiwillige Minister!)

Bei allen Appellen, den Urlaub im eigenen Lande zu verbringen, dürfen wir das völkerverbindene Element des Tourismus nicht übersehen. Urlaubs-und Erholungsreisen in ein fremdes Land ermöglichen es dem einzelnen, sich in die Lage der von einer anderen Sprache, Kultur und Gesellschaft geprägten Menschen zu versetzen und seinen entscheidenden Anteil zur Völkerverständigung beizutragen. Gerade bei der Schaffung eines gemeinsamen Europas, das das persönliche Sich-Kennenlernen voraussetzt, hat der Tourismus eine tragende politische Aufgabe. Auch für die Erhaltung des Friedens darf seine Bedeutung nicht unterschätzt werden. Es ist deshalb notwendig, den gegenseitigen Tourismus weiter auszubauen.
Ein brennendes Problem für manche Fremdenverkehrsorte ist der Einbruch im Kur- und Bäderbereich, der teilweise bis zu 30 % beträgt. Meine Fraktion wird sich bemühen, auf diesem Sektor vor allen Dingen durch Aufklärung Härten zu vermeiden. Mein Fraktionskollege Dr. Olderog wird in seinem Beitrag auf diesen Aspekt besonders eingehen.
Aus zeitlichen Gründen ist es mir nicht möglich, auf alle in der Antwort der Bundesregierung angesprochenen Punkte einzugehen. Der Kollege Dr. Jobst wird sich in seinem Beitrag den verschiedenen Fragen ebenfalls noch widmen.
Zusammenfassend darf ich feststellen, daß der Fremdenverkehr für die Freizeitgestaltung der Deutschen eine große Rolle spielt, einen ganz wichtigen und auch in der Rezession relativ stabilen Wirtschaftsfaktor darstellt

(Müntefering [SPD]: Noch!)

und über unsere Grenzen hinweg als völkerverbindendes Element äußerst wichtig ist. Freizeitpolitisches Ziel der Union ist es, allen Schichten der Bevölkerung, vor allen Dingen den sozial Schwachen, den Behinderten, den älteren Menschen und den kinderreichen Familien in ausreichendem Umfang Freizeit und Erholung zu ermöglichen.

(Müntefering [SPD]: Deshalb wird das BAföG gekürzt!)

Freizeit ist ein wichtiger Faktor für die Gesunderhaltung der Bevölkerung, und der Fremdenverkehr ist der wichtigste Anbieter auf dem Gebiete der Freizeit und Freizeitgestaltung. Er verdient deshalb
unsere besondere Aufmerksamkeit. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913600400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (FDP):
Rede ID: ID0913600500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP begrüßt die Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage von SPD und FDP und auf die Kleine Anfrage der Union zu Fremdenverkehr und Fremdenverkehrspolitik. Daß die neue Regierung diese Anfragen so kurzfristig und ausführlich beantworten konnte, zeigt,

(Dr. Linde [SPD]: Die Antworten lagen doch schon vor!)

daß die Grundzüge, Herr Kollege Dr. Linde, der Fremdenverkehrspolitik wenig strittig sind. Meine Damen und Herren der großen Fraktionen, der Fremdenverkehr eignet sich doch nun wirklich nicht für die große Polemik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Müntefering, ich muß feststellen: Unser Land ist nach wie vor in Ordnung, jedenfalls was den Urlaub anbetrifft.

(Demonstrativer Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Müntefering, es wird auch keine Dampfwalze losrollen, wie Sie das vermuten.
Die FDP hat 1968 den Anstoß zu einer ausführlichen fremdenverkehrspolitischen Debatte im Deutschen Bundestag gegeben. Auf dieser Debatte fußt das fremdenverkehrspolitische Programm der Bundesregierung von 1975. Seither hat der Fremdenverkehr seinen Platz in den Debatten dieses Parlamentes, wenn auch noch nicht den ihm gebührenden.
Die Fremdenverkehrswirtschaft ist zwar kein ärmliches Aschenputtel mehr, aber sie steht auch noch nicht als die umworbene strahlende Prinzessin vor uns. Aber Opas Sommerfrische, meine Damen und Herren, hat sich zur weißen Industrie gemausert. Zwar sind die stürmischen Zuwachsraten der 60er und 70er Jahre vorerst vorbei, doch ist der Fremdenverkehr zu Beginn der 80er Jahre zum stabilisierenden Faktor unserer Gesamtwirtschaft geworden.
Die Fremdenverkehrsbranche weist nicht nur hohe Umsätze auf, sondern sie hat bis heute in großer Zahl Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen. — Herr Kollege Engelsberger, Sie haben schon deutlich darauf hingewiesen. — Von 1972 bis 1981 ist die Zahl der Arbeitsplätze nur im Hotel- und Gaststättengewerbe um 60 000, d. h. um 8 % auf fast 780 000 gestiegen, während gleichzeitig in der übrigen Wirtschaft die Zahl der Arbeitsplätze rückläufig ist. Wichtiger ist noch, daß sich die Zahl der Auszubildenden ebenfalls im Hotel- und Gaststättengewerbe von 1974 bis 1981 auf über 41 000 sogar verdoppelt hat. Die durchschnittliche Ausbildungsquote in der Gesamtwirtschaft beträgt 7,9 %, die des Gastgewerbes liegt mit 10,2% weit darüber. Gün-
8374 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Feldmann
stige berufliche Aussichten, interessante Tätigkeiten bei guter Bezahlung machen das Gastgewerbe als Ausbilder attraktiv.
Auf die Bedeutung der Fremdenverkehrswirtschaft für Ausbildungs- und Arbeitsplätze wird im vorliegenden Entschließungsantrag aller Fraktionen deshalb auch besonders hingewiesen.
Sicher ist der Beitrag des Tourismus zum Bruttosozialprodukt schwer zu berechnen. Eine Schätzung hätte man in der Antwort der Bundesregierung jedoch erwarten können. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes stellt zumindest der Beitrag des Gastgewerbes mit 1,3% eine feste Größe dar. Demnach dürfte der Anteil der gesamten Fremdenverkehrswirtschaft bei zirka 3% liegen. Dagegen sind die Stahlindustrie mit 1,2 % und die Landwirtschaft mit 2,1 % am Bruttosozialprodukt beteiligt. Diesen enormen Beitrag, meine Damen und Herren, leistet die Fremdenverkehrswirtschaft ohne Milliardensubventionen, ohne Privilegien, j a zum Teil trotz Benachteiligungen.
Zur Mehrwertsteuervereinheitlichung im EG-Bereich, Herr Kollege Engelsberger, haben Sie das Erforderliche gesagt. Dem stimme ich zu.
Die FDP begrüßt, daß die Bundesregierung auch in der Fremdenverkehrspolitik ein klars Bekenntnis zur marktwirtschaftlichen Ordnung ablegt. Sie hat protektionistischen Eingriffen in die Reise- und Ausgabenfreiheit unserer Bürger eine eindeutige Absage erteilt. Lothar Späth wird mit seinem Kabinettsbeschluß, in dem er seine baden-württembergischen Kabinettskollegen zum Urlaub im „Ländle" verdonnert, wohl weiterhin „einsame Spitze" bleiben.

(Heyenn [SPD]: Freiwillig verdonnert!)

Auch wir sehen die enormen Reisebilanzdefizite von zur Zeit zirka 26 Milliarden DM, die unsere Mitbürger als Weltmeister im Reisen — als Weltmeister in Auslandsreisen wohlgemerkt — daheim hinterlassen. Aber dies ist zwangsläufig das Ergebnis einer funktionierenden internationalen Arbeitsteilung, die ökonomisch sinnvoll ist. Als exportabhängiges Land sind wir auch auf die Kaufkraft unserer Reisezielländer angewiesen. Unsere Touristen tragen wesentlich dazu bei.

(Beifall des Abg. Wolfgramm [Göttingen] [FDP])

Der Wettbewerb zwischen den Tourismusländern muß aber über Angebot und Leistung gehen und darf nicht durch administrative Maßnahmen oder gar durch regierungsamtliche Ansprachen gegängelt werden.

(Beifall des Abg. Wolfgramm [Göttingen] [FDP])

Da unterscheiden wir uns doch wohl etwas voneinander, Herr Kollege Engelsberger. Dabei schneidet die Bundesrepublik im internationalen Vergleich - ich bestätige die Zahl von 14,3 Milliarden DM als Einnahme aus dem Tourismus - nicht einmal schlecht ab. Wir liegen international an sechster Stelle; das heißt: noch vor unserem Urlaubsfavoriten Österreich. Dies ist nicht zuletzt ein Ergbnis der
erfolgreichen Arbeit der Deutschen Zentrale für Tourismus. Deshalb begrüßen wir ihre angemessene Förderung.
Wenn man die wesentlich üppiger ausgestatteten Werbebudgets der konkurrierenden klassischen Reiseländer betrachtet, ist die Arbeit der DZT noch höher zu bewerten.

(Zustimmung bei der FDP und der SPD)

Neben den direkten Zahlungen der Fremdenverkehrswirtschaft zum Haushalt der DZT — diese werden ab 1983 noch um 50 % erhöht — darf der indirekte Beitrag der Fremdenverkehrswirtschaft nicht übersehen werden. Dieser sumiert sich durch eigene und gemeinsame Werbemaßnahmen mit der Deutschen Zentrale für Tourismus nach der vorliegenden Antwort der Bundesregierung auf immerhin 80 Millionen DM.

(Frau Hoffmann [Soltau] [CDU/CSU]: Gute Sache!)

Herr Kollege Müntefering, ich stimme auch Ihnen zu, daß ein wesentlicher Faktor im Wettbewerb um den in- und ausländischen Gast neben dem von uns nicht beeinflußbaren Wetter vor allem der Preis ist. Die Fremdenverkehrswirtschaft darf daher die Aussage der Bundesregierung über die Preisstabilität des deutschen touristischen Angebots als besonderes Lob auffassen. Dieses Lob trifft insbesondere das Hotel- und Gaststättengewerbe als eine der tragenden Säulen des deutschen Fremdenverkehrs, bescheinigt ihm doch die Regierung ein unverändert hohes Maß an Leistungs- und Anpassungsfähigkeit im Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, das typisch mittelständisch strukturierte Gastgewerbe hat diese Leistungen ohne aufwendige Förderpolitik erbracht.
Eine weiterhin erfolgreiche Arbeit setzt allerdings Rahmenbedingungen voraus, die einen gesunden Wettbewerb sicherstellen. Dazu gehört, daß der Gesetzgeber nicht vor der besonderen Art der Schwarzarbeit im Gastgewerbe, nämlich der Schwarz-Gastronomie, die Augen verschließt.

(Frau Hoffmann [Soltau] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Unter dem Motto „Feste feiern ohne Kosten" wird nicht nur der Staat um Einnahmen gebracht, sondern es werden auch viele kleine Gastwirte existenziell bedroht.

(Müntefering [SPD]: Das Schwarze greift um sich!)

Die Feststellung der Bundesregierung, daß sich hier bereits mit sichtbarem Erfolg die staatlichen Bemühungen zur Eindämmung der Schwarz-Gastronomie niedergeschlagen haben, ist meines Erachtens allzu optimistisch. Hier handelt es sich nicht nur um ein Vollzugsdefizit. Ich meine, wir sollten auch die Möglichkeit einer Streichung von § 23 Abs. 2 des Gaststättengesetzes überprüfen.

(Frau Hoffmann [Soltau] [CDU/CSU]: Gut!)

Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8375
Dr. Feldmann
Unbefriedigend scheint mir auch die Beantwortung der Frage nach dem Befähigungsnachweis für Gastwirte. Der Hinweis auf ordnungspolitische und verfassungsrechtliche Gesichtspunkte reicht nicht aus. Allein unter Verbraucherschutzaspekten scheint zumindest ein wesentlich verbessertes Unterrichtungsverfahren nötig.

(Frau Hoffmann [Soltau] [CDU/CSU]: Richtig!)

Wir begrüßen die Feststellung der Bundesregierung, daß sich das Reisevertragsgesetz als ausgewogene Regelung bewährt hat und daß kein weiterer Regelungsbedarf besteht.
Ein gut gemeinter Versuch des Gesetzgebers, den Mittelstand von bürokratischem Kleinkram zu entlasten, ist nicht ganz geglückt. Wir stellen fest, daß auch die beiden anderen Fraktionen bereit sind, das Beherbergungsstatistikgesetz als korrekturbedürftig anzusehen und in eine Überarbeitung einzusteigen. Machen wir uns hier möglichst bald an die Arbeit!

(Beifall bei der SPD)

Einige kritische Anmerkungen zur Situation unserer Heilbäder und Kurorte. Die Antwort der Bundesregierung, „daß in den Kurorten und Heilbädern nachhaltige Anpassungsprozesse zu bewältigen sind", reicht nicht. Ihre eigene Feststellung — ich zitiere — „Der Kurrückgang geht über das ursprünglich geschätzte Ausmaß hinaus" — ich meine sogar: weit hinaus — müßte die Bundesregierung an sich zu einer Überprüfung der Einschränkung des Kurzugangs veranlassen. Die im Arbeits- und Sozialausschuß beschlossene Korrektur der sogenannten 59er-Regelung ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

(Müntefering [SPD]: Dafür haben wir die Selbstbeteiligung!)

Wir stellen in dem Entschließungsantrag fest, daß der Rückgang bei den Kuren nur teilweise durch die beschlossenen Gesetze verursacht ist. Die durch die ungünstige gesamtwirtschaftliche Entwicklung verstärkte Sorge um den Arbeitsplatz hat zu einem nicht vorhersehbaren Rückgang der Kuranträge geführt. Nach wie vor besteht der Anspruch auf eine medizinisch notwendige Kur. Es gilt, hierüber verstärkt aufzuklären.
Wenn wir in dem Entschließungsantrag weiterhin ausdrücklich feststellen, daß der Gesetzgeber die Nachfrage künftig nicht zusätzlich begrenzen soll, wollen wir damit sicherstellen, daß über das laufende Gesetzgebungsverfahren hinaus keine weiteren einschränkenden Maßnahmen vorgesehen werden sollen.
Ein kritisches Wort aber auch zur Bäderwirtschaft; denn sie hat allzu lange die deutlich sichtbaren Alarmsignale ignoriert.
Wie die Bundesregierung beurteilen aber auch wir die allgemeine Entwicklung des Tourismus generell positiv. Der erstaunlich hohe Stellenwert der Urlaubsreise selbst bei stagnierender und rückläufiger Entwicklung der Realeinkommen und die
wachsende Freizeit rechtfertigen einen weiterhin gedämpft optimistischen Ausblick.
Gibt es noch Steigerungsmöglichkeiten für einen Weltmeister? Ich meine, schon, sicher beim Urlaub in Deutschland. „Deutschland ... weil's Spaß macht". Auch hinsichtlich der Reisehäufigkeit, Reiseintensität und Reiseausgaben pro Kopf der Bevölkerung liegt die Bundesrepublik noch hinter vergleichbaren Ländern zurück. Über Rückgang oder Steigerung in diesem Bereich wird aber letztendlich, Herr Kollege Müntefering — da stimme ich Ihnen zu —, die gesamtwirtschaftliche Lage entscheiden.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, noch ein Vorschlag: Die Bundesregierung mag zwar zunächst keinen Anlaß zur Korrektur bzw. Fortschreibung des Tourismusprogramms von 1975 sehen. Dies bestätigt, daß dieses Programm ein guter Wurf war und ist.

(Müntefering [SPD]: Jawohl!)

Angesichts der aufgezeigten Leistungen kann die Fremdenverkehrswirtschaft aber verlangen, daß dieses Parlament dem Fremdenverkehr mehr Aufmerksamkeit widmet. Wenn schon kein Tourismusministerium — wobei ich betonen möchte, Herr Staatssekretär Grüner, daß sich die Fremdenverkehrswirtschaft beim Wirtschaftsministerium sicher gut aufgehoben fühlen kann —, so stünde es diesem Parlament aber doch gut an, in einer regelmäßigen, jährlichen Debatte eine „Bestandsaufnahme Fremdenverkehr" vorzunehmen. — Meine Damen und Herren, ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913600600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID0913600700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kur- und Bäderindustrie ist wesentlicher Teil des deutschen Fremdenverkehrs. Deswegen möchte ich mich in meinen Ausführungen auf die Bäderindustrie beschränken, von der es in der Entschließung heißt, daß sie „akute Sorgen" hat.
Doch zunächst zwei Vorbemerkungen: Der Kollege Engelsberger hat davor gewarnt, in die Erörterung dieses Themas Polemik hineinzubringen. Ich kann natürlich verstehen, daß man dann, wenn man regiert, zu keinem Thema gern Polemik hat. Nur, das Thema Selbstbeteiligung ist vor dem Hintergrund der akuten Sorgen der Heilbäder und Kurorte durchaus einer polemischen Auseinandersetzung wert.

(Dr. Schwörer [CDU/CSU]: Aber das stammt doch von Ihnen!)

— Wenn Sie hier sagen — darauf will ich gerade eingehen —, es stamme von uns, dann nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, was hier von dieser Stelle zu dieser Frage — zuletzt von meinem Kollegen Glombig — mehrfach gesagt worden ist. Wir haben in die Selbstbeteiligung — zusammen mit der FDP, auf deren Drängen — eingewilligt, weil das der
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Heyenn
Preis für die Einigung über den Haushalt 1983 war.

(Dr. Schwörer [CDU/CSU]: Der Bundeskanzler hieß Schmidt! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Ja, natürlich, dies geben wir doch zu. Nur, wir haben in den Beratungen schon angekündigt, daß wir dies ändern wollen. Aber ich will eine Brücke zu Ihrer Argumentation, meine Damen und Herren von der neuen Rechtskoalition, bauen. Müßten wir nicht, selbst wenn alle Fraktionen hinsichtlich der Selbstbeteiligung im Sommer dieses Jahres einer Meinung gewesen wären, diese Haltung vor dem Hintergrund der dramatischen Entwicklung gemeinsam überdenken?

(Beifall bei der SPD)

In der Entschließung wird von akuten Sorgen gesprochen. Die Bundesregierung spricht von einem deutlichen strukturellen Rückgang. Ich will dies mit Zahlen noch deutlicher machen: In deutschen Kurorten und Heilbädern sind mehr als 9 000 Betten nicht mehr belegt. Das ist ein Rückgang um rund 15 %. Dieser Rückgang entspricht allerdings nicht den tatsächlichen Entwicklungen, weil in den Kurorten und Heilbädern im ersten Halbjahr 1982 noch ein übergroßer Überhang an Anträgen aus dem Jahre 1981 abgebaut werden mußte. Nach einer Modellrechnung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger werden weitere 9 000 Betten zur Disposition stehen, wenn die Antragsentwicklung weiter so rückläufig ist.

(Müntefering [SPD]: Eine Katastrophe ist das!)

Dies hat seine Auswirkungen auf den Personalbestand. Das ist natürlich unterschiedlich, je nach der Organisationsstruktur der betreffenden Einrichtungen. Bei mir im Wahlkreis in Bad Bramstedt beträgt der Personalrückgang nur rund 15 %, in Bad Wildungen 31 %, in Bad Dieburg 33 %; es gibt sogar Orte mit mehr als 50 % Personalrückgang in diesem Bereich. Da müssen wir doch gemeinsam die Frage der Selbstbeteiligung überdenken, wenn wir ein Parlament sein wollen, das in der Lage ist, auf aktuelle Entwicklungen einzugehen.

(Beifall bei der SPD)

Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Einrichtungen selbst. Zuliefererbetriebe, der Einzelhandel in diesen Orten sind betroffen. Wir haben schon Kurorte, insbesondere im Bereich der Mineral- und Moorbäder, mit einer Arbeitslosenquote in der Nähe von 20 %. Der Bäderverband schätzt den Rückgang der Beschäftigten auf bis zu 20 %; das wären nach seinen Angaben 50 000 Beschäftigte in der Bundesrepublik. Wir hatten bisher rund 1,5 Millionen Kuren in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung. Es gab eine rasante Entwicklung in den Jahren 1979 und 1980. Hier ist vom Kollegen Feldmann den Kur- und Heilbädern relativ deutlich der Vorwurf gemacht worden, ins Blaue hinein investiert zu haben. Ich will dazu nur anmerken: Überprüfen Sie bitte einmal, auf wessen Drängen diese Investitionen, dieser Ausbau erfolgt sind: auf Drängen der Sozialversicherungsträger, die die Konsequenzen aus gestiegener Nachfrage gezogen haben.
Wir können auch unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß wir in der ersten Hälfte dieses Jahres einen Rückgang der Anträge bei den Rentenversicherungsträgern um nahezu 30 % und eine wesentlich höhere Ablehnungsquote gegenüber dem früheren Recht vor dem 2. Haushaltsstrukturgesetz hatten.
In der gemeinsamen Entschließung wird betont, daß dieses 2. Haushaltsstrukturgesetz bei weitem nicht allein für diesen Rückgang verantwortlich zu machen ist. Viel wesentlicher ist die Arbeitsmarktsituation, sind die Befürchtungen der Arbeitnehmer, bei Antritt einer Heilbehandlung ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

(Zuruf bei der SPD: Sehr richtig!) Viel wesentlicher ist das Verhalten der Ärzte,


(Zuruf bei der SPD: Auch richtig!)

die nach den Sparappellen der Kassenärztlichen Vereinigungen, nach der allgemeinen Spardiskussion in der Bundesrepublik über das Gesundheitswesen und vielleicht auch aus Rechtsunsicherheit sehr viel zurückhaltender mit der Verschreibung von Heilbehandlungen sind als früher.
Es droht also, meine Damen und Herren, eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit in den Regionen insbesondere der betroffenen Mineral- und Moorbäder —, wenn sie nicht schon eingetreten ist.
Und die Folgen für den Arbeitnehmer: Auch wenn Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, die Arbeitnehmer entziehen sich verstärkt der Durchführung erforderlicher Rehabilitationsmaßnahmen. Und die Folgen sind: Die Zahl der Frührentner nimmt zu, die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, verbunden mit Lohnfortzahlung, nehmen wieder zu. Ich sage hier ganz deutlich: Das langfristige Ziel „Rehabilitation geht vor Rente" ist bedroht, wenn wir die Situation weiter verschärfen.
Ein paar Worte zur Kostenbeteiligung und ihrem Sinn. Im Haushaltsbegleitgesetz steht von seiten der neuen Koalitionsfraktionen nichts zur Begründung bei der Rentenversicherung, und zur Krankenversicherung heißt es, es solle a) ein Beitrag zur Stabilisierung der Beitragssätze sein und b) häusliche Ersparnisse in Anrechnung bringen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, vor dem geschilderten Hintergrund können wir diese Argumente vergessen; denn einmal machen die Einsparungen durch Selbstbeteiligung z. B. bei der Rentenversicherung etwa 0,08 bis 0,09 % der Gesamtausgaben der Rentenversicherung aus. Und zur häuslichen Ersparnis — das hat niemand besser als mein Kollege Jakob Mierscheid formuliert, der sagte: „Papa braucht 'n neuen Bademantel, wenn er zur Kur geht, und selbstverständlich besucht Mama ihn in Bad Neuenahr, und nix is' mit der häuslichen Ersparnis." Das ist doch die tatsächliche Situation.

(Heiterkeit bei der SPD)

Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8377
Heyenn
Und dann lassen Sie mich einmal schildern, wie denn die finanzielle Situation in den Arbeitnehmerhaushalten ist, in den Haushalten, denen Sie heute die Selbstbeteiligung zumuten wollen. Knapp 20 % aller männlichen Arbeiter und knapp 10% aller männlichen Angestellten haben im Jahre 1981 monatlich 1 200 DM netto verdient. Bei den Arbeiterinnen waren es nahezu 80 %. 1981 hatten wir ein durchschnittliches Nettofamilieneinkommen von rund 1800 DM.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen vor dem Hintergrund Ihrer noch heute erhobenen Forderung nach Selbstbeteiligung nur sagen: Dieser Personenkreis ist auf uneingeschränkte Risikovorsorge über das Netz der sozialen Sicherung angewiesen; dieser Personenkreis ist nicht in der Lage, über seinen Beitrag zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung hinaus weitere Geldleistungen — z. B. für die Selbstbeteiligung bei Heilbehandlungen — zu erbringen.
Die Folgen der Selbstbeteiligung für die eh schon dramatische Entwicklung in den Heilbädern und Kurorten werden in einem weiteren Rückgang der Heilbehandlungsmaßnahmen bestehen. Schon heute berichten uns Rentenversicherungsträger, daß Antragsteller unter Hinweis auf die drohende Selbstbeteiligung von ihren einmal gestellten Anträgen zurücktreten. Die Selbstbeteiligung erschwert im übrigen die Bemühungen der Versicherungsträger, z. B. einem Rentenbewerber deutlich zu machen, daß für ihn eine Heilbehandlung wichtiger wäre und eine drohende Erwerbsunfähigkeit verhindern könnte. Auch hier ist der Grundsatz der Rehabilitation bedroht und wird ausgehöhlt. Der bedauerliche Trend der Zunahme der Zahl unserer Frührentner wird fortgesetzt.
Nun ist hier die Veränderung im Bereich der 59-und der 63jährigen angesprochen worden, d. h. das Hinausschieben der Erschwerungen in den Zugangsvoraussetzungen für die bisher 59jährigen aufs 63. Lebensjahr. Wenn das das Ergebnis der überall in deutschen Landen verkündeten Überprüfungsbereitschaft der Unionspolitiker ist — Herr Kollege Dr. Olderog, ich beziehe mich hier auf eine Meldung aus Schleswig-Holstein —, kann ich nur sagen, dies ist ein armseliges Ergebnis, das der Entwicklung in keiner Weise gerecht wird. Selbst der Deutsche Bäderverband sagt, diese Rechtsänderung, die Korrektur des 2. Haushaltsstrukturgesetzes, hat im Gesamtkomplex nur unwesentliche Bedeutung. Meine Damen und Herren, wer die Interessen der Arbeitnehmer, insbesondere ihre gesundheitlichen Interessen, vertreten will, wer der Arbeitsmarktsituation in den Kurorten gerecht werden will, der muß heute auf eine Selbstbeteiligung verzichten.
In der Entschließung wird nun gesagt — Herr Dr. Feldmann hat darauf hingewiesen -, wir wollen künftig die Nachfrage nicht zusätzlich begrenzen und die Situation in den Kurorten und Heilbädern nicht weiter verschärfen. Er hat auch gleich eine Interpretation nachgeliefert; für ihn heißt „künftig": nach Verabschiedung der Regelung zur Selbstbeteiligung in der nächsten Woche. Ich kann Ihnen vor
dem Hintergrund negativer Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeitnehmer und vor dem Hintergrund der Sicherheit Zehntausender von Arbeitsplätzen in den Kur- und Heilbädern nur sagen: Für uns Sozialdemokraten heißt die Forderung, die Nachfrage künftig nicht zu begrenzen; dies „künftig" beginnt, wenn wir die gemeinsame Entschließung heute vormittag in diesem Hause verabschiedet haben.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend an die neue Rechtskoalition appellieren,

(Zuruf von der CDU/CSU: „Rechtskartell" bitte! — Dr. Jobst [CDU/CSU]: Koalition der Mitte! — Dr. Olderog [CDU/CSU]: Von links außen sieht das wie rechts aus, das stimmt! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

noch einmal zu überlegen, ob wir die Situation weiter erschweren und Arbeitsplätze vernichten wollen, um in absehbarer Zeit mit Mitteln aus der öffentlichen Hand infrastrukturelle Maßnahmen in den heutigen Kurgebieten einleiten zu müssen, oder ob Sie sich nicht einen Ruck geben sollten und im Interesse der Arbeitnehmer insgesamt und besonders derjenigen in den betroffenen Bereichen auf die Selbstbeteiligung verzichten sollten. — Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913600800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Olderog.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID0913600900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was ist gegenwärtig das Kernproblem der Fremdenverkehrspolitik? Ich glaube, es ist nicht die Frage, wie wir den Anteil der Familien, der Kinder und der Behinderten am Fremdenverkehr noch weiter erhöhen können,

(Müntefering [SPD]: Spielt das für Sie keine Rolle?)

was ein wünschenswertes Ziel ist, sondern das Kernproblem ist, wie der Fremdenverkehr ohne Schäden durch die Krise kommt, ohne daß bei Hotels, Pensionen, Gaststätten und im Reisebürogewerbe Arbeitsplätze und Existenzen vernichtet werden und ohne daß Kurhaushalte unter der Last der roten Zahlen zusammenbrechen.
Meine Kollegen, ich glaube, drei Momente kennzeichnen die Situation. Erstens. Der Wunsch unserer Mitbürger, weiterhin Urlaub zu machen, ist trotz der schwierigen Zeit ungebrochen. Zweitens. Das verfügbare Geld ist knapper geworden, und Unsicherheit gegenüber der Zukunft führt zur Zurückhaltung.

(Müntefering [SPD]: Sie machen das Geld noch knapper!)

Drittens. Der Wettbewerb ist auch international schwieriger geworden.
Diese Situation ist Last und Chance zugleich. Sie ist eine Last, weil für die gewerblichen Betriebe und
8378 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Olderog
auch die Kurbetriebe ein Zwang besteht, sich anzupassen, um im Wettbewerb mithalten zu können. Zugleich ist sie eine Chance, weil die Situation die Möglichkeit eröffnet, einen Teil der traditionellen Auslandsurlauber wieder für einen Urlaub im Inland zurückgewinnen zu können.
Worauf kommt es nun für unsere Fremdenverkehrswirtschaft an? Es ist wichtig, daß die Qualität des deutschen Angebots weiter verbessert wird. Das muß ein vorrangiges Ziel unserer Förderungspolitik bleiben. Nicht Ausweitung der Kapazitäten, sondern Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit gerade für die kleinen und mittleren privaten Betriebe. Modernisierung und Rationalisierung bleibt das Gebot der Stunde. Für uns von der Union ist Fremdenverkehrspolitik in allererster Linie Mittelstandspolitik. Der Mittelstand ist das Rückgrat der Fremdenverkehrswirtschaft, und wir wollen auch aus gesellschaftspolitischen Gründen ein breites und vielfältiges Angebot erhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir machen uns Sorgen, daß gerade manche Kleinbetriebe und auch viele Privatquartiere nicht mehr ganz zeitgerecht ausgestattet sind. Wir sagen ihnen, daß die Übernachtungszahlen dort nur durch qualitätsverbessernde Maßnahmen erhöht werden können.
Die Fremdenverkehrspolitiker meiner Fraktion würden es begrüßen, wenn bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" auf dieses Erfordernis Rücksicht genommen würde. Ich habe gerade vorhin mit zwei Kollegen meiner Fraktion, Frau Geiger und Herrn Tillmann, über diese notwendige Umstellung in der Gemeinschaftsaufgabe gesprochen, die sich beide dafür engagieren und es für wünschenswert halten, daß ebenso wie die Neuerrichtung und die Erweiterung der Betriebe auch die Modernisierung mit Höchstförderungssätzen von 15 % und nicht, wie gegenwärtig, mit 10 % gefördert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Qualität geht also vor Quantität. Das ist auch ein wichtiger Gesichtspunkt für die Saisonverlängerung.
Lassen Sie mich einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt nennen. Die deutsche Fremdenverkehrswirtschaft muß Preisdisziplin wahren, und sie muß nachfragegerechte preisgünstige Angebote, auf die gegenwärtige Situation abgestimmt, unterbreiten. Die Bundesregierung weist in ihren Antworten zu Recht darauf hin, daß es einen neuen Trend gibt: Halbpension oder Zimmer mit Frühstück statt Vollpension, Verzicht auf umfangreichen Service, steigende Nachfrage nach Imbiß- und Schnellverpflegung, aber parallel dazu auch ein Interesse an Spezialitätenrestaurants, mehr Interesse an aktivem Urlaub, Sport, an gesundheitsbewußtem Urlaub. Das alles verlangt eine flexible Anpassung an eine neue Situation.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich gern das nachdrücklich unterstreichen, was der Kollege Feldmann zum Thema Schwarzgastronomie gesagt hat. Das ist für das Hotel- und Gaststättengewerbe ein
sehr wichtiger Punkt. Es kann einfach nicht angehen, daß unter Mißachtung geltender gesetzlicher Bestimmungen immer wieder Veranstaltungen in Zelten, Scheunen und Schulen durchgeführt werden. Wir sollten uns dieses Themas in Zukunft stärker annehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein anderer Gesichtspunkt ist wichtig und voller Chancen. Wir sollten darauf hinwirken, daß in Deutschland verstärkt für einen Urlaub hier bei uns im Inland geworben wird. Es ist eine große Gemeinschaftsleistung der Fremdenverkehrswirtschaft gefordert. Herr Kollege Müntefering, ich kann überhaupt nicht verstehen, was Sie an die Adresse der baden-württembergischen Landesregierung gesagt haben. Es ist doch zu begrüßen, wenn die Mitglieder des dortigen Kabinetts in einer solchen Situation beispielhaft vorangehen, ohne daß reglementiert wird. Das ist doch der Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Linde [SPD]: Ausgesprochener Unsinn ist das!)

Es wird nichts gesetzlich verordnet. Es werden eben keine protektionistischen Maßnahmen ergriffen, wie es leider teilweise in Italien, in Frankreich oder in Skandinavien geschieht.

(Dr. Linde [SPD]: Ein Werbegag von Herrn Späth! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das verstehen die Sozialisten nicht! Sie geben sich keine Mühe!)

Längst haben doch viele Urlauber in der Bundesrepublik erkannt, daß der Urlaub in Deutschland billiger ist. Die Bundesregierung hat an Hand von Zahlen deutlich gemacht, daß eine Urlaubsreise in Deutschland billiger kommt als eine solche nach Italien, Spanien oder Frankreich.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913601000
Herr Abgeordneter Müntefering möchte eine Zwischenfrage stellen.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID0913601100
Herr Kollege, da Sie die Maßnahme von Herrn Ministerpräsidenten Späth für so begrüßenswert halten: Könnte die CDU/CSU-Fraktion darauf dringen, daß der Bundeskanzler, solange er dies noch ist, auch seine Minister verpflichtet, im nächsten Jahr in der Bundesrepublik Urlaub zu machen?

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID0913601200
Herr Ministerpräsident Späth hat seine Minister dazu nicht verpflichtet, sondern seine Minister haben gemeinsam mit ihm eine Erklärung abgegeben. Das ist ein großer Unterschied.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen. Viele deutsche Urlauber haben inzwischen auch erkannt, daß das abwechslungsreiche Klima in Deutschland oft gesünder ist als sommerliche Hitze und Dauerbestrahlung im Ausland. War es nicht auch ein vernünftiger pädagogischer Grundsatz, der früher einmal üblich war, daß Eltern ihren Kindern zunächst einmal Deutschland gezeigt haben, bevor sie Urlaub im Ausland gemacht haben?

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Olderog
Wissen eigentlich viele Jüngere noch, welch zauberhafte Landschaften sie in Deutschland entdecken können? Es gibt eben nicht nur die schönen Alpen, Ostsee, Nordsee, Schwarzwald, Harz, den Bayerischen Wald, sondern auch das Sauerland, das Weserbergland, die Holsteinische Schweiz, Röhn, Spessart, Vogelsberg, Schwäbische Alb, Markgräfler Land, Teutoburger Wald und viele Naturparks und vieles mehr. Das muß uns Deutschen doch wieder einmal bewußt gemacht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eltern sollten ihren Kindern das einmal zeigen.
Wie eindrucksvoll ist doch auch das architektonische Erbe, das wir unseren Kindern in deutschen Städten zeigen können! Ich sage noch einmal: nicht reglementieren! Aber wenn ich das im Deutschen Bundestag anspreche, so ist das eine faire Sache. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß wir als deutsche Politiker das in einer schwierigen Situation so tun. Wir wollen im Gegensatz zu den Italienern, Franzosen und Österreichern nicht zu reglementierenden Vorschriften greifen. Wir sagen aber ein Wort zu diesem Thema.

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Hoffmann [Soltau] [CDU/CSU]: Freiwillig!)

Nun hat der Kollege Heyenn — wir waren ja früher einmal Partner im Innenausschuß in Schleswig-Holstein — hier etwas zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen gesagt. Ich räume ein, daß dies meinen Kollegen und mir in der CDU/CSU-Fraktion wirklich sehr, sehr große Sorgen bereitet.

(Müntefering [SPD]: Stimmen Sie dagegen! Das ist doch ganz einfach!)

Wie Sie es hier aber dargestellt haben, wie Sie sich in der Opposition jetzt aus der Verantwortung stehlen wollen, das finde ich unfair, das finde ich unwürdig, Herr Kollege Heyenn. So kann man das so einfach nicht machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht doch nicht, daß man in der Regierungsverantwortung bestimmte Beschlüsse faßt und hinterher, wenn es schwierig wird, dann so tut, als ob man damit nichts mehr zu tun haben will, als ob wir verpflichtet wären, das sofort wieder aus der Welt zu schaffen. Nein, Herr Kollege Heyenn, so geht das nicht. Wir haben von Ihnen eine in manchen Bereichen katastrophale finanzpolitische Situation geerbt. Wir stellen uns dieser Verantwortung.

(Abg. Heyenn [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Nein, ich möchte jetzt gern fortfahren. Am Schluß können Sie dazu noch etwas sagen.
Wir stellen uns dieser Situation. Wir bekennen uns auch dazu, daß noch etwas dazugefügt werden muß. So wie Sie es gesagt haben, geht es aber nicht.

(Heyenn [SPD]: Große Sprüche und Angst haben!)

Auch ich bin nicht mit dem zufrieden, was die Bundesregierung erklärt hat. Ich finde es nämlich
nicht angemessen, daß man das nur mit statistischen Gesamtangaben beantwortet. Ich weiß, daß die 25 %, die dort genannt werden, natürlich für bestimmte Mineral- und Moorbäder überhaupt nicht zutreffen. Da geht es in die 60, 70, 80 % und mehr. Das wissen wir. Aber wir sollten, verdammt noch mal, den Mut haben, uns in einer schwierigen Situation zu dem zu bekennen, was notwendig ist.

(Ewen [SPD]: Herr Präsident, „verdammt" hat er gesagt!)

So aus der Regierungsverantwortung in die Opposition zu wechseln, wie Sie es getan haben, finde ich nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU — Heyenn [SPD]: Sie reden doch an den Tatsachen vorbei!)

Und ich sage in aller Ehrlichkeit, — -

(Heyenn [SPD]: Aber fragen lassen Sie mich nicht!)

— Sie können! Bitte schön, fragen Sie! Herr Präsident, der Herr Kollege kann es nicht mehr aushalten.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913601300
Also das ist in der Geschäftsordnung zwar nicht verboten; aber daß Sie auch noch die Abgeordneten hier ermuntern, Fragen zu stellen

(Heiterkeit und Beifall bei allen Fraktionen — Dr. Olderog [CDU/CSU]: Er hupfte so unruhig hin und her!)

— ja —, ist eine Bereicherung. Also bitte schön. Haben Sie Herrn Heyenn oder Herrn Dr. Linde mit Ihrer Aufforderung gemeint?

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID0913601400
Herrn Heyenn.

(Dr. Linde [SPD]: Ich komme danach!) Präsident Stücklen: Herr Heyenn, bitte sehr.


Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID0913601500
Herr Kollege Dr. Olderog, geben Sie mir zu, daß ich Ihnen das Angebot gemacht habe, daß wir aus der dramatisch veränderten Situation in den deutschen Kur- und Heilbädern gemeinsam Konsequenzen ziehen und hier im Interesse der Gesundheit der Arbeitnehmer und im Interesse der Arbeitnehmer in den Kur- und Heilbädern gemeinsam zu Veränderungen kommen, und daß dann kein Raum für Polemik dieser Art bleibt?

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID0913601600
Das stand leider im Widerspruch zu dem, was Sie vorher getan haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Völlig richtig, Herr Heyenn: Wir müssen darüber beraten. Das hat ja auch im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung stattgefunden. Meine Fraktion hat j a die Initiative ergriffen, daß Kuren nicht nur bis zum 59., sondern bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gewährt werden und daß Kinder bis 18 Jahre von der Eigenbeteiligung ausgenommen
8380 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Olderog
werden. Das ist j a geprüft worden. Aber ich stimme Ihnen zu: Wir wollen das weiter im Auge behalten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein anderes Problem ansprechen, ein Anpassungsproblem, von dem ich glaube, daß es für die Fremdenverkehrsbetriebe noch sehr bedeutsam werden wird. Es geht um den Bildschirmtext. Heute werden nur zehn bis zwanzig Prozent der Urlaubsbuchungen über Reisebüros und -veranstalter abgewickelt. Das andere wird individuell gemacht.
Demgegenüber glaube ich, daß schon bald moderne Vertriebssysteme mittels EDV Sofortbuchungen von der Privatwohnung aus ermöglichen. Es muß ein Alarmzeichen für den Mittelstand sein, daß große Reiseveranstalter sich heute schon aus der Fläche zurückziehen und sich auf ganz bestimmte Orte konzentrieren, wo es große Bettenkontingente gibt.

(Dr. Linde [SPD]: Schon immer!)

Bildschirmtext bedeutet, daß mit Hilfe von Telefon und Fernsehgerät die Speicher- und Rechenkapazitäten großer Datenverarbeitungslagen für jedermann nutzbar werden. Das eignet sich auch, um über Urlaubsangebote zu entscheiden. Das ermöglicht es, neue Gästeschichten zu erschließen und durch attraktive Angebote auch die Vor- und Nachsaison zu beleben. Es geht jetzt darum, daß sich die kleinen und mittleren Betriebe darauf einstellen. Sie müssen kooperieren. Sie müssen ihr Angebot normieren und zu großen Kontingenten zusammenfassen. Ich glaube, diese Entwicklung wird viel, viel schneller auf uns zukommen, als manche vermuten. Unser Appell geht an die Betriebe, an die Kammern, an die Wirtschaftsverbände, auch an die beteiligten kommunalen Institutionen, sich gemeinsam auf die kommende Situation vorzubereiten.
Ein weiteres Problem, das den Bürgermeistern und Kurdirektoren große Sorge macht: In den Kerngebieten des Fremdenverkehrs werden in vielen Gemeinden immer mehr Eigentumswohnungen errichtet, und, was noch schlimmer ist, es werden gewerbliche Betriebe in privat genutztes Einzeleigentum umgewandelt.

(Müntefering [SPD]: Jetzt bin ich aber gespannt!)

Das führt dazu, daß Hotelarbeitsplätze verlorengehen, Restaurants, Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe ihre Kunden verlieren, daß Gemeinschaftseinrichtungen unzureichend genutzt werden, daß neue Finanzprobleme entstehen und daß manche Fremdenverkehrsgemeinde zunehmend in eine Wohngemeinde mit zeitlich begrenzter Teilnutzung umgewandelt wird.
Meine Kollegen und ich sind keineswegs grundsätzlich gegen Zweitwohnungen. Aber sie gehören nicht in die Zentren der Kurgebiete mit den attraktivsten Lagen

(Beifall bei der SPD)

zu den Fremdenverkehrs-Gemeinschaftseinrichtungen oder zum Strand. Darüber sind wir einer Meinung. Sie wissen, daß die schleswig-holsteinische Landesregierung, und zwar der Herr Barschel als
Innenminister — schön für Herrn Barschel, daß Sie klatschen —

(Dr. Linde [SPD]: Von Ihrer Fraktion brauchen Sie noch ein bißchen Unterstützung!)

über den Bundesrat eine Initiative ergriffen hat, um die Novelle zu § 39h des Bundesbaugesetzes — die ja jetzt erst mal gestorben ist — zu ergänzen.

(Zurufe von der SPD)

Wir sollten in der nächsten Legislaturperiode dieses Problem zügig anpacken.

(Müntefering [SPD]: Das machen wir!)

Wenn wir es nämlich nicht sofort machen, dann sind die Strukturen, die wir heute schützen wollen, längst vernichtet.

(Dr. Linde [SPD]: Nach dem 6. März)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen: Der Fremdenverkehr ist ein stabilisierendes Element unserer Wirtschaft. 1,5 Millionen Menschen gibt er Lohn und Brot. Seine wirtschaftliche Bedeutung ist oft unterschätzt worden. Seine Chancen in Deutschland sind noch nicht voll genutzt. Er ist in unserem Industriestaat oft ein wenig stiefmütterlich behandelt worden. Die Union will alles tun, damit auch hier unternehmerischer Mut, Fleiß und mittelständische Tüchtigkeit in Zukunft gute Früchte tragen. — Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913601700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Merker.

Rolf Merker (FDP):
Rede ID: ID0913601800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Abgeordneter einer Region, in der das Kurwesen eine ganz maßgebliche Rolle spielt, möchte ich mir erlauben, mit wenigen Sätzen, in wenigen Minuten, Ihre Aufmerksamkeit ebenfalls darauf zu lenken, daß sich die wirtschaftliche Problematik der augenblicklichen Zeit nicht nur an der Saar und nicht nur an der Ruhr zeigt, sondern daß wir es auch mit einer tiefen Strukturkrise in den Kurorten zu tun haben. Wir sollten vor dieser Situation unsere Augen nicht verschließen.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich glaube, es wäre müßig, hier heute morgen in eine Analyse einzutreten und herauszufiltern, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Erinnern möchte ich aber daran, daß wir uns bei der Verabschiedung des Haushaltsstrukturgesetzes offensichtlich einig gewesen sind, bei den Sozialversicherungskuren einen Rückgang von etwa 13 % zu erreichen. Wenn wir heute vor der Situation stehen — und die Zahlen sagen dies eindeutig aus -, daß der tatsächliche Rückgang sehr viel stärker ist, daß der Einbruch in das Kurwesen sehr viel stärker ist, als wir uns dies damals vorgestellt hatten, sollte dieses Parlament auch in der Lage sein, dies noch einmal kritisch zu überdenken.
Die Bäder, meine Damen und Herren, leben heute von der Hand in den Mund. Die Situation der Bäder in Deutschland ist heute wie im Jahre 1957. Dies sollten wir alle gemeinsam sehr sorgfältig be-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8381
Merker
achten und rechtzeitig die notwendigen Schlüsse daraus ziehen.
Allerdings sind auch die Bäder selber aufgerufen, ihren Beitrag zu einer Lösung dieser Probleme zu leisten. -Der Kollege Feldmann hat eben nicht, wie ihm unterstellt worden ist, gesagt, daß die Bäder ins Blaue hinein investiert hätten. Das haben sie sicherlich nicht getan. Aber die Bäder haben auch nicht rechtzeitig die warnenden Hinweise, die der DEHOGA schon vor vielen Jahren hat laut werden lassen, beachtet. Ich glaube, die Bäder hätten gut daran getan, ihre Kapazitäten frühzeitig auf die erkennbaren Entwicklungen abzustellen. Die Bäder sind aufgerufen, mit neuen Ideen, mit neuen Formen des Kurwesens dazu beizutragen, daß der augenblicklich zu beobachtende Sturzflug im Kurwesen so nicht weitergeht, sondern mit der Hilfe aller Beteiligten in einen Gleitflug umgewandelt werden kann.
Wenn wir jetzt kritisch die Maßnahmen untersuchen — Herr Kollege Heyenn, da komme ich zu einem Satz, den Sie eben gesagt haben; Sie haben die Selbstbeteiligung als eine Zumutung hingestellt —, kann ich diese Ihre Auffassung nicht teilen. Ich meine, daß gerade bei der Wiederherstellung der Gesundheit jeder Beteiligte ein hohes Maß an Verantwortung hat, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten. Wir sollten also, wenn wir schon zu Korrekturen in unseren Maßnahmen kommen, nicht gerade bei den Selbstbeteiligungen anfangen, sondern wir sollten kritisch überlegen, ob von den anderen Maßnahmen, die zu dieser Entwicklung geführt haben, nicht die eine oder andere wieder zurückgenommen werden könnte.
Der Anfang ist gemacht worden. Die 59er-Regelung ist hier eben schon angesprochen worden. Diese Regelung könnte kurzfristig 120 bis 150 Millionen DM mobilisieren. Ich denke, daß hiermit ein ganz wesentlicher Beitrag zu einer Verbesserung der Situation in den Bädern geleistet werden könnte.
Wir sollten aber auch fragen, ob der Begriff der Prävention nicht ein bißchen gelockert werden könnte, ob es bei dieser restriktiven Auslegung, wie sie im Augenblick von den Ärzten und allen anderen Beteiligten praktiziert wird, bleiben sollte oder ob wir nicht möglicherweise etwas lockern sollten. Ich würde — ich wiederhole mich da, Herr Kollege Heyenn — dabei allerdings nicht damit anfangen, jetzt die Selbstbeteiligung aufzugeben. Da muß ich noch einmal präzisieren, was der Herr Kollege Feldmann in seinem Beitrag eben schon gesagt hat. Wir gehen heute in unserer gemeinsamen Entschließung davon aus, das künftig keine Regelungen getroffen werden, die zu stärkeren Einbrüchen führen. Diese Entschließung haben wir doch gemeinsam in Kenntnis der vor uns liegenden Beschlüsse gefaßt, die zu einer Eigenbeteiligung führen sollen.

(Müntefering [SPD]: Der vor uns liegenden!)

— Nein, der künftigen Beschlüsse. Wir sind doch
alle davon ausgegangen. Es ist doch völlig unmöglich, daß wir uns heute hinstellen und sagen „der künftigen", aber das, was heute schon auf dem Tisch liegt, dabei nicht berücksichtigen. Das kann doch wohl nicht sein. Ich meine, wir haben alle in Kenntnis dessen, was mit der Selbstbeteiligung auf uns zukommt, dieser Beschlußempfehlung zugestimmt. Im übrigen will ich Ihnen folgendes sagen. Sie können da sämtliche Umfragen, die zu diesem Punkt gemacht worden sind, nachlesen und werden dann ganz erstaunt feststellen, daß 80 % aller Kurenden durchaus bereit sind, einen Eigenbeitrag bis zu 150 DM, ja selbst bis zu 400 DM, zu leisten. Da sollten Sie sich mal kritisch überlegen, ob Sie dann immer noch bei Ihrer Weigerung bleiben können, die Selbstbeteiligung abzulehnen. Ich möchte wirklich an Sie appellieren: Lassen Sie uns doch gemeinsam die Selbstbeteiligung durchziehen und lassen Sie uns dann auch gemeinsam überlegen, wo wir in anderen Bereichen zu entsprechenden Entlastungen kommen können!

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913601900
Herr Abgeordneter Merker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn?

Rolf Merker (FDP):
Rede ID: ID0913602000
Ja, bitte.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID0913602100
Herr Kollege Merker, Sie haben eben Umfragen zitiert — die ich nicht nachprüfen kann — wonach 80 % derjenigen, die eine Heilbehandlung durchführen, bereit wären, sich selbst an den Kosten zu beteiligen. Wie schätzen Sie die Situation in den deutschen Kur- und Heilbädern ein, wenn wir einen weiteren Rückgang von 20 % bei den Heilbehandlungsmaßnahmen haben?

Rolf Merker (FDP):
Rede ID: ID0913602200
Ich befürchte diesen Einbruch nicht, Herr Kollege Heyenn, jedenfalls nicht durch die Einführung der Selbstbeteiligung. Sie werden feststellen, daß wegen der Selbstbeteiligung kein erheblicher Rückgang zu verzeichnen ist; zumindest wird er durch die Lockerung der 59er Regelung aufgefangen.

(Abg. Müntefering [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Herr Kollege Müntefering, ich habe dem Kollegen Wolfgramm versprochen, nur vier bis fünf Minuten in Anspruch zu nehmen. Ich bitte um Entschuldigung. Vielleicht können Sie dem Kollegen Wolfgramm gleich Ihre Zwischenfragen stellen. Ich würde gerne zum Abschluß kommen.
Ich meine, daß die Kur- und Heilorte in unserem Lande unsere Aufmerksamkeit, unsere Hilfe verdienen. Sparen wir unsere Kurorte nicht kaputt!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913602300
Das Wort hat der Abgeordnete Stiegler.

Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID0913602400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Absatz der gemeinsamen Entschließung heißt es:
Es ist beonders herauszustellen, welche beschäftigungspolitische Bedeutung der Fremdenverkehr in allen Formen für die traditionell
8382 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Stiegler
strukturschwachen, aber landschaftlich reizvollen Erholungsräume hat.
Das gibt mir das Stichwort für das Thema „Fremdenverkehr und regionale Entwicklung". Sie wissen, daß die Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur unter dem Grundprinzip der „inneren Entwicklungspolitik" entwickelt worden ist. Wir wissen, wie schwierig es bei der gegenwärtigen Strukturkrise in der gesamten Breite der Industriestruktur der Bundesrepublik geworden ist, im gewerblichen Bereich diesen Grundsatz durchzuhalten. Ich meine aber, im Fremdenverkehrsbereich ist dieser Grundsatz ohne Abstriche nach wie vor sehr wohl durchzuhalten. Wer sich die Liste der Fördergebiete ansieht, beginnend an der Nordsee oben, über die Lüneburger Heide, über den Harz, den Hessenwald, über das Hessische Bergland, das Sauerland, die Rhön, oder wer nach Westen in die Pfalz schaut oder dann beginnend mit dem Fichtelgebirge, zum Oberpfälzer Wald und schließlich zum Bayerischen Wald, der hat die gesamten Gebiete der Gemeinschaftsaufgabe Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur und das Zonenrandgebiet komplett beieinander. Hier ist, meine ich, noch sehr viel zu tun, um diese Gebiete regional zu entwikkeln, entsprechende Arbeitsplätze im Fremdenverkehrsbereich zu schaffen. Damit würden auch andere Ziele, auf die ich später noch eingehe, mit verwirklicht werden.
Nun ist es aber so, daß der Schwerpunkt der gesamten regionalen Wirtschaftsförderung bisher im gewerblichen Produktionsbereich gelegen hat und die Fremdenverkehrsförderung in diesem Bereich nicht im Mittelpunkt des Interesses gestanden hat.
Ich meine, wir sollten bei der künftigen Beratung der Rahmenpläne der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" der Seite der Fremdenverkehrsförderung mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Hier stellen wir fest, daß nach den bisherigen Förderkriterien die Erweiterungsinvestitionen vor den Modernisierungs- und den Rationalisierunginvestitionen rangieren. Dies müssen wir aber zusammen mit der Tatsache sehen, daß das Problem vieler dieser Fremdenverkehrsgebiete die mangelnde Kapazitätsauslastung ist, weil die Qualität des Angebots hier nicht ausreicht.
Man sollte deshalb den Schwerpunkt in der Fremdenverkehrsförderung auf die Modernisierung, auf die Anpassung an die Wünsche der Touristikteilnehmer in der gegenwärtigen Lage und auf das Rahmenangebot, auf saisonverlängernde Maßnahmen oder auch auf das Freizeitangebot legen, um damit den Anreiz, die vorhandenen Kapazitäten auszunutzen, wesentlich zu erhöhen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913602500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken?

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID0913602600
Herr Kollege Stiegler, ist Ihnen bekannt, daß die neue Bundesregierung im Gegensatz zur alten die Mittel für Zonenrandförderung um 20 Millionen DM und die Mittel für die
Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur um 50 Millionen DM erhöht hat?

Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID0913602700
Erstens werden Mittel nicht durch die Bundesregierung, sondern durch dieses Parlament erhöht. Zweitens ist es so, daß mit der Erhöhung im Haushalt noch nicht über die Verwendung entschieden ist. Über die Verwendung der Mittel entscheidet der Planungsausschuß von Bund und Ländern gemeinsam. Ich will eben gerade dazu einen Vorschlag machen, damit dann, wenn der neue Rahmenplan, mit dem die höheren Mittel verteilt werden, gemacht wird, diese Gesichtspunkte eine Rolle spielen.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913602800
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — Herr Abgeordneter Stiegler, die Genehmigung liegt bei Ihnen.

Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID0913602900
Selbstverständlich, Herr Präsident. Den Kollegen Hinsken schätze ich als ostbayerischen Kontrahenten so sehr, daß es mir geradezu ein Vergnügen ist, mit ihm zu streiten.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID0913603000
Herr Kollege Stiegler, können Sie bestätigen, daß die vergangene Bundesregierung diese Mittel laufend gekürzt hat? Und worauf führen Sie das zurück?

Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID0913603100
Das kann ich nicht bestätigen. Denn die Gemeinschaftsaufgaben sind von Bund und Ländern gemeinsam gemacht worden. Und mancher Finanzminister, der die Komplementär-mittel nicht hatte, hat sich hinter dem Bund versteckt, darunter auch der bayerische.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir sollten also den Schwerpunkt auf die Modernisierung und auf die Unterstützung der Gemeinden legen, die heute vor der Lage stehen, daß sie Schwimmbäder und ähnliches schließen müssen. Wir müssen den Gemeinden helfen, in diesem Bereich energiesparende Investitionen zu finanzieren.
Herr Kollege Hinsken, wir sollten bei den Beratungen mit den Wirtschaftspolitikern miteinander darauf drängen, daß bei der Aufstellung des 12. Rahmenplans die Mittel für den Fremdenverkehr über die jetzigen, auf der alten Planung beruhenden Raten hinaus aufgehoben werden. Dann können die 50 Millionen DM gezielt mit eingesetzt werden. Dazu brauchen wir aber die Unterstützung auch der Länder. Der Bund allein kann das nicht.
Ein weiterer Punkt ist die Anbindung dieser Fremdenverkehrsgebiete. Wir müssen auch an die Bundesbahn appellieren, sich in puncto Streckenstillegung und in puncto Verknüpfung der Hauptlinien mit den Zubringerlinien, die in diese klassischen Randgebiete führen, richtig zu verhalten. Hier muß sich die Bundesbahn zusammen mit der Bundespost etwas einfallen lassen. Hier müssen wir alle miteinander darauf drängen, daß diese Infrastrukturnachteile abgebaut werden, damit gerade auch die Älteren oder die Familienurlauber in diese regionalen Entwicklungsgebiete, in diese zu entwik-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8383
Stiegler
kelnden Fremdenverkehrsgebiete kommen können.
Meine Damen und Herren, wenn wir das machen, dann leisten wir durch eine Umlenkung der Tourismusströme auch einen Beitrag zu zwei Problempunkten, einmal einen Beitrag dazu, daß die überlasteten klassischen Fremdenverkehrsgebiete ohne dirigistische Maßnahmen entlastet werden, weil dann viele ihren Weg in die landschaftlich genauso reizvollen neuen Fremdenverkehrsgebiete finden. Zum anderen leisten wir auch einen Beitrag dazu, die Reisebilanz zu entlasten; denn diejenigen, die in diesen Gebieten unser Angebot annehmen, werden dann eben nicht ins Ausland abwandern müssen, weil ihnen das Angebot gerade im Bereich der Familienferien und in ähnlichen Bereichen nicht ausreicht.
Wir müssen, was diese Gebiete angeht, auch die rechtliche Seite beachten. Ich bin froh, daß mein Vorvorredner von der Union mit uns das Zweitwohnungsunwesen bekämpfen will. Wir haben ja bereits den Entwurf im Parlament gehabt. Ich wollte, Ihr Sinneswandel wäre einige Monate früher eingetreten, dann hätten wir in dieser Debatte schon eine Erfolgsmeldung machen können. So müssen wir mit dem Prinzip Hoffnung arbeiten. Ich hoffe, daß das kein Luftballon war, der hier hochgelassen wurde und dann nach dem 6. März zerplatzt.
Wir müssen — das möchte ich als letztes betonen — uns die Arbeitsbedingungen anschauen; denn die Schaffung neuer Arbeitsplätze in diesen strukturschwachen Gebieten hängt ja auch sehr stark von den Arbeitsbedingungen ab, die geboten werden. Um die Arbeitsbedingungen im Fremdenverkehr steht es immer noch nicht zum besten. Hier sind die Gewerkschaften aufgefordert, hier ist eventuell im Bereich der Mindestarbeitsbedingungen oder im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen auch der Staat oder das Parlament gefordert, mitzuarbeiten.
Ich sehe den Bundesarbeitsminister auf der Regierungsbank sitzen. Wir sollten noch in letzter Minute verhindern, daß das Arbeitsförderungsgesetz für die Saisonarbeiter wesentlich verschlechtert wird.

(Zustimmung bei der SPD)

Die Regelung, die Sie jetzt vorsehen, bedeutet für alle Saisonarbeitnehmer, daß sie einen Monat lang kein Arbeitslosengeld bekommen werden, daß sie bei dieser achtmonatigen Mindestbeschäftigung auf 78 Tage verwiesen werden, während wir ihnen im letzten Jahr im Vermittlungsverfahren noch 104 Tage beschert haben, d. h. ihnen ist ein ganzjähriges Einkommen sichergestellt gewesen. Wer die Saisonarbeitnehmer — genauso wie die Bauberufe, die Forstberufe; aber wir reden jetzt zum Thema Fremdenverkehr — so diskriminiert, wird keinen Beitrag dazu leisten, daß sich auch deutsche Arbeitnehmer vermehrt in dieser Branche engagieren. Wir werden dann eines Tages wieder mit dem Ruf zu kämpfen haben, mehr Ausländer herein zu lassen und ähnliches.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben noch die geringe Chance, das in der nächsten Woche zu verabschieden. Ich hoffe, daß der Bundesarbeitsminister in der Adventszeit einen anderen Kopf aufsetzt; denn so hat es Johannes der Täufer gepredigt: Mεtαvoεitε! — Setzt einen anderen Schädel auf!

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913603200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jobst.

Dr. Dionys Jobst (CSU):
Rede ID: ID0913603300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem der Kollege Stiegler griechisch aufgehört hat, müßte ich eigentlich lateinisch anfangen.

(Zuruf von der SPD: Machen Sie es einmal!)

Aber das will ich heute nicht tun.
Ich glaube, es ist günstig, daß wir heute diese große Fremdenverkehrsdebatte im Deutschen Bundestag führen. Im Vergleich zur Bedeutung des Fremdenverkehrs wird über ihn hier eigentlich viel zuwenig geredet. Die umfangreiche Beantwortung der Bundesregierung auf die Große Anfrage von SPD und FDP und auf die Kleine Anfrage von CDU/CSU war für uns sehr hilfreich und wird uns bei der weiteren Bewältigung der Aufgaben eine gute Hilfe sein.
Es ist zum Teil versucht worden, aus dieser Fremdenverkehrsdebatte eine Wirtschaftsdebatte zu machen. Herr Müntefering und auch Herr Kollege Stiegler, wir scheuen uns davor nicht. Wir nähmen den Ball gerne auf, aber wir müssen uns heute mit den sachlichen Problemen auseinandersetzen. Das, was von der SPD beklagt wird, haben Sie doch selber verschuldet. Wir müssen doch jetzt Ihre Rechnung bezahlen. Das ist die Tatsache.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind inzwischen zum urlaubs- und reisefreundigsten Land geworden und haben andere Nationen auf diesem Gebiet längst hinter uns gelassen. Mit zunehmender Freizeit und steigendem Einkommen ist auch der Drang über die deutschen Grenzen hinaus immer stärker geworden. Der Spruch „In Rom, Athen und bei den Lappen, da spähen wir jeden Winkel aus, dieweil wir blind und hilflos tappen zu Haus im eigenen Vaterhaus" ist immer noch nicht überholt. Das Reisen in die Ferne hat ja ganz andere Dimensionen angenommen. Wir Bundebürger sind in der Tat nach wie vor die Weltmeister unter den Auslandsreisenden.
Die Bundesregierung - auch meine Vorredner haben das getan — hat die große Bedeutung des Fremdenverkehrs für die deutsche Volkswirtschaft herausgestellt. Ich will noch einmal auf die Zahl von über 1,5 Millionen Beschäftigte hinweisen, die direkt oder indirekt vom Tourismus abhängig sind; das sind 6,5 % der Beschäftigten in der Bundesrepublik. Dies sind globale Zahlen. Entscheidend ist aber, welche Bedeutung der Fremdenverkehr für die einzelnen Regionen, Städte und Gemeinden hat. In Gebieten mit bereits kochentwickeltem Fremdenverkehr erreicht nämlich der unmittelbare Bei-
8384 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Jobst
trag dieses Wirtschaftszweiges zum Bruttoinlandsprodukt Werte von bis zu 20 %; einzelne Gemeinden haben hier noch höhere Werte.
Neben den traditionellen und bevorzugten Fremdenverkehrsgebieten Alpen, Ost- und Nordsee gibt es erfreulicherweise eine Vielzahl von landschaftlich schönen Regionen, die den Menschen auch Erholung bieten und die sich für den Fremdenverkehr eignen. Daß unser Kollege Engelsberger Vorsitzender der Arbeitsgruppe Fremdenverkehr der CDU/ CSU ist, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß er aus einem klassischen Fremdenverkehrsgebiet kommt und, wie er immer behauptet, aus dem schönsten Wahlkreis der Bundesrepublik. Ich darf aber in aller Bescheidenheit hinzufügen, daß mein Wahlkreis im Bayerischen Wald auch empfehlenswerte Erholungs- und Urlaubsgebiete besitzt.

(Stiegler [SPD]: Das ist der Oberpfälzer Wald und nicht der Bayerische! — Zuruf von der CDU/CSU: Das nehmen Sie sofort zurück!)

Der Fremdenverkehr ist gerade in diesen strukturschwächeren Gebieten in den letzten Jahren zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Vielfach ist er dort ein notwendiger Nebenerwerb. Der Tourismus gewährleistet in den strukturschwachen Gebieten ebenfalls zahlreiche selbständige Existenzen und eine nicht unbeachtliche Zahl von Arbeitsplätzen. Darüber hinaus eröffnet der Fremdenverkehr auch Chancen für eine positive Entwicklung in anderen Wirtschaftsbereichen. Entsprechende Freizeiteinrichtungen und die Verbesserung der Lebensbedingungen erleichtern auch die Ansiedlung von Betrieben und die Schaffung von gewerblichen Arbeitsplätzen. Es darf auch nicht übersehen werden, daß die vorhandenen Fremdenverkehrseinrichtungen die Attraktivität der einzelnen Gebiete nicht zuletzt für die dort Wohnenden steigert.
Der Fremdenverkehr trägt mit dazu bei, einen Teil der Nachteile der strukturschwächeren Gebiete auszugleichen. Er dient damit einer übergeordneten Aufgabe, nämlich überall im Bundesgebiet gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen.
Fremdenverkehrspolitik ist für uns daher auch Regionalpolitik und Strukturpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Fremdenverkehrspolitik ist in hohem Maße natürlich auch Mittelstandspolitik. Wir alle wissen, daß der Mittelstand, das Handwerk, die mittelständischen Betriebe — dazu gehören vor allem die Fremdenverkehrsbetriebe —, die tragende Säule unserer Wirtschaft und der sozialen Marktwirtschaft ist. Wir alle wissen, daß in den Familienbetrieben der Fremdenverkehrswirtschaft großer Einsatz und große Leistungen erbracht werden. Fremdenverkehrspolitik ist Dienst am Menschen, die im Fremdenverkehr Dienstleistungen und Einrichtungen in Anspruch nehmen oder dort ihre berufliche Existenz haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Wettbewerb zwischen den Fremdenverkehrsregionen wird schärfer werden. Aber ich bin optimistisch. Die Erfahrungen der letzten beiden Jahre haben gezeigt, daß der Urlaub trotz der wirtschaftlichen Rezession bei unserer Bevölkerung einen hohen Stellenwert besitzt. Ich gehe davon aus, daß im Fremdenverkehr noch Zuwächse zu erwarten sind. Gerade hier sehe ich eine Chance für den Fremdenverkehr, nämlich die, daß unsere Bevölkerung die in den letzten Jahren gestiegenen Kosten für Auslandsreisen zum Anlaß nimmt, mehr und mehr auch die Schönheiten unseres eigenen Landes kennenzulernen.

(Müntefering [SPD]: Wenn Sie ihr zwischendurch nicht das Geld wegnehmen!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Dirigismus wäre kein Mittel, den Fremdenverkehr in strukturschwächeren Gebieten zu steigern. Die Empfehlung, den Urlaub im eigenen Land zu verbringen, ist bei weitem kein Dirigismus. Ein solcher kommt für uns nicht in Frage. Die Freizügigkeit unserer Bürger ist auch hier für uns oberstes Gebot. Auch im Fremdenverkehr gelten für uns die Prinzipien der Marktwirtschaft.
Ein florierender Fremdenverkehr in Deutschland muß die Folge überzeugender Angebote von hoher Qualität sein, die durch die Werbung und die Aufklärung an den Mann gebracht werden müssen. Warum sollten nicht auch kleinere Städte und Gemeinden auf dem flachen Land einmal das Ziel für einige Tage des Ausspannens oder für den Erholungsurlaub sein? Ein Großteil unserer Gemeinden verfügen doch heute schon über ausreichende Freizeiteinrichtungen für die eigene Bevölkerung. Diese könnten auch von Besuchern genutzt werden. Schließlich hat doch auch eine stille Landschaft ihren Reiz.
Gäste dorthin zu bringen setzt allerdings voraus, daß das örtliche Hotel- und Gaststättengewerbe mitzieht. Wir wissen, daß hier gute Einrichtungen zur Verfügung stehen. Ich glaube, daß mit relativ geringem Aufwand ein durchaus attraktives Angebot für viele unserer Mitbürger geschaffen werden könnte. Dabei geht es nicht darum, ganze Touristenströme umzuleiten. Es müßten nur die notwendigen Mittel für die bescheidenen Werbeaktionen zur Verfügung gestellt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für manche Gebiete, für die strukturschwachen Gebiete, müssen aber die staatlichen Rahmenbedingungen weiter verbessert werden, damit der Fremdenverkehr als Wirtschaftsfaktor dort noch stärker zum Tragen kommen kann.
Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wurde schon angesprochen. Dies ist nach wie vor ein wichtiges Instrument, die Fremdenverkehrseinrichtungen zu verbessern und damit die Attraktivität zu heben. Es sind bereits beachtliche Leistungen in diesen strukturschwächeren Gebieten erzielt worden. Ich denke nur an den Bayerischen Wald. Es gibt aber noch sehr viele Aufgaben zu bewältigen.
Zu den vom Kollegen Ziegler angesprochenen Kürzungen der Mittel für die regionale Strukturpolitik möchte ich sagen: Die Mittel hat in den letzten
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8385
winner sind dann nicht nur die Erholungsuchenden, sondern Gewinner sind dann auch die Bewohner dieser Regionen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913603400
Herr Abgeordneter Dr. Jobst, es waren für Sie zehn Minuten vorgesehen.

(Zuruf des Abg. Dr. Jobst [CDU/CSU])

— Ja, das ist durchaus verständlich aber hier waren nun einmal nur zehn Minuten vorgesehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Linde.

Dr. Jürgen Linde (SPD):
Rede ID: ID0913603500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Jobst, die Aussprache über die Fremdenverkehrspolitik ist nicht dazu geeignet, mit ihr Wahlwerbung für Wahlkreise zu betreiben. Wenn sich jeder Abgeordnete hier nur um seinen Wahlkreis kümmerte, würde keine Politik in diesem Parlament entstehen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf der Abg. Frau Hoffmann [Soltau] [CDU/CSU])

Genauso würde, wenn sich jeder nur um seine eigene Fremdenverkehrsregion kümmerte, keine Fremdenverkehrspolitik entstehen. Es geht hier vielmehr, Frau Kollegin Hoffmann, darum — darum bemühen wir uns —, die zersplitterten Kräfte von Bund, Ländern und Gemeinden zu einem koordinierten Handeln zusammenzuführen. Dieses koordinierte Handeln kommt in der gemeinsamen Entschließung Gott sei Dank zum Ausdruck. Bloß, ich möchte, damit das nicht uminterpretiert wird, noch einmal festhalten, daß unsere Stellungnahme zu den Kurorten ist: Es ist wichtig, die Nachfrage jetzt nicht zusätzlich zu begrenzen und die schwierige Situation in den Kurorten und Heilbädern nicht weiter zu verschärfen; darin sind wir einig. Bitte, interpretieren Sie nicht hinein, daß dies die Zustimmung unsererseits zu irgendwelchen Formen von Selbstbeteiligung ist. Da sind wir nicht dabei. Da haben Sie unseren Widerspruch, und dabei bleibt es. Im übrigen haben Sie unsere Zustimmung zu dieser gemeinsamen — das finde ich gut — Entschließung.
Nun möchte ich etwas zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Herrn Späth, sagen. Es tut uns in der Fremdenverkehrspolitik nicht gut, wenn man immer große Sprüche macht, bei der konkreten Hilfe für bessere Vermarktung dann aber nicht weiterkommt. Wenn der Ministerpräsident von Baden-Württemberg sagt, man solle lieber im Inland Urlaub machen, dann muß er wissen, wann er Urlaub machen möchte. Herr Kollege Wolfgramm, da Sie ja noch Winterreisen ansprechen werden: Die Winterreise in einen der Fremdenverkehrsorte, insbesondere im November, wäre hervorragend geeignet, um freie Kapazitäten auszulasten. Bloß, in der Hauptsaison haben wir nur eine freie Spitze von 7 %. Hier aufzuspüren, wo denn die Kapazität frei ist, ist die große Schwierigkeit. Herr Kollege, der Bildschirmtext könnte uns dabei helfen. Bloß, die vielen Klein- und Mittelbetriebe, die im Fremdenverkehr keine ausreichenden Verdienstchancen finden, haben große Schwierigkeiten, diese Vermarktungskosten aufzubringen. Wir
Dr. Jobst
Jahren einseitig der Bund gekürzt, gegen die Stimmen der Länder. Teilweise sind die Länder überhaupt nicht gefragt worden.

(Zustimmung bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Es wurde halbiert!)

Ich glaube, auf diesem Gebiet erfolgte eine Weichenstellung bereits dadurch, daß die Bundesregierung die Mittel für die regionale Strukturpolitik im kommenden Haushalt um 50 Millionen DM und die Mittel für das Zonenrandgebiet um 20 Millionen DM erhöht hat. Darin sind auch die Mittel für den Fremdenverkehr enthalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielfach fehlt heute für die strukturschwächeren Gebiete noch die notwendige Verkehrsinfrastruktur. Das ist für diese Gebiete ganz entscheidend. Die Bundesautobahnen müssen dort ihre Fortsetzung in guten Bundes- und Landesstraßen haben, damit diese Gebiete besser angeschlossen werden können. Das Handikap ist, daß unser überregionales Straßennetz nicht darauf ausgerichtet ist, das flache Land und die peripheren Räume mit den Ballungsräumen in der erforderlichen Weise zu verbinden.
Erst nach langen Kämpfen wurde das Erschließungsprinzip als wesentliches Kriterium für den Bundesfernstraßenbau anerkannt. Durch die leeren Kassen heute müssen die Gebiete natürlich auf die längst gebotene Verkehrserschließung weiter warten.

(Glocke des Präsidenten)

— Herr Präsident, ich komme zum Schluß.
Die Maßnahmen der Deutschen Bundesbahn und die Diskussion um die Streckenstillegungen sind natürlich auch nicht gerade dazu angetan, den Fremdenverkehr in ländlichen Gebieten attraktiver zu machen.

(Heyenn [SPD]: Sehr richtig!)

Gerade der Bäderverkehr leidet heute darunter, wenn Strecken stillgelegt werden und die Leute umsteigen und die Verzögerung im Gepäckverkehr in Kauf nehmen müssen. Ich darf darauf hinweisen, daß die Menschen in den ländlichen Bereichen mit dem Aufkommen aus der Mineralölsteuer den Schienenpersonenverkehr in den Ballungsräumen mit subventionieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe noch eine Vielzahl von Fragen anzusprechen, vor allem die Konflikte zwischen Naherholung und dem normalen Fremdenverkehr, die Aktion: „Unser Dorf soll schöner werden", Familienurlaub, Urlaub auf dem Bauernhof, sowie das, was die Fremdenverkehrswirtschaft an Leistungen erbracht hat.

Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID0913603600
Herr Abgeordneter Dr. Jobst, ich bitte, zu Ende zu kommen.

Dr. Dionys Jobst (CSU):
Rede ID: ID0913603700
Ich meine, daß wir unser Gewicht jetzt noch stärker darauf legen müssen, daß neben den klassischen Fremdenverkehrsregionen auch die Gebiete, die sich für den Fremdenverkehr in hervorragender Weise eignen, noch besser für den Fremdenverkehr erschlossen werden. Ge-
8386 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Linde
wissen alle miteinander, daß z. B. die 15 %ige Reisebüroprovision häufig ein Hindernis ist, daß sich Klein- und Mittelbetriebe solchen Vermarktungseinrichtungen anschließen.
Ich möchte dem Wirtschaftsministerium, mit dem wir in der letzten Zeit, in den letzten Jahren weiß Gott überhaupt nicht einverstanden waren — so meinen wir, daß man im Wirtschaftsministerium auch Pflichten gegenüber dem Arbeitsmarkt nicht nachgekommen ist -, für die gute, stille Arbeit auf dem Gebiete der Fremdenverkehrspolitik ausdrücklich danken. Herr Staatssekretär Grüner, das, was von dem kleinen zuständigen Referat in Ihrem Hause geleistet wird, hat der Fremdenverkehrspolitik seit 1975 wirkungsvoll geholfen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ich wäre dankbar, wenn diese Arbeit fortgesetzt und verstärkt werden könnte.
Wir haben es mit Bedauern zur Kenntnis genommen, daß sich die Bundesländer — jedenfalls solange die sozialliberale Regierung am Ruder war - häufig auch darauf verstanden haben, die Aktivitäten des Bundes auf diesem Gebiete zu behindern. Da jetzt im Bundestag eine andere Mehrheit vorhanden ist, gibt es hier vielleicht verstärkte Möglichkeiten zur Kooperation.
Und noch etwas: Wenn ich gesagt habe, der Wirtschaftsminister hat hier wirkungsvoll geholfen, so meine ich, daß das Handeln der Bundesregierung auf dem Gebiete der Fremdenverkehrspolitik noch nicht ausreichend koordiniert ist. Es gibt, wenn man dem nachspürt, in jedem Ministerium irgendeine Nische, die direkt oder indirekt mit dem Fremdenverkehr zu tun hat: Der Landwirtschaftsminister kümmert sich um die „Ferien auf dem Bauernhof", der Raumordnungsminister um die Planung, der Verkehrsminister um den Verkehr, und sogar der Forschungsminister ist beteiligt. Im Sozialministerium gibt es gar zwei Referate, die von einander nicht immer wissen, was sie tun. Herr Kollege Grüner, wir wären sehr dankbar, wenn dies mal offengelegt würde und hier an der Spitze, vielleicht sogar durch Sie oder einen anderen Staatssekretär — Herr Arbeitsminister, Sie sollten mal nachgucken, wie die unterschiedlichen Aussagen da sind -, wenigstens die Bundesregierung mit einer Zunge spricht. Übrigens ist es in den Ländern genauso; auch dort arbeiten die Ministerien gegeneinander. So kommt kein einheitliches Konzept zustande.
Zur Sicherung von Arbeitsplätzen möchte ich noch etwas sagen. In der Großen Anfrage steht seit 1975 unkritisch die Zahl von 1,5 Millionen Arbeitskräften, die direkt oder indirekt vom Tourismus abhängen. Die Zahl ist wohl, ausweislich einer mir jetzt erst zugänglich gewordenen Schrift, die der Wirtschaftsminister hat erstellen lassen, nämlich einer Strukturanalyse des touristischen Arbeitsmarktes, zu hoch gegriffen. Als die Große Anfrage fertiggestellt wurde, lag diese Schrift, Herr Kollege Grüner, wahrscheinlich noch nicht vor. Aber es ist dankenswert, daß dort nachgewiesen ist, daß es immerhin 1 Million gesicherte Arbeitsplätze sind, und zwar ungefähr 700 000 Arbeitsplätze im gastronomischen Gewerbe, die man direkt dem Tourismus zuordnen kann, und 30 000 andere. Hinzu kommen aber wohl noch 200 000 selbständige Existenzen, die man zumindest als Beschäftigungsmöglichkeit hinzurechnen kann. Ich wäre dankbar, wenn diese Strukturanalyse fortgesetzt werden könnte, damit wir auch die Arbeitskräfte, die indirekt dem Tourismus zugeordnet werden können — z. B. aus dem Bereich Verkehr —, besser erfassen und hier für die Arbeitsplätze etwas tun können.
Damit bin ich schon fast beim letzten: Die Arbeitsplätze im gastronomischen Gewerbe. Herr Kollege Feldmann hat vorhin gesagt, es gebe dort gut bezahlte Arbeitsplätze. Ich meine, wir sollen hier nicht zu optimistisch sein. Es sind mittelmäßig bis mäßig bezahlte Arbeitsplätze, und es sind Arbeitsplätze mit Arbeitsbedingungen, die mit denen von Büro- oder Industriearbeitsplätzen nicht vergleichbar sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Geschenkt! Geschenkt!)

— Mir ist das nicht geschenkt! Sehen Sie sich das an!
Im übrigen müssen wir auch eine andere Zahl sehen. 81,6% der Gaststätten und 68 % der Beherbergungsbetriebe haben einen Umsatz von unter 250 000 DM. Das bedeutet — Sie wissen das aus Ihrer praktischen Arbeit -, daß unter dem Strich etwa 30 000 DM für eine ganze Familie übrigbleiben. Wenn man nicht sieht, daß Dienstleistungen teuer sind und Gäste im Grunde genommen bei uns zwar selbst ein hohes Einkommen schätzen, im Urlaub aber nur geringe Ausgaben machen wollen, dann wissen wir, wo die Probleme in der Gastronomie sitzen. Wenn das so bleibt, dann müssen wir damit rechnen, daß bestimmte Angebote nicht mehr erbracht werden können, weil die Verdienstchancen nicht ausreichend sind. Das möchte ich vor allen Dingen den Damen und Herren Angestellten sagen, die nämlich mit 68% sich der größten Reiseintensität erfreuen, aber an die Kollegen im Wirtshaus, die sie bedienen sollen, die aber weniger verdienen und dann noch ein freundliches Gesicht machen müssen, nicht immer ausreichend denken. Hier sitzen Probleme.
Die Existenzfähigkeit dieser Betriebe könnte dadurch gehoben werden, daß der Sachkundenachweis einer ernsthafteren Prüfung unterzogen wird. Es geht nicht um Hygiene, auch nicht um das Thema Gewerbefreiheit, sondern es geht darum, die Grundlagen der Berufsausübung und der Betriebswirtschaft denen so zu vermitteln, daß sie dem schärferen Wettbewerb gewachsen sind.

(Dr. Jobst [CDU/CSU]: Vorschriften! Vorschriften!)

Die Fluktuation dieser Betriebe — das möchte ich dem Wirtschaftsministerium sagen — ist eine ernste Gefahr für das Gewerbe und den Tourismus überhaupt.

(Vorsitz : Vizepräsident Frau Renger)

Ich könnte mir vorstellen, daß eine Regelung, wie
sie bei den Handwerksbetrieben üblich ist, auch im
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8387
Dr. Linde
Gaststättengewerbe kommen könnte. Keiner kann mir erklären, wo in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen einem Dachdeckermeister und einem Koch oder einem Serviermeister liegt.

(Zustimmung bei Abgeordneten der FDP)

Die Große Anfrage ist eine sehr hilfreiche Grundlage für die weitere Arbeit. Ich möchte hoffen, daß wir auch in Zukunft darauf aufbauen können — in besserer und verstärkter Zusammenarbeit zum Wohle des deutschen Fremdenverkehrs. — Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913603800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoffmann.

(Zurufe)

— Ich bitte um Entschuldigung! Das Wort hat der Herr Kollege Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID0913603900
Frau Präsidentin, nichts läge mir ferner, als hier nicht absolute Nachsicht üben zu dürfen. Mein Name wird sowieso meistens leider nur mit einem „m" geschrieben.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913604000
Aber Ihren Namen spreche ich besonders gerne aus, Herr Kollege Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID0913604100
Ich danke Ihnen sehr, Frau Präsidentin.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Dr. Linde, ich glaube, daß Akquisiteure einen wichtigen Anteil am Fremdenverkehr haben. Insofern habe ich es eigentlich begrüßt, daß die Kollegen uns vorhin mitgeteilt haben, wie interessant ihre Wahlkreise sind und daß sich diese gerade zum Erholen in besonderer Weise eignen. Vielleicht ist das eindrucksvoller, als die eine oder die andere Werbeschrift zu lesen, in denen gern gezeigt wird, daß der Mittelpunkt der Welt gerade dort, in diesem Fremdenverkehrsbereich, liegt und sich Berlin oder München oder Hamburg auf der geographischen Skizze nur als kleine Städte ausnehmen.
Herr Kollege Linde, Sie haben natürlich mit Recht den Harz nicht erwähnt. Das brauchen Sie auch nicht zu tun, weil ja Heine in seiner „Winterreise" darüber genügend gesagt hat. Er hat übrigens auch über Göttingen einiges gesagt, aber das will ich hier nicht vortragen, weil er sich unfreundlich mit den Damen der Stadt auseinandergesetzt hat.

(Heiterkeit)

Der Schweizer Professor Krippendorff, der sich mit Tourismus beschäftigt, stellt die Prognose, die Freizeitindustrie werde im Jahre 2000 die bedeutendste Industrie sein und werde den Stahl- und andere Bereiche weit hinter sich gelassen haben. Ich kann das im Augenblick nicht nachvollziehen, aber ganz augenscheinlich gibt es einen Trend dahin. Das macht deutlich, daß wir diesem Bereich auch in Zukunft unsere Aufmerksamkeit, vielleicht auch unsere verstärkte Aufmerksamkeit, widmen müssen.
Ich begrüße den Entschließungsantrag, der j a auf Initiative aller drei Fraktionen zustande gekommen ist, was, wie ich meine, deutlich macht, daß wir im Bund uns im Bereich des Fremdenverkehrs trotz der einen oder der anderen unterschiedlichen Betonung gemeinsam darstellen und auch gemeinsam helfen wollen. Ich möchte noch einmal das festhalten, was mein Kollege Dr. Feldmann vorhin gesagt hat: Ich finde es sehr wichtig, daß wir in diesem Entschließungsantrag den Bereich der Familienferien und auch den Bereich der Ferien auf dem Bauernhof unterstreichen; denn das sind Bereiche, in denen wir — jedenfalls durch Unterstützung und Information — helfen sollten. Weil die Kosten, die für Familien mit dem Urlaub verbunden sind, beträchtlich sind, sollten wir uns in diesen Bereichen weiter der Mühe unterziehen, Angebote für Familien aufzubereiten.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913604200
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jobst?

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID0913604300
Ich freue mich darüber, daß das von Mikrophon zu Mikrophon im Saal geschehen kann.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913604400
Bitte, Herr Kollege.

Dr. Dionys Jobst (CSU):
Rede ID: ID0913604500
Herr Kollege Wolfgramm, sind Sie, nachdem Sie jetzt einzelne Maßnahmen, die für den Fremdenverkehr sehr nützlich sind, aufgeführt haben, z. B. Urlaub auf dem Bauernhof, der Meinung, daß die bundesweite Aktion „Unser Dorf soll schöner werden" erheblich mit dazu beigetragen hat, daß unsere Dörfer attraktiver und lebenswerter geworden sind?

Torsten Wolfgramm (FDP):
Rede ID: ID0913604600
Ich bin grundsätzlich dieser Meinung, Herr Kollege, habe aber hin und wieder den Eindruck, daß die Aktion das eine oder das andere, was in den Dörfern gewachsen ist, nicht immer ganz berücksichtigt hat. Wenn ich im Lande herumfahre und sehe, daß Glasbausteine in alten Fachwerkhäusern Verwendung finden oder daß schönen Bauerngärten schmiedeeiserne Zäune als Eingrenzung dienen, bin ich nicht ganz der Meinung, daß wir schon das Optimum dieser Aktion erreicht hätten. Wir müssen vielleicht noch mehr darauf sehen, daß auch im Bereich der Dorfpflegschaften sorgfältig darauf geachtet wird, daß Altes sachgerecht bewahrt wird.

(Zustimmung bei der FDP)

Ich möchte keine Anmerkung zu dem Bereich der Württemberger Kabinettsbeschlüsse machen. Ich habe den Eindruck, die Württemberger haben es schon von jeher verstanden, ihren Wein selbst zu trinken und die anderen in Deutschland daran nur wenig teilnehmen zu lassen. Wer Remstaler Weine kennt, weiß, daß sie sehr erlesen sind. Nun soll sich anscheinend auch der Spätzlebereich stärker nur den Württembergern erschließen dürfen.
Ich meine, daß wir hier eines festhalten müssen. Der Fremdenverkehr und die Möglichkeiten der Westdeutschen, der Bundesrepublikaner, ins Ausland zu reisen, dürfen nicht beschränkt werden. Ich erkläre hier ganz eindeutig, daß sich die Liberalen
8388 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Wolfgramm (Göttingen)

keine Devisenbeschränkung oder ähnliches vorstellen können. Wir brauchen auch die Länder um uns herum, die sich in besonderer Weise auf Fremdenverkehr eingestellt haben. Wir brauchen sie um uns herum, weil sie mit ihren Devisen auch in anderen Bereichen wieder Kaufkraft bei uns fördern und damit Arbeitsplätze erhalten.
Lassen Sie mich zum Ausländerbereich kommen. Ich stelle mit Befriedigung fest — ich darf der Bundesregierung dafür danken, daß sie sich immer in dieser Weise eingesetzt hat —, daß wir seit 1975 einen steigenden Ausländeranteil haben. Das macht deutlich, daß kontinuierliche Arbeit auf diesem Gebiet ihre Wirkung entfaltet. Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat hieran einen ganz entscheidenden Anteil. Ich möchte an die Verbände und Organisationen appellieren, die in diesem Bereich des Fremdenverkehrs tätig sind, sich auch bei der DZT stärker mit Mitteln zu engagieren, damit wir diese Arbeit noch intensiver fortsetzen können; denn jede dort ausgegebene Mark holt das Doppelte wieder herein.
Es gibt natürlich immer noch individuelle Hinderungsgründe, nicht auf Reisen zu gehen. Ringelnatz hat einen davon beschrieben:
In Hamburg lebten zwei Ameisen, die wollten nach Australien reisen. In Altona auf der Chaussee,
da taten ihnen die Beine weh,
und so verzichteten sie weise
denn auf den weiteren Teil der Reise.

(Heiterkeit bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913604700
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Grüner.

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0913604800
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte mich zu einigen der hier angesprochenen Problemkreise sehr kurz äußern und mit der Selbstbeteiligung beginnen. Als Wirtschaftspolitiker sage ich dazu, daß sich die Kurorte und Heilbäder, soweit sie Sozialversicherte aufnehmen, in einer in unserer Wirtschaftsordnung eigentlich einmalig günstigen Lage befinden, weil die dort gebotenen Leistungen bisher kaum materielle Mittel derer, die die Leistungen in Anspruch nehmen, gekostet haben. Das heißt, wirtschaftlich gesprochen, gibt es im Gesundheitswesen im Gegensatz zu allen anderen Wirtschaftsbereichen keine Konkurrenz um die Mark des Verbrauchers, die ja nur einmal ausgegeben werden kann. Alle anderen Wirtschaftsbereiche kämpfen um ihren Anteil an der nur einmal zur Verfügung stehenden Mark des Verbrauchers.
Ich möchte vor allem an die Kollegen der SPD-Fraktion die Bitte richten, diesen Gesichtspunkt bei der Diskussion über die Selbstbeteiligung im Auge zu behalten und auch daran zu denken, daß die Kaufkraftentzugswirkung bei den kleinen Leuten über die Beiträge, die sie zur Sozialversicherung zu zahlen haben, sehr viel schwerer zu bewerten ist und sehr viel negativere wirtschaftliche Auswirkungen hat als eine Selbstbeteiligung.
Die Selbstbeteiligung kann auch als eine Chance verstanden werden, die administrativen Beschränkungen beim Zugang zu Heilverfahren zu beseitigen; denn das Gegengewicht zu der Kostenlosigkeit war und ist auch heute noch die administrative oder medizinisch begründete Beschränkung. Vielleicht sollten wir das unter ökonomischen Gesichtspunkten einmal durchdenken.
Die beiden wichtigsten Unternehmensbereiche im Fremdenverkehr, das Hotel- und Gaststättengewerbe und das Reisebürogewerbe, sind — das ist hier betont worden — typisch mittelständisch. Hohe Zuwachsraten in den letzten drei Jahrzehnten kennzeichnen die wirtschaftliche Entwicklung und haben die Wirkungen mancher sich abzeichnender Nachfrageänderungen überdeckt. Ich erwähne etwa, daß aus Kostengründen weniger Serviceleistungen verlangt werden, daß Ferienwohnungen statt Hotels oder Schnellgaststätten statt Restaurants im Vordringen sind. Dies tritt jetzt deutlicher zutage und führt zu Anpassungserfordernissen, die für mittelständische Unternehmen ohne Zweifel eine ganz besondere Herausforderung darstellen. Im Hotel- und Gaststättengewerbe ist dieser Anpassungsprozeß, wie wir ja alle wissen, schon seit einiger Zeit im Gange. Im Reisebürogewerbe hat der notwendige Klärungsprozeß dagegen gerade erst begonnen. Dort geht es um den Direktvertrieb, d. h. die Ausschaltung der Reisemittler beispielsweise durch die Fluggesellschaften oder durch Reiseveranstalter und die noch nicht abzuschätzende Bedeutung der elektronischen Kommunikationsmittel. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort „Bildschirmtext".
Das Bundeswirtschaftsministerium hat durch die Finanzierung einer Untersuchung dazu beigetragen, hier mehr Transparenz zu schaffen. In dieser Untersuchung steht für den Experten sicher viel Selbstverständliches. Dem mittelständischen Unternehmer dabei zu helfen, daß er künftige Entwicklungslinien bei seinem unternehmerischen Handeln in seine Überlegungen einbezieht, ist ein wesentlicher Teil unserer Mittelstandspolitik. Jeder einzelne Unternehmer muß sich der Herausforderung stellen, und er darf nicht nach staatlichen Eingriffen oder gar Schutzzäunen gegen unbequeme Wettbewerber oder unbequeme Entwicklungen rufen. Sicher könnten die mittelständischen Unternehmen des Reisebürogewerbes die von der Bundesregierung geförderten Unternehmensberatungen stärker nutzen, so wie das in anderen Bereichen bereits geschieht. Ab 1983 werden zusätzlich auch Unternehmerseminare für Reisebürounternehmen angeboten und gefördert werden.
Eine weitere Bemerkung. Protektionistische Maßnahmen bieten weder national noch international eine Lösung für notwendige Anpassungen an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse oder technische Entwicklungen. Graf Lambsdorff hat darauf in einer Zeit, als unsere Devisenbilanz außerordentlich ungünstig war, hingewiesen, und er hat damals mit Zustimmung dieses Hohen Hauses ausgeführt: Auch weiterhin wird niemand daran gehindert werden, ins Ausland zu reisen, wann er will und so oft er will — und das auch ohne irgendwelche finan-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8389
Parl. Staatssekretär Grüner
zielle oder administrative Einschränkungen. Dabei soll es bleiben. Wir wollen und können eine sinnvolle internationale Arbeitsteilung weder aufheben noch rückgängig machen. Alle Beteiligten könnten dabei nur verlieren. Das heißt aber nicht, daß man nicht auf die Schönheiten und die Attraktivität deutscher Fremdenverkehrsgebiete aufmerksam macht. Ich meine, daß die Fremdenverkehrswirtschaft auf diesem Gebiet noch sehr viel zielstrebiger als bisher tätig werden kann. Auch die Schulferienregelungen der deutschen Kultusminister, die wir in ihrer Entwicklung in der Vergangenheit dankbar begrüßt haben, können hier noch den einen oder anderen Beitrag leisten.
Schließlich möchte ich noch einen Punkt in Verbindung mit dem Thema „Auslandstourismus" ansprechen. Die Deutsche Zentrale für Tourismus erhält für diesen Bereich erhebliche Mittel aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft. Die Entwicklung im Bereich der Ausländerübernachtungen beweist, daß diese Werbung erfolgreich ist. Der grenzüberschreitende Tourismus darf ebensowenig wie der grenzüberschreitende Warenverkehr zu einer Einbahnstraße werden. Das macht ständige Werbebemühungen notwendig, die j a vom Bund nachdrücklich unterstützt werden. Die vorgesehene Bundeszuwendung 1983 an die Deutsche Zentrale für Tourismus entspricht dieser Zielsetzung. Es muß aber auch erwartet werden, daß die deutschen Fremdenverkehrsorganisationen und -unternehmen ihren finanziellen Beitrag zu den Kosten der Werbung angemessen erhöhen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913604900
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0913605000
Bitte sehr.

Dr. Rolf Olderog (CDU):
Rede ID: ID0913605100
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Fremdenverkehrsverbände in der Bundesrepublik darüber Klage führen, daß die Auslandsarbeit der DZT mit dem Inlandsangebot nicht hinreichend abgestimmt sei, und sind Sie bereit, diesem Punkt einmal nachzugehen?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0913605200
Ja, wir stehen in einem ständigen informativen Gedankenaustausch und bemühen uns, derartigen Klagen nachzugehen. Voraussetzung ist allerdings, daß man unternehmerische Konzeptionen zur Lösung dieser Probleme auf den Tisch legt. Das ist weniger eine Frage, die man an den Staat und seine Einrichtungen richten muß, sondern das ist zunächst eine echte unternehmerische Aufgabe.
Ich möchte jedenfalls die Fremdenverkehrswirtschaft trotz sicher nicht günstiger gewordener Ertragslage ausdrücklich auffordern, ihre Werbung und ihre Anstrengungen in der Werbung für Auslandstouristen in Deutschland zu verstärken.
Ich wiederhole dankbar, was hier in vielen Debattenbeiträgen schon zum Ausdruck gebracht worden ist, nämlich die große wirtschaftliche und vor allem die große arbeitsmarktpolitische Bedeutung der
Fremdenverkehrswirtschaft. Die Arbeitsplätze in diesem Bereich sind über das ganze Bundesgebiet verteilt und liegen zu einem guten Teil in besonders attraktiven Gebieten, die in der Regel weniger gute berufliche Chancen im industriellen Bereich bieten. Das ist ein Faktor, der für uns gerade in der augenblicklichen Situation besonderer Unterstreichung bedarf. Wir stellen mit großer Befriedigung fest, daß die marktwirtschaftlich, unternehmerisch orientierte Fremdenverkehrswirtschaft hier einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung der Beschäftigung geleistet hat und, davon bin ich überzeugt, auch in Zukunft leisten wird. — Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913605300
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Zu der Großen Anfrage betreffend Fremdenverkehr liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 9/2255 vor. Wer diesem interfraktionellen Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig beschlossen.
Ich rufe die Punkte 3 a und 3 b der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Glombig, Kirschner, Egert, Ibrügger, Jaunich, Dr. Linde, Schmidt (Kempten), Cronenberg, Eimer (Fürth), Hölscher, Frau Dr. Adam-Schwaetzer und der Fraktionen der SPD und FDP
Behindertenpolitik nach dem Internationalen Jahr der Behinderten 1981
— Drucksachen 9/1155, 9/1635 -
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder"
— Drucksache 9/2038 -
aa) Bericht des Haushaltsausschusses

(8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

— Drucksache 9/2258 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Topmann
bb) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuß)

— Drucksache 9/2234 -
Berichterstatter: Abgeordneter Dolata

(Erste Beratung 131. Sitzung)

Die Berichterstatter wünschen nicht das Wort.
8390 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Vizepräsident Frau Renger
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b und eine Aussprache von einer Stunde vorgesehen. — Es erhebt sich kein Widerspruch.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID0913605400
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage zur Behindertenpolitik, die wir heute debattieren, ist auf den Tag genau vor einem Jahr von den damaligen Koalitionsfraktionen an die Bundesregierung gerichtet worden. Die SPD-Bundestagsfraktion war der Ansicht, daß die Behinderten zu Recht erwarten, daß nach Abschluß des Internationalen Jahrs der Behinderten 1981 auch der Deutsche Bundestag eine Zwischenbilanz für diesen wichtigen Bereich politischer Gestaltung zieht.
Wir begrüßen es, daß die Antwort, die noch von der Bundesregierung der sozialliberalen Koalition erarbeitet worden ist, uns dazu heute die Gelegenheit gibt. Wir hätten es allerdings — lassen Sie mich auch dies sagen — für besser gehalten, wenn sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor Jahresfrist noch in der Opposition dazu hätte durchringen können, der Großen Anfrage beizutreten. Dies wäre ein Pluspunkt für das gesamte Parlament und ein wichtiges Signal in Richtung der Beteiligten und der Betroffenen gewesen.
Nun haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, zusammen mit der FDP die Regierungsverantwortung. Wenn man Ihre bisherigen Leistungen seit der Regierungsübernahme auf diesem Gebiet betrachtet, kann es allerdings niemanden verwundern, daß Sie auf diesem wichtigen Gebiet nichts zu sagen haben. Die CDU/CSU hat auch hier zusammen mit der FDP eine Wende vollzogen und für eine Politik der Erneuerung gesorgt. Dies kann man Ihnen nicht absprechen, denn zum ersten Mal seit 1969 kam das Wort „Behinderte" nicht in der Regierungserklärung eines Bundeskanzlers vor.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Dies ist bezeichnend für eine Politik, die für Klarheit und Wahrheit „in diesem unserem Lande" sorgen möchte.
Da wird ein Bundesbeauftragter für die Behinderten berufen, der sich anscheinend berufen fühlt, selber der Totengräber dieser Institution zu sein. Wie anders soll man Meldungen der „Frankfurter Rundschau" vom 30. November 1982 werten — ich darf, Frau Präsidentin, mit Ihrer Genehmigung zitieren —, wo es heißt, Kollege Regenspurger: Die Hilfe solle denen gelten, die sich nicht selber helfen können. Die ehemalige Bundesregierung habe für eine Inflation der Anerkennung von Behinderten gesorgt. Freifahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, erweiterter Kündigungsschutz und die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen, hätten die Zahl der Behindertenausweise in die Höhe getrieben. Der Gesetzgeber habe auch dazu animiert, sich schon nach einer Operation als behindert einstufen zu lassen. — Ich meine, wer so redet, der sorgt statt für Klarheit und Wahrheit für neue, unberechtigte Vorurteile und macht, statt sich den Problemen der Behinderten aufgeschlossen zu zeigen, genau das Gegenteil.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Was hat denn der Fachmann dazu gesagt?)

Aber können die Behinderten eigentlich mehr von dieser neuen Koalition erwarten? Kein Wort in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, nichts in der Koalitionsvereinbarung — auch da Fehlanzeige. Dabei müßte die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten auch bei Ihnen Alarmglocken läuten lassen. Statt nach neuen Anrechnungsmodalitäten zu suchen — denn das bringt keinen neuen Arbeitsplatz für die Betroffenen —, sollten Sie sich unserer Forderung nach einer Erhöhung der Ausgleichsabgabe anschließen. Der seit 1974 bestehende Satz von 100 DM ist heute nicht mehr vertretbar. Zum zweiten reduziert er sich durch die steuerliche Absetzbarkeit - das muß klar gesagt werden — in Wirklichkeit auf 50 DM; denn die rund 206 Millionen DM, auf die das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe für 1982 geschätzt wurde, reduzieren sich in Wirklichkeit auf rund 100 Millionen DM. Die Differenz wird den Arbeitgebern, die ihrer Beschäftigungspflicht nach dem Schwerbehindertengesetz nicht nachkommen, steuerlich zurückerstattet. Ich meine, das ist wirklich revisionsbedürftig.
Es ist auch ein Skandal — lassen Sie mich auch dies in aller Deutlichkeit sagen -, daß 73 % der Arbeitgeber ihrer gesetzlichen Pflicht, 6 % der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen, nicht nachkommen. Ein Drittel - das sind über 46 000 Arbeitgeber — haben überhaupt keinen Schwerbehinderten auf ihrer Lohn- und Gehaltsliste. Dies muß sich ändern. Helfen Appelle nichts, sind zusätzliche gesetzliche Regelungen notwendig.

(Zuruf des Abg. Dr. George [CDU/CSU])

Dabei spielen die öffentlichen Arbeitgeber, Herr Dr. George, keine besonders rühmliche Rolle. Ich sage dies doch selbstkritisch. — Die Mehrheit der Bundesländer hat sich, im Gegensatz zum Bund, wegen Nichterfüllung der gesetzlichen Auflagen, der Pflicht zur Beschäftigung von Schwerbehinderten, 1980 mit 18 Millionen DM Steuergeldern davon freigekauft. 1981 waren es rund 26,5 Millionen DM, und in diesem Jahre sind es rund 24,2 Millionen DM, die wegen der Nichterfüllung der Schwerbehindertenbeschäftigungspflicht eingeplant sind.

(Zuruf von der SPD: Unerhört!)

Das Bundesland, aus dem ich komme, Baden-Württemberg, liegt bei der Beschäftigung Schwerbehinderter mit 4,13 % vor Schleswig-Holstein an vorletzter Stelle der Skala. Dafür werden dann fast 6 Millionen DM an Steuergeldern ausgegeben. Ich meine, das ist eine Verdrehung der Pflicht einer sinnvollen Verwendung von Steuergeldern.
Meine Damen und Herren, seit der Einbringung der Großen Anfrage ist viel Wasser den Rhein hinabgeflossen. In der Behindertenpolitik waren einige Ereignisse zu verzeichnen, die nicht in Ordnung
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8391
Kirschner
sind. Ich sage dies, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, an unser aller Adresse.
Lassen Sie mich als Beispiel das Bundessozialhilfegesetz herausgreifen. Im Vermittlungsverfahren zum 2. Haushaltsstrukturgesetz war es die CDU/ CSU-Bundesratsmehrheit, die gravierende Eingriffe erzwang. Dazu gehörte die volle Anrechnung des Blindengeldes auf das Pflegegeld; eine harte Maßnahme zu Lasten der mehrfach behinderten Blinden. Dazu gehörte ebenso die unverkraftbare Mehrbelastung jener Eltern, deren behinderte Kinder einen Platz in einem Heim oder in einer Tageseinrichtung erhalten haben. Es bedurfte des massiven Einsatzes der SPD-Bundestagsfraktion, um hier gesetzgeberisch das wieder ins Lot zu bringen, was ins Lot gebracht werden mußte. Die Aufgabe war schwierig. Denn weil sich die CDU/CSU-Bundesratsmehrheit erneut querlegte, mußte auch der Vermittlungsausschuß erneut tätig werden. So beharrte z. B. der baden-württembergische Ministerpräsident Späth auf einer Kostenbeteiligung der Eltern, die ihnen mehr abverlangt hätte, als sie hätten leisten können, bevor letztlich der alte Rechtszustand wiederhergestellt wurde. — Ich rufe dies deshalb in die Erinnerung zurück, weil wir uns gemeinsam darum bemühen sollten, daß sich derartige Ereignisse nicht wiederholen. Die Behindertenpolitik darf nicht in einen Abwärtssog geraten.
In der öffentlichen Diskussion über die Behindertenpolitik spielt zunehmend ein Punkt eine Rolle, auf den wir einzugehen haben. Vor dem Hintergrund unserer wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten wird versucht, das Schwerbehindertengesetz in Mißkredit zu bringen. So wird die wohlfeile Behauptung aufgestellt, die Bundesbürger würden sich mehr und mehr zu einem Volk von Schwerbehinderten entwickeln, wobei die Kritiker die vorliegenden Statistiken fehlinterpretieren; denn die Angaben enthalten nicht nur Erstanträge, sie erfassen auch Anträge auf Verlängerung des Schwerbehindertenausweises, auf Erhöhung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit und auf Feststellung weiterer gesundheitlicher Merkmale und eines Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit von unter 50 %. Die Gesamtzahl erfolgreicher Anträge ist keineswegs mit der Gesamtzahl der anerkannten Schwerbehinderten identisch. Hinzu kommt, daß uns keine Abgangsstatistik vorliegt, die die natürlichen Abgänge ausweist. Ich begrüße es, daß die Antwort der Bundesregierung diese Zusammenhänge verdeutlicht.
Was die Anerkennung als Schwerbehinderter anlangt, so gibt es sicherlich sowohl Fälle, in denen eine ungerechtfertigte Anerkennung erfolgt, als auch solche, in denen eine gebotene Anerkennung versagt wird. Ein Grund dafür ist, daß wir nicht über eine ausreichende Anzahl erfahrener ärztlicher Gutachter verfügen. Hier zu einer Verbesserung zu kommen ist eine wichtige Aufgabe. Auch die Überarbeitung der Anhaltspunkte für ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz ist in diesem Zusammenhang hilfreich. Ein Grund für unberechtigte Angriffe auf das Schwerbehindertengesetz liegt sicherlich darin, daß man vielen Körperbehinderten ihre Behinderung ansieht, während dies bei anderen Behinderungsarten vielfach nicht der Fall ist. Ich meine, daß wir gut beraten wären, wenn wir hier gemeinsam zu einer Versachlichung der Diskussion beitrügen.
Es ist deshalb mehr als bedauerlich, daß ausgerechnet der neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, der Herr Kollege Regenspurger, in dieser Frage Vorurteilen neue Nahrung gibt und negative Emotionen schürt, indem er der alten Bundesregierung vorwirft, sie habe für eine Inflation der Anerkennung von Behinderten gesorgt. Sie, Herr Kollege Regenspurger, haben offensichtlich nicht begriffen, um was es uns geht,

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

wenn wir möglichst allen Behinderten helfen wollen und dabei nicht auf die Ursache, sondern allein auf die Art und Schwere der Behinderung abstellen.

(Dr. George [CDU/CSU]: Dem wirklich Behinderten zu helfen, das ist die Aufgabe!)

— Bitte, dann setzen Sie sich doch mit uns in der Sache auseinander, aber schüren Sie hier nicht falsche Vorurteile und Emotionen; damit ist den Behinderten absolut nicht gedient.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

— Ja, Sie können nachher darauf eingehen, Herr Kollege.
Zur Klarstellung: Die Kritik der Bundestagsfraktion der SPD richtet sich nicht gegen das wichtige Amt des Behindertenbeauftragten — im Gegensatz zu Ihnen —, sie richtet sich vielmehr gegen den derzeitigen Amtsinhaber auf Grund seiner eigenen Aussagen. Bitte, korrigieren Sie die und stellen Sie die hier klar. Wie dieses Amt für die Behinderten fruchtbar gemacht werden kann, hat der erste Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hermann Buschfort, überzeugend gesagt. An dieser Stelle wollen wir ihm auch einen Dank abstatten.

(Beifall bei der SPD)

Er hat sich bei den Behinderten und bei den Verbänden viel Achtung und Anerkennung erworben.
Die Antwort der alten Bundesregierung auf unsere Große Anfrage hat deutlich gemacht, wo wir im Interesse der Behinderten noch etwas tun müssen. Lassen Sie es uns gemeinsam im Interesse der Betroffenen tun! — Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913605500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dolata.

Werner Dolata (CDU):
Rede ID: ID0913605600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal, Herr Kollege Kirschner, muß ich Sie korrigieren. Als wir uns damals bei der Großen Anfrage beteiligen wollten — entsprechende Gespräche waren geführt —, haben Sie — vornehmlich der Herr Kollege Glombig — uns dabei behindert. Ihre Große Anfrage zur Behin-
8392 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dolata
dertenpolitik zielte ja auch gar nicht darauf ab, Fortschritte auf diesem Gebiet anzuregen, sondern sie sollte vor allem die Behindertenpolitik der SPD und der damaligen Bundesregierung in das rechte Licht rücken. Bei der Lektüre der Fragen und der Antworten wird diese Tatsache leicht erkennbar. Die Aussagen in der Großen Anfrage und in der Antwort der alten Bundesregierung haben meiner Meinung nach folgenden Tenor: die bisherige Behindertenpolitik war gut und richtig,

(Beifall bei der SPD)

aber trotzdem kann alles viel besser werden. Und selbstverständlich geht es nach dem Regierungswechsel in diesem Stil weiter. Vor Behindertenorganisationen und hier heben Redner der SPD die umfangreichen Erfolge ihrer Partei zum Wohl der Behinderten hervor. Aber anschließend kommen sie mit einem umfassenden Forderungskatalog für weitere Verbesserungen, ohne zu verraten, woher die finanziellen Mittel dafür kommen sollen, wenn nicht durch weitere Erhöhung der ohnedies immensen Staatsverschuldung.
Demgegenüber erscheint es fraglich, ob sich die Behindertenpolitik wirklich so darstellt, wie Sie als SPD — wenigstens damals als Regierungspartei - uns das glauben machen wollten. Vor allem erscheint fraglich, ob die geforderten umfangreichen Verbesserungen den Behinderten, also den Bedürftigen, wirklich immer nutzen.
Wie ist denn die Lage der Behinderten in Wahrheit? Wir müssen feststellen, daß mit dem Schicksal der Behinderung, namentlich bei Schwerstbehinderungen, nach wie vor sehr oft auch das Schicksal eines Zurückgeworfenseins auf äußerst begrenzte materielle Verhältnisse verbunden ist. Das ist die Situation in einer Gesellschaft, in der nach wie vor verbreiteter Wohlstand herrscht und in der relativ bescheidene Sparmaßnahmen als die Auferlegung großer Opfer dargestellt werden.
Der entscheidende soziale Gegensatz besteht heute zwischen Arbeitsbesitzern und Arbeitslosen. Zu den letzteren gehören auch die schwerbehinderten Arbeitslosen. Dabei wird verkannt, daß Schwerbehindertenarbeitslosigkeit ebenso wie allgemeine Arbeitslosigkeit nicht mit Hilfe von Moralappellen, sondern nur mittels der ökonomischen Vernunft beeinflußt werden kann. Die Schwerbehindertenarbeitslosigkeit wird zurückgehen, wenn die allgemeine Arbeitslosigkeit zurückgeht.
Deshalb fordern wir Sie auf: Lassen Sie ab von der Überdehnung des Sozialschutzes, weil damit das Gegenteil von dem bewirkt wird, was beabsichtigt ist, zum Nachteil derer, denen wir helfen wollen.

(Zuruf von der SPD: Unglaublich! Weitere Zurufe von der SPD)

Wir setzen dagegen: Konzentration der Maßnahmen auf die besonders Bedürftigen, aber nicht durch Überbeanspruchung einer vermeintlich immer noch weiter belastbaren Wirtschaft, sondern
durch die Solidarität aller, d. h. der abhängig und der selbständig Tätigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ausgehend von diesem Grundsatz, möchte ich zu einigen Punkten der Großen Anfrage zur Behindertenpolitik und zu der Antwort der alten Bundesregierung auf diese Anfrage Stellung nehmen, besonders zu der Zahl und zu der Anerkennung der Schwerbehinderten sowie zu den damit zuammenhängenden Gesichtspunkten, z. B. zu der Ausgestaltung der Vergünstigungen für Schwerbehinderte. Im Gegensatz zu Herrn Kollegen Kirschner deuten wir dabei die Statistik anders, realer und nach meiner Überzeugung richtiger.
Die alte Bundesregierung hat die Zahl der Schwerbehinderten, d. h. der Behinderten mit einer anerkannten Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 % und darüber, in ihrer Antwort auf die Große Anfrage für den Stichtag 31. Dezember 1981 mit 4,15 Millionen Personen angegeben. Nach den im Oktober 1982 vorgelegten Erhebungen des Statistischen Bundesamts betrug die Zahl der Schwerbehinderten in dem genannten Sinn 4,67 Millionen Personen und somit 7,6 % der Wohnbevölkerung. Die alte Bundesregierung ist somit von rund 500 000 Schwerbehinderten weniger und damit vielleicht von einer gerade noch vertretbaren Annahme ausgegangen. Auch das sollte an dieser Stelle allerdings vermerkt werden, wenngleich wegen Zunahme der Zahl der anerkannten Schwerbehinderten gegenüber der vorangegangenen Erhebung des Statistischen Bundesamts das Folgende weit bemerkenswerter ist.
Zum Zeitpunkt 31. Dezember 1979 waren lediglich 2,96 Millionen anerkannte Schwerbehinderte registriert; das waren 4,8 % der Wohnbevölkerung. Von 1979 bis 1981 ist somit eine Zunahme von 1 710 000 anerkannten Schwerbehinderten zu verzeichnen. Das sind 58 % mehr als 1979.
Niemand wird denken können, daß innerhalb von drei Jahren zusätzliche Schwerbehinderungen bei 1,7 Millionen Personen eingetreten sind.

(Zurufe von der SPD)

Vielmehr muß man annehmen, daß es sich hierbei eben überwiegend um Behinderungen handelt, die schon weiter zurückliegen, deren Anerkennung aber erst nach 1979 herbeigeführt wurde. Als ein — nicht als einziges — Motiv für die veränderte Herbeiführung der Anerkennung ist dabei die Erlangung von Vergünstigungen für anerkannte Schwerbehinderte durchaus in Betracht zu ziehen, zumal die Vorteile der Zuerkennung des Schwerbehindertenstatus erst in den letzten Jahren in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit getreten sind.
In diesem Zusammenhang ist ferner die Altersschichtung der Schwerbehinderten bemerkenswert, die sich — ebenfalls nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes — wie folgt darstellt: 1981 entfielen auf 1000 Einwohner insgesamt 76 anerkannte Schwerbeschädigte. Dagegen kamen bei den 60- bis 62- bzw. 65jährigen auf 1000 Einwohner jeweils 272 anerkannte Schwerbeschädigte. Dieses
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8393
Dolata
Ergebnis fällt bei der männlichen Bevölkerung noch krasser aus: insgesamt 28 Schwerbehinderte auf 1000 männliche Einwohner, aber bei den 62- bis 65jährigen jeweils 437 anerkannte Schwerbehinderte.
Wir müssen somit feststellen: Erstens. Es gibt eine außerordentlich hohe Quote der anerkannten Schwerbehinderten bei den älteren Menschen; fast jeder zweite bei den Männern. Zweitens. Es ist ein außerordentlicher Anstieg der Quote im Vergleich von 1979 zu 1981 festzustellen, namentlich bei den älteren Menschen. Das ist der Trend, der sich angesichts der genannten Zahlen, insbesondere angesichts der außerordentlichen Zuwächse in den Jahren 1979 bis 1981 abzeichnet.

(Abg. Kirschner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Entschuldigen Sie bitte, wir hatten uns auf eine Stunde verständigt. Ich habe nicht so viel Zeit, um Zwischenfragen zuzulassen, zumal wir zwei Tagesordnungspunkte in verbundener Debatte behandeln.
Ich will nicht von vornherein rundweg Forderungen aufstellen, aber die Kriterien für die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft und die Praxis des Anerkennungsverfahrens müssen kritisch untersucht werden. In diesem Zusammenhang darf ich die Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbehindertengesetz ansprechen. Selbst die alte Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage eingeräumt, daß diese Anhaltspunkte verbesserungsfähig seien. Vor allem aber erscheint die Anerkennungspraxis verbesserungsfähig.
Die CDU/CSU-Bundestagfraktion hat im August eine Anhörung zu den Fragen der Rehabilitation und des Schwerbehindertenrechts durchgeführt und dabei insbesondere auch das Anerkennungsverfahren und die Frage der Fehlbeurteilung behandelt. Zu Beginn der Behandlung dieses Fragenkomplexes während der Anhörung lautete der Tenor der Anworten ungefähr so: Angesichts der Antragsflut von rund 6 Millionen Anträgen wird eine gewisse Fehlerquote nicht geleugnet, aber als insgesamt unbedeutend bezeichnet. Nebenbei bemerkt: Bei 6 Millionen Anträgen bedeutet eine Fehlerquote von 1°A) immerhin 60 000 Anerkennungen, die zu Unrecht ausgesprochen werden.
Im weiteren Verlauf der Anhörung wurde sodann, wenn auch verhalten, eingeräumt, daß zu wenige Ärzte zur Verfügung stünden, die auf dem Gebiet der Rehabilitations- und Versorgungsmedizin ausreichend vor- und ausgebildet seien. Dabei wurde von maßgeblicher ärztlicher Seite bedauert, daß die bisherigen Deutschen Ärztetage die Einführung einer Zusatzqualifikation abgelehnt hätten. Nachdem die Fragesteller insistiert hatten, kam schließlich gegen Ende der Behandlung dieses Fragenkomplexes zutage, daß die sogenannten Außengutachter, d. h. die von den Versorgungsämtern beauftragten Vertrauensärzte — ich zitiere — „viel mehr mit den Anhaltspunkten vertraut gemacht werden müssen".
Dabei stellte sich zum allgemeinen Erstauner auch heraus, daß Beurteilungen der Schwerbehinderteneigenschaft durch den Hausarzt des Antrag stellers durchaus möglich sind. Zwar wurde das als Einzelerscheinung oder Ausnahmefall dargestellt aber ich habe Zweifel, ob das zutrifft. Vielleicht kann das Bundesarbeitsministerium ermitteln, ir welchem Umfang Anträge auf Zuerkennung de] Schwerbehinderteneigenschaft auf der Grundlage der Beurteilung durch Hausärzte beschieden worden sind.
Auch ohne eine abschließende Bewertung de] dargestellten Verhältnisse vornehmen zu wollen darf man davon ausgehen, daß angesichts der unbestrittenen Flut der Anträge auf Anerkennung de] Schwerbeschädigteneigenschaft Bedenken gegenüber der Anerkennungspraxis geäußert werden müssen.
Man muß sich weiterhin nach den Ursachen die ser Antragsflut fragen. Hier wird immer wieder die
Anreizwirkung des Vergünstigungswesens genannt Im Rahmen der Redezeit habe ich leider nicht mehr die Möglichkeit, darauf näher einzugehen. Aber ein Punkt der Vergünstigungen bedarf einer Bemerkung. Vielleicht sollten doch Einkommensgrenzer in Betracht gezogen oder eine steuerliche Regelung gefunden werden.
Im Zusammenhang mit der Behindertenpolitik legen Ihnen die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP einen Entschließungsantrag vor. Wir gehen da von aus, daß wir diesen Entschließungsantrag in der Sache und im Ziel zum Wohle der Behinderter anschließend übereinstimmend verabschieden wer den, zumal unser Entschließungsantrag viel tole ranter und inhaltsreicher ist als der der SPD.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, zu den besonders betroffenen Behinderten gehören gerade auch die Contergan-Geschädigten. Deshalb ist es gut und richtig, daß wir diese beiden Tagesordnungspunkte in der heutigen Debatte zusammengefaßt haben Bei der Contergan-Debatte hat man manchmal der Eindruck, als ob diese Katastrophe in der deutscher Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten sei. Bei uns hier im Hause, und zwar auf allen Seiten — da bin ich sicher —, geschieht das nicht. Wir behalten die Contergan-Katastrophe sehr wohl in Erinnerung Wir kümmern uns ja auch darum, auch wenn die Vorgänge mehr als 20 Jahre zurückliegen.
Um die Probleme der Betroffenen zu mildern — soweit dies überhaupt durch finanzielle Maßnahmen möglich ist —, wurde 1971 per Gesetz die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" errichtet Diese Stiftung zahlt Entschädigungsbeträge zwischen 1 000 DM und 25 000 DM im Einzelfall und je nach Grad der Behinderung zusätzlich eine monatliche Rente. Im Zeitpunkt der Errichtung diesel Stiftung ging man von etwa 2 400 Anspruchsberechtigten aus; inzwischen sind es wohl etwa 2 700.
Bisher sah das Gesetz keine Ausschlußfristen vor. Damit die Stiftung nun in die Lage versetzt wird, sich einen endgültigen Überblick über die tat. sächliche Zahl zu verschaffen, wird jetzt eine
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Dolata
Ausschlußfrist eingebaut. Danach können Anträge noch bis zum 31. Dezember 1983 eingereicht werden. Ich bin der Meinung, daß das zumutbar ist, denn inzwischen liegt ja die Errichtung dieser Stiftung mehr als zehn Jahre zurück, und das Gesetz ermöglicht j a dann auch noch die Anmeldung von Ansprüchen bis zum Ende des nächsten Jahres. Das heißt, daß die Betroffenen über insgesamt zwölf Jahre Zeit gehabt haben, um Ansprüche anzumelden.
Wie das Bundesverfassungsgericht damals weiter ausführte, muß der Gesetzgeber auch für die Zukunft seiner Verantwortung gerecht werden. Aus diesem Grunde wurde die Rentenleistung, die die Stiftung den Behinderten gewährt, verschiedentlich erhöht. Jetzt ist im Gesetz wiederum eine Erhöhung um 11% vorgesehen. Das ist richtig so. Damit kann der Nachholbedarf dieser Behinderten befriedigt werden, denn sie werden damit nach unserer Überzeugung im großen und ganzen den Personenkreisen gleichgestellt, die Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten.
In diesem Zusammenhang erscheint es aber angebracht, daran zu erinnern, daß in dem Bereich der Arzneimittelsicherheit nicht nur der Staat Verantwortung trägt. Auch die Pharma-Industrie, auch die Ärzte, auch der einzelne als Patient — besonders die werdenden Mütter — müssen ihre jeweilige Verantwortung sehen und wahrnehmen. Ob sich eine solche Katastrophe, wie sie sich damals mit Contergan ereignete, heute so wiederholen könnte: Ich bin mit dem Bundesgesundheitsamt der Meinung, daß das nicht mehr möglich ist, denn mit dem heutigen Wissen und mit den inzwischen gewonnenen Fähigkeiten sind Staat, Pharma-Industrie und Ärzte sicher in der Lage, schneller zu reagieren als damals.
Trotzdem sollten wir als Bundestag uns bemühen, weiterhin Verbesserungen zu erreichen, z. B. über die Arzneimittelkommission die eventuell noch vorhandenen Risikomöglichkeiten bei den sogenannten Altpräparaten zu verringern; z. B. auch über das Arzneimittelgesetz die Werbung durchschaubarer, ehrlicher und informativer zu gestalten und z. B. ernsthaft zu prüfen, ob wir nicht auch bei uns in Deutschland ein zentral geführtes Mißbildungsregister wie in anderen europäischen Ländern einführen können.
Dabei gehen wir davon aus, daß auch die Ärzteschaft von der Contergan-Katastrophe gelernt hat und bereit ist, im Praxisalltag beim Arzneimittelgebrauch gezielt nach Nebenwirkungen zu fahnden und entsprechende Erkenntnisse zu melden. An alle Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht sicher sind, nicht schwanger zu sein, kann und muß man appellieren, sich selbst zu prüfen, ob sie irgendein Medikament, das sie gerade nehmen wollen, auch wirklich brauchen oder ob sie nicht doch lieber auf dieses Medikament verzichten.
Die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages ist jedenfalls dankbar, daß dieser Gesetzentwurf im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit so zügig beraten worden ist, daß wir ihn heute hier so verabschieden können, daß er fristgerecht
zum 1. Januar 1983 in Kraft treten kann. — Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913605700
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (FDP):
Rede ID: ID0913605800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jahr nach dem internationalen Jahr der Behinderten diskutieren wir heute die Große Anfrage der SPD und FDP zur Behindertenpolitik. Insofern sind wir unserem Bestreben nach Kontinuität treu geblieben.

(Lachen bei der SPD — Zurufe von der SPD)

— Lieber Herr Lutz, wir stehen zu dem, was gerade im Bereich der Politik für Behinderte in der sozialliberalen Regierung, größtenteils in Übereinstimmung mit der damaligen Opposition, auf den Weg gebracht wurde. Wir bekennen uns aus den Erfahrungen mit diesen Gesetzen zu unserer heutigen Verantwortung und dazu, aus ihrer Anwendungspraxis Konsequenzen zu ziehen.
Nach einer Phase des Ausbaus der institutionellen und finanziellen Förderung bleiben im Bereich der Rehabilitierung und der Anwendung des Schwerbehindertengesetzes eine Reihe von Problemen zu lösen. Auf das Erreichte dürfen wir gemeinsam stolz sein. Die Grenzen des Möglichen müssen jedoch auch künftig im Auge behalten werden.
Dabei soll bei allen Aufgabenstellungen der Zukunft Sorge getragen werden, daß der Raum für freie gesellschaftliche Gruppen erhalten bleibt. Nur so wird im letzten das Bewußtsein der Solidarität, der Gemeinschaft mit behinderten Menschen und ihren Angehörigen in der Bevölkerung breit und tief verwurzelt werden. Solche Initiativen zu erschweren und staatliche behördliche Aktivitäten zu bevorzugen, hieße, die Behindertenhilfe selbst auf eine sehr abhängige unsichere Grundlage zu stellen.
Ich persönlich glaube, daß die Hilfe für Eltern — Elterninformation, Elternberatung, Elternbildung, mehr Zusammenarbeit von Elternhaus, den Behinderten selbst und Förderungseinrichtungen, aber auch zwischen verschiedenen Fördereinrichtungen — in den nächsten Jahren die besondere Aufmerksamkeit haben sollte. Eine wohlverstandene Subsidiarität im Sinne einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist hier unverzichtbar.
Zum internationalen Jahr der Behinderten 1981 möchte ich nur noch zwei Sätze sagen. Zu den positivsten Ergebnissen dieses Jahres, das auch zu Recht problematisiert wurde, gehört, daß vor allem auf zwei Ebenen verstärkt Aktivitäten geweckt wurden. Das ist einmal die Ebene der Kommunalpolitik, auf der das Aufeinanderzugehen von behinderten und nicht behinderten Menschen in einer Vielzahl von Initiativen stattfand. Zum anderen spreche ich das verstärkte Selbstbewußtsein der Selbsthilfegruppen von Behinderten an. Dieses berechtigte Anliegen nach mehr Mitwirkung, das sich auf alle Gebiete des Zusammenlebens, insbeson-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8395
Neuhausen
dere auf eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung erstreckt, muß von uns Politikern aufgenommen und nachhaltig unterstützt werden. Hier ist jeder einzelne von uns persönlich und in seinem politischen Fachbereich gefordert.
Die Novellierung des Schwerbehindertengesetzes — dies zeigt ja auch die Antwort auf die Große Anfrage — bleibt weiterhin auf der Tagesordnung. Die Sozialpolitiker der FDP-Bundestagsfraktion haben sich bereits im November 1979 mit den vorliegenden Änderungsvorstellungen zum Schwerbehindertenrecht befaßt. Ich stelle Ihnen jetzt die Punkte vor, die mir am wesentlichsten erscheinen. Sie zeigen die Richtung an, in die unserer Meinung nach eine Änderung laufen soll.
Der Begriff „Minderung der Erwerbsfähigkeit" soll durch den Begriff „Grad der Behinderung" ersetzt werden.
Die endgültige Festsetzung des Pflichtsatzes für die Höhe der Beschäftigungspflicht, die heute wenigstens 6 v. H. beträgt, die Nichteinbeziehung der Ausbildungsplätze in die Zahl der Arbeitsplätze für die Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht sowie die Problematik der Schwelle, nach der Betriebe von der Ausgleichsabgabe befreit werden können, sollen dadurch geregelt werden, daß die Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber erst ab 21 Arbeitsplätzen einsetzen soll. Der Pflichtsatz von 6 v. H. soll nicht geändert werden. Die Anrechnung eines Arbeitgebers, der selbst schwerbehindert ist, auf die Zahl der Pflichtplätze soll künftig möglich sein.
Arbeitgebern, die während eines Jahres ihre Beschäftigungspflicht teilweise nicht oder teilweise übererfüllen, soll die Möglichkeit einer Aufrechnung eingeräumt werden.
Das geltende Kündigungsschutzrecht soll dahin gehend überprüft werden, ob der beobachtete Bumerangeffekt erheblich abgemildert werden kann. Aber gerade die Novellierung in diesem Punkt wird mit großer Behutsamkeit vorgenommen werden müssen.
Die Rechte des Stellvertreters des Vertrauensmannes der Schwerbehinderten im Betrieb sollten angemessen ausgebaut werden. Als „angemessen" ist hier insbesondere die gesetzliche Regelung der Teilnahme an Schulungen anzusehen. Der Stellvertreter des Vertrauensmannes sollte den Vertrauensmann auch dann vertreten können, wenn dieser durch berufliche Tätigkeit, Teilnahme an einer Betriebsratssitzung oder dergleichen verhindert ist.
Nichtbeschäftigungspflichtige Arbeitgeber oder solche, die über das Soll hinaus Schwerbehinderte beschäftigen, sollen zum Ausgleich Zahlungen aus Mitteln der Ausgleichsabgabe erhalten.
Betriebsinterne Einrichtungen sollen als Werkstatt für Behinderte anerkannt werden können. Eine Erteilung von Eigenaufträgen des Unternehmens soll jedoch nicht möglich sein. Eine Förderung aus Mitteln der Ausgleichsabgabe hielten wir für sinnvoll. Eine Anrechnung auf Pflichtplätze soll nicht möglich sein. Die Übergangsmöglichkeit von
der Werkstatt für Behinderte in den normalen Betrieb würde dadurch gefördert.
Meine Damen und Herren, auch das besondere Rechtsverhältnis, in dem sich Behinderte in einer Werkstatt für Behinderte befinden, bedarf der Klärung. Die notwendigen Vorarbeiten im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sind so weit gediehen, daß das vergebene Forschungsgutachten auf dem Tisch liegt. Eine solche Regelung sollte nicht perfektionistisch sein, die Rechte des Individuums jedoch klar darstellen, damit der einzelne Behinderte weiß, wie seine Position ist und welche Möglichkeiten er hat.
Ebenso bedarf die Mitwirkungsmöglichkeit der Interessenvertretungen von beschäftigten Behinderten einer Klärung.
Gegenwärtig wird die Begutachtung von Behinderungen auf der Grundlage nicht rechtsverbindlicher Anhaltspunkte vorgenommen. Dadurch läßt sich eine uneinheitliche Praxis bei der Begutachtung nicht ausschließen; eine Vereinheitlichung wäre anzustreben.
Meine Damen und Herren, auch die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr ist dahin gehend zu überprüfen, ob sie ohne jegliche Einkommensgrenze gewährt werden kann. Die Frage der Kostenaufteilung wird ebenfallls zu überprüfen sein.
Meine Damen und Herren, wie ich sagte, soll in diesen kurzen Punkten die Richtung angezeigt werden, mit der wir in die Verhandlungen und Gespräche eintreten wollen.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zu dem Gesetz sagen, das hier in verbundener Debatte mitberaten wird und dem wir alle unsere Zustimmung geben. Auch die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Dritten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" zu. Zur Begründung darf ich auf die Ausführungen meines Vorredners verweisen. Neue Argumente sind hier nicht notwendig. — Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913605900
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Blüm.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID0913606000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich nehme diesen Platz in der Reihenfolge der Redner gern ein, um meinem verehrten Kollegen Glombig

(Zurufe von der SPD)

das letzte Wort in dieser Debatte zu überlassen.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das wird auch nötig sein!)

Meine Damen und Herren, in der Debatte über die Große Anfrage, die bereits im Mai von der alten Regierung beantwortet wurde, habe ich als Position der neuen Regierung — in einen Satz gebracht —
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Bundesminister Dr. Blüm
nur hinzuzufügen: Wir wollen den Behinderten helfen. Verständnis muß geweckt, Vorurteile müssen abgebaut,

(Sehr gut! bei der SPD)

Gedankenlosigkeit muß verhindert werden. Nur, meine Damen und Herren, ich hoffe, da stimmen wir alle überein: Lieblosigkeit läßt sich nicht durch Verordnungen verbieten, Nächstenliebe nicht durch Gesetz anordnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist nicht der Freifahrtschein für einen Staat, der sich aus der Verantwortung stiehlt; denn auch der Staat hat Verantwortung.
Erstens. Ich sehe unsere Verantwortung auch in der Behindertenpolitik darin, zuerst Hilfe zur Selbsthilfe zu geben; das ist der emanzipatorische Teil der Behindertenpolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Eine weitere wichtige Aufgabe ist zweifellos die, den Behinderten die erforderliche Betreuung zu geben; das ist der fürsorgliche Teil.

(Zuruf von der SPD: Nur Sprüche!)

Drittens. Unsere wichtigste Aufgabe, meine Damen und Herren, ist es, die Integration der Behinderten zu fördern. Weniger akadmisch ausgedrückt geht es darum, die Gemeinschaft der Bürger, der nichtbehinderten und behinderten, zu stärken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der schärfste Angriff auf diese notwendige Solidarität, in der beide Seiten geben und nehmen, ist eine Dauerarbeitslosigkeit, die wie ein Schüttelsieb funktioniert. Arbeitslosigkeit ist ja nicht nur von der Höhe der Arbeitslosenzahl abhängig, sondern auch von der Dauer. Und die Gefahr ist groß: je länger sie dauert, um so mehr werden diejenigen, die die Gesellschaft für die Schwächeren hält — es müssen ja gar nicht immer die Schwächeren sein —, vor die Tür gesetzt.
Die Zahlen: Oktober 1976 40 000 schwerbehinderte Arbeitslose, November 1982 119 000. Ich muß allerdings nicht nur diese Schattenseite vorführen, sondern andererseits auch darauf hinweisen, daß die Eingliederungsbemühungen in der gleichen Zeit nicht ohne Erfolg waren. Im Oktober 1976 waren 640 000 Schwerbehinderte in den Arbeitsprozeß eingegliedert, heute sind es 1 150 000. Bedrohung und Hilfe — zwei Seiten hat die Sache.
Ich will eine zweite Zahl nennen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit bei den Schwerbehinderten ist prozentual im letzten Jahr geringer gewesen als der Anstieg der Gesamtarbeitslosigkeit. Ich will das nicht als Entwarnung verwenden, sondern ich will nur die Proportionen richtig schildern und zeigen, daß unsere gemeinsamen Anstrengungen nicht ohne Erfolg waren; denn die Zahl würde nicht so lauten, die Kurve nicht so sein, hätten wir das nicht eingeleitet, was wir zugunsten der Behinderten gemeinsam gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will mich an dieser Stelle auch der Kritik an jenen Arbeitgebern anschließen, die ihre Pflichtquote nicht erfüllen, und ich will gleichzeitig meinen Dank jenen Arbeitgebern sagen, die das Pflichtsoll erfüllen oder sogar mehr machen. Pflichtsoll heißt j a nicht, daß man nur das machen darf, was pflichtgemäß gefordert ist; man kann mehr machen.
Ich füge hinzu, keine Ausgleichsabgabe, kein Geld kann das Recht wettmachen, daß der Behinderte im Rahmen seiner Möglichkeiten mit seiner Hände, mit seines Kopfes Arbeit sich seinen Lebensunterhalt verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Geld ist ein schlechter Ersatz für Selbständigkeit durch Arbeit.
Dennoch denke ich, daß eine solche Debatte auch der Selbstbesinnung dienen soll, nämlich nachzuprüfen, was wir schlecht gemacht haben oder was vielleicht inzwischen verbesserungsfähig ist, obwohl es früher gut war. Ich halte den Begriff „Minderung der Erwerbsfähigkeit" — um den Status des Behinderten festzustellen — nicht für den besten Begriff. Möglicherweise lenkt er unseren Blick in die falsche Richtung. Möglicherweise suggeriert er, die Behinderten wären die rundum Unterlegenen. Ein Behinderter kann tüchtiger sein als der Arbeitskollege daneben, der ohne Behinderung arbeitet. Ein Blinder kann tüchtiger sein als ein Sehender. Deshalb kann dieser Begriff zu Mißverständnissen Anlaß bieten; denn dieser Begriff sagt nichts über den Leistungswillen, über die Leistungsfähigkeit und die Leistungskraft der Behinderten. Diese steht in vielen Fällen denen der Nichtbehinderten nicht nach, sondern übertrifft sie.

(Beifall bei der CDU/CSU und FDP) Auch das muß anerkannt werden.

Deshalb glaube ich, daß ein Begriff wie „Grad der Behinderung" möglicherweise uns vor Mißverständnissen besser schützen könnte als der alte Begriff.
Ich will hier einige Mißverständnisse ausschließen. Der Grad der Behinderung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit darf sich nicht aus einer Addierung von kleineren Behinderungen zusammensetzen; das ist jetzt schon nicht der Fall. Trotzdem wird der Vorwurf immer wieder erhoben. Ich will ihn ausdrücklich ausschließen. Auch normale Alterserscheinungen sind keine Behinderungen.
Ich nenne diese Grenzen deshalb, weil ich glaube, es ist im Interesse der Behinderten, wenn wir den Behindertenbegriff nicht ausufern lassen. Wir schaffen nämlich dann den Schwerstbehinderten nur Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze, und das kann niemandes Interesse sein. Deshalb müssen wir unsere Behindertenpolitik auf die konzentrieren, die unserer Förderung am meisten bedürfen. Allen zu helfen heißt in einer Vielzahl von Fällen, nicht zu helfen.
Lassen Sie mich mit Ihnen sozusagen als Anfrage ein paar Überlegungen zur nächsten Novellierungsrunde diskutieren. Es läßt sich durchaus darüber
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Bundesminister Dr. Blüm
nachdenken, ob der behinderte Arbeitgeber nicht auch auf die Pflichtquote angerechnet werden sollte. Ich glaube, das würde manche Sperren zurücknehmen. Die Rückseite der Medaille wäre dann, daß der Arbeitgeber nicht nur auf die Quote der Behinderten, sondern auch insgesamt angerechnet wird.
Ausbildungsplätze für Behinderte werden jetzt schon angerechnet. Dennoch ist die Frage zu stellen, wie wir es vermeiden können, eine Lösung herbeizuführen, die die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze verhindert. Es muß ein Weg gefunden werden, beide Versuchungen auszuschließen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine weitere Frage ansprechen. Damit kein Mißverständnis auftaucht: Ich bin für den Kündigungsschutz für Behinderte. Dennoch sage ich: Wenn ein besonderer Kündigungsschutz zu früh einsetzt, weil das Probearbeitsverhältnis verkürzt wird oder ganz ausgeschlossen wird, verstärken wir die Hemmungen mancher Arbeitgeber, Behinderte einzustellen und zunächst einmal zu prüfen, ob der Betreffende für den jeweiligen Arbeitsplatz geeignet ist. Ich finde, der Versuch, das zu prüfen, ist doch ganz berechtigt, und es kann nicht in unserem Interesse sein, daß Hemmungen gegenüber der Wiedereinstellung von Behinderten aufgebaut werden. Sie müssen abgebaut werden!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Risiko des Arbeitsmarktes hat doch zwei Seiten. Es geht nicht nur um den Schutz vor Entlassung — für den bin ich ja —, es geht auch um die Chance zur Wiedereinstellung. Auch dieses zweite Risiko muß in unserer Behindertenpolitik beachtet werden, wenn sie nicht einspurig sein soll.
Meine Damen und Herren, ich fasse mich kurz: Die Sonderprogramme werden fortgeführt. Wir werden — auch mit den Ländern — die PsychiatrieEnquete auswerten. Ich glaube, daß wir gerade auf diesem Felde der Behinderung einen Nachholbedarf haben.
Die Gesamtlösung heißt — lassen Sie mich das zusammenfassen — nicht Aussonderung, sondern Eingliederung der Behinderten. Ich fürchte, wir stehen in unserer Gesellschaft vor der Versuchung, alle Probleme auszusondern, zu verdrängen. Bereits das Wort „Randgruppe" ist ja verräterisch; darin liegt ja schon ein sublimer Verdrängungsvorgang. Die Behinderten wohnen nicht irgendwo am Rande, sie wohnen mitten unter uns. Das Wort „Randgruppe" verrät eher, daß wir die Behinderten in unserem Gedächtnis an den Rand geschoben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist eine Lebenslüge, mit der sich diese Gesellschaft eine heile Welt herstellt, wenn sie sich die Behinderten und all diejenigen, die nicht ins Leistungskorsett dieser Gesellschaft passen, aus dem Gesichtskreis schafft. Der normale Platz des Behinderten muß das Zentrum des Lebens sein, nicht der Stadtrand. Im Zentrum des Lebens sind die Behinderten unsere Nachbarn!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Einiges hat sich da schon geändert. Ich will positiv erwähnen, daß das Internationale Jahr der Behinderten offensichtlich doch einen Bewußtseinsschub geschaffen hat. Zu Beginn dieses Jahres haben 32 % der Bürger — jeder dritte Bürger! — auf die Frage, ob sie einen Behinderten kennen, mit Nein geantwortet. Am Ende dieses Jahres waren es nur noch 8 %. Ich glaube, daß Bewußtsein sehr viel schaffen kann. Das beste Gesetz nützt nichts, wenn es nicht vom entsprechenden Bewußtsein aufgefangen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen: Wir werden immer Sondereinrichtungen für Schwerst- und Schwerbehinderte haben. Dennoch bleibe ich dabei: Das beste Heim für die Behinderten ist die Familie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb sollte die Familie, die ein behindertes Mitglied bei sich behält, auch unterstützt werden. Wir müssen uns vor einer Verheimung der Gesellschaft schützen; die ist nicht nur kostspieliger, sondern auch unmenschlicher.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß es da mit Appellen nicht getan ist, daß wir dazu eine andere Nachbarschaftskultur brauchen, daß wir auch eine andere Wohnkultur brauchen und daß wir die Familie durch Sozialstationen unterstützen müssen, daß wir sie nicht alleinlassen dürfen, daß wir der Mutter, die jahrelang ein behindertes Kind betreut, und auch dem Vater die Gelegenheit geben müssen, in Urlaub zu fahren. Auch das muß die Gesellschaft ermöglichen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

wenn sie an die Familien den Appell richtet, daß diese ihre behinderten Kinder bei sich behalten sollen.
Wir müssen so etwas wie eine Koalition gegen die Rücksichtslosigkeit schaffen. Zu dem, der sich gegenüber Behinderten in Urlaubsorten rücksichtslos verhält, der Behinderte ausschließt, sollten auch die Nichtbehinderten nicht fahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und FDP)

Zu einem Supermarkt, in dem kein Platz ist, damit sich ein Rollstuhlfahrer an den Regalen selbst bedienen kann, sollten auch die Nichtbehinderten nicht gehen. Wir müssen behindertenfeindliche Politik zu einem Wettbewerbsnachteil machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde, das ist ein Stück Hilfe und Solidarität.

Meine Damen und Herren, ich will dem Deutschen Sportbund, den vielen Verbänden in der Behindertenarbeit, auch den vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern, nicht nur den beamteten, an dieser Stelle ausdrücklich danken.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913606100
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID0913606200
Bitte.
8398 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Klaus Kirschner (SPD):
Rede ID: ID0913606300
Herr Minister Dr. Blüm, da Sie darauf hinweisen, daß Sie in Zukunft dafür eintreten werden, daß in Supermärkten so viel Platz geschaffen wird, daß sich behinderte Rollstuhlfahrer an den Regalen bedienen können, frage ich Sie: Sind von Ihnen entsprechende gesetzliche Vorschriften zu erwarten, oder wie wollen Sie dies erreichen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Bewußtseinsänderung!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID0913606400
Verehrter Herr Kollege Kirschner, vielleicht unterscheiden wir uns da. Ich rechne zuerst einmal mit der Einsicht der Bürger, und das Gesetz ist immer erst das allerletzte Mittel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will nicht schon wieder jemanden mit dem Zollstock durch Betriebe laufen lassen, weil ich glaube, daß das nicht mehr Entgegenkommen, sondern eher mehr Abwehr schafft. Ich will so etwas nie ausschließen. Aber versuchen wir es doch freiwillig! Verbesserungen, die auf Einsicht basieren, sind besser als solche, die nur erzwungen und dann unterlaufen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch zu dem zweiten Tagesordnungspunkt, „Hilfswerk für behinderte Kinder", noch einige Bemerkungen vortragen, und zwar auch im Auftrag der Bundesregierung. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung am 13. Dezember 1979 aufgefordert, in Abständen von zwei Jahren zu prüfen, ob eine weitere Anhebung der Renten wegen Contergan-Schadensfällen erforderlich ist. Die letzte Erhöhung der Renten liegt zwei Jahre zurück; das war am 1. Januar 1980. In den letzten zwei Jahren sind die Lebenshaltungskosten aller privaten Haushalte im Durchschnitt um 11,5 % gestiegen. Die Bundesregierung hält es deshalb für erforderlich, daß auch die Renten aus der Stiftung um 11 % erhöht werden.
Das Gesetz hat eine Reihe von Ansprüchen ausgelöst. Dazu will ich einige Zahlen zu dem nennen, was die Praxis bisher brachte. Seit Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes am 31. Oktober 1972 wurden 2 776 als contergangeschädigt anerkannten Leistungsberechtigten mehr als 210 Millionen DM an Renten, Kapitalentschädigungen, Rentenkapitalisierungen und Beihilfen gezahlt. Im gleichen Zeitraum wurden in 132 Fällen Zuschüsse in Höhe von insgesamt mehr als 53 Millionen DM zur Errichtung von Behinderteneinrichtungen gezahlt. Lassen Sie mich in dieser Kurzfassung sagen: Ich glaube, daß sich diese Stiftung und das Gesetz bewährt haben und daß wir auf diesem bewährten Weg weitergehen sollten.
Ich will meinen Beitrag zu dieser Debatte abschließen. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir Behindertenpolitik nicht nur unter dem Anschein betreiben, als würde die eine Seite — die Behinderten — nur nehmen und die andere Seite nur geben. Was wäre eigentlich eine Welt ohne Behinderte'? Möglicherweise wäre das die Welt der kalten Egoisten, in der jeder nur für sich selber sorgt. Insofern sind die
Behinderten auch für unsere Gesellschaft ein dauernder Zwang zur Sensibilität und Solidarität.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913606500
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Glombig.

Eugen Glombig (SPD):
Rede ID: ID0913606600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß ehrlich gestehen, daß ich über die blumige Sprache des Bundesarbeitsministers immer wieder verblüfft bin.

(Beifall bei der SPD)

Was mich aber zutiefst getroffen hat — und dies sage ich nicht so leicht dahin —, war seine letzte Feststellung, die darin gipfelte, daß er sagte: Was wäre das für eine Welt, was wäre das für eine Gesellschaft ohne Behinderte?! Glaubt der Herr Bundesarbeitsminister wirklich, daß eine solche Aussage bei den Behinderten Eindruck erwecken kann?

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube nicht, daß Herr Blüm zynisch sein will. Er muß sich aber hüten, zynisch zu wirken, wenn er in dieser Sprache mit den Behinderten spricht — ich weiß ja wohl, wovon ich rede —, wenn er in dieser Sprache weiterhin über Probleme der Sozialpolitik mit uns und den Menschen draußen spricht.

(Beifall bei der SPD)

Es ist doch symptomatisch, daß diese Aussprache auf Grund einer Großen Anfrage geführt wird, die die damalige sozialliberale Koalition eingebracht hat. Es gab Bemühungen der CDU/CSU-Fraktion, sich dieser Großen Anfrage anzuschließen. Ich habe Gespräche darüber mit Vertretern der CDU/CSU-Fraktion geführt. Dieses Anschließen an die Große Anfrage, Herr Kollege Dolata, wäre aber nur unter Erfüllung besonderer Bedingungen möglich gewesen, die wir nicht erfüllen wollten.
Ich meine, dies ist es, worum es eigentlich geht: Wir haben gar keine Möglichkeit, über Themen wie das Internationale Jahr der Behinderten und die psychologischen und sozialen Probleme der Behinderten hier ausführlich zu diskutieren. Für den Fremdenverkehr haben wir schon mehr Zeit. Um über die Probleme der Behinderten — es handelt sich immerhin um einige Millionen Menschen in diesem Lande — miteinander zu reden, haben wir weniger Zeit. Ich finde, dann sollte man auf solche Sprüche wirklich verzichten.
Der Herr Bundesarbeitsminister hat hier von der Lieblosigkeit der Menschen den Behinderten gegenüber gesprochen. Hüten wir uns, die wahren Absichten im Hinblick auf die weitere Politik für die Behinderten zu verschleiern! Dieses Verschleiern ist nicht ganz gelungen, weil die Vertreter von CDU/CSU und FDP — das gilt übrigens auch für den Bundesarbeitsminister — im Grunde genommen für jeden, der zugehört hat, mehr oder weniger deutlich gesagt haben: Wir sind bisher viel zu weit gegangen; dies müssen wir abbauen. — Freilich wurde diese Aussage verbrämt. Es wurde in etwa so formuliert: „Wir wollen den Behinderten nichts neh-
Deutscher Bundestag - 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8399
Glombig
men; die Behinderten müssen ihre Eingliederung erfahren. In dieser Hinsicht sind wir alle einer Meinung. Sind wir aber nicht in diesem oder jenem Punkte zu weit gegangen? Wenn wir in diesem oder jenem Punkte zu weit gegangen sind, müssen wir abbauen."
Ich übersetze dies nun in die Sprache derer, die das auf sich wirken lassen müssen. Ich bin der Meinung, dies ist die falsche Politik. Auch wenn es Mißbrauchstatbestände in allen Bereichen gibt — übrigens nicht nur in der Sozialpolitik, nicht nur bei den Arbeitnehmern, nicht nur bei den Versicherten, nicht nur bei den Kranken, nicht nur bei den Behinderten —, ist diese Art der öffentlichen Diskussion unerträglich.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es geht hier nur um die Frage: Sind eigentlich die Behinderten, die sich haben anerkennen lassen — wenn auch auf Betreiben ihres Arbeitgebers, auch des öffentlichen Arbeitgebers —, überhaupt berechtigt, Schwerbehinderte im Sinne des Gesetzes zu sein? Haben wir nicht gemeinsam eine Abkehr vom Begriff der Kausalität und eine Hinwendung zum Begriff der Finalität vorgenommen? Das heißt, daß wir gemeinsam von der Ursache der Behinderung abgehen und allein auf die Art und Schwere der Behinderung abstellen wollten. Dies allein ist human. Dies allein ist auch vernünftig. Wenn man sich dann darüber beschwert, daß auf Grund einer solchen politischen Entscheidung die Zahl derjenigen zunimmt, die einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt haben, muß ich mich allerdings verwundern. Können sich nicht diejenigen verwundern, die dies hier feststellen? Dies ist geradezu eine logische Schlußfolgerung. Wir haben den Personenkreis bewußt erweitert. Das war eine politische Entscheidung. Daß es sich hierbei auch darum handeln kann, daß die Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit der Amtsärzte hier und da von dem abweichen, was der Gesetzgeber eigentlich gewollt hat, daß aber auch die Anerkennungspraxis der Ärzte dazu führen kann, weil sie nicht genügend vorgebildet sind, weil wir nicht genug Ärzte in diesem Bereich haben, da man als Arzt anderswo mehr Geld verdienen kann, muß man auch einmal sagen. Das ist aber ein anderer Punkt. Das darf nicht dazu berechtigen, daß wir diese Gesetzgebung und damit die Behinderten als Altersbehinderte diffamieren.

(Beifall bei der SPD)

Nun frage ich mich: Worin besteht denn eigentlich der Unterschied zwischen dem Altersbehinderten und dem Behinderten, der weniger alt ist? Warum sind nicht mehrere Behinderungen zusammen auch eine Behinderung im Sinne des Gesetzes? Was sind das eigentlich für Theorien, mit denen hier gearbeitet wird? Sie sind doch unlogisch, wirklich völlig unlogisch. Diese Argumentation soll doch nur dazu dienen, den Abbau vorzubereiten. Sie haben hier deutlich gemacht, daß es Ihre Absicht ist, das nach dem 6. März zu tun — wie auch auf anderen Feldern. Sie haben uns deutlich gesagt, was Sie wollen: Abbau des Schwerbehindertengesetzes, Abbau der sogenannten Vergünstigungen.
Nun frage ich mich: Ist es denn eigentlich eine „Vergünstigung", wenn jemand, der 80 % erwerbsgemindert ist, eine Freifahrt auf den öffentlichen Verkehrsmitteln hat? Ist das eine Vergünstigung? Oder ist das der Ausgleich von Nachteilen? Darauf hatten wir uns verständigt. Dies haben wir Ihnen ja nicht unterschoben. Dies ist ganz offen diskutiert worden, untereinander und miteinander, und wir haben das gemeinsam verabschiedet. Jetzt wird so getan, als seien das Vergünstigungen, die sich einige aneignen.
Zur Arbeitslosigkeit. Daß der Anstieg der Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen vor allem in der letzten Zeit nicht so hoch ist, ist doch auf die Tatsache zurückzuführen, daß wir besonders seit 1974 ein Schwerbehindertengesetz haben, das sich eben bewährt hat in der Funktion des Schwerbehindertenschutzes mit dem Erfordernis der Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zur Kündigung. Dies ist das wahre Geheimnis. Ich finde, da kann man in diesem Zusammenhang — und ich bitte Sie, da zuzustimmen — den Damen und Herren in den Hauptfürsorgestellen für ihre verantwortungsvolle Arbeit eigentlich nur danken. Das sollte man bei dieser Gelegenheit einmal tun,

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

denn es ist ja gar nicht ganz einfach, die unsittlichen Kündigungsanträge der Arbeitgeber zurückzuweisen.
Allerdings finde ich es unerträglich, Herr Minister Blüm, daß im Grunde genommen das Problem der Behinderten auf das Problem der Eingliederung noch eingliederungsfähiger Behinderter oder Schwerbehinderter reduziert wird. Ich denke an den Schwerbehindertenschutz, die Eingliederungshilfe in Arbeit und Beruf und an das, was mit der Eingliederung in die Gesellschaft vor allem für die zusammenhängt, die diese Möglichkeiten, die wir sonst geschaffen haben, nicht nutzen können. Die Rehabilitationsgesetzgebung ist — das gebe ich zu — in ihrer Lückenlosigkeit und ihrer Humanität einmalig in der Welt. Daran sollten wir nicht rütteln. Trotzdem bleiben Zigtausende, denen wir mit aller Rehabilitationsgesetzgebung nicht helfen können und die in Anstalten und Heimen den Rest ihres Lebens verbringen müssen.
Hier ist die Frage nach der Lieblosigkeit gestellt, nämlich danach: Haben wir als Gesellschaft die nun vergessen, die nicht mehr die Kraft haben, sich zu melden, die keine Lobby haben? Herr Minister Blüm, wir haben sie vergessen. Ja, wir treten eigentlich mit vollem Bewußtsein die Interessen dieser Personengruppe mit Füßen, wenn wir eine solche Gesetzgebung machen, wie Sie sie hier mit dem Haushaltsbegleitgesetz in bezug auf den Abbau von Sozialhilfeleistungen machen.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen doch wissen, daß das vor allem die Schwer- und Schwerstbehinderten trifft, die keine Ausweichmöglichkeit haben, die nicht die Möglichkeit haben, in Werkstätten untergebracht zu werden oder aber Geld zu verdienen, die dieser inhu-
8400 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Glombig
manen, unsozialen Gesetzgebung hoffnungslos und schutzlos preisgegeben wären, wenn es nicht die Sozialdemokraten gäbe. Das kann man wohl mit Fug und Recht sagen. Wir werden uns deswegen dieses Problems besonders annehmen.
Ich sehe, daß ich am Ende bin — nicht, was das Thema angeht, sondern was meine Redezeit angeht.
Ich hätte gewünscht, der neue Behindertenbeauftragte hätte die Möglichkeit gehabt, hier zu sprechen. Dem alten Behindertenbeauftragten danke ich auch von dieser Stelle noch einmal herzlich für die Art und Weise, wie er seine Aufgabe wahrgenommen hat.

(Beifall bei der SPD)

Ich finde, das war vorbildlich. Dies muß auch entsprechend herausgestellt werden.
Dieser neue Behindertenbeauftragte hat, schon in seiner neuen Eigenschaft, rundheraus gesagt: Den Behindertenstatus gesetzlich neuregeln. — Wenn Sie glauben, daß Sie das dadurch machen könnten, daß Sie den Begriff der „Minderung der Erwerbsfähigkeit" abschaffen und durch einen neuen Begriff des „Grades der Behinderung" ersetzen, kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! — Das beweist nämlich, daß Sie wirklich keine Ahnung von dem haben, was hier zur Debatte steht.

(Beifall bei der SPD)

Wissen Sie denn nicht, was das bedeuten würde? Das würde bedeuten, daß ein Begriff, der sich seit Jahrzehnten bewährt und der Rückwirkungen auf andere Rechtsbereiche hat, durch einen neuen ersetzt werden müßte, der dazu zwänge, durch einen sehr stark, erweiterten Apparat von Amtsärzten die Veränderungen in diesem Behindertenstatus ständig zu überprüfen, mit all den Folgerungen, die daraus resultierten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das in Ihrer zuständigen Fachabteilung wirklich so debattiert wird und daß dieser Vorschlag von dort kommt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913606700
Wenn Sie bitte Ihre Rede beenden würden, Herr Kollege.

Eugen Glombig (SPD):
Rede ID: ID0913606800
Ich werde jetzt zum Ende kommen.
Ich sage noch einmal: Wir sollten uns künftig in der Politik für Behinderte auch auf den Plätzen, die wir hier schaffen, Leute wünschen, die diese Ämter, die sie besetzen, nicht selber in Frage stellen und sagen: Dieses Amt ist überhaupt nicht notwendig. Aber wenn sie dann schon da sind, dann möchten wir auch, daß sie, wie in diesem Falle, die Interessen der Behinderten wirklich wahrnehmen. — Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913606900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gilges.

Konrad Gilges (SPD):
Rede ID: ID0913607000
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich kann die innere Aufwallung meines Kollegen Glombig
verstehen. Auch ich muß sagen, daß die Aussagen des Herrn Dolata in dieser Debatte für mich teilweise ein großes Ärgernis waren.
Herr Blüm, wenn Sie sagen, daß das beste Heim die Familie bleibe, und die Frage 7, die wir gestellt haben, ernst nehmen — wir nehmen sie ernst —, dann wäre doch wirklich zu überlegen, ob es nicht eine Aufgabe der Bundesregierung wäre — und Sie könnten das hier konkret beantworten —, die Zahl der bei der Betreuung von Behinderten eingesetzten Zivildienstleistenden von 300 — bei 33 000 Zivildienstleistenden — entscheidend zu erhöhen: denn das sind doch gerade die Zivildienstleistenden, die im häuslichen Bereich eingesetzt werden. Sie ermöglichen es, daß ein Schwerstbehinderter zu Hause bleiben, doch noch in seiner gewohnten Umwelt leben kann. Ich meine, es sollte keine finanziellen Hindernisse dafür geben, daß dies von Ihnen forciert wird. Das wäre eine konkrete Bitte meinerseits an die Bundesregierung.
Der zweite Punkt, den ich anschneiden möchte, wird in der Frage 13 angegangen. Ich leite dann zu dem über, wozu ich eigentlich etwas sagen wollte. Das ist die Frage der Früherkennung von Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren mehrere Modellmaßnahmen mit den Ländern gemeinsam durchgeführt, die sehr erfolgreich waren. Meine Bitte an die Bundesregierung ist, daß diese Arbeit fortgesetzt wird. Es ist nämlich wichtig, daß schon im Kindesalter, in den ersten drei Lebensjahren, erkannt wird, ob und gegebenenfalls welche Behinderungen bestehen. Denn je früher Behinderungen bei Neugeborenen und Kindern erkannt werden, desto größer ist die Möglichkeit, daß diese Behinderungen gelindert bzw. behoben werden können. Die Lebenschance eines Behinderten erhöht sich, je früher diese Behinderung erkannt worden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sollte hier etwas zum Punkt 3 b sagen, zu dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder". Der Kollege Dolata hat dazu schon einiges gesagt. Er hat schon mitgeteilt, daß das bei allen Fraktionen im Ausschuß unumstritten war. Wir als SPD-Fraktion begrüßen natürlich, daß heute dieser von der sozialliberalen Regierung erarbeitete Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschiedet werden wird.
Lassen Sie mich aber noch zwei Bemerkungen dazu machen. Die eine Bemerkung ist, daß wir überlegen müssen — und dies wäre eine Bitte an die Bundesregierung —, ob nicht in Zukunft im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten eine automatische Anhebung der Sätze stattfinden sollte. Ich halte es eigentlich — ich will das Wort unerträglich nicht gebrauchen — für schwierig, daß sich der Bundestag alle zwei Jahre mit der Frage beschäftigen muß. Wir haben das schon einmal angeregt, auch bei der alten Bundesregierung. Wir regen das hier auch heute an. Ich glaube, Sie sollten sich das einmal überlegen und wirklich darüber nachdenken, ob das nicht möglich ist. Das wäre jetzt insbe-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8401
Gilges
sondere deswegen noch sinnvoller, weil es eine Ausschlußfrist gibt. Das heißt, der finanzielle Rahmen ist ab dem 31. Dezember 1983 absehbar, die Möglichkeiten sind überschaubar. Das ist meine Bitte an Sie.
Die zweite Bemerkung, die ich zu dem Gesetz noch anfügen müßte, ist folgende. Ich glaube, man muß daran erinnern, weshalb wir es eigentlich nötig hatten, dieses Hilfswerk zu machen. Ich muß sagen, daß alle finanziellen Leistungen, die wir zur Verfügung stellen können, weder ein Trost sind noch die körperlichen, noch die seelischen Schäden, die durch den Contergan-Skandal entstanden sind, beheben. Sie können mildern. Aber der Skandal bleibt bestehen. Deswegen habe ich, Herr Dolata, kein Verständnis dafür, daß Sie sagen, Sie hielten, in die Zukunft gesehen, einen solchen Skandal für ausgeschlossen oder für nicht wiederkehrbar. Ich glaube, daß dieser Skandal wiederkehrbar ist. Wenn Sie die Diskussion im Ausschuß aufmerksam verfolgt haben, wissen Sie, daß wir immer wieder das Problem haben: Wieweit gibt es Arzneimittelsicherheit,

(Zuruf des Abg. Dolata [CDU/CSU])

und was können wir, auf dem richtigen Weg der sozialliberalen Bundesregierung weitergehend tun, wie können wir die Arzneimittelsicherheit entscheidend verbessern, damit solch eine Katastrophe, solch ein Skandal verhindert werden kann, der j a auf dem Rücken von vielen Kindern in diesem Land ausgetragen worden ist, auch zugunsten — ich sage das mal — eines Chemiekonzerns? — Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913607100
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Zu der Großen Anfrage betreffend Behindertenpolitik liegen zwei Entschließungsanträge auf den Drucksachen 9/2240 und 9/2260 vor. Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 9/2240. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 9/2260 auf. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 3 b: Drittes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder". Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. — Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in zweiter Lesung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rohde, Glombig, Lutz, Dreßler, Egert, Frau Fuchs, Ginnuttis, Heyenn, Kirschner, Frau Dr. Lepsius, Peter (Kassel), Rappe (Hildesheim), Schreiner, Frau Steinhauer, Stockleben, Urbaniak, Westphal, Weinhofer, von der Wiesche und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes (ArbZG)
— Drucksache 9/2196 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, für die Beratung eine Stunde vorzusehen. Da wir jetzt halb eins haben, haben sich die Geschäftsführer dahin abgesprochen, daß wir die Beratung um 1 Uhr unterbrechen und nach der Fragestunde fortsetzen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lutz.

Egon Lutz (SPD):
Rede ID: ID0913607200
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin beauftragt worden, in den Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, einzuführen. Lassen Sie mich da bitte mit einem kurzen Streifzug durch die Sozialgeschichte beginnen.
1860 waren der 14-Stunden-Tag und die Sonntagsarbeit die schlimme Folge des erwachenden Industriezeitalters. 1889 stellte die Sozialistische Internationale die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag und der 48-Stunden-Woche auf.
1918 — ein Krieg war zu Ende, die Monarchie zerbrochen, die Republik gegründet — gelang es, diese Forderung zum Gesetz zu erheben. 1930/31 forderte im Schatten der Weltwirtschaftskrise der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund die 40-Stunden-Woche. 1938 erließen die Nazis die Arbeitszeitordnung, ein Gesetz zur Sicherung überlanger Arbeitszeiten in der Rüstungsindustrie, das zwar die 48-Stunden-Woche festschrieb, aber gleichzeitig — unter Einschluß der Sonntage — Arbeitswochenzeiten von bis zu 72 Stunden ermöglichte.
Dieses Gesetz, geschrieben in dem unappetitlichen NS-Vokabular jener Zeit, ist immer noch geltendes Recht. Es sollte uns gemeinsam betroffen machen, daß dieser Bundestag bis zur Stunde nicht fähig war, ein neues, fortschrittliches Arbeitszeitrecht zu schaffen.

(Sehr richtig! bei der SPD)

Denn für 96 % der Arbeitnehmer ist die 40-StundenWoche längst tarifliches Recht. Mittlerweile ist für
8402 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Lutz
über 2 Millionen Arbeitnehmer in unserem Land die Arbeitszeit auf null reduziert worden; sie sind arbeitslos. Mittlerweile können wir den Krankmacher Arbeitsplatz an jeder Rentenstatistik ablesen. Dennoch hält die Blockade jener, deren geistige Ahnherren schon 1890, 1919, 1930 und in den 50er und 60er Jahren wieder jede Form von Arbeitszeitverkürzung verteufelt haben, an.
Eigentlich müßte man schamrot werden, wenn man zu jenen gehört, die die Stafette reaktionärer Arbeitszeitpolitik in unsere Zeit hineintragen. Aber das ist natürlich nicht zu erwarten. Ich zitiere Herrn Cronenberg, den ich leider vermisse, von der FDP, der schwadroniert hatte, die SPD habe mit der Vorlage zum Arbeitszeitrecht „ihr Unvermögen bestätigt, sachgerechte Vorschläge zur Überwindung der Arbeitslosigkeit" zu entwickeln. Ich zitiere Herrn Dr. George, der unseren Vorschlag als „fragwürdige Beeinträchtigung betrieblicher Arbeitsabläufe" abqualifizierte.
Herr Cronenberg ist 52, Herr Dr. George 49 Jahre jung. Sie sind sozialpolitische Tattergreise, gemessen an dem 91jährigen Oswald von Nell-Breuning,

(Beifall bei der SPD)

der vor dem SPD-Forum Arbeitszeitverkürzung kurz und bündig formulierte: „Wir brauchen nicht Wirtschaftswachstum um der Beschäftigung willen, sondern Arbeitszeitverkürzung, um der Sinnerfüllung des Leben willen." — Genau das brauchen wir. Wir brauchen bei Ihnen ein paar Leute, die das mitzudenken bereit sind, was der Nestor der katholischen Soziallehre hier vorgedacht hat.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU[: Wenn Sie doch sonst immer auf ihn hören würden!)

Ich bringe noch ein bißchen jüngste sozialliberale Geschichte, wenn es gefällig ist: Am 23. Oktober 1976 hatte die damalige Koalition vereinbart, die Arbeitszeitordnung zu reformieren. 1977 kam es zu einem entsprechenden Beschluß der sozialliberalen Regierung. Dann haben sich die Koalitionäre, die Sozialpolitiker von SPD und FDP, darangemacht, das Gesetz Paragraph für Paragraph einvernehmlich abzuhaken. Herr Cronenberg gehörte dazu, der heute nicht da ist. Herr Schmidt (Kempten) gehörte dazu, der heute nicht da ist. Herr Hölscher gehörte dazu, der heute nicht mehr in der FDP ist.
Wir waren damals fleißig. Wir haben — das sehen Sie an dem Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwurf, der nur etwas modernisiert wurde — gute Arbeit geleistet. Das ist kein „sozialistischer Wechselbalg", wie Herr Cronenberg uns in Pressemitteilungen glauben machen wollte. Nein, an diesem Geschäft war er mit beteiligt. So lange war er mit beteiligt, bis Graf Lambsdorff den Herren Hölscher, Cronenberg und Schmidt (Kempten) das Heft aus der Hand genommen hat und die Herren uns kleinlaut mitteilen mußten, nun dürften sie nicht mehr, man habe ihnen das Verhandlungsmandat entzogen.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Genug der Geschichte. Die Peinlichkeit bleibt einem Partner dieser neuen Regierung.
Lassen Sie mich zum Gesetz kommen. Es soll die 40-Stunden-Woche festschreiben. Das wird für die übergroße Masse der Arbeitnehmer keine Neuerung sein. Für 4 % der tarifgebundenen Beschäftigten und für etwa 1 Million in Kleinstunternehmen Tätigen würde das Gesetz allerdings zu einer echten Arbeitszeitverkürzung führen. Das soll es ja auch.
In der Sozialpolitik übt der Gesetzgeber häufig die Funktion des Staatsnotars aus, um tarifliches Recht mit Zeitverzögerung in gesetzliches Recht umzugießen. Dieses Gesetz soll ein Schritt auf diesem Wege sein und ferner ein Angebot an die Tarifpartner, bei ihrer Tarifpolitik unter den neu zu setzenden gesetzlichen Rahmen zu gehen.

(Pohlmann [CDU/CSU]: Das ist ein klarer Eingriff in die Tarifvertragsfreiheit!)

Wir wollen zudem erstmals einen Rechtsrahmen für gleitende Arbeitszeiten schaffen und beispielsweise die arbeitsmedizinisch höchst bedenkliche Verdichtung der 40 Stunden auf vier Arbeitstage verhindern. Und wir wollen die Teilzeitarbeitsverhältnisse nach dem Kapovaz-Prinzip ausschließen. Kapovaz klingt schon schlimm und ist auch schlimm. Da wird nämlich der Arbeitnehmer nach Bedarf abgerufen, beispielsweise montags von 12 bis 16 Uhr, dienstags die ersten vier Stunden nach Ladenöffnung, freitags in den Abendspitzen. Der Arbeitnehmer hat in Rufweite des Telefons darauf zu warten, daß er abgerufen wird. Eine üblere Form von Ausbeutung und von Vernichtung von Dauerarbeitsplätzen läßt sich nicht denken. Wir müssen das verbieten.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen auch sonst Bedingungen für Rufbereitschaften setzen, die die Würde des Menschen und seine Gesundheit nicht beeinträchtigen.
Eines der Herzstücke des Entwurfs ist die Begrenzung der Möglichkeit, Überstunden machen zu können, auf das betriebswirtschaftlich notwendige, arbeitsmarktpolitische vertretbare und arbeitsmedizinisch verantwortbare Maß. Für uns sind das in der Woche zwei Stunden auf Grund betrieblicher Anordnung und noch einmal zwei Stunden auf der Basis eines Tarifvertrages oder, wenn es ihn nicht gibt, mit Zustimmung der Gewerbeaufsicht

(Kolb [CDU/CSU]: Bürokratie!)

und unter Einschaltung der Betriebsräte. Wir haben in einer Fülle von Einzelbestimmungen saisonalen Auftragsschwankungen, betrieblichen Spitzenbelastungen etc. Rechnung getragen. Wir haben damals gemeinsam flexible Lösungen gesucht und gefunden.
Das Überstundenkontingent kann zusammengezogen werden, wie Sie aus dem Entwurf ersehen; das allerdings auch nur in arbeitsmedizinisch vertretbaren Grenzen. Aber genau genommen ist bei maximal 200 Überstunden im Jahr, wie immer man sie zusammenlegt, der Ofen aus.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8403
Lutz
Wir meinen, es kommt darauf an, daß die Solidarität der Voll- und Überbeschäftigten mit den Arbeitslosen gezeigt und mit Nachdruck durchgesetzt wird. Niemand von uns rechnet jede Überstunde, die dadurch verhindert wird, in einen Arbeitsplatz um. Aber wir wissen, daß dieses Gesetz tatsächlich Zigtausenden erstmalig eine neue Beschäftigungschance eröffnen würde.

(Beifall bei der SPD)

Könnten wir betriebswirtschaftliche Erfordernisse vergessen und nur arbeitsmedizinischen Erfordernissen folgen, wir müßten mit diesem Gesetz auch gleich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Schichtarbeit verbessern und die Nachtarbeit für alle Arbeitnehmer verbieten. Für Arbeiter gibt es kein Nachtarbeitsverbot, für Angestellte männlichen und weiblichen Geschlechts auch nicht, obwohl sie alle durch die Nachtarbeit krank werden und nur eine Minorität der ständigen Nachtarbeiter das normale Rentenalter erreicht. So unmenschlich kann technischer Fortschritt sein.
Nun, wir können dennoch nicht Maschinen stürmen, sondern allenfalls die gesundheitlichen Schäden von Nachtarbeit zu begrenzen versuchen und Dämme aufrichten, damit nicht auch noch die Fließbänder oder die Webautomaten des Nachts laufen und die Arbeiterinnen unter ihr schlimmes Joch zwängen. Deshalb wollen wir, Ausnahmen eingerechnet, am Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen festhalten.
Deshalb fordern wir, daß ein Minimalausgleich für regelmäßig in Nachtschicht Arbeitende durch einen bezahlten freien Tag pro Vierteljahr erfolgt. Deshalb ist der Überstundenrahmen für Schichtarbeiter rigoroser gefaßt worden.
Im übrigen finden Sie Beschäftigungsgebote und -verbote in diesem Gesetz nicht. Sie gehören in ein neues Arbeitsschutzrecht, das wir nach dem 6. März im nächsten Deutschen Bundestag, wenn es zu Wahlen kommt, auf die Hörner nehmen werden.

(Kolb [CDU/CSU]: Es kommt zu Wahlen, Herr Kollege!)

So viel, Herr Kolb und meine Damen und Herren, zu den wichtigsten Einzelheiten des Ihnen vorliegenden Entwurfs.
Nun zur wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Situation, in die wir diesen Entwurf hineinstellen. Sie werden der wachsenden Flut der Arbeitslosigkeit nicht Herr, wenn Sie die Arbeitszeit nicht verkürzen.

(Beifall bei der SPD)

Sie werden der wachsenden Flut der Arbeitslosigkeit nicht Herr, wenn Sie nicht zu einer wirtschaftspolitischen Umorientierung bereit sind, wie wir Ihnen das mit unserem Beschäftigungshaushalt 1983 bis 1985 vorgeschlagen haben, über den Sie in der nächsten Woche zu entscheiden haben werden

(Beifall bei der SPD)

und dessen Ablehnung schon wieder von Ihnen signalisiert worden ist.
Wir wollen die Tarifpartner mit dem Arbeitszeitgesetz ermuntern, über den neuen Rahmen hinaus neue arbeitszeitverkürzende Verträge zu schließen und das Überstundenunwesen einzudämmen.

(Kolb [CDU/CSU]: Unwesen?)

Wie Sie bereits verlautbart haben, werden Sie sich auch dagegen und damit für die Arbeitslosigkeit entscheiden.

(Dr. George [CDU/CSU]: Das ist nicht die Alternative!)

Wir werden dem Parlament in der nächsten Woche in einem Entschließungsantrag Grundsätze einer Vorruhestandsregelung zur Beschlußfassung vorlegen.

(Kolb [CDU/CSU]: Papiertiger seid Ihr! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Noch ein Schauantrag!)

Mit diesem Vorschlag soll erreicht werden, daß 58jährige zu sozial vertretbaren Konditionen und auf Grund eines Tarifvertrages einen Arbeitsplatz für Jüngere freimachen können, wenn sie das wollen.

(Beifall bei der SPD)

Und wieder ist Ihr Nein signalisiert, und wieder raffen Sie sich lediglich zu einer zynischen Ablehnung auf.

(Kolb [CDU/CSU]: Machen Sie doch selbst einmal einen Betrieb auf!)

Die neue Mehrheit, meine Damen und Herren, ist eine kaltschnäuzige, eine herzlose Mehrheit,

(Beifall bei der SPD)

die nach Art der sozialpolitischen Klabautermänner des letzten Jahrhunderts

(Dr. George [CDU/CSU]: Was ist denn das für eine Sprache?)

und der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts Millionen-Arbeitslosigkeit als Durchgangsstation — wenn auch ein Jahrzehnt und längerdauernd — zum neuen Aufschwung bewußt hinzunehmen bereit ist.

(Kolb [CDU/CSU]: Sie stehen am falschen Rednerpult!)

Ich beschwöre Sie: Haben Sie wenigstens einmal den Mut, wenigstens einmal Ihrer eigenen unheiligen Geschichte zu entfliehen, indem Sie diesem Gesetz zustimmen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913607300
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0913607400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Kollege Lutz, wir sind uns ganz gewiß darin einig — darüber brauchen wir nicht zu streiten —, daß es in der Arbeitszeitordnung in ihrer gegenwärtigen Fassung, die aus dem Jahre 1938 stammt, von unappetitlichem NS-Vokabular nur so wimmelt.

(Wehner [SPD]: Hört! Hört!)

8404 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
Darüber bestehen keine Meinungsverschiedenheiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hier und heute geht es um den Inhalt und nicht um die Form, die in der Tat völlig unakzeptabel ist und kein Diskussionsgegenstand ist.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Also ändern! Was Neues machen!)

Aber das Vokabular, das Sie hier anwenden, Herr Lutz, ist ja auch kein feines.

(Lutz [SPD]: Aber zutreffend!)

Wenn Sie von der „kaltschnäuzigen Mehrheit" reden, dann sollten Sie die Problematik nicht durch großschnäuzige Erklärungen verschärfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Uns geht es gemeinsam um die Frage, wie Arbeitlosigkeit beseitigt werden kann. Wir sind gemeinsam dieser Auffassung, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Fraktion; ich habe das hier schon mehrfach gesagt. Ich bestreite Ihnen den ernsten Willen, daß Sie Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, keine Sekunde, aber ich verbitte mir, daß Sie genau das gegenwärtig und immer wieder der Regierungskoalition und der Bundesregierung gegenüber tun.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Wenn wir uns unredliche Motive unterstellen, gibt es keine ernsthafte und sachbezogene Diskussion. Wir streiten darüber, wie Arbeitslosigkeit beseitigt werden kann, nicht daß Arbeitslosigkeit beseitigt werden muß.

(Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, unter diesem Gesichtspunkt, nämlich: Was hat erste Priorität?, ist auch dieser Entwurf zu prüfen. Da habe ich festzustellen, daß die Initiative der sozialdemokratischen Fraktion zur Änderung des Arbeitszeitrechts nicht geeignet ist, Arbeitslosigkeit abzubauen. Vor allem durch die gesetzliche Fixierung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden und durch die enge Kontigentierung von Überstunden engen Sie die Flexibilität der Wirtschaft in unvertretbarem Maße ein. In der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der wir uns befinden, können wir genau das — weniger Flexibilität — nicht brauchen.

(Zuruf des Abg. Glombig [SPD])

— Herr Glombig, man muß sich nichts Neues einfallen lassen, wenn das, was man gestern vertreten hat, auch heute noch richtig ist.
Betroffen würde vor allem die mittelständische Wirtschaft.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Insbesondere für die termingerechte Auftragserfüllung ist sie auf flexible Überstundenregelungen und -möglichkeiten angewiesen. Dafür haben im übrigen die Betriebsräte in den Unternehmen sehr viel
mehr Verständnis, als Ihr Antrag hier zum Ausdruck bringt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Gerade die mittelständische Wirtschaft sollten wir jetzt nicht behindern, sondern wir sollten sie stützen. Sie ist das Rückgrat nicht nur der deutschen Wirtschaft — das auch —, sondern sie stellt auch die Masse der Arbeitsplätze.
Sicher sind auch Großbetriebe belastet. Unsereiner reist ja — Sie tun das auch — in diesen Tagen gelegentlich nach Hamburg. Ich habe mit Interesse eine Stellungnahme des früheren sozialdemokratischen Wirtschaftssenators, des Herrn Kern, zu diesem Gesetzentwurf gesehen. Herr Kern ist jetzt Chef der Lagerhausgesellschaft in Hamburg. Er wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen Ihre Anträge und gegen Ihre Vorschläge.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

Wie soll denn, meine Damen und Herren, ein moderner Hafen mit dieser neuen SPD-Regelung eigentlich leben und im Wettbewerb mit den Nachbarhäfen bestehen?

(Kolb [CDU/CSU]: Der wird stillgelegt!)

Vermutlich würde aus dem schnellsten Hafen der Welt — das ist Hamburg — ein Hafen der Betulichkeit, der eine große Reede brauchte und der gegen Rotterdam, Antwerpen und Rostock überhaupt keine Chance mehr hätte.
Das Genehmigungsverfahren für Überstunden, das Sie in Ihrem Arbeitszeitgesetz vorsehen, sucht wahrlich seinesgleichen. Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren:
Die zuständige Aufsichtsbehörde kann auf Antrag des Arbeitgebers zwei weitere Überstunden im Einzelfall befristet zulassen, soweit der Arbeitgeber hierfür ein dringendes Bedürfnis nachweist. Vor der Entscheidung hat sie das zuständige Arbeitsamt zu hören.
Ich hoffe, Herr Lutz, Sie nehmen den hochverehrten Pater von Nell-Breuning für diesen Papierkrieg nicht auch noch in Anspruch. Der Wirtschaft hilft solcher Bürokratismus nicht.

(Zuruf des Abg. Lutz [SPD])

Ich kann nur wünschen und hoffen, daß die Betriebe bereits acht oder zehn Wochen im voraus wissen, welche Überstunden anstehen. — Ihre Kenntnis von betrieblicher Wirklichkeit sieht wahrscheinlich so aus —; denn nur dann hätten sie j a eine Chance, diese auch genehmigt zu bekommen. Was hier Betrieben, Betriebsräten und Behörden zugemutet werden soll, bedarf keines weiteren Kommentars.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die von Ihnen ausgerechneten Beschäftigungseffekte Ihres Arbeitszeitgesetzes — 150 000 bis 200 000 zusätzliche Arbeitsplätze — sind illusionär. Sie können sich offensichtlich nicht vorstellen, daß sich die Produktivität erhöht oder die Produktion eingeschränkt werden
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8405
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
kann. Die Zusammenhänge sind sehr viel komplizierter, als Sie das hier unterstellen.
Fazit: Diese Initiative der SPD bringt uns der Lösung des Beschäftigungsproblems keinen Schritt näher. Das Gegenteil ist der Fall. Mehr Bürokratie und mehr Belastung der Unternehmen gefährden Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze. Sie bringen dem Staat noch zusätzliche Ausgaben im konsumtiven Bereich. Deshalb bleibt mein klares Nein zu diesen Ihren Vorschlägen. Sie haben mich zu Recht zitiert: Es war gestern so, es ist heute so, es wird auch morgen so sein. Herr Glombig, ich werde Sie weiter langweilen mit derselben klaren Haltung.

(Zurufe von der SPD)

— Wir wissen doch, daß wir in diesen Fragen schon seit vielen Jahren verschiedener Meinung sind. Meine Haltung kann Sie doch überhaupt nicht überraschen.
Meine Damen und Herren, eines fehlt in dieser Vorlage, was in der Tat beschäftigungs-, jedenfalls ausbildungspolitisch förderlich wäre: es fehlt der geringste Ansatz zum Abbau der ausbildungshemmenden Vorschriften, die in der Arbeitszeitordnung vorhanden sind, die insbesondere die Ausbildung von Frauen in bestimmten Berufen behindern. Das sind richtiges NS-Vokabular und NS-Inhalt. Hätten Sie sich doch auch damit einmal beschäftigt; das wäre wirklich eine begrüßenswerte Initiative

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und würde auch dem Anspruch gerecht, für die Emanzipation einzutreten. Aber wenn es dann zu den Fakten kommt und wenn es wirklich ans Eingemachte geht, dann funktioniert es nicht.
Nun, meine Damen und Herren, der Antrag zur Arbeitszeitverkürzung paßt j a auch voll in das hinein, was wir in den vergangenen Wochen von Ihnen gehört haben: in den Kieler Beschlüssen wie auch im sogenannten Beschäftigungshaushalt. Sie stellen Forderungen auf, die zunächst wohlklingend sind, die wählerwirksam angeboten werden können. Auch der jetzige Antrag ist ebenso wie das, was vorausgegangen ist, Wahltaktik.

(Dreßler [SPD]: Unerhört! — Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Unglaublich! Lassen Sie doch Ihre Unterstellungen sein! — Gerstein [CDU/CSU]: Das tut weh!)

Sie unterlassen es nämlich, die Konsequenzen des zweiten und dritten Schrittes darzulegen, weil sie dann nämlich Unangenehmes vortragen müßten. Sie müßten sagen, daß sich der Staat noch breiter machte, daß die Schulden noch weiter anstiegen, daß die Abgabenschraube noch stärker angezogen würde und daß die Bürger noch mehr bevormundet würden.

(Dr. George [CDU/CSU]: So ist das!)

Sie schädigen mit diesen Vorschlägen unsere Wirtschaft, Sie erschüttern das Vertrauen in die Solidität der Staatsfinanzen, Sie beeinträchtigen Leistungswillen und Innovationskraft und Sie gefährden, Herr Lutz, nicht nur die Wirtschaft, sondern
auch das soziale Sicherungssystem, weil Sie Staat und Wirtschaft überfordern.

(Gerstein [CDU/CSU]: Die haben immer noch nichts gelernt! — Kolb [CDU/CSU]: Die wollen nichts lernen!)

Meine Damen und Herren, die SPD hat nicht nur mit ihren letzten Initiativen ihr Unvermögen unter Beweis gestellt, mit den Beschäftigungsproblemen fertigzuwerden;

(Zurufe von der SPD: Was?)

das gilt auch für früher vorgetragene Forderungen. Ich erinnere an all diejenigen Vorstellungen, die nicht zum Zuge kamen — Sie haben es ja selber geschildert —, weil Herr Cronenberg, andere Kollegen und ich gemeinsam Sie daran gehindert haben.

(Lutz [SPD]: Nein, Sie waren es!)

— Ich mach's j a auch gern allein. Die Verantwortung für etwas Vernünftiges übernehme ich auch gern allein, Herr Lutz.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913607500
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0913607600
Bitte sehr.

Eugen Glombig (SPD):
Rede ID: ID0913607700
Herr Kollege Lambsdorff, ist es richtig, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Wirtschaftsminister sowohl in der sozialliberalen Koalition als auch jetzt in der Rechtskoalition von CDU/CSU und FDP

(Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Ach, was soll denn der Quatsch! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik getragen haben oder hätten tragen müssen? Welche Initiativen haben Sie denn nun zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ergriffen? Können Sie uns einmal erklären, wo die Philosophie Ihrer Politik auf diesem Felde bisher gelegen hat?

(Beifall bei der SPD)


Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0913607800
Verehrter Herr Kollege Glombig, zur Beantwortung des ersten Teils Ihrer Anfrage gehört nicht sehr viel Nachdenken. Nur eine kleine Korrektur: Ich war Bundeswirtschaftsminister in der sozialliberalen Koalition und bin es nicht in der Rechtskoalition, sondern in der Koalition der Mitte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Weiter: Wir haben eine ganze Menge von Anregungen und Vorschlägen teilweise gemeinsam erarbeitet, teilweise gemeinsam durchgesetzt, aber solche beschäftigungspolitisch hinderlichen Vorschläge habe ich schon damals zu verhindern gewußt und abgelehnt.

(Dr. George [CDU/CSU]: Sehr gut!)

8406 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913607900
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0913608000
Frau Präsidentin, ich glaube, ich sollte jetzt fortfahren, um mich an die Zeit, 13 Uhr, halten zu können. — Ich erinnere, meine Damen und Herren, an das, was Sie wollen — und das kann Sie ja nicht stören —, nämlich einen Strukturentwicklungsplan, aktive und vorausschauende Strukturpolitik, Wirtschafts-, Sozial- und Strukturräte, Investitionsmeldestellen

(Zurufe von der SPD)

— ich sage j a, es kann Sie gar nicht stören, wenn ich das zitiere; nur, wir haben das früher alles verhindert, nun werden Sie es jetzt aus der Opposition heraus wohl auch nicht bekommen —, gezielte Forschungspolitik, gezielte Branchenpolitik, Meldepflicht für offene Stellen usw. Alles dies, meine Damen und Herren, hat natürlich mit Marktwirtschaft, mit Sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun.

(Zurufe von der SPD)

Diese Vorschläge brächten mehr Staat, mehr Planung, mehr Bürokratie und — in deren Folge — selbstverständlich auch mehr Kosten.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das sind doch Phrasen, die Sie dreschen! — Kolb [CDU/CSU]: Da können wir Sie nicht übertreffen!)

Im übrigen: Am Fall Arbed sehen Sie, wohin es führt, wenn der Staat in Unternehmensangelegenheiten immer weiter hineingezogen wird. Wir haben das gestern erlebt; ich meine das, was ich hier sage, ganz ernst. Die Folge ist nämlich nicht nur, daß die Unternehmensführungen an Dynamik verlieren. Noch viel schlimmer ist, daß die Tarifautonomie um so mehr gefährdet wird, je stärker der Staat beteiligt ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Daran, meine Damen und Herren, geht kein Weg vorbei, weil der Steuerzahler, der das Geld hergibt, und der Abgeordnete natürlich darüber mitentscheiden müssen und wollen, wie sich der wichtigste Kostenfaktor eines Unternehmens entwickelt, in das er Geld hineinsteckt. Ihre Forderung nach immer mehr Staatseingriffen gefährdet die Tarifautonomie und damit ein fundamentales Recht der Gewerkschaften. Tarifautonomie, meine Damen und Herren, gedeiht nur in einer marktwirtschaftlichen Ordnung und nicht in einer Ordnung der staatlichen Intervention.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Sie wollen die Bundesbankautonomie begrenzen — das haben Sie immer wieder vorgetragen —, um besser an die Geldpresse heranzukommen. Welche verheerenden Folgen so etwas haben kann, wurde in Deutschland schon zweimal unter Beweis gestellt.

(Lutz [SPD]: Arbeitszeitgesetz!)

— Ich spreche schon über die beschäftigungspolitischen Zusammenhänge, verehrter Herr Lutz, die Sie erwähnt haben und in die Sie diese Initiative stellen.
Sie wollen eine Ergänzungsabgabe, eine Anhebung der Spitzensteuersätze, die Maschinensteuer, die Abschaffung des Abzugs von Bewirtungskosten als Betriebsausgaben. Sie wollen die windfall-profits total abschöpfen, eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Freiberufler einführen, das Ehegattensplitting reduzieren.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie, meine Damen und Herren, ignorieren die ohnehin schon viel zu hohe Abgabenbelastung, die den Leistungswillen beeinträchtigt und die Schattenwirtschaft fördert. Sie demotivieren gerade diejenigen, die durch ihre Leistung unsere Wirtschaft in Gang halten sollen und können.
Und dort, meine Damen und Herren, wo Sie keine Möglichkeit sehen, Ihre überzogenen Vorstellungen mit höheren Steuern zu finanzieren, wollen Sie die Schulden des Staates noch vermehren.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)

Daß hier einmal Schluß ist, weil das Vertrauen schwindet, daß hier Zinswirkungen zu beachten sind, davor schließen Sie die Augen.
Dann denunzieren Sie die unvermeidliche Anpassung von Sozialleistungen als „Umverteilung von unten nach oben", obwohl Sie genau wissen, daß das System in seiner heutigen Ausprägung Staat und Wirtschaft überfordert.
Auch ich bin im übrigen — das zum Thema Vorruhestandsgeld, das aber wieder vom Steuer- und Beitragszahler finanziert werden soll — für eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Aber sie kann nicht mit einer Wiederbesetzungspflicht verbunden sein, und sie kann auch nicht aus öffentlichen Kassen bezahlt werden.
Die Vorschläge, die Sie auf den Tisch legen, bedeuten zusammen genommen eine weitere Abkehr von einer marktwirtschaftlichen Ordnung, sie bedeuten mehr Staat, mehr Planung und weniger Arbeitsplätze.

(Zuruf von der CDU/CSU: Und mehr Schulden!)

Sie bedeuten Bevormundung des Bürgers, weniger Freiheit und Selbständigkeit, mehr Steuern und mehr Schulden.
Ich frage uns alle, wohin wir gekommen wären, wenn Sie alleine regiert und sich mit diesen Vorschlägen durchgesetzt hätten. Die wirtschaftlichen Probleme wären heute wesentlich größer, und in diesen Bereichen wäre unsere freiheitliche Ordnung mit Sicherheit eingegrenzt. Von einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem, das uns trotz aller Schwierigkeiten, denen wir uns heute gegenübersehen, in der Nachkriegszeit und danach soviel an Arbeitsplätzen, Wohlstand und Freizeit gebracht hat, das uns auch die heutigen Probleme hat besser bewältigen lassen als das in vielen anderen
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8407
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff
Ländern der Fall ist, von all dem könnte nicht mehr die Rede sein.
Die jüngsten Anträge bestätigen, daß der Wechsel der Koalition notwendig war. Herr Lutz, nachdem Sie meinen Kollegen Cronenberg hier mehrfach zitiert haben, möchte ich ausdrücklich unterstreichen und wiederholen, was er in der Überschrift zu seiner Stellungnahme zu diesem Antrag formuliert hat: „Notwendig ist ein Abbau des Umverteilungsstaates und nicht sein Ausbau."

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913608100
Meine Damen und Herren, die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt. Danach fahren wir mit der Debatte fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 12.59 bis 14.00 Uhr)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913608200
Die unterbrochene Sitzung wird wieder aufgenommen.
Wir treten in die
Fragestunde
— Drucksache 9/2226 —
ein.
Zunächst setzen wir die Behandlung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen fort. Das Haus wird durch seinen Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Voss vertreten.
Ich rufe Frage 67 des Abgeordneten Müntefering auf:
Geht die Bundesregierung davon aus, daß der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank mit seiner jüngsten Zinssenkung anerkannt hat, „daß der neue Bundeshaushalt solide ist und daß die Bundesregierung der Mitte ihren Sparwillen unter Beweis gestellt hat", und auf welche Aussage der Deutschen Bundesbank stützt sich die Bundesregierung gegebenenfalls bei ihrer Meinung?

Dr. Friedrich Voss (CSU):
Rede ID: ID0913608300
Herr Kollege Müntefering, die Bundesregierung sieht in der Tat in den Beschlüssen des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank vom 21. Oktober und vom 2. Dezember 1982 auch eine Anerkennung, daß der neue Bundeshaushalt solide ist und daß die Bundesregierung damit ihren Sparwillen unter Beweis gestellt hat. Eine Leitzinssenkung kann nämlich die angestrebte wirtschaftliche Belebung nur dann nachhaltig unterstützen, wenn Aussicht darauf besteht, daß diese Zinssenkung sich nicht nur am Geldmarkt vollzieht, sondern auch auf die für Investitionen entscheidenden Kapitalmarktzinsen ausstrahlt.
Das Ausmaß der jüngsten Zinsrückgänge zeigt, daß sowohl die deutschen Sparer als auch die internationalen Anleger den Bemühungen dieser Regierung um eine notwendige Konsolidierung der Staatsfinanzen Vertrauen entgegenbringen. Eine solche die Geldpolitik entlastende Finanzpolitik ist von der Bundesbank seit Jahren gefordert worden. Die neue Bundesregierung hat hier eine glaubhafte Wende eingeleitet.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913608400
Zu einer Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Müntefering.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID0913608500
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Anlaß, anzunehmen, daß es zu den beiden Zinssenkungen im Oktober und im Dezember nicht gekommen wäre, wenn die Bundesregierung nicht am 1. Oktober gewechselt hätte, und worauf stützt sie dann diese Annahme?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müntefering, die Bundesregierung hat sehr deutlichen Anlaß, das anzunehmen. Dies stützt sich auf eine Reihe von Gesprächen, die zwischen der Bundesregierung und Mitgliedern des Zentralbankrates geführt worden sind.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913608600
Der Herr Abgeordnete Müntefering zu einer weiteren Zusatzfrage.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID0913608700
Herr Staatssekretär, gibt es dazu schriftlich Äußerungen der Bundesbank bzw. des Zentralbankrates, und könnte man diese Einlassungen zur Verfügung gestellt bekommen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Soweit mir bekannt ist, Herr Kollege Müntefering, gibt es von diesen Gesprächen keine schriftlichen Fixierungen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913608800
Der Herr Abgeordnete Wolfram zu einer weiteren Zusatzfrage.

Erich Wolfram (SPD):
Rede ID: ID0913608900
Herr Staatssekretär, besteht die von Ihnen in Anspruch genommene „glaubhafte Wende" darin, daß Sie die Nettokreditaufnahme beträchtlich erhöhen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen ganz genau — ich will es einmal so formulieren —, welche Erblast Sie uns übergeben haben. Es war unbedingt notwendig, die ersten Schritte zu einer Konsolidierung der Finanzen einzuleiten. Sie sind eingeleitet worden, und sie drücken sich auch bereits in der Höhe der neuen Nettokreditaufnahme aus; denn diese Nettokreditaufnahme wäre bei Fortführung der bisherigen Politik entschieden höher ausgefallen.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913609000
Herr Abgeordneter Dr. Jens zu einer weiteren Zusatzfrage.

Prof. Dr. Uwe Jens (SPD):
Rede ID: ID0913609100
Herr Staatssekretär, können Sie mir denn bestätigen, daß die damalige Opposition und insbesondere der Bundesrat immer dazu beigetragen haben, die Ausgaben des Bundeshaushalts bzw. die Steuermindereinnahmen zu erhöhen, und können Sie mir ebenfalls bestätigen, daß der Hauptverantwortliche für diese Wirtschaftspolitik Bundesminister Graf Lambsdorff war?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das vermag ich Ihnen nicht zu bestätigen. Ich kann Ihnen nur bestätigen, daß zuweilen der Zwang bestand, gewisse Dinge im Bundesrat zu korrigieren, und daß dabei natürlich zusätzliche Kosten entstanden sind. Aber der Urheber war weder die Opposi-
8408 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Parl. Staatssekretär Dr. Voss
tion noch der Bundesrat, sondern die damals amtierende Bundesregierung.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913609200
Der Herr Abgeordnete Schlatter zu einer weiteren Zusatzfrage.

Günter Schlatter (SPD):
Rede ID: ID0913609300
Herr Staatssekretär, würden Sie die Tatsache, daß die Bundesregierung sich weigert, eine mittelfristige Finanzplanung vorzunehmen, als eine vertrauensbildende Maßnahme begreifen, die zu weiteren Zinssenkungen führen kann?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schlatter, Sie werden sich daran erinnern, daß wir hier im Bundestag vor einigen Tagen eine Aktuelle Stunde über die Frage der mittelfristigen Finanzplanung gehabt haben, so daß ich die Argumente, die hier ausgetauscht worden sind, jetzt nicht zu wiederholen brauche.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913609400
Ich rufe die Frage 68 des Abgeordneten Müntefering auf:
Hat sich die Bundesregierung eine Meinung darüber gebildet, welche Gründe die Deutsche Bundesbank in diesem Jahr zu sechs Zinssenkungen vor dem 1. Oktober 1982 veranlaßt haben, und welche Folgerungen zieht sie gegebenenfalls daraus?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Zunächst eine kleine Richtigstellung, Herr Kollege Müntefering: Die Deutsche Bundesbank hat in diesem Jahr vor dem 1. Oktober vier Zinssenkungen und nach dem 1. Oktober zwei Zinssenkungen, letztere um jeweils einen vollen Prozentsatz, vorgenommen. Bei den früheren Leitzinssenkungen dieses Jahres standen außenwirtschaftliche Faktoren stärker im Vordergrund. Seinerzeit war das US-Zinsniveau noch höher als heute.
Die Zinssenkungsspielräume der Bundesbank wurden vor allem durch die drohende Gefahr einer erheblichen Verschlechterung des DM-DollarWechselkurses begrenzt. Wie sich aus dem Jahresgutachten 1982/83 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ergibt, haben mittlerweile binnenwirtschaftliche Faktoren größere Bedeutung für die Geldpolitik erlangt. Deshalb muß die Geldpolitik weiterhin durch die Finanz- und Lohnpolitik entlastet werden. Die jüngsten Zinssenkungsbeschlüsse lassen erkennen, daß die Bundesbank eine solche Entlastung der Geldpolitik bei Verwirklichung des wirtschafts- und finanzpolitischen Konzepts der neuen Bundesregierung erwartet.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913609500
Herr Abgeordneter Müntefering zu einer Zusatzfrage.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID0913609600
Herr Staatssekretär, könnte es auch sein, daß es zu Zinssenkungen vor dem 1. Oktober 1982 gekommen ist, weil die damalige Bundesregierung eine solide Haushaltspolitik gemacht und ihren Sparwillen unter Beweis gestellt hat?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müntefering, das vermag ich nicht zu erkennen, und ich glaube, daß auch der Sachverständigenrat und alle
Sachverständigen in diesem Lande das nicht zu erkennen vermögen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913609700
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müntefering.

Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID0913609800
Herr Staatssekretär, haben Sie Anlaß zu der Annahme, daß sich bei einem neuerlichen Regierungswechsel am 6. März 1983 die Zinspolitik der Bundesbank bzw. des Zentralbankrats ändern würde?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müntefering, ich haben keine Veranlassung an einen erneuten Regierungswechsel am 6. März zu glauben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913609900
Ich rufe die Frage 103 des Abgeordneten Purps auf:
Welche der wesentlichen gesamtwirtschaftlichen Vorgaben für die Steuerschätzung haben sich bei einem Vergleich der Steuerschätzungen von Oktober und Juni 1982 verändert?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Purps, erlauben Sie, daß ich Ihre beiden Fragen wegen des sachlichen Zusammenhangs zusammen beantworte?

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913610000
Sie sind damit einverstanden. Dann wird so verfahren, und ich rufe auch die Frage 104 des Abgeordneten Purps auf:
Mit welchen Anteilen haben diese Datenveränderungen die Ergebnisse der Steuerschätzung von Oktober 1982 beeinflußt?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das Bundesministerium der Finanzen hat in seiner Pressemitteilung Nr. 74/82 die Ergebnisse der Steuerschätzung durch den Arbeitskreis „Steuerschätzungen" vom Oktober 1982 veröffentlicht. Aus einem dort aufgezeigten Vergleich wird ersichtlich, daß das noch im Juni 1982 erwartete Wachstum des nominalen Bruttosozialprodukts von rund plus 51/2 v. H. im laufenden Jahr und von rund plus 61/2 v. H. im Jahr 1983 wegen der schwachen Wirtschaftsentwicklung deutlich revidiert werden mußte. Den Mitgliedern des Arbeitskreises „Steuerschätzungen" lagen Schätzergebnisse des Arbeitskreises „Gesamtwirtschaftliche Vorausschätzungen" vom 14. Oktober 1982 vor, die eine Veränderungsrate des nominalen Bruttosozialprodukts von je rund plus 3'/2 v. H. in den Jahren 1982 und 1983 auswiesen.
Schon diese Grobbetrachtung — Zurücknahme des Wachstums des nominalen Bruttosozialprodukts um rund zwei Prozentpunkte im Jahr 1982 und um rund drei Prozentpunkte im Jahr 1983 — begründete die Mindereinnahmen gegenüber der Steuerschätzung vom Juni 1982 um 7,4 Milliarden DM im laufenden Jahr und um 18,1 Milliarden DM im kommenden Jahr. Die größten Abweichungen ergaben sich bei der Lohnsteuer und bei den Steuern vom Umsatz.
Als gesamtwirtschaftliche Bemessungsgrundlage dient bei der Ableitung der Lohnsteuer die Bruttolohn- und Bruttogehaltssumme einschließlich der Beamtenpensionen. Wurde deren Zuwachs im Juni

Parl. Staatssekretär Dr. Voss
1982 noch mit plus 3,5 v. H. für 1982 und mit plus 5,4 v. H. für 1983 angenommen, mußte sie jetzt — vor allem wegen der ungünstigen Beschäftigungssituation — auf plus 2,1 v. H. im Jahr 1982 und auf plus 1,8 v. H. im nächsten Jahr herabgesetzt werden. Daraus resultierten in diesem Jahr um 2,3 Milliarden DM und im kommenden Jahr um 10,1 Milliarden DM niedrigere Einnahmen.
Parallel zu der schwächeren Entwicklung des nominalen Bruttosozialprodukts verläuft die der letzten inländischen Verwendung, die als Grundlage der Schätzung der Steuern vom Umsatz dient. Hier wird es deshalb zu Einnahmen kommen, die gegenüber der Juni-Schätzung um 3 Milliarden DM im Jahr 1982 und um 5 Milliarden DM im Jahre 1983 geringer sind.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913610100
Herr Abgeordneter, Sie wollten eine Zusatzfrage stellen. Bitte schön, Herr Abgeordneter Purps.

Rudolf Purps (SPD):
Rede ID: ID0913610200
Herr Staatssekretär, wenn man die beiden Steuerschätzungen vergleicht, wie hoch ist dann in etwa der Betrag der gesamten Steuermindereinnahmen des Bundes, die auf die veränderte Einschätzung der Außenhandelsentwicklung, auf die veränderte Lohn- und Einkommensentwicklung und auf die Änderungen des Steuerrechts zurückgehen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es sind in diesem Jahr rund 7,4 Milliarden DM und im Jahr 1983 rund 18,1 Milliarden DM.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913610300
Eine weitere Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Rudolf Purps (SPD):
Rede ID: ID0913610400
Herr Staatssekretär, kann man bei diesen Antworten von Ihnen davon ausgehen, daß es weitgehend nicht binnenwirtschaftliche, sondern in sehr starkem Umfang außenwirtschaftliche Dinge sind, die dazu führen, daß die Steuereinnahmen des Bundes sich verringern?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es sind sowohl binnenwirtschaftliche als auch außenwirtschaftliche Komponenten, die diese Folgen erzeugt haben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913610500
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schlatter.

Günter Schlatter (SPD):
Rede ID: ID0913610600
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir bestätigen, daß die Steuerschätzung für 1983 in dem Fall erheblich danebenliegen könnte, daß die von Ihnen oder Kabinettsmitgliedern geforderte Lohnpause Wirklichkeit würde, wodurch die Lohnsteuer ja entsprechend sinken müßte, und daß die Ausfälle, die im Zusammenhang mit den sozialen Einschnitten eintreten — es ist ein Kaufkraftentzug in einer Größenordnung von rund 16 Milliarden DM ausgerechnet worden —, sich auf die Umsatzsteuer auswirken könnten?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schlatter, diese Fragen sind eingehend diskutiert und überlegt worden. Die Bundesregierung hat diese Befürchtung aber nicht.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913610700
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit verlassen wir den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Dr. Jenninger zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Herrn Abgeordneten Schäfer (Offenburg) auf:
In welchem Umfang gehen der Chef des Bundeskanzleramts und der Leiter der Abteilung „Innere Angelegenheiten und Planung" im Bundeskanzleramt Nebentätigkeiten, insbesondere Lehrverpflichtungen nach, und wie hoch ist der zusätzliche Aufwand hierfür im Vergleich zu ihren dienstlichen Verpflichtungen im Bundeskanzleramt?

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID0913610800
Herr Kollege Schäfer, ich bitte um Ihr Einverständnis, daß ich auch die Frage 2 mit beantworte, da es sich um einen Komplex handelt.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913610900
Können wir so verfahren, Herr Abgeordneter?

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID0913611000
Einverstanden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913611100
Dann rufe ich noch die Frage 2 des Herrn Abgeordneten Schäfer (Offenburg) auf:
Nehmen die beiden Professoren für die Erfüllung dieser Tätigkeiten sachliche und personelle Mittel des Bundeskanzleramts in Anspruch?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich beantworte Ihre Frage wie folgt.
Erstens. Der Chef des Bundeskanzleramts nimmt im Wintersemester 1982/83 keine Aufgaben in Lehre, Forschung und akademischer Selbstverwaltung wahr. Ihre übrigen Fragen erübrigen sich damit, soweit sie den Chef des Bundeskanzleramtes betreffen.
Zweitens. Der Leiter der Abteilung „Innere Angelegenheiten und Planung" im Bundeskanzleramt bietet im Wintersemester 1982/83 eine dreistündige Lehrveranstaltung an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer an und betreut ein Forschungsprojekt. In akademischen Selbstverwaltungsangelegenheiten wird er vertreten. Des weiteren ist er Mitherausgeber und Schriftleiter einer wissenschaftlichen Vierteljahresschrift. Die Hochschultätigkeit wird freitags am späten Nachmittag und am Abend wahrgenommen. Für die Erfüllung der angegebenen Tätigkeiten werden keine sachlichen und personellen Mittel des Bundeskanzleramts in Anspruch genommen. Zu bemerken ist noch, daß die Hochschultätigkeit unentgeltlich erfolgt. Im übrigen lege ich Wert auf die Feststellung, daß der Leiter der Abteilung „Innere Angelegenheiten und Planung" gerade aus dem Grunde in das Bundeskanzleramt berufen worden ist, weil er in seiner Person einschlägige praktische und wissenschaftliche Berufserfahrungen verbindet.
8410 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913611200
Herr Abgeordneter Schäfer zu einer Zusatzfrage.

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID0913611300
Können Sie bestätigen, daß der Chef des Bundeskanzleramtes seit der Übernahme dieses Amtes keine Lehrverpflichtungen übernommen hat?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß das zutreffend ist, was ich Ihnen gesagt habe, daß er im Wintersemester 1982/ 83 eine solche Aufgabe nicht wahrnimmt und auch bisher nicht wahrgenommen hat. Ich schließe nicht aus, daß er bei früherer Gelegenheit — natürlich vor seiner Ernennung — eine Lehrtätigkeit wahrgenommen hat.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913611400
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schäfer.

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID0913611500
Trifft es zu, daß der Leiter der Abteilung „Innere Angelegenheiten und Planung" den Dienstwagen des Chefs des Bundeskanzleramtes für Fahrten zu seinen Lehrverpflichtungen an der Verwaltungshochschule Speyer benutzt?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Nein, Herr Kollege. Dies ist generell nicht vorgesehen. Es trifft zu, daß ihm in einem Einzelfall, und zwar bei den besonderen Anforderungen während seiner Amtsübernahme, ein Dienstwagen zu einer Fahrt nach Speyer zur Verfügung gestellt worden ist.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913611600
Sie wollten, Herr Abgeordneter, eine weitere Zusatzfrage stellen. Es erleichtert immer das Verfahren, wenn Sie dies dem Präsidenten signalisieren. Sie haben das Wort.

Harald B. Schäfer (SPD):
Rede ID: ID0913611700
Ich gebe das Signal, Herr Präsident. — Trifft es zu, Herr Staatsminister, daß der Abteilungsleiter für Innere Angelegenheiten und Planung Beamte und Mitarbeiter seines Amts mit der Erledigung von Aufgaben betraut hat, die aus der Lehrverpflichtung herrühren, also amtsfremd sind? Ich wäre dankbar, wenn Sie nicht generell antworten, sondern präzise auf meine Frage eingehen würden, weil die beiden ersten Fragen nicht konkret beantwortet worden sind.
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann Ihnen auf diese Frage keine Antwort geben. Ich bin aber bereit, diese Frage prüfen und Ihnen eine schriftliche Antwort zukommen zu lassen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913611800
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Dr. Scheer auf:
Darf ich als Selbstverständlichkeit unterstellen, daß Artikel 66 des Grundgesetzes für alle Mitglieder der Bundesregierung Anwendung findet, und trifft es zu, daß kein Mitglied der Bundesregierung einen anderen Beruf ausübt?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Präsident, ich beantworte die Frage wie folgt. Es besteht kein Grund, die von Ihnen zu Recht als Selbstverständlichkeit apostrophierte Anwendung des Grundgesetzartikels 66 auf alle Mitglieder der Bundesregierung in Zweifel zu ziehen.
Der zweite Teil Ihrer Frage ist damit bereits beantwortet.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913611900
Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Scheer.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID0913612000
Herr Staatsminister, ich mache Sie darauf aufmerksam — das gehört zu meiner Zusatzfrage —, daß Bundesminister Geißler im „Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages" als Berufsbezeichnung angegeben hat: „Generalsekretär der CDU Deutschlands". Können Sie, da er diesen Beruf immer noch ausübt, Ihre Antwort aufrechterhalten?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich weise Sie, Herr Kollege, darauf hin — das ist meine Antwort, die ich Ihnen schon bei anderer Gelegenheit gegeben habe —, daß „Generalsekretär einer Partei" kein Beruf ist, sondern daß das ein Parteiamt ist, wozu man gewählt wird, und daß man dies nicht als Beruf bezeichnen kann.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913612100
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Scheer.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID0913612200
Wie kommt es dann, daß der Generalsekretär Geißler, der selber im Handbuch als Beruf „Generalsekretär der CDU Deutschlands" angegeben hat — im Gegensatz zu Ihrer Aussage eben —, im Jahr 1977 seine Ministertätigkeit in Rheinland-Pfalz aufgegeben hat, um die Berufstätigkeit als Generalsekretär der CDU aufzunehmen, und diese Berufstätigkeit weiterführt, obwohl er inzwischen wieder ein Ministeramt übernommen hat?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich weise Sie noch einmal darauf hin, daß die Aufgabe eines Generalsekretärs so wie beispielsweise die Aufgabe des Vorsitzenden einer Partei oder eines stellvertretenden Vorsitzenden einer Partei, wie sie beispielsweise der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt wahrgenommen hat, auch nicht als eine Berufsbezeichnung gewertet wurde. Ich werde den Kollegen Geißler gern darauf hinweisen, daß Generalsekretär keine Berufsbezeichnung ist.

(Zurufe von der SPD: Falsche Aussage! Falsche Angabe!)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913612300
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID0913612400
Welche Kriterien würden Sie erfüllt sehen, wenn der Begriff „Beruf" zutrifft? Gehört insbesondere eine ständige Besoldung zu einem hervorragenden Kriterium für eine Berufstätigkeit?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Es gehört sicher, Herr Kollege, eine Besoldung dazu, aber auch beispielsweise eine feste Anstellung und ein Arbeitsvertrag. Wenn Sie das nicht wissen, weise ich Sie gern darauf hin, daß der Generalsekretär der CDU ein Parteiamt innehat, für das vom Parteitag für
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8411
Staatsminister Dr. Jenninger
eine bestimmte Zeit gewählt wird, und daß das ein Ehrenamt der Partei ist. Selbstverständlich ist es den Parteien anheimgestellt, daß sie Auslagen entsprechend ersetzen, die jemand hat, der ein solches Amt wahrnimmt.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913612500
Zu einer weiteren Zusatzfrage Frau Abgeordnete Hürland.

Agnes Hürland (CDU):
Rede ID: ID0913612600
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, ob die sogenannte Berufsbezeichnung „Generalsekretär" im amtlichen Verzeichnis der Berufe aufgenommen worden ist, und halten Sie diese Berufsbezeichnung für geschützt wie etwa die Berufsbezeichnung „Diplom-Ingenieur"?

(Roth [SPD]: Es gibt kein Berufsverbot! — Weitere Zurufe von der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Frau Kollegin, ich bin sicher, daß der Begriff „Generalsekretär der CDU Deutschlands" nicht in der Verordnung über die Berufsbezeichnungen aufgenommen ist.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913612700
Herr Abgeordneter Horn zu einer weiteren Zusatzfrage.

Erwin Horn (SPD):
Rede ID: ID0913612800
Können Sie, dementsprechend, bestätigen, daß Herr Geißler im Handbuch des Deutschen Bundestages eine falsche Berufsangabe gemacht hat?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin gerne bereit, auch zu überprüfen, welche anderen Kollegen noch falsche Berufsbezeichnungen angegeben haben.

(Beifall bei der CDU/CSU — Unruhe bei der SPD)

Ich glaube sicherlich, daß man den Kollegen Geißler darauf hinweisen muß, daß dies keine Berufsbezeichnung ist. Aber das Handbuch des Deutschen Bundestages ist nicht darauf abgestellt, nur Berufsbezeichnungen anzugeben. Es ist jedem Kollegen anheimgestellt, in welcher Weise er seine Parteiämter beispielsweise noch besonders zum Ausdruck bringt.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913612900
Ich habe weitere Wortmeldungen für Zusatzfragen der Abgeordneten Dr. Hamm-Brücher, Jungmann, Dr. Penner und Collet vorliegen. Ich rufe sie auf, wenn sie an der Reihe sind. — Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher zu einer Zusatzfrage.

Dr. Hildegard Hamm-Brücher (FDP):
Rede ID: ID0913613000
Herr Staatsminister, da ich davon ausgehe, daß wir übereinstimmen, daß die Bestimmung des Art. 66 des Grundgesetzes, die die Unvereinbarkeit eines Ministeramtes mit der Ausübung eines Berufes vorsieht, einen guten Grund hat, möchte ich jetzt an Sie die Frage stellen: Welche Anteile seiner Zeit und seiner physischen und psychischen Kraft werden bei dem in Frage stehenden Minister durch die Ausübung des Nichtberufs eines Generalsekretärs in Anspruch genommen?

(Beifall bei der SPD — Roth [SPD]: Bei der Vorbereitung eines Wahlkampfes!)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Frau Kollegin, ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten, da ich für die Bundesregierung keine Meßlatte anlege und kein Tagebuch darüber führe, in welcher Zeit, ja in welcher Freizeit, der Bundesminister Geißler seine Tätigkeit als Generalsekretär der CDU wahrnimmt. Sie können nur davon ausgehen, daß dies ein Amt der Partei ist, in das er gewählt ist, und daß er es wie jeder andere, der Mitglied einer Regierung ist, in der Zeit wahrnimmt, die ihm ansonsten als Freizeit zur Verfügung steht.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913613100
Herr Abgeordneter Jungmann zu einer weiteren Zusatzfrage.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID0913613200
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, daß der Kollege Geißler im Handbuch nach seinem Namen „Generalsekretär der CDU Deutschland" stehen hat, dort, wo der Bundeskanzler „kaufmännischer Angestellter" stehen hat, und daß an dieser Stelle im Handbuch bei allen Abgeordneten die Berufsbezeichnung steht, nicht aber ein Ehrenamt, das er angeblich ausübt?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe diese Frage schon beantwortet. Und ich sehe keine Notwendigkeit, dazu weitere Erläuterungen zu geben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913613300
Abgeordneter Dr. Penner zu einer weiteren Zusatzfrage.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID0913613400
Herr Staatsminister Dr. Jenninger, darf ich Ihren bisherigen Antworten entnehmen, daß Herr Geißler entweder sein Amt als Generalsekretär oder seine Stellung als Minister oder gar beides nicht voll ausfüllt?

(Lachen bei der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe bereits gesagt, daß jeder einzelne die Möglichkeit hat, seine Zeit einzuteilen.

(Zuruf von der SPD: Nein, Amtseid!)

Sie können davon ausgehen, daß Herr Bundesminister Geißler in seiner Freizeit — und ich lade Sie gerne ein, wenn Sie dies kontrollieren wollen, es zu tun — sein Amt als Generalsekretär wahrnimmt, übrigens wie jeder andere Kollege, der solche Aufgaben noch zusätzlich zu seiner Arbeit als Abgeordneter des Deutschen Bundestages oder als Mitglied der Bundesregierung wahrnimmt. Dies ist in der Vergangenheit bei Mitgliedern früherer Bundesregierungen ebenso gewesen, und dies wird auch, wie ich hoffe, künftig so sein.

(Roth [SPD]: Heck trat zurück! So war es!)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913613500
Herr Abgeordneter Collet zu einer weiteren Zusatzfrage.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913613600
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt — weil Sie Generalsekretär nicht als Beruf ansehen —, daß der Generalsekretär auf Grund seines Vertrages und seiner Tätigkeit verpflichtet ist, Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen?

(Zurufe von der SPD: Oh!)

8412 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich kann diese Frage nicht beantworten, Herr Kollege Collet. Ich bin gern bereit, dies zu überprüfen.

(Collet [SPD]: Da ich hier nur fragen darf, wollte ich Ihnen diese Information auf diesem Wege vermitteln! — Lachen bei der SPD)

— Vielen Dank. Ich werde Ihnen dazu gerne eine schriftliche Antwort zukommen lassen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913613700
Herr Abgeordneter Herberholz zu einer Zusatzfrage.

Ralph Herberholz (SPD):
Rede ID: ID0913613800
Herr Staatsminister, auf die Frage der Kollegin Hamm-Brücher haben Sie den zeitlichen Umfang der Arbeit eines Generalsekretärs nicht umreißen können: Können Sie denn den zeitlichen Umfang der Arbeit eines Ministers, zumindest andeutungsweise, hier mitteilen?

(Beifall bei der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, wie Sie wissen, gibt es keine Arbeitszeitordnung für Bundesminister. Es ist jedem Kollegen anheimgestellt, seine Zeit einzuteilen, ob er die Arbeit nachts macht oder ob er sie tagsüber macht, das kann er tun, wie er es für richtig hält. Entscheidend ist, daß er seiner Aufgabe als Bundesminister nachkommt.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Mindestens 40 Stunden!)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913613900
Herr Abgeordneter Immer, zu einer Zusatzfrage.

Klaus Immer (SPD):
Rede ID: ID0913614000
Herr Staatsminister, ich frage — ebenfalls in Ergänzung der eben gestellten Fragen -, ob Herr Geißler bei seiner Wahl zum Generalsekretär nicht wie üblich dem Parteitag versprochen hat, seine ganze Kraft für die Partei einzusetzen.
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß jeder, der ein Parteiamt übernimmt, dieses Versprechen abgibt und daß beispielsweise auch frühere Mitglieder der Bundesregierung solche Erklärungen abgegeben haben.

(Heiterkeit und Beifall)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913614100
Herr Abgeordneter Kleinert, zu einer Zusatzfrage.

(Gansel [SPD]: Entschuldigung, Herr Präsident, jetzt ...! — Kleinert [FDP]: Dann nach Herrn Gansel!)

— Herr Abgeordneter, der Präsident erteilt hier das Wort. Ich habe Ihre Wortmeldung zuerst registriert.

(Zuruf des Abg. Kleinert [FDP])

Der Herr Kollege Kleinert ist nur so aus Bescheidenheit nicht aufgestanden, Herr Kollege; er hat mir von seinem Sitzplatz aus gezeigt, daß er eine Zusatzfrage stellen wollte.

(Gansel [SPD]: Er ist ja auch im Sitzen nicht zu übersehen!)

— So ist es.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID0913614200
Herr Staatsminister, halten Sie es für möglich, daß die ungewöhnliche Akribie, mit der sich die Kollegen von der Opposition hier Fragen widmen, die ihnen aus der Zusammenarbeit mit ihren Genossen in der Problematik zwischen Ministerämtern und Parteiämtern seit langem vertraut sein müssen, darauf zurückgeht, daß sie zu etwas bedeutsameren politischen Fragen zur Zeit wenig zu sagen wissen?

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege Kleinert, ich kann mich Ihren Feststellungen nur uneingeschränkt anschließen.

(Heiterkeit und Zurufe)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913614300
Meine Damen und Herren, ich habe noch folgende Wortmeldungen für Zusatzfragen registriert: Abgeordneter Dr. Hirsch, Oostergetelo, Soell, Gansel und Graf Stauffenberg.
Ich gehe davon aus, daß die Ausgangsfrage mehrfach ausführlich beantwortet worden ist. Der Präsident kann dann weitere Zusatzfragen zulassen, wenn eine weitere Erhellung des Sachverhaltes zu erwarten ist. Ich gehe davon aus, daß eine mögliche weitere Erhellung durch die jetzt vorliegenden Zusatzfragen noch gebracht werden kann, werde dann aber weitere Zusatzfragen zu diesem Punkt nicht mehr zulassen.
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.

(Dr. Hirsch [FDP]: Verzichte!)

Herr Abgeordneter Oostergetelo. — Nein, ich muß jetzt den Herrn Abgeordneten Gansel zu Wort kommen lassen. Entschuldigung, Herr Abgeordneter Gansel.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID0913614400
Herr Minister, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie bestätigt haben, daß der Bundesminister Geißler bei seiner Wahl zum CDU-Generalsekretär zunächst versprochen hat, seine ganze Kraft diesem Amt zu widmen, und wie erklären Sie sich, daß er danach den Amtseid als Bundesminister geleistet hat, in dem er geschworen hat, seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, und in diesem Zusammenhang: über welche enorme Kräfte muß jemand verfügen, der beide Aufgaben gleichzeitig ganz und eidgemäß ausüben kann?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich habe durch meine Antworten wohl deutlich gemacht, daß sich beide Tätigkeiten nicht ausschließen und daß beide Bekräftigungen zur Annahme dieser Ämter diese Tätigkeiten auch nicht ausschließen. Erlauben Sie mir die Parallele zum früheren Bundeskanzler Schmidt, der die wichtige Aufgabe als Bundeskanzler wahrgenommen hat und auch stellvertretender Parteivorsitzender war. Ich gehe nicht davon aus, daß er das eine oder das andere Amt ohne die ganze Kraft seiner Persönlichkeit ausgeübt hat.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)

Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8413

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913614500
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Soelle.

Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID0913614600
Ich bestehe auf meinem Namen: Soell.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913614700
Entschuldigung! Ich bitte auch deswegen um Entschuldigung, weil ich dies, Herr Kollege, eigentlich wissen müßte.

Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID0913614800
Herr Staatsminister, ist die Arbeitszeit des Familienministers der Arbeitszeit des Generalsekretärs angepaßt oder umgekehrt, und steht die Arbeitszeit in einem Verhältnis zu dem Inhalt des Amtes, das er ausübt, nämlich für die Familie zu sein; ist es also eine familiengerechte Arbeitszeit?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, daß es keine Arbeitszeitordnung für Bundesminister gibt. Es ist dem einzelnen Kollegen überlassen, in welcher Einteilung der Zeit er seine ihm übertragenen Aufgaben, sei es als Bundesminister, sei es in diesem Fall in der Wahrnehmung eines Parteiamtes, wahrnimmt.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913614900
Herr Abgeordneter Schlatter zu einer Zusatzfrage.

Günter Schlatter (SPD):
Rede ID: ID0913615000
Herr Staatsminister, da Sie die Berufsangabe „Generalsekretär" nicht als Angabe des Berufes gelten lassen, darf ich Sie fragen, ob Herr Geißler, bevor er sein Ministeramt übernommen hat, dann Ihrer Auffassung nach berufslos war?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Nein, Herr Kollege. Sie wissen ganz genau — das können Sie im Handbuch des Bundestages nachsehen —, daß Herr Geißler einen gelernten Beruf hat. Wenn Sie es nachlesen, werden Sie es feststellen. Ich stelle Ihnen das Handbuch des Bundestages gern zur Verfügung. Daraus können Sie entnehmen, daß er natürlich einen Beruf hat.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913615100
Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg zur letzten Zusatzfrage.

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0913615200
Herr Staatsminister, haben Sie nicht den Eindruck, daß eine Verbindung von Ämtern des Bundeskanzlers, des Bundesaußenministers und des stellvertretenden Vorsitzenden einer Partei mindestens ebenso zeitaufwendig sein muß wie die Verbindung des Amtes eines Bundesministers und dem eines Generalsekretärs?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich kann dies, Herr Kollege Graf Stauffenberg, nur bestätigen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913615300
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Paterna auf:
War der Bundesregierung bekannt, daß Staatssekretär Stolze mit Erklärung vom 21. April 1982 die persönliche Haftung für die vollständige und rechtzeitige Einzahlung der restlichen Stammeinlage von 120 000 DM durch seine Ehefrau bei der Merka-Media Gesellschaft für Kommunikation und Finanzberatung mbH übernommen hat, und bleibt die Bundesregierung weiterhin bei ihrer Antwort auf meine
Frage vom 26. November, daß der Regierungssprecher kein „Engagement" (laut Duden Verpflichtung/Bindung) bei einer Gesellschaft habe?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte die Frage wie folgt beantworten.
Die Bundesregierung weist darauf hin — wie es schon Herr Staatsminister Vogel in seiner Antwort vom 2. Dezember 1982 erklärt hat —, daß Herr Staatssekretär Stolze dem Vorsitzenden des Fernsehrats des ZDF den Sachverhalt mitteilt. Dazu gehört auch die Information, daß Herr Staatssekretär Stolze eine Bürgschaftserklärung für einen Stammkapitalanteil seiner Ehefrau in Höhe von 120 000 DM bei der in Ihrer Anfrage genannten Gesellschaft abgegeben hat.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913615400
Herr Abgeordneter Paterna, zu einer Zusatzfrage.

Peter Paterna (SPD):
Rede ID: ID0913615500
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß es für die Bundesregierung zweckmäßig ist, vor einer Entscheidung über eine Entsendung in den ZDF-Fernsehrat zu prüfen, ob das Risiko einer Ablehnung ihres Kandidaten durch den Intendanten auf Grund § 14 Abs. 7 des ZDF-Staatsvertrags besteht?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich möchte Sie, Herr Kollege, darauf hinweisen, daß sich die Bundesregierung an die Vorschriften des Staatsvertrags und der Satzung des ZDF hält. Nach § 6 der Satzung gehört es bei Mitgliedern des Fernsehrats zur Zuständigkeit des Fernsehrats, das eventuelle Bestehen einer Interessenkollision im Sinne des Staatsvertrags durch Beschluß festzustellen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913615600
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Paterna.

Peter Paterna (SPD):
Rede ID: ID0913615700
Herr Staatsminister, darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß die Bundesregierung eine mögliche Kollision mit § 14 Abs. 7 des ZDF-Staatsvertrags nicht geprüft hat? In dem Absatz heißt es: Die Mitglieder des Fernsehrats dürfen keine wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen haben, die geeignet sind, die Erfüllung ihrer Aufgaben als Mitglieder des Fernsehrats zu gefährden.
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann das insoweit bestätigen, daß der Bundesregierung dieser Sachverhalt im Zeitpunkt der Entsendung nicht bekannt war. Ich möchte aber auch noch einmal darauf hinweisen, daß nach § 6 Abs. 2, den ich eben erwähnt habe, die Mitglieder des Fernsehrats verpflichtet sind — ich zitiere —, Tatsachen, die geeignet sind, bei ihnen eine Interessenkollision des § 14 Abs. 2 des Staatsvertrags zu begründen, dem Vorsitzenden des Fernsehrats unverzüglich anzuzeigen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913615800
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Paterna auf:
Teilt die Bundesregierung weiterhin die in der Bundespressekonferenz am 24. November 1982 getroffene Einschätzung des Regierungssprechers, er habe kein Engagement bei der Merka-Media Gesellschaft für Kommunikation und Finanzberatung mbH und sehe deshalb keinen Interessenkon-
8414 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Vizepräsident Windelen
flikt auch dann, wenn die persönliche Haftung gegenüber der Merka-Media mbH auch zum Zeitpunkt der Entsendung Stolzes durch die Bundesregierung in den Fernsehrat des ZDF noch bestanden hat?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Die Bundesregierung wiederholt die Erklärung in der Antwort des Herrn Staatsministers Vogel vom 2. Dezember 1982, daß es nach dem Staatsvertrag und der Satzung des ZDF Sache des Fernsehrats des ZDF ist, über Fragen eventueller Interessenkollisionen zu befinden. Auf die Einschätzung durch die Bundesregierung kommt es daher letztlich nicht an.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913615900
Herr Abgeordneter Paterna, zu einer Zusatzfrage.

Peter Paterna (SPD):
Rede ID: ID0913616000
Herr Staatsminister, darf ich Sie daran erinnern, daß ich bereits in der letzten Woche gefragt hatte, ob die Bundesregierung die Auffassung ihres Regierungssprechers teilt, er habe kein Engagement bei der Merka-Media, und ob die Bundesregierung heute bei dieser Auffassung, ein solches Engagement liege nicht vor, bleibt, nachdem ich ihr durch meine Fragen heute eine neue Information gegeben habe?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß Sie unterscheiden können, was ein Engagement im Sinne einer unternehmerischen Tätigkeit einerseits und etwa die Übernahme einer Haftung gegenüber einem Dritten in diesem Zusammenhang andererseits bedeutet. Ich betrachte die Übernahme einer Bürgschaft nicht als ein Engagement im Sinne Ihrer Frage.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913616100
Herr Abgeordneter Paterna zu einer weiteren Zusatzfrage.

Peter Paterna (SPD):
Rede ID: ID0913616200
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, die soeben von Ihnen gegebene Auffassung näher zu begründen, wo doch die allgemeine Lebenserfahrung dafür spricht, daß selbst sehr wohlhabenden Bürgern der mögliche Verlust von 120 000 DM nicht gleichgültig ist und daß sie, sofern ein solcher Verlust droht, sehr wohl für eine solche Firma ein gewisses Engagement entwickeln können?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich hoffe, daß ich mit Ihnen darin übereinstimme, daß es auch Mitgliedern einer Regierung oder Beamten der Bundesrepublik Deutschland nicht verwehrt sein kann, eine Bürgschaft beispielsweise für ihre Ehefrau zu übernehmen.

(Roth [SPD]: Dann wären die Fragen auch nicht gestellt worden!)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913616300
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch zu einer weiteren Zusatzfrage.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID0913616400
Herr Staatsminister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie vorhin gesagt, daß der Bundesregierung zum Zeitpunkt der Entsendung die Interessenkollision, die hier dargestellt wird, nicht bekannt war. Nachdem sie aber bekannt ist, muß die Bundesregierung unabhängig
von der Satzung des ZDF daraus nicht selbst Konsequenzen ziehen?

(Beifall bei der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte nur noch einmal betonen, daß sich die Bundesregierung an die Vorschriften des Staatsvertrages und an die Satzung des ZDF hält. Nach § 6 dieser Satzung gehört es zur Zuständigkeit des Fernsehrates, das eventuelle Bestehen einer Interessenkollision bei einem Mitglied des Fernsehrates im Sinne des Staatsvertrages durch Beschluß festzustellen. Wir haben wohlweislich diese Einrichtungen geschaffen, und davon sollte auch Gebrauch gemacht werden.

(Roth [SPD]: Das ist die moralische Erneuerung!)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913616500
Herr Abgeordneter Haase (Fürth) zu einer weiteren Zusatzfrage.

Horst Haase (SPD):
Rede ID: ID0913616600
Herr Staatsminister, Sie haben vorhin eine persönliche Bewertung der Haftungsfrage vorgenommen. Darf ich Sie nun nach ihrer juristischen Bewertung fragen?

(Heiterkeit bei der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich werte das juristisch genauso, wie ich das persönlich gewertet habe. Ich mache hier keinen Unterschied.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913616700
Herr Abgeordneter Dr. Scheer zu einer Zusatzfrage.

Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID0913616800
Herr Staatsminister, entspricht es möglicherweise den ideologischen Grundauffassungen der Mitglieder der neuen Bundesregierung, daß sie zwischen einzelwirtschaftlichen Interessen und gesamtstaatlichen Interessen des Staates nicht mehr unterscheiden können?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich muß diese Frage zurückweisen und werde sie nicht beantworten.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913616900
Herr Abgeordneter, diese Zurückweisung ist auch deswegen berechtigt, weil in Fragen keine Unterstellungen eingebaut werden dürfen.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Wolfram (Recklinghausen) auf:
Hat der in der Zeitschrift „Die Zeit" Nr. 47 vom 19. November 1982 veröffentlichte Briefwechsel zwischen der Nürnberger Schülerin und Bundeskanzler Dr. Kohl in dieser Form stattgefunden, und was hat sich das Kanzleramt dabei gedacht?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege Wolfram, die Wochenzeitung „Die Zeit" vom 19. November 1982 hat den Wortlaut des Briefes der Schülerin wie auch die Antwort eines Sachbearbeiters des Bundeskanzleramts korrekt wiedergegeben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913617000
Herr Abgeordneter Wolfram zu einer Zusatzfrage.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8415

Erich Wolfram (SPD):
Rede ID: ID0913617100
Herr Staatsminister, heißt das, daß Sie sich mit dem Inhalt auch heute noch identifizieren, heißt das, daß der Herr Bundeskanzler den Inhalt in dieser Form teilt?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege Wolfram, ich gehe davon aus, daß Sie damit die Frage 7 als Zusatzfrage gestellt haben, und darf in dem Zusammenhang diese Ihre nächste Frage gleich beantworten.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913617200
Sind Sie damit einverstanden, daß Ihre beiden Fragen verbunden werden? — Dann verfahren wir so. Ich rufe also auch die Frage 7 des Abgeordneten Wolfram (Recklinghausen) auf:
Teilt der Bundeskanzler persönlich die in seinem Auftrag erteilte Antwort, und ist das der Stil, in dem Bundeskanzler Dr. Kohl den Dialog mit der Jugend führen wird?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Der in Ihrer Frage angesprochene Sachverhalt war Gegenstand mehrfacher Erörterungen mit Mitarbeitern des Bundeskanzleramts. Dabei stimmten die Beteiligten darin überein, daß der Ton, in dem der Sachbearbeiter geantwortet hat, nicht dem Stil entspricht, in dem Eingaben und Petitionen an den Bundeskanzler gemeinhin beantwortet werden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913617300
Herr Abgeordneter Wolfram zu einer Zusatzfrage.

Erich Wolfram (SPD):
Rede ID: ID0913617400
Herr Staatsminister, teilen Sie dann meine Auffassung, daß zwischen den hehren Ansprüchen, den Dialog mit der jungen Generation ehrlich, anständig und glaubwürdig zu führen, und dem, was in diesem Brief niedergeschrieben ist, ein himmelweiter Unterschied besteht?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, durch meine Auskunft, die ich Ihnen eben auf Ihre Frage hin erteilt habe, wurde deutlich, daß das nicht dem Stil entspricht, in dem solche Schreiben beantwortet werden sollten.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913617500
Herr Abgeordneter Broll zu einer weiteren Zusatzfrage.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0913617600
Herr Staatsminister, halten Sie es immerhin für denkbar, daß der Beantworter dieses Briefes im Kanzleramt, der ja unter einem früheren Kanzler eingestellt worden ist, dessen Stil noch nicht vergessen hat?

(Zurufe von der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann diese Frage nicht beantworten, bin aber gern bereit, dies zu prüfen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913617700
Herr Abgeordneter Catenhusen zu einer Zusatzfrage.

Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID0913617800
Da ich dem Verfasser des Briefes nicht unterstellen möchte, daß er sich bemüht hat, die Intention des neuen Kanzlers sozusagen vorausschauend zu realisieren, möchte ich Sie fragen: Hat der Bundeskanzler der Schülerin seine
Bewertung dieses Briefes in einem persönlichen Schreiben mitgeteilt?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Der Bundeskanzler hat von diesem Sachverhalt Kenntnis genommen und die Erörterungen, die ich soeben erwähnt habe, eingeleitet. Er hat die Mitarbeiter aufgefordert — wie er sich ausdrückte —, diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913617900
Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher zu einer Zusatzfrage? — Sie verzichten.
Herr Abgeordneter Jäger (Wangen) zu einer Zusatzfrage.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0913618000
Herr Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß der Bundeskanzler Helmut Kohl in Diskussionen und Gesprächen mit der Jugend jahrelang gezeigt hat, welches sein Stil des Umgangs ist, so daß es einer Herleitung aus einem solchen Schreiben nicht bedurfte, um zu wissen, welchen Stil der Bundeskanzler beim Umgang mit der Jugend pflegt?

(Zurufe von der SPD)

Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich kann das, Herr Kollege Jäger, nur bestätigen. Der Bundeskanzler — ich weiß das aus eigener Erfahrung — hat in den letzten Jahren wie kein anderer den Kontakt mit der Jugend gepflegt. Dies ist sicherlich, wie ich schon erwähnt habe, nicht sein Stil im Umgang mit der Jugend.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913618100
Ich rufe Frage 84 des Abgeordneten Gansel auf:
Warum hat der Bundeswirtschaftsminister in den Ermittlungsverfahren gegen Friedrich unter anderem wegen Vorteilsannahme der Staatsanwaltschaft erst am 1. Dezember 1982 eine schriftliche Stellungnahme übermittelt, obwohl er am 28. Februar 1982 dem Bundeskanzler zugesagt hat, der Staatsanwaltschaft für Aussagen jederzeit zur Verfügung zu stehen?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege Gansel, ich darf zunächst darauf hinweisen, daß es nach unserer Rechtsordnung im freien Ermessen eines Beschuldigten steht, gegebenenfalls nach Beratung mit einem Anwalt über die Gestaltung seiner Verteidigung in einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren und insbesondere darüber zu entscheiden, ob und in welcher Weise er sich zu den erhobenen Beschuldigungen gegenüber den Ermittlungsbehörden äußert. Das gilt auch für das Verfahren, auf das sich Ihre Frage bezieht. Die Bundesregierung hat sich daher jeder Wertung der von Herrn Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff gewählten Art der Verteidigung zu enthalten.
Bundesminister Graf Lambsdorff hat, wie in seinem Schreiben an den damaligen Bundeskanzler vom 28. Februar 1982 angekündigt, durch seinen Rechtsanwalt die Staatsanwaltschaft aufgefordert, diesem umgehend Akteneinsicht zu gewähren, und seine Bereitschaft erklärt, für Aussagen jederzeit zur Verfügung zu stehen. Die Ermittlungsbehörden haben danach Herrn Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff während des Verfahrens zu einer Ver-
8416 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Staatsminister Dr. Jenninger
nehmung nicht aufgefordert. Sein Rechtsanwalt konnte die Akteneinsicht erst gegen Mitte Oktober 1982 abschließen. Er hat dann unverzüglich die Staatsanwaltschaft unterrichtet, daß er frühestens Ende November 1982 zu dem Ergebnis der Ermittlungen schriftlich Stellung nehmen wird. Hiermit war die Staatsanwaltschaft einverstanden. Inzwischen ist die Stellungnahme fristgerecht abgegeben worden.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß Herr Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff alles in seiner Macht Stehende getan hat, um zu einer raschen Aufklärung des Sachverhalts beizutragen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913618200
Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen, Herr Abgeordneter Gansel? — Bitte schön, Sie haben das Wort.

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID0913618300
Ich gebe zwei Signale, Herr Präsident. — Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß in einer mit den betroffenen Mitgliedern der Bundesregierung abgesprochenen Stellungnahme des Regierungssprechers vom 1. März 1982 erklärt worden ist, daß die betroffenen Mitglieder und Beamten der Bundesregierung — ich zitiere — „alles tun werden, um zu einer raschen Aufklärung des Sachverhalts beizutragen", und wenn j a, wie erklären Sie es sich, daß Graf Lambsdorff trotz der Schwere der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen von der Akteneinsicht bis zur Abgabe einer Stellungnahme durch einen Anwalt immerhin noch sechs Wochen gebraucht hat?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, Sie haben zu Recht auf die Schwere der Anschuldigungen hingewiesen. Ich finde, wenn Sie einen Zeitraum von sechs Wochen ansetzen, ist das nicht überzogen, um angesichts der Schwere der Vorwürfe eine ausreichende und gute Antwort zu geben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913618400
Herr Abgeordneter, Sie wollten noch eine Zusatzfrage stellen?

Norbert Gansel (SPD):
Rede ID: ID0913618500
Herr Präsident, das war das zweite angekündigte Signal.
Herr Minister, stimmen Sie mit mir darin überein, daß es zwar nach der Strafprozeßordnung das Recht eines Beschuldigten ist, der Staatsanwaltschaft jede Hilfe bei der Aufklärung des Sachverhalts zu verweigern, daß es aber die verdammte Pflicht und Schuldigkeit eines Mitglieds der Bundesregierung ist, in Anbetracht der Schwere der erhobenen Vorwürfe unverzüglich lückenlos und persönlich alles zu tun, um die gegen die betroffenen Personen und gegen die Parteien erhobenen Vorwürfe klarzustellen und, wenn dies möglich ist, zurückzuweisen?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich teile diese Ihre Auffassung, Herr Kollege. Ich möchte noch einmal wiederholen, daß sich gerade Herr Bundesminister Dr. Graf Lambsdorff dieser Herausforderung gestellt hat, indem er, wie schon im Februar 1982 dem damaligen Bundeskanzler gegenüber angekündigt, durch seinen Rechtsanwalt die Staatsanwaltschaft
aufgefordert hat, ihm, d. h. seinem Verteidiger, umgehend Akteneinsicht zu gewähren, und seine Bereitschaft erklärt hat, jederzeit für Aussagen zur Verfügung zu stehen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913618600
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Schlatter.

Günter Schlatter (SPD):
Rede ID: ID0913618700
Herr Staatsminister, da Sie davon gesprochen haben, daß die Erklärungen des Wirtschaftsministers fristgemäß gegeben worden sind, darf ich Sie fragen, ob und gegebenenfalls zu welchem Termin die Bundesregierung eine Aussagegenehmigung erteilt hat?

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913618800
Herr Abgeordneter, diese Frage steht in keinem Zusammenhang zur Ausgangsfrage. Sie braucht deshalb nicht beantwortet zu werden. Die Ausgangsfrage lautet: Warum hat der Bundeswirtschaftsminister so lange gezögert, der Staatsanwaltschaft im Vermittlungsverfahren zur Verfügung zu stehen?

(Dr. Penner [SPD]: Das hängt doch unmittelbar damit zusammen!)

— Ich bleibe bei meiner Bewertung. Ich stelle dem Staatsminister anheim, diese Frage dennoch zu beantworten.
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, der Sachstand ist der, den ich Ihnen dargelegt habe. Erwägungen dieser Art, wie sie in Ihrer Frage zum Ausdruck kommen, hat die Bundesregierung bisher nicht angestellt.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913618900
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jungmann.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID0913619000
Herr Minister, können Sie uns mitteilen, ab wann der Rechtsanwalt des Bundesministers Graf Lambsdorff Einsicht bekommen hat und wie lange die Einsichtnahme in die Akten — durch diese Länge oder Kürze der Einsichtnahme kann ja der Gesamtprozeß auch verzögert worden sein — gedauert hat?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Ich kann Ihnen auf die Frage nur antworten, daß die Akteneinsicht gegen Mitte Oktober 1982 abgeschlossen worden ist. Wie lange die Akteneinsicht in Anspruch genommen hat, vermag ich Ihnen nicht zu sagen. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen die Antwort schriftlich nachzureichen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913619100
Herr Abgeordneter Kleinert zu einer Zusatzfrage.

Detlef Kleinert (FDP):
Rede ID: ID0913619200
Herr Staatsminister, halten Sie es für möglich, daß es im Sinne unserer Rechtsordnung liegt, wohlerwogene rechtsstaatliche Garantien je nach der beruflichen oder dienstlichen Stellung des Beschuldigten unterschiedlich zu behandeln, oder glauben Sie vielmehr, daß Graf Lambsdorff — im übrigen bei bemerkenswerter Bereitschaft, zur Aufklärung der Vorwürfe beizutragen; das ist von Ihnen dargelegt worden — von diesen Garantien genausogut Gebrauch machen konnte
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8417
Kleinert
wie z. B. andere Beschuldigte, etwa der frühere
Staatssekretär Lahnstein oder Minister Matthöfer?

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913619300
Herr Abgeordneter, auch diese Frage steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Ausgangsfrage.
Herr Abgeordneter Catenhusen zu einer Zusatzfrage.

Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID0913619400
Herr Minister, können Sie für die Bundesregierung dementieren, daß Herr Minister Graf Lambsdorff nach einer Meldung des „Stern" noch im Oktober in einer Landesvorstandssitzung der FDP in Nordrhein-Westfalen eine verschreckte Parteifreundin mit dem Hinweis auf sein eigenes Verhalten beruhigt habe: „Akteneinsichtnahme fordern und das Verfahren verschleppen, indem man sich mit der Stellungnahme ruhig noch Zeit lasse"?
Dr. Jenninger, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin grundsätzlich nicht bereit, zu Fragen auf Zeitungshinweise und Zeitungsnotizen dieser Art eine Antwort zu geben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913619500
Wir verlassen damit den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Möllemann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 des Herrn Abgeordneten Neumann (Bramsche) auf:
Ist der Bundesregierung die Zahl der vietnamesischen Bootsflüchtlinge bekannt, die nach Beendigung der Tätigkeit der „Cap Anamur" geflohen sind, und wie beurteilt die Bundesregierung den vielfach gemachten Vorwurf einer Sogwirkung der „Cap Anamur"?

Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID0913619600
Herr Kollege, nach Mitteilungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sind in den ersten zehn Monaten dieses Jahres insgesamt 39 889 Flüchtlinge auf dem Seewege aus Vietnam eingetroffen. Davon wurden 5 318 Flüchtlinge auf hoher See gerettet. Zuletzt wurden im Mai 1982 Flüchtlinge auf hoher See von der „Cap Anamur" gerettet.
Nach Monaten aufgeschlüsselt lauten die Zahlen wie folgt — ich nenne jetzt jeweils die Gesamtzahl der auf dem Seeweg eingereisten Flüchtlinge —: im Januar 1982 4 177, im Februar 2 788, im März 4 351, im April 4 514, im Mai 5 945, im Juni 5 139, im Juli 3 503, im August 3 006, im September 1 590 und im Oktober 4 876.
Die entsprechenden Zahlen — wieder aufgeschlüsselt nach Monaten — der auf hoher See Geretteten sind: im Januar 460, im Februar 230, im März 115, im April 143, im Mai 1 209, im Juni 1 013, im Juli 776, im August 392, im September 168 und im Oktober 812.
Die Bundesregierung hat sich den Vorwurf einer Sogwirkung der „Cap Anamur" nicht zueigen gemacht.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913619700
Herr Abgeordneter Neumann zu einer Zusatzfrage.

Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID0913619800
Herr Staatsminister, nachdem Sie diese Zahlen vorgetragen haben: Müssen Sie nicht aus der Tatsache, daß sich die „Cap Anamur" nicht mehr im Südchinesischen Meer befindet, schließen, daß eine Reihe von Flüchtlingen aus Vietnam nicht gerettet werden und ertrinken?
Möllemann, Staatsminister: Das kann ich nicht ausschließen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913619900
Zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID0913620000
Herr Staatsminister, da Sie zugeben, daß die „Cap Anamur" nach den Zahlen, die Sie vorgetragen haben, keine Sogwirkung gehabt hat: Ist die Bundesregierung bereit, eventuell einer neuen „Cap Anamur" die Chance zu geben, Menschen zu retten?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, Ihre Frage zielt auf den Inhalt einer Frage des Kollegen Thüsing, die ich gleich beantworten soll. Vielleicht sind Sie oder der Herr Kollege Thüsing einverstanden, daß ich das miteinander verbinde, weil das thematisch das gleiche ist.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913620100
Der Herr Abgeordnete Oostergetelo hat um schriftliche Beantwortung der Frage 9 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 10 hat der Abgeordnete Oostergetelo zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Thüsing auf:
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit im Rahmen ihrer EG-Präsidentschaft für einen erneuten Versuch einer EG-weiten Aktion zugunsten vietnamesischer Flüchtlinge, und wäre die Bundesregierung bereit, im Rahmen einer solchen Aktion entsprechende Übernahmegarantien abzugeben?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hat für die Zusammenführung getrennter vietnamesischer Flüchtlingsfamilien ein weiteres Kontingent von 4000 Personen beantragt, dem die Ministerpräsidenten der Länder auf ihrer Sitzung vom 10. bis 12. Oktober zugestimmt haben.
Die Bundesregierung prüft zur Zeit die Möglichkeit einer deutschen Beteiligung an dem DISEROProgramm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen. Der Hohe Flüchtlingskommissar hat unter dieser Bezeichnung einen Pool geschaffen, in den bisher acht Endaufnahmeländer von vietnamesischen Bootsflüchtlingen Aufnahmeplätze einbringen. Sie sichern Personen, die von Schiffen unter Billigflagge aus Seenot gerettet werden und die im Flaggenstaat keine Aufnahme finden, die spätere garantierte Übernahme und damit den vorübergehenden Aufenthalt in einem asiatischen Erstaufnahmeland.
Die Bundesregierung sieht darüber hinaus zur Zeit keine Möglichkeit für die Einräumung weiterer neuer Kontingente für vietnamesiche Flüchtlinge.
8418 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Staatsminister Möllemann
Dies wäre — damit komme ich zu der Frage, die der Kollege Oostergetelo angesprochen hat — eine Voraussetzung, die wesentliche Voraussetzung für den Vorschlag einer Aktion auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft. Bereits jetzt nehmen die Mitgliedstaaten vietnamesische Flüchtlinge auf nationaler Basis auf.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913620200
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Thüsing.

Klaus Thüsing (SPD):
Rede ID: ID0913620300
Herr Staatsminister, betrifft die von Ihnen erwähnte Zahl der Flüchtlinge, die die Bundesländer nun noch einmal aufnehmen wollen, eventuell auch durch eine neue „Cap Anamur"-Aktion gerettete Flüchtlinge, oder sind diese Flüchtlinge bereits jetzt hier in die Bundesrepublik eingereist und warten auf die Genehmigung?
Möllemann, Staatsminister: Nein, dies betrifft ausdrücklich solche Flüchtlinge, die im Wege der Familienzusammenführung hierhin nachkommen wollen, deren Angehörige also bereits hier sind, und deren Problem wir auf diese Art und Weise zu lindern versuchen. Es ist nicht ausgeschlossen, Herr Kollege, daß für den Fall, daß bei Rettungsaktionen verschiedener Schiffe, die sich darum bemühen, erneut Familienangehörige von hier lebenden Vietnamesen gerettet werden, auch diese unter dieses Kontingent fallen würden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913620400
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thüsing.

Klaus Thüsing (SPD):
Rede ID: ID0913620500
Ich habe Sie also richtig verstanden, daß das eben genannte Kontingent sich lediglich auf Angehörige von Flüchtlingen bezieht, die bereits in der Bundesrepublik leben.
Möllemann, Staatsminister: So ist es.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913620600
Herr Abgeordneter Neumann (Bramsche) zu einer weiteren Zusatzfrage.

Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID0913620700
Herr Staatsminister, wohl wissend, daß es eine Organisation gibt, die bereit ist, Menschen aus Seenot zu retten, die Not-Ärzte, und wohl wissend, wie Ihre Antwort lautete, daß Menschen auf See umkommen: Welches sind die konkreten Gründe, daß die Bundesregierung nicht mehr bereit ist, eine Aufnahmequote für eine Rettungsaktion „Cap Anamur II" zur Verfügung zu stellen?
Möllemann, Staatsminister: Der Grund, Herr Kollege, liegt in der Tatsache, daß wir in unserem Land derzeit aus den verschiedensten Bereichen der Welt sehr viele Menschen aufnehmen. Hier kann man die Ausgangssituation der betroffenen Staaten, die ebenfalls vietnamesische Flüchtlinge aufnehmen, nicht immer in jeder Hinsicht vergleichen. Ich denke, daß im Blick auf die Familienzusammenführung aus osteuropäischen Ländern, im Blick auf die Problematik der weitgehenderen Regelungen des Asylrechts, die wir hier diskutiert haben, jedermann weiß, daß die Möglichkeiten unseres Landes, aus der hier angesprochenen Region weitere Menschen aufzunehmen und sie ädaquat zu betreuen, begrenzt sind.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913620800
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID0913620900
Herr Staatsminister, da weder seinerzeit von der „Cap Anamur" eine Sogwirkung vorlag noch ich aus Ihrem Munde höre, daß es besondere Schwierigkeiten mit den Menschen aus diesem Raum bei der Eingliederung bei uns gibt, frage ich Sie noch einmal: Gibt es moralisch gesehen eine Verantwortbarkeit, jemandem, der im Chinesischen Meer oder anderswo gerettet werden kann, die Aufnahme zu verweigern, und haben wir dazu nach der Charta der Vereinten Nationen überhaupt das Recht?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, Sie weisen auf ein nicht nur in diesem Zusammenhang bedrückendes Problem hin. Natürlich können wir durch die Zurverfügungstellung höherer Quoten vielen Menschen das Leben retten. Es sind ja nicht nur in diesem Bereich Menschenleben gefährdet, sondern das trifft in vielen anderen Bereichen auch zu, wo wir mit Ausweitung der Quoten eine entsprechende Möglichkeit hätten. Aber weder die Ministerpräsidenten der Länder, die CDU-regiert sind, noch die der Länder, die SPD-regiert sind, sind bereit, über die vereinbarten Quoten hinaus weitere Quoten einzuräumen — und darauf sind wir nun einmal angewiesen —, weil sie die Leistungsfähigkeit der Bundesländer überfordert sehen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913621000
Ich rufe Frage 12 des Abgeordneten Pauli auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Herr Ibrahim Fares, der seit 1973 in der Bundesrepublik Deutschland lebt, mit der deutschen Staatsangehörigen Theresia Fares verheiratet ist und mit Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung in dem Marienkrankenhaus von Berlin-Kreuzberg arbeitet, seit Anfang Juni 1982 nach Antritt einer Urlaubsreise in Beirut/Libanon in dem von israelischer Verwaltung geführten Gefangenenlager in Ansar festgehalten wird, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, eine sofortige Freilassung zu erwirken?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Pauli, der Fall des Herrn Ibrahim Fares ist der Bundesregierung bekannt. Die Bundesregierung hat keine Möglichkeiten, sich unter Berufung auf ein konsularisches Betreuungsrecht für die Freilassung von Herrn Fares zu verwenden, da er nicht deutscher Staatsangehöriger ist. Sie hat aber die Botschaft Tel Aviv dennoch angewiesen, sich unter politischen und humanitären Aspekten für Herrn Fares einzusetzen. Sie hat mehrfach im israelischen Außenministerium demarchiert. Das israelische Außenministerium hat darauf hingewiesen, daß die Überprüfung von Herrn Fares durch die militärischen Stellen noch nicht abgeschlossen sei. Die Botschaft Tel Aviv verfolgt dementsprechend die Angelegenheit weiter. Im übrigen ist der Fall inzwischen auch über die israelische Botschaft in Bonn, die von Frau Fares angesprochen worden ist, an das israelische Außenministerium herangetragen worden.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8419
Vizepräsident Windelen: Zu einer Zusatzfrage,
Herr Abgeordneter Pauli.

Günter Pauli (SPD):
Rede ID: ID0913621100
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es sich hier um zwei deutsche Kinder und eine deutsche Frau handelt und daß es sicherlich einen Grund gibt, daß sich die Bundesregierung um die Freilassung des Genannten bemüht?
Möllemann, Staatsminister: Ja, sicher, die Bundesregierung bemüht sich j a auch, wie ich vorgetragen habe, um Hilfe in diesem Fall. Nur ist der Rechtsstandpunkt, den ich vorgetragen habe, trotzdem richtig, da Herr Fares selbst kein deutscher Staatsangehöriger ist. Auch im empfinde die Situation, in der die Frau und die Kinder sind, in der die Familie ist, als bedrückend.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913621200
Zu einer zweiten Zusatzfrage Abgeordneter Pauli.

Günter Pauli (SPD):
Rede ID: ID0913621300
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir über Ihre weiteren Bemühungen zu gegebener Zeit einen weiteren Bescheid zu geben?
Möllemann, Staatsminister: Ja.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913621400
Abgeordneter Neumann (Bramsche) zu einer weiteren Zusatzfrage.

Volker Neumann (SPD):
Rede ID: ID0913621500
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, im Zusammenhang mit diesem Fall des Herrn Fares aufzuklären, warum einer Delegation des Unterausschusses für humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages bei ihrem Versuch, das Kriegsgefangenenlager Ansar zu besuchen, der Zutritt verwehrt worden ist, obwohl diese Zusage der Delegation hier in Bonn vorher gegeben worden ist?
Möllemann, Staatsminister: Der Sachverhalt ist mir nicht bekannt, aber ich will gern dabei behilflich sein, das aufzuklären.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913621600
Abgeordneter Herberholz zu einer Zusatzfrage.

Ralph Herberholz (SPD):
Rede ID: ID0913621700
Herr Staatsminister, Sie haben eben darauf hingewiesen, daß nach Auskunft israelischer Stellen die Überprüfung des Herrn Fares noch nicht abgeschlossen ist. Können Sie uns mitteilen, welche Vorwürfe von israelischer Seite gegenüber Herrn Fares erhoben werden und wann mit einem Abschluß dieser Überprüfung zu rechnen ist?
Möllemann, Staatsminister: Nein, denn darüber erteilen uns die zuständigen israelischen Stellen keine Auskunft.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913621800
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Collet auf:
Auf welche Weise will die Bundesregierung dazu beitragen, daß die Genfer Verhandlungen über den NATO-Doppelbeschluß zum Erfolg führen, wie es der Bundeskanzler anläßlich seines USA-Besuchs angekündigt hat, und inwieweit will sich die Bundesregierung dabei die Unterstützung aller demokratischen Parteien und die moralisch-öffentliche Unterstützung aller Mitbürger sichern, die sich derzeit besonders für den Frieden engagieren?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege Collet, die Bundesregierung wird ebenso wie die Regierungen unserer Bündnispartner von den USA fortlaufend und eingehend über den Stand der Genfer Verhandlungen über nukleare Mittelstreckensysteme unterrichtet. Durch diesen intensiven Abstimmungsprozeß, der weit über das bei bilateralen Rüstungskontrollverhandlungen gewohnte Maß hinausgeht, ist die Mitwirkung der Bündnispartner an der Verhandlungsführung der USA voll gewährleistet. So hatte die Bundesrepublik Deutschland bekanntlich wesentlichen Anteil an der Formulierung des westlichen Verhandlungsvorschlages für eine beiderseitige Null-Lösung bei landgestützten weitreichenden nuklearen Mittelstreckenflugkörpern. Ziel dieses Vorschlages ist es, durch den Verzicht der Sowjetunion und der USA auf diese Waffenkategorie, die von beiden Seiten als besonders bedrohlich angesehen wird, einen entscheidenden Abrüstungsschritt zu tun.
Auf Grund der ständigen Konsultationen ist die Bundesregierung davon überzeugt, daß die USA alle Anstrengungen unternehmen, um zeitgerecht vor Ende 1983 zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen. Diese Überzeugung hat sich erneut bei den Unterredungen bestätigt, die der Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen am 19. November 1982 mit dem amerikanischen Delegationsleiter, Botschafter Paul Nitze, geführt haben.
Die Bundesregierung unterrichtet den Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle des Deutschen Bundestages laufend und eingehend über den Verhandlungsstand. Sie informiert die Öffentlichkeit so weit, wie dies nach der zwischen den USA und der Sowjetunion zu Beginn der Verhandlungen vereinbarten Vertraulichkeit dieser Verhandlungen möglich ist. Sie wird auch in den kommenden Monaten für eine regelmäßige Unterrichtung Sorge tragen.
Die Bundesregierung vertraut darauf, daß diese Unterrichtung zusammen mit den allgemein zugänglichen Informationen über die internationale Sicherheitslage eine breite Unterstützung der Öffentlichkeit für die von ihr zu den Genfer Verhandlungen eingenommene Haltung gewährleistet.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913621900
Herr Abgeordneter Collet zu einer Zusatzfrage.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913622000
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß in den Demokratien — und mit einer Ausnahme sind alle Mitglieder der NATO Demokratien — eine wachsende Zahl von Menschen in Sorge darüber ist, daß nicht die letzten Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um in Genf einen Verhandlungserfolg zu erzielen, sondern die Vorbereitungen zur Durchführung des zweiten Teils des Beschlusses größere Priorität bekommen haben?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, es ist schwer zu beurteilen, ob eine wachsende Zahl von
8420 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Staatsminister Möllemann
Menschen diese Auffassung, man bemühe sich nicht hinreichend um ein Verhandlungsergebnis, teilt. Klar ist aber, daß wir alle gemeinsam — nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die in diesem Parlament vertretenen Parteien — uns in Kenntnis des Sachverhalts, den ich soeben beschrieben habe, darum bemühen sollten, Meinungsbildungen dieser Art, wie Sie sie beschrieben haben, zu vermeiden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913622100
Herr Abgeordneter Collet, zu Ihrer zweiten Zusatzfrage.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913622200
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß es, nachdem bereits dreiviertel der vereinbarten Zeit bis zur Aufstellung abgelaufen ist, gerade, wie ich vorhin sagte, in den beteiligten Demokratien ganz notwendig ist, daß ein Großteil der Bevölkerung erkennt, daß alles getan wird, um den ersten Teil des Beschlusses zum Erfolg zu bringen?
Möllemann, Staatsminister: Ja, sicher, Herr Kollege. Ich kann nur unterstreichen, daß wir uns nicht nur innerhalb unseres Bündnisses in den Konsultationen, die ich erwähnte, mit den USA für ein solches Engagement einsetzen, sondern daß wir uns darüber hinaus dann tatsächlich, wenn es geschieht — es geschieht ja —, gemeinsam bemühen sollten, dies auch der Bevölkerung zu vermitteln.

(Abg. Collet [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zusatzfrage)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913622300
Herr Kollege, wir haben Ihre Fragen nicht zusammengefaßt. Sie bekommen dann zur nächsten Frage weitere zwei Zusatzfragen.
Herr Abgeordneter Jungmann zu einer weiteren Zusatzfrage.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID0913622400
Herr Kollege, teilt die Bundesregierung mit mir die Auffassung, daß die INF-Verhandlungen in Genf durch die Verhandlungsvorschläge der beiden Verhandlungspartner und dadurch in eine Sackgasse geraten sind, daß sich Verhandlungsziele und Verhandlungsintentionen unvereinbar gegenüberstehen, und welche Initiativen hat die Bundesregierung innerhalb des Bündnisses konkret ergriffen, um diese Verhandlungen aus der Sackgasse, in der sie sich jetzt befinden, herauszubringen?
Möllemann, Staatsminister: Die Bundesregierung teilt Ihre Auffassung, die Sie zunächst geäußert haben und die Sie zur Grundlage für Ihre zweite Frage gemacht haben, nicht. Es ist richtig, daß die Verhandlungen seit dem Beschluß 1979, der von der Regierung Schmidt/Genscher wesentlich mit herbeigeführt, wenn nicht vielleicht gar entscheidend geprägt worden ist, zunächst einmal nicht in Gang gekommen sind und, als sie in Gang kamen, auf Grund der in der Zwischenzeit erfolgten Aufstellung neuer SS-20-Abschußvorrichtungen sehr erschwert worden sind. Dennoch bemüht sich die westliche Seite, die zwischenzeitlich keine einzige Abschußvorrichtung aufgestellt hat, auf die Nullösung hinzuarbeiten, und sie ist sehr dankbar, wenn sie aus diesem Parlament weiterhin dafür die Rükkendeckung erhält, sowohl politisch-inhaltlich als auch bei der Darstellung dieses Anliegens nach außen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913622500
Zu einer weiteren Zusatzfrage Frau Abgeordnete Erler.

Brigitte Erler (SPD):
Rede ID: ID0913622600
Herr Staatsminister, habe ich Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Collet richtig verstanden, daß Sie eine Unterrichtung durch die US-Regierung als Abstimmung mit den Verbündeten verstehen, und meinen Sie, daß eine solche „Abstimmung" ausreicht, um genügend Druck auszuüben, eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik zu verhindern?
Möllemann, Staatsminister: Nein. Hier sind vielleicht zwei Begriffe durcheinandergekommen. Es gibt einmal den Prozeß der bilateralen Unterrichtung. Hier hat es eine Vielzahl von Gesprächen zwischen den Repräsentanten der amerikanischen Verhandlungsdelegation und Mitgliedern der Bundesregierung und, wie ich glaube, auch Mitgliedern des Unterausschusses für Abrüstung gegeben. Darüber hinaus werden die konkreten Einzelschritte in der entsprechenden hochrangigen Arbeitsgruppe der NATO erarbeitet. Hier fließen die Überlegungen der übrigen NATO-Partner mit ein.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913622700
Zu einer weiteren Zusatzfrage Abgeordneter von Bülow.

Dr. Andreas von Bülow (SPD):
Rede ID: ID0913622800
Herr Staatsminister, nachdem bei den Gesprächen zwischen Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand im Kommuniqué eine Vereinbarung zum Ausdruck gebracht wurde, wonach das französische Mittelstreckenpotential im Rahmen der INF-Verhandlungen nicht in Ansatz zu bringen sei, frage ich die Bundesregierung, ob sie sich Gedanken darüber gemacht hat, wie dieses Potential in den Abrüstungsverhandlungen zwischen West und Ost, etwa im Rahmen der START-Verhandlungen, eingebracht werden kann.
Möllemann, Staatsminister: Die von Ihnen, Herr Kollege, angesprochene Position ist, was die französische Seite angeht, nicht neu. Sie ist auch in den vorausgegangenen Besprechungen zwischen dem französischen Präsidenten und dem früheren Bundeskanzler so vertreten worden. Wir haben auf diese Haltung unseres französischen Partners keinen Einfluß.

(Abg. Dr. von Bülow [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zusatzfrage)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913622900
Herr Abgeordneter von Bülow, ich kann Ihnen zu der nächsten Frage, die allerdings noch nicht aufgerufen ist, dann noch eine Zusatzfrage geben.
Herr Abgeordneter Soell zu einer Zusatzfrage.

Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID0913623000
Herr Staatsminister, können Sie mir zustimmen, daß die von Ihnen erwähnte Null-Lösung eine maximale Eröffnungsposition war, die,
Deutscher Bundestag - 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8421
Dr. Soell
wenn sie als Maximalforderung beibehalten wird, den Erfolg der Genfer Verhandlungen über Mittelstreckenraketen verhindert?
Möllemann, Staatsminister: Nein, die beiderseitige Null-Lösung würde ich nicht als Maximallösung — mit einem leicht negativen Unterton — bezeichnen, sondern natürlich als die beste Lösung, wenn sie erreicht werden kann. Wir wollen uns mit allem Nachdruck dafür einsetzen, daß sie erreicht wird, um dieses Potential aus Zentraleuropa respektive aus der Region, von der aus Zentraleuropa damit erreicht werden kann, zu verbannen. Unbestreitbar aber ist, daß ein Verhandlungsprozeß, wenn diese von uns gewollte optimale Lösung nicht erreicht werden kann, auch in einzelnen Stufen zu diesem Endergebnis hinführen kann. Es ist heute nicht möglich, darzustellen, wie solche Stufen oder das konkrete Endergebnis im Herbst nächsten Jahres aussehen werden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913623100
Abgeordneter Broll zu einer Zusatzfrage.

Werner Broll (CDU):
Rede ID: ID0913623200
Herr Staatsminister, hat das westliche Bündnis seinen Willen zur Abrüstung — bei gleichzeitigem Verhandlungsangebot — nicht allein dadurch bekundet, daß eine Nachrüstung bisher nicht erfolgt ist, und würde nicht die Chance für eine wirkliche Abrüstung beider Seiten dadurch besonders gefördert werden, wenn nicht der geringste Zweifel am Willen notfalls nachzurüsten, in der Bundesrepublik aufkommen könnte?
Möllemann, Staatsminister: Zweifellos ist es die Philosophie dieses Doppelbeschlusses, daß gesagt wird: Wir wollen, wenn eben möglich, auf die Aufstellung eigener Systeme dieser Art verzichten, aber, wenn nötig, wenn durch Verhandlungen die Beseitigung des entsprechenden Potentials nicht erreicht wird, ein begrenztes eigenes Potential aufstellen. Die Gegenseite wird bei den Verhandlungen sicherlich zu entsprechenden Schritten ihrerseits um so eher bereit sein, je weniger sie Anlaß hat, anzunehmen, daß sie ihr Ziel auch erreichen kann, wenn sie keine Konzessionen macht. In diesem Zusammenhang darf ich noch einmal die Bitte der Bundesregierung an alle Fraktionen hier im Parlament ausdrücklich unterstreichen, nicht dazu beizutragen, daß an unserer Entschlossenheit, die wir im Doppelbeschluß des Jahres 1979 unter der Regierung Schmidt/Genscher dokumentiert haben, Zweifel entsteht.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913623300
Herr Abgeordneter Catenhusen zu einer weiteren Zusatzfrage.

Wolf-Michael Catenhusen (SPD):
Rede ID: ID0913623400
Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß das Vertrauen auch der Bevölkerung der Bundesrepublik in die Verhandlungsbereitschaft der USA in Genf durch wiederholte Äußerungen von Mitgliedern der amerikanischen Regierung geschwächt wird, beispielsweise durch die schriftliche Äußerung des mittlerweile zum Abrüstungsberater ernannten Colin S. Gray, der in einem Aufsatz vor einigen Wochen erklärt hat, daß die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa unabhängig von der Frage russischer Rüstungsmaßnahmen im Interesse der Vereinigten Staaten notwendig sei, und glauben Sie nicht auch, daß durch derartige Äußerungen in der Bevölkerung der Eindruck wächst, daß es den Vereinigten Staaten in Genf nicht vorrangig um die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik und anderer westeuropäischer Länder, sondern vorrangig oder ausschließlich um ihre eigenen strategischen Interessen in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geht?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Verhandlungsstrategie und die weitere Beschlußfassung zum NATO-Doppelbeschluß vollziehen sich nach dem Text des NATO-Doppelbeschlusses. Dieser ist, wie der Begriff schon sagt, im zuständigen Gremium der NATO unter Zustimmung der seinerzeit amtierenden Regierung Schmidt/Genscher getroffen worden. Es gibt keinen Anlaß, davon auszugehen, daß sich an der Einstellung, was das Prozedere angeht, etwas ändern wird. Ich schließe nicht aus, daß es die eine oder andere Äußerung von Mitarbeitern von Verwaltungen geben kann, die in dieses Konzept nicht einzupassen ist. Das ist bei einem Bündnis dieser Art mit so vielen Mitgliedsländern und Mitgliedsverwaltungen leider nie ganz auszuschließen. Genausowenig ist auszuschließen, daß in der Bevölkerung auch dadurch Zweifel an der von uns hier bereits begründeten festen oder engagierten Verhandlungsbereitschaft der Vereinigten Staaten von Amerika entstehen, daß Mitglieder dieses Hauses diese Zweifel nähren und daß Mitglieder dieses Hauses bei ihrer Aufstellung zum Bundestagskandidaten sich entweder von diesem Beschluß distanzieren oder aber, wenn sie das nicht tun, als Kandidat nicht mehr aufgestellt werden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913623500
Herr Abgeordneter Jungmann und Herr Abgeordneter Oostergetelo, die Frage 13 ist aufgerufen. Zu dieser Frage haben Sie beide eine Zusatzfrage gehabt. Ich rufe Sie gern zu einer weiteren Zusatzfrage auf, sobald die Frage 14 aufgerufen ist.
Herr Abgeordneter Schreiner zu einer weiteren Zusatzfrage.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID0913623600
Herr Staatsminister, wie beurteilen Sie die Vorschläge des früheren amerikanischen Abrüstungsdirektors Warnke, der einen Vorschlag unterbreitet hatte, wonach eine westliche Nachrüstung in dem Fall überflüssig wäre, daß die Sowjetunion bereit wäre, die noch stationierten SS-4- und SS-5-Raketen zu vernichten und 100 SS-20Raketen zurückzuziehen und den Rest gewissermaßen als Gegengewicht zu den bereits stationierten französischen und britischen Mittelstreckensystemen zu begreifen?
Möllemann, Staatsminister: Dieser Vorschlag entspricht nicht dem Verhandlungskonzept des westlichen Bündnisses.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913623700
Ich rufe die Frage 14 des Abgeordneten Collet auf:
8422 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Vizepräsident Windelen
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die derzeitige Genfer „Geheimdiplomatie" nicht ausreicht, um die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa und in der Welt erkennen zu lassen, was in Genf passiert, und wer durch schuldhaftes Verzögern den Verhandlungserfolg gefährdet, und ist die Bundesregierung bereit, auf eine Informationsverbesserung hinzuwirken, um auch auf diese Weise zu einem Erfolgszwang beizutragen?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, wie erwähnt, haben die USA und die Sowjetunion sich zu Beginn der Verhandlungen auf Wahrung der Vertraulichkeit geeinigt. Dies entspricht den bei solchen bedeutsamen und schwierigen Verhandlungen üblichen Gepflogenheiten. Bei allen wichtigen erfolgreich abgeschlossenen Rüstungskontrollvereinbarungen wie z. B. bei SALT I ist ebenso verfahren worden. Es steht außer Zweifel, daß die Preisgabe des Prinzips der Vertraulichkeit bei Verhandlungen, in denen zentrale Sicherheitsinteressen beider Seiten berührt sind, die Suche nach Lösungen außerordentlich erschweren würde. Über Ergebnisse dieser Verhandlungen wird die Bundesregierung selbstverständlich die im Bundestag vertretenen Parteien und die Öffentlichkeit zu gegebener Zeit unterrichten.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913623800
Abgeordneter Collet zu einer Zusatzfrage.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913623900
Aus Ihrer Antwort an einen Kollegen, der eine Zusatzfrage gestellt hatte, in der Sie, Herr Staatsminister, darauf hingewiesen haben, daß die Wiederaufstellung von Kollegen als Kandidaten für das Parlament mitunter von der Beantwortung dieser Frage abhängt, mögen Sie doch schließen, wie wichtig viele in der Bevölkerung diese Angelegenheit nehmen. Deswegen meine Zusatzfrage: Halten Sie, abgesehen von Detailergebnissen an einem Tag oder in zwei Stunden in einer Sitzung, diese Geheimdiplomatie oder diese Absprache über Nichtveröffentlichung für richtig, und ist es nicht wichtig gerade in Demokratien — in Diktaturen kann man da sowieso keinen Einfluß nehmen —, daß die Menschen erkennen, wie ernsthaft verhandelt wird und wer an einem schlechten Ergebnis Schuld hat?
Möllemann, Staatsminister: Zunächst, Herr Kollege, ist es natürlich auch ein Faktor, der die Meinungsbildung der Bevölkerung beeinflußt, wenn etwa ein Mitglied der früheren Bundesregierung, die den NATO-Doppelbeschluß in beiden Teilen mit herbeigeführt hat, in seinem Wahlkreis deswegen nicht mehr aufgestellt wird, weil er auch den Nachrüstungsteil des Doppelbeschlusses weiterhin vertritt. Das kann ja nur zu entsprechender Interpretation führen.
Aber zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Ich sehe den Konflikt zwischen Geheimhaltung im Interesse eines möglichst bald zu erreichenden Ergebnisses und dem Interesse der Bevölkerung, über die Ernsthaftigkeit der Verhandlungen und die Einzelheiten möglichst seriös informiert zu werden, ebenfalls.
Ich muß Ihnen trotz des Hinweises, der mir gelegentlich gegeben worden ist, daß man hier für die Bundesregierung spricht, einräumen: Aus meinen Erfahrungen in zahllosen Diskussionen über die
Fragen der Sicherheitspolitik weiß ich auch, daß wir hier wohl vor der Notwendigkeit stehen, die Informationstätigkeit, die Aufklärung über die Fakten spürbar zu intensivieren.

(Collet [SPD]: Ich spare mir die zweite Frage auf und überlasse zunächst anderen Kollegen das Wort!)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913624000
Sie behalten sich vor, Ihre zweite Zusatzfrage im Verlauf der Debatte zu stellen.
Herr Abgeordneter von Bülow zu einer weiteren Zusatzfrage.

Dr. Andreas von Bülow (SPD):
Rede ID: ID0913624100
Herr Staatsminister, nachdem Sie bei der Beantwortung der letzten Frage darauf hingewiesen haben, wie die französische Haltung zum französischen Mittelstreckenpotential aussieht, frage ich Sie, ob nicht durch das Kommuniqué des ersten Treffens von Kohl und Mitterrand festgelegt worden ist, daß das französische Mittelstreckenpotential im Einvernehmen mit der Bundesregierung bei den Mittelstreckenverhandlungen in Genf nicht in Anrechnung gebracht werden darf, und sehen Sie nicht insoweit eine ganz beachtliche Abweichung von der Haltung der bisherigen Bundesregierung?
Möllemann, Staatsminister: Nein, Herr Kollege, die sehe ich nicht; denn der NATO-Doppelbeschluß, der eine Einbeziehung der französischen Systeme ausdrücklich nicht vorsieht, ist von der früheren Regierung Schmidt/Genscher herbeigeführt worden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913624200
Herr Abgeordneter Dr. Soell zu einer Zusatzfrage.

Dr. Hartmut Soell (SPD):
Rede ID: ID0913624300
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bei ihren Überlegungen, in den kommenden Monaten in Genf doch zu einem Erfolg der Verhandlungen über Mittelstreckenraketen zu kommen, auch bereit, sich wieder auf die Ursachen des Doppelbeschlusses zu besinnen — die Mittelstreckenraketen sind aus den Verhandlungen über die Begrenzung und Verminderung der strategischen Rüstung herausgefallen — und auch Vorschläge zu verfolgen, die Genfer Verhandlungen von den Ursachen her im Hinblick auf einen Erfolg voranzubringen?
Möllemann, Staatsminister: Ursache für den Beschluß war von der Sache her die Tatsache, daß sich parallel zu einem sich vollziehenden Gleichstand im Bereich der strategischen Nuklearsysteme ein Ungleichgewicht zugunsten der Sowjetunion im Bereich der landgestützten Mittelstreckensysteme ergeben hat, ein Ungleichgewicht, das sich seit dem Beschluß vom Dezember 1979 im übrigen noch dadurch drastisch verstärkt hat, daß die Sowjetunion parallel zueinander eine beachtliche Propagandakampagne gegen den Beschluß und die Aufstellung von wöchentlich einer weiteren Abschußvorrichtung betrieben hat. Von daher ist die Ursache für diesen Beschluß deutlicher geworden. Es ist von daher um so nötiger, die von dem früheren Bundes-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8423
Staatsminister Möllemann
kanzler Helmut Schmidt bei seinem Vortrag vor dem ISS 1977 angemahnte Beseitigung dieses Ungleichgewichts herbeizuführen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913624400
Herr Abgeordneter Oostergetelo zu einer weiteren Zusatzfrage.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID0913624500
Herr Staatsminister, da die Bundesregierung nicht gewillt ist, auch die französischen Mittelstreckenwaffen mit einzubeziehen, und gleichzeitig von der Forderung einer Null-Lösung redet, frage ich: Laufen wir nicht Gefahr, den Verhandlungserfolg selber zu unterlaufen und dadurch praktisch die Vorwegnahme der Stationierung zu bekommen, und was bedeuten in diesem Zusammenhang die Äußerungen oder angeblichen Äußerungen eines Mitglieds der Bundesregierung, man könne erst stationieren und dann weiterverhandeln?
Möllemann, Staatsminister: Zunächst einmal handelt es sich nicht um die Weigerung der Bundesregierung, das französische Potential einzubeziehen, sondern um eine Entscheidung der französischen Regierung, auf die wir nach dem Verständnis der französischen Regierung auch keinen Einfluß haben. Von daher ist die Annahme für Ihre Frage nicht gegeben.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913624600
Herr Abgeordneter Jungmann zu einer weiteren Zusatzfrage.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID0913624700
Herr Staatsminister, nachdem Sie meinem Kollegen von Bülow geantwortet haben, daß im NATO-Doppelbeschluß die französischen Potentiale nicht berücksichtigt seien: Sind Sie mit mir der Auffassung, daß Frankreich gar nicht am Zustandekommen des NATO-Doppelbeschlusses mitgewirkt hat und deshalb die französischen Potentiale dabei keine Rolle spielen, daß aber die Bundesregierung vor dem 1. Oktober 1982 eine bestimmte politische Auffassung zur Anrechnung der französischen Mittelstreckenpotentiale bei Verhandlungen gehabt hat und daß sich diese Auffassung durch die Aussagen und die Aufnahme in das Kommuniqué beim Besuch von Staatspräsident Mitterrand gegenüber der vorherigen Auffassung geändert hat?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Annahme, von der Sie ausgehen, trifft nicht zu. Die Verhandlungskonzeption des Bündnisses hat sich inhaltlich nicht geändert. Es wurde von Anfang an über die landgestützten, weitreichenden Mittelstreckensysteme gesprochen, auf der einen Seite die sowjetischen, auf der anderen Seite die amerikanischen. Daran hat sich nichts geändert.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913624800
Herr Abgeordneter Bindig zu einer weiteren Zusatzfrage.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID0913624900
Herr Staatsminister, können Sie sich vorstellen, daß es in unserem Lande eine große Anzahl von Mitbürgern und auch in diesem Parlament Abgeordnete gibt, die kein Vertrauen in die Verhandlungsführung der amerikanischen Regierung und auch der Bundesregierung haben und sich
deshalb nach dem alten Grundsatz „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" unmittelbar über die Verhandlungen informieren möchten, also entgegen einer Geheimdiplomatie in dieser für die Bevölkerung unseres Landes lebenswichtigen Frage informiert werden möchten?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, wenn ich unterstellen darf, daß Sie diesen Einwand als Parlamentarier ganz systematisch ernst nehmen, unabhängig davon, welche Regierung gerade amtiert, dann ist zunächst verwunderlich, daß diese Forderung — nicht nur von Ihnen, sondern überhaupt — nicht an die Regierung, die bis vor einiger Zeit hier amtiert hat, gerichtet worden ist; denn da war die Arbeitsprämisse die gleiche.

(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)

Hier ist eine Vereinbarung getroffen worden, die von allen Bündnispartnern respektiert wird, nämlich daß im Interesse eines möglichst schnellen Verhandlungsergebnisses — und es bleibt ja nicht so sehr viel Zeit — über die konkreten Einzelheiten und Einzelschritte bei den Verhandlungen Vertraulichkeit gewahrt wird.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913625000
Herr Abgeordneter Collet, zu Ihrer zweiten Zusatzfrage.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913625100
Herr Staatsminister, kann es denn nicht wirklich die Erkenntnis der Bundesregierung sein, daß es dringend notwendig ist, unseren Verbündeten unter den beiden, die da in Genf verhandeln, ganz deutlich zu machen, daß die Geheimdiplomatie, die verabredet wurde, wenigstens zu einem großen Teil aufgegeben werden muß, um den Mangel an Vertrauen abzuschaffen und um zu verdeutlichen, daß jeder Schritt und jede Möglichkeit zum Erfolg der Verhandlungen genützt wird?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, ich möchte noch einmal wiederholen, was ich vorhin gesagt habe. Es ist ein Zwiespalt zu konstatieren zwischen dem Interesse der Bürger in den betroffenen Ländern an einer möglichst lückenlosen und detaillierten Information und dem Interesse der beiden Verhandlungspartner Sowjetunion und USA, möglichst schnell zu konkreten Verhandlungsergebnissen zu kommen

(Collet [SPD]: Warum eigentlich?)

und dabei die vereinbarte Vertraulichkeit zu wahren. Die Besorgnis, die ja hier auch eine Rolle spielen könnte, Herr Kollege, läßt sich vielleicht so formulieren, daß man Sorge hat, daß, wenn sozusagen öffentlich verhandelt wird, statt ernsthafter Verhandlungen eine Art Propagandakrieg wechselseitiger Art praktiziert wird. Ich habe darauf hingewiesen, daß die bei den SALT-Verhandlungen praktizierte Vertraulichkeit z. B. das Zustandekommen des SALT-I-Vertrages sehr begünstigt hat.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913625200
Herr Abgeordneter Dr. Penner zu einer weiteren Zusatzfrage.

Dr. Willfried Penner (SPD):
Rede ID: ID0913625300
Herr Staatsminister, ich gehe davon aus, daß die jetzige Bundesregierung wie die
8424 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Penner
frühere Bundesregierung an Ergebnissen in Genf interessiert ist. Ich frage Sie, ob unter diesem Gesichtspunkt die jetzige Bundesregierung die Nichteinbeziehung der französischen Mittelstreckenwaffen begrüßt.
Möllemann, Staatsminister: Die jetzige Bundesregierung hat unter dem Stichwort Kontinuität der Außen- und Sicherheitspolitik in dieser Frage die Position der Regierung Schmidt/Genscher übernommen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913625400
Ich rufe die Frage 15 des Herrn Abgeordneten Schmitt (Wiesbaden) auf:
Kann die Bundesregierung letzte Meldungen von Verfolgungen und Hinrichtungen der Baha'i im Iran bestätigen, und welche Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, um diesen Verfolgungen der Baha'i entgegenzuwirken?
Möllemann, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung ist von den deutschen Baha'is über erneute Inhaftierungen und Hinrichtungen von Anhängern der Baha'i-Sekte in Iran unterrichtet. Sie ist bestürzt darüber, daß die Verfolgungsmaßnahmen gegen Baha'i trotz wiederholter Initiativen, die die Bundesregierung zusammen mit ihren europäischen Partnern zugunsten dieser religiösen Gruppe in den Vereinten Nationen und bilateral in Teheran unternommen hat, offenbar in letzter Zeit wieder aufgenommen worden sind.
Die Bundesregierung prüft zur Zeit gemeinsam mit den EG-Partnern welche Schritte unternommen werden können, um die iranische Regierung erneut auf die Verletzung der Menschenrechte hinzuweisen und zu versuchen, die Baha'i vor einer weiteren Verfolgung zu bewahren. Eine gemeinsame Aktion im Rahmen der Vereinten Nationen wird vorbereitet.
Die Erklärung der Präsidentschaft zum ECOSOCBericht über Menschenrechtsverletzungen enthält einen Appell zugunsten der Baha'i. Außerdem werden die Bundesregierung und ihre Vertretung in Teheran alle sich bietenden Gelegenheiten wahrnehmen, um dieses Thema mit der iranischen Regierung zu erörtern.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913625500
Herr Abgeordneter Schmitt zu einer Zusatzfrage.

Rudi Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0913625600
Herr Staatsminister, können Sie mir noch einmal bestätigen, daß die Bundesregierung gerade auf Grund der letzten Berichte ihre Bemühungen intensiviert und auch in den Vereinten Nationen andere Länder zur Unterstützung ihrer Initiativen gewinnen kann?
Möllemann, Staatsminister: Die Bundesregierung tut erstens alles in bilateralem Kontakt mit dem Iran, um entsprechende Verbesserungen zu erreichen. Sie bemüht sich zweitens um ein gemeinsames Vorgehen mit den Partnern in den Europäischen Gemeinschaften. Sie will drittens auf der Ebene der Vereinten Nationen gemeinsam mit ihren Partnern alles in ihren Kräften Stehende unternehmen, um die menschenrechtswidrige Behandlung dieser Gruppe zu beenden.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913625700
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Schmitt (Wiesbaden).

Rudi Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0913625800
Herr Staatsminister, können Sie dem Bundestag berichten, in welcher Weise die Regierung des Iran auf die Interventionen der Bundesregierung, der Europäischen Gemeinschaften und der Vereinten Nationen reagiert hat?
Möllemann, Staatsminister: Bislang muß die Reaktion der Regierung des Iran aus unserer Sicht als unbefriedigend angesehen werden. Man verwendet den auch in anderen Fällen dieser Art gängigen Hinweis auf innere Angelegenheiten. Wir meinen, daß dies eine unzulässige Form der Zurückweisung unseres Petitums ist.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913625900
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der heutigen Fragestunde.
Ehe wir in der Tagesordnung fortfahren, teile ich Ihnen folgendes mit: Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD treten um 18 Uhr zu einer etwa einstündigen Fraktionssitzung zusammen. Die Plenarsitzung wird daher um 18 Uhr unterbrochen.
Wir setzen nunmehr die Aussprache zu dem Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes fort. Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Günther.

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID0913626000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der SPD hat ihren Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes, Drucksache 9/2196, offensichtlich mit dem Ziel eingebracht, vor dem vorzeitigen Ende dieser Legislaturperiode des Bundestages lediglich noch eine erste Beratung zu erwirken, um damit draußen Propaganda machen zu können.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr! — So ist es!)

Die Rede des Herrn Kollegen Lutz heute morgen war dafür ein erneuter Beweis.
Ich will insbesondere auf den letzten polemischen Teil der Rede des Herrn Kollegen Lutz nicht eingehen. Nur muß ich Ihnen folgendes sagen. Wenn Sie meinen und hier vortragen, daß sich unsere Fraktion, wenn sie Ihren Entwurf nicht akzeptiert, für Arbeitslosigkeit entscheidet, dann weise ich das namens meiner Fraktion mit aller Entschiedenheit zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lutz [SPD]: Sie haben es doch getan!)

Es ist ja wohl ein absurdes Vorkommnis, daß Sie uns dies vorwerfen. Ich muß fragen: Wie weit ist eigentlich Ihre Fraktion, daß sie es zuläßt, daß so etwas hier vorgetragen wird? Es ist absurd, uns vorzuwerfen, wir seien für Arbeitslosigkeit.

(Lutz [SPD]: Tun Sie doch was!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wäre es in den zurückliegenden Jahren ein wirklich ernsthaftes Anliegen der SPD gewesen, die tatsächlich in wesentlichen Punkten fragwürdig gewordene Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938 durch ein modernes Arbeitszeitgesetz zu ersetzen, so
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8425
Günther
hätte sie dies durch eine ausreichende Kompromißbereitschaft schon längst erreichen können.

(Bindig [SPD]: Sie vergessen die FDP-Klette!)

Das Kernanliegen des heute eingebrachten Gesetzentwurfs war bereits Gegenstand intensiver Verhandlungen innerhalb der Koalition von SPD und FDP während der 8. Legislaturperiode und wesentliches Teilelement eines Referentenentwurfs eines Arbeitsschutzgesetzes vom 16. September 1981. Dazu hat auch das Bundesarbeitsministerium bereits im März 1982 eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Die Anhörungsergebnisse führten dann zu einer Neufassung des Referentenentwurfs vom 21. Juli 1982. Aber auch dieser Entwurf scheiterte wie seine Vorläufer an einer Fülle sachlicher Bedenken innerhalb der alten Koalition.
Jetzt hat die SPD-Fraktion die wesentlichen Arbeitszeitregelungen aus dem Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes herausgenommen und isoliert eingebracht.

(Lutz [SPD): Schon wieder falsch!)

Eine Durchsicht der einzelnen Bestimmungen des Gesetzentwurfs macht deutlich, daß neben einigen Änderungen gegenüber früheren Entwürfen viele neue Bestimmungen und Reglementierungen in das Arbeitszeitrecht hineingebracht wurden, mit denen unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden sollen. Dabei macht eine eingehende Durchsicht der einzelnen Paragraphen des Gesetzentwurfs wie auch der Begründung deutlich, daß bei einer Realisierung der vorgeschlagenen Bestimmungen einige Zielsetzungen überhaupt gar nicht erreichbar sind. Das gilt ganz besonders für die Zielsetzung, durch das Instrument der Arbeitszeitregelung die Arbeitslosigkeit abzubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Lutz, wenn Sie heute morgen von den 4 % sprachen, für die noch keine tarifvertragliche 40-Stunden-Woche gilt, muß ich sagen, daß das eben nicht die Bereiche sind, die Sie meinen, wenn Sie Überstunden durch eine Änderung der Arbeitszeitordnung abbauen wollen. Ich lade Sie dazu ein, einmal zur Eisen- und Stahlindustrie an Rhein und Ruhr mitzukommen. Reden Sie da einmal von Überstunden. Da sind Sie aus den Betrieben schneller wieder draußen, als Sie hineingekommen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch der jetzt von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf stößt bei uns auf Bedenken wegen eines Übermaßes an teilweise sehr schematischen Reglementierungen und ordnungspolitisch sehr fragwürdigen Beeinträchtigungen betrieblicher Arbeitsabläufe. In diesem Entwurf sind zu wenige praxisbezogene Elemente enthalten. Das müssen Sie sich einmal sagen lassen. Die Betriebs- und Personalräte finden nach Ihrem Entwurf keinen ausreichenden Spielraum, ihren Auftrag zu erfüllen, der in diesem Bereich sehr weitgehend ist. Arbeitsmarktpolitische Zielsetzungen auf diese Weise festzuschreiben, bringt überhaupt nichts ein.
Die vorgeschlagenen sehr engen Begrenzungen der Arbeitszeit, der Verteilung dieser und der Mehrarbeit führen in dieser Form nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen und damit nicht zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Bei einer Realisierung des Gesetzentwurfs der SPD wäre im Gegenteil zu befürchten, daß insbesondere viele Kleinbetriebe wegen einer rigorosen Beschneidung der Möglichkeiten von Überstunden auf plötzliche Eilaufträge verzichten müßten, wenn wegen betriebsbedingter Gegebenheiten eine Einstellung von zusätzlichen Arbeitskräften nicht möglich wäre.

(Kolb [CDU/CSU]: Solche Betriebe kennen die nicht!)

— Nein, es mag sein, Herr Kollege Kolb, daß die solche Betriebe nicht kennen.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die lösen das nach dem „Vorwärts"-System!)

Potentielle Chancen zur Erhöhung des Sozialprodukts und damit gesamtwirtschaftlich auch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit würden sogar noch vertan.
Auf diese wenigen Bemerkungen könnte ich mich jetzt im Rahmen der ersten Beratung des Gesetzentwurfs beschränken, wenn sich eine Detailberatung in den zuständigen Ausschüssen anschließen würde. Da das aber nicht möglich sein wird, möchte ich einige zusätzliche Bemerkungen machen, um der Gefahr vorzubeugen, daß die SPD den Gesetzentwurf für reine Propagandazwecke mißbraucht, ohne das Risiko einzugehen, daß in den für die Beratung dieser Initiative zuständigen Ausschüssen auf die Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten des SPD-Entwurfs hingewiesen werden kann.
Der Gesetzentwurf verweist zwar auf die Möglichkeit ergänzender Regelungen durch Tarifvertrag oder Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen, das jedoch nur in wenigen Ausnahmefällen. Im Prinzip sind die gesetzlichen Bedingungen derart eng, daß besonderen Gegebenheiten in einzelnen Wirtschaftszweigen weder durch Tarifverträge noch durch Betriebsvereinbarungen Rechnung getragen werden kann.
Im höchsten Maße merkwürdig sind die Regelungen hinsichtlich der Ausfüllung des Höchstrahmens für die zulässige Mehrarbeit, wenn dieser Rahmen nicht durch einen Tarifvertrag ausgeschöpft wird oder wenn ein Betriebsrat oder ein Personalrat nicht besteht. Dann ist ohne große Umstände eine Überschreitung der normalen wöchentlichen Arbeitszeit nur für höchstens zwei Stunden möglich. Für weitere — bis zu höchstens zwei Stunden — Mehrarbeit müßte dann eine befristete Ausnahmegenehmigung der Aufsichtsbehörde erteilt werden, wobei die Aufsichtsbehörde dann vor der Entscheidung außerdem noch das zuständige Arbeitsamt anhören müßte. Meine Damen und Herren, in dieser Zeit ist der Zug längst abgefahren.
Auch grundsätzlich erscheint es uns äußerst problematisch, daß prinzipiell die regelmäßige tägliche Arbeitszeit acht Stunden und die wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden nicht überschreiten darf und
8426 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Günther
daß einer andersartigen Verteilung der Wochenarbeitszeit sehr enge Grenzen gesetzt werden.

(Lutz [SPD]: Ein komischer Gewerkschafter!)

Auch wenn es nicht ideal ist, eine Arbeitszeit von wöchentlich 40 Stunden auf vier Tage mit je zehn Arbeitsstunden zu verteilen, so sollte dies doch nicht gesetzlich generell verboten sein, wenn die Tarifpartner, Herr Kollege Lutz,

(Zuruf des Abg. Lutz [SPD])

eine solche Verteilung wünschen oder beispielsweise einige Testversuche durchführen wollen.

(Roth [SPD]: Fragen Sie einmal Verkäuferinnen! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Da können Sie noch so viele Zwischenrufe machen: Dies ist für die Praxis wesentlich besser.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei der FDP)

Wir halten es auch für zu einengend, Herr Kollege Roth, wenn die Regelarbeitszeit von wöchentlich 40 Stunden grundsätzlich nur durch maximal vier Wochenarbeitsstunden aufgestockt werden darf, wobei nur für die ersten beiden Überstunden ein relativ einfaches Verfahren gilt, für die weiteren zwei Überstunden jedoch prinzipiell bereits eine Ermächtigung durch Tarifverträge oder durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vorliegen muß.
Zu stark reglementierend sind nach unserer Auffassung auch die vorgeschlagenen Regelungen hinsichtlich der Arbeitszeit bei Saisonarbeit. Nun hat sich heute morgen der Kollege Stiegler gerade zu diesem Thema im Rahmen der Fremdenverkehrsdebatte sehr beschwert; hier soll also wieder eingeengt werden. — Meine Herren von der SPD, Sie müßten sich jetzt einmal einigen, was denn nun bei Ihnen gilt.

(Kolb [CDU/CSU]: Da weiß die Linke nicht, was die Rechte tut!)

Die Einengung ist auch zu groß bei der gleitenden Arbeitszeit hinsichtlich der Regelung der Ruhepausen und der Ruhezeiten wie auch hinsichtlich der Schicht und Nachtarbeit und desgleichen hinsichtlich des Freizeitausgleichs nach Sondereinsätzen.
Meine Damen und Herren, die Arbeitnehmer halten von solchen Reglementierungen überhaupt nichts. Sie haben Betriebs- und Personalräte und können dies in den Betrieben viel besser allein regeln.
Wir müssen insgesamt feststellen, daß teilweise das Ausmaß der Reglementierungen und der Beeinträchtigungen betrieblicher Dispositionen über das Ausmaß der früheren Referentenentwürfe des Bundesministeriums in der Zeit der SPD/FDP-Koalition hinausgeht. Allerdings gibt es in einigen Punkten auch Vereinfachungen des Verfahrens; dies möchte ich ausdrücklich feststellen.
Insgesamt schränkt der Gesetzentwurf die Möglichkeiten freier Gestaltung der Arbeitszeitregelungen unzulässig ein, sowohl im Verhältnis Arbeitnehmer zu Arbeitgeber, zwischen den Tarifvertragsparteien und auch im Hinblick auf die Mitbestimmungsmöglichkeiten nach dem Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetz. Es fehlen auch gewisse Freiräume für einzelne Arbeitnehmer, die verhindern sollen, daß Nebenbeschäftigungen oder gar illegale Beschäftigungen aufgenommen werden.
Ich möchte aber auch ausdrücklich herausstellen, daß es in dem Gesetzentwurf einzelne Bestimmungen gibt, die sinnvoll sind. Dies gilt beispielsweise für die Zielsetzung, die Arbeitsschutzbestimmungen für Männer und Frauen, wo es möglich ist, anzunähern. Hier verfolgt der Gesetzentwurf die gleiche Zielrichtung wie eine Initiative des Bundesrates auf der Bundesratsdrucksache 281/82, die wohl alsbald mit einer Stellungnahme der Bundesregierung, Herr Minister, im Bundestag vorgelegt werden dürfte.
Grundsätzlich ist die CDU/CSU-Fraktion zu einer konstruktiven Mitwirkung an einer Reform des Arbeitszeitrechts bereit. Dabei muß sicher auch die Tatsache Berücksichtigung finden, daß sich die tarifliche Arbeitszeit bei unveränderter Arbeitszeitordnung durchschnittlich auf rund 40 Stunden in der Woche reduziert hat. Eine Beratung über dieses Thema im Detail wird aber wohl erst nach der Bundestagswahl möglich sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, nehmen Sie bitte aber auch zu Kenntnis, daß wir sehr wohl erkannt haben: Wer viele Jahre nichts zustande bringt und als Opposition nunmehr innerhalb weniger Wochen einen solchen Gesetzentwurf vorlegt, der hat doch augenscheinlich nur die Wahl im Auge; ein allzu durchsichtiges Manöver, meine Damen und Herren, das Ihnen die Wähler ohnehin nicht abnehmen werden. — Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913626100
Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Dreßler das Wort.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID0913626200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für die SPD-Fraktion die Behauptung des Bundeswirtschaftsministers von heute mittag

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Vormittags polemisiert er hier und nachmittags ist er nicht da!)

und auch die Ihre, Herr Kollege Günther, die Sie hier soeben gemacht haben, es handle sich hierbei um eine Wahlkampfstrategie, entschieden zurückweisen.

(Kolb [CDU/CSU]: Schaufensterantrag! — Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Ich hatte gedacht, Sie seien mindestens in den letzten zwei Jahren dabeigewesen. Gerade der Bundeswirtschaftsminister weiß genau, daß in der alten Bundesregierung die Absicht bestand und auch verwirklicht worden wäre, auf der Grundlage unserer Vorarbeiten im Dezember den Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes vorzulegen, in dem auch der Arbeitszeitschutz enthalten war. Wenn sich der

Dreßler
Bundeswirtschaftsminister vor dieser Vorlage gedrückt hat,

(Kolb [CDU/CSU]: Das war der Arbeitsminister!)

dann ist es nur konsequent, wenn die Sozialdemokraten — ob Regierung oder Opposition — dieses ihr Vorhaben einbringen. Das haben wir hier gemacht. Um nichts anderes geht es. Das müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Günther, es ist natürlich bemerkenswert, wenn Sie als ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft hier über die Interna der Stahlindustrie vortragen. Ganz überzeugend ist das nicht, wenn ich Ihnen das einmal sagen darf. Wenn Sie nämlich mit den Stahlbetriebsräten im Ruhrgebiet über die Arbeitszeitordnung redeten, hätten Sie sich nicht hier hingestellt und das erzählt, was wir soeben von Ihnen zur Kenntnis nehmen mußten.

(Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Welche Betriebe kennen Sie?)

Es ist im übrigen bezeichnend — das sollte gerade bei den Damen und Herren der Sozialausschüsse der Union Aufmerksamkeit erregen —,

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Gibt es die denn noch?)

daß der federführende Minister für ein solches Arbeitszeitschutzgesetz sich hier vom Bundeswirtschaftsminister vertreten lassen muß. Ich hatte erwartet, daß der Bundesarbeitsminister hier die Stellungnahme der Bundesregierung vorträgt, statt es den Bundeswirtschaftsminister tun zu lassen.

(Roth [SPD]: Das ist doch kein Arbeitsminister, das ist ein Lohnpausenminister!)

Scheinbar führt der Bundeswirtschaftsminister dem Bundesarbeitsminister den Griffel.

(Zink [CDU/CSU]: Wie war das denn bei euch?)

— Wir haben nie bestritten, daß der Bundeswirtschaftsminister, Herr Kollege Zink, seit 1976 die Vereinbarungen mit uns behindert hat.

(Roth [SPD]: So ist es!)

Wir sind seit 1976 dabei, dafür zu sorgen, daß eine Novelle des 38er Gesetzes erfolgt.

(Kolb [CDU/CSU]: Es waren halt zu schwache Arbeitsminister, Herr Kollege!)

— Herr Kollege Kolb, vielleicht werden Sie etwas nachdenklicher, wenn ich Ihnen ein Zitat Ihres Kollegen Blüm in Erinnerung bringen darf. Er hat vor der 19. Bundestagung der CDA gesagt — ich zitiere —:
Wenn unsere Vorschläge besser sind, werden sie sich durchsetzen, sogar bei der FDP.
Jetzt bin ich gespannt, wann Herr Blüm damit beginnt, sich gegen die FDP durchzusetzen. Möglicherweise sind wir ja einer Meinung, daß er das nach dem 6. März nicht mehr braucht. Dann werden
nur noch wir uns über eine Novelle der Arbeitszeitordnung verständigen müssen.
Meine Damen und Herren, gestern hat die CDU/ CSU-Fraktion im „Deutschland-Union Dienst" folgenden bemerkenswerten Satz veröffentlicht:
Um alle Möglichkeiten zu prüfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, müssen die Überlegungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit in den anderen europäischen Ländern mit einbezogen werden.
So Ihre Kollegin Frau Wex.
Darf ich Sie einmal fragen, warum Sie die anderen Länder bejubeln, wenn Sie in der Bundesrepublik Deutschland die Chance haben, das gleiche zu tun? Aber augenscheinlich haben Sie nicht die Kraft dazu.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 16. April 1891, vor mehr als 90 Jahren, hat der Deutsche Reichstag in zwei vollen Sitzungstagen einen Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zu debattieren gehabt, die tägliche Höchstarbeitszeit schrittweise auf acht Stunden zu begrenzen. Auf mehr als 40 Druckseiten können wir heute nachlesen, daß am Ende der Beratungen die Sozialdemokraten eine Abstimmungsniederlage erlitten. Aber der Kampf für den Achtstundentag wurde danach erst recht zu einer Hauptforderung gemacht. Der konservative Teil des Deutschen Reichstags hatte damals einen Abstimmungssieg errungen, aber die Entwicklung hat ihn später eingeholt, wie das so oft der Fall war.
Heute, nach über 90 Jahren, setzen sich Sozialdemokraten wieder dafür ein, daß die rechtlichen Bestimmungen über die Arbeitszeit diesmal an die tarifvertragliche Wirklichkeit herangeführt werden.
Wir sagen: Es ist unverantwortlich, daß auf gesetzlicher Basis 72 Stunden in der Woche, d. h. auch bis zu 32 Überstunden, geleistet werden können, wenn gleichzeitig über 2 Millionen Menschen ohne Arbeit sind.

(Beifall bei der SPD)

Wir sagen weiterhin: Wenn 2,8 Millionen Arbeitnehmer Sonntagsarbeit leisten, muß die Sonntagsarbeitszeit in die Wochenarbeitszeit endlich gesetzlich einbezogen werden.
Wir sagen: Wenn 7,5 Millionen Arbeitsplätze bzw. Beschäftigte ein mehrfaches Risiko an gesundheitlicher Schädigung tragen und 5,8 Millionen Menschen Schichtarbeit leisten, muß der Gesetzgeber die Notwendigkeit erkennen, von der Sechstagewoche zur Fünftagewoche zu kommen.
Wir sagen angesichts der weiter steigenden Arbeitslosigkeit und angesichts der völligen Konzeptionslosigkeit der amtierenden Regierung — dies hat sich in den letzten Wochen gezeigt —, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen:

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ach du meine Güte! Werden Sie nicht rot vor Scham? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

8428 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dreßler
Wenn 96 % aller Arbeitnehmer die 40-Stunden-Woche durch Tarifvertrag erreicht haben, muß das Gesetz endlich nachziehen und die 48stündige Regelarbeitszeit ändern.
Ich finde, es ist ein Trauerspiel: Der CDU/CSU fällt bei einer solchen Debatte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu unserem Gesetzentwurf nichts Besseres an Argumenten ein als ihren Vorgängern vor 90 Jahren.

(Lutz [SPD]: Hört! Hört! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir haben es mit unseren Vogängern von vor 8 Wochen zu tun!)

Wenn die von Konservativen vor allen sozialpolitischen Vorhaben prognostizierte Entwicklung eingetreten wäre, müßten wir heute ein Entwicklungsland sein.
Im übrigen: Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Bemerkung über Arbeitslosigkeit. Das nächste Frühjahr kommt bestimmt, auch der nächste Herbst und Winter kommen bestimmt.

(Kolb [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal nach den Ursachen! Da waren Sie doch dran!)

Alle Experten haben der Regierung vorausgesagt, daß die Arbeitslosigkeit steigen wird. Die Bundesregierung selbst schätzt für das Jahr 1983 einen Durchschnitt von 2,35 Millionen Arbeitssuchenden. Bereits für das kommende Frühjahr schätzen Institute, daß mehr als 2,5 Millionen Menschen ohne Arbeit sind. Für das Jahresende 1983 werden nach diesen Schätzungen mehr als 3 Millionen genannt.
Wir bemühen uns nun seit 1976, eine Mehrheit des Bundestages für ein neues Arbeitszeitgesetz zu sensibilisieren. Ich frage Sie: Was muß denn eigentlich passieren, wieviel Arbeitslose müssen bei der Bundesanstalt für Arbeit gemeldet sein, damit CDU/CSU und FDP endlich zu bewegen sind, wenigstens einem kleinen, konkreten Schritt zuzustimmen, der den Kampf für Arbeitszeitverkürzung signalisiert?

(Beifall bei der SPD)

Wenn der heutige Bundesarbeitsminister noch als Oppositionspolitiker am 23. September 1982 im „Hamburger Abendblatt" die Arbeitszeitverkürzung als — ich zitiere — „unverzichtbare Voraussetzung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" preist,

(Kolb [CDU/CSU]: Sie wollen doch die Überstunden bekämpfen!)

wenn der gleiche Politiker vor den Sozialausschüssen erklärt, daß wir — ich zitiere — „auch Arbeitszeitverkürzungen brauchen, weil arbeitsplatzsparende Rationalisierung mehr Arbeitsplätze wegnimmt, als vermehrte Nachfrage heute Arbeitsplätze" schaffe, dann darf man wohl verlangen, daß sich der jetzige federführende Minister dazu bekennt, daß auch unter seiner Mitwirkung in den letzten Wochen ca. 16 Milliarden DM Nachfrage gestrichen worden sind. Deshalb sind seine Reden außerhalb des Bundestages zur Makulatur geworden.
Wie will der Arbeitsminister eine Ablehnung begründen, wenn durch dieses Gesetz zigtausende
Menschen eine Beschäftigungschance erhalten können?

(Kolb [CDU/CSU]: Ach, du lieber Gott, wo denn?)

Was muß eigentlich noch passieren, damit bei der neuen und in dieser Frage auch alten Mehrheit dieses Hauses überhaupt etwas passiert? Die SPD-Fraktion wendet sich gegen eine politische Handlungsweise, die als einzige Konsequenz Arbeitszeitverkürzung in all ihren verschiedenen Möglichkeiten zum Verbots-Dogma erklärt.

(Frau Dr. Timm [SPD]: So ist es!)

Beim Erlaß der Arbeitszeitordnung im Jahre 1938, meine Damen und Herren, galt das nationalsozialistische Tarifordnungs- und Betriebsordnungssystem. Die Arbeitszeitordnung verwendet dementsprechend Begriffe wie „Gefolgschaftsmitglieder", „Betriebsführer", „Tarifordnung" und „Reichstreuhänder der Arbeit".

(Lutz [SPD]: Schlimm ist das!)

Diese Begriffe werden mit diesem Gesetzentwurf aus dem Arbeitszeitrecht gestrichen.
Der Gesetzentwurf ist so angelegt, daß die Tarifautonomie und die Rechte der Arbeitnehmervertretungen nach dem Betriebsverfassungsgesetz und den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder voll gewahrt bleiben.

(Kolb [CDU/CSU]: So?)

Die öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutzregelungen können und sollen arbeitszeitliche Rahmenbedingungen festlegen. Ausgestaltung, Dauer und Lage der Arbeitszeit erfolgen im einzelnen durch Tarifvertrag, Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung oder auch durch Arbeitsvertrag. Tarifliche Regelungen über die Dauer und Verteilung der Arbeitszeit gehören in der Praxis seit langem zu den häufigsten und wichtigsten Tarifnormen. Zudem räumt der Entwurf den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit ein, über verschiedene gesetzliche Regelungen hinaus Vereinbarungen zu treffen und damit den unterschiedlichen Bedürfnissen der Wirtschaft in den einzelnen Bereichen Rechnung zu tragen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glaub__ doch selbst nicht!)

In absoluten Zahlen, meine Damen und Herren, würde dieses Gesetz die zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeit von rund 150 000 Arbeitnehmern bedeuten.

(Kolb [CDU/CSU]: Nach der Mengenlehre, Herr Kollege!)

Hinzu kämen möglicherweise noch rund 230 000 zusätzliche Arbeitsplätze durch Einschränkung der Mehrarbeitsstunden, und es wäre unverantwortlich, eine solche Chance nicht zu nutzen. — Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID0913626300
Ich gebe das Wort dem Herrn Abgeordneten Kolb.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8429

Elmar Kolb (CDU):
Rede ID: ID0913626400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lutz, nachdem ich Ihren Gesetzentwurf gelesen und Ihre Rede gehört habe, kann ich nur sagen, ich muß mich wundern. In welcher Welt leben wir denn? Von wem haben Sie denn gesprochen? Sie haben hier eine ganze Nation zu Schwerarbeitern erklärt, die nicht mehr arbeitsfähig sind. In der Schweiz arbeitet jeder Arbeitnehmer rund 200 Stunden im Jahr mehr. Sie haben heute erklärt, das sei die Grenze. Da frage ich, in welcher Welt Sie leben und wo Sie diskutieren.

(Zurufe von der SPD)

Herr Kollege Lutz, Sie haben auch gesagt, das Ding müßte man betriebswirtschaftlich diskutieren, aber das möchten Sie nicht. Das ist ja das Problem. Sie schieben das Betriebswirtschaftliche zur Seite, das interessiert Sie nicht, sondern Sie gehen in die Materie hinein und sagen: „Ich habe die Theorie; ich mache einen Plan!"

(Zurufe von der SPD)

Meine sehr verehrten Damen von der SPD, wann fallen denn in einem Betrieb Überstunden an? Das ist ja der Fehler, daß Sie die Praxis nicht mehr kennen. Die Überstunden sind entweder in der Hochkonjunktur angefallen, wo Sie niemanden zur Arbeit bekamen, oder sie fallen jetzt in einer Situation an, in der es kaum Arbeit gibt, weil plötzlich die Kunden — und das sind zum Teil auch Staatsbetriebe — sagen, sie möchten innerhalb von ganz kurzer Zeit dies haben. Für uns im Betrieb wäre es wesentlich einfacher und leichter, wenn wir auf Monate hinaus gleichmäßige Arbeit hätten. Dann brauchten wir uns nicht um Aufträge zu kümmern und könnten kontinuierlich arbeiten. Das gilt für Groß-, Klein- und Mittelbetriebe.

(Bindig [SPD]: Sprechen Sie jetzt als Abgeordneter oder als Unternehmer?)

— Ich bin Abgeordneter, und im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Bindig, verstehe ich von Arbeit etwas, weil ich sie praktisch tue. Sie sprechen nur theoretisch darüber.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Lutz, Sie haben heute die Geschichte bemüht. Sie hätten die 13 Jahre Ihrer Regierung bemühen sollen, wo Kollegen von Ihnen, Ihre Wirtschaftsminister, Ihre Arbeitsminister von diesem Pult hier erklärt haben: „Wir werden eine Wirtschaftsordnung bringen, in der Vollbeschäftigung garantiert ist." Sie haben einen Kanzler gehabt, der dreimal zum 1. Mai erklärt hat: „Solange ich Kanzler bin, wird keiner seinen Arbeitsplatz verlieren." Er ist rechtzeitig abgetreten; weil er das Versprechen nicht halten konnte. Aber was soll denn dies, Herr Kollege Lutz? Wir sprechen von einer Arbeitszeitregelung und nicht, Herr Kollege Dreßler, wie Sie gesagt haben, von einer Arbeitszeitverkürzung.
Deswegen bitte ich, einmal vernünftig zu überlegen, wohin wir wollen. Es gibt sehr viele Betriebe, die jetzt deswegen Kurzarbeit machen, weil sie hoffen, daß sie demnächst ihre ganze Belegschaft wieder beschäftigen können. Wäre Ihr Entwurf schon
Gesetz, dann müßten diejenigen, die Überstunden leisten, um einen Vorlauf zu bekommen, dann, wenn der übrige Betrieb arbeitet, frei nehmen, weil sie über acht Stunden gearbeitet haben. Sie haben gesagt, wer über acht Stunden arbeitet, muß dies tun.

(Lutz [SPD]: Das ist aber verräterisch!)

— Herr Kollege Lutz, was ist denn hier verräterisch? Es gibt eine Arbeitszeitordnung für die Fernfahrer. Da ist eine Lenk- und eine Schichtzeit festgelegt. Es wäre interessant gewesen, Sie hätten gefragt, wie das dort läuft. Da wird eine Beladung verzögert. Der Fahrer hat noch Lenkzeit. Aber seine Schichtzeit ist unterwegs auf der Heimfahrt zu Ende. Der Mann muß 80 Kilometer vor seinem Heimatort seinen Lkw an die Seite stellen, seine Frau zu Hause anrufen und sagen: „Hol mich bitte ab. Ich darf nicht mehr fahren. Das ist gegen das Gesetz."

(Lachen und Zurufe von der SPD) — So ist es doch! So ist Ihr Gesetz!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich!


(Anhaltende Zurufe von der SPD)

— Herr Lutz, so ist es, wenn man Ihnen vorführt, wie sich Gesetze, die Sie gemacht haben, tatsächlich auswirken. Meine Damen und Herren von der SPD, das Schlimme ist, daß Sie nie sachlich sein können. Von Ihnen kommt Polemik und sonst nichts.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Herr Kollege Lutz, Sie fordern weiterhin in § 12 Ihres Gesetzentwurfes zwölf Stunden ununterbrochene Ruhezeit. Ich begrüße dies, ich finde es hervorragend! Wie verhalten Sie sich aber dann, wenn in dieser ununterbrochenen Ruhezeit von zwölf Stunden ein Mitarbeiter durch Nebentätigkeit einen Unfall erleidet? Dann muß der Betrieb, der ihn beschäftigt, Lohnfortzahlung leisten. Das sind die Regelungen, die Sie bringen!

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Leber)

Ich sage Ihnen, Herr Kollege Lutz und Herr Kollege Bindig, und damit sind wir direkt auf unserer Ebene: Ein Betriebsrat eines Großbetriebes hat mir einen Brief geschrieben: Herr Kolb, verhindern Sie, wo immer es geht, den Arbeitszeitentwurf der SPD!

(Bindig [SPD]: Er hat genau das Gegenteil geschrieben! Sie können nicht lesen!)

— Entschuldigen Sie, der Betriebsrat hat das getan,

(Lachen und weitere Zurufe von der SPD) und zwar deswegen — —


(Bindig [SPD]: Den Brief vorlesen! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Weshalb diese Aufregung, meine Herrschaften?
— Er hat es deswegen getan, weil er anscheinend seine Mitbestimmung und Mitverantwortung nicht
8430 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Kolb
mehr wahrnehmen darf. Die SPD sieht sich nicht in der Lage, dem Betriebsrat das Recht zu geben, selbst zu entscheiden, ob in diesem Betrieb die Arbeit auf andere verteilt werden kann oder 'Oberstunden notwendig sind.

(Anhaltende Zurufe von der SPD)

— Herr Kollege Lutz, ich würde an Ihrer Stelle einmal zur Tribüne hinaufschauen! Was denken denn die Leute dort von Ihnen als Parlamentarier? Die müssen Sie doch als einen Lausbuben ansehen.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Entschuldigen Sie, wenn ich das einmal so hart sage.

(Zurufe von der SPD)

Herr Lutz, ich muß Sie jetzt einmal folgendes fragen.

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913626500
Herr Kollege, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen! Es ist hier nicht üblich, daß sich ein Redner am Pult auf die Zuschauer auf der Tribüne bezieht. Das haben Sie eben getan. Ich weiß nicht, ob ich nach der Geschäftsordnung in bezug auf Sie darauf reagieren sollte. Auf jeden Fall haben die Zuschauer auf der Tribüne dies aufgegriffen und haben eben zu Ihrer Rede Beifall geklatscht. Das ist nicht zulässig. Meine Damen und Herren auf der Tribüne, ich bitte Sie, von Äußerungen des Beifalls oder des Mißfallens abzusehen.

(Lutz [SPD]: Er ist aber schuld!)


Elmar Kolb (CDU):
Rede ID: ID0913626600
Herr Kollege Lutz, jetzt frage ich Sie aber doch: Wie ist das in einem Kleinbetrieb, in einer Konditorei? Schauen Sie, jetzt zur Weihnachtszeit ist dort eben mehr Bedarf da; es werden mehr Kuchen gebraucht. Der Konditor ist elf Monate normal beschäftigt; im zwölften Monat soll er mehr leisten. Wenn er dies tut, sieht Ihre Regelung vor, daß er im Januar freizunehmen hat, ob er das will oder nicht. Ihr Gesetzentwurf sagt: Er hat mehr als acht Stunden gearbeitet, und deswegen muß er freinehmen. Ich weiß nicht, wohin wir damit kommen.
Mein Kollege Günther hat bereits gesagt — deswegen muß ich nicht näher darauf eingehen —, daß Ihre Vorstellung darin besteht, das Gewerbeaufsichtsamt und das Arbeitsamt einzuschalten. Dann gibt es zwar keine Genehmigung, aber die Arbeit soll gemacht sein!
Ich kann Ihnen ein Beispiel aus persönlicher Erfahrung nennen. Größere Betriebe wie etwa Stadtwerke halten sich Subunternehmer, damit sie selbst Ihre Vorstellungen verwirklichen können und die unangenehmen Arbeiten von anderen erledigt werden. In meinem Betrieb mußten im letzten Jahr am Heiligen Abend vier Mann einen Rohrbruch beseitigen; am 1. Weihnachtsfeiertag mußten sie die Straße wieder zumachen, damit die wieder befahrbar war. Nach Ihren Vorstellungen hätten sie am ersten und am zweiten Werktag, als sie wieder zu arbeiten hatten, freizunehmen gehabt, weil es nicht
möglich war, dies zu bezahlen. Die Leute in meinem Betrieb sind bereit, diese Arbeit zu leisten, nur mit einem Unterschied: Sie möchten, wenn sie ihre Überstundenzuschläge bekommen, nicht vom Finanzamt balbiert werden.
Meine Damen und Herren, eine letzte Berner-kung zu der Frage, weshalb Überstunden gemacht werden. Glauben Sie eigentlich, Herr Kollege Lutz, daß in einem Betrieb Überstunden aus Jux und Tollerei angeordnet werden? Überstunden kosten 25 % Zuschlag, dazu kommen noch einmal 80 % Lohnnebenkosten. Das bedeutet, das Produkt ist bei einem hälftigen Lohnanteil um 20 % teurer. Was soll denn das? Glauben Sie, man könnte ohne weiteres 20 mehr absetzen?
Herr Kollege Lutz, deswegen stimme ich mit dem Kollegen Günther überein: In einigen Punkten war Ihr Vorschlag richtig, aber Sie haben gleich wieder kräftig Ideologie mit hineingemixt, weil Sie nämlich etwas ganz anderes wollten. Sie wollten einen Schaufensterantrag für diese Wahl. Sie wollten draußen sagen: Wir wollen etwas. Ob es funktioniert oder nicht, ist nicht Ihre Frage. — Herzlichen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913626700
Als nächster Redner hat der Abgeordnete Cronenberg das Wort.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID0913626800
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitzeitordnung des Deutschen Bundestages, die Vereinbarungen der Geschäftsführer untereinander, lassen mir hier nur ganz wenige Minuten Zeit. Hier ist sozusagen, Kollege Lutz, die Arbeitszeitverkürzung für den einzelnen Redner so optimiert, daß ich keine grundsätzlichen Ausführungen mehr machen kann. Das hat Graf Lambsdorff heute morgen, so meine ich, getan.

(Immer [Altenkirchen] [SPD]: Echte Arbeitszeitverkürzung! — Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Er hat nur polemisiert, nichts zur Sache gesagt!)

Ich möchte nur noch ein paar Feststellungen treffen, damit die Verhältnisse auch unter uns klar sind. Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß die Arbeitszeitordnung einer Novellierung bedarf. Dies haben wir früher gesagt, dies sagen wir heute, und dies werden wir auch demnächst sagen, solange es nicht geschehen ist.

(Zurufe von der SPD)

Das Ziel der Novellierung allerdings, die Arbeitszeitordnung als Instrument zur generellen Arbeitszeitverkürzung zu ge- oder nach meiner Auffassung zu mißbrauchen, billige ich nicht, habe ich nicht gebilligt und werde ich nicht billigen, und zwar auch auf Grund meiner Erfahrungen im Unternehmen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Dreßler, Sie haben sich dagegen gewehrt, daß hier jemand die Erklärung abgegeben
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8431
Cronenberg
hat, dieser Antrag sei ein Stück Wahlkampf, ein Schauantrag. Ist es denn eigentlich so unzüchtig, seine politische Meinung in Form eines Antrags diesem Hause in der erklärten Absicht vorzulegen, damit Wahlkampf zu führen?

(Frau Dr. Timm [SPD]: Wir meinen das doch ernst! Wir nehmen das seit fünf, sechs Jahren ernst!)

Ich finde, das ist das Normalste vom Normalen, und ich finde das überhaupt nicht unzüchtig.
Sie, Herr Kollege Dreßler, haben gesagt, Sie handelten in dieser Frage konsequent. Ich bescheinige Ihnen, daß Sie in dieser Frage in der Tat konsequent handeln und in den Verhandlungen mit uns zu keinem Ergebnis gekommen sind.

(Frau Dr. Timm [SPD]: So ist es!)

Bitte bescheinigen Sie uns dann auch, daß wir in unserer Einstellung ebenso konsequent gewesen sind, indem wir diese Novellierung weder für sinnvoll noch für zweckmäßig gehalten haben.
Lassen Sie mich die Argumente noch einmal kurz vortragen. Ich persönlich habe mir — das möchte ich bei der Gelegenheit hier noch einmal wiederholen, und einige der Kollegen, die hier sitzen, wissen das — große Mühe gegeben, mit dem Kollegen Buschfort zu Ergebnissen zu kommen, die unter Ausschluß der Zielsetzung einer generellen Arbeitszeitverkürzung möglich waren.

(Zurufe von der SPD)

Lassen Sie mich noch einige Feststellungen treffen. Wir leugnen nicht den Zusammenhang zwischen technischer und technologischer Entwicklung einerseits und Arbeitszeit andererseits. Selbstverständlich hat technische Entwicklung zur Folge, daß Arbeitszeitverkürzungen durchgeführt werden können. Die Frage ist nur, ob, wenn wir so verfahren, wie hier vorgeschlagen wird, der Schaden größer als der Nutzen ist.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Für wen?)

Da sind wir in der Tat der Meinung, daß der Schaden erheblich größer als der Nutzen ist. Wir können und dürfen gerade die mittelständische Industrie, die noch unsubventionierte Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, nicht durch eine Überstundenregelung in ihrem Verhalten behindern, so daß im Ergebnis Arbeitsplätze vernichtet und nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, so daß also genau das Gegenteil des Beabsichtigten geschieht, indem mögliche Arbeit verhindert wird. Nichts schafft mehr Arbeit als Arbeit und die Chance, arbeiten zu dürfen. Wir treten dafür ein, die Chance, arbeiten zu können und zu dürfen, nicht durch bürokratische Hemmnisse zu verkleinern.
Meine verehrten Kollegen, mit den gleichen Argumenten, die ich damals vorgetragen habe, mache ich Sie hier noch einmal darauf aufmerksam, daß es natürlich zwischen dem Überstundenverbot, das Sie anstreben, und dem Kündigungsschutz, wie wir ihn im Lande praktizieren, einen nicht zu leugnenden Zusammenhang gibt. Hätten Sie diesen Kündigungsschutz nicht, würde diese Diskussion anders geführt werden.
Der Kollege Hermann Rappe, der neue Vorsitzende der IG Chemie, hat sich zu diesem Thema häufig außerordentlich sachverständig und gemäßigt geäußert. Er leugnet nicht, daß es einen Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung und Kosten gibt. Aus seiner Position heraus leugnet er diesen Zusammenhang nicht nur nicht, sondern macht ihn sogar zur Grundlage seiner Tarifüberlegungen. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich feststellen, daß der Zusammenhang zwischen Lohnkosten, Überstundenkosten — die ein Produkt ja teurer machen —, Wettbewerbsfähigkeit und möglicher Arbeitszeitverkürzung eine selbstverständliche Voraussetzung für die Diskussion über dieses Thema überhaupt ist.
Verehrte Kollegen von der SPD, Ihr Entwurf ist zur Erreichung des angestrebten Zieles genauso untauglich, wie es Ihre Vorschläge in den Koalitionsverhandlungen in der Vergangenheit gewesen sind. Bitte nehmen Sie mir ab: Ich sage dies nicht aus Halsstarrigkeit, nicht aus dem Wunsche heraus, mögliche Arbeit zu verhindern oder die Schaffung von Arbeitsplätzen zu verhindern, wie Sie meinen. Sie schaffen mit Arbeitszeitverkürzungen keinen zusätzlichen Arbeitsplatz. Sie bringen mit diesem Verteilungsmechanismus nicht zusätzlich Leute in Arbeit und Brot.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Genau das Gegenteil geschieht. Das ist das Motiv für unser Handeln. Wenn wir Ihnen bescheinigen, daß Sie in Ihrer — unserer Auffassung nach falschen — Argumentation konsequent sind, dann bescheinigen Sie uns bitte ebenfalls solche Konsequenz!

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Falsche Einsicht!)

Hoffen und wünschen wir, daß die mittelständische Industrie in der Lage ist, soviel Arbeit zu haben, daß sie im Rahmen des gesetzlich Möglichen Überstunden fahren kann!

(Kolb [CDU/CSU]: Schön wär's!)

Das wäre der Beweis dafür, daß Betriebe vorhanden sind, die Steuern erwirtschaften, nicht aber, wie es in der Stahlindustrie und im Kohlebereich der Fall ist, Steuern kosten. Das wäre mein Wunsch.
Wenn es um die Regelung der übrigen Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitszeitordnung geht, so werden Sie in uns, insbesondere in mir — wie in der Vergangenheit — einen offenen und gesprächsbereiten Partner finden können. — Herzlichen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913626900
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID0913627000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will am Ende dieser Diskussion nur wenige
8432 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Bundesminister Dr. Blüm
Bemerkungen machen. Mit mir können Sie über Arbeitszeitverkürzungen reden, natürlich! Ich habe nichts von dem zurückzunehmen, was ich gesagt habe.

(Bindig [SPD]: Packen wir es an!)

Ihr Gesetz hat doch aber wenig mit Arbeitszeitverkürzung zu tun. Es ist lediglich ein Reglementierungsgesetz für vorhandene Arbeitszeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen das an wenigen Beispielen nachweisen.
Sie verkünden hier die 40-Stunden-Woche als großen sozialpolitischen Fortschritt. Sie stellen es so dar, als sei dieser Fortschritt von diesem Gesetz abhängig. Sie beschämen damit die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben die 40-Stunden-Woche längst durchgesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie brauchen doch nicht Ihr Gesetz dafür. 96% der Arbeitnehmer haben die 40-Stunden-Woche. 4 % haben sie nicht. Jetzt will ich Ihnen noch sagen, wo die 4 % zu suchen sind: hauptsächlich beim Fahrpersonal. Genau das Fahrpersonal aber soll von diesem Gesetz nicht erfaßt werden. Ich frage mich, ob das nichts anderes ist als Etikettenschwindel,

(Beifall bei der CDU/CSU)

nichts anderes als ein Korsett, das noch nicht einmal etwas zusammenhält.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Witzbold!)

Wenn es darum geht, Arbeitszeit anders zu verteilen, anders anzuordnen, sind wir als Gesetzgeber, wie ich finde, völlig überfordert. Das können die Betriebsräte und die Tarifpartner sehr viel besser. Der Betriebsrat ist sehr viel besser geeignet, zu bestimmen, ob Überstunden unerläßlich sind oder nicht gemacht werden sollen. Ihr Gesetz ist nichts anderes als in Paragraphenform gebrachtes Mißtrauen gegen Betriebsräte.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lebhafter Widerspruch bei der SPD)

Dem schließe ich mich nicht an.
Ein zweiter Punkt. Wenn Sie schon die 40-Stunden-Woche gesetzlich festlegen wollen, müssen Sie auch eine wichtige Frage — das haben Sie vergessen — beantworten: mit Lohnausgleich oder ohne Lohnausgleich? Das sagen Sie in diesem Gesetz nicht. Das kann in einem Gesetz auch gar nicht gesagt werden. Das können und müssen die Tarifpartner machen. Es ist auch deshalb wichtig, daß es die Tarifpartner machen, weil Arbeitszeit und Einkommen etwas miteinander zu tun haben. Denselben Kuchen kann man nicht zweimal essen. Was man bei der Arbeitszeit weggenommen hat, kann man nicht auch in der Lohntüte haben. Im übrigen ist das gar keine neue Erkenntnis. So haben Gewerkschafter immer gehandelt.
Wenn das aber so ist, dann muß das doch unter einem Dach geregelt werden. Dann kann es doch nicht so sein, daß der Gesetzgeber die Arbeitszeit
regelt und die Tarifpartner das Einkommen regeln. Dann müssen die beides zusammen machen, damit das miteinander verrechnet werden kann.

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913627100
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler?

Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID0913627200
Bitte schön.

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913627300
Bitte sehr.

Rudolf Dreßler (SPD):
Rede ID: ID0913627400
Herr Kollege Blüm, Sie haben soeben gesagt, unser Gesetzentwurf sei ein Mißtrauen gegen die Betriebsräte. Ist Ihnen wirklich unbekannt, Herr Minister, daß seit 1976, seit die Sozialdemokraten in diesem Hause begonnen haben, für ein neues Arbeitszeitgesetz zu werben, Tausende von Betriebsräten gerade dieses Gesetz immer wieder gefordert haben?

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Aber nicht so!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID0913627500
Möglicherweise haben die Betriebsräte geglaubt, es könne über dieses Gesetz ihrem Anliegen Gerechtigkeit widerfahren, daß Arbeitszeiten verkürzt werden. Aber in Wirklichkeit wird ihnen das Mitbestimmungsrecht bei Überstundengenehmigung genommen. Das ist offensichtlich das Hauptziel Ihrer Arbeitszeitregelung.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

In der Tat: Das Gewicht liegt auf der Verteilung und Anordnung von Arbeitszeit.

(Bindig [SPD]: Das ist eine schwache Antwort!)

Und daraus jetzt zu schließen, weil wir gegen diese Reglementierung sind, seien wir für die Arbeitslosigkeit, verehrter Herr Kollege Dreßler, also das ist nun wirklich zu weit hergeholt. Das ist so ähnlich wie die Behauptung: Wenn einer gegen die Änderung von Besuchszeiten im Krankenhaus ist, ist er für Krankheit.

(Kolb [CDU/CSU]: Ein Flop war das!)

Sie werden doch so einen Schluß nicht ziehen können. Weil wir gegen Reglementierung sind, sind wir doch nicht für Arbeitslosigkeit. Wir sind wie Sie für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Allerdings, ich gebe zu, wir glauben, daß es da nicht ein Mittel gibt, ein Patentrezept, sondern nur ein Programm der tausend Schritte: Wachstum, Investitionen, berufliche Bildung.

(Bindig [SPD]: Das waren erst drei Schritte!)

Sicher muß auch die Arbeitszeit ihren Beitrag leisten. Aber wir sollten diesen Beitrag verbinden mit einem Humanisierungsprogramm und mehr Selbstbestimmung für den einzelnen Arbeitnehmer, wann er in Pension geht. Das verbindet Arbeitszeitverkürzung mit dem Selbstbestimmungswillen des Arbeitnehmers, selber das Datum zu entscheiden, an dem er Arbeitszeitverkürzungen in Anspruch nimmt.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8433
Bundesminister Dr. Blüm
Flexible Arbeitszeit! Muß denn alles so starr und stur bleiben, wie wir es seit 200 Jahren gewohnt sind? Können wir nicht wieder Lebensrhythmus und Arbeitsrhythmus besser miteinander verbinden? Heute ist es doch so, daß die Menschen am Ende des Erwerbslebens wie Maschinen abgestellt werden. Können wir nicht versuchen, uns wieder etwas sachter dem Ruhestand zu nähern? Dem alten Bauern früherer Zeiten und auch heutiger Zeit fällt es nicht ein, von heute auf morgen aus seiner Erwerbstätigkeit auszuscheiden. Er zieht sich Schritt für Schritt zurück. Können wir nicht auch den technischen Fortschritt nutzen,

(Zuruf des Abg. Immer [Altenkirchen] [SPD])

um die Übergänge von einer Lebensphase in die andere wieder etwas sachter zu gestalten? Ist es nicht besser, ein Programm von Teilzeit auch als Wahlmöglichkeit anzubieten? Warum zwingen Sie den, der nicht acht Stunden arbeiten will, zu acht Stunden? Warum soll der nicht mit vier Stunden zufrieden sein?
Ich will die Verkürzung der Wochenarbeitszeit nicht ausschließen. Nur glaube ich: Bevor Sie mit der großen Dampfwalze der Wochenarbeitszeitverkürzung über die deutsche Landschaft, über die deutsche Wirtschaft fahren, vergessen Sie nicht, daß es Bäcker, Metzger, Schreiner gibt, die, wenn die Wochenarbeitszeit um zwei Stunden verkürzt wird, keinen Vierten einstellen, wenn die Drei zwei Stunden weniger arbeiten. Entweder müssen die Drei zwei Stunden länger oder ein bißchen schneller arbeiten, oder der Bäcker macht zu. In allen drei Fällen ist das weder im Sinn der Arbeitnehmer noch im Sinn der Unternehmer und der Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit anderen Worten: Ich bleibe beim Programm der Arbeitszeitverkürzung. Ich halte es nur für ungeeignet, daß wir mit gesetzlichen Reglementierungen, mit Erstarrungen die deutsche Wirtschaft noch mehr verkalken lassen, als sie sowieso schon in Gefahr ist zu verkalken.
Eines weise ich noch zurück. In der Tat, wir haben einen Teil des technischen Fortschritts verschlafen und damit auch Arbeitsplätze gefährdet. Ihre Nachfragepolitik gibt doch gar nicht die Garantie, daß die Nachfrage hier im Binnenmarkt landet. Die landet möglicherweise in Japan, Taiwan oder sonstwo; und keine deutsche Arbeitskraft ist daran beteiligt, diese Produkte herzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Als letztes komme ich zu den 16 Milliarden, die Sie mir als Vorwurf, wie unsozial ich sei, hier vorgeführt haben. Lieber, verehrter Herr Kollege Dreßler, diese Regierung hat uns so viele Schulden hinterlassen. Sie hat uns veranlaßt, in diesem Jahre zusammen 25 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt allein für Zinsen zu zahlen — allein für Zinsen 25 Milliarden DM! Jetzt frage ich Sie: Wer hat die Zinsen in Empfang genommen, die von den Steuerzahlern finanzierten Zinsen, die von den Arbeitnehmern finanzierten Zinsen? Weder die Rentner noch die Sozialhilfeempfänger, sondern diejenigen, die sich Bundesschatzbriefe kaufen konnten. 61 % sind bei den Banken gelandet. — Solange Sie nicht von Ihrer Schuldenpolitik Abschied nehmen, machen Sie uns keine Vorwürfe, wir würden eine Politik gegen die Arbeitnehmer betreiben!

(Beifall bei der CDU/CSU)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913627600
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Collet.

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913627700
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Als der Kollege Blüm

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Der Herr Minister, bitte!)

— ich habe ihn jetzt als Kollegen, als Gewerkschafter, angesprochen — Minister wurde

(Zuruf von der SPD: Das war eine gute Kurve!)

hatte ich gehofft, daß er in manchen Fragen, in denen wir mit dem Grafen Lambsdorff unsere Schwierigkeiten hatten, mit uns auf einer Linie läge. Ich weiß genug von Kabinettdisziplin, um von Ihnen, Herr Minister, nicht zu erwarten, daß Sie aus der Reihe tanzen. Mir war es als Mitglied einer Koalition 13 Jahre schwer genug, aus Disziplin gegenüber dem Kabinett zu dem, was Lambsdorff gesagt hat, immer still zu sein. Ich verstehe also, daß Sie nicht gegen irgend etwas reden, was da vereinbart wurde. Aber wenn Sie das in der Form, zum Teil polemisch, vortragen, wie Sie es getan haben, bin ich angesichts meiner Einschätzung von Ihnen sehr enttäuscht. Wenn Sie ein Stück Ihrer Polemik — um nicht noch einen härteren Ausdruck zu verwenden — wegließen und das, worin Sie mit dem Grafen nicht übereinstimmen, unterdrückten, verstünde ich das noch, aber die Art und Weise, wie Sie das in letzter Zeit machen, muß wirklich — jetzt spreche ich als Gewerkschafter — jeden Gewerkschafter enttäuschen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wahrheit tut weh! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: „Jeden" ist zu anmaßend!)

Sie haben durch die Sprecher der CDU hier vortragen lassen, es gehe um Wahlkampf, und führen aus, wer dies 13 Jahre lang nicht zustande gebracht habe, brauche jetzt vor dem Wahlkampf nicht eine Schau zu machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!)

— Wenn Sie Beifall geben, bekunden Sie damit Nichtwissen, Herr Kollege; denn Sie wissen doch, daß die Frage der Arbeitszeitordnung Gegenstand der Koalitionsverhandlungen von 1976 und 1980 war.

(Zuruf von der CDU/CSU: Mit welchem Ergebnis?)

— Mit dem Ergebnis, daß der, den Sie als den Oberwirtschaftsminister übernommen haben, uns daran
8434 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Collet
gehindert hat, weil andernfalls die Koalition nicht zustande gekommen wäre. Das war das Ergebnis.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Bei uns gibt es keinen Oberwirtschaftsminister! — Pohlmann [CDU/CSU]: Sie haben nichts Vernünftiges vorgelegt! Das war das Entscheidende!)

In einem allerdings muß ich dem Grafen Lambsdorff recht geben, so wenig ich das sonst kann:

(Bindig [SPD]: Lieber nicht!)

Er ist sich treu geblieben. Aber ich muß heute nicht mehr stillhalten, wenn er mit so lapidaren Formulierungen, „falsch", „ungeeignet" und „kurzatmig", einfach feststellt, daß er recht habe, ohne zu begründen, wie sich welche Maßnahme auswirkt.
Er hat das Beispiel des Hamburger Hafens gebracht. Das war auch alles. Über Ausnahmeregeln ist mit uns zu verhandeln. Aber das kann nicht geschehen, ohne daß dies vorher begründet wird. Auch keiner der Redner hat das hier dargelegt. Auch über den Konditor kann man reden, Herr Kolb. Über all das kann man im Hinblick auf Ausnahmerecht reden.

(Kolb [CDU/CSU]: Das steht doch drin! — Pohlmann [CDU/CSU]: Wir können doch nicht für die ganze mittelständische Wirtschaft eine Ausnahme machen!)

Ich kann im Moment nicht absehen, ob man darüber reden muß. Es fehlt sicherlich nicht an unserer Bereitschaft, Kolleginnen und Kollegen von der Union, miteinander über irgendeine Einzelfrage zu reden, darüber, ob man da eine Ausnahme finden kann, wo sie notwendig ist.
Ich sage also: Der Graf Lambsdorff ist sich treu geblieben, Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren. Diese Koalition besteht formal zwar erst seit dem 1. Oktober, aber in Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik besteht sie in der Praxis doch seit der Wahl 1980.

(Beifall bei der SPD)

Was wir letztlich dem Grafen in der Vergangenheit bei Vereinbarungen abgehandelt hatten, hat dann die andere Hälfte der jetzt neuen Koalition mit Mehrheit im Bundesrat kaputtgemacht. Ich darf ja heute sagen — ich sage das ganz ruhig und bedächtig —: Sie haben in den letzten Jahren — und bei Ihrem Handeln nach dem 1. Oktober kann ich sagen: wider besseres Wissen — im Bundesrat und hier Politik zum Schaden der Menschen und dieses Landes gemacht.

(Zurufe von der CDU/CSU: Ein dicker Hund! Unerhört! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich beweise das gleich.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Ich beweise das, meine Damen und Herren. Ich habe gesagt: wider besseres Wissen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Erstens. Sie sind nach Karlsruhe gelaufen, um uns wegen der Schulden zu verklagen, und Sie haben im Haushalt 1983 13 Milliarden DM Schulden mehr eingestellt, als die alte Regierung vorgesehen hatte.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Zweitens. Sie haben, obwohl Sie sie für notwendig gehalten haben — denn Sie tun es ja jetzt —, die Mehrwertsteuererhöhung zu einem Zeitpunkt abgelehnt, wo es noch hilfreicher gewesen wäre, etwas zu tun durch Beschlußfassung in der Planung. Jetzt tun Sie es. Also haben Sie wider besseres Wissen gehandelt.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Drittens. Sie haben die Ergänzungsabgabe abgelehnt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Sie geben dem Ding jetzt einen anderen Namen. Sie hatten und haben die Erkenntnis, daß diese Mittel notwendig sind. Von uns war das schon vorgeschlagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie heißt eigentlich das Thema? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Und jetzt werfen Sie uns vor, daß wir hier eine Wahlkampfschau machen, obwohl es sich um eine Vorlage handelt, die bei uns seit Jahr und Tag auf dem Tisch liegt und nur wegen der geheimen Koalition vor dem 1. Oktober und der jetzt legalisierten Koalition nach dem 1. Oktober hier keine Mehrheit finden konnte.

(Zuruf des Abg. Kolb [CDU/CSU] — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich darf jetzt noch einmal auf diese Fragestellung eingehen. Wenn es nur um die 4 % geht, von denen hier die Rede ist, Herr Minister Blüm: Ist Ihnen nicht bekannt, daß die Addition der geleisteten Überstunden des Jahres 1980 — ich weiß, daß man nicht so rechnen darf,

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Aber Sie rechnen trotzdem so!)

aber ich will wenigstens mal die Zahlen bekanntgeben — umgerechnet 1,2 Millionen Arbeitsplätze ergeben hätte?

(Pohlmann [CDU/CSU]: Blanke Theorie!)

— Einen Moment, ich rechne Ihnen das vor. Ich habe mir vom Wissenschaftlichen Dienst und hier in der Fragestunde die Zahl der Überstunden geben lassen, die geleistet worden sind. Wenn man die Überstundenzahl durch 2 080 teilt — das heißt 40 Stunden mal 52 Wochen —, dann kommen diese 1,2 Millionen Arbeitsplätze heraus.

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913627800
Herr Kollege Collet, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Cronenberg?

Hugo Collet (SPD):
Rede ID: ID0913627900
Wenn ich den Satz oder diesen Gedanken fertig habe. — Das heißt doch, daß diese Menschen so viele Überstunden gemacht haben, daß sich daraus diese Zahl von Arbeitsplätzen erge-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8435
Collet
ben hätte. Ich gehe davon aus, daß ein großer Teil von Überstunden unvermeidbar ist, weil es sich um ein Stoßgeschäft handelt, weil ein plötzlicher Auftrag vorliegt oder es irgendeine Schichtgeschichte und dergleichen ist. Wenn man dieses Gesetz schon gehabt hätte, vielleicht im Wege des Kompromisses auch mit Ausnahmeregelungen, gehabt hätte, dann wäre ein Drittel der Überstunden weggefallen; dann ist die von meiner Fraktion vorgelegte Zahl von 150 000 bis 200 000 recht gering. Das wären für 1980 400 000 Arbeitsplätze mehr gewesen.

(Kolb [CDU/CSU]: Sie hätten doch keine Leute gekriegt!)

— Ich bitte Sie, jetzt nicht nur in Abwehr zu gehen. Ich unterstelle ja, daß auch Sie helfen wollen, daß Arbeitsplätze entstehen. Machen Sie nicht nur Zwischenrufe! Denken Sie wenigstens mal mit, und lehnen Sie hinterher ab! Aber versuchen Sie jetzt, den Gedanken aufzunehmen!
Als wir 1980 nach der Wahl in der Koalitionsverhandlung darüber gesprochen haben und diese Diskussion auch öffentlich wurde, haben die Arbeitgeberverbände reagiert und gesagt: Wir müssen diese Überstunden machen, weil wir keine Facharbeiter bekommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn die schon drei, vier, fünf Jahre sagen, sie bekämen keine Facharbeiter, dann ist doch wohl ihre Lehrwerkstätte zu klein. Dann müssen sie sich doch den eigenen Nachwuchs ziehen, den sie brauchen.

(Cronenberg [FDP]: Das stimmt einfach nicht!)

— Es stimmt. — Warum ist es heute noch so, daß ein Teil des Handwerks die Lehrlinge für Industriebetriebe nachzieht? Weil die Industriebetriebe selber keine ausbilden.

(Beifall bei der SPD)

Und dann sagen sie, sie hätten keine Facharbeiter! Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist doch kompletter Unsinn.
Ich sage noch einmal: In meinem Wahlkreis — Pirmasens-Zweibrücken — gibt es vier Betriebe, drei davon Metallbetriebe, die nichteinmal als Stoßgeschäft, sondern seit Jahr und Tag wöchentlich nicht eine oder zwei, sondern fünf und sechs Überstunden leisten. Das ist doch einfach nicht erträglich, wenn andere arbeitslos sind.
Und da meinen Sie, dies sei ein Schauantrag. Ich bitte Sie jetzt einmal unabhängig vom politischen Streit und unabhängig von der offiziellen Antwort, die hier wegen der Öffentlichkeit gegeben wird, diese Frage bei Ihnen ernsthaft zu diskutieren. Wir müssen von der Konfrontation, die es auf Ihrer Seite gibt — überwiegend, nicht alle —, abkommen, die da heißt: Nur die Wirtschaft kann das Problem durch ihre Investitionen lösen. Wir haben gesehen, daß das in Großbritannien und in den USA, wo es die größten Arbeitslosenzahlen gibt, nicht funktioniert. Dann gibt es noch die andere Position: Nur öffentliche Investitionen können das Problem lösen. Eine dritte Position lautet: Das ist nur mit Arbeitszeitverkürzung zu machen. Alle drei Positionen müssen als Mischung helfen, das Arbeitslosenproblem zu lösen.
Ich hätte mich nicht außer der Reihe gemeldet, wenn mich das nicht so ernsthaft beschäftigen würde. Aber ich bitte Sie dringend: Denken Sie alle darüber nach! Vor allem sollte das der Herr Bundesarbeitsminister tun. Insofern liegt er mit seinen 4 %, nachdem ich ihm die Zahlen von 1980 bezüglich der geleisteten Überstünden gegeben habe, einfach falsch. Hier muß der Einstieg erfolgen. Wir können nicht ständig nur in den drei Positionen der drei verschiedenen Ideologien denken: Investitionen der Wirtschaft oder öffentliche Investitionen oder Arbeitszeitverkürzung. Keine Position allein kann das Problem lösen. Wir müssen dies miteinander machen.
Dann kam der Herr Wirtschaftsminister auf alle möglichen Themen. Als ob Arbed Saarstahl mit dieser Frage etwas zu tun hätte! Es werden Ausweichthemen diskutiert und dabei reden wir aneinander vorbei.
Ich bitte herzlich darum, anzuerkennen, daß die Frage der Arbeitszeitordnung zu einer gewaltigen Reduzierung der Überstunden führt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir das über die Grenzen der Parteien hinweg schaffen würden.

(Beifall bei der SPD)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913628000
Meine Damen und Herren, zu Tagesordnungspunkt 4 liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Abgeordneten Rohde, Glombig, Lutz und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD auf Drucksache 9/2196 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit- und Sozialordnung, zur Mitberatung an den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu überweisen. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist entsprechend beschlossen.
Meine Damen und Herren, nach einem zwischen den Fraktionen herbeigeführten Einvernehmen weiche ich nun von der vorgesehenen Reihenfolge des Aufrufs der Tagesordnungspunkte ab.
Ich rufe jetzt zunächst den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Fischer (Osthofen), Dr. Emmerlich, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Gnädinger, Klein (Dieburg), Dr. Klejdzinski, Lambinus, Schmidt (München), Dr. Schöfberger, Dr. Schwenk (Stade), Stiegler, Dr. Ueberschär, Dr. Schmude, Dr. de With, Dr. Linde, Börnsen und der Fraktion der SPD Nichtigkeit der Entscheidungen der als „Volksgerichtshof" und „Sondergerichte" bezeichneten Werkzeuge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
— Drucksache 9/2244 —
Das Wort wird dazu nicht gewünscht.
8436 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Vizepräsident Dr. h.c. Leber
Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Rechtsausschuß vor. Ist das Haus mit der vorgeschlagenen Überweisung einverstanden? — Wie ich sehe, wird dem nicht widersprochen. Dann ist entsprechend beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung rufe ich nun Punkt 8 der Tagesordnung auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
— Drucksache 9/1598 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuß)

— Drucksache 9/2221 —
Berichterstatterin:
Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer

(Erste Beratung 103. Sitzung)

b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Abgabe von Fütterungsarzneimitteln in der Gemeinschaft
— Drucksachen 9/1349 Nr. 1, 9/2209 —
Berichterstatterin:
Frau Abgeordnete Dr. Neumeister
Wird von den Berichterstattern das Wort gewünscht? — Das Wort hat Frau Dr. Adam-Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID0913628100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist darauf hinzuweisen, daß in der Drucksache 9/2221 auf Seite 9 eine Berichtigung erforderlich ist. § 56 Abs. 5 Nr. 2 — das ist Nr. 16 — ist vom Ausschuß nicht unverändert in der Fassung der Regierungsvorlage beschlossen worden, sondern in der vom Bundesrat vorgeschlagenen Fassung, der auch die Bundesregierung zugestimmt hat. Es darf also nicht heißen „für die in der Packungsbeilage der Arzneimittel-Vormischung", sondern es muß heißen „für die in den Pakkungsbeilagen der Arzneimittel-Vormischungen bezeichneten Anwendungsgebiete".

(Dr. Penner [SPD]: Ist das epochemachend?)

Diese Änderung war vom Bundesrat gefordert worden, um klarzustellen, daß bei der Herstellung eines Fütterungsarzneimittels in begründeten Fällen auch mehr als nur eine zugelassene ArzneimittelVormischung gleichzeitig zum Einsatz kommen kann.
Es handelt sich eindeutig um ein Versehen. Ich bitte, das zu berichtigen. — Vielen Dank.

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913628200
Wird weiter das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Zunächst stimmen wir über das Erste Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes — Drucksache 9/1598 und 9/2221 — ab. Ich rufe die Art. 1 bis 7, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. — Danke sehr. Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind einstimmig angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke sehr. Stimmt jemand dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit auf Drucksache 9/2209. Der Ausschuß empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke sehr. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Entschließung ist mit übergroßer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Pfeifer, Daweke, Dr. Probst, Frau Dr. Wilms, Dr. George, Keller, Rossmanith, Frau Benedix-Engler, Frau Geiger, Nelle, Graf von Waldburg-Zeil, Frau Dr. Wisniewski, Austermann, Dr. Lammert, Lenzer, Frau Hürland, Gerstein, Dr. Laufs, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Waffenschmidt, Dr. Jobst, Dr. Pohlmeier, Dr. Schwörer, Schartz (Trier), Zierer, Kraus, Horstmeier, Müller (Wadern), Frau Dr. Hellwig, Kittelmann, Pohlmann, Dr. Möller, Ganz (St. Wendel), Kroll-Schlüter, Spilker, Sauter (Ichenhausen), Vogt, Müller (Wesseling), Dr. Bugl, Neuhaus, Frau Dr. Wex, Dr. Stavenhagen, Berger (Lahnstein), Dr. Olderog, Repnik, Rühe, Hinsken, Müller (Remscheid) und der Fraktion der CDU/ CSU
Ausbildungsplatzsituation
— Drucksachen 9/1711, 9/1866 —
b) Beratung des Berichts der Bundesregierung zum Stand der Beratungen sowie zum weiteren Verfahren der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförde-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8437
Vizepräsident Dr. h. c. Leber
rung zur Fortschreibung des Bildungsgesamtplans
— Drucksache 9/2012 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
c) Beratung des Berichts der Bundesregierung zu den in der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 1. Oktober 1981 gestellten grundsätzlichen Fragen zur Berufsausbildung
— Drucksache 9/1934 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung der Punkte a bis c und eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann wird entsprechend verfahren.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache und erteile als erster Rednerin der Frau Abgeordneten Benedix-Engler das Wort.

Ursula Benedix (CDU):
Rede ID: ID0913628300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn dieser verbundenen Debatte über die Ausbildungsplatzsituation, den Berufsbildungsbericht und den Bildungsgesamtplan können wir wohl alle mit einer gewissen Erleichterung feststellen, daß zwar die Lage auf dem Ausbildungsplatzmarkt noch nicht völlig entspannt ist, daß in den nächsten zwei bis drei Jahren noch große Anstrengungen erforderlich sind, daß aber die vorausgesagte Katastrophe nicht eingetreten ist.
Ich darf Sie daran erinnern, daß der „Letztaufgebotminister" ja immer von 100 000 Jugendlichen, die unversorgt seien, gesprochen hat; noch im September sprach er von 88 500 Bewerbern ohne Ausbildungsplatz. Hier ist die Frage zu stellen: Warum hat die alte Regierung eigentlich immer wieder so total falsche Zahlen in die Öffentlichkeit getragen? Wo liegen eigentlich Sinn und Nutzen so falscher Prognosen?

(Beifall bei der CDU/CSU — Daweke [CDU/CSU]: Schwarzmalerei!)

Meine Damen und Herren, es wurde gesagt, die Zahl der von der Wirtschaft, vom Handwerk bereitgestellten Ausbildungsplätze sei rückläufig. Wir können heute feststellen: Das Handwerk hat zusätzlich 5,8 % Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt, die Industrie- und Handelskammern 2,2 %. In Nordrhein-Westfalen, wo wir durch die Berufsfachschulen, Berufsgrundschulen einen Stau hatten, haben sie sogar 20,7 bzw. 10% mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt. Das ist ein Zeichen von besonderer Flexibilität.
Es ist also die Frage: Was sollte dieser gesteuerte Pessimismus? Er hat mindestens eines bewirkt: die große Zahl der Mehrfachbewerbungen. Mehrfachbewerbungen, meine Damen und Herren, sind blok kierte Lehrstellen. Sie haben den betroffenen jungen Menschen und deren Familien besondere Zukunftssorgen bereitet. Dies haben Sie zu verantworten.
Wir wissen doch nicht erst seit heute, wie vielfältig die Erfassungsmängel sind. Ich nenne nur: die zeitliche Überlappung, die Mehrfachbewerbung, das Nichtzurückziehen der gestellten Vermittlungsaufträge, Entscheidungen für den Schulbesuch, die man dann nicht meldet, oder auch die fehlende Eignung für die Ausbildung. Eines wußte man doch eigentlich immer sicher: Reale Zahlen würde man erst haben können, nachdem die Befragungen bei den Schülern durchgeführt sind und nachdem die Zahlen der Wirtschaftsverbände vorliegen. Warum haben Sie dieses Spiel mit den unseriösen Zahlen getrieben?
Wir brauchen — damit nehme ich Bezug auf Ihren Entschließungsantrag — also keine neuen Instrumente, sondern wir dürfen Zahlen erst verkünden, wenn sie auch wirklich vorliegen. Meine Damen und Herren von der Opposition, wir brauchen vor allen Dingen Ihren Willen, dann auch bei diesen Zahlen zu bleiben und sie nicht für politische Zwecke zu mißbrauchen bzw. sie zu manipulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn die große Aufgabe der Unterbringung der geburtenstarken Jahrgänge einigermaßen bewältigt worden ist, dann allerdings gebührt am wenigsten der alten Bundesregierung Dank dafür. Denn Sie, die jetzige Opposition, sind es doch gewesen, die in den vergangenen zehn Jahren — ich weiß wirklich, wovon ich spreche — immer wieder mit wechselnden Methoden die Aushöhlung des dualen Systems betrieben haben. Es ist nicht auszudenken, wie der Berufsbildungsbericht heute aussehen müßte, wenn es Ihnen gelungen wäre, die Verantwortung der Wirtschaft abzubauen, ihr Engagement einzuebnen und statt dessen teure staatliche und halbstaatliche Ausbildungseinrichtungen in größerem Umfange zu errichten.

(Zurufe von der SPD)

Wie sähe das wohl heute aus, wo uns dank Ihrer Politik die totale Finanz- und Wirtschaftskrise eingeholt hat? Ich glaube, dieser Bereich ist ein Lehrstück dafür, was Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in schwierigster Zeit leisten können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie dankbar können Sie uns sein, meine Damen und Herren, daß wir gemeinsam mit der Wirtschaft immer Ihren Versuchen widerstanden haben, Bildungs- und Beschäftigungssystem voneinander abzukoppeln. Unser Widerstand hatte den Erfolg, daß wir heute wenigstens in diesem Bereich nicht vor diesen Problemen der Fehlleitungen — Fehlleitungen sind immer fehlgeleitete Zukunftshoffnungen der jungen Menschen — und nicht vor diesen Ausmaßen der Überkapazität wie im akademischen Bereich stehen. Nur deshalb ist der Weg über die berufliche Bildung auch heute noch ein relativ sicherer Weg, der selten in eine Sackgasse führt.
8438 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Frau Benedix-Engler
Meine Damen und Herren, lassen Sie sich zu Ihrem Entschließungsantrag sagen: Was nach 13 Jahren sozialliberaler Politik in dieser tiefen Wirtschaftskrise noch so funktionsfähig ist, das braucht nicht mehr staatlichen Einfluß, das braucht nicht mehr staatliche Programme, und das braucht nicht finanzielle Umverteilung, sondern das braucht Ermutigung, und das braucht eine gewisse Verläßlichkeit des politischen Kurses.
Unsere Regierung, die Koalition der Mitte und die sie tragenden Fraktionen werden uns nicht weiter mit Finanzierungsmodellen beschäftigen. Wir werden nicht die Belastbarkeit der Wirtschaft testen, und wir werden nicht weiter das Damoklesschwert der Drohgebärde einsetzen. Unser Handeln wird nicht darauf gerichtet sein, mehr dirigistische Erfassungs- und Meldesysteme zu errichten; wir werden nicht nach staatlichen Kontrollen rufen. Nein, meine Damen und Herren, dies gehört Gott sei Dank heute alles der Vergangenheit an.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden uns jetzt ganz darauf konzentrieren, die ausbildende Wirtschaft nach Kräften zu unterstützen.

(Kuhlwein [SPD]: Mehr Niveau! Das ist so platt!)

Was heute gefordert ist, ist Phantasie, sind unkonventionelle Methoden. Ich darf Ihnen wegen der Kürze der Zeit nur einige stichwortartig nennen. Wir haben eine Reihe von ausbildungshemmenden Vorschriften gesammelt, und es hat dazu ein Hearing gegeben. Wir werden die einzelnen Vorstellungen und Vorschläge ohne ideologische Scheuklappen prüfen, natürlich ohne den Schutz der jungen Menschen, wo er erforderlich ist, abzubauen.
Ich nenne die vielfachen gemeinsamen Aktionen der Industrie- und Handelskammern und der Arbeitsämter auf regionaler Ebene, die große Erfolge gebracht haben. Man kann nur sagen, so sollten wir fortfahren. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Da sind 450 Personen in der Kartei der Arbeitsverwaltung. Diese 450 werden angeschrieben und eingeladen, aus psychologischen Gründen nicht in das Arbeitsamt, sondern zur Industrie- und Handelskammer. Von diesen 450 melden sich 115; auch das ist eine bedeutsame Zahl. Im übrigen ist allen gesagt worden, sie würden im Falle der Nichtmeldung nicht mehr weiter geführt. Von diesen 115 werden noch am selben Tag 80 am Ort vermittelt. Ganz erfreulich ist es, daß von diesen 80 ein ganz hoher Prozentsatz Mädchen sind. Es konnten also gleich im Gespräch bestimmte Vorurteile und Probleme, mit denen wir hier leider immer noch sehr zu kämpfen haben, ausgeräumt werden. Das sind Beispiele, die man wiederholen sollte, die zur Regel werden sollten.
Bei diesen Beispielen kam auch einiges andere zum Vorschein. Es kam zum Vorschein, daß es Jugendliche gibt, bei denen jedes Vermittlungsbemühen versagt. Wenn jemand nur Schallplattenverkäufer werden will und nicht einmal einen Ausbildungsplatz im Radioeinzelhandel annehmen will, dann ist ihm nicht zu helfen. Wenn jemand unbedingt Bürokaufmann werden will, obwohl er zwei-
mal die Unterstufe der Handelsschule ohne Erfolg, nur mit Fünfen durchlaufen hat, dann ist ihm auch nicht zu helfen.
Dabei ist auch eine Gruppe aufgefallen, die nicht sehr groß ist, die wir aber sehr ernst nehmen sollten, nämlich die Gruppe derer, die deshalb nicht vermittelt werden konnten, weil ihr theoretisches Vermögen für den Abschluß einer Ausbildung nicht ausreicht. Das sind nicht Behinderte, das sind nicht Benachteiligte, das ist eine Gruppe, für die unbedingt Ausbildungsgänge erforderlich sind, die einen geringeren Theorieanteil haben. Dieser Punkt fehlt leider in Ihrem Entschließungsantrag. Ich habe den Bericht noch einmal durchgelesen und festgestellt, warum es augenscheinlich fehlt. Sie sprechen nämlich in dem Bericht davon. Man könne solche Ausbildungsverträge mit einem geringeren theoretischen Level nicht zulassen, weil bessere Qualifikationen das Arbeitsplatzrisiko vermindere. Als ich das gelesen habe, dachte ich: „Guck einmal an, der alte sozialistische Adam schaut doch wirklich wieder durch!" Es zeigt sich doch, daß Sie immer noch nicht darüber hinausgekommen sind, theoretische Kenntnisse höher zu bewerten als praktische, und daß Sie immer noch glauben, man könne jemanden theoretisch soweit begaben, wie man das eben wolle. Das kann man eben nicht, genausowenig, wie man jemanden praktisch begaben kann, soweit man eben wolle.
Ich habe Ihnen vor Jahren schon einmal zugerufen, wir wären einen großen Schritt weiter, wenn Sie Lieschen Müller endlich einmal als Lieschen Müller ernst nähmen und nicht versuchten, aus Lieschen Müller eine Eloisa Sociologica zu machen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir brauchen derartige Ausbildungsgänge. Es gibt schon Ausbildungsordnungen für eine ganze Reihe sogenannter Werkeberufe der verschiedensten Branchen, wo die Auszubildenden zwar zu großem fachlichem Können geführt werden können, wo sie aber theoretisch nicht überfordert werden, da die Anforderungen theoretischer Art ihrem Vermögen entsprechen.

(Frau Weyel [SPD]: Zum Beispiel?)

— Ich nenne Ihnen sofort 40 Werkeberufe. Wir müssen sie nur realisieren, Frau Kollegin; vielleicht können wir darüber reden. —
Meine Damen und Herren, wir begrüßen sehr, daß Sie, Frau Minister Wilms, das Programm für die andere Gruppe, für die Benachteiligten, noch aufgestockt haben. Wir wissen allerdings, daß die Erfolge hier unterschiedlich sind. Ich bin überzeugt, Sie werden sich die Einzelmaßnahmen, die Einrichtungen und Ihre Träger sicher einmal kritisch vornehmen.
Ich bin der Meinung, wir sollten hier immer drei Fragen stellen. Erste Frage: Wie viele münden in die Maßnahme ein? Zweite Frage: Wie viele davon halten die Maßnahme durch? Die dritte Frage ist entscheidend: Wie viele davon bekommen dann auch wirklich einen Arbeitsplatz, sind also so ge-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8439
Frau Benedix-Engler
führt und ausgebildet, daß dieser Übergang gelingt?
Ich stimme Ihnen zu, Frau Minister Wilms, daß die ausbildungsbegleitenden Maßnahmen für diese Gruppe besonders wichtig sind. Ich meine, daß beide Gruppen von Jugendlichen, die ich angesprochen habe, nicht immer wieder von Schule zu Schule gereicht werden dürfen. Vielmehr muß man diese Jugendlichen endlich einmal erfahren lassen, was sie alles können und welche Verantwortung zu tragen sie in der Lage sind.
Meine Damen und Herren, wir müssen verhindern — damit stimme ich sicher auch mit Frau Minister Wilms überein —, daß der betriebliche Teil der dualen Ausbildung immer weiter abgebaut wird. Vor etwa sieben, acht Jahren hatten wir bei einer dreijährigen Lehre 6 000 Stunden betriebliche Praxis. Das ist bis auf 2 500 Stunden zurückgegangen. Wenn man sagt „Wissen ist wenig, Können ist König", dann, meine Damen und Herren, muß man sagen: Zum Können gehört Übung. Bei einer so geringen Stundenzahl kann man nicht mehr üben, können die jungen Leute ihre Lehre nicht mehr als Könner beenden.

(Daweke [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir stimmen Ihnen hier zu, wenn Sie sagen, die öffentlichen Verwaltungen müssen mehr Ausbildungskapazität schaffen. Nur dürfen Sie sie dann nicht brandmarken, wenn sie diese jungen Leute nachher nicht übernehmen können, wie das j a der Fall war. Im übrigen: Unser Bundesinnenminister gibt derzeit ein hervorragendes Beispiel: Er hat für 100 Jugendliche zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Sie sehen, was alles geht, wenn man es will und Phantasie entwickelt.
Herr Präsident, ein letztes Wort: Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß wir die berufliche Fortbildung — im März haben wir darüber gesprochen — stärker beachten. Ich habe sehr kritisiert, daß sie eingeengt, daß die Förderung eingestellt wurde. Ich bin froh, an dieser Stelle jetzt sagen zu können: Wir haben es geschafft, daß diese jungen Leute, die sich zum Meister, zum Techniker, zum Betriebswirt fortbilden wollen, wieder in der Förderung sind; die Kann-Vorschrift ist weggefallen. Das ist, glaube ich, der richtige Weg. Ein Stück Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung, ein Stück Glaubwürdigkeit ist wiederhergestellt worden. Auf diesem Wege, meine Damen und Herren, werden wir fortschreiten. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913628400
Das Wort hat der Abgeordnete Schätz.

Hermann Schätz (SPD):
Rede ID: ID0913628500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kollegin Benedix! Da können wir jetzt an dem Problem des Ausbildungsplatzmangels herumreden, wie wir wollen: Wir brauchen nur zu lesen, was im Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" steht. Da steht nämlich:
Wenn man in unsere Gesellschaft einsteigen will, muß man erst einen Numerus clausus überwinden.
Ich persönlich füge hinzu: Dies gilt leider auch für die berufliche Bildung. Ich stimme deshalb der Aussage von Frau Minister Wilms vor dem Hauptausschuß des Bundesinstituts für berufliche Bildung zu. Sie hat dort gesagt: „Berufliche Bildung muß stärker als bisher als gleichwertige Alternative dargestellt werden."

(Beifall des Abg. Rossmanith [CDU/CSU])

Sie hat dann allerdings die Überakademisierung und nach ihrer Auffassung bestehendes Schattendasein der beruflichen Bildung beklagt. Was die Überakademisierung betrifft, so frage ich jeden, der die Überakademisierung beklagt, was seine Kinder machen, ob sie denn auch in der beruflichen Bildung sind.

(Beifall bei der SPD)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913628600
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Schätz? — Bitte sehr.

Peter Milz (CDU):
Rede ID: ID0913628700
Herr Kollege, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß meine vier Kinder, obwohl ich Abgeordneter bin, keine akademische Ausbildung genießen, so wie dies bei mir als Handwerksmeister auch nicht der Fall war?

Hermann Schätz (SPD):
Rede ID: ID0913628800
Ich nehme das mit Interesse zur Kenntnis

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das haben Sie aber noch nie gehört!)

und füge hinzu, daß von meinen drei Kindern eines derzeit Auszubildender in einem Handwerksberuf ist.

(Beifall bei der SPD — Daweke [CDU/ CSU]: Und er ist doch sicher sehr zufrieden, oder nicht?)

Noch ein kurzer Hinweis. Vor geraumer Zeit habe ich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, die sich auch mit dieser Frage befaßte. Nachdem diskutiert worden war, wie wichtig es ist, daß nicht alle Abitur machen und anschließend studieren, stellte aus dem Plenum jemand die Frage, ob auf dem Podium einer säße, der nicht das Abitur und der nicht studiert hat. Da mußten wir leider feststellen, daß alle, die so weise Ratschläge gaben, das Abitur hatten und studiert hatten. Da ist es schon etwas unangenehm, wenn man solche Empfehlungen gibt.

(Beifall bei der SPD)

Aber nun zum unterstellten Schattendasein in der beruflichen Bildung. Da möchte ich feststellen, daß Helmut Rohde als Minister für Bildung und Wissenschaft die berufliche Bildung aus dem Schattendasein herausgeführt hat;

(Beifall bei der SPD)

denn er war es, der erstmals Forderungen nach der Gleichwertigkeit beruflicher Bildung im Bildungssystem gestellt und der auch gleich die Konsequenz daraus gezogen hat. Ich nenne Beispiele: die Förde-
8440 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Schätz
rung überbetrieblicher Ausbildungsstätten, die Modernisierung der Ausbildungsordnungen für heute mehr als 50 % der Auszubildenden und das Benachteiligtenprogramm. Frau Kollegin Benedix-Engler, wenn Sie vorher davon sprachen, daß es noch eine besondere Gruppe gibt, die da nicht ganz hineinpaßt, dann können wir wenigstens sagen, § 48 des Berufsbildungsgesetzes gibt für Leistungsschwächere immer noch die Chance, daß auf Kammerebene etwas gemacht wird.
Es gibt ja auch bewährte Beispiele; ich denke an die Zeche Nordstern, wo wir interessante Feststellungen gemacht haben. Wenn ich mich recht erinnere, war das sogar ein Modellversuch. Hier komme ich schon auf das Beispiel. Auch Modellversuche sind ein Verfahren gewesen, die berufliche Bildung aus dem Schattendasein herauszuführen, wenngleich Sie gar nicht so gerne darangehen und sogar damit begonnen haben, diese Versuche abzubauen, obwohl sie für uns im Bereich der beruflichen Grundbildung, für Problemgruppen und für Mädchen so wichtig waren.
Im Haushalt 1983 hat die neue Regierung nicht mehr Mittel für die berufliche Bildung eingesetzt, als das die alte Regierung schon vorher getan hatte. Da ist wohl die Frage erlaubt, ob das den neuen Schwerpunkt berufliche Bildung dokumentiert.

(Beifall bei der SPD)

Diese Frage müssen Sie sich natürlich gefallen lassen.
Die Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" hat auch gesagt:
Eine nennenswerte Zahl von Jugendlichen, darunter auch viele Kinder von Ausländern, erhält heute in unserer Gesellschaft kaum eine Chance, überzeugende Zukunftsaussichten zu entwickeln.
Da muß ich immerhin zugestehen, daß die Ministerin für Bildung und Wissenschaft im Haushalt einen positiven Akzent gesetzt hat, in dem der Schwerpunkt „Benachteiligtenprogramm" entsprechend herausgestellt ist. Ich füge allerdings hinzu, daß dies auch bei Minister Engholm so vorbereitet war,

(Beifall bei der SPD)

nicht aber das Minus von 5 Millionen DM für Modellversuche; das ist neu und geht auf das Konto der neuen Koalition.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme noch einmal auf die Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" zurück, die gesagt hat:
Die Frage der Glaubwürdigkeit von Staat und Politik ist einmal eine Frage der Leistungen bzw. des Versagens von Politikern und Parteien bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme.
Aus diesem Grund haben wir immer vor dem Ausbildungsplatzmangel gewarnt. Wenn uns Frau Benedix-Engler vorhin die 88 000 vorgehalten hat, dann sagen wir dazu, das waren für uns natürlich
keine absoluten Zahlen, das waren nicht bereinigte Zahlen, die uns nur den Trend für unsere Befürchtungen anzeigten. Sie von der CDU/CSU haben uns Ende 1981/Anfang 1982 doch eine unnötige Dramatisierung der Ausbildungsplatzlage vorgeworfen. Wie sieht es heute aus? Wir haben einen Rückgang an Ausbildungsplätzen zu verzeichnen. Wir haben keinen Rückgang der Bewerber zu verzeichnen, sicherlich auch nicht bis 1985.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch falsch!)

Die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit weist für den Stichtag 30. September 1982 aus: Jugendliche ohne Ausbildungsplatz 36 000, unbesetzte Ausbildungsplätze 20 000.

(Frau Benedix-Engler [CDU/CSU]: Das ist doch bereinigt!)

Wie sieht es denn in den 142 Arbeitsamtsbezirken aus? 1980 war in 20 Bezirken das Angebot an Ausbildungsplätzen geringer als die Nachfrage. 1982 trifft das auf 124 Bezirke zu. Das sind 87 % der Arbeitsamtsbezirke. Dort ist das Angebot an Ausbildungsplätzen unterhalb der Nachfrage. Da sieht man doch einen erschreckenden Trend.

(Beifall bei der SPD — Kuhlwein [SPD]: Auch Sie sollten einmal ein bißchen erschrecken!)

Wir stellen fest: Der Angebotsüberhang für Ausbildungsplätze war 1980 noch + 4,1 %, für 1981 noch + 2,4 %. Für 1982 stellen wir erstmals ein Minus fest, nämlich – 2,5 %. Die Frage muß deshalb erlaubt sein — —

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913628900
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?

Peter Milz (CDU):
Rede ID: ID0913629000
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in dem Berufszweig, in dem auch der amtierende Präsident gelernt hat — wie ich —, auch heute noch das Angebot an Ausbildungsplätzen größer ist als die Nachfrage?

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Hermann Schätz (SPD):
Rede ID: ID0913629100
Das nehme ich so zur Kenntnis. Bloß ist damit das Problem natürlich nicht gelöst.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben Berufe, wo bis zu 20 und 30 % der Auszubildenden anschließend gehen und eine Position als Angelernter annehmen, weil sie in ihrem Facharbeiterberuf keine angemessene Beschäftigung finden.

(Beifall bei der SPD)

Ich kehre zu meinen Ausführungen zurück. Die Frage muß erlaubt sein, ob ein Zusammenhang zwischen diesem Rückgang an Ausbildungsplätzen und dem Wegfall der Ausbildungsplatzabgabe besteht Diese Frage, meine ich, ist durchaus berechtigt Diese Entwicklung ist auch Anlaß genug, die Wirtschaft an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Dezember 1980 zu erinnern. In der Begründung sagt das Verfassungsgericht:
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8441
Schätz
Der Staat muß erwarten, daß die Arbeitgeber jedem Jugendlichen eine Ausbildungschance geben, und dies auch dann, wenn das freie Spiel der Kräfte nicht ausreichen sollte.
Ich denke, dies muß nicht nur für die private Wirtschaft gelten, dies muß besonders auch für den Bund, für die Länder und für die Gemeinden gelten.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Und für die Bundesbahn!)

— Selbstverständlich auch für die Bundesbahn.
Auch der öffentliche Dienst muß Ausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz betreiben, und zwar über den Eigenbedarf hinaus, weil die Ausbildungsplatzzahlen im Bereich des öffentlichen Dienstes weit unter dem Durchschnitt der privaten Wirtschaft liegen. Das ist Grund genug, hier ausdrücklich darauf hinzuweisen.

Anton Pfeifer (CDU):
Rede ID: ID0913629200
Notstandsartiger Ausbildungsplatzmangel ist nicht eingetreten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!)

Da frage ich Sie: Was ist denn „notstandsartiger Ausbildungsplatzmangel"? Die Enquete-Kommission, die ich noch einmal zitieren will, hat gesagt, sie fordert Wirtschaft und öffentliche Hand eindringlich auf, alles zu tun, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, ausbildungswilligen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen. Was macht denn die Regierung, wenn es 1983 nicht besser wird, wenn die Wirkungen der BAföG-Kürzungen auf die Ausbildungsplätze durchschlagen? Wie will die Regierung den wachsenden Bedarf an Ausbildungsplätzen in den Griff bekommen? Ich zweifle, daß Seelenmassage allein ausreicht. Auf keinen Fall reicht es aus, Entwarnung zu geben, wie es meines Erachtens Staatssekretär Pfeifer getan hat.

(Beifall bei der SPD)

Ich erinnere daran, was der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft u. a. beschlossen hat:
Der Ausschuß betrachtet die für eine qualifizierte Ausbildung einzusetzenden Mittel sowohl für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft als die beste Zukunftsinvestition.
Wir Sozialdemokraten verlangen deshalb ein Sofortprogramm der Regierung zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze für unversorgte Schulabgänger 1982,

(Zustimmung bei der SPD)

nämlich ein Sonderprogramm zur Nutzung von Ausbildungsstätten durch Dritte und eine Steigerung der Ausbildungsleistung bei den Bundesverwaltungen, und zwar ganz ausdrücklich. Es gibt hier zweifellos schon positive Beispiele: Bundeswehr und — das habe ich vorhin gehört — Innenminister. Das kann uns aber nicht reichen.
Damit sind aber keineswegs die Strukturprobleme in der beruflichen Bildung gelöst, wenn so ein
Sofortprogramm kommt. Wir brauchen eine gerechte Verteilung der Ausbildungskosten. Wir werden das immer wieder anmahnen. Wir brauchen eine Pufferkapazität für die Ausbildung, damit wir überraschenden Entwicklungen begegnen können. Und wir brauchen wirkungsvolle regionale Informationssysteme und Handlungsinstrumente.
Der Regierung muß deshalb dringend nahegelegt werden: Zu schaffen sind die Grundlagen für ein regionales System der Berufsbildungsfinanzierung, und zwar mit regionalen Auslösungskriterien. Ich warne davor, ausschließlich auf Lohnkosten abzustellen; denn sonst geht es so wie im Bereich der sozialen Kosten: Je lohnintensiver ein Betrieb ist, um so stärker sind die Belastungen; je mehr ein Betrieb rationalisiert, um so weniger hat er zu den Kosten beizutragen. Die Grundlagen für ein regionales System der Berufsbildungsfinanzierung sind mit entscheidender Beteiligung der Kammern und ihrer Berufsbildungsausschüsse zu schaffen. Bereitzustellen ist ein überschaubares regionales Datensystem mit daraus folgenden regionalen Entscheidungen für Maßnahmen, z. B. Regionalkonferenzen, an denen auch Kammern und Arbeitsämter teilnehmen, oder auch Ausbildungsplatzbörsen, wie bereits von Frau Minister Wilms vorgeschlagen.
Die Berufsbildungsausschüsse müssen mehr Planungskompetenzen bekommen.

(Beifall bei der SPD)

All diese Vorschläge, die ich hier gemacht habe, finden Sie in unserer Entschließung auf Drucksache 9/2216. Wir bitten deshalb um Beachtung dieser Vorschläge, weil wir sie für sehr wichtig halten. Außerdem bitten wir um Überweisung unseres Antrages an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — federführend — sowie zur Mitberatung an die Ausschüsse für Arbeit und Sozialordnung und für Jugend, Familie und Gesundheit.

(Beifall bei der SPD)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913629300
Als nächster Redner hat der Herr Abgeordnete Neuhausen das Wort.

Friedrich Neuhausen (FDP):
Rede ID: ID0913629400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch heute zeigt sich: Das Schwergewicht aller Diskussionen über die berufliche Bildung und Ausbildung — das ist seit einiger Zeit der Fall — liegt auf dem quantitativen Aspekt. Es liegt auf der Frage: Wie kann es erreicht werden, dem Ziel einer qualifizierten Ausbildung für alle jungen Menschen auch dann so nahe wie irgend möglich zu kommen, wenn sich die demographische Entwicklung — das heißt hier konkret: Der Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Berufsleben — mit der wirtschaftlich kritischen Lage zu einer besonders schwierigen Situation verbindet.
Allerdings steht man — das zeigt auch die bisherige Debatte — in dieser Situation vor einem weiteren Problem. Einerseits war und ist es unumgänglich, auf diese Entwicklungen aufmerksam zu machen und nachdrücklich an alle Beteiligten und Verantwortlichen zu appellieren, jede Anstrengung zu unternehmen, die dazu dienen kann, diesen Zu-
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Neuhausen
stand zu überwinden. Dazu war und ist es notwendig, auf die Zahlen hinzuweisen, in denen sich Nachfrage nach und Angebot an Ausbildungsplätzen — der erfreuliche Trend bis 1980, dann aber Verschlechterung und Brüche — in der Entwicklung spiegeln.
Meine Damen und Herren, es läßt sich dann nicht vermeiden, den Versuch einer Fortschreibung dieser Zahlen im Hinblick auf die Konsequenzen einer weiteren Verschlechterung in den Appell einzubeziehen — natürlich in der Hoffnung, gerade dadurch die Aufmerksamkeit zu wecken, die dazu beitragen soll, die Prognose durch entsprechendes Handeln zu widerlegen. Aber dies stößt auch heute auf Kritik. Der Appell wird als Dramatisierung mißverstanden. Diese führe, heißt es, zu einer Verunsicherung der jungen Leute. Auch werde sie weder den zu berücksichtigenden regionalen und sektoralen Differenzierungen noch den Bemühungen, die Industrie und Handel, Handwerk, Landwirtschft, freie Berufe und Unternehmen unternommen haben, gerecht, die zu Erfolgen führten, die Anfang der 70er Jahre nicht für möglich gehalten wurden.
Meine Damen und Herren, wie oft im Leben und besonders in der Politik, kann man jeden Sachverhalt verschieden interpretieren. Das hängt von unterschiedlichen Interessen ab. Aber in dem Bereich, mit dem sich die heute zur Debatte stehenden Drucksachen beschäftigen, die Große Anfrage der CDU/CSU zur Ausbildungsplatzsituation und die Antwort der Bundesregierung ebenso wie der Bericht der Bundesregierung zu grundsätzlichen Fragen der Berufsausbildung, in der Frage, um die es hier geht, nämlich der Frage nach den beruflichen Chancen und Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in diesem Lande, kann es nur ein gemeinsames Interesse und ein gemeinsames Ziel geben.
Man mag über die Zahlen streiten, die zur aktuellen Situation hier genannt wurden. Eines ist sicher: Sowenig wie eine überzogene Dramatisierung dem Ernst der Lage angemessen wäre, sowenig kann es ein Trost sein, wenn sich extreme Befürchtungen nicht voll bestätigen. Solange sich die Schere zwischen dem weiteren Ansteigen der Bewerberzahlen einerseits und dem Rückgang der Angebote an Ausbildungsplätzen andererseits noch öffnet, so lange ist es geboten, jede Anstrengung zu unterstützen und zu ermutigen, die sich auch auf neuen und unkonventionellen Wegen um Lösungen bemüht.
Ich kann nur Stichworte nennen. Einige sind hier schon genannt worden: Ausbildung im Verbundsystem, die Gespräche, die Frau Benedix-Engler erwähnt hat, die Angebote der Berufsschullehrer, zusätzliche Ausbildungsplätze an berufsbildenden Schulen zur Verfügung zu stellen, Einzelaktionen von Handwerkskammern und Kreishandwerker-schaften. Wenn man sich im Lande umhört, so wird deutlich, wie in vielen Initiativen vor Ort Erfolge erzielt werden können. Manches läßt sich übertragen, anderes nicht. Worauf es ankommt, ist die Bereitschaft, Anregungen ernsthaft aufzunehmen und zu prüfen. Aber auch — das wissen wir — auf die
Bereitschaft der jungen Leute kommt es an, spezielle Berufswünsche kritisch zu überdenken, sich über die Möglichkeiten gründlich zu informieren, und das wiederum hängt wesentlich mit der Qualität der Berufsberatung zusammen. Es muß — das wurde hier schon erwähnt — auch mit der oft beschworenen Gleichwertigkeit der allgemeinen, der akademischen und der beruflichen Bildung ernst gemacht werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das kann nun leider nicht verordnet werden. Auch hier kommt es auf den einzelnen Betrieb, vor allem auch auf seine Einstellungskriterien und die seinen personalpolitischen Entscheidungen zugrunde liegenden Vorstellungen wesentlich an; denn der Ausbildungszeitraum kann ja nicht für sich allein betrachtet werden. Er ist der erste Schritt ins Berufsleben. Welche Enttäuschung auf viele junge Leute nach der Beendigung ihrer Ausbildung wartet, erleben wir in diesen Tagen sehr schmerzhaft.
Meine Damen und Herren, ob wir an die gesellschaftspolitischen Auswirkungen fehlender Ausbildungsplätze oder an die Notwendigkeiten denken, die sich im Hinblick auf den Fachkräftebedarf der Wirtschaft ab etwa 1988 stellen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge von den geburtenschwachen abgelöst sein werden: Was uns heute und hier bewegt, reicht weit über den Tag hinaus. Herr Schätz hat bereits aus dem Bericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" zitiert. Ich möchte das auch tun. Darin heißt es, daß die Sorge um Ausbildungschancen und um die berufliche Zukunft ein beherrschendes Thema für die junge Generation sei. Zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und ein im Vergleich zum Ausbildungswunsch immer größerer Mangel an Ausbildungsplätzen für bestimmte Berufsfelder, heißt es weiter, gliedere einen Teil der Jugend bereits vor dem Einstieg in das Berufsleben von der gesellschaftlichen Teilhabe und Anerkennung aus und bedrohe das Selbstwertgefühl der gesamten jungen Generation.
Damit darf und kann sich niemand abfinden. Ganz abgesehen von allen grundsätzlichen Überlegungen läge das auch nicht im wohlverstandenen Interesse der Wirtschaft, die schon in einigen Jahren ihren Nachwuchs suchen wird und deshalb gut beraten ist, wenn sie über den aktuellen Bedarf hinaus ausbildet.
Der Bericht der Bundesregierung zu den grundsätzlichen Fragen der Berufsausbildung enthält eine Fülle von Details, die zu betrachten hier nicht die Zeit ist. Er zeigt aber deutlich genug die Grenzen staatlicher Planung und unmittelbarer staatlicher Einflußnahme auf.
So wenig ein Zweifel an der gesamtstaatlichen Verantwortung auch für diesen Teil der Bildung besteht, so verhängnisvoll wäre es, von administrativen Maßnahmen das Heil zu erwarten, die leicht dazu führen können, Ausbildungsbereitschaft abzuschrecken, statt sie zu fördern. Wenn irgendwo das Wort von der Gemeinschaftsinitiative einen Sinn haben kann, dann ist es hier. Wenn wir darunter
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Neuhausen
das Zusammenwirken einer Vielzahl wirtschaftender Personen und Betriebe und freier Träger verstehen, die flexibel und initiativ zusammen mit Gewerkschaften, Berufsschulen, staatlichen Stellen auf gegebene Situationen reagieren und neue Entwicklungen einleiten, dann hat sich in den Erfolgen der Bemühungen um die Erweiterung der Ausbildungsplatzangebote im letzten Jahrzehnt nicht nur das System der dualen Berufsausbildung, sondern überhaupt das Vertrauen in die freie Initiative und in das Bewußtsein der Verantwortung vor allem der Betriebe und ihrer Selbstverwaltungseinrichtungen bestätigt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das gilt vor allem für die vielen kleineren und mittelständischen Betriebe, insbesondere des Handwerks.
In diesen Tagen hat das Statistische Bundesamt wieder einmal die Zahlen über die Ausbildungsverhältnisse in einzelnen Berufen vorgelegt. Betrachtet man diese Zahlen etwas genauer, dann zeigt sich — um nur das herauszugreifen — zwischen 1973 und 1981 ein Anstieg der Auszubildenden — nicht der Ausbildungsplätze — in Industrie und Handel um 77 279 oder elf Prozent, im Handwerk aber um 208 130 oder fast 45%. Überblickt man die einzelnen Berufssparten, so zeigt sich beim Handwerk, daß die Zahl der Auszubildenden etwa bei den Tischlern um 169 %, bei den Bäckern um 167 %, bei Betriebsschlossern um fast 100 %, bei Fleischern um 83 % und bei Malern und Lackierern um fast 69 % gestiegen ist. Insgesamt ist der Zuwachs bei diesen fünf Berufen mit 79 791 zusätzlichen Lehrlingen höher als die erwähnten 77 279 in Industrie und Handel.
Ich sage das nicht, um die Bemühungen von Industrie und Handel geringer einzuschätzen. Ich habe diese Zuwachsraten und -prozente aus der nicht sehr aussagekräftigen Fülle von Zahlenkolumnen herausgerechnet, weil ich den Eindruck prüfen wollte, der sich jedem, der die Entwicklung auch vor Ort und in der Praxis verfolgt hat, aufdrängt, daß es gerade die Initiative des Handwerks gewesen ist, die zu den erwähnten Erfolgen geführt hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Unsere Aufgabe ist es, zu appellieren, daß diese Initiative auch in kritischer Situation nicht erlahmt. Und es ist unsere Aufgabe, darauf zu achten, daß dieser Initiative keine administrativen Hindernisse erwachsen. Ob es sich um die Ausbildereignungsverordnung handelt, die auf unsere Anregung bereits geändert wurde, oder um verschiedene Schutzbestimmungen: Niemand kann und darf daran denken, die Qualität der Ausbildung zu mindern oder die Gesundheit der Auszubildenden zu vernachlässigen. Dennoch müssen auch solche Bestimmungen auf ihre Zweckmäßigkeit geprüft und gegebenenfalls veränderten Verhältnissen angepaßt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das System der dualen Ausbildung hat sich bewährt. Es hat sich auch deshalb bewährt, weil es
Verantwortung verteilt und auf viele Schultern legt.
Sind alle Beteiligten sich dieser Verantwortung bewußt, dann muß es gelingen, die heute zur Debatte stehenden Probleme zu meistern. — Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913629500
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.

Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID0913629600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus, daß der seinerzeitige Bildungsminister Engholm

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er denn?)

für die Große Anfrage der CDU/CSU zur Ausbildungsplatzsituation nicht die Form, wie wir heute diskutieren, vorgesehen hat.
Ich möchte auch darauf einen klaren Satz verwenden: Die erfreulichste Tatsache in der heutigen Diskussion ist an sich, daß die so dramatisch beschworene Katastrophe eben nicht stattfindet, trotz — das können wir uns hier nicht oft genug sagen lassen — bedauerlicherweise etwa 16 000 Insolvenzen in diesem Jahr, trotz mehr als zwei Millionen Arbeitsloser.
Deshalb muß ich sagen: Es ist eine enorme Leistung unserer Unternehmungen und aller an der beruflichen Bildung Beteiligten, daß wir auch in diesem Jahr wieder weit über 600 000 neue Lehrstellen schaffen und zur Verfügung stellen konnten. Ich möchte bei der Gelegenheit ein Wort des Dankes an alle sagen, die mit dazu beigetragen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wissen — das wurde heute bereits einmal gesagt —, daß sehr, sehr viele Branchen noch Ausbildungsstellen zur Verfügung stellen könnten: Bau-, Nahrungsmittelhandwerk, Einzelhandel. Das sind Zigtausende von Lehrstellen. Herr Kollege Schätz, wenn Sie hier von Notstand sprechen, muß ich sagen: Bei über 600 000 neuen Lehrstellen ist mir unverständlich, wie man da überhaupt noch von Notstand reden kann. Wenn Sie sagen, die Berufsbildung sei aus dem Schattendasein herauszuführen, dann gehe ich im Grunde mit Ihnen einig; denn in 13 Jahren haben Sie es tatsächlich geschafft, die Berufsbildung in ein Schattendasein hineinzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was Sie als Möglichkeit, sie aus dem Schattendasein herauszuführen, sehen, ist ein gesetzliches Korsett, das sind Zwänge, das ist mehr Theorie. Dieses Mehr an Theorie besetzen Sie hier einfach mit dem Begriff „Qualitätsverbesserung".

(Zuruf von der SPD: Quatsch ist das, was Sie da erzählen!)

— Ja, was Sie sagen, ist das.
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Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913629700
Herr Kollege Rossmanith, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kuhlwein?

Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID0913629800
Nein, ich habe nur noch sieben Minuten Zeit, tut mit leid, Herr Kuhlwein.

(Zurufe von der SPD) — Also gut, bitte.


Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID0913629900
Herr Kollege Rossmanith, sind Sie bereit, zu akzeptieren, daß der Kollege Schätz darauf hingewiesen hat, die neue Bundesregierung habe festgestellt, sie wolle die Berufsbildung aus einem Schattendasein herausführen, und er ergänzt hat, daß die Berufsbildung in der Bildungspolitik der sozialliberalen Koalition in den letzten Jahren eine zentrale Rolle gespielt habe?

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Ha! Ha!)


Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID0913630000
Herr Kollege Kuhlwein, wenn Sie mir zugehört hätten, hätte sich diese Frage erübrigt. Denn ich habe gesagt: Sie haben in diesen 13 Jahren die Berufsbildung in ein Schattendasein hineingeführt, und wir müssen sie jetzt natürlich wieder herausführen. — Das ist absolut richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir dürfen nicht übersehen — und ich möchte die Situation damit keineswegs verharmlosen —, daß wir Mitte bis Ende der 80er Jahre diese Problemstellung, die wir heute tatsächlich zu bewältigen haben — darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren; deshalb sprechen wir heute miteinander —, nicht mehr haben werden, und die Dramatisierung, wie sie Engholm in diesem Jahre betrieben hat, aus Gründen heraus, die ich nur als ideologische und nicht tatsächlich im Blick auf die Lehrlinge gegebene ansehen kann — —

(Zuruf von der SPD)

— Er hätte gut daran getan, auch Sie von der SPD hier hätten gut daran getan, sich einmal ein paar Gedanken darüber zu machen, was Sie mit den hunderttausend Diplom-Pädagogen anfangen wollen. Sie beschwören immer die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung. Heute wurde dazu sogar von unserer Seite applaudiert, weil Sie das wörtlich gesagt haben. Nur muß man auch einmal sehen, was auf dem Arbeitsmarkt im rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich geschieht. Hier gab es Ende Juni 1982 15 300 Bewerber um Arbeitsplätze. Denen standen ganze 1200 offene Stellen gegenüber. Hier sollte man sich doch wohl einige Gedanken machen und den Worten auch einmal Taten folgen lassen. Man sollte in der beruflichen Bildung keine Verwissenschaftlichung unter dem Oberbegriff „Mehr Qualität in der beruflichen Bildung" vornehmen.
Ich bin Frau Minister Wilms sehr dankbar. Ich sehe mit großer Genugtuung, daß jetzt nach langer, langer Zeit wieder etwas Pragmatismus, Nüchternheit und auch Realitätsbezogenheit im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft Einzug gehalten haben.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Allerhöchste Zeit!)

Hier steht sicherlich eine Ministerin an der Spitze, die der beruflichen Bildung wieder die Priorität einräumt, die ihr zusteht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine realitätsbezogene Bildungspolitik wird in den kommenden Jahren darauf zu achten haben, daß im dualen System jeder Partner das an Aufgaben übernimmt und auch erfüllt, was er sinnvollerweise leisten kann. Hier, muß ich sagen, sind eine ganze Reihe von Weichenstellungen wieder zu korrigieren. Ich habe mich mit dem Qualitätsbegriff schon auseinandergesetzt. Ich möchte noch ganz kurz drei Beispiele anführen, einmal die Vorarbeiten zur Liquidierung des Ausbildungsberufes der Verkäuferin. Ich will gar nicht näher darauf eingehen, sondern dazu auf meine Rede vor diesem Hohen Hause am 12. März 1982 hinweisen. Hier soll mit dieser Änderung einer ganzen Reihe von Betrieben die Ausbildungsmöglichkeit genommen, und zum anderen soll hier einer ganzen Reihe von jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit genommen werden. Man spricht hier von 80 000 Jugendlichen, und es sind in diesem Bereich vornehmlich wieder junge Damen.
Das zweite Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang anführen möchte, betrifft den Ausbau überbetrieblicher Lehrwerkstätten. Ich glaube, die sind mit 70 000, die wir angestrebt haben, mehr als genug bedient, und es ist in diesem Bereich mit dieser Größenordnung bereits die Qualitätsverbesserung, auf die es tatsächlich ankommt — nicht eine hochwissenschaftliche oder hochgeschraubte — geschaffen.
Das dritte Beispiel betrifft den schulischen Bereich. Hier muß ich noch einmal darauf hinweisen, welche Blüten die Anrechnungsverordnung, was das Berufsgrundbildungsjahr anlangt, mitunter treiben kann. Es spricht zweifellos für sich selbst, wenn ausgerechnet jenes Bundesland, das das Berufsgrundschuljahr trotz aller überall zu hörenden Warnungen bereits weitgehend flächendeckend eingeführt hat, heute, man kann schon sagen, einfach vor einem Fiasko steht. Ich kann mir das nicht anders erklären, denn der jetzige Kultusminister hat doch durch Zeitungsanzeigen eine Kopfprämie von 4 800 DM pro Lehrling für den Betrieb — —

(Frau Weyel [SPD]: Welches Bundesland?)

— Es ist j a völlig egal, welches Bundesland das ist.

(Frau Weyel [SPD]: Wir möchten es aber gern wissen! — Kuhlwein [SPD]: A oder B, sagen Sie es!)

— Wissen Sie, die Fehler, lieber Herr Kuhlwein, die von dieser Regierung gemacht wurden, sind leider Gottes nicht immer nur bei Ihnen allein verblieben.

(Kuhlwein [SPD]: Nun gestehen Sie doch einmal!)

Deutscher Bundestag - 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8445
Rossmanith
— Ich sage es Ihnen hinterher gerne, ich habe nur noch eine Minute Zeit zum Sprechen, und die brauche ich unbedingt für den restlichen Text, aber ich sage es Ihnen, Herr Kuhlwein, dann hinterher gerne, um welches Bundesland es sich hier handelt. — Wie gesagt, Kopfprämie 4 800 DM für den, der einen entlassenen Schüler aus dem Berufsgrundbildungsjahr noch nimmt.
Zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen.
Erstens. Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt ist nach wie vor angespannt, gibt aber schon mittelfristig zu weit weniger Besorgnis Anlaß als in anderen Bereichen unseres Bildungswesens.
Zweitens. Das duale System hat sich absolut bewährt. Es hat seine Leistungsfähigkeit vor allem im betrieblichen Bereich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten erneut ausdrücklich unter Beweis gestellt.
Drittens. Der außerbetriebliche Bereich der Berufsausbildung ist in den letzten Jahren durch eine ideologisierte Berufsbildungspolitik mit systemverändernder Absicht durch sachfremde Anforderungen zum Schaden der Jugendlichen belastet worden.
Viertens. Die dadurch eingetretene Deformation des dualen Systems sollte insbesondere im Hinblick auf die demographische Entwicklung beschleunigt korrigiert werden.
Fünftens. Dies alles, meine sehr verehrten Damen und Herren — und das sage ich ganz bewußt an die Adresse auch der SPD —, erfordert eine pragmatische Wende in der Berufsbildungspolitik. Statt permanenter Systemveränderung unter dem Vorwand vermeintlicher Qualitätsverbesserung brauchen wir endlich eine nüchterne, vorurteilsfreie Besinnung auf die Grundlagen des dualen Systems, dessen substantielle Bewahrung, wie Frau Minister Dr. Wilms zu Recht feststellt, für die Unionsparteien oberste Priorität besitzt. — Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913630100
Das Wort hat der Abgeordnete Vogelsang.

Kurt Vogelsang (SPD):
Rede ID: ID0913630200
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich könnte mir vorstellen, daß der Reiz dieser Debatte sicherlich vergrößert worden wäre, wenn nach dem Kollegen Rossmanith die Frau Ministerin das Wort genommen hätte. Denn insbesondere im Hinblick auf das, was Herr Rossmanith zur Frage der überbetrieblichen Ausbildungsstellen gesagt und an kritischen Anmerkungen gemacht hat, möchte ich gern zitieren, was die Frau Ministerin in ihrer Presseverlautbarung vom 30. November 1982 dazu gesagt hat, nämlich: Die Bundesregierung wird durch den Bundeshaushalt 1983 trotz katastrophaler Finanzlage rund 500 Millionen DM einschließlich der Verpflichtungsermächtigungen für die Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten bereitstellen.

(Beifall bei der SPD)

Wir halten das in der Sache ja für richtig, Herr Rossmanith. Nur wird die Pluralität bei Ihnen ein bißchen schwierig, weil für uns keine Linie mehr erkennbar ist.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Wenn Sie die Auseinandersetzung mit Dramatisierung und Drohgebärde bis zu Lieschen Müller führen, dann müßten Sie sich ein bißchen darauf verständigen, was Sie uns vorwerfen wollen. Sie sprechen bezüglich der Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze von einer — das war Ihre wörtliche Formulierung — enormen Leistung von Industrie, Handwerk und Handel. Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, daß wir diese Ausbildung in einem Schattendasein hätten verkümmern lassen. Sie sagen im nächsten Satz, Sie hätten uns durchaus Beifall gezollt, als wir festgestellt hätten, daß bei uns berufliche Ausbildung und die akademische Ausbildung gleichen Rang hätten.
Versuchen Sie also doch einmal langsam, im Sinne der Klarheit und der Wahrheit eine Linie in Ihre Debatte hineinzubekommen.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Unerfüllbar!)

— Wenn man Mitglied des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ist, dann gibt man die Hoffnung hinsichtlich der Bildung nicht auf.
Ich darf etwas zum Sachverhalt sagen. Zumindest ist festzustellen, daß wir in einer Zeit leben, in der wir so viele Studenten haben, wie es sie noch nie gegeben hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da sagen Sie was!)

Es hat noch nie so viele Schüler an weiterführenden Schulen gegeben wie zur Zeit. Und — darauf lege ich jetzt besonderen Wert; insoweit kam der Zwischenruf ein bißchen zu früh — es hat auch noch nie so viele Ausbildungsplätze im dualen System gegeben wie im Augenblick.

(Beifall bei der SPD)

Immerhin war es unter der Regierung, die Sie so kritisieren, möglich, eine solch enorme Ausbildungsleistung zu vollbringen, daß in diesem Bereich von 1977 bis 1981 eine Steigerung um 30 % möglich war.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer redet denn von „Notstand"?! — Zuruf von der SPD: Das ist die „Erblast"!)

— Ich nehme gern Ihren Zuruf auf. Wir sind damit nicht einverstanden. Nur hatte ich, als Herr Rossmanith gesprochen hatte, den Eindruck, daß das für ihn sozusagen bis zum Ende der 80er Jahre ein Thema ist, welches er als erledigt betrachtet. Uns ist von Herrn Staatssekretär Pfeifer aus dem Ministerium schriftlich mitgeteilt worden, daß, wie Herr Schätz eben schon gesagt hat, allein in 124 Arbeitsamtsbereichen die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen größer ist als das Angebot an solchen Plätzen.
8446 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913630300
Herr Kollege Vogelsang, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rossmanith?

Kurt J. Rossmanith (CSU):
Rede ID: ID0913630400
Herr Kollege Vogelsang, wären Sie bereit, mir zuzustimmen, daß diese Steigerung um 30 % die Wirtschaft, die Unternehmungen und die freien Berufe trotz der Drohgebärden der damaligen Regierung zustande gebracht haben?

Kurt Vogelsang (SPD):
Rede ID: ID0913630500
Ich gebe Ihnen das insoweit nicht zu, als Sie die Formulierung wählen: „trotz der Drohgebärden". Erstens gibt es keine Drohgebärden in diesem Sinne. Denn ich müßte jetzt zurückfragen: Wollen Sie denn die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit in Zukunft völlig negieren oder sogar in dieser Sache völlig streichen? Was da an Zahlen in die Öffentlichkeit gekommen ist, waren doch Feststellungen der Institution, die in erster Linie berufen ist, dazu etwas zu sagen, nämlich der Bundesanstalt für Arbeit. Daraus sind Schlüsse gezogen worden. Wenn sich da eine so gewaltige Schere auseinanderzuentwickeln droht, dann kann man doch nicht still sein und sagen: wie schlimm, wie schlimm!; oder: wie schön, wie schön! Vielmehr muß in dieser Sache doch etwas geschehen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie nun sagen, wir hätten diese Drohgebärde in zu starkem Maße angewandt, müßte ich Sie jetzt eigentlich fragen: Was wollen Sie denn in Zukunft tun? Sie müßten, sofern Sie über den 6. März 1983 hinaus regieren wollen und können,

(Dr. Langner [CDU/CSU]: Wir wollen überzeugen!)

heute die Frage beantworten — nicht uns, aber den jungen Menschen draußen im Lande —, wie Sie sich die Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze vorstellen.

(Beifall bei der SPD)

Da lassen Sie uns einmal im eigenen Hause anfan-gen. Immerhin war es möglich, daß die Zahl der Ausbildungsplätze in den Betrieben, in denen es eine Bundesbeteiligung gibt, von 1973 bis 1981 um 89 % gestiegen ist. Immerhin war es möglich, daß innerhalb des Bundes die Zahl der Ausbildungsplätze von 1977 bis 1981, also innerhalb von vier Jahren um 52 % gestiegen ist und daß wir in diesem Jahr noch einmal zusätzlich mit einem Sonderprogramm 1 200 Ausbildungsplätze — das sind immerhin 10 % der Gesamtzahl — geschaffen haben. Sie haben heute die Frage zu beantworten, welche Vorstellungen Sie haben, um dieselben Steigerungsraten auch in Zukunft zu erreichen.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme zurück auf eine Presseerklärung, die Frau Dr. Wilms und Herr Daweke herausgegeben haben, als die Große Anfrage vorgelegt wurde, über die wir heute diskutieren. Ich zitiere:
Nach dieser ...
— jetzt will ich korrekt sein; ich lasse einige falsche Adjektive weg —
Antwort der Bundesregierung zur Ausbildungsplatzsituation bleibt der CDU/CSU nichts anderes übrig, als ihre Position und Vorschläge zur betrieblichen Berufsausbildung in der im Herbst anstehenden Bundestagsdebatte erneut darzulegen.
Ich habe nun wirklich versucht, sowohl Frau Benedix als auch Herrn Rossmanith aufmerksam zuzuhören. Aber wie Sie diesem in Ihrer Presseerklärung niedergelegten Anspruch heute gerecht werden wollen, ist mir bis zum Augenblick verborgen geblieben.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU)

— Das machen Sie bitte mit der Ministerin aus.
Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß das Institut für Berufsausbildung recht hatte, als es Mitte des Jahres festgestellt hat, daß die Situation besorgniserregend sei. Ich glaube auch, daß der Bund-Länder-Kommission zuzustimmen ist, daß wir zumindest für die Jahre 1983 und 1984 mit einer unvermindert hohen Nachfrage zu rechnen haben. Ich gehe sogar davon aus, daß auf Grund von Entscheidungen, die im Deutschen Bundestag möglicherweise in der nächsten Woche mit Mehrheit im bildungspolitischen Bereich getroffen werden, die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen noch mehr verstärkt wird.

(Beifall bei der SPD)

Das ist ein Punkt, auf den Sie, meine ich, eine Antwort geben müssen.
Nun haben Sie schon in der Vergangenheit einige Punkte in Verbindung mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes gebracht. Heute hat dieses Thema auch noch einmal eine Rolle gespielt. Erstens möchte ich den Herrn Zwischenfrager, der richtigerweise darauf hingewiesen hat, daß im Baugewerbe die Zahl der Ausbildungsplätze um 100% gestiegen sei und noch offene Stellen vorhanden seien, fragen, wieso denn durch eine Minderung des Jugendarbeitsschutzes noch mehr offene Stellen geschaffen werden sollen in einem Bereich, in dem die Nachfrage offensichtlich zumindest ausgeglichen ist.

(Beifall bei der SPD)

Aber die zweite Frage, die Sie beantworten müssen: Worauf stützen Sie, empirisch ermittelt — darauf legen Sie bei der BAföG-Diskussion immer so einen großen Wert —, die Feststellung, daß durch eine Verschlechterung des Jugendarbeitsschutzgesetzes die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze steigt?

(Rossmanith [CDU/CSU]: Verbesserung!)

Wir haben — Herr Neuhausen hat eben auf den Vorgang hingewiesen — schlechte Erfahrungen mit der Änderung der Ausbilder-Eignungsverordnung gemacht. Sie ist bekanntlich zum 1. Januar 1982 geändert worden. Damals ist uns von Industrie und Handel gesagt worden: Wenn das nicht geschieht, werden 50 000 Ausbilder die Möglichkeit verlieren,
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8447
Vogelsang
noch auszubilden. — Daraus hätte man schlußfolgern müssen — —

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja auch so!)

— Ja, daraus hätte man schlußfolgern müssen, daß wenigstens jeder Ausbilder einen Auszubildenden ausbildet. Daraus wiederum hätte man schlußfolgern müssen, daß diese Maßnahme dazu geführt hätte, 50 000 neue Ausbildungsplätze zu schaffen.
Gucken Sie sich einmal an, was der Industrie-und Handelstag selbst Ihnen gegenüber bekennen muß: Er ist nicht in der Lage, definitiv zu sagen, was denn diese Maßnahme an zusätzlichen Ausbildungsplätzen gebracht hat. Auf Grund dieser Erfahrungen frage ich Sie: Was bringt es tatsächlich, wenn Sie eine Verschlechterung, eine Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vornehmen werden?

(Zustimmung bei der SPD)

Nun wollen wir als Opposition — wir machen das ja nicht so, wie uns das einmal in Sonthofen empfohlen worden ist — nicht nur Fragen an Sie richten; wir sind ja bereit, bei den Antworten mitzuhelfen. Deshalb haben wir ja heute einen Entschließungsantrag eingebracht. Wir möchten Sie, Frau Minister, in dem unterstützen, was Sie vor dem Bundesinstitut gesagt haben: es sei dringend erforderlich, die örtliche und regionale Transparenz zu vergrößern, weil sie dazu beitragen könne, daß noch vorhandene Ausbildungskapazitäten erkannt und damit besser genutzt werden. Deswegen stellen wir in unserer Entschließung solche Überlegungen an, denn wir glauben, daß das ein Ansatz ist, mit dem sich etwas erreichen läßt.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte aber dazusagen: Die derzeitige Finanzierung ist ja ein sehr emotional beladenes Thema. Ich weiß jedoch aus persönlicher Erfahrung, daß es relativ leicht war, zusätzliche Ausbildungsplätze zu aktivieren, wenn den Betrieben, die sie zur Verfügung stellen, dadurch keine zusätzlichen Kosten entstehen. Wir haben das in erster Linie über das Benachteiligtenprogramm gemacht.
Ich bestreite ja nicht — ich denke, niemand bestreitet das —, daß den einzelnen Betrieben durch die Berufausbildung Kosten entstehen. Wenn es aber entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts — diese Entscheidung kam ja immerhin auf Veranlassung der CDU/CSU zustande — eine Aufgabe der privaten und öffentlichen Arbeitgeber ist, genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, warum sollen nicht wenigstens in den Bereichen, in denen ein Defizit besteht, die Betriebe, die keine oder wenig Ausbildung betreiben, zugunsten derjenigen Betriebe belastet werden, die zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen?

(Beifall bei der SPD)

Wir bieten Ihnen deshalb z. B. in Ziffer 5 unserer Entschließung an, für diese Bereiche die zuständigen Stellen, also die Kammern — d. h. keine staatlichen Stellen —, zu verpflichten, dem in ihrem Bereich bestehenden Defizit an Ausbildungsstellen
durch eine Umlage entgegenzuwirken. Ich denke, wir stellen damit unter Beweis, daß wir nicht nur als Regierungspartei in der Vergangenheit eine Berufsbildungspolitik betrieben haben, die auch auf Erfolge verweisen konnte, sondern daß wir auch als Opposition bereit sind, Ihnen Vorschläge zu unterbreiten, die Sie dann aber auch nicht leichtfertig in den Wind schlagen sollten.

(Beifall bei der SPD)

Zum Abschluß, da wir im nächsten Jahr den 500. Geburtstag Martin Luthers begehen werden, ein Wort Luthers:
Nun liegt einer Stadt Gedeihen nicht allein darin, daß man große Schätze sammelt, feste Mauern, schöne Häuser und viele Waffen anschafft, sondern das ist der Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, Heil und Kraft, daß sie viele gelehrte, vernünftige, ehrbare und gebildete Bürger hat.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Dazu kann man klatschen!)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913630600
Das Wort hat die Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913630700
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leider liegen uns von der Arbeitsverwaltung zur heutigen Diskussion noch keine neuen Zahlen über die Angebots- und Nachfrageentwicklung auf dem Ausbildungsmarkt vor, aber wir haben inzwischen Neueres von der Angebotsseite, aus den Kammerbereichen, gehört. Es zeigt sich, daß — ich muß das leider auch noch einmal sagen — eine überzogene Dramatisierung, wie wir sie zu Anfang dieses Jahres gehört haben, sich heute als nicht gerechtfertigt erweist, wenn auch die Probleme — das haben heute alle Kollegen gesagt — noch nicht voll gelöst sind.
Die Zahlen, die jetzt, Anfang Dezember, aus den Kammerbereichen von Handwerk, Industrie und Handel vorliegen, beweisen, daß das Angebot an Ausbildungsplätzen heute erheblich besser ist, als etwa noch Mitte des Jahres von manch einem befürchtet wurde. Zum 30. September 1982 — das sind jetzt die neuesten Zahlen — sind im Handwerk 5,8 % mehr Lehrverträge abgeschlossen worden als im vergangenen Jahr. Das sind, konkret gesagt, über 12 500 Plätze. Im Jahr 1981 wurden im Handwerk über 220 000 Lehrstellen neu besetzt. In Nordrhein-Westfalen berichtet das Handwerk sogar von einer Steigerung um 20,7%. Das sind rund 10 200 Plätze mehr als 1981. Auch der Deutsche Industrie-und Handelstag weist einen Zuwachs von 2,8% an neuen Ausbildungsverträgen gegenüber dem Vorjahr aus.
Ich glaube, man muß diese Zahlen zur Kenntnis nehmen, um zu sehen, welche ungeheuren Leistungen hier vollbracht worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

8448 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913630800
Frau Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913630900
Bitte.

Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID0913631000
Frau Minister, Sie müssen doch sicherlich, da Sie eine solche positive Bilanz im Blick auf das Wachstum von Ausbildungsplätzen feststellen — wir unterstreichen das, es ist zum Teil in der Amtszeit Ihres Vorgängers, des Ministers Björn Engholm, geschehen — —

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913631100
Herr Kollege, Sie wollten eine Frage stellen, nehme ich an.

Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID0913631200
Müssen Sie nicht feststellen, daß sich letztlich das Angebot gegenüber der Nachfrage ganz erheblich und dramatisch verschlechtert hat?

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913631300
Herr Kollege, ich habe meinen Beitrag gerade erst begonnen. Ich komme noch auf all die Dinge zurück; wenn Sie sich vielleicht einen Moment gedulden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Geduld ist nicht seine Stärke!)

Wir stellen aber — Sie sind mir insoweit etwas zuvorgekommen — immer noch eine Unausgewogenheit auf dem Ausbildungssektor zwischen der Angebots- und Nachfragestruktur fest. Auf der einen Seite sehen wir — die letzten Zahlen von der Arbeitsverwaltung liegen, wie gesagt, noch nicht vor —, daß offensichtlich noch Jugendliche einen Ausbildungsplatz suchen. Auf der anderen Seite — darauf ist in der Debatte schon mehrfach von Kollegen hingewiesen worden — weisen Handwerk und auch der Einzelhandel nach, daß es noch jeweils rund 10 000 offene Stellen gibt.
Erlauben Sie mir auch deshalb, an dieser Stelle — ich möchte das noch einmal sehr nachdrücklich tun — der Wirtschaft, den Betrieben — das sind Arbeitgeber, Betriebsräte und Ausbilder — einen herzlichen Dank zu sagen für diese Bemühungen, für diese Arbeit und für die Sorgen, die hinter dieser Leistung stehen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir wissen, daß gerade auch von Kleinbetrieben jetzt häufig mehr Auszubildende ausgebildet werden, als es der Nachwuchsbedarf des eigenen Betriebs erfordert. „Ausbildung über Bedarf" ist unser aller Schlagwort. Ich denke, das ist zu bejahen, auch wenn wir damit akzeptieren müssen, daß es eine Garantie für eine Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis nicht geben kann; denn sonst würden wir wahrscheinlich einen drastischen Rückgang der Ausbildungsbereitschaft vermerken. Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil man gelegentlich hört, es sei unzumutbar, daß Betriebe Auszubildende nach dem Abschluß nicht übernehmen. Ich glaube, wir können das in der gegenwärtigen Situation nicht erwarten.
Die Anstrengungen der Wirtschaft und der Betriebe sind auch deshalb besonders hervorzuheben,
weil sie unter schwierigsten Rahmenbedingungen erfolgen. Wir hatten 1981 rund 12 000 Konkurse. Für 1982 schätzt man, daß wir auf 18 000 Konkurse kommen. Ein Betrieb, der in Konkurs gegangen ist, bietet keine Arbeitsplätze und damit auch keine Ausbildungsplätze mehr an.
Trotz dieser Einbrüche im Wirtschaftsleben, die wir j a alle bedauern, sind diese Steigerungsraten im wirtschaftlichen Bereich erfolgt. Vielleicht darf ich Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen, was das konkret heißt — ich war über dieses Zahlenbild selbst überrascht —: Im Bereich der Industrie- und Handelskammer Hamburg sind im Jahre 1982 allein 800 Ausbildungsplätze durch Konkurse und Betriebsschließungen weggefallen. Im gleichen Jahr sind aber bis heute 1 310 neue Ausbildungsplätze geschaffen worden. Ich glaube, eine solche Leistung kann sich nicht eine Stadt oder eine Verwaltung an den Hut stecken, sondern das ist eine ausgesprochene Leistung der Wirtschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was müssen wir nun tun — damit komme ich auch auf einige Punkte, die der Kollege Vogelsang gerade angemahnt hat —, um mit den noch vorhandenen Problemen und Schwierigkeiten fertigzuwerden? Meine Damen und Herren, ich möchte hier noch einmal betonen: Die Ausbildungsbereitschaft verbessert sich in dem Moment, in dem sich auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern. Von daher ist es notwendig, daß die wirtschaftliche Situation insgesamt wieder auf eine andere Basis gestellt wird.
Hinzu kommt ein Zweites — ich glaube, es beweist sich immer mehr, wie richtig es ist —: Es gibt nicht den Ausbildungsmarkt. Wir sehen aus der neuen Statistik, daß einzelne Kammerbezirke im Handwerk sowie in Industrie und Handel zweistellige Zuwachsraten haben; andere haben geringere. Aber so wenig man aus bundesweiten Globalzahlen Rückschlüsse ziehen kann, so sehr muß man beim Einzelvergleich zwischen Kammerbezirken Vorsicht walten lassen. Der Bezirk München/Südbayern z. B. weist zwar nicht die größte Steigerungsrate an zusätzlichen Ausbildungsplätzen auf, gleichwohl ist der Ausbildungsmarkt nach Angaben des bayerischen Sozialministeriums ausgeglichen. Denn in München stehen 7 300 unbesetzten Stellen bisher 5 800 nicht vermittelte Bewerber gegenüber — also eine sehr positive Bilanz. Anders dagegen sieht es z. B. im Ruhrgebiet aus, obwohl die Wirtschaft gerade im Ruhrgebiet außerordentliche Steigerungsraten im Ausbildungsstellenangebot zu verzeichnen hat. Denn die Zahl der Schulabgänger ist in Nordrhein-Westfalen im Jahre 1982 infolge der Einführung des zehnten Schuljahres im Jahre 1981 überproportional gestiegen. Man muß also Angebots- und Nachfragezahlen immer auch in Relation zueinander sehen. Ich glaube, daß die Zahl der Schulabgänger und ihre berufliche Orientierung doch eine erhebliche Rolle spielen. So wird für mich immer deutlicher, daß wir wirksame Maßnahmen von allem regional und sektoral ansetzen müssen, da wir nur dann auf die örtlichen und branchenspe-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8449
Bundesminister Frau Dr. Wilms
zifischen Besonderheiten und Probleme eingehen können.
Lassen Sie mich für die Bundesregierung noch einmal ganz deutlich sagen: Wir lehnen jede Form von Dirigismus in der Berufsbildung ab. Denn sie führt nur zu mehr Bürokratie, aber nicht zur Verbesserung der Situation.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913631400
Frau Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913631500
Ja, bitte schön.

Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913631600
Bitte sehr, Herr Kollege Auch.

Dieter Auch (SPD):
Rede ID: ID0913631700
Frau Minister, haben Sie hier heute die Absicht, auch einmal etwas zu den mehr als 50 % der Industriebetriebe zu sagen, die für die Ausbildung nichts tun und nur von denen profitieren, die sich anstrengen? Dort müßte nämlich der Hebel angesetzt werden, und da reden Sie dauernd drum herum.

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913631800
Ich komme gleich auf diese Finanzierungsfrage zurück. — Es werden jetzt vielfach auch Vorschläge gemacht, weitere statistische Verfeinerungen einzuführen. Meine Damen und Herren, auch hier würde ich zur Vorsicht mahnen, weil mehr Statistik unter Umständen zu noch mehr Bürokratie führt. Das belastet gerade die Handwerksbetriebe in ganz besonderer Weise.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Da sitzen die Handwerkerfrauen nachts nämlich noch länger, um die Statistiken auszufüllen. Das muß man auch einmal deutlich sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun komme ich zur Finanzierungsfrage. Meine Damen und Herren, die Union hat von eh und je erklärt — und das erklärt auch diese Bundesregierung noch einmal —, wir lehnen eine gesetzlich verordnete Umlagefinanzierung, etwa in Form eines Fondssystems oder gesetzlich verordneter Umlagefinanzierungen der Kammern ab.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Solche gesetzlichen Umlagefinanzierungen halte ich weder für effektiv noch für ordnungspolitisch wünschenswert. Wenn Kammern oder Tarifpartner solche Vereinbarungen treffen, ist das Sache der Selbstverwaltung oder der Tarifautonomie. Hier sollte sich der Staat heraushalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Sorge ist, Herr Kollege Vogelsang, wenn wir jetzt wieder eine neue Finanzierungsdebatte führen, bringen wir eine neue Verunsicherung in die Wirtschaft hinein; die Ausbildungsbereitschaft wird zurückgehen, und damit schaden wir den jungen Leuten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913631900
Erlauben Sie eine Zwischenfrage, Frau Bundesminister? — Bitte sehr, Herr Kollege Vogelsang.

Kurt Vogelsang (SPD):
Rede ID: ID0913632000
Frau Minister, Sie haben eben gesagt, daß die CDU zu keiner Zeit zu einer Umlagefinanzierung bereit war. Darf ich Sie an Ihren Parteitagsbeschluß aus dem Jahre 1972 oder 1973 erinnern, auf dem Sie ausdrücklich diese Umlagefinanzierung beschlossen haben?

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913632100
Ich muß mich korrigieren; ich meinte, daß die Union im Bundestag zu keiner Zeit zu diesen Dingen bereit war. Ich glaube, das wissen Sie, Herr Kollege.

(Kuhlwein [SPD]: Dann kann es auch kein Teufelszeug gewesen sein!)

— Ich habe nicht von Teufelszeug gesprochen. Wir haben nur gesagt, daß wir das ordnungspolitisch und von der Wirkung her nicht für gut halten. Den Begriff Teufelszeug, Herr Kollege, haben Sie jetzt in die Debatte geworfen.
In der Debatte draußen wird häufig der Vorschlag gemacht, daß man verstärkt junge Menschen als Auszubildende in die öffentliche Verwaltung hineinnehmen sollte. Wir unterstützen das sehr, und ich bemühe mich, die Kollegen im Ministeramt zu ermuntern, in den ihnen unterstellten Bereichen der öffentlichen Verwaltung mehr junge Menschen einzustellen. Aber machen wir uns hier nichts vor! Wir werden etwas weiterhelfen können, aber wir wissen genau, daß hier mit Riesenmaßnahmen nichts zu machen ist und daß wir keine Zehntausende von jungen Leuten neu einstellen können. Trotzdem wiederhole ich meine Bereitschaft — und dahin geht auch mein Bemühen —, gerade in den Bundesressorts weitere junge Leute einzustellen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu den regionalen Maßnahmen sagen, die ich für besonders wichtig erachte. Wir müssen die Betriebe dazu ermuntern — ich stehe hier in Gesprächen mit den Kammern und mit den Verbänden —, die Zusammenarbeit von Betrieben in Ausbildungsverbundsystemen zu stärken. Vor allen Dingen müssen wir Ausbildungsbörsen schaffen, Abstimmungsgespräche zwischen Betrieben, den Kammern, der Arbeitsverwaltung und den Schulen führen. Ich glaube, daß solche Maßnahmen auf Orts-, Kreis-, Stadt- und Regionalebene sehr viel besser sind als alle anderen, zentralen Maßnahmen. Vor allen Dingen halte ich es für erforderlich, daß die Ausbildungsberufe, die Ausbildungsmöglichkeiten, die sich einem Jugendlichen in seiner Region bieten, noch viel transparenter werden; denn wir sehen j a immer noch, wie sich viele Jugendliche auf wenige Ausbildungsberufe konzentrieren. Wir müssen der Berufsberatung und der Berufsinformation in den Schulen sehr viel mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Deshalb werde ich dazu in der Kultusministerkonferenz noch ein Wort sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich unterstreiche, was von den Kollegen aller Fraktionen betont wurde: daß wir in den nächsten
8450 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Bundesminister Frau Dr. Wilms
Jahren weiter noch vor Ausbildungsproblemen stehen werden, daß die Zahl der Ausbildungswilligen sicher noch nicht in den nächsten zwei, drei Jahren rapide heruntergehen wird, einfach deshalb, weil sich die Struktur der Nachfragenden ändert, weil verstärkt junge Menschen mit Abitur oder aus den beruflichen Schulen noch in einen Ausbildungsvertrag drängen. Insoweit ist es notwendig, daß wir alle Beteiligten ermuntern, auch weiterhin in ihren Anstrengungen nicht nachzulassen. Nur lassen Sie mich noch eines sagen. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ist eben von Herrn Kollegen Schätz sehr deutlich mit dem Hinweis auf den EnqueteBericht angesprochen worden.
Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur ein Bildungsproblem, sondern vor allem auch ein Beschäftigungsproblem, ein Problem der allgemeinen Wirtschaftslage. Solange die Wirtschaft in der Talsohle ist, werden eben leider viele junge Menschen nicht den Arbeitsplatz finden, den sie sich wünschen und den sie auch bei guter Wirtschaftslage erwarten könnten.
Lassen Sie mich aber eine besondere Maßnahme noch ansprechen. Wir werden auch in Zukunft, auch im Jahre 1983, in besonderer Weise auf die benachteiligten Jugendlichen schauen müssen. Wir werden — das ist gesagt worden — unser Benachteiligtenprogramm fortsetzen, aber wir müssen die Qualität der Maßnahmen für Benachteiligte vielleicht noch weiter verbessern. Man stellt immer wieder fest, daß die Probleme etwa eines jungen Ausländers völlig andere sind als die eines lernschwachen deutschen Jugendlichen. Die Maßnahmen müssen also noch viel stärker spezialisiert werden.
Ich appelliere hier an die Bereitschaft der Betriebe. Ich möchte sie herzlich bitten, sich noch mehr als bisher für die Ausbildung auch dieser Gruppen zu öffnen. Die Durchführung der Benachteiligtenprogramme, der Berufsfördermaßnahmen für Benachteiligte, muß in das duale System eingebaut bleiben;

(Zustimmung bei der SPD)

sie darf sich hier nicht zu einer selbständigen Organisation als einer dritten Lernsäule entwickeln. Ich bin im Gespräch mit den Kammern darüber, daß wir dort noch manche Verbesserung durchführen.

(Beifall bei der SPD)

Die Modellversuche für die berufliche Bildung und für die benachteiligten Gruppen bleiben erhalten. Was wir kürzen, sind die Modellversuche im Schulbereich.

(Kuhlwein [SPD]: 5 Millionen bei der beruflichen Bildung!)

— In diesem Bereich kürzen wir nicht!
Ein Wort zu den überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Wir werden — der Kollege Rossmanith hat das auch so gemeint — in der vorgesehenen Planung bleiben. Es hat aber keinen Zweck, alles Heil in überbetrieblichen Einrichtungen zu suchen, denn
wir sehen schon jetzt, wie die Träger zum Teil mit den Folgekosten zu kämpfen haben.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wir müssen uns überlegen, wie wir vielleicht auch bei den Folgekosten ein Stück Hilfe anbieten können, damit wir den Jugendlichen und auch den Betrieben weitere Chancen, noch größere Chancen geben können.
Ein Wort zu den ausbildungshemmenden Vorschriften. Meine Damen und Herren, die auf diesem Sektor vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwürfe werden wir sorgfältig prüfen, insbesondere nachdem jetzt zwischen den Tarifpartnern keine Annäherung in der Frage erzielt werden konnte, wie man durch Tarifvereinbarungen zu der einen oder der anderen Lockerung kommen kann.

(Abg. Kuhlwein [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Für den Fall, daß Sie danach fragen wollen, Herr Kollege Kuhlwein, möchte ich mit allem Nachdruck betonen, daß es nicht darum geht, unabdingbare und notwendige Schutzrechte junger Menschen zu schmälern, etwa arbeitsmedizinisch notwendige Schutzbestimmungen für Mädchen oder für Jugendliche abzubauen. Es geht vielmehr darum, überzogene unpraktikable Rechtsvorschriften zu begradigen. Nehmen wir das Beispiel von jungen Menschen in Betrieben, die viel auf Montage arbeiten. Wir wissen genau, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn die Kolonne morgens um 5 Uhr wegzieht und der Jugendliche später hinterhergefahren werden muß. Hier kommt man, glaube ich, durch flexiblere Lösungen den praktischen Anforderungen entgegen, und man mindert damit den Schutz des jungen Menschen in keiner Weise.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913632200
Herr Kollege Kuhlwein, ich will Ihr Recht, eine Zwischenfrage zu stellen, gewiß nicht beeinträchtigen, aber die Frau Bildungsminister ist bestrebt, ihre Redezeit kurz zu halten, weil die Fraktionen eigentlich schon seit 18 Uhr Sitzungen abhalten wollten. Aber bitte sehr!

Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID0913632300
Meine Zwischenfrage ist auch ganz kurz. — Frau Minister, ich wollte nur fragen, ob Sie dabei bleiben, daß Sie — wie der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer es am 25. Oktober angekündigt hat — das Jugendarbeitsschutzgesetz noch in dieser Legislaturperiode ändern wollen, und wann Sie das gegebenenfalls noch tun wollen. Oder sollen wir in Zukunft alle Ihre Ankündigungen so wenig ernst nehmen?

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID0913632400
Ich glaube, Sie haben damit eine kleine Scherzfrage gestellt.

(Kuhlwein [SPD]: Nein!)

Es ist sicher nicht mehr möglich, das Gesetz in dieser Legislaturperiode zu ändern; jedenfalls vermute ich, daß es in dieser Legislaturperiode nicht mehr möglich sein wird. Aber ich denke, wir alle sind uns doch darüber im klaren, daß sich mit den Jahren
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8451
Bundesminister Frau Dr. Wilms
einiges an Vorstellungen eingeschlichen hat, die sehr wirklichkeitsfremd sind und die wir korrigieren müssen. Dies müssen wir nicht tun, um den Schutz junger Menschen abzubauen, sondern um eine bessere Vereinbarkeit zwischen den Bedürfnissen junger Leute und den Bedürfnissen der Betriebe herzustellen.
Herr Kollege Vogelsang, Sie fragten soeben, wo denn die zusätzlichen Ausbildungsplätze sind. Ich glaube, wir sind uns in der Frage einig, daß man sicherlich nicht auf Punkt und Komma nachzählen kann, ob nun zehn neue Ausbildungsplätze durch diese oder jene Regelung oder durch diese oder jene Anstrengung zustande gekommen sind. Ich glaube, auch hier muß man sagen, daß das allgemeine Förderungen, allgemeine Erleichterungen sind, die sich hier nicht sofort in Zahlen widerspiegeln.
Ich möchte an dieser Stelle, wenn es erlaubt ist, die Tarifpartner in aller Bescheidenheit bitten, sich vielleicht noch einmal zusammenzusetzen, um über Höhe und Struktur von Ausbildungsvergütungen nachzudenken. Ich weiß, es steht uns als Staat nicht zu, hier etwas zu sagen. Deshalb spreche ich in aller Bescheidenheit nur eine Bitte aus.

(Kuhlwein [SPD]: Ein Pausenminister reicht!)

Ich glaube, es ist gestattet, daß ich als zuständiger Minister das so sage, weil wir wissen, daß auch die Höhe der Ausbildungsvergütungen problematisch ist.
Ein weiterer Punkt: Wir haben auch mittelfristig noch darüber weiter nachzudenken, wie man neue Ausbildungsordnungen, etwa auch für Abiturienten oder für anders Qualifizierte, noch weiter entwikkeln kann. Betonen möchte ich hier aber, daß die Ausbildungsberufe im dualen System nicht an formale Zugangsvoraussetzungen geknüpft werden dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Faktisch ergeben sich Differenzen, weil nicht jeder Beruf die gleichen Anforderungen wie der andere stellt; aber formale Zugangsvoraussetzungen sollten wir hier nicht aufstellen.
Die Bundesregierung wird sich bemühen, den Berufsbildungsbericht voraussichtlich noch im Januar 1983 vor dem Ende der Legislaturperiode in Abstimmung mit dem Hauptausschuß des Bundesinstituts vorzulegen, damit die notwendigen neuesten Daten und Analysen sehr schnell vorliegen und wir dann alle gemeinsam miteinander überlegen können, was noch zu tun ist.
Meine Damen und Herren, in sehr kurzer Form den Übergang zum nächsten Thema: Fortschreibung des Bildungsgesamtplans, der j a auf der Grundlage des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 22. Mai 1982 noch von der früheren Bundesregierung dem Hohen Haus vorgelegt wurde. Lassen Sie mich hierzu festhalten: Dieser Bericht stellt lediglich einen Zwischenbericht dar; denn er umfaßt nur den Sachteil und nicht den Finanzierungsteil. Ich glaube, ohne Finanzierungsplan können wir nicht von einem Bildungsgesamtplan sprechen. Dieser Bericht ist letztlich ein Fragment, weil zur Realisierung von Bildungsplanung auch das notwendige Finanzierungsgerüst vorhanden sein muß. Ich möchte daher für die Bundesregierung klar feststellen, daß die in dem Entwurf dargestellten Planungsziele nicht verbindlich sind. Diesen Eindruck sollten wir auch in der Öffentlichkeit vermeiden, weil damit vielleicht unerfüllbare Hoffnungen geweckt werden.
Die Bund-Länder-Kommission hat im März 1982 beschlossen, die Beratungen zur Fortsetzung des Bildungsgesamtplans auszusetzen und eine Beratung der Regierungschefs von Bund und Ländern in dieser Sache zu initiieren. Die Bund-Länder-Kommission hat in ihrer Sitzung vom 2. Dezember 1982 erneut festgehalten, daß sie sich weiter mit aktuellen Fragen der Bildungs- und Beschäftigungspolitik auf Bundes- und Länderebene befassen will und wird. Die Bundesregierung sagt ein klares Ja zur Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, wobei ich eine besondere Betonung auf die Forschungsförderung lege, weil wir der Auffassung sind, daß in dieser BundLänder-Kommission wirklich ein kooperativer Föderalismus möglich ist und daß hier eine Arbeitsplattform, ein Gesprächsforum, wie es in der Satzung heißt, vorhanden ist, wo gemeinsam interessierende Themen der Beschäftigungspolitik, der Ausbildungspolitik zwischen Bund und Ländern beraten werden können. — Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Georg Leber (SPD):
Rede ID: ID0913632500
Es ist vorgesehen, daß die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD nun zu Fraktionssitzungen zusammentreten.
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundestages für etwa eine Stunde. Der genaue Beginn, zu dem die Arbeit wieder aufgenommen wird, wird über die Lautsprecherübertragungsanlage des Hauses bekanntgegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 18.10 bis 19.30 Uhr)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913632600
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weyel.

Gudrun Weyel (SPD):
Rede ID: ID0913632700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser Unterbrechung ist es zwar etwas schwierig, den Faden wieder aufzunehmen. Ich möchte aber trotzdem an die letzten Worte von Frau Wilms anschließen.
Frau Wilms hat den Gedanken geäußert, daß die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes lediglich ein Zwischenbericht sei und die Planungsziele nicht verbindlich seien. Wir müssen uns dann natürlich fragen: Wird aus dem Entwurf dieses Bildungsgesamtplanes eine Reformruine, oder kann eine neue Bundesregierung nach dem 6. März 1983 — wer immer sie auch stellen mag — darauf aufbauen, um ihre weitere Politik zu konzipieren?
8452 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Frau Weyel
Zum Inhalt möchte ich zunächst einmal feststellen: Frau Wilms hat in der Debatte über die Regierungserklärung am 14. Oktober 1982 gesagt:
Gesamtstaatliche Bildungspolitik — und das ist auch ein Fehler der vergangenen Jahre gewesen — muß das enge Zusammenwirken mit der Finanzpolitik, der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch der Sozial- und Familienpolitik und nicht zuletzt der Wissenschafts-
und Forschungspolitik sehen.
Die vorige Bundesregierung erklärt in ihrem Bericht zum Bildungsgesamtplan:
Die notwendige Abstimmung der Bildungspolitik zwischen Bund und Ländern sowie mit der Forschungs- und Finanzpolitik, der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung hat sich mit dem Bildungsgesamtplan ... bewährt.
Nach dem Vergleich dieser beiden Texte frage ich Sie: Wo ist da eigentlich der Fehler der vergangenen Jahre? Oder haben Sie zufällig noch ein falsches Blatt auf Ihrem Schreibtisch vorgefunden und dann für Ihre Rede verwendet?
Unsere Befürchtung ist, daß sich hinter dem auch heute vorgetragenen Begriff des kooperativen Föderalismus die Abkehr von gesamtstaatlicher Bildungspolitik verbirgt.

(Beifall bei der SPD)

Die Anzeichen dafür sind vorhanden und mehren sich. So schreibt z. B. der CDU-Generalsekretär Geißler in seiner Dokumentation 37: „Die Bundesregierung wird mit den Ländern über die Einführung einer Ausbildungsförderung für Schüler von Eltern mit geringem Einkommen verhandeln." Nun frage ich Sie: Was soll das eigentlich? Bisher hatten die Länder bei der Schülerförderung einen Anteil von 35 % zu tragen. Heißt das, daß sie nun 100 % der Förderung tragen sollen, und kennt Herr Geißler eigentlich die Finanzsituation der Länder nicht? Ich habe eher den Eindruck, daß die Betroffenen irregeführt werden, indem man ihnen ein Pflästerchen gibt: Das BAföG beim Bund wird gestrichen, und dafür werden dann die Länder eintreten.

(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig wird deutlich, daß dieses wohl auf Kosten der Einschränkung der Fahrtkostenzuschüsse oder der Lernmittel gehen soll. Das halten wir dann doch nicht für ganz solide.
Grundsätzlich hat die Fortschreibung des Bildungsgesamtplanes nach unserer Meinung Orientierung für die Entwicklung des Bildungswesens zu bieten. Dabei wird auch betont, was wir vorhin debattiert haben: eine ausreichende Anzahl von Ausbildungsplätzen bereitzustellen. Das Ziel ist, allen Jugendlichen, Jungen und Mädchen, eine qualifizierte Berufsausbildung zu ermöglichen. Dabei wird Wert darauf gelegt, daß Bildungs- und Berufsberatung den Schulabgängern ein möglichst realistisches Bild über die Entwicklung des Arbeitsmarktes geben sollen.
Wenn ich mir aber die Diskussion von vorhin ins Gedächtnis rufe, habe ich den Eindruck, daß die neue Bundesregierung es wie die Industrie- und Handelskammern bei der Lehrlingsausbildung hält: Wenn das Ergebnis der Lehrlingsprüfungen gut ist, dann haben die Ausbildungsbetriebe gute Arbeit geleistet; ist das Ergebnis schlecht, dann hat die Berufsschule versagt. So macht es jetzt die Regierung: Wenn es klappt, ist es die Wirtschaft, und wenn es nicht klappt, sind es der Staat und die vorige Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig wird im Bildungsgesamtplan die Politik der offenen Bildungswege gefordert und eine Ausweitung der Zulassungsbeschränkungen — vor allen Dingen in den Studiengängen mit einem breiten Berufsfeld — abgelehnt. Auch hier müssen wir die Bundesregierung fragen: Werden Sie die Bildungswege offenhalten oder müssen wir damit rechnen, daß nach dem 6. März, sofern Sie dann wieder die Regierung stellen,

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Davon können Sie ausgehen!)

alles anders aussieht? Oder müssen wir nach Ihren Äußerungen damit rechnen, daß, weil zu viele Leute studieren, der Bildungsweg dann doch geschlossen wird, damit diesem — nach Ihrer Ansicht, Herr Rossmanith — „Übel" abgeholfen wird?

(Rossmanith [CDU/CSU]: Sie haben mir nicht zugehört!)

Ein bezeichnendes Bild für die Stimmung, die zur Zeit an den Hochschulen herrscht, zeigt der Ablauf der gestrigen Veranstaltung des AStA Bonn, in dem ja bekanntlich der RCDS eine nicht geringe Rolle spielt. Vor lauter Angst, daß vielleicht jemand Protest äußern könnte, wurden die Betroffenen und vielleicht Interessierten, nämlich die Bonner Studenten, weder eingeladen noch informiert. Das Ergebnis war: Außer den Teilnehmern auf dem Podium einschließlich des Herrn Staatssekretärs

(Kuhlwein [SPD]: Der kam aber später!)

— er hört auch nicht mehr zu — und einigen wenigen pflichtbewußten Verbandsvertretern war niemand da. Eine halbe Stunde nach Beginn der Veranstaltung standen immer noch 15 Leute — bis dahin noch ohne den Herrn Staatssekretär — verloren in der Aula herum. Ich glaube, so schlägt brave Anpassung in Lächerlichkeit um.

(Beifall bei der SPD)

Wir halten ein Mindestmaß an Einheitlichkeit im Bildungswesen und Toleranz zwischen den Ländern für unverzichtbar. Hier möchte ich vor allen Dingen noch einmal die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und Berechtigungen betonen. Sie muß garantiert sein und darf nicht durch kleinliche bürokratische Regelungen ad absurdum geführt werden. Das gilt auch für die Lehramtsabschlüsse. In diesem Bereich hat die Abschottungspolitik der einzelnen Bundesländer ungeahnte Höhepunkte erreicht. Es gibt Landeskindervoten in Baden-Württemberg, in Bayern; es gibt verdeckte Schließungen in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen: Überall
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8453
Frau Weyel
wird versucht, das eine Land vom anderen Land abzuschotten, und das kann man auf die Dauer nicht geschehen lassen.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Haltung der FDP. Noch im Sommer dieses Jahres erarbeitete die Konferenz der bildungspolitischen Sprecher der FDP-Fraktionen aus Bund und Ländern ein Positionspapier zur liberalen Bildungspolitik. Darin wird gefordert — meine Damen und Herren von der CDU, hören Sie gut zu; ich zitiere jetzt wörtlich aus dem Papier —,
durch eine Verfassungsänderung die Vorzüge einer klaren bundesstaatlichen Gliederung zu bewahren und gleichzeitig die Funktionsfähigkeit des föderativen demokratisch-parlamentarischen Entscheidungssystems zu stärken. Der Bund sollte deshalb durch eine Verfassungsänderung die Kompetenz zur Regelung der Bildungspflicht und zur Regelung der Übergänge und Abschlüsse im Bildungswesen erhalten.
In der Aussprache zur Regierungserklärung forderte Frau von Braun-Stützer immer noch, daß der Bildungsgesamtplan 2 zur Grundlage der gesamtstaatlichen Bildungspolitik wird. Wir begrüßen das. Es ist sehr schön, daß Sie das fordern.

(Beifall bei der SPD)

Ich freue mich, daß hier offensichtlich Übereinstimmung zwischen Ihnen und der Frau Minister besteht, daß die Bund-Länder-Kommission gestärkt werden soll, aber die Frage ist: Gilt das nachher noch, wenn Sie Ihren Redebeitrag halten, Frau von Braun-Stützer? Oder geht es wie bei der Ausbildungsförderung, bei der Sie sich mit Worten noch am Tage der Beratung im Ausschuß mit Vehemenz für die Erhaltung des BAföG eingesetzt haben, während Sie bei der Abstimmung für die Abschaffung des Schüler-BAföG waren? Vielleicht gilt das auch nur für den Bereich der Bildungspolitik; denn offensichtlich hat sich in den Köpfen der Bildungspolitiker der FDP die Wende noch nicht so vollkommen vollzogen. Nur im Abstimmungsverhältnis weiß man es nicht ganz genau. Ich bewundere Sie, Frau von Braun-Stützer, für die neue Kunstübung, die Sie eingeführt haben und die sicher als der gewendete Braun-Stützer-Überschlag in die Geschichte dieses Parlaments eingeführt werden wird: ein zweifacher Salto rückwärts mit doppelter Schraube.

(Beifall bei der SPD)

Wir befürchten, daß die schönen Worte, die wir in der Erklärung von Frau Wilms über geistige Orientierung und Lebenssinn gehört haben, die nun für die künftige Bildungspolitik bestimmend sein sollen, nichts als eben das sind: schöne Worte.
Wir haben durchaus Verständnis dafür, daß in der kurzen Zeit, in der diese Bundesregierung amtiert — die ja nun bemessen ist —, im Bildungsbereich nichts geschehen ist außer der Streichung des BAföG und der Einschränkung der Modellversuche. Aber wir befürchten, daß nach dem 6. März eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung, die schon jetzt — Sie haben dafür mein volles Mitgefühl —
die Position der FDP so gut wie gar nicht mehr berücksichtigt, die Bundesrepublik bildungspolitisch um Jahrzehnte zurückführt.

(Beifall bei der SPD)

Ich stelle zum Schluß fest, was die Absicht des Bildungsgesamtplans war und was unsere Absicht bleibt: die Leistungsfähigkeit im Bildungswesen zu verbessern, die berufliche Bildung zu stärken, Bildungswege offenzuhalten, Ausländerkinder zu integrieren und die Forschung zu fördern. Das sind unserer Meinung nach Aufgaben nationaler Dimension, die nicht von den Ländern allein gelöst werden können. Sie erfordern ein Zusammenwirken von Bund und Ländern und die Abstimmung mit allen anderen Politikbereichen. Wir haben heute oft genug gehört, wie das für die Abstimmung mit der Wirtschaft für den Bereich der beruflichen Bildung und das Beschäftigungssystem gelten muß. Zur Erfüllung dieser Gemeinschaftsaufgabe nach Art. 91 b des Grundgesetzes muß die 1970 in Übereinstimmung aller politischen Kräfte geschaffene BundLänder-Kommission für Bildungsplanung verstärkt genutzt — darüber sind wir uns offensichtlich alle einig — und der vorliegende Entwurf der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans vollendet werden, wobei selbstverständlich ist, daß die Frage der Finanzierung eine Rolle spielen muß. Aber wir sollten im Bildungsbereich nicht die Finanzen vor den Geist stellen. — Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Engel [FDP])


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913632800
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.

Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID0913632900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag diskutiert heute zum zweiten Male über die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans. Die Debatte hängt wohl mit dem Umstand zusammen, daß unmittelbar vor dem Regierungswechsel am 1. Oktober in vielen Ministerien ein Wust von Papieren ausgestoßen wurde, um die Diskussion noch in eine bestimmte Richtung festzuschreiben. Ein solches Kuckucksei ist auch die Drucksache 9/2012, die aus dem seit dem Antritt des alten sozialdemokratischen Bildungsministers vorliegenden Entwurf — Stand übrigens 15. Dezember 1980 — und einem etwas aktuelleren Beiblatt besteht. Die alte Regierung bezog sich dabei auf einen Mehrheitsbeschluß des Bundestags vom 27. Mai 1982

(Zuruf des Abg. Rossmanith [CDU/CSU])

— genau —, der aber meines Erachtens wegen der fortgefallenen Mehrheit die Verpflichtung wohl nicht mehr entfalten konnte.
Wenn wir diesen Bericht heute dennoch diskutieren, dann sollten wir uns drei Fragen stellen, und zwar nicht die Fragen, Frau Kollegin Weyel, die Sie zu ganz anderen Themen gestellt haben. Sie haben zunächst die Frage gestellt, ob der Entwurf eine Ruine werden könnte. Dazu kann man eines sagen. Solange Herr Engholm im Amt war, ist dieser Bericht nicht weiter bearbeitet worden; das waren immerhin zwei Jahre. Zweitens haben Sie sich inten-
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Austermann
siv zum Thema BAföG ausgelassen. Selbstverständlich reduziert sich der Anteil der Länder, wenn sich die Gesamtförderungsmasse reduziert. Im übrigen muß man, glaube ich, feststellen, daß, wenn man aus einer individuellen Förderung eine Massenförderung macht, dann selbstverständlich auch die Substanz des BAföG angegriffen wird; wo die Ursachen dafür zu suchen sind, ist, glaube ich, klar.
Wenn wir diesen Bericht heute erörtern, dann sollten wir uns drei Fragen stellen. Die erste: Was kann Bildungsplanung überhaupt erreichen? Zweitens. Was hat sie unter den fünf sozialdemokratischen Ministern — jeder im Schnitt zwei Jahre und sechs Monate im Amt, der letzte ein Jahr und acht Monate — erreicht? Drittens. Was kann sie in der gegenwärtigen politischen Landschaft erreichen? Ohne weitere Mutmaßungen über die Sinnhaftigkeit von Planung oder Planwirtschaft anzustellen, kann man wohl feststellen, was der Grund für Planung im besten Sinne sein sollte, nämlich die Entwicklung vorauszusehen und mit geeigneten Maßnahmen rechtzeitig zu reagieren.
Die Bilanz, die der Entwurf des Gesamtplans II selbst enthält, bestätigt eines: Alte Zielsetzungen, Ergebnisse und Praxis sowie neue Aufgaben und neue Ziele klaffen teilweise erheblich auseinander. Aber neue, ungelöste Probleme drängen, die von der Planung bisher nicht erfaßt worden sind. Wenn man an dem Plan hängt, dann kann man sich nicht darauf beschränken, zu sagen: Wir wollen diesen jetzt vorliegenden Entwurf in dieser Form festschreiben.
Im Elementar- und Schulbereich z. B. wurde, wenn man von der Entwicklung der Schulen auf dem Dorfe ausgeht, viel Positives, aber auch einiges Negative erreicht. Im Bereich der Hochschulen allerdings klaffen Planung und Realität erheblich auseinander. Zielzahlen über Studienplätze und tatsächliche Studentenzahlen sind den hier Anwesenden bestens bekannt — übrigens ein Ergebnis, das der Kollege Weisskirchen hier zu meiner Irritierung unlängst als „phantastische Leistung", bezogen auf den Hochschulbau, bezeichnet hat.
Am Ende der Ära Engholm und seiner Vorgänger haben wir trotz Bildungsgesamtplan eine ganze Fülle von weiteren Fehlentwicklungen und falschen Schritten festzustellen. Ich darf das hier, auch wenn Ihnen das vielleicht nicht so gefällt, einmal kurz hintereinander auflisten: Die alte Bundesregierung hat die Mittel für den Hochschulbau bei steigenden Studentenzahlen gekürzt; .

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

sie hat den zum sozialen Umfeld der Hochschulen gehörenden Studentenwohnheimbau — bei wachsendem, drängendem Wohnraumbedarf — eingestellt; sie hat die individuelle Ausbildungsförderung bis zur Unfinanzierbarkeit zur Massenförderung aufgebläht; sie hat die Mittel für die Förderung Graduierter an den Hochschulen gestrichen; die Unterstützung der Forschung läßt zu wünschen übrig; das Bildungs- und Beschäftigungssystem klaffen in Teilbereichen auseinander. Ich nenne nur die Stichworte Akademikerarbeitslosigkeit und hier speziell
die Lehrerarbeitslosigkeit mit der, wie der Kollege Daweke immer gesagt hat, am besten prognostizierten Krise — trotz der Planung, trotz des Bildungsgesamtplans.
Die neuen Wege der geplanten antiautoritären, emanzipatorischen Erziehung zur größeren Kritikfähigkeit oder Selbstverwirklichung beschäftigen uns heute in anderer Weise. Hier ist die Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" mehrfach zitiert worden. Ich glaube, das häufige Zitieren kann doch nur eins unterstreichen: daß hier ein Mißstand besteht; dafür ist die Enquete-Kommission ein Beweis. Welche Auswirkungen dieser Mißstand haben wird, werden wir dann später feststellen.
Bei der Erziehung zu Werten — das ist eine weitere Fehlentwicklung — ist der pädagogische Ansatz in der Vergangenheit eindeutig zu wenig beachtet worden.
Zur Integration ausländischer Kinder, zum gegliederten Schulwesen, seiner Erhaltungswürdigkeit sowie zur Entwicklung des Numerus clausus in der letzten Zeit gäbe es einiges zu sagen.
Man muß weiter feststellen, daß die Ziele des Gesamtplanes in einigen Ländern immer weniger beachtet wurden. Ich nenne hier z. B. das Faktum, das die „Versuchsschule" Gesamtschule, die sie j a nach der Übereinkunft noch ist, in manchem Land inzwischen zur Regelschule erklärt worden ist. Der erste Bildungsgesamtplan ist also nur teilweise ein Maßstab für die Politik der Länder, vor allem aber auch des Bundes unter der alten Bundesregierung gewesen.
Schließlich: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik hat die Voraussetzungen für die berufliche Bildung verschlechtert. Ich möchte das zusammenfassen mit der Feststellung: Die Zahl der Unterstützungsbedürftigen hat im Bereich der Bildungspolitik unter der Ägide sozialdemokratischer Regierungen zugenommen. In diesem Zusammenhang darf ich ein nettes Sprichwort aus dem norddeutschen Raum zitieren. Ich möchte das nicht in plattdeutsch, sondern in hochdeutsch tun, weil das außer dem Kollegen Kuhlwein sonst wahrscheinlich keiner verstünde.

(Zurufe von der SPD: Was? — Ronneburger [FDP]: Protest!)

— Ich bitte um Entschuldigung. — In hochdeutsch jedenfalls lautet es: Es ist leichter, einen Hund an einer Wurst vorbeizuführen als einen SPD-Mann an der Versuchung, im Bildungsbereich ständig neue Experimente zu machen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Waltemathe [SPD]: Das hört sich sehr platt an, aber nicht deutsch! — Magin [CDU/CSU]: „SPD" kann man auf Platt nicht sagen! — Roth [SPD]: Bei der „Wurst" ist das Würstchen nicht fern!)

— Herr Roth, von Ihnen haben wir soeben nicht gesprochen.
Es wäre sinnvoll, auch einmal die Bandbreite aufzuzeigen, mit der heute in den Bundesländern
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Bildungspolitik betrieben wird, welche divergierenden Auffassungen nicht nur in bezug auf den Finanzbedarf bestehen. Wenn wir uns die Ziele vor Augen halten, dann müssen wir berücksichtigen, daß der Gesamtplan in seinem Entwurf zu einer Zeit aufgestellt wurde, als allgemein noch nicht mit rückläufigen Mitteln gerechnet wurde. Dennoch sind offensichtlich einige heute noch nicht bereit, den Plan den Realitäten anzupassen.
Ich glaube, daß einige auch heute noch nicht bereit sind, sich voll hinter alle Aussagen zu stellen, die der Bildungsgesamtplan in seinem Entwurf enthält, zum Beispiel hinter die Aussage: „Begabung und Neigung sind gezielt zu fördern" oder: „Die Leistungsbereitschaft muß stabilisiert werden und verstärkt zu Erfolgserlebnissen führen" oder: „In einer überschaubar gestalteten Schule sind individuelle Förderungsinitiative und Zusammenarbeit besser möglich." Wie paßt das z. B. zu dem Bestreben von Herrn Engholm, in Schleswig-Holstein die Gesamtschule flächendeckend einzuführen?
Eine wesentliche Aussage der alten Bundesregierung vermögen wir überhaupt nicht zu teilen, die im Vorbericht des Bildungsgesamtplanentwurfs enthalten ist; es heißt dort: „Die Abstimmung zwischen bildungspolitischen Zielvorstellungen und finanzwirtschaftlichen Möglichkeiten bedarf keiner ins einzelne gehenden oder gar auf einen bestimmten Betrag fixierten Festlegung der längerfristig erforderlichen Finanzmittel." Diese Aussage der alten Bundesregierung zeigt deutlich, was die Ursache für die finanzielle Situation ist, in der wir uns heute befinden. Sie steht auch im eklatanten Widerspruch zu der Auffassung, die Sie am letzten Freitag hier zur mittelfristigen Finanzplanung geäußert haben. Wenn ich das umdrehen darf, dann ist nach Ihrem eigenen Urteil der Bildungsgesamtplan in seinem Entwurf wegen des fehlenden Finanzierungsteils ein Beispiel finanzpolitischer Konzeptionslosigkeit.
Zusammenfassend kann man meines Erachtens folgendes festhalten. Der vorgelegte Bericht kann bisher keinesfalls als konkrete Handlungsanweisung angesehen werden. Mehr als bisher — hier teile ich voll die Aussage von Frau Minister Wilms — müssen Bund und Länder auf ein Mindestmaß an Einheitlichkeit hinwirken. Hohes Bildungsniveau und soziale Chancengerechtigkeit lassen sich am besten durch ein vielfältig gegliedertes und nach Leistungsanspruch differenziertes Bildungssystem verwirklichen.

(Zuruf von der SPD: So wichtig ist das, daß er es nur herunterhaspelt!)

Es muß Schluß sein mit Experimenten im Schul-und im Bildungsbereich, und ein stärkerer Realitätsbezug im Bildungswesen soll durch eine nachdrückliche Betonung, die Erziehung zu Werten und durch eine Berücksichtigung der Verbindung von schulischer Ausbildung und beruflichen Chancen erreicht werden.

(Zuruf von der SPD) — Ich kann Sie leider nicht verstehen.


(Zuruf von der SPD: Ihre Rede war ohne Betonung!)

— Vielen Dank! Dann will ich das beim letzten Satz tun, damit Sie das denn auch verstehen.
Die Probleme der ausreichenden Angebote in beruflicher Bildung und Hochschule müssen unter Beachtung der finanziellen Gegebenheiten, der Leistungssteigerung, der gezielten Förderung Begabter und stärkerer Berücksichtigung des Beschäftigungssystems in Angriff genommen werden.
In diesem Sinne halten wir — als solches würde auch ich mit Frau Minister Wilms diesen Entwurf bezeichnen — das „Fragment" der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans für eine Arbeitsgrundlage, die am Anfang eines Neubeginns in der Bildungspolitik steht. Wir sind bereit, diesen Neubeginn zu machen. — Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913633000
Das Wort hat Frau Abgeordnete von Braun-Stützer.

Carola von Braun-Stützer (FDP):
Rede ID: ID0913633100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Weyel, um meine persönliche Glaubwürdigkeit brauche ich mir keine großen Sorgen zu machen.

(Beifall bei der FDP)

Ich halte nichts von der These, daß man als Politiker als Held in Einsamkeit und Größe sterben sollte. Ich halte mehr davon, daß man in der Sache weiterkommt. Ich meine, daß wir in der Sache durch die Resolution entschieden weitergekommen sind. Der Einsatz der Bildungspolitiker in der FDP-Fraktion hat immerhin dazu geführt, daß die ganze Fraktion in dieser Frage geschlossen hinter uns stand. In Ihrer Fraktion hat es im vorigen Jahr immerhin der Rücktrittsdrohung eines Ministers bedurft, um in der Sache weiterzukommen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich komme mir bei dem Vergleich nicht so vor, als ob ich mich rechtfertigen müßte.
An dieser Stelle wurde schon oft von mir und von anderen Kollegen der FDP darauf hingewiesen, daß die Liberalen schon deshalb engagiert für einen kooperativen Föderalismus eintreten, weil nur er eine angemessene Verteilung von Macht garantiert. Gerade dies aber, so meinen wir, gibt uns das Recht, uns ebenso engagiert und anhaltend für eine stetigere Form des Föderalismus und eine tabufreie Diskussion über die Mängel und Krankheiten des Föderalismus einzusetzen. Deshalb haben wir seinerzeit die Unterrichtung des Parlaments über den Stand der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans erbeten.
Es wird niemanden in diesem Hause wundern, daß die Freien Demokraten diesen Bericht, auch wenn er selbstverständlich keine bindende Wirkung hat, als eine Bestätigung ihrer altbekannten Forderung ansehen, daß — so unser Ceterum censeo — die bildungspolitischen Kompetenzen von Bund und Ländern neu geregelt werden müssen. Wir wissen, daß dies kein kurzfristig zu erreichendes Ziel ist, aber wir hoffen, daß das hartnäckige Bohren dicker Bretter auf längere Sicht Erfolg haben wird.
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Frau von Braun-Stützer
Wir bedauern, daß es noch nicht gelungen ist, einen Finanzrahmen für den Bildungsgesamtplan abzustimmen. Wir sind der Ansicht, daß die Differenzen zwischen der Kultusseite und der Finanzministerkonferenz in den Parlamenten offen diskutiert werden können und müssen. Dies gehört unserer Ansicht nach zur gesamtstaatlichen Verantwortung des Deutschen Bundestages auch für den Bereich der Bildungs- und Wissenschaftspolitik.
Die Freien Demokraten sind und bleiben der Ansicht, daß Bildungsausgaben investive, nicht konsumtive Ausgaben sind. Anders als die Finanzministerkonferenz und in Übereinstimmung mit Nordrhein-Westfalen und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten sind wir der Ansicht, daß die unbestreitbar notwendigen Einsparungen im Personalkostenbereich nicht dadurch erreicht werden dürfen, daß Stellen eingespart werden, sondern durch Senkung der Pro-Kopf-Kosten erzielt werden müssen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

Ralf Dahrendorf hat vor kurzem in einem bundesweit diskutierten Beitrag in der „Zeit" darauf hingewiesen, den Industriegesellschaften gehe die Arbeit aus, und deshalb müsse man über neue Konzepte nachdenken. Wachstum hilft zwar, aber allein reicht es nicht zur Bekämpfung der strukturellen Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten aus. Der Kuchen „Arbeit" muß insgesamt anders verteilt werden.
Die FDP bittet die Bundesregierung deshalb, alle vorliegenden Vorschläge zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu prüfen. Ebenso bedeutsam erscheint es uns in diesem Zusammenhang, auch die Übertragbarkeit dieser Vorschläge zunächst auf den tariffähigen und in einem zweiten Schritt auch auf den dienstrechtlichen Bereich des öffentlichen Dienstes zu untersuchen. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die 1979 beschlossene und blitzschnell in den Schubladen verschwundene Untersuchung von Bund und Ländern zur kostenneutralen Ausweitung des öffentlichen Dienstes. In dieser Untersuchung wurden seinerzeit eine ganz erhebliche Anzahl von Vorschlägen unterbreitet, mit denen die Pro-Kopf-Kosten im öffentlichen Dienst gesenkt werden können, wodurch in Bereichen mit dringendem Einstellungsbedarf mehr Stellen angeboten werden könnten.
Wir würden es deshalb begrüßen, wenn die Bundesregierung so bald wie möglich mit den Ländern in Verhandlungen einträte, um gemeinsam zu prüfen, wie die Aufnahmemöglichkeiten des öffentlichen Dienstes verbessert werden können, und zwar — das versteht sich von selbst — bei gleichbleibendem Gesamtbesoldungsaufwand — einschließlich der Einstufung von Hochschulabsolventen im öffentlichen Dienst.

(Zustimmung bei der FDP)

Ich bitte um Verständnis dafür, daß wir hier einigermaßen holzschnittartig diskutieren. Wir alle haben etwas weniger Zeit bekommen, als wir vorher berechnet hatten. Deshalb kurz und ohne Um-
schweife zum Thema „Bildung und Beschäftigung".
Die Freien Demokraten teilen die Auffassung, daß es durchaus möglich und notwendig ist, Bildung und Beschäftigung mehr als bisher aufeinander abzustimmen. Wir warnen allerdings vor überzogenen Erwartungen. Die Ausbildung eines Jugendlichen dauert lange; die Bedarfsprognosen des Beschäftigungssystems ändern sich dagegen schnell und häufig. Das einzige, was im Beschäftigungssystem immer feststand und feststeht, ist die Tatsache, daß jede Ausbildung besser ist als gar keine.

(Zustimmung bei der SPD)

Deshalb haben die Bildungspolitiker aller Parteien zu Recht immer wieder gefordert, daß die Ausbildungsbetriebe über den eigenen Bedarf hinaus ausbilden müssen. Öffentlicher Dienst und Wirtschaft haben dies getan und damit in hohem Maße verantwortlich gehandelt.
Die erste Bugwelle von Jugendlichen, die eine Ausbildung abgeschlossen haben, aber im ausbildenden Betrieb keine Anstellung finden können, erreicht im nächsten Sommer den Arbeitsmarkt. Die nachfolgenden Wellen werden, so befürchten wir, die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt noch erheblich verschärfen.
Für die FDP war Bildung immer ein Bürgerrecht und ein Wert an sich. Bildung befähigt den Menschen, nicht nur sein Arbeitsleben, sondern auch sein ganzes Lebensumfeld in Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu gestalten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieses Ziel — Bildung als Wert an sich — wird im Schatten der Arbeitsmarktprobleme der 80er Jahre von manchen Bürgern möglicherweise geringgeschätzt werden, obwohl es gerade jetzt besonders notwendig ist.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Schon jetzt ist es keineswegs mehr sicher, daß höhere Ausbildung auch zu höherem Einkommen und höherem Sozialstatus führen wird. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Entwicklung eher noch zunehmen wird, mit Folgewirkungen auf das Bildungs- und Beschäftigungssystem, die wir sehr genau beobachten müssen. Ein Rückschlag in der Bildungsmotivation in unserer Bevölkerung wegen dieser geringeren Einkommenserwartungen liegt nicht im Interesse des einzelnen und nicht im Interesse des Beschäftigungssystems.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Statt dessen brauchen wir eine regelrechte Qualifizierungsoffensive. Der Qualifizierungsbedarf des Beschäftigungssystems wird schon im Erstausbildungsbereich, ganz sicher aber im Weiterbildungsbereich weiter steigen. Deshalb halten die Freien Demokraten es für wenig sinnvoll, vorhandene Bildungskapazitäten zu schließen. Wir befürworten daher eine mit der demographischen Entwicklung fortschreitende Umwidmung der Bildungskapazitä-
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Frau von Braun-Stützer
ten auf den steigenden Weiterbildungsbedarf ab Mitte der 80er Jahre.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der SPD)

Wegen der Kürze der verbliebenen Zeit nur noch ein paar grundsätzliche Überlegungen. Seit Mitte der 70er Jahre wußten die Politikbereiche Wirtschaft, Bildung und Finanzen, was ab Anfang der 80er Jahre auf uns zukommen würde. Alle wirtschaftspolitischen Prognosen besagten, daß keinesfalls mehr mit einem Wachstum von 5 % zu rechnen sein werde, und nur damit wäre der bisherige Beschäftigungsstand zu halten gewesen. Ebenso bekannt waren die Probleme, die mit dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in berufliche Bildung, Hochschulen und Arbeitsmarkt verbunden sein würden. Es gab zwar gewisse zaghafte Ansätze zur Abstimmung zwischen Bildung und Beschäftigung. Informationen und Daten lagen seit Jahren in Hülle und Fülle vor. Trotzdem — das ist unsere große Sorge — reagieren die Parteien, die Verwaltung und das gesamte politische System erst dann wirklich, wenn das Problem schon über die Türschwelle getreten ist.
Diese langsame, überschwerfällige Reaktion auf vorhersehbare Problemberge halte ich für einen sehr gefährlichen Systemfehler, der die parlamentarische Demokratie möglicherweise ernsthaft gefährden kann. Wir können und dürfen uns die gleichen Fehler nicht mehr leisten. Eine Abstimmung zwischen Bildung und Beschäftigung ist notwendiger denn je, nicht im Sinne einer Ausrichtung des Bildungswesens nach kurzfristigen und folglich für den Jugendlichen unzuverlässigen Bedarfsprognosen, sondern im Sinne eines komplexen Handlungsansatzes, im Sinne einer konzertierten Aktion Bildung und Beschäftigung. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913633200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (SPD):
Rede ID: ID0913633300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin von Braun-Stützer hat hier unsere Schwierigkeiten, die wir vor einem Jahr einmal mit dem BAföG gehabt haben, zitiert, um sich selbst zu entlasten. Frau Kollegin, die Freien Demokraten, soweit es sie noch gibt, sind sich in der Sache einig und stimmen dann für das Gegenteil. Wir dagegen diskutieren Sachen zu Ende und stimmen dann auch dafür. Das macht den entscheidenden qualitativen Unterschied aus.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe mich vor allem gemeldet, um mich mit dem Kollegen Austermann auseinanderzusetzen, der insgesamt den Sinn von Bildungsgesamtplanung bezweifelt hat. Ich glaube, wenn Sie auf dem Deckblatt des Bildungsgesamtplanes lesen, um welche Punkte es ging, als die Kommission 1977 beschlossen hat, den Bildungsgesamtplan fortzuschreiben, dann werden Sie feststellen, daß das genau die Punkte sind, die uns auch in der Zukunft noch ganz massiv beschäftigen werden und die auch hier heute in der Debatte eine starke Rolle
gespielt haben. Ich empfehle denjenigen, die hier über Bildungsgesamtplanung diskutieren und das für nutzlos halten, wenigstens einmal den Versuch zu machen, den Bericht in einigen Passagen nachzulesen, weil dort zwischen dem Bund und den Bundesländern in der Sache, wenn auch nicht finanzpolitisch, abgestimmte Entwicklungslinien aufgezeichnet werden, aus denen man gemeinsam eine ganze Menge lernen könnte.

(Beifall bei der SPD)

Allein deswegen hat es auch einen Sinn, daß sich der Deutsche Bundestag mit diesem Bildungsgesamtplan beschäftigt. Zum Beispiel finden Sie auf Seite 25 eines unserer Themen hier: Schule und Arbeitswelt, Bildungs- und Beschäftigungssystem.
Ich möchte allerdings all denjenigen, die jetzt eine konzertierte Aktion zur Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystemen empfehlen, nahelegen, darüber nachzudenken, wie sich ein Bildungssystem an einem Beschäftigungssystem orientieren soll, das zur Zeit gut zwei Millionen Arbeitslose produziert hat,

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Sie produziert haben!)

und wo das Beschäftigungssystem verläßliche Orientierungen dafür abgeben soll, wie das Bildungssystem aussehen soll.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe da sehr große Schwierigkeiten, weil heute auch einige von denen, die nach unserer und auch nach Ihrer Auffassung als Facharbeiter richtig qualifiziert sind, in Berufen, von denen man annimmt, daß sie zukunftsträchtig sind, auf der Straße liegen und keiner sagen kann, wie die Berufschancen Ende der 80er Jahre aussehen werden.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Trotzdem bleiben auch wir natürlich dabei, daß eine Ausbildung, breit angelegt, mit Sicherheit das Beste ist, was man jungen Leuten empfehlen kann.

(Rossmanith [CDU/CSU]: Wenn Sie das vor 13 Jahren gemacht hätten, hätten wir heute nicht zwei Millionen Arbeitslose!)

Herr Kollege Austermann, Sie haben die Wirksamkeit des ersten Bildungsgesamtplans in Frage gestellt. Da kann man natürlich auf Plattdeutsch sagen — ich sage es wirklich auf Plattdeutsch —: „Wat dem enen sin Uhl, is dem andern sin Nachtigall".

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Übersetzen Sie das einmal!)

Für Sie war das halt nicht so positiv, daß sehr viel mehr Leute als früher weiterführende Schulen besuchen konnten. Für Sie war es halt nicht positiv, daß die Durchlässigkeit des Bildungssystems in diesen Jahren der Wirksamkeit des Bildungsgesamtplans I ausgebaut wurde. Für uns war das wünschenswert, und wir freuen uns darüber. Auch wenn die Begeisterung von Herrn Weisskirchen neulich einmal etwas hochgeschlagen ist, meinen wir, daß wir unser Bildungssystem in den Zeiten
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Kuhlwein
der sozialliberalen Koalition ein ganzes Stück vorangebracht haben und daß wir auch darauf stolz sind, was wir da erreicht haben.

(Beifall bei der SPD — Rossmanith [CDU/ CSU]: Auf dem falschen Weg vorangebracht!)

Daß wir heute wegen der starken Jahrgänge zusätzliche Schwierigkeiten haben, sollten Sie nicht den Sozialdemokraten allein anlasten. Nicht alle Kinder, die heute im Bildungssystem sind, sind von Sozialdemokraten in die Welt gesetzt worden.

(Rossmanith [CDU/CSU]: Können die das überhaupt?)

Die quantitativen Probleme sind uns nicht anzulasten. Wieviel Kinder haben Sie denn überhaupt? Wer hat denn da eben gerufen?

(Rossmanith [CDU/CSU]: Vier!)

— Herr Rossmanith, vier Kinder. Ich habe auch vier Kinder. Dann sind wir uns einig.
Herr Kollege Austermann, eine Bitte habe ich noch — das gilt auch für den bevorstehenden schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf —: Beherzigen Sie, daß man nicht falsch Zeugnis wider seinen Nächsten reden soll.

(Magin [CDU/CSU]: Das hat schon einmal einer gesagt!)

Wenn Sie behaupten, Herr Engholm wolle die Gesamtschule flächendeckend einführen, wollen Sie damit den Eindruck erwecken, die Sozialdemokraten wollten das dreigliedrige Schulsystem abschaffen und durch die Gesamtschule ersetzen.

(Rossmanith [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein haben beschlossen, daß die Gesamtschule von uns als Regelschule, die zugleich Angebotsschule sein soll, dort, wo Eltern das wünschen, eingeführt wird,

(Beifall bei der SPD)

weil wir der Meinung sind, daß das Elternrecht nicht nur für das dreigliedrige Schulsystem gelten darf, sondern auch für die Errichtung von Gesamtschulen gelten muß.

(Beifall bei der SPD)

Eine letzte Bemerkung. Die Debatte heute hat zur Zukunft der Berufsausbildung, aber auch zur Weiterentwicklung und Nutzung des Bildungsgesamtplans von der Seite der Bundesregierung her, aber auch von den Sprechern der Rechtskoalition her wenig Aufhellung gebracht, und sie hat vor allem keine konstruktiven Vorschläge gebracht,

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das gilt auch für den jetzigen Beitrag!)

wie die Probleme der nächsten Jahre bewältigt werden sollen. So, wie das hier nebenbei dargestellt worden ist — das gilt auch für die Rede von Frau Minister Wilms —, werden sich die Probleme nicht lösen lassen. Wir Sozialdemokraten hier im Deutschen Bundestag werden von der Bundesregierung nach wie vor eine aktive Bildungspolitik verlangen, so wie sie von Sozialdemokraten in den letzten
13 Jahren praktiziert worden ist, so wie wir das in den letzten 13 Jahren gemacht haben. Nur dann haben wir eine Chance, die Probleme der nächsten zehn Jahre zu bewältigen. — Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913633400
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Zu der Großen Anfrage betreffend Ausbildungsplatzsituation — Tagesordnungspunkt 5 a — liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 9/2216 vor. — Das Wort wird dazu nicht gewünscht.
Es ist beantragt, den Entschließungsantrag an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — federführend — und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke schön. Gegenstimmen? — Der Überweisungsantrag ist damit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 5 b) und 5 c). Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Berichte unter den Tagesordnungspunkten 5 b) und 5 c) auf den Drucksachen 9/2012 und 9/1934 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Ist das Haus mit diesen Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundeskleingartengesetzes (BKleinG)

— Drucksache 9/1900 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (16. Ausschuß)

— Drucksache 9/2232 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Schreiber (Solingen) Magin

(Erste Beratung 117. Sitzung)

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus mit dieser Regelung einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Magin.

Theo Magin (CDU):
Rede ID: ID0913633500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der heutigen Schlußberatung des Bundeskleingartengesetzes können wir feststellen, daß wir die für dieses Gesetz gesteckten Ziele erreicht haben. Bei der Einbringung am 30. Septem-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8459
Magin
ber in diesem Hause hatte ich angekündigt, daß wir unabhängig von allen politischen Ereignissen dieses Gesetz, auf das alle Betroffenen seit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1979 warten, noch in diesem Jahr zum Abschluß bringen wollen. Die zügige und sorgfältige Beratung im Ausschuß, die vom Bundesverband der Deutschen Gartenfreunde, die auch heute hier die Beratung mitverfolgen,

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr gut!)

und vom Bundesverband der Kommunalen Spitzenverbände sachkundig unterstützt wurde, hat dies möglich gemacht. Dafür danken wir allen Beteiligten, besonders dem ehemaligen und jetzigen Minister, Herrn Dr. Haack, und Herrn Dr. Schneider, dem ehemaligen und jetzigen Parlamentarischen Staatssekretär, Herrn Dr. Sperling und Herrn Dr. Jahn, ihren Mitarbeitern und den beiden bereits genannten Verbänden.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Meine Damen und Herren, das Gesetz wird heute beschlossen und kann zum 1. April 1983 in Kraft treten. Bis dahin bleibt den davon Betroffenen noch genügend Zeit, sich auf die neuen Regelungen einzustellen.
Wir beschließen heute ein Gesetz, meine Damen und Herren, das der heutigen sozialpolitischen und städtebaulichen Stellung des Kleingartenwesens in der Bundesrepublik Deutschland gerecht wird und das mit dem Grundgesetz, insbesondere mit der Gewährleistung des Eigentums, in Einklang steht. Das alte Kleingartenrecht, das mit dem heute zu beschließenden Gesetz abgelöst wird, hatte sich insbesondere in den Notzeiten nach dem Ersten Weltkrieg und in den Notjahren des Zweiten Weltkriegs und danach entwickelt, in einer Zeit also, als die Kleingärten in erster Linie der Versorgung mit Nahrungsmitteln dienten. Damals waren die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht ausreichend, die für die Ernährung bestimmter Bevölkerungskreise wichtige Grundstücksnutzung zu sichern und vor Preistreiberei zu schützen. So war auch folgerichtig das alte Kleingartenrecht geprägt durch den Ausschluß befristeter Verträge, durch die weitgehende Beschränkung der Kündigung durch den Verpächter, durch die Festsetzung des Pachtzinses auf einer, wie wir wissen, sehr niedrigen Höhe, durch die Pflicht, im Falle der Kündigung Ersatzgelände zu stellen und durch die Verpflichtung, eine Kündigung behördlich genehmigen zu lassen. Durch häufige Veränderungen waren die Rechtsvorschriften zudem unübersichtlich und für die Betroffenen kaum mehr zu durchschauen.
Wie schon erwähnt, sah das Bundesverfassungsgericht die Beibehaltung dieses Regelungssystems, das in Kriegs- und Notzeiten zum Schutz lebenswichtiger Interessen eingeführt worden war, als für die heutige Zeit nicht mehr gerechtfertigt an. Das neue Gesetz trägt dem Bedeutungswandel des Kleingartenwesens Rechnung. Darin werden nun wieder die Rechtsregeln den allgemeinen Grundlagen des Vertragsrechts, wie im Bürgerlichen Gesetzbuch enthalten, angenähert. Dies zeigen insbesondere die Regelungen über die Kündigung von Kleingarten-Pachtverträgen, über die Vertragsdauer und den zulässigen Höchstpachtzins. Die enumerative Aufzählung der Kündigungsgründe bei Kündigung durch den Verpächter wird beibehalten. Die Möglichkeiten zur Kündigung von Kleingarten-Pachtverträgen werden jedoch erweitert. Eine Kündigung wird demnach künftig möglich sein bei Eigenbedarf des Verpächters, bei einer anderen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks, wenn dem Verpächter die Fortsetzung des Pachtverhältnisses wirtschaftlich nicht mehr zumutbar ist und eine andere Nutzung planungsrechtlich zulässig ist oder wenn die Neuordnung einer Anlage notwendig ist, um z. B. die Einzelgärten zu verkleinern oder Wege, Spielplätze und andere Gemeinschaftseinrichtungen vorzusehen und einzelne Pächter ihre Mitwirkung verweigern.
Befristete Verträge werden zugelassen, wenn die Kleingartenanlage nicht in einem Bebauungsplan festgelegt ist.
Die Pachtpreisbindung bleibt beibehalten. Neu ist hier nur, daß als Beurteilungsmaßstab der Bodenpachtmarkt des erwerbsmäßigen Obst- und Gemüsebaus herangezogen wird. Als Höchstpachtzins kann der doppelte Betrag des hier ortsüblichen Pachtzinses verlangt werden. Er kann im Rythmus von drei Jahren an die jeweilige Veränderung auf dem Bodenpachtmarkt angepaßt werden.
Trotz dieser Liberalisierung des geltenden Rechtes bleibt das Kleingartenwesen in seiner Substanz geschützt. Dabei wird durch die Pachtzinsregelung sichergestellt, daß auch dem sozial schwächeren Teil der Bevölkerung die Anpachtung eines Kleingartens möglich bleibt.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir betrachten es als für den Pächter zumutbar, wenn künftig für einen Kleingarten von 400 Quadratmetern statt bisher durchschnittlich 30 DM im Jahr nunmehr bis zu 120 DM, also 10 DM im Monat, verlangt werden können.
Ein weiteres gestecktes Ziel wurde erreicht, nämlich Inhalt und Formulierung dieses Gesetzes deutlich und klar zu gestalten. So wird dieses Gesetz für alle Betroffenen durchschaubar und gibt ihnen die rechtliche Sicherheit, die Auslegungsschwierigkeiten erst gar nicht auftreten läßt. Dies galt insbesondere bei der eindeutigen Begriffsbestimmung der Kleingartenanlagen in Abgrenzung zu anderen gartenähnlichen Nutzungsarten, bei der Festlegung der Größe und der Ausstattung der Laube und bei der ausdrücklichen Darstellung, daß die bebauungsplanrechtlichen Vorschriften über die Zulässigkeit von baulichen Anlagen unberührt bleiben.
In diesem Sinne wurden auch die Vorschläge des Bundesrates geprüft und zum Teil in Formulierungen der Bundesregierung aufgenommen.
Ziel war auch, die Zuständigkeiten für Entscheidungen möglichst auf die Ebene zu verlagern, auf der sich Pächter und Verpächter partnerschaftlich begegnen können.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

8460 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Magin
So hielten wir es für wichtig, daß die Festlegung der Pachtobergrenze nicht durch eine Verordnung der Bundesländer, wie im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehen, sondern möglichst ortsnah im partnerschaftlichen Miteinander von Pächter und Verpächter erfolgt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesländer mit einer Verordnung zur näheren Pachtzinsregelung einzuschalten, war unseres Erachtens nach überflüssig. Sie hätten lediglich den ortsüblichen Pachtpreis im Obst und Gemüsebau zu ermitteln gehabt, eine Tätigkeit, die man den Vertragspartnern überlassen kann. Denn wenn die Landesregierungen, wie im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehen, keinen Gebrauch von der Verordnungsermächtigung gemacht hätten, wäre es ohnehin den Vertragsparteien überlassen geblieben, sich zu einigen. Im Bedarfsfall kann nun nach einer Regelung, die einstimmig im Ausschuß verabschiedet wurde, beim Gutachterausschuß nach § 137 Bundesbaugesetz ein Gutachten über die ortsüblichen Pachtzinsen eingeholt werden. Durch diese Regelung wurde jedenfalls die Einrichtung einer weiteren bürokratischen Institution, die, wie wir meinen, fern von der Wirklichkeit operiert hätte, vermieden.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: So ist es!)

Ein weiteres Ziel, das wir mit der Beratung dieses Gesetzes erreicht haben, ist die weitgehende Übereinstimmung im Ausschuß und auch mit den betroffenen Verbänden. Ich nenne hier den „Bund der deutschen Gartenfreunde" und die kommunalen Spitzenverbände. Übereinstimmung ist wichtig. Sie läßt gleichgerichtetes Handeln im Interesse aller Betroffenen und der wichtigen Aufgaben, die das Kleingartenwesen zu erfüllen hat, erwarten.
Ein Punkt, nämlich die Frage, ob die Öffnung der Kleingartenanlagen für die Allgemeinheit künftig vom Gesetzgeber vorgeschrieben wird oder der freien Entscheidung der Kleingartenvereine vorbehalten bleibt, ist bis heute strittig geblieben. Um es klar zu sagen: Wir — das darf ich für die CDU/CSU-Fraktion erklären — wünschen, daß möglichst alle Kleingartenanlagen für die Allgemeinheit geöffnet werden, um möglichst viele Bürger an dem gestalteten Stück Natur teilhaben zu lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir dürfen feststellen, daß dies in der Vergangenheit in vielen Fällen bereits ohne gesetzliche Regelung erfolgt ist.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)

Dies berechtigt uns zu der Hoffnung, daß auch zukünftig Kleingartenanlagen für alle zugänglich sein werden, zumal die Verbände der Kleingärtner gerade in den vergangenen Monaten immer wieder zum Ausdruck gebracht haben, daß sie die Öffnung der Anlagen als Verpflichtung betrachten.

(Beifall bei der CDU/CSU) Wir begrüßen dankbar diese Aussage.

Herr Waltemathe, Ihrem Einwand, wir müßten es in das Gesetz schreiben, kann ich nur entgegenhalten: Wir halten es für wertvoller, daß die Kleingartenverbände selbstverantwortlich über die Öffnung entscheiden und nicht durch eine gesetzliche Regelung dazu zwangsverpflichtet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sehr richtig! Waltemathe gegen den mündigen Bürger!)

Rechtlich ist die Öffnung der Anlage ja nicht geboten. Deshalb heißt unsere Devise, meine Damen und Herren: Kein Zwang, wo Freiwilligkeit möglich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr gut!)

In Anbetracht der sozialpolitischen und städtebaulichen Bedeutung des Kleingartenwesens war es für uns selbstverständlich, diese rechtliche Materie wieder in Form eines Sonderrechts zu regeln. In diesem Zusammenhang haben wir uns auch mit der besonderen Problematik in der Stadt Berlin, in der das Kleingartenwesen traditionell besonders gepflegt wird, befaßt. Im Ausschuß bestand Einvernehmen darüber, daß es trotz der besonderen Lage Berlins keine rechtlichen Sonderregelungen geben sollte, zumal die Bundesregierung bemüht war, die besondere Kleingartenproblematik Berlins zu berücksichtigen.
Wir hoffen und wünschen, daß von diesem Gesetz positive Impulse ausgehen, daß sich private Grundstückseigentümer stärker als bisher bereit finden, Kleingartenland zur Verfügung zu stellen. Die Erfahrung zeigte, daß der Mangel an Kleingartenland nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, daß befristete Verträge als auf unbestimmte Dauer geschlossen galten. Die Zulassung befristeter Verträge ändert insoweit wesentlich die geltende Rechtslage.
Wir hoffen, daß auch unsere Städte und Gemeinden noch mehr als in der Vergangenheit Flächen für diese wichtige städtebauliche und sozialpolitische Aufgabe bereitstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nur wenn mehr private und kommunale Grundstücke für Kleingartenanlagen zur Verfügung gestellt werden, wird es möglich sein, vielen insbesondere in unseren großen Städten wohnenden Menschen den Wunsch zu erfüllen, einen Kleingarten zu pachten.
Auch hier darf ich nochmals eine Bemerkung zur Sondersituation in Berlin machen. Dort ist es aus den Gründen, die Sie alle kennen, besonders schwierig, Flächen für Kleingärten zur Verfügung zu stellen. Deshalb appellieren wir besonders an alle privaten Grundstücksbesitzer und auch an Bundesbahn, Bundespost und die Kirchen, soweit als möglich Grundstücke für diese Aufgabe abzutreten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, die Aufgabe ist wichtig. Sie verleiht — das dürfen wir hier zu Recht sagen; das ist keine Gefühlsduselei — unseren
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8461
Magin
Städten eine menschlichere Dimension. Sie bringt mehr Grün und eine bessere Auflockerung der Bebauung. Außerdem ermöglicht sie vielen Menschen auch eine bessere Teilhabe und ein tieferes Verständnis und Verstehen für die Natur.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die Erfahrungen hinsichtlich der Wirkungen des Kleingartenwesens haben die Annahme der Gründer Dr. Hauschild und Dr. Schreber, beide aus Leipzig stammend, bestätigt und bestätigen sie auch noch heute, nämlich daß die Betätigung in Kleingärten den Menschen mehr Möglichkeiten der personalen Entfaltung und mehr Heimatbewußtsein — und das bedeutet, wie Eduard Spranger es definiert hat, mehr „seelisches Wurzelgefühl" — gibt. Wir wissen, wie sehr Gestaltung in und mit der Natur Umgebung zur Umwelt macht, Verantwortungsbewußtsein hervorbringt und das persönliche und soziale Verhalten der Menschen in positiver Weise prägt.
Wir hoffen in diesem Sinne, daß dieses Gesetz dazu beiträgt, die Bedeutung des Kleingartenwesens noch mehr zu erkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913633600
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiber.

Heinz Schreiber (SPD):
Rede ID: ID0913633700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man als zweiter Redner zu einer Sache spricht, die wir bis auf einen Punkt einvernehmlich geregelt haben, hat man oft nur die Chance, zu einigen Punkten noch eine besondere Meinung vorzubringen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das reicht auch!)

Das will ich gerne versuchen.
Wir schließen uns zunächst einmal dem Dank des Kollegen Magin an die beteiligten Damen und Herren aus den Ministerien und auch an das Ausschußsekretariat an. Wir sind durch die gute Vor- und Zuarbeit dieser beiden Institutionen in die Lage versetzt worden, diesen Gesetzentwurf zügig und gründlich zu beraten. Das war ein Versprechen, das wir hier am 30. September abgegeben haben. Ich kann heute feststellen, daß wir es unsererseits eingehalten haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich freue mich auch, daß das Kleingartengesetz auf ein so großes Interesse stößt, daß die Vertreter der Gartenfreunde heute hier zuhören. Wir sind durch ihre Äußerungen in der nichtöffentlichen Anhörung am 24. November, ebenso aber auch durch die Äußerungen der Vertreter des Deutschen Städtetages und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes in unserer Meinungsbildung hilfreich unterstützt worden.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Es war eine sehr sachkundige Unterstützung!)

Meine Damen und Herren, wir haben bei diesem Gesetzentwurf alle Punkte einvernehmlich beschlossen, abgesehen von einem Punkt, zu dem ich gleich auch noch einige Worte sage.
Wir regeln durch diesen Gesetzentwurf, wie er uns heute vorliegt, nur diejenigen Rechtsbereiche, die unbedingt bundesseitig geregelt werden müssen. Alles andere, was schon bisher in bewährter Weise vor Ort geregelt werden konnte, soll nach unserer Vorstellung auch weiterhin vor Ort geregelt werden können.
Der Ordnung halber will ich noch einige Punkte aufzeigen.
Wir haben nun festgelegt, daß ein Kleingarten 400 qm und eine Laube einschließlich eines überdachten Freisitzes 24 qm groß sein soll. Wir haben uns hier auf die Laubengröße Berlins geeinigt, auch um eine Sondervorschrift für Berlin zu vermeiden.
Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich sagen, daß die 24 qm für uns eine Obergrenze sind, die nicht auf jeden Fall erreicht werden muß. Durch die Landesbauordnungen und die Bebauungspläne in den Gemeinden können selbstverständlich kleinere Laubengrößen vorgeschrieben werden. Das kann unter Umständen auch deswegen erwünscht sein, um eine Entwicklung zu Ferienhaus- und Wochenendsiedlungen zu unterbinden. Ebenso ist für die Übernahme eines Kleingartens eine große Laube eher hinderlich, da die Entschädigung höher ausfällt. In dem Zusammenhang muß erwähnt werden, daß keine Laube abgerissen oder verkleinert werden muß, wenn sie nach altem Recht größer ist, als es die neue Obergrenze von 24 qm vorschreibt.

(Beifall bei der SPD)

Der Pachtzins darf höchstens der doppelte Betrag des ortsüblichen Pachtzinses im erwerbsmäßigen Obst- und Gemüseanbau sein, und zwar bezogen auf die Gesamtfläche der Kleinanlage. Wir haben uns im Ausschuß einvernehmlich auf die ortsnahe Pachtpreisregelung geeinigt, indem auch wir zugestimmt haben, daß die örtlichen Gutachterausschüsse über die ortsübliche Pacht anzuhören sind.
Durch die neue Pachtzinsregelung wird lediglich eine Höchstgrenze festgelegt. Selbstverständlich können die Vertragsparteien niedrigere Pachtzinsen vereinbaren. Insoweit können also die Leistungen der Kleingärtner und ihrer Vereine für gemeinschaftliche Einrichtungen, insbesondere für die Pflege der Flächen, die der Allgemeinheit zugänglich sind, berücksichtigt werden. Wir halten einen Abschlag für diese Leistungen durchaus für angemessen.
Bei den Vorschriften über die ordentliche Kündigung haben wir den Kündigungstermin allgemein auf den 30. November eines Jahres festgelegt, um ein vollständiges Abernten zu gestatten. Die Kündigungsfristen sind jedoch unterschiedlich gestaltet worden. Im Falle der Flächenkündigung erschien es uns zweckmäßig, die Dauer einer ganzen Vegetationsperiode vorzusehen. Kündigungstermin ist dann also Anfang Februar. Im Fall der Einzelkündigung ist es sinnvoll, auch während der Vegetationsperiode eine Kündigung zuzulassen.
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Schreiber (Solingen)

In diesem Zusammenhang muß ich auch erwähnen, daß wir die speziellen Berliner Probleme nicht haben lösen können. Auch wir bedauern das auch sehr. Aber, Herr Kollege Magin, ich darf vielleicht anmerken, daß der Appell an die Kirchen und an die Privatleute, ihren guten Willen zu zeigen und jetzt verstärkt Pachtland auszuweisen, nicht ausreicht. Ich glaube vielmehr, daß in erster Linie der Berliner Senat angesprochen werden muß, damit er die bebauungsrechtlichen und planungsrechtlichen Voraussetzungen dafür schafft, daß Kleingartengelände ausgewiesen werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Für uns Sozialdemokraten ist es besonders wichtig, daß durch das neue Gesetz die bauplanerische Sicherstellung von Kleingartengelände erreicht werden kann. Die Überleitungsvorschriften ermöglichen, daß unter Einhaltung der im Gesetz genannten Fristen grundsätzlich alle Kleingartenflächen durch die Gemeinden als Dauerkleingärten abgesichert werden können.

(Müntefering [SPD]: Das ist sehr wichtig!)

Die Kleingartenvereine und ihre Organisationen und darüber hinaus natürlich gerade die Gemeindeparlamentarier haben nunmehr, sofern sie das noch nicht wahrgenommen haben, die Aufgabe — wir fordern sie heute ausdrücklich dazu auf —, dafür Sorge zu tragen, daß in ausreichendem Maß Kleingartengelände durch Bebauuungspläne in den Gemeinden ausgewiesen und auch abgesichert wird.

(Beifall bei der SPD)

Bisher schon haben die Gemeinden beträchtliche Leistungen für die Kleingartenanlagen und für Kleingärtner erbracht. Viele Anlagen haben eine günstige Lage, und für den Boden könnte durch eine andere Verwendung ein guter Preis erzielt werden. Die neue Pachtpreisvorschrift orientiert sich jedoch nicht am Markt, sondern bindet den Pachtpreis an das nach der Statistik preiswerteste Pachtland. Die Gemeinden haben auf Grund des Bundesbaugesetzes eine besondere Verpflichtung, Kleingartengelände auszuweisen. Wir haben den Eindruck, daß sie diese Verpflichtung auch ernst nehmen.
Wenn also die Gemeinden auch weiterhin große finanzielle Leistungen erbringen sollen, so erwächst daraus umgekehrt für die Kleingärtner eine soziale Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit. Wir meinen deswegen, daß die Kleingartenanlagen tagsüber der Allgemeinheit zugänglich sein sollten, es sei denn, die örtlichen Verhältnisse ließen es nicht zu. Wir gehen hier einig mit dem Deutschen Städtetag, der noch vor wenigen Tagen in einem Schnellbrief ausgeführt hat — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —:
Gerade wer will, daß die Kommunen über ihre bisherigen großen Anstrengungen hinaus weiter Kleingartenflächen ausweisen, um den bestehenden Bedarf in den dicht besiedelten Gebieten zu befriedigen, muß im Gesetz verankern, daß als Gegenleistung für diese Aufwendungen die Zugänglichkeit der Kleingartenanlagen für die Tageszeit im Gesetz geregelt wird.

(Beifall bei der SPD — Dr. Möller [CDU/ CSU]: Das ist nicht schlüssig! — Waltemathe [SPD]: Die CDU/CSU hat im Städtetag die Mehrheit!)

— So ist es.
Der Vollständigkeit halber will ich noch erwähnen, daß durch dieses neue Gesetz auch die Eigentümerrechte eingeschränkt werden. Das trifft zu für den Pachtpreis, für die begrenzten Kündigungsmöglichkeiten und für die Vorschrift, unbegrenzte Verträge über Dauerkleingärten abzuschließen. In der Gewährung der Gegenleistung durch die Begünstigten, d. h. also hier allgemeine Zugänglichkeit der Kleingartenanlagen, wird das Risiko einer möglichen Verfassungswidrigkeit vermieden. Darüber hinaus stelle ich fest, daß sich unsere Haltung mit der des Bundesrates, der CDU/CSU-Kollegen im Landwirtschaftsausschuß und mit der Haltung der FDP deckt, die von der sozialliberalen Koalition bis zur ersten Ausschußberatung beibehalten wurde.
Die generelle Öffnung der Kleingartenanlagen ist überdies eine Forderung der Kleingärtner selbst. Die Kleingärtner wollen wie bisher ihren Beitrag für das öffentliche Grün, für die Naherholung der Stadtbevölkerung und zur Geselligkeit leisten. Durch eine Öffnung soll weiterhin vermieden werden, daß sich die Kleingartensiedlungen zu Ferienhaus- und Wochenendkolonien umwandeln, die unter Umständen den Charakter eines exklusiven Klubs erlangen könnten. Vor allen Dingen wollen sie keinen „Kleingartenfriedhof", und sie wollen auch keine „Inzucht".
Wir Sozialdemokraten wollen also nur das festschreiben, was heute bereits überwiegend auf freiwilliger Basis üblich ist. Wir befürchten zusammen mit dem Deutschen Städtetag, daß die Streichung der Öffnungsklausel von einzelnen interessierten Kleingärtnern als Aufforderung empfunden werden könnte, von der weitgehend bestehenden Bereitschaft zur Öffnung der Anlagen abzurücken.
Meine Damen und Herren, unsere gegenüber dem Regierungsentwurf geänderte Formulierung gestattet die großzügige Ausnahme von der Regel, über die wie bisher unmittelbar vor Ort entschieden werden sollte. Für uns Sozialdemokraten ist das Gesetz erst vollständig, in seinem Gesamtzusammenhang ausbalanciert, wenn für den Regelfall die Öffnung der Kleingartenanlage festgeschrieben wird.

(Beifall bei der SPD)

Da es sich hierbei doch wohl kaum um eine Prestigeangelegenheit handeln kann, sondern vielmehr um eine Sachforderung, die dem Interesse aller entspricht, hoffen wir, daß sich CDU/CSU und FDP unseren Vorschlägen nicht verschließen.
Herr Kollege Magin, wir haben soeben über einen Brief gesprochen, der aus Ludwigshafen gekommen ist. Wir haben den Eindruck, daß ein prominenter Bürger aus Ludwigshafen eventuell eine Vorgabe in bezug auf die Freiwilligkeit der Öffnung
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8463
Schreiber (Solingen)

gemacht haben könnte. Wir stellen also mit Befriedigung fest, daß das nicht von den örtlichen Kleingärtnern gekommen sein kann.

(Zuruf von der SPD: Auch nicht aus Rheinland-Pfalz!)

Zum Schluß darf ich noch zwei Punkte ansprechen.
Ich möchte anregen, daß Länder und Gemeinden Schiedsstellen auf freiwilliger Basis einrichten. Es kann sicher ein Großteil der Streitigkeiten, die sich immer ergeben, geklärt werden, bevor die ordentlichen Gerichte bemüht werden müssen.
Wir haben uns außerdem mit der Frage der Gemeindekleingartenausschüsse nach schleswig-holsteinischem Recht befaßt. Wir sehen keine Notwendigkeit, bewährte Institutionen abzuschaffen oder in ihrer Zuständigkeit zu beschränken.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Abschluß folgendes für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion feststellen:
Erstens. Kleingärten und Kleingartenanlagen haben eine große gesellschaftspolitische Bedeutung. In ihnen findet eine sinnvolle, Freude bereitende Freizeitbetätigung statt. Kleingärtner sorgen für eine gesunde Umwelt und dienen damit der Allgemeinheit.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Die Kleingärtner erhalten oft Sondernutzungsrechte an wertvollen gemeindlichen Flächen, die nicht zum Nulltarif zu erhalten sind. Die Pachten müssen aber andererseits auch niedrig bleiben, damit der Durchschnittsverdiener, also der kleine Mann, einen Kleingarten halten kann.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Es darf für ihn und seine Familie finanziell nicht unmöglich sein, sich einen Teil seiner Lebensqualität — das heißt für ihn: Freizeit, Naherholung, Nahrungsmittelversorgung — selbst zu gestalten.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Drittens. Wir danken den über 650 000 Kleingärtnern, ihren Vereinen und Organisationen für das, was sie bislang auch für die Allgemeinheit geleistet haben, wir danken aber auch den Gemeindevertretern, die auf ihre Weise das Kleingartenwesen fördern.
Wir Sozialdemokraten werden auch künftig beide Seiten stützen und fördern. — Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913633800
Das Wort hat Frau Abgeordnete Noth.

Erke Noth (FDP):
Rede ID: ID0913633900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie meine Kollegen Vorredner hier schon deutlich gemacht haben, ging eine längere kontroverse Diskussion der Entscheidung über die Frage voran, ob die Kleingartenanlagen tagsüber der Öffentlichkeit zugänglich sein sollten. Da ich einige Minuten Redezeit an die Fraktion der CDU/ CSU abgegeben habe,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

lassen Sie mich ohne weitere einleitende Bemerkungen zunächst zu diesem Punkt sprechen.

(Waltemathe [SPD]: Sie stimmen für die Öffnung!)

Es gibt, wie aus der Beratung hervorging, eine ganze Reihe wichtiger Gesichtspunkte, die dafür gesprochen hätten, eine Öffnung der Kleingartenanlagen im Gesetz vorzusehen. Insbesondere befürworteten ja auch die kommunalen Spitzenorganisationen und die Vertreter der Kleingärtnerorganisationen eine Öffnung. Unter Würdigung vieler Argumente dafür und dagegen haben sie dies getan. Sie sind immerhin Betroffene und Fachleute. Ohne die Argumente im einzelnen wiedergeben zu können, möchte ich doch folgendes dazu sagen.
Aus einem Gesetz sollte meines Erachtens stets die Absicht des Gesetzgebers klar herauslesbar sein,

(Beifall bei allen Fraktionen)

insbesondere in Fällen wie dem Bundeskleingartengesetz, das mit Sicherheit auch viele interessierte Laien — wohlgemerkt: Laien — als Leser finden wird.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Wenn also die Erwartung des Gesetzgebers dahin geht, daß die Kleingärten in der Regel der Allgemeinheit zugänglich sein sollten — Ausnahme: die örtlichen Gegebenheiten lassen dies nicht zu —, dann sollte dies auch um der Klarheit willen im Gesetz verankert werden.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für mich jedenfalls wird ein Gesetz nicht etwa dadurch „liberaler", daß den Bürgern — in diesem Fall insbesondere den Kommunalpolitikern — bestimmte Erwartungen des Gesetzgebers nicht mitgeteilt werden. In diesem Zusammenhang den Begriff „liberal" einzuführen, wie es im Ausschuß angelegentlich geschehen ist, halte ich, gelinde gesagt, für verfehlt.

(Sehr wahr! bei der SPD — Zurufe von der SPD)

— Ja, ich befriedige Ihre Neugier.
Indes, die Regierung hat im Ausschuß erklärt — das ist identisch mit der Auffassung der Ausschußmehrheit —,

(Roth [SPD]: Das ist keine Wende, das ist eine Saltowende!)

sie gehe davon aus, daß auch künftig die Öffnung von Kleingartenanlagen der Regelfall sein werde.

(Gallus [FDP]: Ohne Gesetz!)

Dies mag zusammen mit den Protokollen über unsere Debatten für den Fall gerichtlich notwendig werdender Entscheidungen genügen. Ich habe mich dahin belehren lassen — das mag vielleicht auch
8464 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Frau Noth
für die Opposition ganz hilfreich sein zu hören —, daß diese Materialien — Zitat — den ,,objektivierten Sinn des Gesetzgebers" wiedergeben.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: So ist es!)

Also werden wir unsere Bedenken in diesem Punkt zurückstellen.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Waltemathe ist ganz traurig!)

Wir werden allerdings die weitere Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen.

(Zuruf von der SPD: Tun Sie das auch?) — Das tue ich, Herr Kollege.

Die Beratungen hatten jedoch eine Reihe erfreulicher Änderungen des Gesetzentwurfs zur Folge, die hier auch zur Sprache kommen sollen. Allen voran stelle ich fest, daß sich das Bundeskleingartengesetz auch in der jetzigen Fassung darauf beschränkt, unumgängliche Rahmenbedingungen zu erlassen, so daß insbesondere die Gemeinden „vor Ort" diesen Rahmen noch ausfüllen können, wie es ihnen für ihre jeweilige Entscheidungssituation sinnvoll erscheint. Diese bürgernahe bzw. praxisnahe Tendenz des Gesetzes hat sich nach meinem Eindruck im Laufe der Beratungen noch verstärkt; dies möchte ich ausdrücklich begrüßen.
Ich möchte hier erwähnen: die im Ausschuß getroffenen Entscheidungen über die Laubengröße von 24 qm Grundfläche einschließlich überdachtem Freisitz, wobei wir die Berliner Verhältnisse vor Augen hatten,

(Gallus [FDP]: Die Laubenpieper!)

die Bestimmung in § 4, wonach der nach § 137 Bundesbaugesetz eingerichtete und örtlich zuständige Gutachterausschuß auf Antrag einer Vertragspartei ein Gutachten über den ortsüblichen Pachtpreis im erwerbsmäßigen Obst- und Gemüsebau zu erstatten hat, und über die in § 8 getroffene Differenzierung der Kündigungsvorschriften je nach Schwere oder Bedeutung der Kündigungsgründe — eine wesentliche Änderung gegenüber dem Entwurf.
Nicht weniger wichtig sind die Bestimmungen, daß Zwischenpachtverträge nur mit als gemeinnützig anerkannten Kleingartenorganisationen abgeschlossen werden sollen, daß Pachtzinsveränderungen frühestens nach drei Jahren seit Vertragsschluß oder der vorhergehenden Anpassung erfolgen dürfen, daß Kündigungsentschädigungen fällig werden, sobald das Pachtverhältnis beendet und der Kleingarten geräumt ist, daß in besonderen Fällen durch Enteignung Kleingartenpachtverträge begründet werden können und daß schließlich z. B. die Überleitungsvorschriften für bestehende Kleingärten durch Verlängerung der Fristen bis zum 31. März 1987 gelten.
Meine Damen und Herren, würdigt man den jetzt zur Verabschiedung stehenden Gesetzentwurf insgesamt, dann kommt meine Fraktion zu dem Ergebnis, daß wir diesem Gesetz unsere Zustimmung geben wollen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir danken den Verfassern des bereits erfreulich praxisnahen Regierungsentwurfs. Wir danken dem Ausschußsekretariat für die gute Zuarbeit, und wir danken den beratenden Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen, die im Vorfeld der Beratungen bis in die Ausschußarbeit hinein ihren Rat und ihre Erfahrungen mit eingespeist haben.
Den Kommunen wünsche ich, daß sie den gesetzlichen Planungsspielraum hinsichtlich der Festlegungen, z. B. im Bebauungsplan, nutzen, ohne die individuell so verschiedenen Wünsche der Kleingärtner allzu sehr einzuengen. Ich wünsche den 2 Millionen Kleingärtnern sowie allen, die es werden wollen, allezeit viel Freude an und in ihrem kleinen grünen Paradies. — Danke schön.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913634000
Das Wort hat der Abgeordnete Zierer.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Der geht jetzt ins Paradies!)


Benno Zierer (CSU):
Rede ID: ID0913634100
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Mein Kollege Magin von der CDU/ CSU-Fraktion hat bereits auf den Wert der Kleingärten in der Nachkriegszeit als notwendige Versorgungshilfe armer Bevölkerungsschichten und auf den in der heutigen Zeit hervorzuhebenden sozialpolitischen Gesichtspunkt hingewiesen.
Es ist festzustellen, daß sich das Kleingartenwesen in den letzten Jahren mehr und mehr in den Bereich der Freizeitgestaltung, der Erholung und der Kommunikation verlagert hat. Das ist auch auf die Tendenz der heutigen Industriewelt, die Arbeitszeit zu verkürzen, zurückzuführen. Das Ziel, vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten, muß daher auch bei der Ausweisung von Kleingartengebieten durch die Städte und Gemeinden besonders beachtet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Doch auch in städtebaulicher und umweltpolitischer Hinsicht, meine Damen, meine Herren, darf man die Bedeutung von Kleingartenanlagen nicht verkennen. Diese grünen Inseln, meine Damen, meine Herren, müssen als wertvoller Beitrag auch im Sinne des Umweltschutzes gesehen werden. Die Gartenfreunde tragen nämlich durch die Pflege ihrer Kleingärten und die Bepflanzung mit Bäumen und Sträuchern zur Durchgrünung unserer Städte wesentlich mit bei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Viel mehr als die Grünen!)

Für die Kommunen ist dies eine aktive und wertvolle Unterstützung bei ihrer Aufgabe, für die Ausgewogenheit von Wohn-, Gewerbe- und Grünflächen zu sorgen. Hier zeigt sich, meine Damen, meine Herren, daß Privatinitiative nicht hoch genug einzuschätzen ist. Außerdem werden dadurch — das nur nebenbei bemerkt — auch die Haushalte unserer Kommunen entlastet, eine nicht unwesentliche Tat-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8465
Zierer
sache im Rahmen der Behandlung dieses Gesetzes.
Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der auf unbürokratische Weise in erster Linie einen Schutzauftrag zu erfüllen hat; staatlichen Dirigismus lehnen wir ab. Deshalb, Herr Kollege Schreber — —

(Heiterkeit bei allen Fraktionen — Zurufe von der SPD)

— Herr Kollege Schreiber von der SPD-Fraktion, es ist doch naheliegend, daß man sich hier versprechen kann.

(Waltemathe [SPD]: Aber Herr Zierer!)

Ich weiß nicht, ob Herr Dr. Schreber Mitglied der SPD war.
Daß die Öffnung per Gesetz erfolgen soll, lehnen wir als Reglementierung strikt ab. Wir halten das nicht für richtig, weil der Trend zur Öffnung sowieso vorhanden ist, und was sich in der Praxis als freiwillig bewährt hat, das soll der Staat nicht verordnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913634200
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?

Benno Zierer (CSU):
Rede ID: ID0913634300
Wenn die Frage nicht zu lang wird, bitte schön.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID0913634400
Eine ganz kurze! Wie können Sie erklären, daß die Kollegen Ihrer Fraktion und die der FDP-Fraktion im Landwirtschaftsausschuß unserer Öffnungsklausel zugestimmt haben?

Benno Zierer (CSU):
Rede ID: ID0913634500
Wir sind dafür, daß die Kleingartenvereine, soweit sie es für richtig halten, die Öffnung durchführen. Wir sind nur dagegen, daß das im Gesetz so geregelt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913634600
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Benno Zierer (CSU):
Rede ID: ID0913634700
Die Redezeit ist so kurz; ich muß mich jetzt weiter mit meinem Referat befassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir verstehen den Schutzauftrag dieses Gesetzes in dem Sinn, daß sowohl Pächter als auch Verpächter eine Orientierungshilfe haben und rechtsfreie Räume, die das bisherige Gesetz offenließ, ausgefüllt werden. Als zentrale Aufgabe des Gesetzes sind die Kündigungsregelungen und die damit verbundenen Elemente der §§ 5 bis 11 anzusehen. Dazu gehört z. B. die Festlegung des Pachtvertrages für Dauerkleingärten auf unbestimmte Zeit. Das ist aus folgenden Gründen wesentlich:
Der Gartenfreund betrachtet seine Anlage als erweiterte Wohnung, sozusagen als ein Stück Heimat. Mit seinem Engagement, mit seinem Arbeitseinsatz trägt er wesentlich zur Stadtgestaltung bei und leistet so einen großen Beitrag für die Allgemeinheit. Deshalb muß der Pächter bei seinen Investitionen die Gewißheit haben, daß diese für einen längeren Zeitraum wirtschaftlich sind. Er wird dadurch auch motiviert, seine Mitarbeit bei Gemeinschaftsleistungen anzubieten und einzubringen, wie z. B. beim Anlegen von Kinderspielplätzen und von Wegen in der Gesamtanlage. Deshalb haben wir uns für eine Vertragsdauer auf unbestimmte Zeit ausgesprochen.
Die in § 7 enthaltene fristlose Kündigung ist nur anwendbar beim Tatbestand des Zahlungsverzugs der Pacht von mindestens einem Vierteljahr und wenn die Schuld nicht innerhalb von zwei Monaten nach schriftlicher Abmahnung beglichen ist. Ebenso wird dem Verpächter diese Möglichkeit bei groben Verstößen gegen die auferlegten Pflichten eingeräumt, wie Verwahrlosung seines Gartens oder fortwährende Störungen.
Die §§ 8 bis 10 regeln die Modalitäten der ordentlichen Kündigung. Hier ist besonders der Grund der Eigennutzung des Verpächters oder eines seiner Familienangehörigen hervorzuheben.
Der § 8 Abs. 1 Nr. 5 befaßt sich mit der Kündigung, die aus Rechtsverbindlichkeiten eines Bebauungsplanes entstehen. Dazu zählt bereits die Vorbereitung einer anderen Nutzung im öffentlichen Interesse. Hinsichtlich des Kündigungstermins war in der alten Vorlage der 31. Oktober vorgesehen. Mit Rücksicht auf die Vegetationsperiode erschien uns im Ausschuß der 30. November zweckmäßiger, d. h. der Pächter soll die Möglichkeit haben, das Grundstück noch rechtzeitig abzuernten. Der Verpächter muß dabei die Kündigung im Februar aussprechen; insoweit besteht Übereinstimmung mit den Vorschlägen der SPD-Fraktion. Selbstverständlich ist bei Beendigung des Pachtvertrages dem Pächter eine angemessene Entschädigung für die auf dem Grundstück befindlichen Anpflanzungen und Anlagen im Rahmen der üblichen Bestimmungen zu bezahlen, wobei entweder der Verpächter oder derjenige, der die Fläche künftig nutzen will, zur Entschädigung verpflichtet ist.
Meine Damen, meine Herren, abschließend möchte ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus der Rede zitieren, die der damalige Bauminister Dr. Haack am 30. September 1982 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat:
Das Leben in den Kleingartenkolonien zu organisieren ist Sache der Kleingärtnerverbände selbst. Hier sollten Staat und Gemeinden nicht hineinreden. Der Rahmen des Kleingartenrechts muß weit genug sein, um der Eigenverantwortlichkeit ausreichend Spielraum zu geben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, daß der Gesetzentwurf den angesprochenen Überlegungen genau gerecht wird und daß es deshalb auch den Kollegen von der SPD ein leichtes sein muß, diesem Vorschlag zuzustimmen. — Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

8466 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913634800
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0913634900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich an dieser Stelle gemeldet, um nicht eine neue Runde zu eröffnen. Die Zeit ist fortgeschritten, und ich will mich kurzfassen.

(Zuruf von der SPD: Ins Fernsehen kommen Sie sowieso nicht mehr!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, 2 Millionen Kleingärtner mit ihren Familien warten auf dieses Gesetz. Dieses Gesetz gibt ihnen eine gesicherte Rechtsgrundlage, nachdem das Bundesverfassungsgericht das geltende Kleingartenrecht in wesentlichen Teilen als verfassungswidrig erklärt hat.
Der vorliegende Gesetzentwurf führt das unübersichtliche geltende Kleingartenrecht in einem Gesetz zusammen und paßt es den heutigen Anforderungen an. Er bringt die Rechtsstellung des Pächters und die des Verpächters unter Berücksichtigung der sozialen Funktion des Kleingartens und der vorrangigen Verpflichtung der Gemeinden zur Bereitstellung von Kleingartenland in ein ausgewogenes Verhältnis.
An dieser Stelle will ich mich nur mit dem strittigen Punkt befassen, der hier bereits angesprochen wurde. Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, daß die Kleingärtner und ihre Organisationen die Anlagen für Besucher zugänglich machen. Die Kleingärtner leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Ergänzung vorhandener öffentlicher Grünanlagen.
In Anbetracht dieser von den Kleingärtnern selbst eingeleiteten Entwicklung sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit, die Öffnung der Anlagen gesetzlich vorzuschreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

Die freiwillige Öffnung hat sich in der Praxis bewährt. Sie ist in jedem Falle einer verordneten Öffnung vorzuziehen.
Nun bringen Sie einen Änderungsantrag ein, der mit neuen unbestimmten Rechtsbegriffen — tagsüber, Allgemeinheit, örtliche Verhältnisse — arbeitet. Was heißt „tagsüber"? — Die Abgrenzung zur Nacht. Wird eine bestimmte Uhrzeit zugrunde gelegt?

(Zuruf von der SPD: Sonnenaufund -untergang!)

— Sie sagen „Sonnenaufgang", Sie sagen, solange die Sonne scheint, während andere sagen: Uns geht die Sonne nicht unter. Mit anderen Worten, Sie schaffen mit diesem Änderungsantrag viel mehr Bürokratie als notwendig.

Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913635000
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waltemathe?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0913635100
Bitte schön, Herr Waltemathe.

Ernst Waltemathe (SPD):
Rede ID: ID0913635200
Herr Staatssekretär, da Sie hier als Vertreter der Bundesregierung sprechen und es für richtig halten, eine Fraktion dieses Hauses wegen ihres Antrages zu kritisieren, frage ich Sie: Kritisieren Sie auch den Bundesrat, der eine Mehrheit von CDU und CSU hat und der genau diese Formulierung vorgeschlagen hat?

(Zustimmung bei der SPD)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0913635300
Mir steht es nicht zu, den Bundesrat zu kritisieren.

(Lachen bei der SPD)

Herr Kollege Waltemathe, den Zeitpunkt dafür wählen wir selbst, wenn wir anderer Meinung als der Bundesrat sind. Es ist das Recht des Redners, den Gang der Rede selbst zu bestimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt keine unterschiedlichen Auffassungen darüber, ob Kleingartenanlagen geöffnet sein sollen oder nicht. Unterschiedliche Auffassungen gibt es nur darüber, ob die Öffnung gesetzlich zwingend vorgeschrieben werden soll. Hier sind unterschiedliche Grundsatzpositionen im Spiel. Die einen sagen: mehr Staat. Wir sagen: mehr privat. Was private Initiative leistet, darf der Staat nicht perfektionistisch regeln. Deshalb sagen wir, Freiwilligkeit hat absoluten Vorrang vor gesetzlichem Zwang.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Schreiber, Sie haben gesagt, daß Sie das, was üblich ist, festschreiben wollen. Darauf möchte ich antworten: Wenn Sie, Herr Kollege Schreiber, alles, was üblich ist, festschreiben wollen, müssen Sie laufend Gesetze produzieren, aber unsere Bürger wollen nicht mehr, sondern weniger Gesetze und weniger Reglementierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913635400
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0913635500
Danke, Herr Präsident. Ich habe mir ein Limit von fünf Minuten gesetzt und bitte um Nachsicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte für die Bundesregierung feststellen, daß sie im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau eine Erklärung zu dieser Frage abgegeben hat. Auf diesen Wortlaut nehme ich ausdrücklich Bezug. Dort ist die Auffassung der Bundesregierung noch einmal ausführlich dargelegt.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung ist bestrebt, durch Bundeswettbewerbe das bürgerschaftliche Interesse am Kleingartenland und das Interesse an der Kleingartenplanung zu unterstützen. Kleingärten sind keine
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8467
Parl. Staatssekretär Dr. Jahn
vorübergehende Modeerscheinung, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil einer humanen Umwelt.

(Müntefering [SPD]: Sie werden diese Regierung überdauern!)

Die Bundesregierung ist weiter der Auffassung, daß die Betätigung des Kleingärtners nicht nur als Hobby des einzelnen, sondern auch als Beitrag zur Verminderung der Bedrohung unserer natürlichen Lebensgrundlagen angesehen werden muß. Kleingärtner erfüllen in geradezu vorbildlicher Weise die Aufgaben des Naturschutzes und auch der Landschaftspflege.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine sinnvolle Freizeitgestaltung führt somit vor allem in stadtnahen Gebieten zu einer Steigerung des Erholungswertes. Damit erfüllen unsere zwei Millionen Kleingärtner in der Bundesrepublik auch eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe, und die Bundesregierung will diese Aufgabe fördern und stützen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der vorliegende Gesetzentwurf bietet eine geeignete Grundlage, das Vertrauen bei allen Kleingärtnern zu gewinnen, und deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, diesen Gesetzentwurf, den die damalige Bundesregierung eingebracht hat — —

(Müntefering [SPD]: Sie müssen sich dafür bei der damaligen Bundesregierung noch bedanken! — Weitere Zurufe von der SPD)

Wir haben diesen Gesetzentwurf übernommen. Hier sind wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts gefolgt. Hieran sehen Sie, daß auch eine neue Regierung durchaus das, was an einem alten Gesetzentwurf diskutabel war, annimmt und nicht Obstruktion betreibt. Diese Bundesregierung nimmt nur für sich in Anspruch, diesen Gesetzentwurf im Interesse der ausgewogenen Wahrnehmung der Interessen zwischen den Kleingärtnern und dem Städtetag insgesamt noch verbessert zu haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch und Lachen bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, diesem Gesetz in der Ausschußfassung Ihre Zustimmung zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Steger [SPD]: Herr Staatssekretär, wann haben Sie zuletzt selber einen Garten umgegraben?)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913635600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller (Schweinfurt).

Rudolf Müller (SPD):
Rede ID: ID0913635700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, vielleicht hätten Sie sich, als Sie zur freiwilligen Öffnung sprachen, überlegen sollen, warum dann wohl der Bundesrat, der Städtetag und der Kleingartenverein und die Kleingärtner überhaupt für unsere und nicht für Ihre Regelung waren.

(Beifall bei der SPD — Gerlach [Obernau] [CDU/CSU]: Und warum? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Lassen Sie mich einiges zu Punkten sagen, die aus unserer Sicht von zusätzlicher Bedeutung sind. Zu Beginn der Kleingartenbewegung vor gut 150 Jahren lag die Bedeutung eines Kleingartens weniger in einem Freizeit- und Erholungswert als in der Möglichkeit, durch selbstgezogenes Gemüse, Obst und vor allem durch die Kartoffeln zur Sicherung und Anhebung des Lebensstandards beizutragen.

(Lenzer [CDU/CSU]: Sehr wahr! — Dr. Steger [SPD]: Den Rotkohl nicht vergessen!)

Aus diesem Grund war der Schrebergarten die Landwirtschaft des kleinen Mannes. Ganz besonderes Gewicht erhielt der Kleingarten in dieser Beziehung in Krisenzeiten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele von uns erinnern sich noch, daß in Kriegs- und Nachkriegsjahren oft die Existenz ganzer Familien von den Erträgen dieser Kleingärten abhing.

(Unruhe)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913635800
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Ich bitte doch etwas mehr Ruhe zu bewahren.

Rudolf Müller (SPD):
Rede ID: ID0913635900
Die Funktion der Kleingärten hat sich mittlerweile grundlegend gewandelt, ohne daß die Kleingärten als solche an Bedeutung verloren hätten. Im Gegenteil! Nicht nur der Pächter profitiert heute von einem Kleingarten, sondern die sorgfältig gepflegten Anlagen, die durchaus mit öffentlichen Parks konkurrieren können, kommen auch der Allgemeinheit zugute. Nicht nur daß die Kleingärtner oft in erstaunlich kurzer Zeit ihnen zur Verfügung gestelltes Ödland in blühende Gärten verwandeln, diese Anlagen sind als grüne Lungen in Ballungsgebieten heute unentbehrlich.

(Zustimmung bei der SPD)

Sie sind aber nicht nur Frischluftschneisen, sondern sie können auch eine wichtige Aufgabe als Naherholungsgebiet erfüllen.
Aus diesem Grund hat die SPD sich in den Beratungen dieses Entwurfs dafür eingesetzt, eine weitgehende Öffnung der Kleingartenanlagen für die Allgemeinheit gesetzlich sicherzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Wir fühlen uns in dieser Forderung durch die Zustimmung bestätigt, die die Kleingärtner selber zu einer solchen Regelung erklärt haben, wie auch durch die Tatsache, daß in den Kleingartenanlagen, die schon jetzt für die Allgemeinheit geöffnet sind, keine besonderen Probleme auftreten. Wir bedauern, daß sich die Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, bei denen ich mich recht herzlich dafür bedanken möchte, daß sie damals meinem Antrag zugestimmt haben, trotz eines einstimmigen Votums im Agrarausschuß in ihrer Fraktion nicht
8468 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Müller (Schweinfurt)

durchsetzen konnten. Auch Sie, Herr Gallus, konnten das übrigens nicht. Ich bedaure, daß sich der federführende Ausschuß dieser unserer Meinung nicht anschloß.

(Abg. Susset [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Es tut mir leid, Herr Kollege, ich habe nur noch fünf Minuten Redezeit.
Die Öffnung der Kleingartenanlagen für die Allgemeinheit ist daher der einzige Punkt geblieben, der in diesem Gesetzentwurf nicht einvernehmlich geklärt werden konnte. Herr Kollege, Sie werden ja aber wohl nicht bestreiten, daß Sie zugestimmt haben.

(Susset [CDU/CSU]: Ich habe nicht zugestimmt!)

Die SPD hat deshalb in einem Änderungsantrag, über den im Anschluß an diese Debatte abgestimmt werden soll, nochmals die Zugangsregelung für Kleingartenanlagen aufgegriffen. Wir wollen auf jeden Fall vermeiden, daß Kleingartenanlagen, die j a gemeinnützig sein sollen, zu Klubanlagen werden, die der Allgemeinheit verschlossen bleiben könnten.

(Dr. Möller [CDU/CSU]: Was ja niemand will, Herr Müller!)

Die Nachfrage nach der Anpachtung neuer Kleingärten ist so groß, daß Interessenten sich auf jahrelange Wartezeiten einrichten müssen. Wem ein Kleingarten zur Verfügung steht, der will natürlich nicht nur einen Ziergarten pflegen, sondern auch selbst Obst und Gemüse anbauen. Gerade in den letzten Jahren ist der Wert, der auf selbst gezogene Produkte gelegt wird, ständig gestiegen. Jeder Kleingärtner verweist mit Stolz auf die Erzeugnisse aus seinem Garten, die nach seiner Überzeugung frischer, gesünder und wohlschmeckender als alle anderen sind. Dabei hat sich die Art des Anbaus in den Kleingärten in letzter Zeit entscheidend gewandelt. Die verstärkte Diskussion über gesunde Ernährung und Umweltschutz hat viele Kleingärtner dazu veranlaßt, den früher oft recht großzügigen Umgang mit Kunstdünger, Insektiziden und Unkrautvertilgungsmitteln soweit wie möglich einzuschränken. Deshalb und durch die Vielfalt im Anbau sind die Kleingärten zu wahren Asylen für alles mögliche Kleingetier geworden. Den Fortbestand der Kleingartenanlagen und ihrer wertvollen Funktion für Mensch und Tier besonders in städtischen Gebieten stellt der vorliegende Gesetzentwurf auf eine gesicherte rechtliche Basis.
Deshalb möchte ich abschließend alle Städte und Gemeinden auffordern, ihrer öffentlichen Aufgabe und ihrer Fürsorgepflicht entsprechend noch mehr Kleingartengelände für die vielen Interessenten zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der SPD)

Ich bitte aber deshalb das Hohe Haus, hierfür eine Rechtsgrundlage zu schaffen und dem Gesetzentwurf einschließlich unseres Änderungsantrags zuzustimmen, auch deswegen, weil gerade der Städteverband uns in einem Schnellbrief dazu aufgefordert hat. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihren Kollegen vom Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in dieser Beziehung folgen würden. — Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913636000
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Abstimmung.
Ich rufe die §§ 1 und 1 a in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.

(Unruhe bei der SPD — Zurufe von der SPD: Die Wende!)

Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wer dem § 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Die aufgerufene Vorschrift ist in der Ausschußfassung angenommen.
Ich rufe die §§ 3 bis 15a und 17 bis 20, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Der Abgeordnete Wartenberg (Berlin) hat angekündigt, eine schriftliche Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung zu Protokoll zu geben*).
Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Einige Gegenstimmen. Wer enthält sich der Stimme? — Einige Enthaltungen. Das Gesetz ist angenommen.
Ich rufe die Punkte 7a und 7 b der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pfeifer, Dawecke, Lenzer, Dr. Probst, Frau Dr. Wisniewski, Frau Benedix-Engler, Frau Geiger, Nelle, Rossmanith, Austermann, Graf von Waldburg-Zeil, Frau Dr. Wilms, Boroffka, Dr. Bugl, Engelsberger, Gerstein, Dr. Stavenhagen, Lagershausen, Maaß, Neuhaus, Prangenberg, Weirich, Rühe, Susset, Dr. Kunz (Weiden), Niegel, Weiß, Frau Roitzsch, Bühler
*) Anlage 2
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8469
Vizepräsident Wurbs

(Bruchsal), Dr. Jobst, Lowak, Frau Verhülsdonk, Lattmann, Dr. Hennig, Dr.-Ing. Kansy, Clemens, Dallmeyer und der Fraktion der CDU/CSU

Förderung der Drittmittelforschung im Rahmen der Grundlagenforschung
— Drucksache 9/1936 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie (18. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerstein, Dr. George, Lenzer, Pfeifer, Dr. Probst, Dr. Bugl, Engelsberger, Eymer (Lübeck), Dr. Hubrig, Maaß, Neuhaus, Prangenberg, Weirich, Dr. Riesenhuber, Dr. Stavenhagen, Frau Hoffmann (Soltau), Dr. Freiherr Spies von Büllesheim und der Fraktion der CDU/CSU
Neutrale Überprüfung des Programms „Humanisierung des Arbeitslebens (HdA)"
— Drucksachen 9/833, 9/2099 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Gerstein Auch
Dr.-Ing. Laermann
Für die Tagesordnungspunkte 7a und 7 b ist interfraktionell eine gemeinsame Beratung mit einem Debattenbeitrag bis zu zehn Minuten vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist der Fall.
Wird zur Begründung das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (CDU):
Rede ID: ID0913636100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik Deutschland lebt in erster Linie von seinen geistigen, technischen, handwerklichen Leistungen. Spitzenleistungen in der Forschung sind unerläßlich, um die Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik zu erhalten. Das Schwergewicht der Grundlagenforschung liegt in den wissenschaftlichen Hochschulen. Dort gibt es ein breites Forschungspotential. Das bedeutet aber, daß Grundlagenforschung in der Bundesrepublik ganz überwiegend mit staatlichen Mitteln in staatlichen Einrichtungen betrieben wird. Und dort behindern gegenwärtig Überlastung durch die Lehre an den Massenuniversitäten, bürokratische Gängelungen, arbeitsrechtliche Entscheidungen, die wenig wissenschaftsgerecht sind, vor allem aber auch eine Personalstruktur, die junge Wissenschaftler weniger anzieht und zu Forschungsleistungen animiert als vielmehr verunsichert und abschreckt, die Forschung insgesamt.
Der Vergleich mit dem Ausland drängt sich auf. Uns fehlt der belebende Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Universitäten, wie er etwa für die USA charakteristisch ist. Zu diesem strukturellen Nachteil kommt die akute finanzielle Misere mit ihren negativen Auswirkungen.
Forschung auf Grund von privaten Drittmitteln aus Spenden und Stiftungen stellt also so etwas wie ein bescheidenes, aber notwendiges Korrektiv zur einseitigen staatlichen Forschungsförderung dar. Hier liegt der strukturell besonders wichtige Aspekt dieses Fragenkomplexes.
In der Bundesrepublik muß wieder ein forschungsfreundliches Klima entstehen. In der Zeit leerer öffentlicher Kassen darf nicht die Förderung der Forschung durch private Mittel abgewürgt oder behindert werden; sie muß vielmehr erleichtert und stimuliert werden. Dies zu korrigieren oder dies zu bewirken, ist Ziel des vorliegenden Antrags.
Drittmittel sind zusätzliche Mittel, die den Hochschulen und Forschungsinstitutionen von außen her von privaten Auftraggebern und Förderern, von Organisationen zur Forschungsförderung oder vom Staat zur Verfügung gestellt werden. Sie sind für die Finanzierung von Forschungsvorhaben von erheblicher Bedeutung. Es wird geschätzt, daß in den 6 Milliarden DM, die 1980 für die Forschung ausgegeben wurden, 1,4 Milliarden DM an Drittmitteln enthalten waren. Das entspricht ungefähr 23%. Ungefähr jeder dritte Wissenschaftler, der in jenem Jahr 1980 in der Forschung an den Hochschulen tätig war, wurde aus Drittmitteln bezahlt. Diese Zahlen machen deutlich, wie gravierend es für die Forschung ist, wenn nicht-wissenschaftsadäquate Rahmenbedingungen die Drittmitteleinwerbung und -verwaltung behindern.
Als Grundlage für die weitere Arbeit wollen wir von der Bundesregierung einen umfassenden Bericht darüber, welche administrativen, bürokratischen und gesetzgeberischen Hemmnisse für die Einwerbung von Drittmitteln bestehen und wie sie rigoros beseitigt werden könnten, um diese Art der Forschungsförderung zu intensivieren. Wir wollen wissen, ob das Hochschulrahmengesetz mit eben dieser Zielsetzung in Übereinstimmung steht oder wie es geändert werden muß, um die Erreichung dieses Ziels der Förderung durch die Drittelmittel zu verbessern, welcher Vertrauensvorschuß für die Drittmittelempfänger gewährleisten kann, daß die notwendige Freiheit in der Verwendung der Mittel und damit die Voraussetzung für effektive Forschung gegeben sind, wie die Arbeitsmöglichkeiten, die Neugründungsbedingungen, das Steuerrecht und die Vermögenssituation von Stiftungen, die Forschungsmittel zur Verfügung stellen, verbessert werden können, welche Änderungen im Arbeits-und Tarifrecht notwendig sind, um bessere Regelungen für die aus Drittmitteln bezahlten wissenschaftlichen Mitarbeiter zu erreichen.
Fragen, die im Zusammenhang mit Befristungen stehen, führen dazu, daß wir dringend eine Klärung brauchen, ob Zeitverträge für Forschungspersonal sinnvoll sind, in welcher Gestalt sie sinnvoll sind, wie die Bedingungen sein müssen, damit sie forschungsgerecht sind. Es stellen sich damit Fragen, die die Personalstruktur im Forschungsbetrieb betreffen. Das sind dringend zu lösende Probleme, denn hier tut sich auch die Frage der Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses auf.
8470 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Frau Dr. Wisniewski
Schließlich: wir wollen durch die Anforderung dieses Berichts die Korrektur der Körperschaftsteuerreform von 1977 vorbereiten. Sie brachte erhebliche steuerrechtliche Benachteiligungen für die private Forschungsförderung mit sich. Das war nicht nur ein Schlag gegen die freie private Forschungsförderung, deren negative Folgen unübersehbar sind. Wenn man dem Gutachten von Professor Friauf folgt, liegt auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes vor, weil gemeinnützige Stiftungen von der Anrechnung der auf die Beteiligungserträge entfallenden Körperschaftsteuern ausgeschlossen werden. Dies muß geprüft werden.

(Dr. Steger [SPD]: Darüber besteht Konsens, Frau Kollegin!)

Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Maßnahmen, die zur Drittmittelforschung ergriffen werden müssen, insgesamt nicht des Einsatzes von mehr Geld bedürfen, sondern daß der politische Wille des Gesetzgebers die Offenheit, das Vertrauen gegenüber privatwirtschaftlichen Initiativen im Bereich der Forschung herstellen muß.
Der Ausschuß für Forschung und Technologie legt dem Bundestag heute eine einstimmig verabschiedete Beschlußempfehlung für die Weiterentwicklung des Programms „Humanisierung des Arbeitslebens" vor. Herr Gerstein bat mich, das folgende dazu zu erklären:
Nach mehrjähriger parlamentarischer Arbeit, nach harten Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen ist es nun gelungen, in der Ihnen vorliegenden gemeinsamen Beschlußempfehlung klar zu formulieren, was alle Parteien dieses Hohen Hauses wollen. Wir unterstützen die Förderung von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Humanisierung des Arbeitslebens, die der Verbesserung der Situation von Menschen am Arbeitsplatz dienen und die zur Abwehr und zum Abbau von Belastungen beitragen. Dabei soll das Programm in der Weise weiterentwickelt werden, daß der menschengerechten Anwendung neuer Technologien besondere Bedeutung zugemessen wird und daß offensichtliche Fehlentwicklungen beendet werden. Es geht darum, einen praktischen, ideologiefreien Weg zu finden, der helfen kann, für die arbeitenden Menschen bessere Bedingungen am Arbeitsplatz und in ihrer Umwelt zu erreichen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf eine Möglichkeit zur Humanisierung des Arbeitslebens hinweisen, die namentlich von den CDU-Frauen mit viel Engagement vertreten wird und zum Forschungsgegenstand der Adenauer-Stiftung erhoben worden ist. Es handelt sich um die Modelle zur flexiblen Arbeitsgestaltung durch Aufteilung eines Vollzeitarbeitsplatzes unter zwei oder mehr Arbeitnehmer, das berühmte job sharing, das mit seinen Möglichkeiten, mehr Zeit für das private und das Familienleben zu gewinnen, sicherlich auch in diesem Zusammenhang erwähnt und diskutiert werden sollte.
Im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bitte ich um Zustimmung zum Antrag auf Förderung der Drittmittelforschung. Wir sind bereit, dem
Änderungsantrag der SPD zuzustimmen, wobei eingefügt werden sollte, daß im Benehmen mit den Ländern diese Aufstellungen über die Etats erarbeitet werden sollten. Dabei sollten wir darüber einig sein, daß „im Benehmen mit den Ländern" heißt: unter Berücksichtigung der mit den Ländern geführten Gespräche. Als Termin für die Ablieferung des Berichts soll der 30. Juni 1983 festgesetzt werden, damit eine BLK-Sitzung noch einbezogen werden kann.

(Dr. Steger [SPD]: Einverstanden!) — Danke.

Ich bitte ferner um Zustimmung zur Beschlußempfehlung zum Programm „Humanisierung des Arbeitslebens" und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Wurbs (FDP):
Rede ID: ID0913636200
Das Wort hat der Abgeordnete Auch.

Dieter Auch (SPD):
Rede ID: ID0913636300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wisniewski, ich kann Ihnen signalisieren, daß wir mit dem, was Sie hier gerade vorgetragen haben, einverstanden sind. Deshalb kann ich mich auch zur Drittmittelforschung recht kurz fassen. Wir werden nach Vorlage des Berichts in den Ausschüssen zu beraten haben, ob und wie es sinnvoll ist, privaten Einfluß auf öffentliche Forschungseinrichtungen wie auch ihre private Nutzung zu vergrößern.
Meine Damen und Herren, einmütig legt der Forschungsausschuß den Entschließungsentwurf zum Programm „Humanisierung des Arbeitslebens" vor. Das unterstreicht die Bedeutung des Anliegens und zeigt, daß es möglich ist, sachlichen Gesichtspunkten bei der Arbeit dieses Hauses Geltung zu verschaffen.
Der lange Lernprozeß der CDU/CSU hat damit einen vorläufigen Abschluß gefunden. Ideologische Vorurteile scheinen ausgeräumt, wenigstens im Ausschuß.

(Zuruf von der SPD: Bis zum 6. März!)

Noch 1980 wollte die CDU/CSU das Programm am liebsten abschaffen. Das gelang nicht — deshalb 1981 der Antrag zur sogenannten neutralen Überprüfung, der, wenn auch nicht in allen Punkten, noch deutliche Ansätze zu Behinderung und Mies-machen hatte.

(Dr. Steger [SPD]: Deswegen ist der Antragssteller heute auch nicht da!)

Auch Kollege Timm von der FDP konnte sich damals nicht verkneifen, festzustellen, daß man mit diesem Programm sehr viel Geld sparen und an anderer Stelle einsetzen könne.

(Hört! Hört! bei der SPD)

Mit seinem Beispiel hat er dabei allerdings danebengegriffen. Er hat nämlich zur Begründung seiner Ideologie auf ein sogenanntes Kofferkuli-Projekt verwiesen, das zu keinem Zeitpunkt etwas mit dem HdA-Programm zu tun hatte.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8471
Auch
Schließlich hat die von uns beantragte Anhörung gezeigt, daß sich das Programm breiter Zustimmung bei den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden und der Mehrheit der Wissenschaft erfreut. Dies schließt Kritik im einzelnen nicht aus. Aber all diese Kritik zielt dahin, daß es weiterentwickelt und nicht erdrosselt wird.
Das Hearing hat es schließlich jedem, der in der Politik ernst genommen werden will, unmöglich gemacht, sich diesen Tatsachen zu verschließen. Mich freut diese Entwicklung. Ich danke allen Beteiligten im Ausschuß für die fruchtbare Zusammenarbeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Diese Freude wird leider getrübt, weil es neben dem Forschungsausschuß in der neuen Rechtskoalition viele gibt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Na, Junge, wer hat dir denn das aufgeschrieben?)

die die alten Ideologien weiter pflegen. Es sind schlechte Signale, meine Damen und Herren, wenn der Kanzler in seiner Regierungserklärung über den Gesundheitsschutz, besonders den vorbeugenden, keine Silbe verliert.

(Zuruf von der SPD: Woher sollen die das auch wissen? — Gegenruf von der CDU/ CSU: Du wirst gleich des Saales verwiesen!)

Er hat ihn nur im Zusammenhang mit den Kosten und dem Mißbrauch des sozialen Systems abgehandelt. Er hat sich die Themen gegriffen, die in den Medien lautstark vertreten sind. Was die Arbeitnehmer bewegt, ist unter den Tisch gefallen — kein Wort zu den menschlichen Aspekten,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach Junge, jetzt machst du's aber peinlich!)

kein Wort zu der immer noch hohen Zahl von Arbeitsunfällen, kein Wort zu den vielen Frühinvaliden, dafür aber in der blumigen Formulierung „Wir vertrauen auf den Bürger, der seine Zukunft in seine Hände nimmt" eine versteckte Ankündigung weiterer sozialer Einschnitte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Oh du lieber Himmel!)

Es ist schon ein seltsames Verständnis von Verantwortung für die Menschen in diesem Land, wenn auch der Arbeitsminister bei der Aussprache dazu kein Wort verliert. Ein solches Verhalten der Regierung, meine Damen und Herren, hat keine Signalwirkung für eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht.

(Beifall bei der SPD)

Im Gegenteil: Es ist eine Verhöhnung für alle, die beim täglichen Broterwerb ihre Gesundheit der Wirtschaft geopfert haben. Ergänzt hat Minister Blüm diese Fehlleistung mit der Bemerkung: „Ich frage Sie nur alle: was haben die Arbeitslosen von Humanisierung? Sie haben keine Arbeit, also auch
keine humanisierte Arbeit." — Wer so redet, dem fehlt die notwendige Sensibilität.

(Zurufe von der SPD: Sehr richtig! Sehr wahr!)

Solche Bemerkungen eignen sich für Büttenreden, aber nicht für dieses Haus. Er ignoriert die Sorgen der Arbeitnehmer. Er setzt sich mit Demagogie darüber hinweg.
Das mangelnde Problemverständnis des Kanzlers und das Fehlen des Fingerspitzengefühls des Arbeitsministers sind kein Teil des Fehlstarts dieser neuen Regierung. Nein, dahinter steckt System. Der Forschungsminister geht jetzt den gleichen Weg wie die Herren Kohl und Blüm. Durch drastische Mittelkürzungen hungert er das Programm aus. Herr Riesenhuber kürzt gleich um 18 Millionen DM gegenüber dem Ansatz der Regierung von Helmut Schmidt. Er opfert sie den Industrieinteressen am Schnellen Brüter.

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört! — Lachen bei der CDU/CSU — Lenzer [CDU/CSU]: Das habe ich so noch nie gehört!)

Doch nicht genug: Der rechten Haushaltsmannschaft, den Herrn Stavenhagen und Zumpfort ist dies zuwenig. — Sie sind heute leider nicht hier. — Sie wollen noch weitere 5 Millionen DM streichen. Sie haben gegen die Stimmen der SPD die Mittelsperrung für diesen Betrag durchgesetzt. Hier operiert die neue Mehrheit von rechts, der dieses Programm ein Dorn im Auge ist. Gegen den Willen des Forschungsausschusses soll das Programm kaputtgemacht werden. Ich weiß nicht, was gerade den Diplomvolkswirt Zumpfort und den Volkswirtschaftler Stavenhagen umtreibt, daß sie die volkswirtschaftlichen Kosten von über 100 Milliarden DM ignorieren.

(Lenzer [CDU/CSU]: Wer schreibt Ihnen eigentlich solchen Unsinn auf? — Frau Dr. Wisniewski [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Entschuldigung, ich kann leider keine Zwischenfrage zulassen, weil ich zuwenig Zeit habe.
Durch Frühinvalidität, Arbeitsunfälle, arbeitsbedingte Erkrankungen und entwertete Qualifikation entstehen diese 100 Milliarden DM, die von Ihnen ignoriert werden. Wenn Ihnen die Sorgen, die viele Menschen mit diesen Fakten verbinden, schon gleichgültig sind, dann müssen Sie doch wenigstens bei dem volkswirtschaftlichen Schaden aufhorchen, der durch inhumane Arbeitsplätze entsteht. Hier wird erneut deutlich — und die Menschen draußen erkennen das —, wo die Unterschiede liegen. Wir Sozialdemokraten meinen anders als Sie, daß der Mensch nicht für die Wirtschaft da ist, sondern die Wirtschaft für den Menschen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo haben Sie das denn her?)

Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Menschen vor
nachteiligen Auswirkungen neuer Entwicklungen
8472 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Auch
zu schützen. Anders als Sie: Sie schützen die Profite. Die Menschen sind Ihnen gleichgültig.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach du lieber Gott!)

— Ich empfehle Ihnen: Besuchen Sie einmal eine Gußputzerei,

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

allerdings nicht in der Mittagspause und nicht das Kasino und die Direktionsetage, sondern besuchen Sie sie dort, wo Sie etwas von dem Lärm, dem Staub und dem Schmutz mitkriegen, dem die Arbeitnehmer ein Leben lang ausgesetzt sind.

(Zuruf von der FDP: Was sind Sie von Beruf?)

— Ich bin Werkzeugmacher. Ich kenne mich da wahrscheinlich besser aus als Sie. Ich danke für die Zwischenfrage.

(Lenzer [CDU/CSU]: Wann sind Sie das letzte Mal dagewesen?)

— Ich bewege mich regelmäßig in den Betrieben, Herr Oberstudienrat Lenzer.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das habe ich mir gedacht! So sehen Sie auch aus!)

Wenn Sie das gesundheitlich durchstehen, werden Sie dem Schmutz, dem Staub und dem Lärm 45 Jahre — ein Arbeitsleben — lang ausgesetzt sein. Bedienen Sie einmal eine Kettensäge. Konsumieren Sie den Lärm, der zu Schwerhörigkeit führt, und die krebserregenden Kohlenwasserstoffe.

(Frau Dr. Wisniewski [CDU/CSU]: Deshalb neue Technologie!)

Dann werden Sie die genannten Projekte nicht mehr anführen, um das Programm lächerlich zu machen. Von einem klimatisierten Büro aus kann man das nicht beurteilen.
Reden Sie bitte nicht mehr von den Marktmechanismen, die auch die Humanisierung regeln. Ich sage: Der Markt regelt gar nichts. Diejenigen, die das behaupten, haben keine Ahnung, oder sie betrachten die Arbeitnehmer gar als selbstverständliches Verschleißpotential unserer Wirtschaft. Wer so handelt wie Sie, der fördert die Ellenbogengesellschaft.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Ich frage Sie: Warum wird eigentlich bei diesem Programm jede kleine Fehlentwicklung hochstilisiert? Der Forschung muß auch hier, wie in anderen Bereichen, zugestanden werden, daß einzelne Mißerfolge dabei sind, sonst ist es keine Forschung mehr.
Bei allen meinen Gesprächen in den Betrieben und Verwaltungen, aber auch mit fortschrittlichen Unternehmern, spüre ich, wie die Nachdenklichkeit, die Sorge wegen der sozialen Folgen des technischen Wandels zunimmt. In steigendem Maße befürchten die Arbeitnehmer die Privatisierung des sozialen Risikos. Technikfeindlichkeit können wir nur dann abbauen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie schüren sie doch!)

wenn die Arbeitnehmer das Gefühl haben, daß sich Staat und Unternehmer vorbeugend um die Auswirkungen und Folgen kümmern und nicht gelegentlich sozusagen als Reparaturschlosser auftreten.
Das HdA-Programm muß diese Aufgabe in Zukunft noch stärker als in der Vergangenheit übernehmen. Das ist unsere Zielvorstellung. Ich sage Ihnen: In dieser Republik wird sich einiges verändern, wenn die Mehrheit in diesem Hause glaubt, untätig bleiben zu können, und auf Mechanismen des Marktes vertraut.

(Zuruf von der SPD: Dann haben sie die Mehrheit nicht mehr!)

All denen, die meinen, Technikfeindlichkeit sei eine Modeerscheinung, sage ich:

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Sie schüren sie doch!)

Die Angst vor Rationalisierung,

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Ja!)

vor Arbeitsplatzverlust, vor Qualifikationseinbußen nimmt zu, weil die Antworten des Staates und vieler Unternehmer diese Sorgen nicht genügend reflektieren.

(Beifall bei der SPD)

Der Mensch am Arbeitsplatz spürt, daß er mit Ihrer „Gesellschaft mit menschlicherem Gesicht" nicht gemeint ist. Er fühlt, daß Sie die Aktionäre meinen, ihn aber mit seinen Zukunftssorgen alleinlassen.

(Lenzer [CDU/CSU]: Es fällt einem wirklich schwer, ernst zu bleiben!)

Lange werden die Arbeitnehmer nicht mehr zuschauen. Viele, die heute auf ihren großen Ohren sitzen, werden dann unsanft aufwachen.

(Werner [CDU/CSU]: Das sagt selbst Herr Steinkühler!)

Darum kommt es darauf an, neue technologische Entwicklungen

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Zu verhindern!)

frühzeitig in die HdA-Forschung einzubeziehen.

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Frühzeitig zu verhindern!)

Neue Bürotechnologien müssen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen untersucht werden,

(Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Damit die schlechten Arbeitsplätze erhalten bleiben.)

um Fließbandarbeit im Büro zu vermeiden. Schwere körperliche Belastungen und Gesundheitsgefährdungen müssen abgebaut werden. Die Entwicklung von Asbestersatzstoffen ist unverzichtbar, ebenso die Erprobung von Ersatzstoffen für Materialien, die krebserregend sein könnten. Wir wollen
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8473
Auch
verhindern, daß die Zahl der Krebstoten weiter steigt. Die Ursachen müssen bekämpft werden.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913636400
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte mit Ihrer Rede zum Ende kommen.

Dieter Auch (SPD):
Rede ID: ID0913636500
Ich komme gleich zum Schluß, Frau Präsidentin.

(Lenzer [CDU/CSU]: Es wird auch höchste Zeit!)

Die Ansätze bei kleinen und mittleren Unternehmen, wie beim Branchenprojekt Tischlerhandwerk, müssen ausgebaut werden. Die Grundlagenarbeit muß ausreichend breit und solide angelegt sein. Wir müssen die Basis für die im Betriebsverfassungsgesetz genannten gesicherten arbeitswissenschaftlichen Kenntnisse schaffen. Ich führe nur einige Gebiete an und sehe nicht, wo hier gekürzt werden könnte.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913636600
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich bitte, zum Ende zu kommen.

(Zurufe von der CDU/CSU)


Dieter Auch (SPD):
Rede ID: ID0913636700
Der Kürzungsbeschluß der Regierung bedeutet, daß ein Teil dieser Arbeit nicht zustande kommt. Ich begrüße es ausdrücklich, meine Damen und Herren, daß im gemeinsamen Bericht erstmals die Einbeziehung der Tarifvertragsparteien in Beratung und Planung des Programms festgeschrieben ist.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913636800
Herr Kollege, ich muß Sie leider auffordern, Ihre Rede nun wirklich zu beenden.

Dieter Auch (SPD):
Rede ID: ID0913636900
Ich bin sofort am Ende, Frau Präsidentin.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913637000
Nein! Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz!

(Lenzer [CDU/CSU]: Er hat noch nicht alles vorgelesen!)


Dieter Auch (SPD):
Rede ID: ID0913637100
Wir wollen gemeinsam eine bessere Umsetzung der Ergebnisse erreichen. Darunter braucht die Wissenschaftlichkeit des Programms nicht zu leiden. Ich hoffe, daß auch die Kollegen von der Koalition in dem Punkt, der noch strittig war, zur Gemeinsamkeit finden. Ich hoffe auf die Einsicht, daß die inhaltliche Weiterentwicklung dieses Programms mit dem finanziellen Ausbau einhergehen muß. Diesen Antrag werden wir bei den Haushaltsberatungen stellen.
Ich sage Ihnen abschließend: Es wird dem Forschungsminister nicht möglich sein, mit dem Programm in den Wahlkampf um die Stimmen der Arbeitnehmer zu ziehen, wenn er es gleichzeitig torpediert. Dafür werden wir sorgen. Die SPD-Fraktion stimmt der Beschlußempfehlung zu.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913637200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laermann.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID0913637300
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Genehmigung der Frau Präsidentin möchte ich die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte umkehren und mich zuerst mit den Ausführungen des Kollegen Auch etwas auseinandersetzen.
Herr Kollege Auch, ich finde es unerträglich, mit welcher Art von Unterstellung Sie hier arbeiten,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lenzer [CDU/CSU]: Das war schon ein starkes Stück!)

als ob wir nichts z. B. gegen die Krebsbekämpfung tun wollten. Das wissen Sie ganz genau. Ich erkenne Sie nicht wieder. Bei unserer Arbeit im Ausschuß habe ich einen ganz anderen Eindruck von Ihnen gewonnen. Ich hoffe nicht, daß Sie hier nun auch auf totalen Konfrontationskurs gehen wollen.
Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zeilen in bezug auf den Haushalt nennen, Herr Kollege. Im Jahre 1981 betrug die Bewilligungssumme für das HdAProgramm 111 Millionen DM. Davon sind 102 Millionen DM abgeflossen. In diesem Jahr betrug der Haushaltsansatz 114 Millionen DM. Davon werden voraussichtlich nur 100 Millionen DM abfließen. Ich darf daran erinnern, Herr Kollege Auch, daß ich mit Adolf Stockleben und Helmut Rohde zu den Haushältern der damaligen Koalitionsfraktionen gegangen bin, um zu verhindern, daß gerade Ihre Kollegen aus der SPD-Fraktion im Haushaltsausschuß bei der Kürzung des Programms „Humanisierung des Arbeitslebens" noch weiter zulangten.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Lenzer [CDU/CSU]: Er kann doch nur das vorlesen, was man ihm aufgeschrieben hat!)

Ich möchte auch wissen, wieso eigentlich zu den Themen, die Herr Kollege Auch hier aufgezählt hat, die ausufernden Forschungsprojekte und Studien im sozialwissenschaftlichen Bereich gehören. Herr Kollege Auch, das waren doch die Kritikpunkte, und sie sind immer noch vorhanden. Wir sind der Auffassung, daß wir dagegen etwas tun und das abstellen müssen.
Herr Kollege Auch, ich möchte noch einmal betonen, daß alle Fraktionen diese Beschlußempfehlung einstimmig verabschiedet haben. Dies sollten wir doch einmal deutlich herausstellen. Was den Haushaltsansatz betrifft, bitte ich, auf die Zahlen der vergangenen Jahre und die Mittelabflüsse zu achten. Dann werden Sie zugeben müssen, daß der Haushaltsausschuß verantwortlich handelt, wenn er gewisse Kürzungen dort vorschlägt, wo die Mittel ohnedies nicht abfließen.

(Dr. Steger [SPD]: Vergessen Sie aber nicht die globale Minderausgabe!)

— Herr Steger, ich komme darauf.
Für das Programm „Humanisierung der Arbeitswelt", das gerade im Zusammenhang mit der wachsenden Notwendigkeit einer Technikfolgenbewertung für den Menschen an seinem Arbeitsplatz und im Umfeld seines Arbeitsplatzes seine Bedeutung
8474 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr.-Ing. Laermann
hat, setzen wir uns nach wie vor und weiterhin ein. Das halten wir nach wie vor für richtig und notwendig.
Es hat — das haben Sie selbst betont; ich wiederhole es noch einmal — in der Vergangenheit viel berechtigte Kritik gegeben. Vieles ist inzwischen auf vernünftige Wege gebracht worden. Das wird hier anerkannt. Sicherlich wird es auch in Zukunft das eine oder andere Mal durchaus noch Ansatzpunkte für Kritik geben.
Im Rahmen dieses Programms sollen Arbeitsprozesse vorrangig so gestaltet werden, daß die körperlichen und physischen Belastungen abgebaut werden und in Zukunft bei der Einführung neuer Techniken, neuer Produktionsverfahren, neuer Arbeitstechniken und -abläufe — also auch bei neuen Arbeitsorganisationsstrukturen, wie z. B. der Gruppenarbeit — negative Wirkungen von vornherein verhindert werden. Das ist der vernünftige Ansatz für dieses Programm, und da sind wir uns hoffentlich nach wie vor einig.
Schwerpunkte sollten dabei nach unserer Auffassung in den Bereichen Ergonomie und Unfallschutz liegen. Niemand will, daß die Arbeiter bei der Ausübung ihrer Tätigkeit zu körperlichem Schaden kommen. Weitere Bereiche sind die Arbeitsmedizin und die Arbeitspsychologie. Daraufhin sollte das Programm organisiert und strukturiert werden. Ich meine, daß wir deshalb dieser Beschlußempfehlung zustimmen sollten.
Ich darf zum ersten Teil des Tagsordnungspunktes kommen: Förderung der Drittmittelforschung im Rahmen der Grundlagenforschung. Wegen der Kürze der Zeit muß ich mich etwas beschränken. Ich möchte zunächst verdeutlichen, daß wir drei Bereiche haben. Da sind einmal die Drittmittel, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergeben und verwaltet werden. Ich glaube, hier gibt es wenig Ansatzpunkte für Kritik; im wesentlichen läuft das alles, wie wir hören, ganz vernünftig. Dann haben wir Drittmittel, die von der öffentlichen Hand gegeben werden, z. B. vom Bundesforschungsministerium aus Projektmitteln oder von dem Innenministerium oder auch von den Ländern, wie z. B. dem Landesamt für Forschung in Nordrhein-Westfalen. Hier gibt es zuviel Bürokratie. Daran ist - durchaus berechtigt — schon wiederholt Kritik geübt worden. Ich will nicht im einzelnen zu den Schwierigkeiten Stellung nehmen; ich könnte manches aus eigener Erfahrung dazu beitragen. Schwierigkeiten, die einmal rein ideologisch begründet waren, sind nun Gott sei Dank überwunden. Hier gab es in der Vergangenheit — das ist heute anders — eine Reihe von Bedenken und Einwänden aus dem Bereich verschiedener Hochschulgruppen. Im wesentlichen aber sind die Schwierigkeiten heute auf teilweise ausufernden und vielfach unnötigen bürokratischen Aufwand zurückzuführen. Ich brauche dazu eigentlich gar keinen Bericht der Bundesregierung, bin allerdings gespannt, welche Schwierigkeiten die Bundesregierung aufzeigt, um das dann mit eigenen Erfahrungen vergleichen zu können.
Ohne das durchaus berechtigte Interesse von Gesetzgeber, Verwaltungen und Hochschulgremien, mehr Transparenz herzustellen und Interessenkollisionen zu vermeiden, begrenzen zu wollen, vertrete ich nachdrücklich die Auffassung, daß viel kostbare Zeit, viel Energie und schließlich auch insgesamt Finanzmittel eingespart werden könnten, wenn der Verwaltungsaufwand reduziert würde. Das käme, meine ich, der Effizienz der Forschung zugute.
Lassen Sie mich aber einen besonderen Punkt ansprechen, das ist die Frage der Drittmittel, die von privater Seite in Form von Spenden und Stiftungen oder durch Kooperation bzw. über Aufträge aus der Wirtschaft hereingeholt werden. Hier haben wir sicherlich eine Reihe von berechtigten Kritikpunkten, verständlichen Schwierigkeiten. Das hat sich bei der Anhörung vor dem Ausschuß für Forschung und Technologie zur Lage der Grundlagenforschung deutlich gezeigt. Ich möchte hier mit Genehmigung der Frau Präsidentin den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel zur Rolle der Stiftun-gen in der Forschungsförderung zitieren. Er hat gesagt:
So betrachtet, wird der Raum der Freiheit der Wissenschaft durch die privaten Stiftungen erheblich erweitert und in gewissem Maße gesichert. Diese Funktion der privaten wissenschaftsfördernden Stiftungen ist weit bedeutsamer, als der von ihnen zur Verfügung gestellte Geldbetrag vermuten läßt.
Er führt weiter aus:
Weil das so ist, hat der Staat auch die Pflicht, den Freiheitsraum und die Wirkungsmöglichkeiten der Stiftungen zu sichern. Der Staat sollte den Stiftungen einen gesetzlichen Rahmen zur Verfügung stellen, der ihre höchste Wirksamkeit auch in Zukunft garantiert.
Er befand sich hier in völliger Übereinstimmung mit dem vorherigen Bundespräsidenten Dr. Heinemann. Auch Bundespräsident Carstens hat sich dieser Auffassung im Jahre 1980 vor der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen noch einmal ausdrücklich angeschlossen.
Ich stelle hier fest, daß die Körperschaftsteuerreform von 1977 keine vernünftige Antwort auf diese Feststellungen war. Den Stiftungen wurden damit das Anrechnungs- und Erstattungsverfahren versagt, das für steuerpflichtige Körperschaften und Einzelpersonen eingeführt wurde. Damit werden den Förderzwecken jährlich 50 Millionen DM entzogen. Aber noch schlimmer ist die abschreckende Wirkung auf potentielle Stifter, mit ihrem Vermögen zukünfig Stiftungen zu errichten und zu dotieren.

(Dr. Steger [SPD]: Wer hat uns diese Körperschaftsteuerreform eigentlich aufgeschwatzt, Herr Laermann?)

— Ja, das möchte ich auch gern wissen, Herr Kollege Steger. Aber es ist ja jedem unbenommen, auch aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich zu bemühen, diese Fehler wieder zu korri-

Dr.-Ing. Laermann
gieren. Ich bin ein Gegner der Aussage: im Zweifel bei der ersten Behauptung bleiben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Entsprechend ihren Grundsätzen begrüßen gerade Liberale vermehrte private Initiativen in allen Politikbereichen, so auch im Bereich der Forschungs- und Wissenschaftsförderung. Die FDP steht deshalb voll zu den Feststellungen des Wissenschaftsrates, die wie folgt — ich darf zitieren — lauten:
Die privaten Organisationen der Forschungsförderung sind zwar dem Umfang nach gering. Sie erfüllen aber eine wichtige Funktion. Ihre Rolle besteht darin, die Tätigkeit der anderen Teile des Forschungsförderungssystems zu ergänzen. Mit ihrer Dotierung werden nicht nur private Mittel zugunsten öffentlicher — in diesem Fall: wissenschaftlicher — Zwecke aufgebracht, sie setzen auch Initiativen frei, die sonst unterblieben wären und die die Gesellschaft zu ihrer Weiterentwicklung braucht.
Das ist unsere Position. Wir sind der Auffassung, daß das Stiftungsrecht und die steuerliche Behandlung der Stiftungen im gesamtstaatlichen Interesse so bald wie möglich zu überprüfen und den Gegebenheiten im vorgenannten Sinne anzupassen sind.
Ich darf hier erklären, daß wir dem Antrag zustimmen, einschließlich der Änderungen, die von der Fraktion der SPD eingebracht worden sind. — Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Steger [SPD]: Für den letzten Teil der Rede hätten Sie die Koalition nicht zu wechseln brauchen!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913637400
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Probst. Er hat uns eine Redezeit von fünf Minuten versprochen.

(Dr. Steger [SPD]: Die können schrecklich genug sein!)


Dr. Albert Probst (CSU):
Rede ID: ID0913637500
Frau Präsidentin, ich werde mir große Mühe geben, mein Versprechen auch zu halten. Aber auf Grund der Rede des Kollegen Auch ist es notwendig, noch einige Ausführungen zum Bereich der Humanisierung des Arbeitslebens zu machen.
Herr Auch, es ist sehr bedauerlich, daß Ihre Aufstellung für den neuen Bundestag noch nicht so ganz sicher ist. Sonst wäre Ihre Rede erheblich vernünftiger ausgefallen, als sie heute ausgefallen ist.

(Lenzer [CDU/CSU]: Die müssen hier alle ihre Neurosen abladen! — Zurufe von der SPD)

Denn das Land und die Arbeitswelt, die Sie heute geschildert haben, sind mir nicht bekannt. Ich weiß nicht, wo Sie leben.

(Frau Dr. Timm [SPD]: Unverschämt, unglaublich! Das ist der neue Stil dieser Regierung! — Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU]: Das war die richtige Antwort!)

Dazu gehören natürlich umwerfende politische Aussagen über Ihr Programm. So sagten Sie z. B. wörtlich: „Wir wollen nicht, daß die Zahl der Krebstoten steigt." Das ist ein wirklich umwerfendes Programm; es spricht für sich. Es waren fast alle polemischen Kalauer drin, vom Profit bis hin zur Ellenbogengesellschaft. Ich würde doch bitten, zur Sachlichkeit zurückzukehren.
Ich möchte namens der Bundesregierung erklären, daß ich erfreut bin, daß es im Bereich der Humanisierung des Arbeitslebens heute einen gemeinsamen Antrag gibt, dem Sie auch zustimmen, Herr Auch. Das wäre vor einiger Zeit nicht möglich gewesen und geht letztlich darauf zurück, daß die CDU/CSU-Fraktion diesem Programm ganz und gar ihr Augenmerk geschenkt hat und es bis heute in einem erheblichen Ausmaß zu verbessern vermochte. Deshalb ist begrüßenswert, daß diese Beschlußempfehlung, die auf eine Effektivitätssteigerung des Programmes ausgerichtet ist, heute einstimmig verabschiedet wird.
Der vom Ausschuß vorgelegte Bericht zeigt allerdings auch einen Dissenspunkt. Die Koalition, die diese Bundesregierung trägt, lehnt die Forderung der Opposition nach finanzieller Ausweitung des HdA-Programmes ab. Ich kann nur wiederholen: Das Programm ist nicht mehr ein Objekt von Kürzungen, als es andere sind. Die unvermeidlichen Kürzungen machen wir ja nicht mutwillig; das kann man nicht oft genug sagen. Wir müssen es deshalb tun, weil durch unsere Vorgängerin in der Kasse nicht nur nichts ist, sondern weil auf Jahre hinaus das Geld festgelegt und die Verschuldung fast nicht meßbar ist. Und wenn schon unvermeidliche Kürzungen in der ganzen Breite gemacht werden, dann ist auch nicht einzusehen, warum ausgerechnet dieses Programm verschont werden soll.

(Zuruf von der SPD: Warum gleich 18 %!)

— Ich komme gleich darauf; ich werde Ihnen erläutern, warum.
Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß das HdAProgramm 1983 mit den veranschlagten Mitteln über die Runden kommen wird. Im Jahre 1980 sind von 110 Millionen DM Bewilligungssumme nur 95,5 Millionen DM abgeflossen. 1981 war es ähnlich, und 1982 werden von 114 Millionen DM auch nur etwa 100 Millionen DM abfließen.

(Zuruf von der SPD: Warum denn?)

Diese Zahlen aus der Vergangenheit bestärken meine Erwartung, daß 100 Millionen DM für 1983 angemessen sind. Die Sperre über 5 Millionen DM, die der Haushaltsausschuß beschlossen hat, halte ich nicht für dramatisch. Sie kann nach dem Beschlußtenor aufgehoben werden, wenn wertvolle — und darum geht es ja — und nützliche Projekte davon betroffen werden. Es kann ja nicht so gehen, wie es bisweilen in der Vergangenheit war, daß Projekte mit Gewalt gesucht wurden, um die eingeplante Summe aufzubrauchen. Es geht überhaupt nicht um die Frage des Programms; denn das Programm ist unbestritten. Humanisierung des Ar-
8476 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Parl. Staatssekretär Dr. Probst
beitslebens ist ein lang anhaltender Prozeß, der erst in jüngster Zeit auch vom Staat durch Forschung unterstützt wird. Dahinter stehen wir voll und ganz.
Bis zur Beratung des Haushalts 1984 werden die anstehenden Diskussionen über eine Bewertung und Effizienzsteigerung des HdA-Programmes so weit fortgeschritten sein, daß dann auf einer sicheren Basis entschieden werden kann, ob das Programm seine finanzielle Obergrenze erreicht hat oder weiterer Aufwuchs zu erwarten ist und angestrebt werden soll.

(Zuruf von der SPD: Und weitere Kürzungen, Herr Staatssekretär?)

Ich wiederhole, es ist ein wichtiges Programm. Es ist nicht die Frage, ob es durchgeführt wird, sondern es ist ausschließlich die Frage, wie es durchgeführt wird. Wir müssen versuchen, da, wo es noch Fehlerhaftigkeiten in dem Programm gibt, in erster Linie konkrete und praxisorientierte Themen aufzugreifen. Ich hoffe, daß wir mit dieser klaren Festlegung eine gemeinsame, geschlossene Programmführung, möglichst getragen von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages, in die Zukunft bringen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913637600
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 7 a. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird von der in der Tagesordnung vorgeschlagenen Ausschußüberweisung abgesehen.
Über den Antrag auf Drucksache 9/1936 mit dem Titel „Förderung der Drittmittelforschung im Rahmen der Grundlagenforschung" soll jetzt abgestimmt werden. Hoffentlich versteht ein Mensch, was das ist.
Zu diesem Antrag liegt auf Drucksache 9/2275 ein Änderungsantrag der SPD vor. Es wird eine Änderung von Ziffer 1 Abs. 2 beantragt. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist angenommen. Es gibt wirklich noch Wunder!
Wir stimmen jetzt über den Antrag auf der Drucksache 9/1936 insgesamt ab. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 7 b. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 9/2099 die Annahme einer Entschließung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Soweit ich sehe, ist die Entschließung einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes
— Drucksache 9/1493 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuß)

— Drucksache 9/2222 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Rapp (Göppingen) Dr. von Wartenberg

(Erste Beratung 97. Sitzung)

Es ist vorgeschlagen, eine Aussprache mit zehn Minuten Redezeit je Fraktion zu führen. — Es ist so beschlossen.
Die Berichterstatter wünschen nicht das Wort. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rapp.

Heinz Rapp (SPD):
Rede ID: ID0913637700
Frau Präsident! Wir reden in dieser Runde über ein unstrittiges Gesetz und müssen das zu so später Stunde dennoch tun, weil man in den Stabsabteilungen großer Gesellschaften unsere Anmerkungen immerhin auf kritische Töne und auf Zwischentöne wird abhorchen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Wirtschaftszweig, der Sicherheit vor finanziellen Risiken produziert, muß selber sicher sein; seine eigenen Risiken müssen begrenzt und jederzeit unter Kontrolle sein. Demgemäß bedarf das Produkt „Sicherheit vor finanziellen Risiken", das die Versicherungsunternehmen anbieten, seinerseits der Sicherung, der Obhut des Gesetzes und der Versicherungsaufsicht.
Deshalb gibt es in Deutschland seit 1931 ein Versicherungsaufsichtsgesetz, das dem Bundesamt für das Versicherungswesen in Berlin die Befugnis gibt, die Befolgung der gesetzlichen Vorschriften und die Einhaltung des Geschäftsplans zu überwachen und Mißstände zu beseitigen, welche — ich zitiere — „die Belange der Versicherten gefährden oder den Geschäftsbetrieb mit den guten Sitten in Widerspruch bringen".
Nun mag es stutzig machen, daß wir heute bereits das Vierzehnte Änderungsgesetz zum Versicherungsaufsichtsgesetz beschließen wollen, ist doch die Versicherungswirtschaft, die j a Verträge von mitunter 50 Jahren Laufzeit zu bedienen hat, auf Kontinuität der Rahmenbedingungen und der Kalkulationsgrundlagen in besonderem Maße angewiesen. In der Anhörung, die der Finanzausschuß zu unserem Gesetzentwurf durchgeführt hat, waren freilich manche Äußerungen aus der Versicherungswirtschaft selbst auf den Nenner der allgemeinen Lebensweisheit zu bringen, daß nichts so gut ist, als daß es nicht noch besser sein könnte.
In diesem Sinne bringt das Vierzehnte Änderungsgesetz Verbesserungen, aber damit wird die Entwicklung nicht abgeschlossen sein. Was aus der Diskussion über unser Versicherungswesen allerdings heraus muß, ist diese Attitüde vom „ganz anderen System", das schemenhaft irgendwo her-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8477
Rapp (Göppingen)

umgeistert. Das Bewährte weiterentwickeln, darum geht es!
Unser Änderungsgesetz ist zunächst deshalb erforderlich, weil zwei EG-Richtlinien, die Lebensversicherungsrichtlinie und die Mitversicherungsrichtlinie, ins Gesetz einzuarbeiten sind. Das ist unproblematisch; inhaltlich war es bereits bei einer früheren Novelle geschehen.
Bei Gelegenheit der Umsetzung der beiden EG-Richtlinien wurden Aufsichtsrechte z. B. über öffentlich-rechtliche Versicherungen, die bisher in anderen Gesetzen geregelt waren, in das nunmehr einheitliche Versicherungsaufsichtsgesetz einbezogen. An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Pluralität der Rechtsformen — genossenschaftliche, privatwirtschaftliche, öffentlich-rechtliche Versicherungen — jedem, der Versicherungsschutz sucht, die Chance der Wahl auch nach seinen, wenn Sie so wollen, gesellschaftspolitischen Präferenzen ermöglicht, und das ist gut so.
Die bisher erwähnten Regelungen sind unproblematisch. Unterschiedliche Auffassungen abzuwägen waren vor allem bei der auch ordnungspolitisch bedeutsamen Frage, die im neuen § 81 c geregelt ist. Da Lebensversicherungsverträge langfristig abgeschlossen werden, muß die Erfüllbarkeit der Verträge durch vorsichtige Rechnungsgrundlagen, also durch Sicherheitszuschläge zum Ausgleich von Unsicherheiten, die im Risikoverlauf, im Zinsverlauf oder auch im Kostenverlauf liegen können, gewährleistet sein. Die Belange der Versicherten sind dabei in der Weise zu wahren, daß die Überschüsse aus dem Risikoverlauf und aus der Kapitalanlage den Versicherten über Beitragsrückerstattungen möglichst ungeschmälert wieder zugute kommen. Derzeit werden rund 98 % dieser Überschüsse der Rückstellung zur Beitragsrückerstattung zugeführt. Es hat gelegentlich jedoch auch Fälle gegeben, in denen die Überschußbeteiligung der Versicherten unzureichend war. Die Versicherungsaufsicht bedarf deshalb nunmehr rechtlicher Maßstäbe, um solche Fälle namhaft zu machen, und sie bedarf eines aufsichtsrechtlichen Instruments, um eingreifen zu können.
Die gefundene Lösung ist deshalb nur die zweitbeste, weil sich die beste auch bei langwieriger Suche nicht hat finden lassen. Es wird rechnerisch als Durchschnittswert eine Rückgewährnormquote ermittelt, bei deren Unterschreitung das Aufsichtsamt nach Berücksichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalls einen Verbesserungsplan fordern kann.
In dieser Regelung stecken zwei Gefahren: Erstens. Der rechnerische Maßstab kann und darf nur ein internes Hilfsmittel sein. Würde er etwa gar zu Wettbewerbszwecken veröffentlicht, wären wegen der unterschiedlichen Gegebenheiten etwa in der Kapitalanlage oder in der Tarifstruktur Fehlurteile unvermeidlich. Zweitens. Man wird aufpassen müssen, daß § 81c nicht zu einer Nivellierung des Anlageverhaltens der Versicherungen führt, was dann gewiß zu Lasten des öffentlichen Interesses an wirtschaftlich erwünschter Plazierung, z. B. im Wohnungsbau, ginge. Es wird sehr von der verständigen
Handhabung abhängen, ob sich § 81 c bewähren wird. Wir werden das beobachten.
Das Recht der Versicherten auf möglichst ungeschmälerte Rückgewähr der Überschüsse kann aber auch gemindert werden und ist wohl in einigen Fällen auch durch unangemessene Gegenrechnung von Verwaltungskosten gemindert worden, insbesondere im Zusammenhang mit der Auslagerung von Dienstleistungen auf andere Unternehmen, die nicht Versicherungsunternehmen sind. Dies hat man in § 53 d unterbunden, indem man den OECD-Regeln für interne Verrechnungspreise Geltung verschafft hat.
Meine Damen und Herren, daß die Öffentlichkeit den dem Versicherungsvertrag eigenen besonderen Verhältnissen und Bedingungen mit großer Sensibilität, Aufmerksamkeit begegnet, liegt in der Natur der Sache und ist verständlich. Daß sich da besondere Verbraucherschutzorganisationen bilden, ist zu begrüßen. Man muß nur aufpassen, daß darob die Vielfalt des Angebots — maßgeschneiderter Versicherungsschutz — keinen Schaden nimmt. Den unterschiedlichen Interessen der Versicherungsnehmer wäre vielmehr eher noch bei weiter zu verbessernder Transparenz durch eine Verbreiterung der Angebotspalette entgegenzukommen. Daß darob die Vertretung der Versicherten z. B. in Beschwerdefällen, zu denen auch die Problematik häufig als zu niedrig empfundener Rückkaufswerte gehört, nicht einfacher wird, liegt auf der Hand.
Es bleibt da auch die Frage gestellt — sie ist in diesem unseren Gesetzentwurf nicht angegangen worden —, wie man die Rechnungsüberschüsse, sollten sie in ihrer derzeitigen Höhe aufrechtzuerhalten sein, künftig den Versicherten nicht nur so vollständig, sondern auch so rasch und so gerecht wie möglich wieder zurück gibt. Da ist es die Versicherungswirtschaft selbst, die hier vor allen anderen gefragt ist und darüber nachzudenken hat. Man weiß auch, daß sie das weiß und daß in der Versicherungswirtschaft bezüglich des Rechnungszinsfußes bereits Überlegungen im Gange sind.
Über all diese Fragen sollten die Beteiligten im vernünftigen, unaufgeregten Gespräch bleiben. Hektik wäre ebenso schädlich wie Unbeweglichkeit.
Durch das Vierzehnte Änderungsgesetz zum Versicherungsaufsichtsgesetz legen wir auf dem Weg vom Guten — es gibt keinen bessergeschützten Versicherungsnehmer auf der Welt als den deutschen — zum Besseren wieder einen Schritt zurück. Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf, der noch von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung vorgelegt worden war, zu.

(Beifall bei allen Fraktionen)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913637800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spilker.

Dr. Karl-Heinz Spilker (CSU):
Rede ID: ID0913637900
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute dem Plenum vorliegende Entwurf eines Vierzehnten Gesetzes zur An-
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Spilker
derung des Versicherungsaufsichtsgesetzes wurde am 29. April in diesem Hohen Haus behandelt, nachdem die Bundesregierung im März einen entsprechenden Entwurf eingebracht hatte. Dieser zeitliche Ablauf könnte von der Tatsache ablenken, daß der Entwurf recht lange hin- und hergeschoben wurde, obwohl seine Verabschiedung schon früher für alle wünschenswert gewesen wäre. Um so mehr begrüßt die CDU/CSU-Fraktion die heutige Verabschiedung des Gesetzes, dem sie vollinhaltlich zustimmen wird.
Der Gesetzentwurf dient vor allem — das wurde schon gesagt — der Umsetzung europäischen Rechts in deutsches, in nationales Recht. Es handelt sich dabei um zwei Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft, die sogenannte Lebensversicherungsrichtline aus dem Jahre 1979 und die Mitversicherungsrichtlinie aus dem Jahre 1978. Die eine erleichtert die Niederlassung von Lebensversicherern im Gebiete der gesamten Gemeinschaft und damit die gegenseitige Durchdringung der Märkte; die andere, die Mitversicherungsrichtlinie, ist ein erster Schritt in Richtung auf die Dienstleistungsfreiheit über die innergemeinschaftlichen Grenzen hinaus. Ausländische Versicherer aus der Gemeinschaft, die sich über die Grenzen hinweg an einem inländischen Risiko beteiligen wollen, werden von der Versicherungsaufsicht befreit. Dies dient der Schaffung eines gemeinsamen Versicherungsmarktes in Europa, der von uns gewünscht wird, von dem wir allerdings noch ein gutes Stück entfernt sind.
Der Gesetzentwurf nimmt die Umsetzung der beiden genannten Richtlinien zum Anlaß, das zersplitterte Versicherungsaufsichtsrecht des Bundes in einem Versicherungsaufsichtsgesetz zusammenzufassen und in einigen Punkten zu ergänzen und zu verbessern. Das Gesetz gilt nunmehr sowohl für die privaten Versicherer als auch für öffentlich-rechtliche Versicherer, die private Versicherungsgeschäfte betreiben.
Im Mittelpunkt der Beratungen in den Ausschüssen standen einige Neuregelungen, die die Fortentwicklung des Versicherungsaufsichtsrechts im nationalen Bereich zum Gegenstand haben. Hierzu haben Finanz- und Wirtschaftsausschuß eine gemeinsame Anhörung von Sachverständigen durchgeführt, über die im Ausschußbericht Näheres gesagt wird.
Im einzelnen möchte ich dazu folgendes bemerken. Auch die CDU/CSU-Fraktion begrüßt neue Vorschriften, die Befugnisse der Aufsichtsbehörde z. B. für den Fall verstärken sollen, daß Versicherer ganze Betriebsabteilungen auf Unternehmen verlagern, die nicht Versicherer sind, so daß die Aufsichtsmittel nach der zur Zeit geltenden Fassung des Gesetzes diesen gegenüber nicht greifen können. In diesem Zusammenhang werden wir uns, gewollt oder nicht, an den wenig schönen, aber als Schlagwort wohl unvermeidlichen Begriff der Funktionsausgliederung gewöhnen müssen.
Wir bejahen eine Regelung, die die Verlagerung von Gewinnen der Versicherungsunternehmen auf Unternehmen des gleichen Konzerns, die selbst
nicht Versicherer sind, verhindert oder wenigstens beschränkt.
Die Versicherungsaufsichtsbehörde hat festgestellt, daß Versicherer in Einzelfällen — das ist natürlich nicht die Regel — durch überhöhte Entgelte für Dienstleistungen, die sie sich von Konzernunternehmen erbringen lassen, zu hohe Kosten haben, um nicht zu sagen: künstlich Kosten produzieren und damit Gewinne vom Versicherer auf Nichtversicherer des gleichen Konzerns verlagern. Es gilt, dem energisch Einhalt zu gebieten.
Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Wir stehen natürlich mit der Bundesregierung auf dem Standpunkt, daß in einer Wettbewerbswirtschaft Gewinne gemacht werden sollen. Diese aber sollten dort ausgewiesen werden, wo sie erwirtschaftet wurden, hier also beim Versicherer und nicht bei einem Konzernunternehmen, das als branchenfremdes Unternehmen nicht der Aufsicht unterliegt und nicht wie ein Versicherer den kritischen Augen der Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Insoweit enthält der neue § 53 d auch ein Stück Verbraucherinformation und ein Stück Verbraucherschutz. Beides wird von uns begrüßt.
Weit mehr Diskussion hat der neue § 81c des Versicherungsaufsichtsgesetzes ausgelöst, der erstmals die Überschußbeteiligung der Versicherten bei Lebensversicherungsunternehmen durch Einführung der Rückgewährprämie gesetzlich regelt. Wir begrüßen diese Regelung angesichts der großen Bedeutung, die der Überschußbeteiligung bei Lebensversicherungen grundsätzlich zukommt.
Gegen den § 81 c ist unter anderem eingewendet worden, er diene nur dazu, die in der Gewinnausschüttung zurückgebliebenen Versicherer wieder an den Durchschnitt der übrigen Lebensversicherer heranzuführen. Das ist richtig, aber dieses Recht ist der Aufsichtsbehörde in der Vergangenheit leider bestritten worden. Der neue § 81 c stellt ein entsprechendes Tätigwerden der Aufsichtsbehörde auf eine klare juristische Grundlage.
Daneben bleibt — und das möchte ich betonen — die Generalklausel des Versicherungsaufsichtsgesetzes, nach der die Aufsichtsbehörde aufgerufen ist, Mißstände zu beseitigen, die die Belange der Versicherten gefährden. Das ist der Grundsatz.
Was wir dagegen nicht möchten, ist eine Regelung, bei der die Aufsichtsbehörde ein „Soll" vorgibt, das erfüllt werden muß. Das wäre marktwirtschaftlich nach unserer Überzeugung nicht zu vertreten. Die Lösung muß vielmehr bei einer Verstärkung des Wettbewerbs ansetzen, was wiederum mehr Markttransparenz voraussetzt. Diese zu schaffen ist eine Aufgabe für die Zukunft, die in diesem Gesetzgebungsverfahren nicht gelöst werden konnte. Auch die angehörten Sachverständigen konnten uns kein Patentrezept bieten.
Wir wollen keinen Dirigismus und haben den Schutz der Versicherten im Auge. Der Wettbewerb, zu dem auch die Versicherten beizutragen haben, möge sich auf die Dauer durchsetzen.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8479
Spilker
Man konnte in diesem Zusammenhang auch den Einwand hören, die Versicherer könnten versucht sein, bei ihren Vermögensanlagen den Wohnungsbau zu vernachlässigen, um durch hochverzinsliche Nominalwerte eine hohe Rückgewährquote zu erzielen. Es ist richtig, daß die Anlagen der Lebensversicherer im Wohnungsbau zurückgegangen sind. Das ist eine Entwicklung, die mit dem noch gar nicht geltenden § 81 c sicher nichts zu tun hat. Diese Kritik setzt daher sicher am falschen Ende an. Um so etwas zu verhindern, müssen wir andere Rahmenbedingungen schaffen, und zwar solche, die den Lebensversicherern eine Anlage im Wohnungsbau wieder attraktiv erscheinen lassen,

(Dr. von Wartenberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

auch im Interesse ihrer Versicherten. Vielleicht schon am morgigen Tag werden wir Näheres darüber zu beraten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im übrigen ist der § 81 keine Mußvorschrift. Die Aufsichtsbehörde kann auch Besonderheiten — und sollte dies auch bei einzelnen Versicherungsunternehmen tun — berücksichtigen, wenn sie zu entscheiden hat, ob sie von einem Versicherer die Verbesserung seiner Überschußbeteiligung fordern soll.

(Zuruf von der SPD)

Wie ich eingangs schon bemerkte, drängt aus europäischer Sicht für diesen Gesetzentwurf die Zeit. Die von Brüssel vorgesehenen Fristen sind bereits abgelaufen. Aber auch das nationale Recht erfordert eine Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes, dem die CDU/CSU-Fraktion zustimmen wird. — Ich danke Ihnen sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913638000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (FDP):
Rede ID: ID0913638100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes steht eine Vorlage zur Diskussion, die von der Öffentlichkeit noch nicht in ausreichendem Maß zur Kenntnis genommen wurde. Das muß überraschen. Denn das Versicherungsaufsichtsgesetz regelt ein Rechtsgebiet von nicht gerade geringer Bedeutung. Allein die in der Bundesrepublik tätigen Lebensversicherer erzielen ein Beitragsaufkommen von über 30 Milliarden DM pro Jahr. Das sind 3,5 % des privaten Verbrauchs. Allein die Personenversicherer verwalten Vermögenswerte von über 300 Milliarden DM. Insofern verdient natürlich der vorliegende Gesetzentwurf, der die Aufsicht über die Versicherungsunternehmen neu regeln soll, große Aufmerksamkeit.

(Boroffka [CDU/CSU]: Um 22.15 Uhr!)

Mit diesem Entwurf sollen zunächst einmal — Sie haben es bereits erwähnt, Herr Kollege Rapp — zwei EG-Richtlinien in deutsches Recht umgesetzt werden, die Lebensversicherungsrichtlinie und die Mitversicherungsrichtlinie. Der Entwurf bringt da-
mit eine weitere Harmonisierung in einem wichtigen Rechtsgebiet. Die FDP begrüßt dies; denn mit jeder weiteren Harmonisierung wird ein neuer Schritt zur Schaffung des europäischen Binnenmarktes getan.
Die FDP dankt der Bundesregierung, daß sie bei der Verhandlung über die Lebensversicherungsrichtlinie in Brüssel das bewährte Prinzip der Spartentrennung zwischen Lebens- und Schadenversicherung nicht aufgegeben hat. Dies gewährleistet den Schutz der Lebensversicherten vor der risikoreicheren Schadenversicherung. Die jetzt gefundene Lösung, nach der bestehende Mehrbranchenversicherer in den Ländern, in denen die Spartentrennung zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Richtlinie nicht vorgeschrieben war, ihre Tätigkeit unter bestimmten Bedingungen fortsetzen können, nach der aber neu zu gründende Versicherungsunternehmen dagegen nicht die Schaden- und Lebensversicherung zugleich betreiben dürfen, halten wir für einen vertretbaren Kompromiß. Wir nehmen an, daß die Entwicklung in der EG in den nächsten Jahren ohnehin in Richtung Spartentrennung laufen wird. Deshalb ist es richtig, daß die Richtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Recht einräumt, auf ihrem Staatsgebiet die Spartentrennung einzuführen. Dies ist bei uns in der Bundesrepublik bis auf wenige Ausnahmen bereits seit langem der Fall.
Der aus der Mitversicherungsrichtlinie resultierende Teil des Gesetzentwurfes ist ein Schritt in Richtung des freien Dienstleistungsverkehrs über Grenzen hinweg. Dieses wurde von Ihnen, Herr Kollege Spilker, bereits deutlich gesagt. Bei Risiken aber, die nach Art und Umfang die Beteiligung mehrerer Versicherungsunternehmen erfordern, kann man davon ausgehen, daß die Versicherungsnehmer die Besonderheit kennen, die in der Beteiligung von Versicherungsunternehmen liegen, die ihren Sitz nicht im Inland haben. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, daß der Entwurf auf die inländische Versicherungsaufsicht über das ausländische Versicherungsunternehmen verzichtet, zumal das federführende inländische Versicherungsunternehmen selbstverständlich dieser Aufsicht unterliegt.
Darüber hinaus werden mit dem Gesetzentwurf aber auch Maßnahmen durchgeführt, die über den Harmonisierungsauftrag der Richtlinien hinausgehen.
Der neu geschaffene § 53d VAG ist eine Fortentwicklung des Versicherungsaufsichtsrechts. Meine Damen und Herren, das Versicherungsaufsichtsamt hat feststellen müssen, daß die Belange der Versicherten dadurch beeinträchtigt werden können, daß Gewinne, die wirtschaftlich beim Versicherungsunternehmen entstanden sind, auf konzerneigene Unternehmen verlagert werden, die selbst nicht Versicherungsunternehmen sind. Wie Herr Kollege Spilker schon ausgeführt hat, kann dies dadurch geschehen, daß Versicherungsunternehmen für Leistungen, die sie von konzerneigenen Unternehmen in Anspruch nehmen, Engelte zahlen, die über den Marktpreisen liegen. Der neue § 53d soll solchen Verlagerungen einen Riegel vorschieben. Er legt
8480 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Dr. Feldmann
fest, daß das Entgelt in diesen Fällen auf den Marktpreis zu begrenzen ist. Das begrüßen wir. Es kann auch nicht hingenommen werden, daß die Ertragslage der Versicherungsunternehmen verfälscht wird; denn die Versicherten haben Anspruch auf wirtschaftlich angemessene Prämien und Beitragsrückerstattungen. Die Mehrheit der bei der Anhörung zu Worte gekommenen Sachverständigen hat den neuen § 53d gebilligt.
Anderer Auffassung waren die Sachverständigen dagegen bei der Erörterung des neuen § 81c. Herr Kollege Rapp, Sie haben es bereits erwähnt: Diese Vorschrift soll dazu beitragen, daß die Überschüsse der Lebensversicherungsunternehmen in ausreichendem Umfange wieder an die Versicherten zurückfließen. Der Gesetzentwurf sieht vor, daß das Lebensversicherungsunternehmen dem Aufsichtsamt dann einen Plan über die beabsichtigte Rückstellung für die Beitragsrückerstattungen zur Genehmigung vorzulegen hat, wenn die Rückgewährquote des Unternehmens im Durchschnitt der letzten drei Jahre nicht dem Rückgewährrichtsatz entspricht. Dieser Richtsatz wird auf der Basis aller Lebensversicherungsunternehmen festgelegt.
Die Kritik der Sachverständigen an der Rückgewährquote war jedoch nicht einheitlich. Einerseits wurde kritisiert, daß dieser Frühindikator eine zu zaghafte Lösung sei, andererseits wurde diese Konstruktion als zu strikt bezeichnet. Bemerkenswert erscheint uns jedoch, daß weder die einen noch die anderen Kritiker eine jetzt realisierbare Ersatzlösung anbieten konnten.
Trotz dieser gegen die Rückgewährquote vorgebrachten Argumente treten wir dafür ein, diesen vorgeschlagenen Beitrag zur Sicherstellung angemessener Rückgewährquoten jetzt nicht zu unterlassen, denn er stärkt zweifelsohne die Rechte des Aufsichtsamtes in der Frage der Überschußbeteiligung. Im übrigen ist die FDP der Meinung, daß letztendlich der Wettbewerb schon für den notwendigen Rückfluß der Gewinnbeteiligung sorgen wird. Sie haben es ähnlich ausgedrückt, Herr Kollege Spilker.
Die FDP gibt dem vorliegenden Gesetzentwurf daher ihre Zustimmung.
Zum Schluß darf ich noch an die Versicherungswirtschaft appellieren, in ihrer Anlagepolitik den Wohnungsbau wieder stärker zu berücksichtigen. Der in den letzten Jahren zu verzeichnende Rückgang des Wohnungsbauanteils an den Gesamtanlagen der Versicherungswirtschaft ist bedenklich. Mit der anstehenden Liberalisierung des Mietrechts, die im Mietwohnungsbau wieder eine angemessenere Rendite bringen soll,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, daß auch die Versicherungsunternehmen wieder stärker im Wohnungsbau investieren. — Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913638200
Das Wort hat der Herr Staatssekretär Dr. Häfele.

Dr. Hansjörg Häfele (CDU):
Rede ID: ID0913638300
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen heute am Ende der Beratung eines Gesetzentwurfs, der schon vor über einem halben Jahr eingebracht worden ist. Die neue Bundesregierung hat auf einen schnellen Abschluß der Beratungen gedrängt. Damit wollten wir die von Brüssel gesetzten Fristen nicht allzusehr überschreiten. Wir wollten aber auch das Versicherungsaufsichtsgesetz ein Stück voranbringen. Wir haben dabei nichts davon gehalten, dieses Gesetz noch mit allerlei anderen möglichen Regelungen zu befrachten, die da und dort gewünscht wurden und zu weiteren Verzögerungen geführt hätten. Diese Wünsche entsprachen wohl auch mehr einem allgemeinen Unbehagen als konkreten Vorstellungen, wie der Verbraucherschutz im Bereich der Versicherungen, insbesondere der Lebensversicherung, verbessert werden könnte. Auch die Anhörung der Sachverständigen im Ausschuß hat nur ein breites Band gegensätzlicher Meinungen aufgezeigt. Die Bundesregierung sah keine Veranlassung, von ihrem Gesetzentwurf Abstriche zu machen.
Der Entwurf konkretisiert und verstärkt die Befugnisse der Aufsichtsbehörde in mehreren Bereichen. Sie soll besser in die Lage versetzt werden, Mißstände frühzeitig zu erkennen und ihnen abzuhelfen. Ob über den jetzt gezogenen Rahmen hinaus durch den Gesetzgeber noch mehr getan werden muß, bedarf sorgfältiger Prüfung. Ich stimme Ihnen, Herr Rapp, insoweit zu. Wir werden dabei allerdings zu vermeiden suchen, durch allzu dirigistische Mittel Eigeninitiativen zu sehr zu beschneiden. Das gilt auch für die Verbesserung der Überschußbeteiligung in der Lebensversicherung. Über sie muß auch nach Einführung des § 81c des Versicherungsaufsichtsgesetzes weiterhin nachgedacht werden. Wir setzen hier mehr auf die Stärkung des Wettbewerbs der Versicherungsunternehmen untereinander. Gesetzliche oder verwaltungsmäßige Maßnahmen sollten möglichst entbehrlich sein. Eine wichtige Voraussetzung wird dabei die Erhöhung der Marktdurchsichtigkeit sein.
Ich appelliere an die Versicherer, sich auf diesem Gebiet selber etwas einfallen zu lassen. So können sie der zum Teil nicht unberechtigten Kritik begegnen, die von seiten der Verbraucher geäußert wurde. Ansatzpunkte sind ja erfreulicherweise bereits vorhanden.
Den Nutzen eines verstärkten Wettbewerbs kann allerdings nur der Verbraucher ziehen, der sich wirklich unterrichtet. Mein Appell geht daher auch an die Verbraucher, die ihnen gebotenen Möglichkeiten wirklich zu nutzen. Diese Möglichkeiten gibt es durchaus bereits jetzt. In der Schadensversicherung haben wir schon ein hohes Maß an Marktdurchsichtigkeit. Dies bestätigt sich, wenn wir zum Vergleich einmal über die Grenzen blicken. Aber auch in der Lebensversicherung stehen den Versicherungsinteressenten Informations- und Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Es reicht nicht aus — insofern stimme ich der geäußerten Kritik durchaus zu —, sich an einen einzigen Versicherungsvertreter zu wenden, nur weil
Deutscher Bundestag - 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8481
Parl. Staatssekretär Dr. Häfele
man ihn kennt oder weil angeblich alle Versicherer doch nur das gleiche bieten. Das trifft nämlich nicht zu. Es gibt durchaus Unterschiede, und es lohnt sich, sich darüber zu unterrichten.
Solche Informationen haben jedoch nur dann einen Sinn, wenn sie objektive Anhaltspunkte bieten. Diese im Bereich der Lebensversicherung mit ihrer oft jahrzehntelangen Laufdauer der Verträge zu finden wird nicht immer einfach sein. Die Bundesregierung wird sich aber um Anstöße bemühen.
Wir sollten es mit den vorgeschlagenen Verbesserungen des Versicherungsaufsichtsgesetzes gesetzgeberisch zunächst einmal genug sein lassen. Die Bundesregierung wäre dankbar, wenn das Gesetz heute in der nunmehr gefundenen Form verabschiedet werden könnte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913638400
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und zur Abstimmung. Ich rufe Art. 1 bis 5 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — In zweiter Lesung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes
— Drucksache 9/1829 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses

(8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung

— Drucksache 9/2229 —
Berichterstatter: Abgeordnete Sieler Dr. Friedmann
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 9/2228 —
Berichterstatter: Abgeordneter Peter (Kassel)


(Erste Beratung 111. Sitzung)

Auch hier werden 10-Minuten-Reden vorgeschlagen. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Stutzer.

Hans-Jürgen Stutzer (CDU):
Rede ID: ID0913638500
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Dem heute zur Beratung anstehenden Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Seemannsgesetzes stimmt die CDU/CSU-Fraktion zu.
Der Entwurf ist noch von der alten Bunderegierung eingebracht und vom Bundesrat mit Verbesserungsvorschlägen versehen worden, die von der christlich-liberalen Koalition als Änderungsanträge übernommen wurden.

(Zuruf des Abg. Lutz [SPD])

— Die Opposition, Herr Lutz, hat mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen komme, allen Änderungsanträgen zugestimmt.

(Zurufe von der SPD)

Der Gesetzentwurf enthält zwei Schwerpunkte. Der erste liegt auf sozialpolitischem Gebiet. Die äußerst kurzen Kündigungsfristen für Schiffsleute — das sind die Besatzungsmitglieder unterhalb der Offiziersebene — sind verlängert worden. So konnte den Schiffsleuten bisher mit einer Kündigungsfrist von 48 Stunden gekündigt werden. Wir meinen, daß das heute nicht mehr in die Zeit paßt, zumal wenn wir uns die Kündigungsfristen ansehen, die für Landbetriebe gelten. Künftig soll die Kündigungsfrist in den ersten drei Monaten des Heuerverhältnisses eine Woche, sodann zwei Wochen, nach dreijährigem Bestand des Heuerverhältnisses sechs Wochen zum Schluß des Kalendervierteljahres betragen.
Zugleich wird mit den neuen Regelungen einer Forderung des Internationalen Arbeitsamts Rechnung getragen. Seit einer Reihe von Jahren weist das Internationale Arbeitsamt darauf hin, daß die Kündigungsregelungen des Seemannsgesetzes das Auslaufen des Heuerverhältnisses im Ausland sehr erschweren und damit gegen ein von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziertes Übereinkommen verstoßen. Wir sind überzeugt, daß wir mit der jetzt beschlossenen Änderung des Seemannsgesetzes die Anforderungen des Übereinkommens erfüllen. Eine noch weitere Erleichterung der Beendigung des Heuerverhältnisses im Ausland würde den nach unserer Auffassung erforderlichen sozialen Schutz der Besatzungsmitglieder nicht mehr gewährleisten.
Bei den Ausschußberatungen waren sich alle drei Fraktionen über diesen Teil des Gesetzentwurfes einig, Herr Lutz.
Bei dem zweiten Schwerpunkt des Gesetzentwurfs geht es um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Handelsflotte. Durch eine neue Besetzungsregelung sollen die hohen Personalkosten auf deutschen Seeschiffen gesenkt werden. Hierbei haben wir uns vor allem von dem Grundsatz leiten lassen, daß eine bessere Ausbildung der Schiffsleute den Einsatz sowohl im Decks-als auch im Maschinendienst ermöglicht und damit Besatzungsreduzierungen zuläßt. Auch über diese neue Besatzungsstruktur waren wir uns, Herr Lutz, in den Ausschüssen einig.
8482 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Stutzer
Streitig zwischen den Regierungsfraktionen und der Opposition war lediglich — nun komme ich zu Ihrem Zwischenruf —, welche Stelle über Abweichungen von der künftigen Regelbesatzung entscheiden soll. Wir haben uns nach reiflicher Überlegung dafür entschieden,

(Zuruf von der SPD: Sind Sie sicher?)

daß künftig eine Behörde für diese Ausnahme zuständig sein muß.

(Lutz [SPD]: Das haben Sie doch nicht entschieden! Das haben doch ganz andere entschieden!)

Es geht um Fragen der Schiffssicherheit, Herr Lutz, des Arbeitsschutzes und damit um öffentliche Aufgaben. Die Bedenken der Opposition, bei der vorgesehenen Regelung sei die Mitwirkung der Arbeitnehmer nicht ausreichend gesichert, teilen wir aus zwei Gründen nicht.
Einmal sollte nach unseren Vorstellungen durch die künftige Besetzungsverordnung die See-Berufsgenossenschaft mit der Entscheidung beauftragt werden. Deren Aufsichtsgremien sind paritätisch besetzt.
Darüber hinaus ist vorgesehen, daß vor jeder Entscheidung durch die See-Berufsgenossenschaft noch ein mit den Vertretern der Reederverbände und Gewerkschaften paritätisch besetzter Ausschuß zu hören ist. Damit halten wir die Belange der Besatzungsmitglieder und ihrer Vertretungen für ausreichend gewahrt.

(Lutz [SPD]: Sie, wir nicht!)

Schließlich noch ein letztes Bedenken gegen den Vorschlag der Opposition, einen mit Gewerkschaften und Reedervertretern besetzten Ausschuß über die Ausnahmen entscheiden zu lassen. Die Belange der Seeschiffahrt erfordern schnelle Entscheidungen. Darin sind wir uns, glaube ich, alle einig. Uns scheinen bei einer Ausschußlösung angesichts des natürlichen Interessengegensatzes zwischen Gewerkschaften und Reederverbänden diese schnellen Entscheidungen nicht mehr gewährleistet zu sein.

(Lutz [SPD]: Die Arbeitnehmer müssen schnell entlassen werden können!)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird daher den bereits im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mit Mehrheit abgelehnten Änderungsantrag zu § 143 b des Seemannsgesetzes, der jetzt auf Drucksache 9/2242 mit derselben Begründung, Herr Lutz, wiederholt wird, auch im Plenum ablehnen. Ich glaube, daß letzthin alle Beteiligten unsere Entscheidung verstehen werden.

(Zurufe von der SPD: Nein!)

Wir haben einem möglichst unbürokratischen, reibungslosen und schnellen Verfahren den Vorzug gegeben.
So haben es auch die beiden mitberatenden Ausschüsse gesehen. Dabei liegt es uns fern, die Gewerkschaften bei der Entscheidungsfindung auszuschließen. Im Gegenteil: Wir sind daran interessiert — ich möchte das ausdrücklich betonen —, daß die
Gewerkschaften auch künftig die in der Seeschiff-
fahrt anstehenden schwierigen Fragen, insbesondere bei der Regelung der Besetzung, mittragen.
Erlauben Sie mir abschließend als schleswig-holsteinischem Abgeordneten bitte noch eine Bemerkung. Mir liegt natürlich die Seefahrt ganz besonders am Herzen.

(Lutz [SPD]: Und die Reeder!)

Hier sitzen die Schiffsleute, Herr Lutz, die Reeder und auch die Schiffsbauer alle in einem Boot. Sie sind alle daran interessiert, daß es jetzt zu der anstehenden Novellierung des Seemannsgesetzes kommt, weil wir in der äußerst schwierigen Lage, in der sich die deutsche Handelsschiffahrt befindet, alles tun müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Das sichert nicht nur die Arbeitsplätze in der Schiffahrt, sondern auch auf den Werften. Einen Schritt in diese Richtung wollen wir heute mit der Verabschiedung dieses Gesetzes tun. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913638600
Das Wort hat der Abgeordnete Peter (Kassel).

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID0913638700
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann sicherlich nicht aus schleswig-holsteinischer Sicht sprechen. Aber auch die Fulda ist schiffbar.

(Heiterkeit) Ich komme aus Kassel.

Herr Kollege Stutzer, ich glaube, bei der Beratung dieses Seemannsgesetzes ist es unerläßlich, seine Ausgangslage und seine Entstehungsgeschichte einzubeziehen.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Einmal ist die Situation der deutschen Seeschiffahrt wirtschaftlich bedrängt. Darin sind wir uns einig. Es gibt Meinungen, die sogar die Existenz der deutschen Seeschiffahrt als einer Handelsflotte unter deutscher Flagge in höchstem Maße als gefährdet ansehen. Die deutsche Handelsflotte ist dem wachsenden Konkurrenzdruck, der auf international verzerrte Wettbewerbsbedingungen zurückzuführen ist, auf Dauer nicht gewachsen. Durch das Ausflaggen von Schiffen, durch Strukturwandel, aber auch Rationalisierungsmaßnahmen sind bereits über 25 000 Beschäftigte in den letzten zehn Jahren ausgeschieden.
Der Versuch einiger Reeder, über Ausflaggen die Wettbewerbssituation der Seeschiffahrt zu verbessern, ist sozial unverantwortlich und schiffahrtspolitisch nicht zu rechtfertigen. Deshalb ist es rückhaltlos zu begrüßen, daß der Seeverkehrsbeirat am 5. Februar 1981 Vorschläge vorstellte, das zunehmende Ausflaggen deutscher Schiffe in Billigflaggenländer einzudämmen. Den Kern der Vorschläge bildeten dabei Überlegungen zur Neufassung der Schiffsbesatzungs- und -bemannungsvorschriften. Alle Vorschläge, durch Reduzierung der Personalkosten die Wettbewerbssituation zu verbessern, führen zwangsläufig zu dem Spannungsverhältnis
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8483
Peter (Kassel)

zwischen Wirtschaftlichkeit einerseits und Schiffssicherheit, Arbeitsschutz und Arbeitsbelastung andererseits. Was liegt da näher, als die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichgewichtig an den die Besatzung reduzierenden Bestimmungen zu beteiligen?
Hervorzuheben ist dabei die Bereitschaft der Gewerkschaften, unter dem Gesichtspunkt der verbesserten Ausbildung der Seeleute und der weiterentwickelten Schiffstechnologie die bestehenden Besetzungsvorschriften zu überprüfen und erhebliche Besatzungsreduzierungen nach dem Grundsatz mitzutragen, daß in bestimmtem Maße Qualität Quantität bei den Besatzungen ersetzen kann.
Vor diesem Hintergrund ist es einsichtig, daß der noch von der alten Regierung vorgelegte Gesetzentwurf ein unter Beteiligung aller Betroffenen sorgfältig ausgehandelter Kompromiß war.

(Zustimmung bei der SPD — Lutz [SPD]: Die Betonung liegt auf „war"!)

Kernpunkte dieses Entwurfs waren — Sie haben sie genannt —: die Verbesserung des Kündigungsschutzes für Seeleute — hier besteht Übereinstimmung —; Regelbesatzungen für Schiffe bestimmter Größe in bestimmten Fahrtgebieten — hier besteht Übereinstimmung —; die Möglichkeit, von der Regelbesatzung durch ein besonderes Verfahren abzuweichen, das gemeinsam vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und vom Bundesministerium für Verkehr durch Verordnung festzulegen ist. Der Streitpunkt, wie die Tarifparteien an dem Verfahren zu beteiligen seien, durch einen beschließenden Ausschuß — das ist die Position der Gewerkschaften — oder durch einen beratenden Ausschuß — das ist die Position des Reederverbandes —, sollte dem Verordnungsgeber zugewiesen werden. Diesem Kompromiß — das rufe ich in Erinnerung — haben sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer zugestimmt. Einer einstimmigen Verabschiedung des Entwurfs schien nichts im Wege zu stehen.
Doch dann kam die Wende,

(Hört! Hört! bei der SPD)

und das Seemannsgesetz wird zu einem Musterbeispiel dafür, was die neue Rechtsregierung unter ihrer Wende versteht: die einseitige Übernahme der Interessenposition der Unternehmer.

(Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Dr. George [CDU/CSU])

— Herr George, statt Rechtsregierung kann ich auch Mieterhöhungsregierung oder auch Arbeitsplatzvernichtungsregierung sagen. —

(Zustimmung bei der SPD — Lutz [SPD]: Sehr wahr! Die Bezeichnung stimmt!)

Einige Reeder haben das offensichtlich sehr schnell begriffen und Wege gesucht und — das ist das Erschreckende — auch gefunden, um den eigenen Interessenstandpunkt in das Gesetz hineinzuschreiben: statt beschließende nur eine beratende Kompetenz des paritätisch besetzten Schiffsbesetzungsausschusses.
Der Ablauf der Ausschußberatungen ist Spiegelbild des Vorgangs, wie die Rechtsregierung aus vordergründigen Interessenüberlegungen bereit ist, einen mühsamen Interessenkompromiß aufzukündigen.
Die Stationen der Wende: Am 27. Oktober bestand noch Übereinstimmung aller Parteien; das hat der Kollege Stutzer gesagt. Am 25. November wurde ein Änderungsantrag herbeigezaubert, der aus der Feder der Reeder direkt stammen könnte.

(Lutz [SPD]: So ist es!)

Der Bundesminister für Verkehr, die Behörden der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung oder die See-Berufsgenossenschaft sollten nach Anhörung des paritätischen Ausschusses entscheiden. Ich begrüße dabei, daß Sie sich dann wenigstens aus Zweckmäßigkeitsgründen für die See-Berufsgenossenschaft als Entscheidungsträger entscheiden, wo j a bereits Erfahrungen nach der bisherigen Rechtslage über Verminderungen und Ausnahmen von Schiffsbesatzungen vorliegen.
Am 2. Dezember und heute in der Fortsetzung haben Sie sogar eine Begründung nachgeschoben: das interessante und vor allem völlig neue Argument, daß die Schiffssicherheit eine öffentliche Aufgabe sei und deshalb dem paritätischen Ausschuß nicht zur Entscheidung überlassen werden könne. Das müssen Sie daran messen lassen, daß Sie diese Begründung vorher eben nicht gegeben hatten und daß über diesen Ausschuß „erst" seit zwei Jahren beraten wird. Es ist interessant, wann Ihnen das eingefallen ist.
Auch die schnellere Entscheidung — ich weiß nicht, was schneller ist: wenn man einen Ausschuß entscheiden läßt oder einen Ausschuß anhört und eine andere Organisation, die auch paritätisch besetzt ist, entscheiden läßt.
Ihr Problem ist, daß jedes Ihrer Argumente ausschließlich rechtfertigenden Charakter für die Wende haben wird. Ich bin besonders auf die Argumente der Garanten der Wende von der FDP neugierig.
Wir dagegen vertreten mit unserem Alternativantrag die Auffassung, daß bei Fragen der Schiffssicherheit und des Arbeitsschutzes nicht gegen die Arbeitnehmer entschieden werden kann, da sie immer die Hauptbetroffenen sein werden, wenn es zu Einschränkungen von Arbeitsschutz und Schiffssicherheit kommen wird.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Wir hoffen immer noch, daß Sie von Ihrer jetzt eingenommenen einseitigen Interessenposition zurückkehren zu einer Position der Vernunft. Es ist j a nicht verboten, klüger zu werden.

(Zuruf von der SPD: Aber es ist schwierig!)

Sollten Sie dazu nicht bereit sein, wird sich die SPD bei der Schlußabstimmung, weil ein entscheidender Punkt aus dem Kompromiß herausgebrochen ist, der Stimme enthalten. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)

8484 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913638800
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Zumpfort.

Dr. Wolf-Dieter Zumpfort (FDP):
Rede ID: ID0913638900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der zweiten und dritten Lesung dieses Seemannsgesetzes wird die Rechtsgrundlage für die Novellierung der SBVO gelegt, die nach Auffassung unabhängiger Fachleute — das sollte man auch einmal sagen — seit zwölf Jahren überfällig ist. Im Jahre 1970 nämlich wurde unter Druck des Streiks der Seefahrthochschulen die SBVO so verändert, daß sie nunmehr seit über einem Jahrzehnt die Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Seeschiffahrt durch Überbesetzungen katastrophal verschlechtert hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CDU)

Während die Konkurrenzländer in Europa und weltweit — und das ist j a das Problem der deutschen Seeschiffahrt — durch laufende Modernisierung ihrer Besetzungs- und Ausbildungsordnungen dem technischen Fortschritt Rechnung trugen, ging die Bundesrepublik Deutschland unter dem damaligen Verkehrsminister Leber den Weg in die andere Richtung.

(Lambinus [SPD]: Erblasser und Erbe zugleich!)

Lassen Sie es mich überspitzt formulieren — das ist eine Antwort auf meinen Vorredner Herrn Peter —: Wir dürfen uns nicht wundern — und das ist der Punkt —, daß deutsche Arbeitsplätze verlorengehen, wenn wir willens sind, die Wettbewerbsbedingungen unserer Wirtschaft künstlich zu verschlechtern, so daß wir nicht mehr in der Lage sind, international konkurrenzfähig zu sein. Das ist nämlich genau der Punkt, weswegen ausgeflaggt wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hier hilft auch kein noch so verstärkter Subventionswettlauf mit den anderen Ländern, wenn ich der Wirtschaft nicht selber die Gelegenheit gebe, aus eigener Kraft aus der Krise herauszukommen, und darum geht es auch hier.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lutz [SPD]: Auf Kosten der Sicherheit!)

— Nicht auf Kosten der Sicherheit.
Der ehemalige Staatssekretär im Verkehrsministerium und jetzige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Lufthansa hat selber gesagt, daß es bei diesem Gesetzentwurf — und daran ist nichts geändert worden — auf die Sicherheit und auf den technischen Fortschritt ankommt. Darauf gehe ich gleich noch ein.

(Zuruf von der SPD: Und vielleicht auch auf Menschen!)

Das ist der Hauptgrund gewesen, daß sich die deutsche Seeschiffahrt nicht an die internationalen Wettbewerbsbedingungen anpassen konnte, weshalb seit den 70er Jahren in der deutschen Seeschiffahrt die Ausflaggung zunehmend ein Problem wurde. Im Klartext heißt das im Gutachten des Seeverkehrsbeirates: Ein Schiff unter deutscher Flagge mit einer bestimmten Größenordnung fährt im Jahr rund 700000 bis 1 Million DM mehr Kosten ein als
ein Schiff unter fremder Flagge. Dies wohlgemerkt unter gleichen Sicherheitsbedingungen. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Mit der Verabschiedung dieses Seemannsgesetzes schaffen wir heute endlich die Voraussetzungen dafür, daß sich eine Angleichung der deutschen Schiffsbesetzungs- und Bemannungsvorschriften an den Bedingungen orientieren kann, die unter Beachtung der Verhältnisse, die für die konkurrierenden Flotten vergleichbarer westlicher Industrieländer gelten und einen rationalisierten und modernen Schiffsbetrieb zulassen. In Zukunft werden sich die Vorschriften über die Besetzung und Bemannung vorrangig nur noch — das hatte ich eben schon angedeutet — an den Kriterien der Schiffssicherheit und des Arbeitsschutzes ausrichten

(Lutz [SPD]: Das muß er vom Blatt lesen, sonst glaubt er es nämlich nicht!)

und nicht mehr nur ausschließlich oder auch an ideologisch überkommenem Ballast.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch etwas zur allgemeinen Situation der Schiffahrt, nämlich zur Verbesserung der Rahmenbedingungen, etwas sagen. Ich finde, daß ein großer Teil der Schwierigkeiten, die in der deutschen Seeschiffahrt herrschen, hausgemacht ist, auch durch die deutsche Politik. Wir Freien Demokraten haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß es zunächst darauf ankommt, die Bedingungen, unter denen die deutsche Wirtschaft arbeitet, zu verbessern. Die überfällige Novellierung der Schiffsbesetzungsordnung ist aus unserer Sicht nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Weitere Schritte müssen folgen.

(Zuruf des Abg. Lambinus [SPD])

Hierzu gehört aus meiner Sicht die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für die Seeschiffahrt, insbesondere im Bereich der ertragsunabhängigen Steuern. Meine Fraktion hat sich in der dafür zuständigen Arbeitsgruppe bereits mit diesen steuerlichen Problemen befaßt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß eine vermögenssteuerliche Entlastung der Schiffahrt der notwendige und geeignete Ansatzpunkt sei. Wir haben dies jüngst in Hamburg deutlich gemacht.
Desweiteren ist es notwendig, daß die Schifffahrtsförderung in ihrer Konditionierung den gewandelten Notwendigkeiten auf den Märkten angepaßt wird. Darüber hinaus sollten wir geeignete Maßnahmen gegen das zunehmend agressive Vordringen der Ostblockflaggen durch Dumpingangebote unternehmen; da ist immer noch nicht genug getan.
Schließlich sollte man nicht vergessen, daß man gegen die einseitige Beschränkung der Seeverkehrsmärkte zu Lasten der deutschen Flotte stärker als bisher durch bilaterale Vereinbarungen vorgehen muß. Wir erwarten von der neuen Bundesregierung, daß sie diesen Forderungen stärkeres Gewicht, als es in der Vergangenheit getan wurde, zumißt.

Dr. Zumpfort
Andere Rezepte — das sage ich ganz deutlich — wie z. B. das Rezept der ÖTV nach Verstaatlichung der deutschen Schiffahrt, was ja auch in Ihrer Fraktion, meine Damen und Herren in der Opposition, auf Gegenliebe getroffen ist, sind nach unserer Meinung nicht geeignet, das Vertrauen der Schiffahrt und der deutschen Wirtschaft zu stärken. Wir lehnen solche Rezepte ab.
Noch eine letzte Bemerkung — darauf ist ja auch eben von meinem Vorredner eingegangen worden — zum paritätisch besetzten Schiffsbesetzungsausschuß. Die nach dem SBVO-Entwurf vorgesehene Neuregelung des Schiffsbesetzungsrechtes sieht j a Besatzungstabellen für sogenannte Regelbesatzungen vor, von denen auf Antrag im Einzelfall Abweichungen zugelassen werden sollten. Eine solche Regelung setzt eine entsprechende Ermächtigung im Seemannsgesetz voraus, die wir j a mit diesem Gesetz in dritter Lesung verabschieden wollen. Wir Freien Demokraten haben bei der Beratung dabei darauf geachtet, daß dieser paritätisch besetzte Schiffsbesetzungsausschuß, der bei Abweichungen von der Regelbesatzung tätig werden soll, nur beratende Funktion haben wird und daß die Entscheidung unmittelbar vom Bundesverkehrsministerium oder einer nachgeordneten Behörde der Schifffahrtsverwaltung gefällt wird. Der ursprüngliche Entwurf — das haben Sie ja eben gesagt — sah vor, daß der Schiffsbesetzungsausschuß über die beratende Funktion hinaus auch beschlußfassende Voten hätte tätigen können. Was heißt das? Ein beschlußfassender Ausschuß hätte — das ist der Punkt; da waren wir uns immer schon streitig — eine Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung durch Verordnung bedeutet.

(Lambinus [SPD]: Bis zum 1.Oktober haben Sie das für gut gehalten!)

Dem wollten wir und können wir nicht zustimmen.

(Lambinus [SPD]: Bis zum 1. Oktober haben Sie das für gut gehalten! — Weiterer Zuruf von der SPD: Wie ist denn das bei Unfallberufsgenossenschaften?)

— Sie wissen genau, wie das entstanden ist, daß es nämlich ein zweijähriges Hickhack zwischen der DAG, der ÖTV, dem VDR und dem VDK gegeben hat,

(Zuruf von der SPD: Ein Kompromißfindungsprozeß!)

daß dann das Ministerium die Vorlage gemacht hat und daß wir erst seit einem viertel Jahr im Bundestag überhaupt einen Zugriff zu diesem Gesetz hatten. Dieser Zugriff beginnt eben jetzt auch mit dieser Mehrheit. Dies muß man deutlich sagen.

(Heyenn [SPD]: Das ist eine richtige Umfallgenossenschaft, die Sie da schildern! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Ich finde das Wort ja sehr schön, das Sie gerade benutzt haben, Herr Heyenn. Wenn sich eine große Fraktion oder Sie sich etwas Neues überlegen, dann heißt es, Sie hätten einmal nachgedacht. Bei einer kleinen Fraktion heißt es dagegen immer, sie falle um. Qualitativ aber, meine Damen und Herren, ist
das nichts anderes. Sie sollten das einmal auf sich selbst beziehen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Wir Freien Demokraten — das ist ja nicht erst seit heute ein Streitpunkt, sondern ich denke dabei auch an die Zeit vor der Bundestagswahl 1980 — haben uns hier gegen eine Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung qua Verordnung gewandt und deswegen dafür gesorgt, daß dieser Passus aus dem Gesetzentwurf entfernt wurde.

(Waltemathe [SPD]: Das sind Redereien für die Reedereien!)

Hier geht es nicht um Ideologie, Herr Peters. Das Problem ist ja gerade, daß sich die Gewerkschaft in den letzten zehn Jahren gegen Lösungen gewandt hat, die verhindern, daß noch mehr deutsche Seeleute entlassen werden, weil deutsche Reeder ausflaggen. Es muß doch gerade im Interesse der Reeder liegen, daß nicht ausgeflaggt wird, damit auch die Gewerkschaft Mitglieder behält. Dazu braucht man diese neue SBVO.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich darf abschließen. Meine Fraktion hofft, daß man nach Verabschiedung dieses Seemannsgesetzes nun unverzüglich darangeht, eine der modernen Technologie angepaßte Schiffsbesetzungsverordnung zu erlassen. Aus diesem Grunde haben wir bereits im vorigen Monat in einem Schreiben an den Verkehrsminister appelliert, daß im Interesse der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Schiffahrt unverzüglich nach Veröffentlichung des Seemannsgesetzes im Bundesgesetzblatt die neue Schiffsbesetzungsverordnung erlassen werden sollte. Wir wären dem Verkehrsminister dankbar, wenn er dafür Sorge tragen könnte, daß mit der Novellierung der Schiffsbesetzungsverordnung nicht mehr allzulange gewartet wird. Ich bin sicher, meine Damen und Herren von der Opposition, daß, nachdem diese erlassen worden ist, der Effekt eintreten wird, den ich soeben beschrieben habe. Ich setze darauf, daß dann weniger deutsche Seeleute ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Deswegen bin ich dafür, daß die neue SBVO so schnell wie möglich erlassen wird. Vielen Dank!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913639000
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Vogt.

Wolfgang Vogt (CDU):
Rede ID: ID0913639100
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Entgegen den Behauptungen des Sprechers der SPD beachtet der vorliegende Gesetzentwurf die legitimen Interessen der Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber. Die deutsche Handelsflotte steht unter dem Druck der Ausflaggung. Eine der Gründe hierfür sind die hohen deutschen Personalkosten im Verhältnis zu denen anderer Schiffahrt betreibenden Nationen. Die neue Besatzungsstruktur muß — darin sind wir uns, glaube ich, alle einig — weiterhin Sicherheit und Schutz des Schiffes und seiner Besatzungs-
8486 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Parl. Staatssekretär Vogt
mitglieder gewährleisten. Andererseits wird sie mit der Festlegung von Regelbesatzungen zu einem Höchstmaß an Flexibilität führen, den verbesserten Ausbildungsstand der Seeleute berücksichtigen und damit die Anzahl der Besatzungsmitglieder auf den einzelnen Schiffen verringern.
Von den Regelbesatzungen muß es Ausnahmen geben; bis dahin waren wir uns einig. Umstritten war lediglich, welche Stelle über diese Ausnahmen befinden soll. Ich will hier noch einmal die drei Gründe verdeutlichen, die die Regierungsfraktion zu ihrer Entscheidung, Herr Kollege Peter, veranlaßt haben.
Erstens. Bei der Besatzung von Seeschiffen geht es vor allem um Fragen der Schiffssicherheit. Dies sind öffentliche Aufgaben, die die Entscheidung durch eine Behörde erfordern.
Zweitens. In Fragen der Schiffsbesetzung muß zügig gehandelt werden. Würde die Entscheidung über Abweichungen von der Regelbesatzung einem von Gewerkschaften und Reederverbänden paritätisch besetzten Ausschuß übertragen, ergäbe sich notwendigerweise wegen des bestehenden legitimen Interessengegensatzes ein langwieriges und schwerfälliges Verfahren, das wir uns nicht leisten können.

(Peter [Kassel] [SPD]: Zwei Gremien statt einem!)

Drittens. Auf den genannten paritätisch besetzten Ausschuß soll nicht verzichtet werden. Vielmehr ist vorgesehen, daß er vor jeder Entscheidung durch die Behörde zu hören ist.
Darüber hinaus soll nach unseren Vorstellungen die Seeberufsgenossenschaft über die künftigen Ausnahmen entscheiden. Deren Aufsichtsgremien aber sind, wie der Kollege Stutzer ja schon hervorgehoben hat, paritätisch besetzt, und deshalb wiederhole ich — nur deswegen habe ich mich hier zu Wort gemeldet —: Es erscheinen die Interessen der Gewerkschaften und der Reederverbände, die der Arbeitnehmer wie auch die der Arbeitgeber, durch den Regierungsentwurf, durch den Vorschlag der Koalitionsfraktionen, durch den Vorschlag der Koalition der Mitte ausreichend berücksichtigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913639200
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Abstimmung. Ich rufe Art. 1 Nrn. 1 bis 15 in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen'? — Angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 16 auf. Dazu liegt auf Drucksache 9/2242 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer ihm zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wer Art. 1 Nr. 16 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist angenommen.
Ich rufe Art. 2 und 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen (17. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Lorenz, Baron von Wrangel, Jäger (Wangen), Böhm (Melsungen), Graf Huyn, Werner, Schulze (Berlin), Lamers, Dr: Ing. Oldenstädt, Dallmeyer, Lowack, Frau Geier, Dr. Hennig, Berger (Lahnstein), Sauer (Salzgitter), Dr. Kunz (Weiden), Dr. Hüsch, Dr. Todenhöfer, Dr. Köhler (Wolfsburg), Dr. Marx, Dr. Hornhues, Dr. Hupka, Rühe, Repnik, Dr. Mertes (Gerolstein), Lintner, Gerster (Mainz), Dr. Abelein, Straßmeir, Clemens, Dr. Arnold, Würzbach und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU
Reiseverkehr aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 9/926, 9/1725 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Terborg Werner
Frau Fromm
Für die Diskussion werden zehn Minuten Redezeit je Fraktion vorgeschlagen. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Werner.

Herbert Werner (CDU):
Rede ID: ID0913639300
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich befleißigen, die zehn Minuten nicht in Anspruch zu nehmen, denn wir haben es hier mit einer Beschlußempfehlung des Ausschusses zu tun, der wir uns alle gemeinsam im Hinblick auf einen Änderungsantrag anschließen konnten.
Einigkeit besteht darin, daß es das gemeinsame Anliegen ist, die Möglichkeiten des Reiseverkehrs aus der DDR für die Bürger der DDR zu verbessern. Uneinigkeit bestand in den verschiedenen Ausschußberatungen zunächst darüber, welchen Weg, welches Verfahren wir wählen sollten.
Meine Damen und Herren, wir sind nunmehr einmütig zu der Auffassung gelangt, daß wir auch die neue Bundesregierung nachdrücklich auffordern und bitten, bei allen sich bietenden Gelegenheiten, auch bei jeder Gesprächsmöglichkeit und bei lau-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8487
Werner
fenden Verhandlungen, darauf hinzuwirken, Erleichterungen im Reiseverkehr aus der DDR zu erzielen.
Wir wissen — auch darüber sind wir uns wohl einig - um die Problematik, mit der wir es immer dann zu tun haben, wenn wir auf gezielte bilaterale Vereinbarungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland abzielen. Wir wissen aber auch — darüber besteht ebenfalls Einigkeit —, daß wir die DDR immer wieder daran erinnern müssen, daß sie selber in der KSZE-Schlußakte, aber auch im Grundlagenvertrag Zeichen im Hinblick auf wünschenswerte Erleichterungen gesetzt hat, und wir sollten die DDR auffordern, hier gemeinsame Wege zu finden, um Erleichterungen für unsere Landsleute in Mitteldeutschland zu erzielen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Gespräche des Altbundeskanzlers am Werbellinsee hatten ja ein Hoffnungszeichen erbracht. Im vergangenen Februar waren gewisse Erleichterungen, vor allen Dingen im Bereich der Rentnerreisen, aber auch der dringlichen Familienangelegenheiten, seitens der DDR eingeräumt worden. Wir möchten die Bundesregierung nachdrücklich darum bitten, der DDR deutlich zu machen, daß dieser im Februar eingeschlagene Weg fortgesetzt werden muß. Wir sehen natürlich auch, daß die nachgeordneten Behörden und Organe in der DDR durch eine Vielzahl von willkürlichen Handhabungen die getroffenen Zusagen und Erleichterungen teilweise erschweren und daß es auch immer noch Probleme mit dem großen Kreis der sogenannten Geheimnisträger gibt, von dem wir nicht hoffen, daß er durch das jüngste Grenzgesetz der DDR im Hinblick auf die Grenzhelfer womöglich gar noch erweitert statt reduziert wurde.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Insgesamt möchte ich aber auch anerkennend darauf hinweisen, daß wir gerade im Bereich der dringlichen Familienangelegenheiten und der Besuchsreisen aus der DDR beachtliche Steigerungen, etwa im Vergleich zum Vorjahr haben erzielen können. Ich möchte dies auch namens der Fraktion der CDU/CSU hier ausdrücklich anerkennen und gleichfalls die Ermunterung aussprechen, in dieser Richtung fortzufahren.
Ein weiteres positives Zeichen, über das wir sicherlich alle froh sind, war und ist die Vereinbarung des Bundesjugendrings mit der Freien Deutschen Jugend der DDR. Auch dies ist, so meinen wir, insofern ein Lichtblick, als hier unterhalb der staatlichen Verabredungsebene ein konkreter Anfang gemacht wurde, zu mehr Austausch im Bereich des Jugendtourismus, im Bereich der Jugendlichen zu gelangen. Als CDU/CSU müssen wir allerdings nachdrücklich darauf verweisen, daß wir die Einhaltung und die Ausführung dieser Verabredung auch durch die Organe der DDR sehr sorgfältig beobachten werden; denn es liegt uns gerade am Herzen, daß die Pluralität in diesem Bereich in besonderem Maße eingehalten werden kann.
Meine Damen und Herren, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich möchte nur noch einige Anregungen geben und die Bundesregierung ermuntern, weiter in die Richtung zu gehen, die schon eingeschlagen wurde. Ich möchte die Frage der Erleichterungen im Sportverkehr, vor allen Dingen auf lokaler Ebene, ansprechen. Ich möchte den Bereich des sogenannten kulturellen Austausches im Bereich unserer Universitäten und Hochschulen ansprechen. Auch hier gibt es noch eine Menge zu tun. Ich möchte vor allen Dingen aber auch den Bereich des sogenannten kleinen Grenzverkehrs mit der Möglichkeit der Öffnung zusätzlicher Grenzübergänge für jene Mitbürgerinnen und Mitbürger ansprechen, die im grenznahen Bereich wohnen. Ich möchte die Bundesregierung aber auch nachdrücklich darum bitten, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß eine echte Normalisierung zwischen den beiden Staaten in Deutschland erst dann herbeigeführt werden kann, wenn der Schießbefehl abgebaut und beseitigt werden wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte zum Abschluß Sie alle, meine Damen und Herren, und auch die Bundesregierung darum bitten, daß wir alle gemeinsam unsere Anstrengungen darauf ausrichten und uns ungeachtet der jeweiligen weltpolitischen Klimaverschlechterungen darum bemühen, im Hinblick auf die zwischenmenschlichen Kontakte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR alles daran zu setzen und im Interesse der Menschen zu tun, daß diese Kontakte zum Segen des einzelnen Menschen, aber auch im Hinblick auf unsere gemeinsame Zukunft intensiviert werden, die wir hier in diesem Hause immer wieder bestätigt und beschworen haben. In diesem Sinne bitte ich die Bundesregierung, auf dem begonnenen Weg, so wie vereinbart, weiterzufahren. — Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913639400
Das Wort hat Frau Abgeordnete Terborg.

Margitta Terborg (SPD):
Rede ID: ID0913639500
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Beschlußempfehlung 9/1725 zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 22. Oktober 1981 wurde gegen die Stimmen der damaligen Opposition mit Mehrheit angenommen. Die CDU/CSU wollte mit dem Antrag vom 22. Oktober 1981 die damalige Bundesregierung anhalten, Verhandlungen mit der DDR mit dem Ziel zu führen, eine Vereinbarung abzuschließen, die es den Bürgern der DDR, die noch nicht im Rentenalter sind, gestattet, Besuchsreisen in die Bundesrepublik zu beantragen.

(Lambinus [SPD]: Das muß man immer wieder feststellen!)

Die damalige Regierungskoalition von SPD und FDP hielt dem entgegen, daß die DDR-Regierung zwar immer im Zusammenhang mit dem Abschluß anderer Vereinbarungen entsprechende Anordnungen zur Erleichterung des Reiseverkehrs erlassen hat, diese Frage jedoch nie zum Verhandlungsge-
8488 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Frau Terborg
genstand machen ließ. In Erinnerung bringen möchte ich den Verkehrsvertrag vom 26. Mai 1972, dazu die 1. Anordnung über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR, das Inkrafttreten des Grundlagenvertrages, die 2. Anordnung für Reisen in dringenden Familienangelegenheiten und die Gespräche am Werbellinsee zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vom 11. bis zum 13. Dezember 1981. Erste Ergebnisse waren zum einen die zahlenmäßige Erweiterung der Anlässe bei Besuchen in dringenden Familienangelegenheiten und zum anderen die Vereinbarung vom 20. September 1982 der beiden deutschen Jugendverbände, des Bundesjugendrings und der FDJ, über die Entwicklung des Jugendtourismus.
An dieser Stelle möchte ich an die Rede von Marie Schlei erinnern, die am 16. November 1978 hier vor diesem Hohen Hause u. a. folgendes gesagt hat — ich zitiere —:
Wir sollten von uns aus nichts tun, was den dazu notwendigen zähen, geduldigen und an der Sache orientierten Verhandlungen im Wege stehen könnte.

(Beifall bei der SPD)

Sie können unsere Politik an den Aussagen der
letzten 20 Jahre messen. Wir haben Linie gehalten.
Ich darf in diesem Zusammenhang an die Rede von Herbert Wehner erinnern, der am 30. Juni 1960 zur innerdeutschen Frage u. a. folgendes sagte:
... sollten wir unter dem Eindruck der Ereignisse den Vorsatz zu fassen imstande sein, unser innenpolitisches Verhältnis zueinander in die Ordnung zu bringen, die uns befähigen könnte, der gesamtdeutschen Verpflichtung ... gerecht zu werden.

(Beifall bei der SPD)

Sie sehen, diese beiden Zitate aus unserer Oppositions- und unserer Regierungszeit belegen eindeutig, was Sozialdemokraten meinen, wenn sie den Begriff „Kontinuität" im Zusammenhang mit der gesamtdeutschen Frage nennen.

(Beifall bei der SPD)

Heute muß ich hier jedoch die Frage an die Bundesregierung richten: Was versteht sie unter dem Begriff „Kontinuität"? Versteht sie darunter das, was Herr Minister Barzel vor kurzem zur Deutschlandpolitik ausführte und was Herr Staatsminister Jenninger über seine Gespräche in Ost-Berlin hier in Bonn berichtete, oder ist das die Kontinuität der Union, was man am 8. Dezember in der „Welt" lesen mußte? Dort hat der deutschlandpolitische Sprecher der Unionsfraktion, der Kollege Lintner, u. a. folgendes ausgeführt: Die neue Bundesregierung solle keine falsche Optik entstehen lassen. Was Bonn auf diesem Felde unter Kontinuität verstehe — keinesfalls könne damit die Linie gemeint sein, die von den Regierungen Brandt und Schmidt verfolgt worden sei. — An einer anderen Stelle heißt es: Lintner bezeichnete es als gut, daß die neue Bundesregierung eine Fülle von Kontakten gesucht habe. Aber jetzt müsse Ruhe hineingebracht wer-
den. — Ich muß hier die Frage stellen: Was heißt hier „Ruhe"? Soll nicht mehr verhandelt werden? Soll Friedhofsruhe zwischen den beiden deutschen Staaten herrschen?

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sie wissen doch, daß er das nicht gemeint hat!)

Dabei sei einmal von den Kompetenzstreitigkeiten ganz abgesehen, die Herr Lintner in diesem Artikel zwischen Herrn Barzel und Herrn Jenninger aufzeigt.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Die Friedhofsruhe gibt es nur an der Mauer!)

Darauf will ich jedoch nicht eingehen. Das müssen die beiden Herren selber klären.
Zum Abschluß möchte ich jedoch noch etwas aus dem angeführten Zeitungsartikel zitieren. Dort heißt es: Vor der CSU-Landesgruppe hatte es auch von seiten des Parteivorsitzenden Strauß kritische Anmerkungen gegeben.

(Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: Woher . wissen Sie denn das?)

— Ich zitiere aus der „Welt".

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913639600
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?

Margitta Terborg (SPD):
Rede ID: ID0913639700
Ich möchte dies eben zu Ende führen.
— Ich zitiere — um das noch mal zu sagen — aus dem Artikel der „Welt". Ich fange noch mal an:
Vor der CSU-Landesgruppe hatte es auch von seiten des Parteivorsitzenden Strauß kritische Anmerkungen gegeben.

(Lintner [CDU/CSU]: Das ist aber kein günstiges Zitat!)

Dabei hatte sich Strauß dafür ausgesprochen, nach dem 6. März die deutschlandpolitische Thematik auch in der Distanz zur FDP stärker herauszustellen.
Was sich in diesen Äußerungen andeutet, ruft äußerste Besorgnis bei uns Sozialdemokraten hervor.

(Beifall bei der SPD)

Wir hoffen, daß schnellstens eine eindeutige Klärung des Begriffs „Kontinuität" seitens der Bundesregierung erfolgt

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Zur Sache! Zu den Reisen aus der DDR!)

und daß noch vor dem 6. März gesagt wird, zu welchen Positionen in der Deutschlandpolitik „Distanz" erfolgen soll.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913639800
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?

Margitta Terborg (SPD):
Rede ID: ID0913639900
Bitte.
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8489

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0913640000
Frau Kollegin, da ich annehme, daß ich gestern richtig gesehen habe, als ich Sie in der Sitzung des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen erblickt habe, stelle ich an Sie die Frage, ob nicht all das, was Sie jetzt als besorgte Frage gestellt haben, gestern nachmittag im Ausschuß so geklärt wurde, daß Ihre Fraktion zum Schluß keine Fragen mehr hatte.

(Beifall bei der CDU/CSU Waltemathe [SPD]: Na und?)


Margitta Terborg (SPD):
Rede ID: ID0913640100
Wie Sie wissen, Herr Kollege, sind diese Ausschußberatungen geheim. Ich berichte also nicht über die Ausschußberatungen, sondern ich bringe hier die Besorgnis öffentlich vor, die wir haben müssen, weil wir Angst haben, daß Sie die Deutschlandpolitik, die wir in den 13 Jahren unserer Regierung aufgebaut haben, zerstören könnten.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU — Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Das sind j a Schauergemälde!)

Es kann dem Hohen Hause nicht vorenthalten werden — —

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Ich glaube, Sie haben nicht mehr das Wort!

(Zuruf von der CDU/CSU: Ach was!) — Soviel ich weiß: nicht.

Es kann dem Hohen Haus nicht vorenthalten werden, daß Sie, die damalige Opposition, aus für uns unerfindlichen Gründen gegen den Text der Beschlußempfehlung des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen vom B. Juni 1982 stimmten und heute eine Beschlußempfehlung — die etwas verändert ist — mittragen, die — auch das will ich gleich sagen — in unserem Sinn ist und selbstverständlich von uns mitgetragen wird.
Ich hoffe, daß die Kollegen im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen die Chance ergreifen, ihre widersprüchlichen Aussagen zu revidieren.

(Böhm [Melsungen] [CDU/CSU]: Immer dieses Schattenboxen!)

Die Rede, die Bundesminister Barzel kürzlich vor dem Ausschuß hielt, entspricht in diesem Punkt unserer Linie,

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Wann kommen Sie endlich zur Sache?)

die Inhalt und Gegenstand unserer Beschlußempfehlung ist.
Die Bundesregierung hat in den letzten Tagen die bestehenden Kontakte auf Regierungsebene zur DDR wieder aufgenommen. Wir begrüßen dies ausdrücklich.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Wir haben noch gar nichts über die Reisen aus der DDR von Ihnen gehört!)

Daß sie dabei, wie Staatsminister Jenninger anläßlich seines Besuchs in Ost-Berlin erklärte, ohne Vorbedingungen verhandeln will, entspricht eben-
falls den Grundsätzen der von Willy Brandt und Helmut Schmidt getragenen Deutschlandpolitik.
Wer wirklich so verfahren will: nach dem Prinzip des politisch und humanitär Nützlichen, wird immer unsere volle Unterstützung finden.

(Dr. Probst [CDU/CSU]: Hoffentlich!)

Wir haben aber Zweifel, ob Sie diese Linie der Vernunft in Ihrer eigenen Fraktion durchhalten werden.

(Böhm [Melsungen] [CDU/CSU]: Das werden wir immer!)

Erste Indizien dafür sehen wir in der eben erwähnten Presseerklärung. Es ist das Recht der Opposition, dies hier auch öffentlich anzusprechen.

(Böhm [Melsungen] [CDU/CSU]: Na gut, dann kritisiert mal schön! — Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Wie die es schaffen, solche Reden zu halten!)

Die innerdeutschen Verhandlungen bringen Mühsale, die erkannt und angenommen werden müssen ... Die mit der DDR getroffenen Vereinbarungen sind eine Zukunftsinvestition für das Zusammenleben der Deutschen.
Diese Worte, die ich soeben zitiert habe, stammen ebenfalls von Marie Schlei aus der von mir vorhin erwähnten Rede, die sie hier gehalten hat. Die kann man nur noch mal dick unterstreichen.
Abgesehen von der Tatsache, daß die DDR-Regierung ihre innere staatliche Kompetenz nicht zum Gegenstand eines zwischenstaatlichen Vertrags machen wird, wissen wir Sozialdemokraten anhand des Beispiels für die Aufnahme des Jugendtourismus, von dem auch der Kollege Werner schon berichtete, daß es ratsam ist,

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Das hat doch die DDR gemacht!)

keine Regierungsabkommen zu schließen.

(Zuruf des Abg. Jäger [Wangen] [CDU/ CSU])

Die DDR hat sich dem Thema nie verschlossen. Ich erinnere hier an das gemeinsame Kommuniqué vom Werbellinsee, in dem beide Staaten darin übereinstimmten, „daß die Bemühungen auf diesem Gebiet in konstruktivem Geist fortgesetzt werden". Entsprechend ist auch die Mehrheit des innerdeutschen Ausschusses am 8. Juni 1982 zu der Beschlußempfehlung gekommen — ich zitiere —:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, mit der DDR über weitere humanitäre Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland zu verhandeln. Das Ergebnis dieser Verhandlungen soll alle Möglichkeiten der KSZE-Schlußakte von Helsinki (Korb III, Nr. 1) voll ausschöpfen.

(Unruhe)

Ich komme zum Schluß. Mit diesem Antrag erhält die Bundesregierung den Handlungsspielraum, außerhalb direkter Vertragsverhandlungen die humanitären Fragen in den politisch-psychologischen
8490 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Frau Terborg
Gesamtzusammenhang zu stellen und in den Verhandlungen über andere Sachfragen die Bemühungen um humanitäre Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland fortzusetzen.
Die SPD-Fraktion empfiehlt dem Plenum die Annahme des vorliegenden Textes — Drucksache 9/1725 — mit der Änderung — Drucksache 9/2271 —. — Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913640200
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Fromm.

Rita Fromm (FDP):
Rede ID: ID0913640300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz mehrfach ausgetauschter Textentwürfe und Berichterstattergespräche konnte vor der Sommerpause keine von allen Fraktionen des Hauses getragene Entschließung formuliert werden. Die heute zur Abstimmung stehende Beschlußempfehlung des innerdeutschen Ausschusses wurde von der FDP-Fraktion erarbeitet und vorgelegt, fand die inhaltliche Unterstützung der SPD-Fraktion und wurde mit der Mehrheit des Ausschusses beschlossen.

(Büchler [Hof] [SPD]: Ein bißchen hoch gegriffen, aber das sind wir von Ihnen gewohnt!)

Wir wissen, daß die bestehenden Reisemöglichkeiten in dringenden Familienangelegenheiten, gemessen an den berechtigten Wünschen der Bevölkerung, noch nicht ausreichend sind.

(Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU)

Deshalb begrüße ich es, daß wir heute zu dieser Beschlußempfehlung unsere Zustimmung geben werden, z. B. auch der Formulierung: Die Begegnungen
sollten im Reiseverkehr von Ost nach West nicht nur an besondere Familienangelegenheiten gebunden sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Neben den Verträgen, Vereinbarungen und Absichtserklärungen bietet nach meiner Überzeugung die Schlußakte von Helsinki, Korb III, eine wichtige Grundlage der Gespräche mit der DDR.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!)

Die Beharrlichkeit und Ausdauer der damaligen, von FDP und SPD getragenen Regierung hat Verbesserungen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten gebracht. Dies ist besonders auch in den Gesprächen am Werbellinsee vor einem Jahr deutlich geworden. Ein positives Ergebnis dieser Gespräche ergibt sich z. B. auch aus der Anordnung über die Regelungen zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR vom 15. Februar 1982, weiter aus den Möglichkeiten der Vereinbarungen zum innerdeutschen Jugendaustausch zwischen dem Bundesjugendring und der FDJ und den verabredeten Kalendergesprächen über die deutsch-deutschen Sportbegegnungen, organisiert vom DSB und vom DTSB.
Die neuesten Zahlen über Besuche in Familienangelegenheiten belegen den Erfolg der Neuregelung. Im Zeitraum Januar bis Oktober 1982 ist eine Zunahme der Zahl der Besuche um 21 % im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und wie viele waren es vor Erhöhung des Zwangsumtausches? — Gegenruf Waltemathe [SPD]: Sie sind nicht mehr in der Opposition!)

Die Freien Demokraten sehen es auch künftig, wie in der Vergangenheit, als ihre Aufgabe an, die Deutschlandpolitik auszugestalten und weiterzuentwickeln. Hier zitiere ich meinen Kollegen Wolfgang Mischnick:
Keine Nation ist so sehr auf vernunftorientierte Politik angewiesen wie die deutsche.
Daher kann Deutschlandpolitik für die FDP immer nur heißen:
— unbedingter Einsatz für die politische Regelung von Konflikten,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

— Wahrnehmung jeder Chance zum Abbau von Mißtrauen,
— Aufgeschlossenheit für jede ernsthafte Gesprächsmöglichkeit.

(Dr. Kunz [Weiden] [CDU/CSU]: „ernsthafte"!)

So begrüße ich gerade deshalb die Äußerungen von Bundeskanzler Kohl vom 25. November in der Debatte zur künftigen Außenpolitik, in der er die Fortsetzung der bisherigen Deutschlandpolitik bekräftigte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Büchler [Hof] [SPD]: Frau Fromm, das darf doch nicht wahr sein, was Sie hier erzählen!)

— Auch Bundesminister Barzel erklärte dies. Kollege Büchler, erinnern Sie sich an die Sitzung des innerdeutschen Ausschusses vom 11. 11. 1982!

(Zuruf von der SPD)

Ich werte dies als ein Zeichen für die Kooperationsbereitschaft des Koalitionspartners. Ich bin zuversichtlich, daß es nach einem Klärungsprozeß auch unter geänderten Bedingungen zu keinem Stillstand in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR kommen wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir werden uns in dieser Koalition von CDU/CSU und FDP bemühen, eine Deutschlandpolitik zu betreiben, die nicht polemisiert, die sachorientiert ist, die nicht trennt, sondern verbindet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — • Zurufe von der SPD)

So gesehen, ist der interfraktionelle Antrag ein
hoffnungsvolles Zeichen und soll deshalb in die Beschlußempfehlung. zweiter Absatz. einfließen. Da-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8491
Frau Fromm
für und für die Beschlußempfehlung erbitte ich Ihre Zustimmung. Danke.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913640400
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hennig.

Dr. Ottfried Hennig (CDU):
Rede ID: ID0913640500
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

(Wehner [SPD]: Nachtgespräch, was? — Heiterkeit bei der SPD)

Die Bundesregierung bedauert es, Herr Kollege Wehner, daß in einem der vorangegangen Debattenbeiträge das wichtige Thema der Freizügigkeit in Deutschland zum Anlaß für Polemisierereien genommen worden ist, die mit der Thematik, die wir heute abend behandeln, nichts zu tun haben.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

Ich möchte darauf im Interesse der Sache überhaupt nicht eingehen. Die Frau Kollegin Terborg kann in den programmatischen Ausführungen des Bundesministers Dr. Barzel im innerdeutschen Ausschuß, die sie ja selbst gehört hat, noch einmal nachlesen, was es dort mit der Kontinuität auf sich hat. Das ist dort alles erklärt und in einen größeren Zusammenhang gestellt worden. Dort ist auch sehr deutlich gesagt worden, wie das mit den Kompetenzen aussieht; sie sind nämlich im Haushaltsgesetz sehr befriedigend niedergelegt worden. Ich nehme an, daß Sie sich auch daran halten wollen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird aber gerne aufgreifen, was an Anregungen zu diesem Thema hier heute in den Beiträgen des Kollegen Werner und der Kollegin Fromm gesagt worden ist, und möchte auch gerne anschließen an die Tonlage, die in diesen Beiträgen zum Ausdruck gekommen ist.

(Waltemathe [SPD]: Da müssen Sie sich aber bemühen!)

— Ich hoffe, es wird mir gelingen, verehrter Kollege Waltemathe!
Der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der auch meine Unterschrift trägt, bringt ein Anliegen zum Ausdruck, das sich die neue Bundesregierung in vollem Umfange zu eigen macht, nämlich bessere Reisemöglichkeiten für die Menschen in der DDR als Schritt auf dem Wege zu mehr Freizügigkeit in Deutschland.
Die Regierungserklärung, die Bundeskanzler Helmut Kohl am 13. Oktober vor diesem Hause abgegeben hat, machte das bereits deutlich. In ihr sind unsere Wünsche auf Verbesserung des Reise-und Besucherverkehrs ausdrücklich hervorgehoben worden. Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen hat dies in seinen Ausführungen im Bundestagsausschuß für innerdeutsche Beziehungen angesprochen und hat in einem Interview mit dem „Deutschland-Archiv" für die Dezembernummer hinzugefügt: „Das Bemühen um mehr Freizügigkeit ist ein Ringen um die Erhaltung des Friedens. Unser Motto lautet: Frieden durch Freizügigkeit."

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Darin, meine Damen und Herren, kommt das große Gewicht zum Ausdruck, das die neue Bundesregierung den Bemühungen um mehr Freizügigkeit in Deutschland beimißt. Wir sind allerdings auch in dieser Hinsicht von einer Normalität im gegenseitigen Verhältnis der beiden Staaten in Deutschland leider noch weit entfernt.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Dabei wollen wir nicht übersehen, daß es in diesem Jahr einige Verbesserungen gegeben hat, die erkennen lassen, daß die DDR auch über für sie heikle Fragen durchaus mit sich reden lassen kann, wenn sie dies will. Ich denke dabei an die Reiseerleichterungen vom 15. Februar 1982, die zwar im Ergebnis nicht zufriedenstellen können, aber immerhin dazu geführt haben, daß diese Reisen von in der DDR lebenden Deutschen in diesem Jahr um etwa 21 % zugenommen haben. Ich denke auch daran, daß im Laufe dieses Jahres eine Vereinbarung mit der DDR getroffen werden konnte, die für Jugendliche aus der DDR die Möglichkeit zu Reisen im Austausch mit Jugendlichen aus der Bundesrepublik Deutschland eröffnet. Wir begrüßen dies natürlich sehr.
Dies alles — ich betone das — sind bisher nur einzelne, nur kleine Schritte in eine Richtung, die wir aber beharrlich und friedfertig weiterverfolgen wollen.

(Zuruf von der SPD: Ist das Ihr Verdienst? — Weitere Zurufe von der SPD)

Es wird deshalb darauf ankommen, im Rahmen künftiger Gespräche jede sich bietende Chance zu nutzen, um Fortschritte im Rahmen des Möglichen zu erzielen. Dafür ist Flexibilität im Vorgehen ebenso notwendig wie Bestimmtheit und Klarheit in der Zielsetzung.

(Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Nicht auf Formalien kann es dabei ankommen, sondern darauf, daß sich konkret und real für unsere Landsleute etwas zum Besseren wenden läßt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So wäre z. B. schon viel gewonnen, Herr Kollege Diederich, wenn sich die DDR zu einer weniger restriktiven Handhabung bei der Genehmigung von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten bewegen ließe.

(Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Immer noch werden allzuoft Reiseanträge von in der DDR lebenden Deutschen durch örtliche Stellen ohne Begründung abgelehnt, obwohl die gesetzlichen Reisevoraussetzungen vorliegen. Das trifft oft Menschen in schwerer persönlicher und familiärer Notlage, die danach an der Wirklichkeit innerdeutscher Beziehungen nicht nur zweifeln, sondern oft
8492 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Parl. Staatssekretär Dr. Hennig
geradezu verzweifeln. Eine solche Handhabung entspricht nicht der Zielsetzung der innerdeutschen Verträge und ist unvereinbar mit den Grundsätzen der Humanität, wie sie etwa in der Schlußakte von Helsinki und in den Menschenrechtspakten Ausdruck gefunden haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Bundesregierung wird sich hier mit Entschiedenheit um eine Verbesserung der gegenwärtigen Praxis bemühen.
Ich will gleich noch ein weiteres, ein letztes Problem aus diesem Bereich aufzeigen. Die von mir erwähnten Reiseerleichterungen vom Februar 1982 haben den Kreis der gesetzlich Reiseberechtigten leider nicht erweitert. Dieser ist vielmehr seit 1972 unverändert. Daraus ergeben sich viele menschliche und familiäre Härten, z. B. dann, wenn etwa Onkel und Tante nicht zur Geburt, zur Konfirmation oder zur Kommunion ihrer Neffen und Nichten in die Bundesrepublik Deutschland reisen dürfen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913640600
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Tietjen?

Dr. Ottfried Hennig (CDU):
Rede ID: ID0913640700
Gern, Frau Präsidentin.

Günther Tietjen (SPD):
Rede ID: ID0913640800
Stimmen Sie mir, nachdem Sie eben die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die damit zusammenhängende Schlußakte von Helsinki genannt haben, zu, daß es in der Bundesrepublik Deutschland und in Albanien eine Opposition gab, die gegen diese Schlußakte gestimmt hat, und verstehen Sie, daß ich es für politisch fast profan halte, daß Sie sich jetzt auf diese Schlußakte von Helsinki beziehen?

Dr. Ottfried Hennig (CDU):
Rede ID: ID0913640900
Herr Kollege, Sie haben wirklich eine ungewöhnlich intelligente Zwischenfrage gestellt, die ich Ihnen gern beantworten will, auch wenn wir sie an dieser Stelle schon etwa hundertmal abgehandelt haben. Ich könnte Ihnen natürlich genauso vorhalten, daß Sie seinerzeit die NATO abgelehnt, aber anschließend als Instrument Ihrer Politik wunderbar genutzt haben. Nur glaube ich, dies alles führt uns in dieser Debatte über ein wichtiges Thema überhaupt nicht weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen möchte ich mit einigen wenigen abschließenden Sätzen meine Gedanken zu Ende bringen, damit dieser parlamentarische Abend irgendwann zu Ende geht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Natürlich behält die Bundesregierung auch das Ziel einer generellen Erweiterung von Reisemöglichkeiten im Auge. Dabei läßt sich sowohl an eine lineare Herabsetzung des Reisealters wie an die Zubilligung von Reiseerleichterungen für bestimmte Gruppen der Bevölkerung denken. Bei al len Überlegungen und Teillösungen bleibt für uns dabei stets das große Ziel einer umfassenden Verbesserung der Situation maßgebend. Gerade deshalb wäre es aber nicht zweckmäßig, die Bundesregierung im voraus auf bestimmte Mittel und Wege für eine Realisierung dieser Vorhaben festzulegen.
Die Einengung auf bestimmte politische Handlungsmodelle läge auch weder in der Logik des KSZE-Prozesses noch im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen.

(Büchler [Hof] [SPD]: Jetzt gehen Sie von Ihrem früheren Standpunkt ab! Das ist eine Kehrtwendung!)

— Es ist unbestreitbar, Herr Kollege Büchler, daß der gegenwärtige Zustand nicht dem in der Schlußakte von Helsinki aufgezeigten humanitären Erfordernissen entspricht. Unser Ziel muß sein, diese Differenz schrittweise zu beseitigen. Wenn das in der Praxis möglich erscheint, sollte es nicht an den Problemen scheitern, die bestimmte Formalisierungen aufwerfen könnten. Deshalb muß es der Bundesregierung überlassen bleiben, sich aus der jeweils gegebenen Situation unter Ausschöpfung aller politischen Möglichkeiten, die sich z. B. aus dem KSZE-Prozeß ergeben, mit den jeweils zweckmäßig erscheinenden Mitteln um weitere Reisemöglichkeiten für unsere Landsleute in der DDR zu bemühen.
Die einvernehmlich gefundene Beschlußempfehlung — deswegen weiß ich gar nicht, worüber Sie sich aufregen, meine Damen und Herren von der Opposition — wird dem Antrag vom 22. Oktober 1981 in der Substanz gerecht und beläßt der Bundesregierung den politischen Spielraum, den sie benötigt, um auf diesem schwierigen Felde der innerdeutschen Beziehungen beharrlich voranzukommen. — Herzlichen Dank!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0913641000
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses. Auf Drucksache 9/2271 liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vor. Es wird eine Neufassung des zweiten Absatzes der Beschlußempfehlung beantragt. Wer diesem interfraktionellen Antrag zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist so angenommen.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Einstimmig!)

— Einstimmig.
Ich rufe die Punkte 12 und 13 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982 8493
Vizepräsident Frau Renger
dem Vertrag vom 27. November 1981 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Republik Somalia über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
— Drucksache 9/2192 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Zusatzprotokollen vom 1. April 1982 zum Kooperationsabkommen vom 2. April 1980 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien sowie zum Abkommen vom 2. April 1980 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl einerseits und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien andererseits im Anschluß an den Beitritt der Republik Griechenland zu den Europäischen Gemeinschaften
— Drucksache 9/2212 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft
Das Wort wird nicht erbeten? — Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 9/2192 und 9/2212 an die aus der Tagesordnung ersichtlichen Ausschüsse vor. Kein Widerspruch? — Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 49 des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 9/2136 —
Das Wort wird nicht erbeten? — Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, die in der Sammelübersicht 49 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das ist einstimmig so angenommen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (20. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Köhler (Wolfsburg), Pieroth, Frau Fischer, Herkenrath, Höffkes, Dr. Hornhues, Dr. Hüsch, Dr. Kunz (Weiden), Lamers, Dr. Pinger, Dr. Pohlmeier, Repnik, Schmöle, Schröder (Lüneburg) und der Fraktion der CDU/CSU
Verstärkung der personellen Hilfe im Konzept der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 9/423, 9/2220 — Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Osswald
Repnik
Das Wort wird nicht erbeten? — Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit empfiehlt auf Drucksache 9/2220 die Annahme einer Entschließung zu dieser Beschlußempfehlung. Auf Drucksache 9/2243 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Neufassung der Entschließung vor. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses ab. Wer ihr zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe die Punkte 16 bis 22 auf:
16. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3164/76 über das Gemeinschaftskontingent für den Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und der Verordnung (EWG) Nr. 2964/79
— Drucksachen 9/2009 Nr. 7, 9/2210 — Berichterstatter: Abgeordneter Feinendegen
17. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag einer Verordnung des Rates über die Preisbildung im Güterkraftverkehr zwischen den Mitgliedstaaten
— Drucksachen 9/2036 Nr. 16, 9/2211 — Berichterstatter: Abgeordneter Hinsken
18. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über ein begrenztes Vorgehen auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur
— Drucksachen 9/1950 Nr. 55, 9/2214 — Berichterstatter: Abgeordneter Ibrügger
19. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Erleichterung der Formalitäten und Kontrollen im Güterverkehr zwischen den Mitgliedstaaten
— Drucksachen 9/1686 Nr. 15, 9/2225 — Berichterstatter: Abgeordneter Bamberg
20. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Anwendung der Verordnung

(EWG, EURATOM, EGKS) Nr. 2891/77 des

8494 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 136. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. Dezember 1982
Vizepräsident Frau Renger
Rates vom 19. Dezember 1977 zur Durchführung des Beschlusses vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften
Vorschlag für eine Verordnung (EWG, EURATOM, EGKS) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG, EURATOM, EGKS) Nr. 2891/77 zur Durchführung des Beschlusses vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften
— Drucksachen 9/1964 Nr. 16, 9/2208 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Hoffmann (Saarbrücken) Borchert
21. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag eines Beschlusses des Rates zur Ermächtigung der Kommission, im Rahmen des Neuen Gemeinschaftsinstruments Anleihen zur Investitionsförderung in der Gemeinschaft aufzunehmen
— Drucksachen 9/2102 Nr. 9, 9/2224 — Berichterstatter:
Abgeordnete Hoffmann (Saarbrücken) Borchert
22. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorlage der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften: Politik der industriellen In-
novation — Leitlinien für eine Gemeinschaftsstrategie
— Drucksachen 9/1156, 9/2177 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schwörer
Auch hierzu wird das Wort nicht erbeten? — Wir stimmen über die Vorlagen gemeinsam ab. Wer den Beschlußempfehlungen der Ausschüsse auf den Drucksachen 9/2210, 9/2211, 9/2214, 9/2225, 9/2208, 9/2224 und 9/2177 zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 23 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der aufhebbaren Zweiundfünfzigsten Verordnung der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksachen 9/1938, 9/2181 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Unland
Wird um das Wort gebeten? — Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dies ist einstimmig so angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angekommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Dezember, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.