Protokoll:
7030

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 7

  • date_rangeSitzungsnummer: 30

  • date_rangeDatum: 10. Mai 1973

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:03 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 30. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 Inhalt: Überweisung von Vorlagen an Ausschüsse 1543 A Amtliche Mitteilungen 1543 B Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Drucksache 7/153); Bericht und Antrag des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen (Drucksachen 7/500, 7/516) — Fortsetzung der zweiten Beratung ,— in Verbindung mit Entwurf eines Gesetzes zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen (Drucksachen 7/154, 7/503); Bericht des Haushaltsausschusses gem. § 96 GO (Drucksache 7/520), Bericht und Antrag des Auswärtigen Ausschusses (Drucksache 7/502) — Fortsetzung der zweiten Beratung — Scheel, Bundesminister (AA) . . . 1544 A Dr. Gradl (CDU/CSU) 1548 C Höhmann (SPD) . . . . . . . 1553 D Ronneburger (FDP) . . . . . . 1558 B Franke, Bundesminister (BMB) . . 1560 D Dr. Abelein (CDU/CSU) . . . . 1565 A Wischnewski (SPD) . . . . . . 1569 D Dr. Bangemann (FDP) 1573 A Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU) . 1601 C Dr. Kreutzmann (SPD) 1605 B Eppler, Bundesminister (BMZ) . . 1608 A Graf Stauffenberg (CDU/CSU) . . 1609 D Flach (FDP) 1614 C Mattick (SPD) 1618 B Bahr, Bundesminister 1622 A Fragestunde (Drucksache 7/511) Frage A 83 des Abg. Engelsberger (CDU/CSU) : • Verkauf von Butter an die Sowjetunion und Weiterverkauf nach Chile Ertl, Bundesminister (BML) . . . . 1578 D, 1579 A, B Engelsberger (CDU/CSU) . . . . 1579 A, B Frage A 84 des Abg. Dr. Kunz (Weiden) (CDU/CSU) : Änderungen des einzelbetrieblichen Förderungsprogramms für die Landwirtschaft auf Grund des Einspruchs der EG-Kommission Ertl, Bundesminister (BML) . . . . 1579 C, 1580 A, C Dr. Kunz (Weiden) (CDU/CSU) . 1580 A, C II Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 Frage A 85 des Abg. Niegel (CDU/CSU) : Auswirkungen der Preisbeschlüsse des EG-Ministerrates auf die Entwicklung der Betriebskosten und der Einkommen der deutschen Bauern Ertl, Bundesminister (BML) . . . 1580 C, D, 1581 A Niegel (CDU/CSU) . . . 1580 D, 1581 A Frage A 8 des Abg. Dr. Müller (München) (CDU/CSU) : Äußerung des Bundeskanzlers über Gäste als Belastung für den Besuch Breschnews Ravens, Parl. Staatssekretär (BK) . 1581 B, C Dr. Müller (München) (CDU/CSU) 1581 B, C Höcherl (CDU/CSU) . . . . . . 1581 C Fragen A 9 und 10 der Abg. Dr. Müller (München) und Engelsberger (CDU/CSU) : Äußerung des Bundeskanzlers in Pula über die Einstellung der Wähler der CDU und der CSU zum Frieden Ravens, Parl. Staatssekretär (BK) . . 1581 D, 1582 A, B, C, D, 1583 A Dr. Müller (München) (CDU/CSU) . 1581 D, 1582 A, D Engelsberger (CDU/CSU) . . . 1582 B, C Müller (Berlin) (CDU/CSU) . . . . 1582 D Frage A 62 des Abg. Dr. Geßner (SPD) : Irreführende Angaben in Prospekten und anderen Veröffentlichungen von Reiseveranstaltern Dr. Bayerl, Parl. Staatssekretär (BMJ) 1583 B, C, D, 1584 A Dr. Geßner (SPD) 1583 C, D Hansen (SPD) 1583 D Dr. de With (SPD) 1584 A Frage A 63 des Abg. Gallus (FDP) : Änderung der Jugendarrestvollzugsordnung Dr. Bayerl, Parl. Staatssekretär (BMJ) 1584 B, D, 1585 A Gallus (FDP) 1584 C, D Höcherl (CDU/CSU) 1585 A Fragen A 77 und 78 des Abg. Dr. Meinecke (Hamburg) (SPD) : Aufnahme einer berührungssicheren Glühlampenfassung in die VDE-Vorschriften Grüner, Parl. Staatssekretär (BMW) 1585 B, C, D, 1586 A, B, C Dr. Meinecke (Hamburg) (SPD) . 1585 C, D, 1586 A, B, C Lemp (SPD) 1586 C Fragen A 79 und 80 des Abg. Höcherl (CDU/CSU) : Konsequenzen aus dem Jahresbericht 1972 der Deutschen Bundesbank Grüner, Parl. Staatssekretär (BMW) 1587 A, B, C, D Höcherl (CDU/CSU) . . . 1587 B, C, D Fragen A 86 und 87 des Abg. Bremm (CDU/CSU) : Krankenversicherungsbeiträge freiwillig weiterversicherter Angestellter, die zugleich landwirtschaftliche Unternehmer sind Eicher, Staatssekretär (BMA) 1588 A, B, C Bremm (CDU/CSU) 1588 C, D Frage A 88 des Abg. Dr. Schäuble (CDU/ CSU) : Berücksichtigung der Inhaftierung durch eine Besatzungsmacht auf Grund einer Denunziation als Ersatzzeit im Sinne des § 28 AVG Eicher, Staatssekretär (BMA) . . 1589 A, C Dr. Schäuble (CDU/CSU) 1589 B Fragen A 89 und 90 des Abg. Geisenhofer (CDU/CSU) : Anmeldung von Schwerbehinderten zur freiwilligen Versicherung nach dem Rentenreformgesetz 1972 Eicher, Staatssekretär (BMA) . . 1589 C, D Fragen A 95 und 96 des Abg. Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Forderungen des Deutschen Familienverbands betr. eine Übergangslösung zum Familienlastenausgleich Westphal, Parl. Staatssekretär (BMJFG) 1590 B, C, D, 1591 A, B, C, D Müller (Berlin) (CDU/CSU) . . . 1590 B, C, 1591 B, C Frau Stommel (CDU/CSU) . . . 1590 D Baier (CDU/CSU) 1591 D Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Brandt, Bundeskanzler . . . . . 1592 A Dr. Narjes (CDU/CSU) 1594 B Dr. Schachtschabel (SPD) 1596 C Dr. Graf Lambsdorff (FDP) . . . 1598 B Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Oktober 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Rechtshilfe in Strafsachen (Drucksache 7/371) — Erste Beratung — . . . . . . . . . . . . 1626 A Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. November 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Auslieferung (Drucksache 7/372) — Erste Beratung — . . . 1626 A Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes vom 14. Januar 1969 zu dem Übereinkommen vom 7. September 1967 zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden über gegenseitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen und zu dem Protokoll über den Beitritt Griechenlands zu diesem Übereinkommen (Drucksache 7/470) — Erste Beratung — 1626 A Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 7/471) — Erste Beratung — 1626 B Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Liberia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 7/472) — Erste Beratung — 1626 B Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Kostenermächtigungsvorschriften des Seemannsgesetzes (Drucksache 7/482) — Erste Beratung — 1626 B Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung der Wirtschaftspläne des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1973 (ERPWirtschaftsplangesetz 1973) (Drucksache 7/479) — Erste Beratung — 1626 C Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 120 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 8. Juli 1964 über den Gesundheitsschutz im Handel und in Büros (Drucksache 7/414) — Erste Beratung — 1626 C Entwurf eines Gesetzes zu dem Internationalen Olivenöl-Übereinkommen von 1963 (Drucksache 7/413) — Erste Beratung — 1626 C Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse (SPD, CDU/CSU, FDP) (Drucksache 7/400) — Erste Beratung — 1626 D Entwurf eines Gesetzes über eine Statistik des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs (Drucksache 7/426) — Erste Beratung — 1626 D Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. Februar 1966 über die Eichung von Binnenschiffen (Drucksache 7/481) — Erste Beratung — . . . . . 1626 D Entwurf eines Gesetzes über das Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (Drucksache 7/506) — Erste Beratung — . . . . . . . . . 1626 D Entwurf eines Gesetzes zur Abwicklung der Reichsärztekammer (Reichsärztekammer-Abwicklungsgesetz) (Drucksache 7/507) — Erste Beratung — . . . . 1627 A Nächste Sitzung 1627 C Anlagen Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 1629* A Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Bayerl (BMJ) auf die Fragen A 64 Und 65 — Drucksache 7/511 — des Abg. Dr. Schneider (CDU/CSU) betr. Begünstigung krimineller Ausschreitungen bei Demonstrationen durch die Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts und Maßnahmen gegen die Verschlechterung der inneren Sicherheit . . . . . . . 1629* B Anlage 3 Antwort des Staatssekretärs Eicher (BMA) auf die Frage A 91 — Drucksache 7/511 — des Abg. Lenzer (CDU/CSU) betr. Beschäftigung von Jugendlichen mit Akkordoder Fließarbeit 1630* A Anlage 4 Antwort des Staatssekretärs Eicher (BMA) auf die Frage A 92 — Drucksache 7/511 — des Abg. Spranger (CDU/CSU) betr. Behandlung der Schwerkriegsbeschädigten in der Krankenversicherung der Landwirte 1630* B IV Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 Anlage 5 Antwort des Staatssekretärs Eicher (BMA) auf die Frage A 93 — Drucksache 7/511 — des Abg. Peiter (SPD) betr. technische Unzulänglichkeiten eines bestimmten Baggermodells . . . . . . . . . . 1630* D Anlage 6 Antwort des Staatssekretärs Eicher (BMA) auf die Frage A 94 — Drucksache 7/511 — des Abg. Zebisch (SPD) betr. Meldungen über ein Ansteigen des Krankenstandes 1631* B Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Herold (BMB) auf die Frage A 129 — Drucksache 7/511 — des Abg. Ernesti (CDU/CSU) betr. Protest der drei westlichen Stadtkommandanten zu dem Zwischenfall an der Sektorengrenze in der Nähe des Reichstags 1631* D Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 1543 30. Sitzung Bonn, den 10. Mai 1973 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 29. Sitzung, Seite 1415 A: Die Verordnung (Euratom) des Rates zur Änderung der Bedingungen für die Besoldung und die soziale Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in Belgien dienstlich verwendet werden — Drucksache 7/492 —überwiesen an den Innenausschuß (federführend), Haushaltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat ist zu streichen. Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach * 12.5. Adams * 12. 5. Dr. Aigner * 12. 5. Dr. Arndt (Berlin) * 12. 5. Dr. Artzinger * 12. 5. Dr. Bangemann * 12. 5. Barche 26. 5. Behrendt * 12. 5. Dr. Dr. h. c. Birrenbach 26. 5. Blumenfeld * 12. 5. Dr. Burgbacher * 12. 5. Coppik 26. 5. Dr. Corterier * 12. 5. Eckerland 26. 5. Fellermaier * 12. 5. Flämig * 12. 5. Frehsee * 12. 5. Dr. Früh * 12. 5. Gerlach (Emsland) * 12. 5. Graaff 12. 5. Härzschel * 12. 5. Dr. Jahn (Braunschweig) * 12. 5. Kater * 12. 5. Dr. Klepsch * 12. 5. Krall * 12. 5. Freiherr von Kühlmann-Stumm 24. 5. Lange * 12. 5. Lautenschlager * 12. 5. Lücker * 12.5. Dr. Martin 26. 5. Memmel ' 12. 5. Müller (Mülheim) * 12. 5. Mursch (Soltau-Harburg) * 12.5. Frau Dr. Orth 26.5. Picard 12.5. Schmidt (München) * 12. 5. Dr. Schulz (Berlin) * 12. 5. Schwabe * 12. 5. Dr. Schwörer * 12. 5. Seefeld * 12. 5. Springorum * 12. 5. Dr. Starke (Franken) * 12. 5. Walkhoff * 12. 5. Frau Dr. Walz * 12. 5. Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Bayerl vom 10. Mai 1973 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Anlagen zum Stenographischen Bericht Dr. Schneider (CDU/CSU) (Drucksache 7/511 Fragen A 64 und 65) : Inwieweit hat nach den Feststellungen der Bundesregierung die Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts mit dem dritten Strafrechtsreformgesetz kriminelle Ausschreitungen bei Demonstrationen der letzten Zeit in Frankfurt und Bonn begünstigt sowie die präventive Unterbindung von Gewaltakten erschwert bzw. verhindert? Ist die Bundesregierung bereit, aus der bedrohlichen Verschlechterung der inneren Sicherheit Konsequenzen zu ziehen, und welche Maßnahme gedenkt sie gegebenenfalls zu ergreifen? Zu Frage A 64: Bereits in meiner Antwort auf eine Anfrage des Abgeordneten Höcherl vom 12. August 1971 - zu Drucksache VI/2492 - habe ich darauf hingewiesen, daß es eines der Ziele des Dritten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 20. Mai 1970 (BGBl. I Seite 505) war, die friedliche Meinungsäußerung und den gewalttätigen Mißbrauch des Demonstrationsrechts klar voneinander abzugrenzen. Dieses Ziel ist auch erreicht worden. Der durch das Dritte Reformgesetz neugefaßte Tatbestand des Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) ist gerade gegen Gewaltakte geschaffen worden, wie sie in letzter Zeit in Bonn und Frankfurt vorgekommen sind. Die Lockerung der Strafdrohung des § 125 StGB gegenüber dem alten Rechtszustand besteht nur darin, daß solche Personen straffrei gestellt sind, die im Rahmen einer Demonstration weder Gewaltakte begangen noch solche Handlungen im Sinne des § 125 StGB gefördert haben. Sie betrifft die Teilnahme an den Ausschreitungen in Bonn und Frankfurt nicht. Im übrigen stellt das Strafgesetzbuch eine Reihe sonstiger Vorschriften zur Verfügung, die bei Gewaltakten - je nach Sachlage zur Anwendung kommen. Ich nenne hier nur die Tatbestände der Körperverletzung, Sachbeschädigung, Nötigung und ähnlicher Delikte. Von einer Begünstigung von Gewaltakten durch das 3. Strafrechtsreformgesetz kann also überhaupt keine Rede sein. Dies wird auch bestätigt durch statistische Erhebungen, die der Bundesminister des Innern seit dem Jahre 1968 bei den Innenverwaltungen der Länder durchführt und die auf Polizeiberichten beruhen. Danach ging seit 1969 sowohl die Anzahl der Demonstrationen überhaupt als auch besonders der Anteil der unfriedlichen Demonstrationen fast kontinuierlich zurück. Während 1969 noch etwa jede zweite bis dritte der 2 253 erfaßten Demonstrationen unfriedlich verlief, war es 1972 nur etwa jede zwanzigste bei einer Gesamtzahl von 1 547 Demonstrationen. Zu Frage A 65: Aus der Verbindung dieser Frage mit Ihrer ersten Frage schließe ich, daß Sie offensichtlich dann auch davon ausgehen, die Reform des Demonstrationsstrafrechts habe zu einer bedrohlichen Verschlechterung der inneren Sicherheit geführt. Das trifft wie ich bereits ausgeführt habe - nicht zu. Deshalb sehe ich aus der Sicht meines Geschäftsbereichs keinen Anlaß, erneut eine Änderung des Demonstrationsstrafrechts in Erwägung zu ziehen. 1630* Deutscher Bundestag -- 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 Anlage 3 Antwort des Staatssekretärs Eicher vom 10. Mai 1973 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Lenzer (CDU/CSU) (Drucksache 7/511 Frage A 91): Wie beurteilt die Bundesregierung die im § 38 des Jugendarbeitsschutzgesetzes eingeräumte Möglichkeit, für Jugendliche über 16 Jahre durch die Gewerbeaufsichtsämter Akkord- bzw. Fließarbeit in Ausnahmefällen zuzulassen, und ist sie gegebenenfalls der Auffassung, daß der Gesetzestext so geändert werden sollte, daß grundsätzlich für Jugendliche unter 18 Jahren die Beschäftigung mit Akkord- oder Fließarbeit verboten wird? Wie Herr Minister Arendt bereits in der Debatte über die Regierungserklärung am 24. Januar 1973 angekündigt hat, bereitet mein Haus eine Reform des Jugendarbeitsschutzes vor. Im Rahmen der Vorarbeiten hierzu wird auch die Vorschrift des § 38 des Jugendarbeitsschutzgesetzes über die Akkord- und Fließarbeit überprüft. Die Prüfung ist jedoch noch nicht abgeschlossen, insbesondere sind noch einige Rückfragen bei den Gewerbeaufsichtsämtern erforderlich. Ich bitte um Verständnis, wenn ich dem Ergebnis der Überprüfung heute nicht vorgreifen möchte. Ich hoffe, die Prüfung so rechtzeitig abschließen zu können, daß ein erster Entwurf eines neuen Jugendarbeitsschutzgesetzes alsbald erstellt werden kann. Anlage 4 Antwort des Staatssekretärs Eicher vom 10. Mai 1973 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Spranger (CDU/ CSU) (Drucksache 7/511 Frage A 92) : Wird die Bundesregierung den sozialen Status der schwerkriegsbeschädigten Landwirte dadurch verbessern, daß sie die nach dem Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte bestehende volle Beitragspflicht nach dem Flächenwert ändert und eine der kostenlosen Heilbehandlungen gem. § 10 des Bundesversorgungsgesetzes entsprechende Regelung für diesen Personenkreis und deren Familienangehörige trifft, und teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Beiträge der Landwirte zur landwirtschaftlichen Krankenkasse für mitarbeitende Familienangehörige zu hoch sind und unverzüglich einer Herabsetzung bedürfen? Zu diesem Thema hat die Bundesregierung bereits in mehreren Fragestunden des Deutschen Bundestages Stellung genommen. Ich möchte hier erneut darauf hinweisen, daß das Problem während der Beratungen des Gesetzentwurfes über die Krankenversicherung der Landwirte im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages eingehend erörtert worden ist. Der Ausschuß hat sich vor allem deswegen für die geltende Regelung ausgesprochen, weil Schwerbeschädigte Landwirte in der Krankenversicherung der Landwirte nicht anders behandelt werden können als schwerbeschädigte Pflichtversicherte in der allgemeinen Krankenversicherung. Wollte man allerdings den schwerkriegsbeschädigten Landwirten die Leistungen der Krankenversicherung ohne eigene oder bei verminderter Beitragszahlung zur Verfügung stellen, müßten die übrigen versicherten landwirtschaftlichen Unternehmer diese Aufwendungen mitfinanzieren. Line andere Frage ist es, ob die Beitragsbelastung der schwerkriegsbeschädigten Landwirte auf andere Weise gemildert werden kann. Hierzu hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde bereits in der Fragestunde am 1. Februar 1973 ausgeführt, daß in der zuständigen Fachabteilung unseres Hauses gegenwärtig die Frage geprüft wird, ob auch die Beitragsbelastung der Landwirte bei der Neugestaltung des § 9 der Verordnung zur Durchführung des § 33 des Bundesversorgungsgesetzes im Rahmen der Einkommensermittlung pauschal berücksichtigt werden kann. Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen. Zum zweiten Teil Ihrer Frage möchte ich folgendes bemerken: Wie Sie wissen, Herr Abgeordneter, tragen die versicherungspflichtigen landwirtschaftlichen Unternehmer auch die Beiträge für die bei ihnen mitarbeitenden versicherungspflichtigen Familienangehörigen. Die Folge einer Ermäßigung dieser Beiträge von zwei Dritteln auf die Hälfte des jeweiligen Unternehmerbeitrags wäre eine Umschichtung der Beitragslast unter den Landwirten. Dabei würden Landwirte ohne mitarbeitende Familienangehörige, zu denen auch Kleinstlandwirte zählen, finanziell stärker belastet als bisher. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß nach der verhältnismäßig kurzen Zeit seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte die von Ihnen, Herr Abgeordneter, angesprochene Frage noch nicht abschließend beurteilt werden kann; sie wird die Beitragsentwicklung bei den landwirtschaftlichen Krankenkassen sorgfältig beobachten und zu gegebener Zeit prüfen, ob die Beiträge für mitarbeitende Familienangehörige gesenkt werden können, ohne die Landwirte, die keine mitarbeitenden Familienangehörige beschäftigen, unzumutbar zu belasten. Anlage 5 Antwort des Staatssekretärs Eicher vom 10. Mai 1973 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Peiter (SPD) (Drucksache 7/511 Frage A 93) : Trifft die Feststellung eines Frankfurter Schöffengerichts zu, daß durch technische Unzulänglichkeiten eines bestimmten Baggermodells es eine Reihe von tödlichen Unfällen gegeben hat, und daß der Gesetzgeber durch Sachverständige mehrmals darauf hingewiesen wurde, und, wenn ja, wird die Bundesregierung nunmehr die Initiative ergreifen und den Betrieb dieses Baggermodells fur die Verlegung von Kanalisationsrohren verbieten? Über das von Ihnen genannte Urteil des Frankfurter Schöffengerichts und den ihm zugrundeliegenden Sachverhalt hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erst durch kürzlich veröffentlichte Pressemeldungen Kenntnis erlangt. Eine unverzügliche Rückfrage beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften ergab, daß die Berufsgenossenschaften bereits im Jahre 1971 wegen der Gefährdung der mit diesen Baggern Beschäftigten mit Herstellern und Benutzern des Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 1631* Baggermodells verhandelt haben. Hierbei ergab sich, daß die genannte Baggertype, die früher von mehreren Herstellern angeboten wurde, nicht nur für Baggerarbeiten verwandt wurde, sondern auch für Hebe- und Transportarbeiten — z. B. bei Rohrverlegungen —, wofür der Bagger an sich nicht gebaut ist. Daher ist vereinbart worden, daß für diesen Zweck Bagger angeboten und eingesetzt werden, die sowohl für Baggerarbeiten als auch für den Hebezeugbetrieb geeignet sind oder die innerhalb weniger Minuten umgerüstet werden können. Der Hauptverband hat die einzelnen Berufsgenossenschaften darauf aufmerksam gemacht, daß die nicht umgebauten Bagger dieser Type als Hebezeug nicht mehr verwendet werden dürfen. Dadurch war ein einheitliches Vorgehen aller Technischen Aufsichtsbeamten sichergestellt. Die Bundesregierung wird sich darüber hinaus dafür einsetzen, daß die Unfallverhütungsvorschrift „Bagger" entsprechend gefaßt wird. Die Benutzer von Baggern müssen auch aus dieser Vorschrift eindeutig erkennen können, daß für Transport- und Hebearbeiten nur solche Geräte verwendet werden dürfen, die auch dafür sicherheitstechnisch geeignet sind. Soweit der vorliegende Fall Fragen aus dem Bereich der Gewerbeaufsicht aufgeworfen hat, gehe ich davon aus, daß die hierfür zuständigen Stellen der Länder bereits geeignete Schritte unternommen haben oder unternehmen werden. Anlage 6 Antwort des Staatssekretärs Eicher vom 9. Mai 1973 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Zebisch (SPD) (Drucksache 7/511 Frage A 94) : Treffen Meldungen einzelner Unternehmer und Wirtschaftsverbände zu, die von einem alarmierenden Ansteigen des Krankenstands in den letzten Jahren sprechen und dafür das Lohnfortzahlungsgesetz verantwortlich machen, oder ist die Bundesregierung demgegenüber der Auffassung, daß sich das Lohnfortzahlungsgesetz voll bewährt hat? Der jahresdurchschnittliche Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich von 5,1 v. H. im Jahre 1969 auf 5,5 v. H. im Jahre 1972 erhöht. Bei den Betriebskrankenkassen ist ein stärkerer Anstieg — und hierauf gründen sich vermutlich die Meldungen über das „alarmierende Ansteigen des Krankenstandes" — zu verzeichnen, und zwar von 6,1 v. H. im Jahre 1969 auf 7,1 v. H. im Jahre 1972. Das von jeher höhere Krankenstandsniveau bei den Betriebskrankenkassen ergibt sich daraus, daß ein Teil dieser Kassen bei solchen Unternehmen besteht, deren Produktions- und Arbeitsweise eine verhältnismäßig hohe gesundheitliche Belastung oder ein größeres Unfallrisiko bewirken. Die Tendenz zu leicht. steigenden Krankenständen in den letzten Jahren dürfte u. a. mit dem Konjunkturverlauf, dem gestiegenen Arbeitstempo, der Mehrarbeit und den daraus sich ergebenden verstärkten gesundheitlichen Belastungen zusammenhängen. Hinzu kommt, daß als Folge der angespannten Arbeitsmarktsituation auch solche Arbeitnehmer in den Erwerbsprozeß eingegliedert wurden, die ein erhöhtes Krankheitsrisiko (z. B. auf Grund des Alters) aufweisen. Die Vielfalt der auf den Krankenstand einwirkenden Faktoren läßt daher eine Aussage, ob seine Veränderungen seit 1970 auf das Lohnfortzahlungsgesetz zurückzuführen sind, nicht zu. Wegen weiterer Einzelheiten zu diesem Fragenkomplex darf ich Sie auf den Erfahrungsbericht der Bundesregierung — Drucksache VI/3200 — hinweisen. Solange es nicht gelingt, diese unterschiedlichen, zum Teil auch im psychologischen Bereich liegenden Einflußgrößen zahlenmäßig sichtbar zu machen — und das dürfte sehr schwierig sein —, läßt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Krankenstandes und dem Lohnfortzahlungsgesetz nicht herstellen. Trotzdem bin ich der Auffassung, daß dieses Gesetz den mit ihm angestrebten Zweck erfüllt. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Herold vom 9. Mai 1973 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Ernesti (CDU/CSU) (Drucksache 7/511 Frage A 129) : Ist die Bundesregierung bereit, den vollen Wortlaut des Protests der drei westlichen Stadtkommandanten zu dem schweren Zwischenfall an der Sektorengrenze in der Nähe des Reichstags und ihre eigene Stellungnahme zu diesen Vorgängen dem Deutschen Bundes tag mitzuteilen? Der Wortlaut des Protestes der drei westlichen Stadtkommandanten zu dem schweren Zwischenfall an der Sektorengrenze in der Nähe des Reichstages lautet wie folgt: Am 27. April um 17.55 Uhr wurden Wachposten auf dem an den Bezirk Tiergarten im britischen Sektor angrenzenden Reichstagsufer in Ost-Berlin beobachtet, wie sie Schüsse abgaben, die anscheinend auf -einen Mann gerichtet waren, der versuchte, die Mauer an dieser Stelle zu übersteigen. Der Mann fiel in die Spree, und etwa zwei Stunden später wurde ein anscheinend lebloser Körper von einem ostdeutschen Patrouillenboot aus dem Wasser geborgen. Die alliierten Stadtkommandanten sind empört über diesen erneuten rücksichtslosen und unmenschlichen Gebrauch von Feuerwaffen im Herzen von Berlin. Dieser Vorfall entspricht nicht dem von allen interessierten Regierungen ,ausgedrückten Wunsche zur Vermeidung von Spannungen. Die alliierten Stadtkommandan- 1632* Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 ten fordern die verantwortlichen Behörden auf, mehr Achtung für unschuldiges Leben zu zeigen und den weiteren derartigen Gebrauch von Schußwaffen zu vermeiden. Die Stellungnahme der Bundesregierung ergibt sich aus der Erklärung des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen vom 27. April 1973, in der er den Zwischenfall wie folgt verurteilt hat: Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen hat mit Empörung und Abscheu die Nachricht vom erneuten Schußwaffengebrauch zur Verhinderung einer verzweifelten Flucht erfahren. Solche Vorfälle sind unerträglich und eine ernsthafte Störung der Politik einer Entspannung, deren Glaubwürdigkeit sich darin erweist, daß der einzelne sicher vor Furcht und Gewalt bleibt. Beide Texte wurden veröffentlicht.
Gesamtes Protokol
Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703000000
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, Ihnen liegt eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen weiden sollen:
Betr.: Raumordnungsbericht 1972 Bezug: § 11 des Raumordnungsgesetzes — Drucksache VI/3793 —zuständig: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend), Innenausschuß
Betr.: Arbeitsförderungsbericht
Bezug: § 239 des Arbeitsförderungsgesetzes — Drucksache 7/403 -
zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend), Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Betr.: Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Zypern
- Drucksache 7/455 zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Entscheidung zur Errichtung eines Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit
— Drucksache 7.456 —zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend), Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Betr.: Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur"
Bezug: § 6 des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" vom 6. Oktober 1969 (BGBl. I S. 1861), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 1971 (BGB1. I S. 2140)
— Drucksache 7/401 —zuständig: Ausschuß für Wirtschaft (federführend), Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen, Haushaltsausschuß
Betr.: Ergänzung zum Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"
Bezug: § 6 des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" vorn 3. September 1969 (BGB1. I S. 1573) in der Fassung des Gesetzes vorn 23. Dezember 1971 (BGB1. I S. 2140)
- Drucksache 7/480 —
zuständig: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend), Haushaltsausschuß
Erhebt sich gegen die beabsichtigte Überweisung Widerspruch? — Ich stelle fest, daß das nicht der Fall ist; dann ist so beschlossen.
Folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 7. Mai 1973 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Vogel (Ennepetal), Berger, Dr. Miltner, Wagner (Günzburg) und der Fraktion der CDU/CSU betr. Grundsätze für die Beteiligung der Ruhestandsbeamten, -richter und -soldaten und ihrer Hinterbliebenen an strukturellen Besoldungsverbesserungen — Drucksache 7/477 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7'518 verteilt.
Wir fahren in der Aussprache über die Punkte 2 und 3 der Tagesordnung fort:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
— Drucksache 7/153 —Bericht und Antrag des Ausschusses für ;innerdeutsche Beziehungen (16. Ausschuß)

— Drucksachen 7/500, 7/516 —
Berichterstatter: Abgeordneter Heyen
Abgeordneter Jäger (Wangen)


(Erste Beratung 14./15. Sitzung)

Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen
- Drucksachen 7/154, 7/503 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 7/520 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Bußmann
b) Bericht und Antrag des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)

— Drucksache 7/502 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Carstens (Fehmarn) Abgeordneter Dr. Corterier

(Erste Beratung 15. Sitzung)

Das Wort hat Herr Bundesminister Scheel.




Walter Scheel (FDP):
Rede ID: ID0703000100
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei eng verbundene Gesetzentwürfe stehen heute zur Debatte, die Entwürfe der Gesetze zu dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Beide bringen den zentralen Grundgedanken unserer Friedenspolitik zum Ausdruck, der unsere gesamte Außenpolitik bestimmt.
Die Wahrung und Sicherung des Friedens haben Vorrang vor der staatlichen Einheit. Deutlicher als vor einem oder zwei Jahren sehen wir heute, daß der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Stabilisierung ,des Friedens in Europa nicht das Ergebnis einer weltfremden, träumerischen Hoffnung war. Er war eine höchst zeitgemäße politische Entscheidung, die unser Land vor der Isolierung von den eigenen Freunden bewahrte.
Meine Damen und Herren, die Verträge von Moskau und Warschau, das Viermächteabkommen über Berlin und der Grundvertrag bilden ein einheitliches Ganzes. Das ist so. Es wäre wohl ein Schildbürgerstreich erster Ordnung, wenn wir die Vorteile, die wir aus der Entspannungspolitik ziehen können, gerade im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ungenutzt ließen oder auf unserem legitimen Platz in der Weltorganisation der Vereinten Nationen verzichteten. Nein, diese Vertragspolitik, ,die wir seit 1969 betrieben haben und die hoffentlich bald auch durch einen Vertrag mit der Tschechoslowakei vervollständigt sein wird, hat uns in den den Stand gesetzt, in einer sich rasch wandelnden Welt den Anschluß zu behalten und unsere Verantwortung zu tragen.
Selbst der Außenminister der DDR, Herr Winzer, hat kürzlich in einem Vortrag in Wien die Bedeutung dieser Verträge richtig eingeschätzt, als er sagte:
So sind durch die Verträge der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland sowie durch das vierseitige Abkommen über West-Berlin und die vierseitige Erklärung zur Aufnahme der DDR und der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen, wie mir scheint ...

(Abg. Dr. Carstens [Fehmarn] : Und WestBerlin!)

— Das sollte der Zwischenrufer vielleicht einmal Herrn Winzer sagen.

(Abg. Dr. Carstens [Fehmarn] : Das sollten Sie vielleicht auch mal sagen, Herr Minister!)

Dem würde ich natürlich durchaus zustimmen, wenn Sie ihm das sagen würden und dabei außerdem noch Erfolg haben würden.

(Abg. Wehner: Sehr gut!)

Ich möchte noch einmal zitieren, was Winzer gesagt hat:
So sind durch die Verträge der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland
— er hat sogar gesagt „BRD"; aber das geht mir so schwer über die Lippen, daß ich es hier ausspreche —

(Beifall bei der CDU/CSU)

sowie durch das vierseitige Abkommen über West-Berlin und die vierseitige Erklärung zur Aufnahme der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen, wie mir scheint, wesentliche objektive Voraussetzungen für das Zustandekommen und eine erfolgreiche Arbeit der Europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit gegeben.
Ich glaube, dem kann man zustimmen.
Was haben wir, meine Damen und Herren, allein im verflossenen Jahr an dramatischen Veränderungen auf der weltpolitischen Bühne erlebt! Die Unterzeichnung des Berlin-Abkommens durch die Vier Mächte, das Pekinger Treffen von Präsident Nixon mit Mao Tse-tung, die Moskauer Gipfelkonferenz und die dort getroffenen amerikanisch-sowjetischen Abmachungen sowie die ersten Vereinbarungen nuklearer Rüstungsbegrenzungen zwischen den Supermächten, — das sind einschneidende Ereignisse, die uns alle mittelbar oder unmittelbar berühren. Wollte hier im Ernst jemand behaupten, daß ein Land vom Gewicht und der Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland in einem Gefühl stolzer Isolierung diese Ereignisse nicht zur Kenntnis zu nehmen braucht?
Wenn wir im Nordatlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft unsere Rolle spielen und unseren Verpflichtungen nachkommen wollen, so müssen wir mit der Welt rechnen, wie sie ist,

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

und nicht, wie wir sie uns erträumen. Nostalgie ist hier nicht am Platze. Zur Welt, wie sie ist, gehört leider auch die Tatsache, daß die Teilung Deutschlands fortdauert. Das deutsche Problem konnte in der Vergangenheit nicht gelöst werden und wird durch den Grundvertrag nicht gelöst.
Herr Professor Carstens hat uns an dieser Stelle den Vorwurf gemacht, daß der Grundvertrag nicht von der deutschen Nation und der deutschen Einheit spricht. Er sieht darin ein schweres historisches Versäumnis. Er hat in der gleichen Rede hervorgehoben, daß sich frühere Bundesregierungen die Möglichkeit gesamtdeutscher Politik auch im Rahmen der europäischen Integration offengehalten haben. Sicher, Sie sind auf den Kern der Frage gekommen, Herr Professor Carstens. Sie haben ihn nur nicht ganz sichtbar gemacht. Sie hätten ja auch noch hinzufügen können, daß sich auch die Sowjetunion und die DDR in ihren Verträgen von 1955 und 1964 zum Ziel der Verwirklichung der Einheit Deutschlands bekannten. Aber wäre die Verwirklichung der Wiedervereinigung, von der in diesen Verträgen die Rede ist, denn eine Wiedervereinigung, wie wir sie wollen? Die Antwort ist doch offenkundig, und gerade die Kollegen der CDU haben sie in jenen



Bundesminister Scheel
Jahren mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Es ist eben ein Trugschluß, aus der Übereinstimmung in den Worten auf eine Übereinstimmung in der Sache zu schließen. Das ist ja der Grund, warum die Wiedervereinigung, wie wir sie verstehen, von uns bisher nur in den Westverträgen stipuliert werden konnte.
Wenn es uns eines Tages gelänge, die Begriffe „deutsche Einheit", „deutsche Nation" und „Wiedervereinigung Deutschlands" mit der Sowjetunion vertraglich zu regeln, oder wenn es möglicherweise gar der DDR gelänge, mit den Vereinigten Staaten solche Verträge abzuschließen, dann wäre allerdings die deutsche Einheit erreicht. So einfach ist das. Aber, Herr Carstens, Sie haben selber, ich glaube, in aktiver Position erleben müssen, daß das nicht so einfach ist. Denn sicherlich wären auch Sie darauf gekommen, diese deutsche Einheit in der Zeit zu erreichen, in der Sie aktiv daran gearbeitet haben, wenn es so einfach wäre. Sie hätten das nicht etwa anderen überlassen mögen.
Wir haben uns mit dieser Sorte Logik nicht aufgehalten, weil sie ja zu nichts führt und weil sie sich praktisch auf einer Diskussionsebene abspielt; die gespenstisch erscheint für den, der in der Wirklichkeit lebt. Nein, wir haben versucht, dem Status quo, wie er nun einmal ist, ein kleines, aber für die Menschen in Deutschland wichtiges Plus hinzuzufügen. Wir haben den Grundvertrag geschlossen, weil er der fortgesetzten und sich verstärkenden Entfremdung zwischen den beiden Teilen Deutschlands, zwischen den Teilen des deutschen Volkes tatsächlich entgegenwirkt.
Natürlich können auch wir die Ergebnisse der ganzen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte nicht aus der Welt schaffen. Der Grundvertrag ist das Ergebnis nüchterner Einsicht in die Notwendigkeit, endlich zu handeln und aus einer sterilen und gefährlichen Lage das Beste zu machen. Es ist das Ergebnis auch der Geschlossenheit, mit der die Drei Mächte unsere Grundposition zur Deutschlandfrage mit uns gemeinsam verfochten haben.
Der Kollege Strauß hat uns zu Beginn seiner Ausführungen untersagt, ihm und seinen politischen Freunden zu unterstellen, sie wären nicht für Entspannung und Frieden. Wir haben das ja auch nie getan.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie persönlich nicht!)

Aber es reicht doch nicht, vom Frieden und von Entspannung nur zu reden. Wir halten es einfach für unsere Pflicht und Schuldigkeit, zu handeln

(Beifall bei den Regierungsparteien)

statt unter Herrn Straußens Polithypnose auf dem westöstlichen Diwan — wie er das nannte — noch ein weiteres Vierteljahrhundert abzuwarten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Unsere Politik — das möchte ich auch Herrn Strauß sagen — steht in der Tat unter Zeitdruck. Dieser Zeitdruck ist nicht von uns geschaffen worden, sondern er wird von den Uhren der Weltpolitik bestimmt. Diese Uhren werden in den Metropolen der Weltmächte gestellt. Zu diesen Metropolen zählt — leider — Vilshofen vorerst noch nicht.

(Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — Abg. Franke [Osnabrück]:: Hinterthal auch nicht!)

— Sehen Sie, ich habe meine Politik nicht etwa nach den Uhren dort gestellt,

(Abg. Franke [Osnabrück] : Doch!)

sondern nach denen der Metropolen. — Ihnen und Herrn Strauß möchte ich sagen: Gebe Gott Ihnen die Weisheit — um Herrn Strauß selbst einmal von gestern zu zitieren —, das zu unterscheiden, nämlich zu unterscheiden, wo die Uhren gestellt werden. Die Gélassenheit, das hinzunehmen, kommt dann von selbst.
Ihre politischen Sprecher erwecken immer den Eindruck, als hätten wir dem deutschen Volk die Wiedervereinigung versprochen und dieses Versprechen nicht eingelöst. Wir haben das nicht versprochen, wir können das nicht versprechen, und wir konnten das nicht versprechen. Aber wir können für die Menschen in Deutschland in dieser Zeit bessere Bedingungen des Zusammenlebens schaffen. Machen wir uns doch in dieser Aufgabe gemeinsam ans Werk!
Der Grundvertrag ist erst die Voraussetzung für die Wiederaufnahme und die Etnwicklung breiterer Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Er legt einen Rahmen für Austausch und Kontakt zwischen den beiden Staaten und zwischen ihren Menschen fest.
Die Ausgangslage, die wir vorfanden, war nicht beneidenswert. Ich darf Sie doch daran erinnern, daß uns die DDR im Dezember 1969 einen völkerrechtlichen Vertrag vorschlug, der die Anerkennung der Grenzen und die Herstellung normaler diplomatischer Beziehungen mit dem Austausch von Botschaftern festsetzte, aber alle sachlichen Schritte der Normalisierung und Annäherung vertagte. Das war der unmittelbare historische Hintergrund, vor dem das Erreichte steht und zu werten ist. Nichts ist unsinniger als die der Bundesregierung unterschobene Behauptung, es könne in den Beziehungen zwischen den deutschen Staaten nur noch kontinuierlich bergauf gehen. Allerdings erinnert eine solche Behauptung an den früheren Zustand, in dem es mit diesen Beziehungen zu dem anderen Staat in Deutschland nicht einmal bergab gehen konnte. Durch die völlige Ignorierung der DDR lagen diese Beziehungen auf dem Nullpunkt fest.
Ich höre aus gleichen Ecke den Vorwurf, trotz
des Grundvertrages müßten unsere Journalisten in Ost-Berlin unter erschwerten Bedingungen arbeiten. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Gerade in diesen Tagen sind war dabei, diese Bedingungen zu verbessern; aber 20 Jahre lang war journalistische Arbeit drüben praktisch überhaupt unmöglich, und seit dem Abschluß des Grundvertrages wird sie möglich. Aber natürlich ist das schwierig, meine Damen und Herren. Der Vorgang, neue Beziehungen, Beziehungen überhaupt erst, wieder zu knüpfen, ist schwierig, und er wird noch lange schwierig



Bundesminister Scheel
sein. Niemand hat das je bestritten, und anderes ist auch nie vorausgesehen worden.
Es hat keinen Sinn, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie uns ein Idealbild der innerdeutschen Beziehungen entwerfen.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein]: Das tun wir nicht!)

Das kann man natürlich tun — ein Kolossalgemälde —, um dann das bisher Erreichte mit diesem Idealbild zu vergleichen und dann abzutun. Ich meine, die kleinen Schritte, die in der Wirklichkeit möglich sind, müssen getan werden. Sie, diese kleinen Schritte, haben in letzter Zeit Millionen von Westdeutschen und Berlinern Besuche in der DDR ermöglicht und persönliche Bindungen in die DDR hinein erleichtert.
Wir sehen das alles ganz realistisch. Die große Auseinandersetzung zwischen der liberalen Demokratie und dem Kommunismus in Deutschland wird mit der Ratifizierung dieses Vertrages nicht zu Ende sein. Sie datiert ja auch nicht von gestern und vorgestern, sie geht schon zurück auf das Jahr 1848, und sie wird weitergehen, außen und innen. Man kann sich von diesem Konflikt nicht hinter abgedichteten innerdeutschen Grenzen verschanzen.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Im echten Wettstreit der Gedanken, der Reformen und der Werte wird sich die Bundesrepublik mit ihrer freien und menschenwürdigen Ordnung bewähren. Wir und unsere Freunde in der Gemeinschaft der Neun haben davor keine Angst,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

und eben deshalb bemühen wir uns, Austausch und Gespräch zwischen Ost und West zu erleichtern. Deshalb sind wir in Helsinki dabei, und deshalb haben wir auch diesen Vertrag geschlossen.
Der Grundvertrag zwischen den deutschen Staaten, ihr Eintritt in die Vereinten Nationen und die Ostverträge sollen Spaltung und Konfrontation allmählich überwinden. Sie sind aber kein Ersatz für unsere Bündnis- und Verteidigungspolitik. Im Gegenteil: ohne den sicheren Grund des Atlantischen Bündnisses unter unseren Füßen könnte keiner dieser Schritte gewagt werden.
Bei unserem Besuch in Washington vor wenigen Tagen wurden diese Zusammenhänge in aller Deutlichkeit definiert. Die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten, zwischen den Vereinigten Staaten und China und zwischen Ost und West in Europa sind endlich in Bewegung gekommen. ln dieser Bewegung bleibt die atlantische Partnerschaft ein ruhender Pol. Wir stehen mit der Gemeinschaft der Neun in dieser Partnerschaft. Unsere gemeinsamen demokratischen Grundüberzeugungen und unsere gemeinsame Sicherheit sind für die Partner die Grundlagen praktischer Politik. Wirtschaftliche Interessen- und Meinungsverschiedenheiten sind zwischen Industriestaaten nun einmal schwer vermeidlich. Sie können aber — und darüber sind wir uns mit Präsident Nixon einig — dieses politische Fundament des Bündnisses nicht erschüttern.
Unsere Washingtoner Gespräche betrafen nicht diese oder jene Komponente einer bilateralen Verständigung. Es ging um die Frage des Weltfriedens zwischen den Supermächten, in Südostasien und im Nahen Osten.
Gerade deshalb bildete die Ost-West-Politik in Europa einen Schwerpunkt. Deutschland steht strategisch und geographisch im Mittelpunkt dieser Entwicklung. Wenn wir den Grundvertrag in Kraft setzen und — was vielleicht noch entscheidender ist — mit Leben erfüllen, so wird ein zentraler Bereich des gesamteuropäischen Organismus wiederbelebt. Er ist lebenswichtig.
Berlin ist ein Nervenzentrum in diesem vitalen Bereich. Auch hier geht es um uns und zugleich um das Ganze. Wir sind uns deshalb unserer Verantwortung auch voll bewußt. Wir sind bereit, unserer Verantwortung aus dem Viermächteabkommen über Berlin nach Geist und Buchstaben gerecht zu werden. Wir teilen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten die Meinung, daß die Vertragstreue aller Beteiligten mit über den Verständigungs- und Entspannungsprozeß in Europa entscheidet.

(Beifall des Abg. Dr. Mertes [Gerolstein].)

Meine Damen und Herren, der Blick zurück auf die staatliche Einheit, die uns versagt ist, darf uns den Blick nach vorn nicht verwehren. Es ist das historische Schicksal unseres Landes, daß es sich weder vom Westen noch vom Osten abschließen kann. West und Ost brauchen seine Mitwirkung, um eine stabile Ordnung des Friedens und der Zusammenarbeit zu errichten. Dies ist ein historischer Auftrag zu aufrichtiger Zusammenarbeit, der uns gewagte Solistenrollen verbietet.

(Abg. Wehner: Sehr gut!)

Diese Jahre und auch diese Verträge, in deren Mitte für uns der Grundvertrag steht, werden einst als ein Angelpunkt unserer Zeitgeschichte erscheinen, als die Wendezeit, in der der Schatten nuklearer Bedrohung sich lichtete und als Europa begann, seinen inneren Frieden wiederzufinden.
Das ist der gemeinsame und entscheidende Hintergrund der Gesetze, über die Sie heute befinden. Ich füge nur wenige Einzelheiten zu den Gesetzen selbst hinzu.
Der Grundvertrag dient einem dreifachen Ziel.
Erstens. Er soll die Verbindung und das Gespräch zwischen den Menschen in Deutschland erleichtern. Er soll damit die Härte der Teilung mildern und das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit aller Deutschen lebendig erhalten.
Zweitens. Er soll die Voraussetzung einer Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten auf vielen Gebieten schaffen. Kontakte, die in den vergangenen Jahren immer schwieriger und spärlicher wurden oder ganz abgerissen sind, sollen neu geknüpft werden.
Drittens. Er soll den gegenwärtigen Zustand der Teilung als Konfliktherd in der Mitte Europas ent-



Bundesminister Scheel
schärfen, ohne daß wir auf das Ziel der Überwindung der Teilung verzichten.

(Abg. Wehner: Sehr gut!)

Die Schwierigkeiten bei der Verwirklichung dieses Programms unterschätzen wir nicht. Trotz aller unserer Bemühungen wird es noch lange dauern, bis wir gute und offene innerdeutsche Verbindungen haben. Wir bedauern das. Aber wir hoffen auch, daß sich die DDR auf die Dauer dem allgemeinen Niveau des Austausches und der Verbindungen anpassen wird, das zwischen Ost- und Westeuropa erreicht ist und weiter zu erreichen sein wird.
Der Grundvertrag leistet zu dieser Entwicklung einen wichtigen und notwendigen Beitrag. Er nimmt der DDR die Möglichkeit, die menschenunwürdige Abgrenzung, die sie bis jetzt praktiziert, damit zu rechtfertigen, daß wir sie isolierten.

(Abg. Wehner: Sehr gut!)

Natürlich hat sie auch künftig die Machtmittel, Reise- und Besuchsmöglichkeiten in der Praxis auf eine begrenzte Zahl von Menschen einzuschränken. Aber der Druck auf die Führung der DDR, die Hemmnisse abzubauen, nimmt mil dem Inkrafttreten des Grundvertrages und der allgemeinen Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses zu. Wir werden daher die Wirkungen des Vertrages erst später sicher beurteilen können.
Wir sind uns im klaren darüber, daß die DDR den Grundvertrag nicht nur im eigenen Interesse schließt, nämlich um Mitglied der Vereinten Nationen zu werden. Sie hat sich dabei auch den Vorstellungen ihrer Verbündeten anpassen müssen.
Auf den von Herrn Kollegen Strauß vorgetragenen Gedanken, daß unserer Ostpolitik eine sowjetische Westpolitik gegenüberstehe, sind wir gelegentlich auch schon gekommen.

(Vereinzelt Heiterkeit bei der SPD.)

Ich bin sogar auf die Vermutung verfallen, daß die Sowjetunion mit ihrer neuen Westpolitik langfristig die Machtverhältnisse nicht zu unseren, sondern zu ihren Gunsten verschieben möchte.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der Regierungsparteien. — Abg. Wehner: Natürlich!)

Deswegen kann sich unsere Politik nur aus der
engen Gemeinsamkeit des Bündnisses und der Gemeinschaft heraus entfalten. In dieser Gemeinschaft
des Handelns können wir darauf setzen, daß eine
wachsende Zusammenarbeit zwischen Ost und West
in Europa die Gegensätze entschärft und die Trennung zwischen den Menschen mildert. Natürlich sehen auch wir die Gefahr, daß die Regelung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten in der Welt draußen den Eindruck hervorrufen könnte, die deutsche Frage sei jetzt gelöst.

(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)

Deshalb haben wir nicht nur in Ost-Berlin und in
Moskau, sondern auch bei den Regierungen in aller
Welt keinerlei Zweifel an unserer Auffassung zur
nationalen Frage erlaubt. Die Bundesregierung wird
auch in Zukunft die Welt nicht im unklaren darüber lassen - auch nicht, wenn sie in der UNO auftritt —, daß sich die Deutschen mit der Teilung ihres Landes nicht abfinden werden.

(Beifall bei den Regierungsparteien und Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Im Grundvertrag wird die Teilung Deutschlands nicht als endgültig und Rechtens anerkannt. Er stellt den bestehenden, uns Deutschen gegen unseren Willen auferlegten Zustand in Rechnung, solange die Gesamtsituation in Europa eine friedliche Änderung der Lage in Deutschland nicht zuläßt. Die Bundesregierung beharrt darauf, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk seine Einheit wiedererlangt, wie wir es in unserem Brief zur deutschen Einheit in Moskau und auch jetzt im Zusammenhang mit dem Grundvertrag gesagt haben.
Es stand nicht in unserer Macht, die DDR auf das Ziel der deutschen Einheit in unserem Sinne festzulegen. Aber durch den Brief zur deutschen Einheit an die DDR wird in rechtlich gültiger Form dargestellt, daß unsere auf die Einheit gerichtete Politik durch den Grundvertrag nicht beeinträchtigt wird.
Die deutsche Nation ist eine in tausend Jahren gewachsene lebendige Realität.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Sehr richtig!)

Sie besteht unabhängig davon, ob sich die Führung der DDR dazu in einem Vertrag bekennt oder nicht, meine Damen und Herren. Wir wissen zudem, daß die SED seit dem VIII. Parteitag im Juni 1971 einen Begriff der deutschen Nation propagiert, der von ihrer Klassenideologie geprägt ist. Wir wollen und können ihn nicht akzeptieren. Unter diesen Umständen war es nur ehrlich und diente der Klarheit, Unterschiede unserer Auffassungen offenzulegen, wie es in der Präambel zum Grundvertrag geschehen ist. Damit ist klargestellt, daß es eine nationale Frage gibt und daß sie durch diesen Vertrag nicht gelöst ist.
Meine Damen und Herren, wir wollen uns keine Täuschung darüber erlauben, daß der Grundvertrag
wie andere politische Vertrage dieser Art — auch Kompromisse zwischen Parteien enthält, deren Interessen sich nicht decken. Ein solcher Vertrag kann bestehende Gegensätze in fundamentalen Fragen nicht beseitigen. Unsere Entscheidung kann daher nicht allein davon abhängig sein, ob optimale Formulierungen und Lösungen in allen Punkten gefunden wurden. Natürlich ist das nicht der Fall. Wer das verlangt, hätte solche Verhandlungen gar nicht beginnen können.
Dies aber sind die entscheidenden Fragen: Wahrt der Vertrag unsere unverzichtbaren Interessen und Rechtspositionen in der nationalen Frage? Trägt er dazu bei, das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit der Deutschen in Ost und West für die Dauer der Teilung wachzuhalten? Eröffnet er Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit, die nicht nur den Staaten, sondern auch den Menschen in beiden Teilen Deutschlands zugute kommt?



Bundesminister Scheel
Die Bundesregierung bejaht diese Fragen. Sie bittet das Hohe Haus, diesem Vertrag seine Zustimmung zu geben. Mit dieser Zustimmung steht unserem Beitritt zu den Vereinten Nationen von uns aus nichts mehr im Wege. Mit Genugtuung konnte die Bundesregierung bislang im Bundesrat und in den Ausschüssen des Bundestages Einmütigkeit über den Beitritt als solchen feststellen.
Es müssen sich offenbar über Nacht unsichtbare Umwälzungen in der weltpolitischen Lage und in der UNO abgespielt haben, denn vorgestern abend hörte man, die Opposition habe sich mehrheitlich gegen den Beitritt entschieden. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, im Bewußtsein Ihrer Verantwortung als Mitglieder dieses Hohen Hauses die Welt so zu sehen, wie sie ,ist, und nicht so, wie fraktionstaktische Überlegungen sie momentan vielleicht haben möchten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Aus der wirklichen Lage und aus der ersten Lesung im Bundestag ziehe ich das Fazit, daß ein weiteres Abseitsstehen mit dem Platz und der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft nicht vereinbar ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Sie darf in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nicht fehlen.
Die Modalitäten unseres Beitritts sind in den Ausschüssen eingehend — und in wenigen Punkten allerdings auch kontrovers — diskutiert worden. Namentlich haben alle Fraktionen des Hohen Hauses in voller Einmütigkeit die Gewährleistung der Interessenvertretung von Berlin (West) durch die Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen verlangt. Auch die Bundesregierung besteht darauf.
Wir haben mit den Drei Mächten volles Einverständnis darüber hergestellt, daß die Interessen von Berlin (West) in den Vereinten Nationen durch uns vertreten werden, soweit dadurch nicht die Sicherheit und der Status Berlins berührt sind. Das steht im Einklang mit dem Viermächteabkommen. Dieses Gesetz, wenn Sie ihm zustimmen, wird vom Land Berlin übernommen werden, so daß die Charta auch dort eines Tages gültig wird.
Die Bundesregierung wiederholt an dieser Stelle, daß sie auch nach dem Beitritt zu den Vereinten Nationen in der DDR keinen Staat sehen wird, der für uns Ausland ist. Ebensowenig beabsichtigt sie, die gegebene Zweistaatlichkeit in Deutschland als eine endgültige Lösung der deutschen Frage zu legitimieren. Die deutsche Frage bleibt offen.
In den Vereinten Nationen werden wir eng mit unseren Freunden zusammenarbeiten. Auch hier wird es heißen: Wir für Europa und Europa für uns!
Als Mitglied der Weltorganisation werden wir uns Aufgaben gegenübersehen, die unserem Gewicht, unseren weltweiten Verbindungen und Interessen entsprechen. Es sind die Mitwirkung an der Friedenssicherung, am Bemühen um Abrüstung und Rüstungskontrolle, am Ausbau der internationalen
Zusammenarbeit auf allen Gebieten: in der Entwicklungspolitik, in Fragen des Welthandels und des technischen Fortschritts, bei der Fortentwicklung des Völkerrechts und der Wahrung der Menschenrechte; ich nenne damit nur die wichtigsten Aufgaben.
Wir suchen in New York die Gelegenheit, unersetzliche Kenntnisse und Kontakte hinzuzugewinnen. Vielleicht können dort auch unsere Leistungen und Erfahrungen anderen nützlich sein. Wir sind bereit, einen vollen Einsatz zu leisten, um unserer Mitverantwortung in der Völkergemeinschaft gerecht zu werden.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf dieser Bereitschaft einen überzeugenden Ausdruck zu geben. In diesen zwei Entscheidungen wird nicht isoliert deutsches politisches Schicksal gestaltet. Diese Entscheidungen sind fest mit dem Streben Europas nach Stabilisierung des Friedens verknüpft. Das Datum dieser Entscheidung wird denkwürdig sein in der Geschichte unseres Landes, und als Europäer und Liberaler bin ich gewiß: nicht nur in der deutschen Geschichte.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703000200
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gradl.

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0703000300
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst sagen, Herr Außenminister, ich bitte es nicht als eine Mißachtung Ihrer Ausführungen zu verstehen, wenn ich jetzt nicht sofort darauf eingehe. Ich werde das im Rahmen meiner späteren Ausführungen ohnehin tun und dabei auch einige Punkte aufgreifen, die Sie in die Debatte eingeführt haben.
Zunächst liegt mir nämlich daran, noch ein Wort zu der Kritik zu sagen, die gestern abend von dem Herrn Kollegen Mattick an dem geübt worden ist, was mein Kollege Amrehn hier zum Thema Berlin gesagt hat.
Herr Kollege Mattick, ich bedauere eigentlich, daß Sie so geantwortet haben, wie Sie geantwortet haben. Sie sind mit dieser Antwort weder dem Redner noch der Sache gerecht geworden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dies ist ein harter Vorwurf, und ich will ihn kurz begründen.
Der Kollege Amrehn hat gestern abend die großen Ärgernisse und Schwierigkeiten dargestellt, die sich nun schon seit Monaten in Berlin und in bezug auf Berlin durch das Verhalten der Sowjetunion, durch das Verhalten anderer osteuropäischer Staaten und auch durch das Verhalten der DDR ergeben haben. Dies sind nicht an den Haaren herbeigezogene Vorgänge, sondern dies ist die reine Wirklichkeit, und er hat sie Punkt für Punkt hier aufgezählt. Es wird doch wohl niemand bestreiten wollen, daß man zumindest sehr begründet den Verdacht haben kann — dies ist noch sehr vorsichtig ausgedrückt —, daß hinter diesem Verhalten der östlichen



Dr. Gradl
Partner, unserer Verhandlungspartner, System steckt.
Jetzt soll hier heute über einen Vertrag entschieden werden, für eine befriedigende Berlin-Regelung nach unser aller Meinung eine im Grunde unerläßliche Voraussetzung ist, jedenfalls sein sollte. Ich brauche doch nicht daran zu erinnern, daß in Wahrheit die befriedigende Berlin-Regelung, die herbeigeführt werden sollte, die befriedigende Berlin-Situation die kardinale Voraussetzung der Vertragspolitik überhaupt gewesen ist:

(Abg. Dr. Marx: Der „Prüfstein", hieß es!)

nach unserer Meinung zuwenig, aber immerhin, sie war es. Wir haben Sie dabei unterstützt, als Sie dieses politische Junktim hergestellt haben. Nun muß man doch wohl nach den Erfahrungen, die wir jetzt machen, danach fragen dürfen: Wie steht es eigentlich mit dem Verhalten unserer Vertragspartner, von denen wir nach allem Vorausgegangenen eigentlich anderes erwarten durften?
Ich darf noch dies hinzufügen. Meinen Sie denn, uns macht es Spaß, in dieser Weise, wie es gestern abend geschehen ist und leider notwendig war, die Ärgernisse, diese höchst üblen Vorgänge in und in bezug auf Berlin hier auszubreiten, darzustellen? Meinen Sie, das macht uns Spaß? Meinen Sie, wir wüßten nicht, daß der Schuh, wenn er in Berlin drückt, nicht nur Sie, sondern auch uns drückt?

(Abg. Dr. Marx: Sehr gut!)

Meinen Sie, wir hätten es nicht gern, wenn man wenigstens feststellen könnte, daß die Situation Berlins wirklich geregelt ist, daß der Preis, den wir mit dem politischen Status minus gezahlt haben, nun durch eine unbestrittene Anerkennung der Bindungen die in den Viermächteabkommen gesichert sind oder hätten gesichert sein sollen, zwischen Berlin und dem Bund honoriert ist! Dieses Ziel und diesen Wunsch haben wir doch alle. Aber, verehrte Kollegen, wir müssen feststellen, daß dieser Zustand nicht erreicht ist.
Nun hat der Bundeskanzler selbst in einer sehr zurückhaltenden Weise, für die ich durchaus Verständnis habe, zu erkennen gegeben, daß er mit dem hohen sowjetischen Besucher, den wir in der nächsten Woche hier haben werden, mit Herrn Breschnew über Berlin sprechen wird. Dies wird er sicher nicht deshalb oder nicht nur deshalb tun, weil er mit allem zufrieden ist. Ich verstehe ja, wir alle, auch meine Freunde, verstehen, daß sich die Regierung in dieser Situation am Vorabend des Besuches eines Vertragspartners, mit dem wir Wichtiges zu tun haben, in ihren öffentlichen Aussagen zurückhält. Ich verstehe, daß sie durch ihre Zurückhaltung vermeiden will, die Ergebnisse der Gespräche — die doch positiv laufen sollen, wie wir alle wünschen — im vorhinein durch öffentliche Aussagen zu belasten, die Prestige-Hindernisse schaffen. Dies verstehen wir durchaus.
Glücklicherweise haben wir aber in diesem Land ein freies Parlament, und in einer solchen Situation, wie wir sie nun in Berlin haben, ist es doch nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht der
Opposition, die sich nicht so zurückhalten muß wie die Regierung, deutlich auszusprechen, was sich im Augenblick in bezug auf Berlin, das für uns von zentraler Bedeutung ist, gegenwärtig vollzieht. Wenn wir dies nicht täten, würden wir unsere Pflicht als Opposition in diesem Parlament einfach nicht erfüllen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Deshalb, verehrte Kollegen aus dem Regierungslager: wir verlangen ja kein lautes Lob, aber ich hätte es wenigstens für angemessen gehalten, daß Sie diese Hilfe, die die Opposition Ihnen in ihrer Weise leistet und leisten muß, in Ruhe und Stille dankbar zur Kenntnis nähmen, statt so zu antworten, wie es gestern abend geschehen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nun vorweg einige Bemerkungen zu dem, was der Herr Kollege Scheel eben gesagt hat. Er hat uns noch einmal die bekannte Wertung der Grundvertragssituation und der Perspektiven dargestellt, die die Regierung mit diesem Vertrag verbindet. Ich kann nicht sagen, daß der Vertrag, so wie er ist, und in der Landschaft, in der man ihn sehen muß, dadurch für mich überzeugender geworden ist. Aber darauf werde ich nachher besonders unter dem Gesichtspunkt eingehen, welche Beziehung der Grundvertrag zur nationalen Zusammengehörigkeit, zur nationalen Einheit der Deutschen hat. Zuvor will ich zwei oder drei andere Dinge in Kürze sagen.
Erstens. Herr Bundesaußenminister, Sie haben hier sehr für die Zustimmung zu Ihrem Gesetzentwurf zum Beitrittsantrag der Bundesrepublik Deutschland an die Vereinten Nationen gesprochen. Sie haben in dem Zusammenhang etwas pathetisch gesagt, wir sollten durch diese Zustimmung zum Ausdruck bringen, daß wir — so war es jedenfalls dem Sinne nach — alles tun werden, um auch zu unserem Teil der Charta der Vereinten Nationen zur Verwirklichung zu verhelfen. Das haben Sie vor allen Dingen zu uns gesagt, von denen Sie annehmen, daß wir in mehr oder minder großer Zahl in diesem Augenblick Gegner des Antrages sind.
Lassen Sie mich dazu folgendes sagen. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß wir — das bitte ich doch nun einmal zu begreifen — genauso wie Sie selbstverständlich ein dringendes Verlangen haben, die Charta der Vereinten Nationen und alles, was dazugehört, insbesondere den Menschenrechtskatalog, überall zu verwirklichen. Wir werden unseren Teil dazu beitragen, wie bisher auch in Zukunft, wo immer wir es tun können, ohne die Grenzen zu überschreiten, die uns objektiv nun einmal gesetzt sind. Dieses Anrufes bedarf es also nicht. Ich bitte, an dieser Einstellung meiner Seite in diesem Hause, der CDU/CSU, keinen Zweifel zu haben oder zu äußern.
Bei der Auseinandersetzung — die wir in unseren Reihen offen geführt haben —, ob es nämlich in diesem Augenblick richtig ist, dem Beitrittsantrag zu den Vereinten Nationen zuzustimmen, geht es um etwas ganz anderes. Ich will das jetzt nicht im einzelnen ausbreiten, denn im Laufe der Debatte wird das einer meiner Freunde noch gesondert tun.



Dr. Gradl
Ich will nur jetzt schon folgendes klarstellen: Ich nehme an, Herr Außenminister, Sie haben für folgende Fragestellung Verständnis. Man kann an den Gesetzentwurf zum Beitritt zur Charta der Vereinten Nationen unter zwei Gesichtspunkten herangehen. Man kann es tun in der Überzeugung, mit dem Willen und mit dem Glauben, daß die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie der Charta der Vereinten Nationen beitritt, dadurch neue Möglichkeiten erhält, ihre nationalen und internationalen Interessen und Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Dies ist ein Gesichtspunkt, zumal auch der Ihrige. Aber ich bitte zu verstehen, daß man die Sache auch ganz anders betrachten kann. Der Beitrittsantrag ist mit dem Zugang der DDR zu den Vereinten Nationen gekoppelt. Da ist es doch legitim und notwendig, bei der besonderen, durch Spaltung bestimmten Lage unseres Landes sich die Frage zu stellen, ob es angesichts des Verhaltens und der Selbstdarstellung der DDR heute gerade auch im Zusammenhang mit dem Grundvertrag richtig und vertretbar ist, der DDR so, wie sie ist und handelt — ich betone das —, mit unserem Antrag den Zugang zu den Vereinten Nationen zu öffnen. Das ist die andere Möglichkeit die Sache zu betrachten. Ich betrachte sie so; andere Kollegen ziehen die andere
Betrachtungsweise vor. So werden wir uns - jeder
nach seiner eigenen Überzeugung - in dieser Frage
entscheiden.
Eine zweite Bemerkung, Herr Außenminister. Sie haben uns entgegengerufen: Man darf nicht nur vom Frieden reden, sondern man muß auch im Sinne des Friedens handeln. Ja, du lieber Himmel, ist das eigentlich die Frage, die zwischen uns steht? Das ist doch keine ernsthafte Frage. Haben wir etwa nicht Friedenspolitik gemacht, als wir die Verantwortung für die deutsche Politik 20 Jahre lang hatten! Waren wir es denn, die die internationalen Krisen um Berlin und Deutschland herbeigeführt haben? Haben wir und Sie mit uns nicht alle unser Volk immer wieder zur Geduld gemahnt? Haben wir nicht sogar an jenem tragischen 17. Juni 1953 die Menschen zur Geduld gemahnt? War dies denn nicht ein Handeln für den Frieden? Muß man uns also sagen, man dürfe nicht nur vom Frieden reden, sondern müsse auch für den Frieden handeln? Nein, dies ist doch nicht die Frage.
Es geht vielmehr darum, ob eine konkrete Politik in einer konkreten Situation geeignet ist, auf die Dauer den Frieden zu sichern und zu stabilisieren.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das ist die Frage!)

Das ist die eigentliche Frage. Darüber kann man streiten, und darüber werden wir notfalls streiten. Einer der tiefen Zweifel, die wir z. B. an diesem Grundvertrag haben, ist der, ob dieser Vertrag wirklich dazu führen wird, daß es hier in Deutschland im Sinne des Friedens zu einer dauerhaften, wirklichen Entspannung kommt.
Nun darf ich aber das Thema, über das zu reden ich mir vorgenommen hatte, nämlich das Thema des Verhältnisses zwischen Grundvertrag und nationaler Zusammengehörigkeit, nationaler Einheit, behandeln und darauf noch einmal Ihre Aufmerksamkeit lenken. Es hat auch in Ihren Ausführungen, Herr Außenminister, eine wesentliche Rolle gespielt. Da ich den Vertrag gerade auch unter diesem Gesichtspunkt — nicht nur unter diesem Gesichtspunkt — kritisch betrachte, möchte ich zugleich für meine Freunde zunächst vorausschicken: Alle Kritik, die wir jetzt und im folgenden an diesem Grundvertrag üben, hat nichts damit zu tun, daß überhaupt ein Vertrag mit der DDR geschlossen wird. Unsere Bereitschaft, Verhandlungen zu führen und Vereinbarungen zu treffen, ist alt. Sie ist 1968 in Berlin ausdrücklich in das Programm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands aufgenommen worden. Im übrigen haben wir unsere Vertragsbereitschaft mit unserer Zustimmung zum Verkehrsvertrag im September vorigen Jahres konkret bewiesen.
Meine Damen und Herren, uns allen ist das Ziel gesetzt und die Aufgabe gestellt, die Einheit des deutschen Volkes in freier Selbstbestimmung wiederherzustellen. Wann und wie das geschehen wird, darüber macht sich keiner Illusionen. Dies bleibt aber unser Ziel; die Aufgabe ist gestellt. Diese Aufgabe rührt nicht, wie gelegentlich bösartig unterstellt wird, aus nationalistischem Antrieb her. Sie ist in der Tat von dem Recht mit bestimmt, das allen Völkern zusteht, sich in Einheit zu verwirklichen. In unserem auf so schreckliche Weise gespaltenen Lande ist diese Aufgabe „Einheit in freier Selbstbestimmung" aber zugleich und in besonderer Weise ein Auftrag der Menschlichkeit und — nicht zu vergessen — auch ein Auftrag zur Demokratie in Deutschland; ich betone: in Deutschland, nicht nur in einem Teil Deutschlands.
Diese dreifach bestimmte Aufgabe, die uns gestellt ist und der wir uns nicht entziehen dürfen und können, ist, so meinen wir, ein entscheidender Maßstab, an dem der Grundvertrag politisch zu werten ist. Alle wesentlichen Probleme, die zwischen den beiden Teilen Deutschlands stehen, sind doch aus der widernatürlichen Zerreißung unseres Landes entstanden — widernatürlich, weil das deutsche Volk als Ganzes nie frei darüber bestimmen konnte, ob es in Einheit oder geteilt leben wollte, widernatürlich, weil — dies darf man ab und zu ja wohl noch in Erinnerung rufen — die andersartige Entwicklung des damaligen sowjetischen Besatzungsbereichs der Bevölkerung mit List und Gewalt aufgezwungen worden ist. Muß man überhaupt an die Geschehnisse um die erzwungene Vereinigung von SPD und KPD erinnern? Muß man an den Terror gegen alle freiheitlichen Demokraten, an den sowjetischen Machtspruch damals gegen die CDU-Führung unter Jakob Kaiser erinnern?
Demgegenüber stehen nicht wegzuleugnende Beweise dafür, daß die Menschen sich nach wie vor als zusammengehörig verstehen und zusammengehören wollen. Das haben sie vor 20 Jahren am 17. Juni in einer dramatischen Weise, waffenlos vor den Panzern der stärksten Militärmacht des Kontinents, deutlich gemacht. Das haben sie bei dem Besuch des Bundeskanzlers in Erfurt in der Weise gezeigt, die ihnen möglich war. Diese Zusammengehörigkeit, dieses Zusammengehören-Wollen wird doch im



Dr. Gradl
Grunde auch durch die massive, ja blutige Abgrenzungspraxis bestätigt, die die DDR benötigt oder jedenfalls zu benötigen glaubt.
Meine Damen und Herren, diese Verweigerung der nationalen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ist ein Herd steter, wenn auch zumeist latenter Spannung. Ich gebe dem britischen Botschafter in Bonn recht, der über alles vordergründige Geschehen hinweg und durch es hindurch neulich als Auffassung seiner Regierung festgestellt hat, sie betrachte die Teilung Deutschlands als unvereinbar mit einer dauernden Sicherheit in Europa. Er hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen und zugleich — natürlich ungewollt — zum Ausdruck gebracht, wie wichtig die Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Grundvertrag und der nationalen Einheit ist.
Nun zu diesem Thema ganz konkret. Nach dem Willen der Vertragspartner soll der Grundvertrag ja nicht nur Einzelfragen regeln. Im Gegenteil, die meisten hat er weggeschoben. Sondern er soll, wie es auch sein Name sagt, Grundlagen schaffen, er soll also fundamentalen Charakter haben.
In diesem Vertrag wird der DDR-Staat gleichrangig und unabhängig neben die Bundesrepublik Deutschland gestellt. Dies sei ganz objektiv als Faktum festgestellt. Aber daraus ergibt sich natürlich unumgänglich die Frage, ob der Vertrag nicht in Wirklichkeit die Spaltung verfestigt.
Der Grundvertrag gesteht der DDR alle Attribute der Eigenstaatlichkeit zu, alle Attribute, auf denen die DDR seit langem besessen bestanden hat, sehr unterstützt von der Sowjetunion. Alle Formeln des Moskauer Vertrags kehren in dem Grundvertrag wieder, nunmehr ausgeformt und expressis verbis auf die DDR bezogen: „Gleichberechtigung" in Art. 1, „souveräne Gleichheit" in Art. 2, „Unabhängigkeit und Selbständigkeit ... in ... inneren und äußeren Angelegenheiten" in Art. 6. Hier ist eine der Wurzeln der tiefen Besorgnis, daß tatsächlich die Spaltung sozusagen vertraglich fundiert wird. Damit wird eben die Frage zwingend, wie denn in diesem Vertrag die Einheit der Nation festgehalten ist.
Die erste Antwort, meine Damen und Herren, ist: Der Vertragspartner DDR hat sich einer Verpflichtung auf fortbestehende Einheit der Nation und Zusammengehörigkeit der Deutschen entzogen. Der ganze Vertrag einschließlich seines Beiwerks enthält nicht eine einzige DDR-Aussage auch nur im Sinne festzuhaltender nationaler Einheit.
Ich brauche diese Feststellung jetzt nicht im einzelnen darzulegen und zu begründen. Da kann ich auf das verweisen, was sehr gründlich in dem Bericht des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen, der dem Hohen Hause vorliegt, gesagt worden ist.
Der einzige Hinweis auf die Nation — er findet sich in der Präambel — steht in einem negativen Zusammenhang, nämlich dort, wo von den „unterschiedlichen Auffassungen" beider Seiten „zu grundsätzlichen Fragen" gesprochen wird. Damit ist dieser Hinweis auf die nationale Frage politisch entwertet.
Der Briefwechsel über die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte vermeidet sogar peinlich das Wort „Deutschland" und enthält übrigens nicht deutsche, sondern alliierte Vorbehalte. Aber hier haben wir es ja doch mit einem Vertrag unter Deutschen zu tun.
Die generelle Aussage, daß früher abgeschlossene internationale Verträge und Vereinbarungen beider Seiten nicht berührt werden — Art. 9 —, schafft weder formell noch materiell eine gegenseitige nationale Bezogenheit.
Allerdings hat die Bundesregierung, worauf heute auch der Herr Außenminister hingewiesen hat, einen Brief zur Einheit an die DDR-Regierung geschrieben und damit ihren nationalpolitischen Vorbehalt gemacht. Es widerspräche dem nationalen Interesse, diesen Brief etwa abzuwerten. Das ist nicht entfernt unsere oder meine Ansicht. Aber dieser Vorbehalt ist eben einseitig.
Das heißt also in summa: Bestätigung der Eigenstaatlichkeit der DDR im Übermaß, Fehlen gegenseitiger ausdrücklicher nationaler Bindung. Das ist
der Sachverhalt. Schon deshalb hätte die Bundesregierung den Vertrag so nicht paraphieren und schon gar nicht unterschreiben dürfen.
Die Regierung hat nachgegeben. Sie hat das ganz sicher höchst widerwillig getan. Aber sie hat nachgegeben, wo sie nicht hätte nachgeben dürfen. Ich kenne dieses Argument, besser ehrlich nichts zu sagen, als eine Aussage zu machen, von der beide Seiten wissen, daß sich jeder etwas ganz anderes darunter vorstellt. Aber, verehrte Kollegen, dieses Argument überzeugt nicht. Es wäre noch verständlich, wenn eine Verständigung auf eine bestimmte Art von Einheit oder auf einen bestimmten Weg zur Einheit verlangt worden wäre, etwa nach den Vorstellungen der fünfziger Jahre. Aber dies ist nicht verlangt worden, und dies wäre unrealistisch. Wir haben dies auch nie verlangt, genauso, Herr Außenminister, wie niemals ein Verantwortlicher, bei uns jedenfalls, gesagt hat, wir erwarteten von diesem Grundvertrag, daß er uns die Wiedervereinigung Deutschlands bringe. Für welche Illusionisten halten Sie uns eigentlich? Auch wir kennen schließlich die Welt, wie sie ist.
Die Frage, urn die es geht, ist, ob dieser Vertrag, so wie er ist, und in den Zusammenhängen, in denen er steht, geeignet ist, den Weg zu ebnen, ob man nicht eher besorgt sein muß, daß er das Gegenteil tut. Dies allein ist die Frage und sonst gar nichts. Die Tatsache, daß es verschiedene Vorstellungen von künftiger Einheit gibt, brauchte man, wenn man eine Bindung herstellen wollte, gar nicht zu verleugnen. In dem Vertrag hätte wenigstens die gegenseitige Bindung an die Zusammengehörigkeit der Nation zum Ausdruck gebracht werden müssen, was sogar die Kommunisten Nordkoreas fertiggebracht haben. Ich zitiere aus der Erklärung vom 4. Juli 1972:
Die beiden Seiten kamen überein, einen vielseitigen gegenseitigen Austausch auf zahlreichen Gebieten zwischen dem Norden und dem
Süden zu verwirklichen, um die nationalen Bin-



Dr. Gradl
dungen wiederherzustellen, die jetzt unterbrochen sind.
Warum eigentlich sollte das, was da möglich war, nicht auch in Deutschland für deutsche Kommunisten möglich sein?
Nun sagen die Vertreter der Regierung, derartiges sei nicht zu erreichen gewesen. Auch Herr Kollege Heyen hat dies gestern hier gesagt. Aber dann hätte die Bundesregierung eben ganz deutlich machen müssen, daß der Vertrag unter solchen Umständen nicht zustande kommt. Argumente, warum man auf dem eigenen Standpunkt verharren muß, gab es doch genug, auf unserer Seite ohnehin. Aber ich will jetzt nicht zuviel zitieren. Man hätte natürlich auf die Verfassung der DDR hinweisen können, in der immerhin noch von der Überwindung der Spaltung Deutschlands die Rede ist, auch wenn die Spaltung selber hier ganz anders begründet wird, als wir sie begründen.
Die Bundesregierung hätte sich auch auf Walter Ulbricht berufen können. Der wird heute drüben zwar in die Vergessenheit versenkt, aber eine Aussage von Walter Ulbricht ist nun einmal eine Aussage eines ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED und eines Vorsitzenden des Staatsrates der DDR. Dieser Walter Ulbricht hat zum zwanzigsten Jahrestag der Zwangsvereinigung KPD/SPD am 29. März 1973 im „Neuen Deutschland" folgendes geschrieben:
Es ist purer Unsinn, - so Ulbricht -
wenn westdeutsche Politiker behaupten, die SED sei für eine Zweistaatentheorie ... Die marxistische deutsche Arbeiterbewegung hat seit ihrer Gründung durch Marx und Engels für die Einheit Deutschlands gekämpft. Niemals haben die Marxisten behauptet, daß das Bestehen verschiedener antagonistischer Klassen in Deutschland die Teilung Deutschlands zur Folge haben müsse.
Ein bemerkenswertes Zitat, auch im Hinblick darauf, daß die SED ihre Spaltungspolitik, ihre totale Abgrenzungspolitik jetzt mit dem Klassenseparatismus begründet.
Ich wiederhole also: Der Vertrag hätte ohne eine gemeinsam ausgesprochene Bindung an die nationale Zusammengehörigkeit nicht unterschrieben werden dürfen.
Nun sagt die Regierung: ja, der vorliegende Text sei eben das jetzt Mögliche oder — wie der Kollege Heyen sagte — das jetzt Erreichbare. Aber lassen Sie mich deutlich sagen: So kann man nur urteilen, wenn man die Interessenlage der DDR völlig verkennt. Der Grundvertrag sollte der DDR nach ihrem eigenen und dem sowjetischen Willen den Weg zur internationalen Anerkennung und Aufwertung freimachen. Es ist richtig -- was von Regierungsseite gesagt wird , daß die DDR schon vorher eine Serie von völkerrechtlichen Anerkennungen durch dritte Länder erreicht hat. Aber der DDR kam es doch entscheidend darauf an, von den NATO-Mächten - und hier insbesondere von den drei westlichen
Siegermächten anerkannt zu werden und darüber
hinaus den vollen Zugang zu den Vereinten Nationen zu bekommen.

(Abg. Dr. Marx: Sehr wahr!)

Das war ihr eigentliches entscheidendes Anliegen. Wenn das so ist — und so ist es —, dann mußte die DDR doch auch wissen — und sie wußte das natürlich —, daß sie das nur erreichen konnte, wenn die Bundesregierung den Weg dazu freigab. Denn daran zweifelt doch wohl niemand, daß auf Grund des Art. 7 des Deutschland-Vertrages gegen unseren Willen der Weg nicht freigegeben worden wäre.
Die Bundesregierung hatte also auch in dieser fortgeschrittenen Phase Trümpfe in der Hand, Trümpfe, deren Wirkung sich die DDR nicht hätte entziehen können und mit Sicherheit nicht entzogen hätte, zumal nicht angesichts dessen, was sie erreichen wollte. Nur hätte eben die Bundesregierung hart und zäh weiterverhandeln müssen statt voreilig abzuschließen. So ist es dazu gekommen, daß in diesem wesentlichen Punkt nicht nur nicht das Mögliche erreicht worden ist, sondern nicht einmal das Minimum des Nötigen.
Nun soll bei meiner Kritik gar nicht außer acht bleiben, daß die Bundesregierung — wie seinerzeit schon Bundeskanzler Kiesinger — vorrangig von dem Willen geleitet ist, den Deutschen das Näherrücken und Zusammenkommen im Alltag, in den menschlichen und sachlichen Bereichen möglich zu machen. Im Vorwort des Berichtes der Bundesregierung über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 28. März 1973 heißt es:
Nur wenn wieder durch die alltägliche Praxis der Begegnung und der Kommunikation das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit erhalten und weiterentwickelt wird, dienen wir der Einheit der Nation.
Richtig, darüber gibt es an sich keine Meinungsverschiedenheit. Auch wir wissen: die spalterische Haltung der DDR zwingt dazu, daß man in einem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf nationale Zusammengehörigkeit einerseits und dem Streben nach Annäherung für die Menschen andererseits operieren muß.
Aber — aber! — für das unvermeidliche politische Agieren zwischen diesen beiden Polen gibt es eine nationalpolitische Grenze, die man nicht überschreiten soll und nicht überschreiten darf. Der Anspruch auf nationale Zusammengehörigkeit darf nicht ausgehöhlt werden oder gar verlorengehen. Sonst würde - ich spreche betont konjunktivisch — die Gefahr übergroß, daß wir am Ende beides verlieren, nämlich mit dem nationalen Anspruch auch den Anspruch auf innerdeutsche humanitäre Begegnung und sachliche Kooperation. Denn dann ließe man die DDR politisch und rechtlich in die Distanz eines fremden Landes entgleiten. Dieser Punkt ist so wichtig, daß in diesem Vertrag eine gegenseitige Bezogenheit auf das nationale Ganze hätte erreicht werden müssen. Ließe man -- es sei noch einmal betont -- die DDR in die Distanz eines fremden Landes entgleiten, gäbe es für uns auf die Dauer ihr gegenüber ebensowenig einen realistischen An-



Dr. Gradl
Spruch auf besondere Begegnungsfreiheit und Kommunikation wie beispielsweise gegenüber der Sowjetunion.
Da die nationale Einheit im Vertrag nicht als Grundlage, nicht als gemeinsamer Bezug fixiert werden konnte, stellt sich um so mehr die Frage, ob und wie das menschliche und sachliche Zueinander erreicht, entwickelt und gesichert ist. Diese Frage kann man auch so vereinfachen: ist es in dem Vertrag wenigstens gelungen, das politische Minus durch ein menschliches Plus zu überholen? Darauf muß man leider sagen: auch das ist nicht gelungen. Ich will hier nicht wiederholen, was dazu bereits gesagt worden ist und heute sicher noch hinzugefügt werden wird.
Der Vertrag ist in allem, was die menschlichen Begegnungen und die sachliche Kooperation angeht, ein Torso. Der Art. 7 enthält nur Grundsätze, das Zusatzprotokoll enthält nur Bereitschafts- und Absichtserklärungen. Die Dinge, die bisher erreicht sind, sind unsicher, wie wir z. B. bei den Auseinandersetzungen über die journalistische Arbeit gesehen haben. Wir haben darauf in Aktuellen Stunden hingewiesen. Infolgedessen muß man sagen, daß ein gesicherter, präziser Ausgleich nicht erreicht worden ist. Die Verwirklichung der menschlichen und sachlichen Themen ist nicht präzisiert und damit nicht gesichert. Es ist keine zuverlässige Aussicht gegeben — geschweige denn gesichert —, daß der Begegnungsverkehr von Ost nach West auch nur stufenweise normalisiert wird. Nach wie vor hat sich nichts daran geändert, daß die Menschen drüben 60 oder 65 Jahre alt werden müssen, um einmal an den Rhein oder in die Alpen zu fahren oder — um es anders auszudrücken — um die Heimat von Herrn Honecker an der Saar oder die Geburtsstadt von Karl Marx an der Mosel besuchen zu können.
Meine Damen und Herren, bei dieser Sachlage kann man sich auch nicht mit einer Antwort beruhigen, die der Bundeskanzler vor einiger Zeit gegeben hat. Er ist von einem skeptischen Journalisten gefragt worden, ob man für die Folgeverträge mit einem entgegenkommenden vernünftigen Verhalten der DDR rechnen könne. Darauf hat er die Antwort gegeben: „Dann wird es eben keine Verträge geben." Aber dies ist doch wohl kein Druckmittel gegen jemanden, der wie die DDR offenbar nicht auf solche Verträge mit Substanz versessen ist.
Zum Schluß folgende Bemerkung. Die Bundesregierung will diesen Grundvertrag im größeren Zusammenhang ihrer Politik gesehen wissen. Sie gebraucht gern die Formel vom Gegeneinander über ein Nebeneinander zum Miteinander. Sie offenbart damit eine Hoffnung auf das Entstehen einer neuen friedlichen Dynamik auf lange Sicht, die schließlich auch die deutsche Situation heilen wird. Über diese Hoffnung, die Wege zu ihrer Verwirklichung und die Hindernisse werden wir in Zukunft noch viel nachzudenken und zu reden haben. Im Augenblick aber, unter dem Gesichtspunkt Grundvertrag, muß man sagen: Über diese politischen Zukunftserwartungen in einem so schwierigen Gesamtzusammenhang läßt sich streiten, läßt sich Zuverlässiges nicht sagen. Jedenfalls sind sie zu vage, als daß man auf ihnen eine Entscheidung über einen so wichtigen und riskanten Vertrag wie den Grundvertrag aufbauen könnte.
Zweitens. Wie es auch mit den deutschlandpolitischen Spekulationen stehen mag: immer muß sich doch die Nation auf einen langen, mit Hindernissen und Risiken schwer befrachteten Marsch einstellen. Für diesen Marsch aber ist der Grundvertrag keine gute, sondern eine schlechte Ausrüstung.
Nach alledem — so darf ich zusammenfassen — ist es also kein Wunder, daß dieser Vertrag in der Welt die Meinung nährt und bestärkt, nunmehr werde ein Schlußstrich unter die deutsche Einheit gezogen. Dies geschieht ja gerade auch in der politischen Publizistik der verbündeten Welt. Herr Außenminister, zugegeben — das bestreiten wir gar nicht, wir wissen, daß das auch Ihre Überzeugung ist —, Sie stellen bei den anderen Regierungen klar, daß diese gesamte Politik und auch ein solcher Vertrag in keiner Weise verstanden werden darf als eine Art deutscher Friedensschluß mit der Teilung. Aber trotz allem, was Sie sagen und was wir sagen, wird eben auch dieser Vertrag weithin in der Welt so verstanden.
In dieser Situation hat eine Opposition eine ganz besondere Pflicht. Wenn die Bundesregierung meint, ihre Grundvertragspolitik trotz aller Risiken und Mängel betreiben zu sollen, dann ist es die Aufgabe der Opposition, den nationalpolitischen Kontrapunkt zu setzen. Sie muß dann ihr Votum abgeben gegen alle inneren und äußeren Fehldeutungen des Willens zur Nation. Das Nein der Union ist das Nein der Repräsentanz nahezu der Hälfte der Wählerschaft der Bundesrepublik. Es verdeutlicht also, daß die deutsche Situation mißverstehen würde, wer aus der jetzigen Politik auf eine willentliche Preisgabe des Anspruchs auf ungeteilte nationale Selbstbestimmung schließen würde.
Es gibt viele Gründe für ein Nein zum Grundvertrag. Ein entscheidender ist, mit diesem Nein als Opposition nachhaltig zu bekunden, daß auf jeden Fall wir Deutsche — und ich nehme da natürlich keine Gruppe in diesem Hause aus — festhalten an einer von uns selbst zu bestimmenden Einheit unseres Volkes.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703000400
Das Wort hat Herr Abgeordneter Höhmann.

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703000500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gradl ist zum Schluß etwas pathetisch geworden. Ich finde, etwas Pathos schadet einer solchen Debatte eigentlich auch nichts. Nur ist ein solches Pathos auch geeignet, die Gesamtsituation etwas zu vernebeln. Davor aber sollten wir uns, glaube ich, alle hüten.
Selbstverständlich, Herr Kollege Dr. Gradl, hat die Opposition das Recht und auch die Pflicht, auf Mißstände, die sie entdeckt hat, aufmerksam zu machen, die Regierungskoalition anzutreiben. Selbstver-

Höhmann
ständlich will auch, wenn die Opposition hilfe bietet, niemand eben solche Hilfe ablehnen. Nur müssen wir uns doch auch einmal fragen, wenn hier schon Zustände in und um Berlin kritisiert werden, wer das tun darf. Und wenn das dann Leute tun, die einer Partei angehören, die uns seinerzeit — schön, der Kollege Amrehn hat dies auch zugestanden — während der Ausschußbesprechungen einmal unterjubeln wollten: „Warum können denn die Berliner nicht auch mit ihrem Personalausweis dahin fahren?", weil ihnen der deutsche Paß verweigert wurde und weil dies dann auch noch vertraglich festgelegt war, so muß ich sagen, diese Leute können doch dann nicht herkommen und uns sagen, was um Berlin schlecht ist, und uns gegenüber Vorwürfe erheben, nachdem man seinerzeit in sehr vielen Verträgen Berlin überhaupt nicht berücksichtigt hatte.
Ich finde, es war ganz sicher ein Stück zu weit gegangen, wenn ein Zweifel daran geäußert wird, ob dieser Grundvertrag geeignet sei, den Frieden zu sichern, wenn gefragt wird, ob er nicht vielmehr die Spaltung Deutschlands verfestige. Hier werden doch also Ursache und Wirkung völlig verkannt. Es ist doch nicht der an der Spaltung schuld, der feststellt, daß Deutschland gespalten ist. Die Spaltung haben andere Leute herbeigeführt. Nur, wir kommen doch nicht über den Tatbestand der Spaltung hinweg, indem wir uns anheischig machen, sie nicht sehen zu wollen. Die Spaltung ist da, und sie ist deshalb auch ganz selbstverständlich in Verträgen angesprochen.
Wenn man dann hört, daß, weil nun im Vertrag gesagt wird, man gehe von der Gleichheit und der Gleichberechtigung und der Souveränität der beiden Staaten aus, wir die Gleichheit und Souveränität und Gleichberechtigung der DDR herstellen würden, so sage ich dazu: das ist doch überhaupt nicht wahr. Die DDR ist längst ein Staat, und das alles hat sich gegen unseren gemeinsamen Willen vollzogen. Wer die Themen anspricht, ist nicht derjenige, der sie verursacht hat.
Wenn wir hier so in der Form einer tibetanischen Gebetsmühle die alten Verse wiederholen, die ich eigentlich schon kenne, seitdem ich im Deutschen Bundestag bin, nämlich man müsse darauf hinarbeiten, daß die Einheit des deutschen Volkes in freier Selbstbestimmung herzustellen sei, so kann ich eigentlich nur noch müde lächeln,

(Zuruf des Abg. Dr. Gradl und weitere Zurufe von der CDU/CSU: So?)

— weil wir, Herr Kollege Gradl, dies seit zig Jahren sagen und heute davon weiter entfernt sind als damals, als ich das zum erstenmal hörte. Ich finde, es ist überhaupt keine großartige rhetorische Leistung, wenn man sagt, wir wollen die Einheit in freier Selbstbestimmung wiederherstellen, aber nichts dafür tut. Wir haben uns ein paar Jahrzehnte in Deklamationen erschöpft und haben Protestaktionen gestartet. Nur hat das niemand zur Kenntnis genommen — schon gar nicht diejenigen Leute, die wir eigentlich damit hätten ansprechen müssen.

(Abg. Frau Berger [Berlin] : Wie gehen Sie nur mit dem Grundgesetz um?)

-- Das ist doch keine Frage des Grundgesetzes, liebe Frau Kollegin Berger. Hier kommt es darauf an, ob ich mich in solchen Sprüchen erschöpfe oder ob ich wirklich etwas zur Überwindung der Situation tue. Und bisher hat man sich in Sprüchen erschöpft.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das hat auch gestern der Herr Kollege Strauß trotz seiner beinahe infernalischen Beredsamkeit nicht aus der Welt schaffen können.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Ich habe schon von Amokläufern gehört, aber gestern habe ich zum erstenmal einen Amokredner leibhaftig vor mir gesehen,

(Zurufe von der CDU/CSU)

so eine Art Billy Graham der CDU/CSU-Fraktion in der Form eines Maschinengewehres.

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD.)

Ich habe dabei an den Spruch denken müssen, den Sie auch jeden Tag sehen, wenn Sie hier im Hause den Eingang IV benutzen, denn den hat unser Pförtner dort hängen. Da steht: Vor Öffnung des Mundes bitte Gehirn einschalten. Das hat ab und zu gefehlt.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aber, aber! Wahnsinnig witzig!)

Ich will noch einige Dinge, die auch in dieser Debatte gesagt worden sind, zurechtzurücken versuchen. Es ist die Klage gekommen, man habe doch dem Ausschuß und insbesondere der CDU/CSU nicht genügend Zeit zur Beratung gelassen. Dies muß ich in aller Form ganz deutlich und energisch zurückweisen. Es war nicht, Herr Kollege Jäger, eine zusätzliche Sitzung angeboten worden, sondern eine ganze Woche. Uns ist nachher gesagt worden: Leider konnten wir die Termine nicht annehmen, weil wir gerade Kommunalwahlkampf in Baden-Württemberg hatten!
Dazu muß ich aber sagen: Wenn man schon behauptet, dies sei eine entscheidende Frage für das deutsche Volk, dann ist eine Wahlrede im Wahlkampf Baden-Württemberg sicher den Beratungen hier im Deutschen Bundestag unterzuordnen. Wird diese Meinung nicht geteilt, wird man uns gestatten müssen, solche Ausführungen nicht ernst zu nehmen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Frau Berger [Berlin] : Das stimmt doch gar nicht! — Abg. Reddemann: Dazu muß man etwas sagen, Herr Höhmann!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703000600
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703000700
Ja.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703000800
Herr Kollege Höhmann, gestatten Sie mir die Frage: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß uns Ihre Kollegen im Innerdeutschen Ausschuß seinerzeit Sitzungen in einer solchen Woche angeboten haben, in der nur ein einziger Tag, nämlich der Montag, als Sitzungstag
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 30, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973 1555
Jäger (Wangen)

für den Ausschuß zur Verfügung stand? Der Hinweis auf eine ganze Woche ist also theoretisch; in der Praxis verkürzte sich das auf einen einzigen Tag. Gerade an diesem Ausschußtag tagte der Bundesparteiausschuß der CDU, und bisher war es Gepflogenheit der Parteien, gegenseitig auf solche größeren Veranstaltungen Rücksicht zu nehmen.

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703000900
Ich nehme Ihre etwas längere Frage gern zur Kenntnis, muß aber sagen: Es ist in der Tat nicht nur ein Tag angeboten worden, sondern eine ganze sitzungsfreie Woche. Über diese Tatsache kann auch Ihre Behauptung nicht hinwegtäuschen, weil Sie damals zu jener Sitzung hätten gehen müssen, hätte auch der Montag nicht genommen werden können. Warum dann nicht der Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sonnabend? Das ist doch nur eine Ausrede.

(Abg. Reddemann: Darauf kommen wir zurück!)

— Ja, natürlich. Man kann in dieser Weise, nämlich man habe so schrecklich unter Zeitdruck gesessen, nicht argumentieren, wenn das Angebot in aller Offenheit unterbreitet worden ist. Jedenfalls waren
die Kollegen der Koalition bereit, dies zu tun; Sie haben es abgelehnt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703001000
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703001100
Bitte!

Dr. Karl Miltner (CDU):
Rede ID: ID0703001200
Wenn Sie das alles so beanstanden, Herr Kollege, halten Sie es dann für richtig und angemessen, daß gerade jetzt während dieser Beratungen der Haushaltsausschuß tagt?

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703001300
Herr Kollege, ich bin weder im Ältestenrat noch im Präsidium dieses Hohen Hauses, bekleide also ganz offensichtlich — wenn Sie auch nicht Mitglied dieser Gremien sind, können Sie es auch nicht entschieden haben — die gleiche hohe Stellung wie Sie. Warum Sie mich danach fragen, ist mir etwas schleierhaft.
Ich habe den Eindruck, daß die Auseinandersetzungen über den Grundlagenvertrag schon so lange gedauert haben und daß die Argumente schon so weit bekannt sind, daß man kaum noch die Hoffnung haben kann, etwas Neues zu hören. Es scheint aber notwendig zu sein, daß wir den Versuch unternehmen, vor der Öffentlichkeit noch die Motive der Fraktionen, der Koalition, der Opposition und der Regierung, die hinter der Zustimmung oder Ablehnung dieses Grundlagenvertrages stehen, herauszuarbeiten.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, daß dieses Vertragswerk nicht das Endziel, der Gipfelpunkt, aller unserer Wünsche und Sehnsüchte ist. Um das klarzustellen, möchte ich das, was der Bundeskanzler am 21. Dezember anläßlich der Vertragsunterzeichnung gesagt hat, zitieren:
Der Vertrag wird nicht, jedenfalls nicht über Nacht, die Last von uns Deutschen nehmen, die wir als Ergebnis des zweiten Weltkrieges und der Spaltung Europas tragen. Er räumt nicht auf einmal die Barrieren fort, die uns voneinander trennen, aber er öffnet doch Wege, die lange verschlossen waren. Die Beseitigung von Mauer und Stacheldraht, die wünschenswerte Freizügigkeit — dies und manches andere bringt der Vertrag nicht. Um dieses werden wir uns weiter zu bemühen haben, hartnäckig und mit Geduld.
Ich finde es, nachdem dies von Anfang klar war, unverständlich, wenn sich Redner der Opposition hier hinstellen und schon jetzt die Erfüllung dessen verlangen, was der Vertrag erst bringen soll. Es hat doch überhaupt keinen Sinn, zu sagen, wir wollen diesen Vertrag zwar ablehnen, aber der „kleine Grenzverkehr" für die Menschen diesseits und jenseits dieser Grenze müßte am besten schon im Gange sein.
In diesem Zusammenhang habe ich es für besonders bedauerlich gehalten, daß der Kollege Strauß hier ausländische Pressestimmen zitiert; um 7u beweisen, daß die Bundesregierung hier — wie er selbst gesagt hat — die Totenglocke für die Wiedervereinigung eingeläutet habe. Das hätte er nicht in der Weise zitieren dürfen, um es gegen die Bundesregierung auszunützen. Damit hat er unserem Lande nämlich keinen Dienst erwiesen. Er hätte sie vielmehr als eine böswillige Unterstellung derer zurückweisen sollen, die hier noch einmal ihre Wunschträume niedergeschrieben hatten.

(Zuruf von der SPD: Was trauen Sie Herrn Strauß zu! — Beifall bei der FDP.)

Das ist also, wenn ich schon von nationalbewußtem Verhalten spreche, genau das Gegenteil dessen gewesen. Und wenn dabei dann noch angeboten wird, man müsse dies doch nun alles gemeinsam machen, wenn auf Gemeinsamkeit in großen politischen Fragen von Koalition und Opposition hingewiesen wird, so ist das nur noch eine Farce und wohl nicht ernst zu nehmen, wenn einer in der Weise mit ausländischen Pressestimmen jongliert, um die deutsche Bundesregierung in die Pfanne zu hauen, anstatt diese Pressestimmen zurückzuweisen,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

wie es eigentlich die Sache eines jeden Deutschen hätte sein müssen, ob er der Regierung nahesteht oder nicht.
Der gewesene Fraktionsvorsitzende Dr. Barzel hat die Punkte, die der Opposition nicht schmeckten, hier schon einmal in der ersten Lesung dargestellt. Ich zitiere ihn deshalb, weil hinter seinen Ausführungen immer steht: Beifall bei der CDU/CSU. Wenn dem nicht so wäre, könnten Sie sagen, daß das, was er gesagt hat, der Schnee vom vergangenen Winter sei; das kümmert uns heute nicht mehr. Er hat im wesentlichen drei Punkte herausgehoben und u. a. wörtlich gesagt:
Das, was uns trennt, drückt sich darin aus, daß
wir von denen drüben zumindest die Herstel-



Höhmann
lung der Freizügigkeit in diesem Deutschland,
das doch weiter existiert, erwarten müssen.
„Zumindest die Freizügigkeit von denen da drüben" : schon diese Art der Formulierung drückt also aus, daß an eine Zusammenarbeit zweier deutscher Staaten nicht gedacht ist, noch nicht einmal an ein Nebeneinander, sondern an das alte Gegeneinander, dem auch seinerzeit jener in der Bundesrepublik gegründete obskure „Verein zur Rettung des Abendlandes" gedient hat.
Er hat weiter kritisiert, daß die „menschlichen Erleichterungen" — z. B., daß eine Eheschließung genehmigt werden könne — klar dem Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen widersprechen. Er sagte ferner, es könne nicht von Normalisierung die Rede sein, wenn nicht mit dem Schießbefehl Schluß gemacht werde und die Tötungsmaschinen entfernt würden. Was die Tötungsmaschinen angeht, so gebe ich zu, daß das nicht ein journalistischer Gag ist. Nur: Wer das, was jetzt an der Zonengrenze geschieht, betrachtet und das, was dort installiert ist als Tötungsmaschinen bezeichnet, um es als etwas Schlimmeres hinzustellen als das, was früher war, hat die Verhältnisse an der Grenze nie gekannt.

(Abg. Wehner: Sehr wahr! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

Der weiß nämlich nicht, daß dort Holzminen gelegen haben, die viel schlimmere Verletzungen hervorgerufen haben als jene Dinger, die heute dort installiert sind.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich will hier gar nicht verniedlichen, was geschehen ist und was gegenwärtig geschieht. Aber wenn hier dauernd darauf hingewiesen wird, daß es seit dem Grundlagenvertrag Tötungsmaschinen gebe, als habe es sie früher nicht gegeben,

(fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU)

dann sind das einfach falsche Darstellungen und Unterstellungen, die Sie täglich vornehmen und die die Wahrheit völlig entstellen.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703001400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sauer?

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703001500
Ja, bitte.

Helmut Sauer (CDU):
Rede ID: ID0703001600
Herr Kollege, wenn auch die Regierung den Tätigkeitsbericht des Bundesgrenzschutzes aus dem Jahre 1972 nicht besonders publiziert hat

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703001700
Ich bitte Sie, eine Frage zu stellen.

Helmut Sauer (CDU):
Rede ID: ID0703001800
— ich bin dabei, Frau Präsidentin —, so möchte ich Sie dennoch fragen, ob Ihnen nicht aufgefallen ist, daß jetzt, im Jahre 1972, die Zahl der gelegten Minen eine Zahl von 1,7 Millionen erreicht hat, also in einer Zeit und
in einem Jahr, in dem doch gerade Sie verhandelt haben?

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703001900
Und in all der Zeit, in der Sie nicht verhandelt haben, haben sehr viele Holzminenkästen an der Zonengrenze gelegen. Machen Sie doch daraus keine Staatsaktion in der Weise

(lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)

— lassen Sie mich doch bitte ausreden -, als sei das
eine Folge des Grundvertrages oder der Verhandlungspolitik dieser Regierung. So stellen Sie es doch hin.

(Abg. Sauer [Salzgitter] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage.)

— Nein, ich möchte wirklich keine Zwischenfrage mehr genehmigen.

(Lachen und Ah-Rufe bei der CDU/CSU. — Abg. Frau Berger [Berlin] : Das ist aber billig! — Abg. Sauer [Salzgitter]: Ich komme darauf zurück!)

-- Ich weiß, daß „Ah" das beste Argument ist. Sie haben immer die Gelegenheit, später hierher zu kommen. Ich möchte in der angegebenen Zeit zu Rande kommen und mich nicht darauf kaprizieren, meine Redezeit über Gebühr hinauszuziehen und auszudehnen, weil ihre Rednerliste das sehr wahrscheinlich nicht zuläßt, wenn wir in dieser Woche überhaupt noch zu einer Abstimmung kommen wollen. Ich habe mir Ihre Redezeitanmeldungen angesehen und muß sagen, da wird die Geduld des Parlaments und die Geduld aller Kollegen gewaltig strapaziert. Ich möchte mich daran nicht beteiligen.
Ich möchte auf das zurückkommen, was der Kollege Barzel gesagt hat. Wenn diese drei Postulate — Herr Dr. Gradl hat einige hinzugefügt, und Herr Strauß hat auch davon gesprochen - nun nicht in Vertragsform zu erreichen wären, müsse man eben auf Verträge verzichten. Gut, ich nehme dies jetzt einmal so hin. Es ist gut, daß dies endlich einmal gesagt worden ist. Wir haben immer die Frage gestellt: Was täte die Opposition, wäre sie in der Regierungsverantwortung? Jetzt wissen wir die Antwort: Nichts. Wenn man das „Alles" nicht bekommen kann, bleibt man nachher vor dem „Nichts" stehen. Das ist so die Situation von Bergkletterern und Gipfelstürmern, die ihre Bergtour am liebsten erst zehn Meter unter dem Gipfelkreuz beginnen, weil die Arbeit vorher, sich an den Flanken hochzuarbeiten und über Schründe hinwegzukommen, viel zu schwierig ist. So einfach ist das nicht zu machen.
Wer in dieser Frage auf die Politik des Alles oder Nichts setzt, wird dann mit leeren Händen vor dem deutschen Volk stehen. Er kann dann immer wieder sagen, wir wollen die Einheit in freier Selbstbestimmung erreichen. Nur hat er nichts, er hat nicht einmal etwas, womit er die nationale Substanz bewahren könnte. Man müßte dann den Menschen klarmachen: Weil die Freizügigkeit nicht zu erreichen war, weil die Abschaffung der Selbstschußanlagen nicht geregelt werden konnte, weil der Schießbefehl weiterhin besteht, weil kein freier Austausch von Meinungen und Informationen gewährt wird, deshalb machen wir keinen Besuchsreiseverkehr für die



Höhmann
Leute diesseits und jenseits der Grenze, deshalb verzichten wir in Härtefällen auf Reisen aus der DDR in die Bundesrepublik - das waren immerhin 30 000, seitdem man davon spricht —, deshalb muß die Familienzusammenführung unterbleiben,

(Zuruf des Abg. Reddemann)

und deshalb kann die Bundesrepublik West-Berlin nicht in Ost-Berlin vertreten. Alles das kann man dann nicht machen, nur weil man das Postulat so hoch aufgehängt hat, daß man auch mit den strammsten Klimmzügen nicht mehr herankommt. In der Lage sind Sie leider Gottes seit vielen Jahren.
Hier wird der Versuch unternommen, Schritt für Schritt die Situation für die Menschen zu verbessern. Wenn wir auf „Alles oder Nichts" bestünden, würde diese Politik bestimmt nicht von denen verstanden werden, die direkt von diesen Verträgen betroffen sind.
Niemand wird behaupten wollen — und hier muß etwas über die Interessenlage in beiden deutschen Staaten gesagt werden —, die DDR habe uns die Verhandlungen, das Verhandlungsergebnis, den Verkehrsvertrag und den Grundlagenvertrag aufgedrängt. Das Gegenteil ist ja doch der Fall. Nicht auf Initiative der DDR ist dies zustande gekommen, sondern weil wir in der Bundesrepublik dies so wollten. Das Interesse an der Erhaltung der nationalen Substanz ist ganz eindeutig eine Sache, die auf unserer Seite und nicht auf der anderen Seite der Zonengrenze zu Hause ist.
Wenn dem so ist, haben wir auch ein Interesse daran, auf dem Weg zur Einheit der Nation möglichst konkrete Schritte zu unternehmen und nicht nur dauernd Postulate aufzustellen. Es war die Politik der Bundesregierung, die schließlich dahin geführt hat, daß die DDR diesen Fakten, die gesetzt worden waren durch den Moskauer Vertrag, durch den Warschauer Vertrag, durch das Viermächteabkommen, nicht länger ausweichen konnte.
Nachdem wir ganz eindeutig unser Interesse an der Entwicklung bekundet haben, ist, glaube ich, eine Beurteilung dessen, was wir vor uns haben, von einer anderen Warte aus vorzunehmen. Die sozialliberale Koalition wollte nicht länger nur an der Klagemauer stehen.

(Zuruf von der CDU/CSU.)

Sie hat erkannt, daß es nicht genügt, vor aller Welt immer anklagend auf die DDR zu zeigen und auf Unrechtstatbestände hinzuweisen. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Proteste überhaupt nichts gebracht haben und die deutschen Probleme nicht lösten. Wir haben doch auf die Salami-Taktik des Ostblocks nur noch reagiert, wenn jeweils eine Scheibe von der Wurst, die wir in der Hand zu haben glaubten, abgeschnitten wurde. Was haben wir denn erreichen können? In der ganzen Zeit, für die Sie die Verantwortung tragen, ist Scheibe für Scheibe von der Salami heruntergeschnitten worden, und wir haben immerhin einige Scheiben jetzt wieder zurückgeholt.

(Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Frau Berger [Berlin] : Ein ganz schlechtes Beispiel! — Weiterer Zuruf: Das ist die alte Wehner-Salami!)

Es läßt sich auch nicht unter den Teppich fegen, daß die jahrzehntelange Trennung zu einer Entfremdung der Deutschen geführt hat. Hier ist eine Aktion unternommen worden, die Entfremdung zu überwinden. Nur ist dieser Vorgang doch nicht durch Abwarten zu beheben, wie Sie es uns immer raten: „Wenn nicht alles, dann wollen wir lieber auf Verträge verzichten." Das ist das schlechteste Argument, das bisher hier gebracht worden ist.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das haben wir nie gesagt!)

---- Das hat Herr Strauß gesagt, und das hat auch Herr Dr. Gradl gesagt. Es hat mich deshalb gewundert, weil es Herr Dr. Gradl sagte; bei Herrn Strauß wundert es mich nicht.

(Zuruf der Abg. Frau Berger [Berlin].)

— Diese Politik müßte doch nicht uns unangenehm sein, Frau Kollegin Berger. Diese Politik ist denjenigen unangenehm, die jetzt neue Konstruktionen finden wollen: nämlich die Konstruktion einer besonderen sozialistischen deutschen Nation. Das ist so eine Art Abgrenzungsvehikel auf der anderen Seite. Alles, was dort konstruiert, was dort unternommen wird, um das etwas zu unterlaufen, was in Verträgen schon steht oder noch durch Verträge ausgefüllt werden soll, zeugt von einem Unbehagen auf der anderen Seite vor der Begegnung der Menschen aus beiden Teilen Deutschlands.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703002000
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703002100
Nein, nicht mehr. Ich habe schon das rote Lämpchen leuchten, Frau Präsidentin, und kann aus diesem Grunde sicher auch darauf verzichten, noch weitere Anfragen entgegenzunehmen.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703002200
Es steht Ihnen vollkommen frei, Herr Abgeordneter.

Egon Höhmann (SPD):
Rede ID: ID0703002300
Hier gibt es also Angst auf der anderen Seite, daß der freie Fluß von Informationen und Meinungen, den man bisher zu hindern suchte, durch die Begegnungen erst recht zustande kommt. Wir auf unserer Seite wissen, daß man Informationen und Meinungen und Ideen nicht einfach unterdrücken kann. Wir haben auch die Erfahrung gemacht: man kann zwar eine kommunistische Partei verbieten, man kann kommunistische Zeitungen verbieten, aber man kann nicht Kommunismus verbieten.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Die auf der anderen Seite werden auch einsehen: sie können zwar westliche Zeitungen verbieten, sie können westliche Organisationen in ihrem Bereich verbieten, aber sie können nicht westliches Gedankengut verbieten; das macht sich immer breit. Informationen und Meinungen sind wie Wasser; sie sichern durch alle Ritzen und sind nicht aufzuhalten.
Herr Kollege Jäger, ich habe mich deshalb ein bißchen gewundert, daß Sie in Ihrem Bericht noch einmal die große Gefahr der Infiltration dargestellt



Höhmann
haben. Wir haben doch so viel Selbstbewußtsein, daß wir von Infiltration von Meinungen und Ideen und vor Unterwanderungsbestrebungen keine Angst zu haben brauchen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Ihre Harmlosigkeit! — Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : So war das doch nicht gemeint! Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

Sie — wie auch der Kollege Strauß — haben uns doch hier Spionagegeschichten erzählt, die mich an James Bond erinnert haben. Diese James-Bond-Geschichten brauchen Sie uns nicht als ein Schreckgespenst hinzustellen,

(Abg. Reddemann: Warum denn wurde gerade ein sowjetischer Botschaftssekretär ausgewiesen?)

und man darf das vor allen Dingen dann nicht, wenn man selbst auf nachrichtendienstliche Ermittlungen doch wohl auch nicht verzichtet. Was soll also dies ganze Hickhack? Es ist doch überhaupt keine Begründung zur Ablehnung dieses Vertrages.
Ich hätte diesen Bemerkungen noch eine ganze Menge anzufügen. Ich muß leider Gottes darauf verzichten, weil eben das rote Lämpchen leuchtet.

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Ich wollte versuchen, einen Teil dessen, was in der Diskussion gesagt worden ist, hier wieder geradezurücken.
Ich möchte dabei um eines bitten, Herr Kollege Böhm, weil ich Sie so herzhaft lachen sehe: Gehen Sie nicht wieder durch das Zonenrandgebiet und fordern Sie Mittel für den Besuchsreiseverkehr, wenn Sie den Vertrag sowieso ablehnen wollen.

(Beifall bei der SPD.)

Das sind nämlich die besten Methoden, herumzulaufen, die Erfüllung aller möglichen Verträge zu fordern, dafür noch Geld zu verlangen, damit sich die Leute begegnen können, und dann zu sagen: aber im Grunde sind wir dagegen. Das sind Rattenfängermanieren.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die sozialdemokratische Fraktion nimmt den Antrag des Ausschusses auf und macht ihn sich zu eigen. Darin steht: „Der Bundestag wolle beschließen, die Vorlage der Regierung unverändert anzunehmen." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0703002400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ronneburger.

Uwe Ronneburger (FDP):
Rede ID: ID0703002500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei aller Würdigung der Aufgabe der Opposition, auf die auch Herr Dr. Gradl hingewiesen hat, durch das Opponieren die Verhandlungsstellung der Regierung und der Koalition zu stärken, kann man an diesem Punkt der Debatte die sehr direkte Frage nicht unterdrücken: Wann wird die Opposition eigentlich damit aufhören,
durch den Vergleich eines von uns allen angestrebten Idealzustands mit den bis jetzt erzielten Ergebnissen der Ost- und Deutschlandpolitik der Koalition diese Deutschland- und Ostpolitik und leider auch den vor uns liegenden Grundvertrag abzuwerten?
Meine Damen und Herren, was ist denn zu vergleichen? Zu vergleichen ist die Situation, wie sie 1969 bestand, mit der heutigen. Daß wir alle auf einem Wege sind, der zu mehr führen soll, als wir heute haben, wird von niemandem bestritten.
Aber ich frage mich seit gestern, was es eigentlich soll, daß z. B. der Kollege Herr Professor Carstens hier in diesem Hause die Menschenrechte aufgezählt hat, die den Bürgern der DDR bis heute nicht gewährt werden, und daß die Opposition dieser Aufzählung Beifall gezollt hat. Was sollte eigentlich, wenn ich diese Frage einmal direkt an die Opposition richten darf, dieser Beifall? Er kann sich doch nicht darauf bezogen haben, daß Sie es begrüßen, daß die Menschenrechte dort noch nicht gewährt werden. Er kann sich also nur auf Ihre Kritik daran bezogen haben, daß die Regierung dies bis heute nicht durchgesetzt hat.
Aber wenn wir das so sagen, ergibt sich doch erneut die Frage: was vergleichen wir eigentlich miteinander? Was vergleichen wir miteinander, Herr Kollege Amrehn, wenn Sie darauf hinweisen, wir hätten heute gegen Behinderungen des Berlin-Verkehr nicht mehr Möglichkeiten des Protestes als vor Beginn dieser Politik? Diese Proteste haben nämlich heute eine vertraglich und rechtlich gesicherte Grundlage, was sie früher nicht gehabt haben. Das ist der entscheidende Unterschied.

(Beifall bei den Regierungsparteien.) Bitte sehr, Herr Kollege!


Dr. Alois Mertes (CDU):
Rede ID: ID0703002600
Herr Kollege, glauben Sie nicht, daß die Charta der Vereinten Nationen eine rechtliche Grundlage ist, auf der wir bisher unsere Proteste äußern konnten?

(Abg. Mischnick: Also muß man unserem Beitritt zustimmen!)


Uwe Ronneburger (FDP):
Rede ID: ID0703002700
Herr Kollege Dr. Mertes, wovon reden wir denn, von der allgemeinen völkerrechtlichen Grundlage oder von der speziellen, abgesicherten vertraglichen Grundlage im Viermächteabkommen und im Verkehrsvertrag, wo diese Dinge nun speziell fixiert sind? Ist das nicht mehr als die allgemeine Grundlage der Charta der Vereinten Nationen?

(Abg. Jäger [Wangen] : Darüber diskutieren wir hier doch nicht! Wir diskutieren über den Grundvertrag!)

Herr Professor Carstens hat gesagt, es sei Aufgabe der Bundesregierung, auf die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR hinzuwirken. Natürlich ist das die Aufgabe der Bundesregierung. Aber wie ist denn diese Aufgabe bis 1969 wahrgenommen worden? Haben wir bis 1969 die Innehaltung der Menschenrechte in der DDR durchgesetzt?



Ronneburger
Oder nehmen wir die andere Äußerung von Herrn Professor Carstens: die Einheit der Nation sei im Grundvertrag ungenügend gesichert. Wie war denn die Einheit der Nation bis zum September des Jahres 1969 gesichert?

(Abg. Jäger [Wangen] : Durch das Alleinvertretungsrecht, Herr Kollege Ronneburger! — Zuruf von der FDP: Geschwätz!)

— Ich komme auf die Frage der Relevanz solcher Vorbehalte, wie Sie sie hier eben genannt haben, Herr Kollege Jäger, noch an anderer Stelle zurück.
Es ließe sich hier noch eine Fülle von Beispielen nennen, aber ich will darauf verzichten. Ich will mich darauf beschränken, an diesem Punkt folgendes zu sagen. Der Hinweis der Opposition, daß die Ergebnisse der bisherigen Deutschland- und Ostpolitik unseren Erwartungen, unseren Hoffnungen und auch unseren Ansprüchen noch nicht genügen, ist berechtigt. Dieser Hinweis ist aber nicht neu.
Herr Kollege Amrehn, wir brauchen keine Abstriche von dem zu machen, was wir gesagt haben, denn wir haben diese übertriebenen Ankündigungen, die Sie hier zitiert haben. nicht gemacht

(Zuruf des Abg. Amrehn.)

Es kommt darauf an, daß wir den Hinweis, den wir immer gegeben haben, aufrechterhalten, nämlich den Hinweis auf den Anfang eines gewiß mühsamen Weges.
Ich sehe, daß in dieser Situation gewiß wenig Hoffnung auf eine Gemeinsamkeit in diesem Parlament und in dessen Entscheidung besteht. Auf eine Gemeinsamkeit möchte ich die Opposition hier allerdings mit aller Deutlichkeit hinweisen. Meine Damen und Herren, die parlamentarische Verantwortung ist unteilbar. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich will hier keine Verwischung von Gegensätzen. Ich will auch nicht die Koalition von der Verantwortung für das Ja befreien. Aber ich will der Opposition sagen, daß sie auch mit einem Nein oder einer Stimmenthaltung dieser Verantwortung nicht ausweichen kann.

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Die Verantwortung des Parlaments in dieser Frage bezieht sich nämlich nicht nur auf diesen Tag, sondern vermutlich auf einen langen Zeitraum. Deswegen sollten wir einmal überlegen, was Grundvertrag und Deutschland- und Ostpolitik für diesen Zeitraum bedeuten können.
Niemand in diesem Hause und auch niemand außerhalb dieses Hauses vermag eine kurzfristige Lösung der deutschen Frage anzubieten. Die Entscheidung fällt also nicht heute oder morgen im Gegensatz zwischen Opposition und Koalition, sondern die Entscheidung bezieht sich auf die Aufrechterhaltung der Möglichkeit, die deutsche Frage zu lösen.
In diesem Zusammenhang ist sehr oft darauf hingewiesen worden, man könne hier Parallelen zur polnischen Geschichte finden. Gewiß bietet gerade ein Blick auf die Geschichte dieses so oft geteilten und so gequälten Volkes Anlaß, auch einmal zu überprüfen, ob dieser Vergleich nicht seine Berechtigung
hat. Es gäbe eine Fülle von Beispielen aus der Geschichte dieses Volkes. Ich will Ihnen heute hier nur den Hinweis auf einen ganz bestimmten Zeitraum geben, und zwar auf den Zeitraum von 1864 — Niederschlagung des letzten großen Aufstandes in Kongreßpolen — bis 1914. Wir haben hier 50 Jahre polnischer Geschichte vor uns, in denen keinerlei spektakuläre Ereignisse die Hoffnung des polnischen Volkes auf Wiederherstellung der nationalen Einheit genährt haben.

(Vorsitz: Vizepräsident von Hassel)

Wir haben einen Zeitraum von 50 Jahren vor uns, in dem nur das Festhalten an gemeinsamer Sprache, Kultur, Geschichte, am gemeinsamen Bestand der polnischen Nation die Voraussetzung dafür gewesen ist, daß dann am Ende des ersten Weltkrieges die nationale Einheit wiederhergestellt wurde.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703002800
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Uwe Ronneburger (FDP):
Rede ID: ID0703002900
Ja, bitte schön!

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703003000
Herr Abgeordneter Reddemann!
Reddemann (CDU, CSU) : Herr Kollege Ronneburger, ist Ihnen nicht klar, daß dieser Vergleich für unsere Situation einfach deswegen nicht paßt, weil die Führungskräfte der polnischen Nation in beiden Teilen Polens damals durchaus für eine Wiederherstellung des polnischen Staates waren, während die Führungskräfte zumindest im anderen Teil Deutschlands eine völlig andere Meinung haben?

Uwe Ronneburger (FDP):
Rede ID: ID0703003100
Herr Kollege Reddemann, seien Sie bitte damit einverstanden, daß ich Ihre Frage im Zuge meiner Ausführungen beantworte. Ich komme ohnehin noch darauf.
Ich betone an diesem Punkt aber folgendes. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Polens ist lange Zeiträume hindurch nicht durch das Beharren auf juristischen Positionen gefördert worden, und sie ist nicht durch die Zugehörigkeit des polnischen Volkes zu verschiedenen Staaten verhindert worden. Voraussetzung war allein die Überzeugung vom Fortbestand der polnischen Nation. Ich meine, daraus sollten wir — auch die Opposition — für unsere heutige Entscheidung Folgerungen ziehen.

(Beifall bei der FDP.)

Denn nicht die Leugnung der DDR und ihres Vorhandenseins als eines deutschen Staates, der auch ohne unser Ja bereits existierte, nicht die Aufrechterhaltung abstrakter juristischer Begriffe mit schwindender Bedeutung, sondern die Sorge um den Fortbestand der deutschen Nation sollte uns bewegen, wenn wir heute oder morgen unsere Stimme mit Ja oder Nein zu diesem Vertrag abgeben. Sowenig die Anführungsstriche bei dem Namen „DDR" in einer deutschen Tageszeitung von realer Bedeutung sind, so wenig — ich sage das hier mit allem Nach-



Ronneburger
druck — ist ebenso die These von Bedeutung, die wir aus dem östlichen Teil unseres Vaterlandes hören, nämlich die These von einer Trennung in eine sozialistische und eine kapitalistische Nation. Der Entscheidungsprozeß über das Fortbestehen der Nation wird nicht von den Aussagen der DDR-Regierung, sondern davon abhängig sein, ob wir, das deutsche Volk in Ost und West, an dieser Nation festhalten.
Daher ist nur noch einmal mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß das, was wir heute oder morgen tun, kein Schlußstrich unter die deutsche Frage ist, sondern ein Ernstnehmen unserer freien Entscheidungsmöglichkeit. Ich möchte insbesondere Herrn Dr. Gradl sagen, daß eben hier die besondere Verantwortung unserer Regierung und unseres Bundestages dafür liegt, daß wir in der Lage sind, unsere Entscheidung in freier Verantwortung zu fällen und Initiativen zu ergreifen, die von der anderen Seite möglicherweise nicht begrüßt, von ihr jedenfalls nicht ergriffen werden.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703003200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703003300
Herr Kollege Ronneburger, da Sie hier so entschieden gegen die These aus Ost-Berlin von der eigenen sozialistischen deutschen Nation zu Felde ziehen, frage ich Sie: Warum hat dann kein maßgeblicher Vertreter der Bundesregierung diese These, als sie drüben von Herrn Hager und Herrn Norden in die Diskussion eingeführt wurde, sofort mit aller Deutlichkeit und Entschiedenheit zurückgewiesen und unsere Haltung zur Nation vor der ganzen deutschen Weltöffentlichkeit klargestellt?

(Zurufe von der FDP und SPD.)


Uwe Ronneburger (FDP):
Rede ID: ID0703003400
Herr Kollege Jäger, haben Sie eben verstanden, daß ich auf die Bedeutungslosigkeit dieser Theorie von dem Vorhandensein einer sozialistischen und einer kapitalistischen Nation in Deutschland hingewiesen habe und daß es daher im Grunde genommen gar nicht Aufgabe der Regierung sein konnte, sich mit einer solchen These auseinanderzusetzen, die auf Dauer ohne Relevanz sein wird?
In Gedanken an die Glieder der deutschen Nation, also an die deutschen Menschen, bedarf es des Realismus. Es bedarf aber ebenso des Mutes, Schwierigkeiten zu sehen und sie zäh zu überwinden, auch Risiken nüchtern abzuwägen und einzugehen, wenn andere Wege nicht gangbar sind.
Ich habe versucht, klarzumachen, daß das Eingeständnis, die DDR sei ein zweiter deutscher Staat, nicht zu diesen Risiken gehört. Insofern ist, Herr Dr. Gradl, auch dieser Vertrag kein riskanter Vertrag. Die Risiken liegen vielmehr — hier, so meine ich, sollte unsere gemeinsame Aussage ansetzen - in der Begrenzung der Möglichkeit hundertprozentiger Abmachungen zwischen der Bundesrepublik und dem kommunistischen Staat der DDR sowie in der Notwendigkeit, in zähem weiterem Ringen diese gewiß nicht hundertprozentigen Abmachungen zu vervollständigen. Dabei ist es im übrigen ohne Belang, ob in diesem Vertrag die nationale Frage angeführt wird oder nicht. Ich sage noch einmal: Das ist keine Frage der Regierungen und keine Frage des Vertrages, sondern eine Frage an die deutschen Menschen, um die sich dieser Vertrag bemüht; auf deren Bereitschaft, die Nation weiterzuführen, kommt es an.
Wenn man Politik für die Menschen in der DDR machen will, kann man nicht zugleich den Staat negieren, in dem sie leben. Die Grenze, die uns von diesen Menschen trennt, wird nicht durchlässig, wenn man sie jeden Tag in Frage stellt. Minen und Schüsse an dieser Grenze werden erst dann wirkungslos, wenn der legale Weg durch diese Grenze hindurch immer gangbarer geworden ist. Dies aber ist nun einmal nur erreichbar — und das ist unsere Realität —, wenn sich die DDR nicht in der Verteidigung gegen Unterwanderung oder gegen Angriffe fühlt.

(Abg. Jäger [Wangen] : Wer unterwandert denn, Herr Ronneburger?)

Wir verhandeln mit einem Staat, dessen System und dessen politische und gesellschaftliche Konzeption nicht die unseren sind. Daran besteht kein Zweifel. Aber wir verhandeln mit einem Staat, der eine Realität darstellt und der Macht über Menschen hat, um deren Schicksal wir uns bemühen sollten.
Darum, meine Damen und Herren, steht an dieser Stelle mit dem Grundvertrag und auch mit dem Beitritt zur Charta der Vereinten Nationen der Versuch in Richtung auf das heute schon oft zitierte Miteinander. Darum besteht bei uns die Bereitschaft zum langen Atem und zur zähen Ausdauer.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Darum aber auch an dieser Stelle abschließend der Appell an die Opposition und an die Vertreter der Koalition: Wir sollten keine Scheu zeigen, Mißstände beim Namen zu nennen und deutlich zu sagen, wenn Verträge nicht eingehalten und nicht erfüllt werden,

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Aber die Verträge sollten eindeutig sein!)

und wir sollten uns nicht zurückhalten, die Innehaltung dieser Abmachungen gemeinsam einzufordern, aber auch der Appell zur Bereitschaft, Energien nicht im Gegeneinander zu erschöpfen, sondern für die Menschen in Deutschland einzusetzen, für eine friedliche Entwicklung und für jeden weiteren, noch mit großer Mühe verbundenen Schritt vorwärts zu einem Ziel, das uns doch wohl hoffentlich gemeinsam ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703003500
Das Wort hat der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Herr Franke.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703003600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hinter uns liegen Wochen und Monate inten-



Bundesminister Franke
siver Beratung des Verrtages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Wer an den Ausschußsitzungen teilgenommen hat, der weiß, daß der Gegenstand von allen Seiten beleuchtet und hin und her gewendet worden ist. Irgendwann erschöpft sich jedes Thema. Das kann man nunmehr wohl auch zu diesem Punkt sagen. Auch ein noch so gewissenhafter und kritischer Prüfer kann nicht unbegrenzt Fragestellungen und Einwände zu einem bestimmten Punkt hervorbringen. Ich meine, das ist auch heute deutlich geworden. Denn im Grunde genommen haben wir über all diese Fragen schon oft gesprochen, nicht nur im Ausschuß, sondern auch hier. Ich glaube, man muß einräumen, daß wir uns in der ganzen Breite der Thematik mit dem beschäftigt haben, was heute zur Entscheidung ansteht.
Auch noch so kritische Kollegen müssen bestätigen, daß es ausreichend Zeit gegeben hat. Die Regierung stand den Ausschüssen zur Verfügung, und außerdem hat es von seiten der Koalitionsfraktionen Vorschläge für weitere Ausschußtermine gegeben.

(Zuruf des Abg. Jäger [Wangen].)

— Herr Kollege Jäger, Sie verweisen darauf, daß dabei auch Zeiten in sogenannten sitzungsfreien Wochen waren. Aber wenn man dieses Thema für so bedeutend hält, dann kennen wir doch wohl keinen Kalender, sondern sind bereit, uns jederzeit zur Verfügung zu stellen, um die Sachdiskussion zu führen. — Aber abgesehen von den Ausschußmöglichkeiten haben wir auch hier im Plenum in den Fragestunden und auch in Aktuellen Stunden eingehend darüber gesprochen.
Nun lassen Sie mich zu einigen Feststellungen kommen, die das Ergebnis der Ausschußberatungen erfassen und darstellen sollen.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703003700
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703003800
Nein, ich möchte meine Ausführungen im Zusammenhang machen. Ich glaube, wir sollten uns konzentrieren. Ich bin auch bereit zu antworten. Darum geht es gar nicht, sondern ich möchte versuchen, konzentriert den bisherigen Stand hier darzustellen.
Lassen Sie mich das Ergebnis in zwei Feststellungen zusammenfassen.
Erstens: Keine für das Offenhalten der deutschen Frage unerläßliche Rechtsposition wurde aufgegeben. Die Interessen Berlins sind in Übereinstimmung mit dem Viermächteabkommen gewahrt. Es bleibt bei der Besonderheit der deutschen Lage und ihrer grundsätzlichen Ungelöstheit. Nicht nur respektiert der Vertrag die besonderen Gegebenheiten in Deutschland, er bringt sie sogar augenscheinlich zur Geltung, bringt sie zur Anschauung, indem er sie verkörpert. Wir sind und bleiben frei, für das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation einzutreten und zu wirken. Hier wird nichts verbaut und nichts mit dem Siegel der Endgültigkeit versehen. Der
Vertrag schafft einen Modus vivendi. Er ist keine Schlußakte. Eine völkerrechtliche Anerkennung der Teilung findet nicht statt. Beide Vertragspartner, also auch die DDR, respektieren die besonderen Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Siegermächte. Das heißt, sie respektieren die Fortdauer der aus der gemeinsamen Geschichte erwachsenen Gegebenheit, daß der Friedensvertrag mit Deutschland nicht geschlossen ist. Hieran herumzudeuteln ist nutzlos. Ich sehe auch nicht, welchen vertretbaren Zweck man damit überhaupt verfolgen will.
Das Zweite, was die Beratung der Ausschüsse ergeben haben, ist dieses: Der Vertrag bestimmt und legt die Grundlagen für die beiderseitigen Beziehungen. Damit schafft er das notwendige Instrumentarium für die Regelung und Ausgestaltung, also für den Inhalt der Beziehungen. Daß solche Beziehungen zu wünschen oder gar notwendig sind, darüber haben die meisten Bürger bei uns kaum noch einen Zweifel. Die Gründe leuchten unmittelbar ein: die internationale Entspannung, die um Deutschland keinen Bogen herummachen kann oder soll, und die Tatsache — durch langjährige Erfahrungen bitter erhärtet daß ohne die Regelung
der staatlichen Beziehungen jedwede Erleichterung
oder Verbesserung für die Menschen illusorisch ist.
Der Vertrag also schafft das notwendige Instrumentarium für die Regelung der Beziehungen. Dazu gehört vielerlei.
Lassen Sie mich zunächst ganz Praktisches nennen. Ich denke an die Einrichtung der ständigen Vertretungen am Sitz der beiden Regierungen. Gerade bei der Masse und Vielfalt der deutschen Probleme ist die Herstellung dieser qualifizierten Verbindungsstelle von nicht zu unterschätzendem Wert. Um die Vertretungen so schnell wie möglich errichten zu können, hat die Bundesregierung das Gesetz über die Gewährung von Erleichterungen, Vorrechten und Befreiungen an die ständige Vertretung der DDR eingebracht. Es liegt in unserem wohlverstandenen Interesse, daß die ständige Vertretung der DDR ihre Arbeit nach Abschluß des Ratifikationsverfahrens in Bonn möglichst schnell aufnimmt. Damit die ständigen Vertretungen die ihnen obliegenden Aufgaben sachgemäß wahrnehmen können, ist es erforderlich, Erleichterungen, Vorrechte und Befreiungen zu gewähren, wie sie im zwischenstaatlichen Verkehr üblich sind.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703003900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger (Wangen)?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703004000
Bitte sehr.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703004100
Herr Bundesminister, wenn Sie der Auffassung sind, daß es in unserem Interesse liegt, die gegenseitigen Vertretungen so rasch wie möglich einzurichten, frage ich Sie: Warum hat die Bundesregierung dann bis zu dieser Stunde noch nicht einmal die Verhandlungen mit der DDR darüber geführt, welchen Charakter und welchen Status die Vertretungen haben sollen,



Jäger (Wangen)

bei wem die Vertreter akkreditiert und beglaubigt sein sollen, welchen Rang und welche Bedeutung der Vertreter in der Bundesrepublik haben soll? Warum ist all das bis zu dieser Stunde ungeklärt, abgesehen von dem Gesetzentwurf, den Sie uns auf den Tisch gelegt haben?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703004200
Sie kommen wieder zu einer Fragestellung, die sich auf eine Folgeaufgabe bezieht. In dem Grundlagenvertrag ist eindeutig vereinbart, daß beide Regierungen am Sitz der anderen Regierung ständige Vertretungen einrichten werden. Das einzelne wird ausgehandelt. Dazu gibt es inzwischen schon sehr weit gediehene Vorstellungen unter den Beteiligten.

(Abg. Dr. Marx: Im Bundesrat hieß es aber ganz anders!)

Aber lassen Sie mich wieder auf den Vertrag zurückkommen. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, daß ausdrücklich die Dinge ausgeklammert sind, die unter den gegebenen Verhältnissen nicht gelöst werden können: also die gegensätzlichen politischen Grundauffassungen, die gegensätzlichen Standpunkte in rechtlicher Hinsicht, vor allem zu den Staatsangehörigkeits- und Vermögensfragen. Diese Ausklammerung ist für die — ich möchte sagen — Funktionstüchtigkeit des Vertrages bedeutsam.
Zwei sehr gegensätzliche deutsche Staaten haben beschlossen: wir wollen zueinander in Beziehungen treten, wir wollen diese und jene Dinge anpacken und sehen, wie wir zu einer vernünftigen Regelung kommen. Und wir wollen bemüht sein, daß die Dinge, die gegensätzlich bleiben, nicht jedes Entstehen von geordneten Verhältnissen unmöglich machen. Das ist eine Relativierung des Wünschbaren auf das Mögliche. Ich denke, uns ist diese Aufgabe gestellt, praktische Politik zu betreiben und nicht nur zu philosophieren und schöne Wünsche anzumelden.

(Beifall bei der SPD. Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Aber darüber, was das Mögliche ist, gehen die Meinungen auseinander!)

Das ist ein nüchterner und bedeutsamer Entschluß; denn damit, so scheint mir, kann die Gefahr gebannt werden, daß unfruchtbarer Streit über unlösbare Probleme mögliche Fortschritte auf anderen Gebieten blockiert.

(Abg. Jäger [Wangen] : Genau das haben Sie aber herbeigeführt!)

Meine Damen und Herren, mit dem dritten Punkt gelange ich zu dem entscheidenden Kriterium, das die Brauchbarkeit des Vertragsinstrumentes unterstreicht. Der Vertrag bietet eine Klarstellung dessen, was für das deutsch-deutsche Verhältnis und dessen Normalisierung im besonderen im Unterschied zu dem Verhältnis beider deutscher Staaten zu dritten Ländern — maßgeblich und notwendig ist. Hiermit ist konkret das Gebiet der humanitären und praktischen Fragen angesprochen. Ich verweise
auf Art.. 7, das Zusatzprotokoll, den Briefwechsel und die Erläuterungen hierzu. Wer zu lesen versteht, muß feststellen: der Vertrag bedeutet nicht nur eine Verständigung über die formalen Grundlagen der gegenseitigen Beziehungen. Er schreibt vor, in welchen Bereichen Regelungen vorzunehmen sind und fortgeführt werden sollen, eben um die Verhältnisse zu ändern, die uns allen nicht gefallen.
Nun wird immer wieder der Einwand laut, das System der DDR könne und werde schon aus Gründen der Selbsterhaltung die Verpflichtungen des Vertrages nicht erfüllen. Als Beweis wird auf die ideologischen und praktischen Abgrenzungsbemühungen der DDR verwiesen. Lassen Sie mich dazu folgendes sagen: Die von der DDR betriebene Abgrenzung ist Ausdruck ihrer eigenen politischen Zielsetzung. Die DDR wird durch den Vertrag nicht verpflichtet, davon abzulassen. Genausowenig werden auch wir verpflichtet, unsere Grundauffassungen, Motive und Ziele zu ändern. Wer jedes Mal in eine neue Enttäuschung und neuen Pessimismus verfällt, wenn die DDR im Sinne der Abgrenzung spricht oder agiert, der gibt sich als Opfer einer falschen Erwartung zu erkennen, die sehr mit der Arglosigkeit verwandt ist, die polemisch der Entspannungspolitik des Kanzlers dieser Regierung angelastet werden soll.
Es ist einfach nicht wahr, daß wir — diese Regierung oder ich — versuchten, die Schwierigkeiten und die Hemmnisse zu verkleinern, die im Umgang mit der DDR auftreten bzw. aufgetreten sind. Aber ich setze mich gegen den immer wiederkehrenden Versuch zur Wehr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich meine jene Haltung, die im Handumdrehen griffige Formeln ausgibt, wie z. B. „Erschwerungen statt Erleichterungen". Das ist schlechterdings ein verzerrtes Augenmaß, mit dem sich die Chancen der Entspannung und Normalisierung in diesem Lande nicht abschätzen lassen.
Man kann von dieser Bundesregierung nicht im Ernst erwarten, daß sie gegen ihre Einsicht und Verantwortung in dieses Horn stößt. Welchen Sinn sollte das haben? Darf die Bundesregierung es sich gestatten, Gefühlen der Ungeduld, des Unmuts und der Bedrückung nachzugeben? Muß sie nicht alles daran setzen, die Chancen des Möglichen zu wahren und wahrzunehmen? Ich habe großes Verständnis für die Ungeduld vieler Menschen bei uns und sicherlich nicht nur bei uns. Aber solche Ungeduld muß nicht nur in negativer, sondern auch in positiver Hinsicht zu falscher Einschätzung der Lage führen.
Wir haben das in vielen Zuschriften feststellen müssen, obwohl wir uns alle nur erdenkliche Mühe geben, die Öffentlichkeit mit Merkblättern und anderen Informationen zu unterrichten. In meinem Ministerium gehen täglich viele Anfragen und Beschwerden ein, in denen z. B. über Ausreiseverweigerungen für Verwandte aus der DDR geklagt wird. Dabei ergibt sich bei korrekter Betrachtung, daß zirka 70 % dieser Ablehnungen nicht gegen die Anordnungen der DDR vom 17. Oktober letzten Jahres verstoßen. Über die Hälfte dieser Ablehnun-



Bundesminister Franke
gen betreffen Reisegründe, die erst mit dem Inkrafttreten des Grundvertrages anerkannt werden, was ganz deutlich zeigt, daß ein nicht geringer Teil der Enttäuschung auf verfrühten oder falschen Erwartungen beruht.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Die Bundesregierung muß sich an Tatsachen und Relationen halten.

(Abg. Dr. Marx: Hätte sie das nur mal gemacht!)

Sie sieht das Abgrenzungsstreben der DDR, sie sieht Einschränkungsversuche, z. B. die Ausdehnung des Kreises der Geheimnisträger. Aber sie sieht auch und muß sehen die Tatsachen und die Zahlen, die sich trotz Abgrenzung und Einschränkung entwickelt haben und von klaren, meßbaren Fortschritten sprechen, Die Chancen für Veränderungen des noch völlig verkrampften Verhältnisses der beiden Staaten zueinander dürfen nicht durch undifferenziertes und bequemes Verharren in Mißtrauen und Pessimismus ernstlich aufs Spiel gesetzt werden, gerade wenn wir an die allzu vielen Menschen denken, die heute noch persönliche Enttäuschungen hinnehmen müssen — in beiden deutschen Staaten.
Die bessere Seite der Medaille aber wollen die Kritiker nicht wahrhaben. Wenn die Bundesregierung sie ihnen vorlegt, dann ist gleich der Vorwurf der Schönfärberei zur Hand. Ein Beispiel dieser Art haben wir erst kürzlich wieder erlebt anläßlich der Vorlage des Berichtes über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, der ja auch jetzt mit Gegenstand der Plenardebatte ist. Was die Bundesregierung vorgelegt hat, war nicht das, was man lesen wollte. Zugegeben! Im übrigen: Manche haben kritisiert, ohne überhaupt zu lesen -nicht einmal die Überschrift! Denn anders läßt es sich nicht erklären, daß sie Informationen über die Lage in der DDR vermißt haben, wie sie kritisieren. Das war gar nicht das Thema. Die vergleichende Darstellung auf Gebieten der politischen Grundvorstellungen und der inneren Entwicklung der beiden deutschen Staaten ist von der Bundesregierung mit der Vorlage ihres Berichtes über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR nicht abgebrochen worden. Die Arbeit der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe unter Leitung von Prof. Ludz geht weiter. Die Ergebnisse werden auch weiterhin vorgelegt werden Das Thema des letzten Berichtes aber, der Ihnen mit der Drucksache 7/420 vorliegt, waren die Beziehungen, wie sie bis 1969 bestanden, wie sie seither geworden sind — ganz konkret und tatsächlich. Nichts anderes war die Aufgabe, die gestellt war.

(Abg. Dr. Marx: Die Aufgabe hat der Bundestag gestellt, und sie war ganz anders formuliert! Es gibt einen Bundestagsbeschluß auf Antrag der SPD!)

Was noch alles fehlt, wird ebenfalls jedem deutlich, der den Bericht unvoreingenommen zur Hand nimmt. Solche Unvoreingenommenheit gegenüber dem Bericht wie gegenüber der Sache hat es erfreulicherweise auch gegeben: abwägende Urteile selbst bei
solchen Blättern, die sich nicht gerade als regierungsfreundlich empfinden. Die neuesten aktuellen Zahlen und Entwicklungen, z. B. auf dem Gebiet des Reise- und Besucherverkehrs, konnten in dem Bericht noch nicht einmal enthalten sein. Sie liegen inzwischen auf dem Tisch.
Ich darf dazu bemerken, daß allein Ostern 1973 — in den vier Tagen, die zur Verfügung standen 250 904 Bewohner der Bundesrepublik in die DDR gereist sind. Hinzu kommen noch viele hunderttausende Tagesaufenthalte in Ost-Berlin, die nicht miterfaßt wurden, außerdem die anderen Zahlen, die für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Verkehrsvertrages im Vergleich zu den Jahren davor vorliegen. In der Zeit von November 1971 bis März 1972 hatten 178 671 Rentner die Möglichkeit, aus der DDR in die Bundesrepublik zu kommen.

(Abg. Dr. Marx: Wie viele waren es denn vorher?)

— Ich habe die Zahlen für die Zeit vor dem Verkehrsvertrag genannt, vor der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages. Nun kommt die Zahl für die Zeit danach. Es sind von November 1972 bis März 1973 290 000, immerhin 110 000 mehr, darunter erstmals mehr als 10 '0/o Reisende aus der DDR in die Bundesrepublik — also mehr als 30 000 —, die aus Gründen sogenannter Härtefälle die Reise antreten konnten und nicht im Rentenalter standen. Das mögen Sie als Rinnsal bezeichnen; gemessen an dem, was vorher war, ist das eine qualitative Veränderung von großer Bedeutung, die für die Menschen tatsächlich Verbesserungen gebracht hat.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Und wer das nicht würdigt, der versteht diese Politik nicht, die sich den Menschen verpflichtet weiß und fühlt und bleibt — trotz all Ihrer Kritik.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Sehen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die vier Punkte, die Herr Kollege Strauß als Voraussetzung für eine Zustimmung der CDU/CSU zum Grundvertrag genannt hat, sind erstaunlich -- erstaunlich insofern, als sie nun wirklich nicht zur Begründung der Ablehnung des Vertrages durch die Opposition herhalten können. Die Opposition hat schon im Innerdeutschen Ausschuß nicht wahrhaben wollen, was ich hier noch einmal in Anlehnung an die vier Forderungen von Herrn Strauß zusammenfasse.
Erstens: Der Vertrag ist das Ergebnis eines über lange Monate geführten Meinungsaustausches, der 1970 in Erfurt begonnen hat; und anschließender intensiver Verhandlungen. Die Vorbereitungen, an denen Sachverständige aus den verschiedensten Ressorts beteiligt waren, stützten sich auf die Ergebnisse jahrelanger Expertenarbeit und eingehender Konsultationen mit unseren Verbündeten.
Zweitens: Es liegt ein eindeutiger Vertrag vor, der Auffassungsunterschiede eben nicht verschleiert und der die tragenden Grundsätze und Prinzipien des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten auf die Übereinstimmung der Staatengemeinschaft stützt.



Bundesminister Franke
Drittens: Der Vertrag ist ein in sich ausgewogene Kompromiß, der langjährige Vorbedingungen der DDR vom Tisch bringt. Hinzu kommen die Vereinbarungen, die eine schrittweise Lösung praktischer und humanitärer Fragen und die Zusammenarbeit der deutschen Staaten auf den verschiedensten Gebieten zum Gegenstand haben.
Damit bin ich schon bei Punkt 4: Dieser Modusvivendi-Vertrag hält die deutsche Frage offen. Was kann die Situation Deutschlands denn klarer charakterisieren als der Fortbestand der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte?
Meine Damen und Herren, wir streben die vertraglich gesicherte Zusammenarbeit mit dem anderen deutschen Staat in nahezu allen Bereichen an — eben weil uns die gegenwärtigen Zustände so wenig gefallen, eben weil eine Änderung dieser Zustände zum Besseren nicht ohne eine solche vertraglich geregelte Zusammenarbeit möglich ist.
Wir empfinden die Schwierigkeiten, die es z. B. auf dem Gebiet der Rechtshilfe bisher gegeben hat, als unnormal. Deshalb soll im Interesse der Recht-suchenden der Rechtsverkehr vertraglich geregelt werden — und zwar so einfach und zweckmäßig wie möglich.
Wir empfinden es als unnormal, daß es auf dem weiten Feld des nichtkommerziellen Zahlungs- und Verrechnungsverkehrs — von Unterhaltszahlungen bis hin zur Überweisung von Grabpflegekosten — schier unüberwindliche Schwierigkeiten gibt. Deshalb soll diese schwierige Materie — denken Sie z. B. an das Sperrkontenproblem — auf dem Verhandlungswege einer Lösung zugeführt werden. Vorrangig werden dabei die Probleme in Angriff genommen werden, die den kurzfristigen Abschluß von Vereinbarungen unter sozialen Gesichtspunkten erforderlich machen.
Wir empfinden die minimalen Beziehungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens als unnormal. Denken Sie an so brennende Probleme wie z. B. die Seuchenbekämpfung, den Austausch von Medikanmenten und vieles mehr. Damit es zu einer verstärkten Zusammenarbeit kommt, damit z. B. die Möglichkeiten erweitert werden, in dem einen Staat auch bestimmte Arzneimittel zu bekommen, die nur in dem anderen Staat hergestellt werden, soll mit der DDR verhandelt werden. Entsprechend der Bedeutung des Gesundheitswesens werden die Verhandlungen schon jetzt beginnen.
Die Reihe dieser Beispiele könnten fortgesetzt werden, und das zeigt, meine Damen und Herren, daß wir erst am Anfang stehen. Der Bericht und die Dokumentation über die Entwicklung der Beziehungen, die ich Ihnen zustellte, haben auch das deutlich gemacht.
Hier in den abschließenden Beratungen zum Grundvertrag können wir aber heute außerdem folgendes feststellen: Es handelt sich nicht mehr um einseitige Forderungen unserer Seite oder um bloße unverbindliche Absichtserklärungen. In Art. 7 des Vertrages und im Zusatzprotokoll sind die künftigen Verhandlungsgebiete verbindlich vereinbart und abgesteckt. Ein Beweis für die veränderte Situation sind die funktionierenden und sich in der Praxis schon bewährenden Verhandlungsstränge, also z. B. die praktische Arbeit in den drei bestehenden Kommissionen, der Verkehrs-, der Transit- und der Grenzkommission. Nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrags werden in Bälde die ständigen Vertretungen bei der jeweils anderen Regierung errichtet werden. So rundet sich das Bild ab.
Das politisch wirklich Entscheidende aber wird es sein, daß bei aller Verschiedenartigkeit und Gegensätzlichkeit im Politischen ein wenn auch noch so begrenztes Entwicklungsfeld für menschliche Verbindungen erschlossen wird. Daß so etwas überhaupt möglich ist, mußte erst einmal ausprobiert und bewiesen werden. Jetzt haben wir Tatsachen, und der Grundlagenvertrag bringt neue Tatsachen, die ihr Eigengewicht und eine eigene Zugrichtung schon jetzt entwickelt haben und weiter entwickeln wer: den; allerdings vorausgesetzt — das möchte ich nicht verhehlen —, die Gesamttendenz der Entspannung hält an, die schließlich und endlich auch den Grundlagenvertrag hervorgebracht hat.
Nichts deutet darauf hin, daß diese Grundtendenz von irgendeiner Seite ernsthaft in Frage gestellt wird. Ich muß davor warnen, das allein deshalb zu tun, um der Politik dieser Bundesregierung eins auszuwischen.
Wir wissen um die heftigen und heute noch wirksamen Auswirkungen gewaltsam entstandener Gegensätze und einer gewaltsam ausgetragenen Abgrenzung. Aber jeder sollte sich heute und in dieser Debatte fragen, warum der Beifall einer Welt, die den Frieden sucht, dieser Regierung gilt, die auch angesichts von Intoleranz und gewaltsamer Form der Abgrenzung nicht müde wird, Entspannung zu fordern — eher und mehr, als anzuklagen.
Zur Entspannung gehören zwei. Die Gegensätze werden bleiben, und die unterschiedlichen Ziele werden neue Gegensätze hervorrufen. Aber wenn die gemeinsam eingeleitete Vertragspolitik zwischen der Bundesrepublik und der DDR gelingt, werden Mitmenschlichkeit und Zutrauen mehr Entwicklungsraum erhalten. Wenn dieser Vertrag nun geschlossen ist und beide deutschen Staaten ihren Willen zur friedlichen Verständigung mit dem Antrag auf Beitritt zu den Vereinten Nationen bekräftigen, muß sich das auch auf diese Grenze auswirken, und zwar nicht nur so, daß sie für nachbarschaftliche Besuche durchlässiger wird, sondern vor allem auch dadurch, daß an dieser Grenze das Schießen aufhört.
In einer Phase, in der die europäische Politik neue Formen der Zusammenarbeit und Verständigung entwickelt und auch unsere Verträge ihre Wirkung entfalten werden, ist es Sache der DDR, zu versuchen, die Existenz ihrer Sperranlagen zu rechtfertigen. Aber das Schießen auf Menschen, die aus welchen Gründen auch immer die Flucht über Mauer und Sperrgürtel wagen, ist mit dem Willen zu gutnachbarlichen Beziehungen über die Grenze hinweg unvereinbar.

(Beifall auf allen Seiten.)




Bundesminister Franke
Hiermit werden wir uns nicht abfinden, gerade weil
es dieser Regierung mit der Entspannung ernst ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703004300
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Dr. Abelein. Für ihn hat die Fraktion der CDU eine Redezeit von 30 Minuten beantragt.

Dr. Manfred Abelein (CDU):
Rede ID: ID0703004400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gründe, die für und gegen den Grundvertrag sprechen, sind von allen Seiten ausführlich dargelegt worden. Mit der Ratifizierung des Grundvertrags wird die 1969 eingeleitete neue Ost- und Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen. Ich selbst würde dafür lieber das Wort „Tiefpunkt" wählen. Eines ist richtig: Der Grundvertrag ist für Deutschland einer der folgenreichsten Verträge seiner Geschichte, und zwar schon deswegen, weil das Wort „Deutschland" für Deutschland als Ganzes und als historische Einheit zum erstenmal in einem so weittragenden Vertrag überhaupt nicht mehr vorkommt.
Ich möchte gleich auf einige Dinge Ihrer sehr kühnen Rede, Herr Minister Franke, eingehen. Über die ausreichende Zeit, die das Parlament für die Beratung dieses Vertrags gehabt hat, wird noch einiges zu sagen sein. Ich glaube, es gibt keinen wichtigen Vertrag, der in einer derartigen Hektik im Parlament durchgepeitscht wurde, wie der Grundvertrag.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dazu wird mein Kollege Reddemann nachher noch das Notwendige sagen.
Ich finde es eine der kühnsten Behauptungen — darauf werde ich nachher noch ganz kurz eingehen, obgleich der Kollege Amrehn das Notwendige gesagt hat —, daß die Interessen Berlins gewahrt seien. Im Grundvertrag steht doch dazu kein Satz! Wie können Sie denn sagen, diese Interessen seien gewahrt worden?! In einer Erklärung wurde eine Kann-Bestimmung aufgenommen. Danach kann Berlin (West) — auf das Vokabular wird auch noch einzugehen sein — in die Folgeverträge einbezogen werden. Und Sie reden hier von einer ausreichenden Wahrung der Interessen Berlins.
Was die völkerrechtliche Anerkennung angeht — um das gleich vorweg zu sagen —, so sagen Sie, sie finde nicht statt. Wir werden Sie in dieser These nachdrücklich unterstützen. Nur: Bezeichnend ist der Stil, in dem Sie diese ganze Argumentation führen. Auf der einen Seite sagen Sie — das haben Sie sehr früh getan —, das andere ist ein anderer, zweiter, gleichberechtigter deutscher Staat, aber Ausland ist es nicht. Es ist ein zweiter deutscher Staat, völkerrechtliche Beziehungen beherrschen den Charakter der beiden Staaten — das sagten Sie, Herr Bahr —, aber eine völkerrechtliche Anerkennung findet nicht statt.
Sie breiten — der Verdacht besteht in hohem Maße — einen dichten Nebel über das politische Feld der Diskussion, um möglicherweise unbemerkt andere Positionen dahinter aufbauen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist hier schon einmal gesagt worden: Sie lassen die internationale Welle der völkerrechtlichen Anerkennung rollen, um dann hernach, möglicherweise achselzuckend, festzustellen, daß jetzt ja alles passiert sei und man sich der Realität nicht länger entziehen könne.

(Abg. Jäger [Wangen] : Genau!)

Die Frage, die sich nach der ersten Lesung in der zweiten Lesung stellt, lautet: Gibt es denn irgendwelche Gründe, die in der Zwischenzeit aufgetaucht sind, die zu einer Revision der Meinungen führen könnten, und zwar der Meinungen auf allen Seiten dieses Hauses? Hierzu ist zu sagen, daß die bisherigen Erfahrungen seit der Unterzeichnung des Vertrages eher die Skepsis gegenüber dem Grundvertrag rechtfertigen. Sie haben die Bedenken nicht ausgeräumt. Die von der Bundesregierung künstlich hochgeschraubten Erwartungen sind in keiner Weise eingetroffen. Sie reden von den Erleichterungen im Reiseverkehr, Herr Franke. Aber diese Erleichterungen sind doch die Konsequenzen des Verkehrsvertrages, der hier gar nicht zur Debatte steht und dem wir im übrigen ja zugestimmt haben;

(Bundesminister Franke: Das gehört ja zusammen!)

wir reden hier vom Grundvertrag.
Wir von der Opposition wären im übrigen glücklich gewesen, wenn wir mit unseren warnenden Hinweisen unrecht gehabt hätten. Die Ernüchterung über Wert und Auswirkungen des Grundvertrages ist nämlich sowohl in diesem Hause als auch draußen in der Bevölkerung viel rascher gekommen, als wir gedacht haben. Darüber werden Sie nicht hinweggehen können.
Es hat sich bereits jetzt gerächt, daß nahezu alle Leistungen von seiten der DDR, die die Bundesregierung als die bedeutendsten Ergebnisse und Errungenschaften ihrer Politik herausgestellt hat, eben nicht Inhalt des zehn Artikel umfassenden, verbindlichen Vertrages sind, sondern Gegenstand von Briefwechseln, Erläuterungen, Erklärungen zu Protokoll, Erklärungen des Bundeskanzlers, Erklärungen einiger Bundesminister zum Abschluß der Verhandlungen und Erklärungen des Staatssekretärs Bahr sind, über deren Tragweite und Bedeutung ich mich hier nicht verbreiten möchte. Aber sie sind sicher nicht höher einzustufen als die Verbindlichkeit, die Herr Bahr den Beschlüssen dieses Hauses beigemessen hat.
Die sogenannten menschlichen Erleichterungen --- auch davon wird noch zu reden sein — haben sich bisher eben nicht günstig entwickelt. So haben sich z. B. die zugesagten Erleichterungen für Einreisen als kulturellen, wissenschaftlichen, religiösen und sportlichen Gründen auf Grund von Einladungen aus der DDR in keinem Fall über das bisher übliche Maß hinaus realisieren lassen.
Es bleibt die Frage bestehen: Wie sind denn die Reiseerleichterungen? Wie sehen diese Reiseerleichterungen von Ost nach West denn tatsächlich aus? Bisher spricht alles dafür, daß im gleichen Zeitraum nur die Einreisen von DDR-Funktionären in



Dr. Abelein
die Bundesrepublik Deutschland aus politischen Gründen zur Unterstützung der DKP und der ihr nahestehenden kommunistischen Organisationen sowie zur Infiltration in anderen Bereichen erheblich zugenommen haben. Lesen Sie doch die Berichte Ihres eigenen Bundesgrenzschutzes über den Interzonenverkehr! Dann kommen Sie zu einer zutreffenden Analyse.
Im Bericht zur Lage der Nation — davon wird an dieser Stelle noch zu sprechen sein — haben Sie eine große Schönfärberei betrieben. Ein eindrucksvolles Bild der Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung gibt der Bericht jedenfalls nicht.
Daraus ergibt sich nämlich folgende Situation. Die eine Seite, nämlich die DDR, hat mit Inkrafttreten des Vertrages die Leistungen erhalten, die ihrer Interessensituation entsprechen, nämlich die allgemeine internationale völkerrechtliche Anerkennung. Die Gegenleistungen sollten dann in den sogenannten Folgeverträgen geregelt werden. Wir werden sehr aufmerksam beobachten, was dabei ausgehandelt wird. Damit hat die DDR — und man kann ruhig hinzusetzen: die Sowjetunion — ihre Ziele bereits mit der Unterzeichnung erreicht. Der Rest steht noch aus.
Ich sage absichtlich: die Sowjetunion, denn hier ergibt sich ein hochinteressanter Aspekt. Der scheinbar nur bilaterale Grundvertrag ist nämlich nach seiner Vorgeschichte und in seiner Substanz, worauf der Kollege Mertes bereits hingewiesen hat — auch ich möchte es an dieser Stelle noch einmal tun —, die Erfüllung einer Verpflichtung gegenüber einer ausländischen Großmacht, nämlich gegenüber der Sowjetunion. Im Gromyko-Bahr-Papier ist doch der Inhalt dieses Grundvertrages weitgehend vorformuliert worden, teilweise bis in den endgültigen Wortlaut hinein. Das heißt, für die Auslegung dieses Vertrages wird auch die Haltung der Sowjetunion von großer Bedeutung sein, die eben dann entsprechend dem rechtlichen Primat des proletarischen Internationalismus diesen Vertrag interpretiert.
Hier möchte ich in aller Kürze eine Anmerkung anbringen. Sie sprechen von ausreichender Wahrung der Interessen Berlins. Herr Falin meint, West-Berlin gehöre ohnehin bald der DDR an. Er sagte, West-Berlin werde, der natürlichen Schwerkraft der Dinge folgend, über kurz oder lang ein Bestandteil der DDR werden.

(Abg. Dr. Marx: Ob das seine private Meinung ist?)

Das gehört mit in diesen Zusammenhang hinein. Von einer ausreichenden Garantie der Stellung West-Berlins kann überhaupt nicht die Rede sein, im Gegenteil, Sie haben diese Stellung in hohem Maße gefährdet.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

An dieser Stelle möchte ich auf einen Satz des Kollegen Metzger eingehen, der mir sehr bezeichnend zu sein scheint. Ich sehe den Kollegen nicht im Saal. Er sagte, man möge doch nicht auch noch beim UNO-Beitritt die Initiative der anderen Seite überlassen. Ich möchte sagen, das war eine sogenannte Freudsche Richtigleistung, denn die Freudschen Fehlleistungen sind ja meistens Freudsche Richtigleistungen. Das zeigt nämlich, daß das ganze Vertragswerk offensichtlich auf die Initiative der anderen Seite zurückzuführen ist. Die Bundesregierung hat sich in eine Situation begeben — wir sahen das schon in Aktuellen Stunden —, in der sie über die Gegenleistungen der anderen Seite, die menschlichen Erleichterungen, erst noch verhandeln muß. Wie sich im Falle der Journalistenverordnung zeigt, werden zuerst Vereinbarungen getroffen, dann werden durch irgendwelche Maßnahmen von der anderen Seite die Zusagen zurückgenommen, und dann muß man noch einmal verhandeln.
Lassen Sie mich hier folgendes Bild gebrauchen. Ich habe bei aller moralischen Verurteilung immer jene Pferdehändler bewundert, die es verstanden haben, den gleichen Gaul mehrmals an verschiedene Kunden zu verkaufen.

(Abg. Dr. Marx: Einmal mit und einmal ohne Gebiß!)

Die Sowjetunterhändler verstehen aber die noch sehr viel höhere Kunst, den gleichen Gegenstand mehrfach an den gleichen Vertragspartner zu verkaufen, nämlich an die Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

In diese Situation hat uns die glänzende Verhandlungsführung des Herrn Bahr gebracht.

(Abg. Dr. Jaeger: Sehr richtig!)

Er hat uns in eine Situation gebracht, in der wir von der anderen Seite leicht erpreßt werden können, denn diese ganzen Zusagen im Bereich der menschlichen Erleichterungen, der Familienzusammenführung, des Reiseverkehrs, der Handhabung der .Journalistenverordnung, werden doch mit Sicherheit von dem jeweiligen Wohlverhalten der Bundesregierung abhängig gemacht werden. Ich habe das Stichwort bereits genannt.
Als Beispiel dafür, in welch hohem Maße sich die Bundesregierung hat hereinlegen lassen, zeigen sich die gesamten Vorgänge um die sogenannte Journalistenverordnung. Der Tatbestand ist rasch umschrieben; das Haus kennt ihn. Im Zuge der Freiheit des Austausches von Informationen und Meinungen als Intensivierung des Kontaktes zwischen beiden Staaten sollten Journalisten aus der Bundesrepublik leichtere Arbeitsmöglichkeiten in der DDR haben. So steht es in einem Briefwechsel. Aber dort steht noch ein Wörtchen: „im Rahmen der Rechtsordnung der DDR", und im Rahmen der Rechtsordnung der DDR hat die Regierung der DDR diese Zusage der Sache nach wieder zurückgenommen. Ich finde, das viel Bezeichnendere an diesem Vorgang ist, daß die Bundesregierung durch Sprecher und Minister hier auch noch erklären ließ, daß sie eigentlich Verständnis für diesen Vorgang hat, da man keinen Einfluß auf die Rechtsetzung anderer Staaten nehmen könne. Ja, wozu schließt sie denn dann Verträge ab? Es ist doch der Sinn, den Vertragspartner zu binden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Abelein
Im übrigen: wenn ich hier formuliere „hereinlegen", so ist dies für Sie zwar eine schlimme, aber noch die günstigere Version. Denn das Verständnis, das Sie hierfür gezeigt haben, ist noch viel bedenklicher und rückt Sie in die bereits vom Kollegen Klein warnend herausgehobene Nähe der Grenze zwischen Verständnis und Einverständnis, die Sie in einer bedenklichen Weise berühren. Zumindest machen Sie den Anschein.
Die Regierung der DDR hat eine großzügige Interpretation zugesagt, und zwar nach der Aktuellen Stunde im Bundestag. Aber diese großzügige Interpretation wird doch sicher wieder von Ihrem Wohlverhalten abhängen. Hier ist erneut zu sagen: Eile und Hektik sind denkbar schlechte Voraussetzungen für Verhandlungen mit Unterhändlern der Sowjetunion oder der DDR. Es rächt sich jetzt, daß die Bundesregierung ein so weittragendes Vertragswerk als eiligen Wahlschlager komponiert hat.
Die Bundesregierung behauptet gerne, die von ihr abgeschlossenen Verträge, auch der Grundvertrag, zögen nur die Konsequenzen aus der tatsächlichen Situation, die sie selbst ja nicht geschaffen habe. Das wurde heute wieder behauptet. Daran ist einiges richtig, das Wesentliche ist falsch. Richtig ist, daß die faktische Teilung Deutschlands immer noch, so viele Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, von den Sowjets erzwungen wird. Aber neu ist, daß die Bundesregierung jetzt zumindest den Anschein gibt — so wenigstens versteht die ganze Welt die Unterschrift der Bundesregierung —, als wolle sie diese Teilung Deutschlands jetzt auch noch rechtlich anerkennen. Ich erinnere an dieser Stelle erneut an die Äußerung in der „Times" vom Dezember 1972, die schrieb, der Grundvertrag besiegele die Liquidierung des BismarckReiches nach nur 101jährigem Bestehen. Beides ist aufschlußreich. Einmal der zeitliche Hinweis und außerdem, daß darin festgestellt wird, die Auflösung Deutschlands werde durch den Grundvertrag besiegelt.
Nichts deutet im übrigen darauf hin, daß das Ausland die Anerkennung der beiden deutschen Staaten mit völkerrechtlicher Wirkung ohnehin vollzogen hätte. Das ist eine Legende, die die Regierung auch in dieser Debatte hartnäckig verbreitet hat und die durch ständige Wiederholung keineswegs richtig wird. Bis zur einseitigen Erfüllung der sowjetischen Forderung nach Anerkennung der Zwei-Staaten-Theorie durch diese Bundesregierung haben nur 14 kommunistische Regierungen und außer Kambodscha noch fünf arabische Staaten wegen der Einstellung der Bundesrepublik zu Israel und ihrer damaligen Abhängigkeit von Moskau die DDR völkerrechtlich durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anerkannt. Die übrigen Staaten sahen in der Bundesrepublik Deutschland die Vertreterin Gesamtdeutschlands. Das zeigt nichts deutlicher als der Besuch de Gaulles in Moskau im Jahre 1966, als er sich eindeutig für die Wiedervereinigung des deutschen Volkes „in seinen derzeitigen Grenzen" einsetzte und die Anerkennung der DDR als eines künstlichen Gebildes ablehnte.
Sie reden nun immer von den Alternativen. Hier liegen die Alternativen. Wir brauchen sie in keiner Weise zu scheuen. Trotz aller Schwierigkeiten und Krisen ist es nämlich vorangegangenen Bundesregierungen, die die CDU geführt hat, gelungen, die Bundesrepublik Deutschland als ein für die ganze übrige Welt verbindliches Modell eines einheitlichen Deutschlands aufrechtzuerhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Jaeger: Sehr richtig!)

Der Deutschland-Vertrag von 1954 ist ein erfolgreicher Ausdruck dieser Politik gewesen. Wir haben gegenüber aller Welt auch für diejenigen gesprochen, die heute immer noch nicht frei sprechen können. Die Bemühungen der DDR um weltweite Anerkennung als zweiter deutscher Staat waren bis zum Antritt dieser Bundesregierung erfolglos geblieben. Im übrigen muß ich sagen: das waren die Anstrengungen aller Teile dieses Hauses, auch der SPD.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Sehr richtig!)

Das ist es, was wir unter Gemeinsamkeit verstehen. Sie haben doch die Gemeinsamkeit verlassen, nicht wir.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben diesen Damm eingerissen. Die ganze Welt versteht diesen Vertrag als Anerkennung der deutschen Teilung. Das ist Ihre Alternative; unsere habe ich genannt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Hieran knüpfen sich leider auch schwerwiegende rechtliche Bedenken. Mein Kollege Klein wird nachher, nehme ich an, darauf und auf die Vorgänge im Rechtsausschuß eingehen, und er kann dann die gleichen Erfahrungen aus dem innerdeutschen Ausschuß ruhig anfügen.
Das Grundgesetz, das nicht nur ein rechtliches Dokument, sondern auch die Richtschnur des politischen Handelns für dieses Parlament ist, schreibt vor, daß alle Staatsorgane, an erster Stelle die Bundesregierung, die Rechtspflicht und auch die politische Pflicht haben, die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anzustreben. Die Bundesregierung und diese Koalition unternehmen jedoch faktisch genau das Gegenteil. Es wäre sicherlich verfassungswidrig, wenn die Wiedervereinigung Deutschlands als politisches Ziel ausdrücklich, verbal deutlich aufgegeben würde. Ebenso verfassungswidrig wäre eine politische Maßnahme, wenn sie rechtlich oder tatsächlich einer Wiedervereinigung in Freiheit entgegenstünde. Sie bekennen sich hier nach wie vor zur Einheit. Aber faktisch setzen Sie Maßnahmen, die das Gegenteil zum Ziel haben.
Die Sätze des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema sind uns wohl bekannt. Es spricht hier von Evidenz, die vorliegen müsse, wenn ein Richter einen solchen Vorgang als verfassungswidrig bezeichnen wolle. Nur frage ich mich, was noch evidenter sein soll als das, was im Grundvertrag steht. Das ist meine persönliche Meinung, die ich hier anfügen möchte. Der Vertrag redet von zwei deutschen Staaten, der Unverletzlichkeit der Grenzen, der Achtung der territorialen Integrität, der Gleichberechtigung



Dr. Abelein
und der Respektierung der Unabhängigkeit zweier deutscher Staaten. Das ist doch alles das Gegenteil von Einheit, das ist alles das Gegenteil von Wiedervereinigung, das steht alles im Gegensatz zur Präambel dieser Verfassung.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Damm: Sehr wahr!)

Vieles spricht auch dafür — ich will es kurz machen —, daß der Grundvertrag auch das Beitrittsrecht anderer Teile Deutschlands zum Grundgesetz entsprechend Art. 23 des Grundgesetzes verletzt. Seine Verwirklichung wird ebenfalls evident erschwert. Denn unabhängig von den schon vorher bestehenden faktischen Schwierigkeiten kommt jetzt noch das neue, zusätzliche faktische und rechtliche Erschwernis der Zustimmung der DDR hinzu, die im übrigen durch die Breschnew-Doktrin fest in das sozialistische Lager eingebunden ist. Die BreschnewDoktrin ist doch eigentlich die Formulierung einer Einbahnstraße: man darf hinein, aber man darf nicht mehr heraus. Dort liegt das entscheidende Hindernis für eine Übereinstimmung mit der Offenhaltung der deutschen Frage im Sinne von Art. 23 des Grundgesetzes.
Dieses Thema wird noch ausführlicher behandelt werden; ich gehe nur deswegen darauf ein, weil der Kollege Metzger dieses Thema angeschnitten hat. Lassen Sie mich zum Schluß in diesem Zusammenhang noch auf folgenden Gesichtspunkt eingehen. Nach dem Grundgesetz haben die staatlichen Organe in der Bundesrepublik Deutschland eine Obhuts- und Fürsorgepflicht gegenüber allen Deutschen, auch gegenüber denen in der DDR. Dazu zählt unter anderem die Pflicht zum diplomatischen und konsularischen Schutz in Drittländern. Wie will die Bundesregierung denn angesichts der eingegangenen Verpflichtungen, die Unabhängigkeit und Selbständigkeit eines zweiten deutschen Staates, eben der DDR, in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten anzuerkennen, diesen Schutz noch ausüben? Wenn das DDR-Regime die Hoheitsgewalt eines gleichberechtigten Staates besitzt, hat es diese Hoheitsgewalt doch auch über seine Angehörigen. Die Bundesregierung mag einwenden, die politische Entwicklung sei nun einmal anders gelaufen. Dann muß das Grundgesetz eben geändert werden, denn mit dem Grundgesetz stehen diese Dinge in einem bedenklichen Konflikt.

(Abg. Dr. Schäfer Sie es!)

Das Grundgesetz geht vom Begriff der nationalen und staatlichen Einheit aus. Das war auch die gemeinsame Basis der im Bundestag vertretenen Parteien, also auch der SPD und der FDP. Zumindest galt dies bis zum Zeitpunkt der Übernahme der Bundesregierung durch die gegenwärtigen Koalitionsparteien. Im Oktober 1969 hat dann die SPD/FDP-Regierung den Begriff der Nation als Klammer um die Existenz zweier Staaten in Deutschland gefügt, der nun Gegenstand eines ständigen Jonglieraktes dieser Bundesregierung ist. Wir haben es hier mit einem zentralen Begriff zu tun. Ich werde darauf mit einigen Sätzen eingehen.
Die Deutschlandpolitik der vorangegangenen Bundesregierungen war von dem Ziel bestimmt, das gespaltene und zerrissene Volk wieder in eine staatliche Einheit zusammenzuführen. Jetzt geht die Bundesregierung davon aus, daß es gelte, wenigstens die Einheit der Nation zu wahren. Der Begriff der Nation stellt für die Bundesregierung eine Art Refugium dar. Er wird im übrigen zunehmend unschärfer und unpräziser. Offensichtlich versucht man auch hier, hinter dem Nebel, der über das Feld der politischen Auseinandersetzungen gebreitet wird, neue Stellungen zu beziehen, die man im Augenblick nicht voll offenbaren möchte.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Man hat manchmal Schwierigkeiten, nach dem berufenen Sprecher dieser Bundesregierung zu suchen. Nehmen wir einmal an, der Bundeskanzler sei dieser Sprecher. In seiner letzten Regierungserklärung taucht der Begriff „Kulturnation" auf. Dieser Begriff ist keine Erfindung von ihm; es ist auch kein neuer Begriff. Wahrscheinlich ist dieser Begriff im Zusammenhang mit den neuen Bemühungen des Bundeskanzlers und auch der SPD um die Gewinnung eines Geschichtsbewußtseins zu sehen. Also ein neues Wort, das auf dieser Seite des Hauses auftritt.

(Abg. Dr. Kliesing: Sehr gut!)

Man hat diesen Begriff gewählt, weil er anscheinend in die gegenwärtige Konzeption paßt. Eine kühne Vision ist das alles nicht. Möglicherweise hängt es auch mit dem erschütterten Fortschrittsglauben des Bundeskanzlers zusammen, daß er hier in das 19. Jahrhundert zurückgreift. Die Kulturnation hat damals die Klammer der deutschen Einheit bedeutet. Dieser Begriff stammt es der Welt der deutschen Kleinstaaterei, der gespaltenen deutschen Nation. Er kennzeichnet eine Art Ersatzbefriedigung des Verlangens nach Einheit des deutschen Volkes. Jetzt wird dieser Begriff wieder gebraucht. Sie können von uns aber nicht verlangen, daß wir mitmachen, wenn dieses Kapitel der deutschen Geschichte erneut aufgeschlagen wird. Wir haben eigentlich geglaubt, dieses Kapitel gehöre der Vergangenheit an.
Sie können uns auch nicht damit darüber hinwegtrösten, daß Sie hier über angebliche Gemeinsamkeiten mit dem Ausland sprechen. Viele Köpfe des Auslands haben ein Geschichtsbild von Deutschland, das der Situation entspricht, ,die über Jahrhunderte hinweg bei uns maßgebend war. Uns ist es aber, so meine ich, gelungen, dem Ausland verständlich zu machen, daß die deutsche Einheit kein Schaden für das Ausland zu sein braucht, sondern auch im Interesse des Auslandes liegt. Auch davon nehmen Sie jetzt Abschied und kehren zu vergangenen, keineswegs ruhmvollen Kapiteln der deutschen Geschichte zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die gegenwärtige Bundesregierung gibt den anspruchsvollen und randscharfen Begriff der politischen Nation, der Staatsnation auf. Darin liegt wie im letzten Jahrhundert die Gefahr einer Entfremdung des deutschen Volkes von der Aufgabe, die deutsche Einheit zu wahren.



Dr. Abelein
Es ist natürlich naheliegend: Je verschwommener und unklarer die Begriffe und damit die Positionen dieser Bundesregierung werden wobei ich über die Vorstellungen vieler Mitglieder des systemverändernden Flügels der SPD hier gar nicht reden möchte, denn die haben wahrscheinlich präzise Vorstellungen , desto deutlicher treten die Positionen der DDR heraus. Einmal ist hier anzumerken, daß im Grundvertrag nirgendwo die Einheit der Nation auftaucht. Noch nicht einmal die Minimalforderungen von Kassel sind in dieses Papier aufgenommen worden.
Im übrigen zeigt dieser Begriff deutlich die Feder Kohls, des Unterhändlers der DDR. Denn der Begriff „nationale Frage" ist eine Wortschöpfung der kommunistischen Ideologie mit einem ganz präzisen Inhalt. Er lautet: nationale Frage ist die „Frage des Klassenproblems in Westdeutschland". Das ist im übrigen auch in einem Programm der SED genau formuliert, das sie am 17. Juni verabschiedet hat. Offentsichtlich ist der 17. Juni, wenn auch in einer negativen Weise, für die SED und die DDR immer noch ein bedeutendes Datum. Die Bundesregierung fühlt sich — das merkt man, wenn man sich ihren Bericht vornimmt, von dem noch zu sprechen sein wird — an dieses Datum offensichtlich nicht mehr gern erinnert. Vielleicht paßt es nicht in ihr neues Geschichtsbild.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie würde dieses Datum ja am liebsten streichen.
Die „nationale Frage" ist also ein Begriff aus den Lehrbüchern des Kommunismus. Sie haben ihn sich oktroyieren lassen. Es gibt zwei Versionen: Entweder haben Sie ihn gekannt, dann hätten Sie etwas dagegensetzen müssen; oder aber sie haben ihn nicht gekannt, dann ist das ein weiterer Beweis für die unerhörte Leichtfertigkeit, mit dem diese Bundesregierung und ihr Unterhändler diese Verhandlungen geführt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

In den gegenwärtigen Augenblicken sind die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten durch Abgrenzungsversuche der DDR-Regierung gekennzeichnet. Das ist sehr deutlich. Herr Franke, ich verstehe Sie überhaupt nicht, wenn Sie diese Abgrenzungsversuche mit anderen Worten hier sogar noch als vertragskonform zu rechtfertigen versuchen, indem Sie sagen, das sei nicht vertraglicher Inhalt. Ja, was denn sonst! Sie reden doch ständig von einem Vertrag, der das Ziel haben soll, die Kontakte zu intensivieren, die beiden Teile Deutschlands enger aneinander zu führen. Und jetzt sagen Sie, das sei nicht Inhalt des Vertrags. Hier liegt ein eklatanter Verstoß gegen den Geist des Vertrags vor.
Ich muß langsam zu Ende kommen. Deswegen kann ich die hochinteressanten und für Sie so unangenehmen Ausführungen zu diesen bedeutenden Kapiteln leider nicht in der notwendigen Ausführlichkeit fortsetzen.
Lassen Sie mich hier nur folgendes sagen. Es handelt sich hier um eine Doppelstrategie. Denn je verschwommener Ihre Positionen werden, desto präziser werden die der anderen. Hinter der Abgrenzung steht die sozialistische deutsche nationale Einheit. Sie können das zwar nachlesen, aber Sie tun es nicht; denn Sie sind in den festgefahrenen Gleisen Ihrer Ideologie. Aber damit werden Sie der anderen Seite nicht beikommen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Zum Schluß lassen Sie mich einige Gedanken überschlagen, jedoch noch folgendes sagen. Die neuere deutsche Geschichte ist gekennzeichnet durch die Einheitsbewegung, die bis zu ihrer Erfüllung hauptsächlich von der jungen Generation getragen wurde, darunter wieder von der jungen akademischen Generation. Die deutsche Einheit ist dann vielleicht nicht in der Form gekommen, wie sie viele gern vollzogen gesehen hätten. Aber sicher wurde sie auch in der erreichten Form getragen von der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes, im übrigen auch von den Sozialdemokraten.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die geschichtliche Tradition des Ringens um die deutsche Einheit völlig verlorengegangen sein könnte. Sie ist vielleicht vorübergehend verschüttet. Es gibt bereits heute Anzeichen dafür, daß gerade in der jüngeren Generation die Frage nach der deutschen Einheit wieder eine größere Rolle spielt. Die Frage nach dem Woher und nach dem Wohin, nach der Identität, der Zugehörigkeit, der Zusammengehörigkeit stellt sich unausweichlich jedem, vor allem jedem jungen Menschen. Im persönlichen Leben kann diese Frage unter Umständen zu schweren Erschütterungen führen. Die Frage nach der Einheit der deutschen Nation, nach den Anstrengungen für sie wird uns allen mit Sicherheit noch sehr viel drängender gestellt werden, als es im Augenblick der Fall zu sein scheint. Auch die Verantwortung gegenüber den gegenwärtigen und künftigen Generationen unseres Volkes lassen uns zu diesem Grundvertrag nur nein sagen. Denn er zeigt nicht den richtigen Weg, die gespaltene Nation wieder zusammenzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703004500
Das Wort hat der Abgeordnete Wischnewski. Für ihn hat die Fraktion der SPD eine Redezeit von 20 Minuten beantragt.

Hans-Jürgen Wischnewski (SPD):
Rede ID: ID0703004600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem ich die Vorlesung von Herrn Professor Abelein gehört habe, dann komme ich eigentlich zu der Auffassung, daß wir uns nicht sehr viel Neues zu sagen haben.
Wenn es um die Einheit der Nation, um die Einheit unseres Landes geht, dann sind im Augenblick ein Höchstmaß an menschlichen Kontakten und darüber hinaus viele gute Freunde überall in der Welt von entscheidender Bedeutung. Um diese Politik ist unsere Regierung bemüht.

(Abg. Dr. Probst: Das ist auch nicht neu!)

Ein Zweites. Wenn Sie hier schon die „Times" oder wie der Kollege Strauß gestern die „Neue Zürcher Zeitung" zitieren, dann sollten Sie beim



Wischnewski
Zeitunglesen auch festgestellt haben, daß sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Welt verändert hat. Es ist auch im Interesse unseres Landes und unserer Einheit, wenn wir im Interesse der Menschen in den beiden deutschen Staaten vorausschauen. Wenn, wie eben hier wieder, die „Times" zitiert wird, dann lassen Sie mich in bezug auf den Grundvertrag etwas anderes zitieren. Das ist mir wichtiger als die „Times" und wichtiger als die „Neue Zürcher Zeitung", auch wenn ich beide journalistischen Leistungen sehr schätze.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die „Prawda" !)

— Ich kann leider nicht Russisch. Sie können es vielleicht. Dann können Sie die „Prawda" lesen. Vielleicht können Sie mir bei Gelegenheit mal etwas übersetzen. Ich mache Ihnen gern den Vorschlag.
Das Außenministerium der Vereinigten Staaten hat im April 1973 seinen Jahresbericht für das Jahr 1972 abgegeben. In diesem Jahresbericht können wir feststellen, daß die Ostpolitik der Bundesregierung rückhaltlos gebilligt wird. Das Außenministerium der Vereinigten Staaten stellt fest — und ich zitiere wörtlich —, „daß die Bundesrepublik Deutschland am 21. Dezember 1972 in ihrer hartnäckigen Suche nach einem Modus vivendi mit der DDR einen bedeutenden Erfolg erzielt hat." Dies ist die Meinung unseres wichtigsten Verbündeten. Ich bitte um Entschuldigung, dies ist für uns wichtiger als die Meinung der „Times" oder der „Neuen Zürcher Zeitung" ; denn dies ist für die zukünftige Entwicklung von entscheidender Bedeutung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703004700

Niemand darf glauben, daß nach so vielen Jahren der Verkrustung, ja der Feindseligkeit, die Entwicklung der Beziehungen reibungslos erfolgen kann. Es wird Schwierigkeiten und es wird Ärger geben. Es wird Zeit, Geduld und guter Wille auf beiden Seiten nötig sein, damit der abgesteckte Weg auch genutzt wird.
Es ist ganz klar und eindeutig rechtzeitig auf die Schwierigkeiten hingewiesen worden.
Ein Drittes. Da wird immer gesprochen vom wahlpolitischen Termin und von zu großer Eile; auch Herr Professor Abelein hat das wieder getan.

(Abg. Jäger [Wangen] : Sehr wahr!)

Wenn mehr als zwei Jahre intensiv verhandelt worden ist — mehr als zwei Jahre! —, halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, daß die Bundesregierung das Verhandlungsergebnis dann auf den Tisch legt und sich jeder entscheiden kann. Das ist korrekt. Eine korrektere Möglichkeit gibt es nicht.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wahlpolitisch war nur folgendes: In den Tagen bis zur Bundestagswahl und nach der Veröffentlichung aller Dokumente in allen deutschen Zeitungen war die Opposition nicht in der Lage, eine Stellungnahme abzugeben. Sie hat diese Frage offengehalten und sagt erst heute — nach den Wahlen -zu dieser Frage ihre Meinung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dann ein Letztes. Der Kollege Strauß — ich bitte um Entschuldigung für die Polemik — hat gestern gesagt, Sie würden auch Verträge mit kommunistischen Staaten abschließen. Sehen Sie, das ist die entscheidende Frage, um die es geht: Sie würden gerne die Verträge abschließen. Aber am 19. November 1972 ist dafür Sorge getragen worden, daß Sie während der nächsten Zeit keine Verträge abschließen werden. Das ist eine Wahlentscheidung.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Es ist eben die Frage, ob solche Verträge gemacht werden!)

— Natürlich, Sie hätten sie nicht abgeschlossen. Vielleicht sind menschliche Erleichterungen für Sie persönlich nicht von so großer, entscheidender Bedeutung. Das ist möglich.

(Pfui-Rufe von der CDU/CSU. Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Schmöle: Das ist eine bösartige Verleumdung! — Abg. Kroll-Schlüter: Böse Primitivität!)

Lassen Sie mich jetzt bitte zu einem Thema kommen, daß ich seit gestern mittag eigentlich vermißt habe. Es hat auch zwei Berichte über den Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen gegeben. Ich habe ein bißchen Verständnis dafür, daß Sie das nun nicht zum bedeutendsten Punkt der politischen Auseinandersetzung machen. So wie die Dinge während der letzten beiden Tage bei Ihnen gelaufen sind, muß man wohl Verständnis dafür haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Abwarten!)

Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß es für den Bundestag eine Entscheidung von historischer Bedeutung ist, wenn 28 Jahre nach Kriegsende und 28 Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen die Voraussetzungen geschaffen worden sind, daß die Bundesrepublik Deutschland Mitglied der Vereinten Nationen, d. h. der Organisation der internationalen Völkerfamilie werden kann. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, daß wir den Platz einnehmen können, der uns gebührt. Das Land in der Welt, das den zweiten Platz im Welthandel einnimmt, muß in den Vereinten Nationen vertreten sein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das für eine Begründung?!)

In dieser Stunde möchte ich ein Wort an den Herrn Außenminister richten. Namens der SPD-Bundestagsfraktion möchte ich unserem Bundesaußenminister ein Wort des herzlichen Dankes sagen

(Beifall bei den Regierungsparteien)

für seinen entscheidenden Beitrag, den er auf unserem Weg in die internationale Völkerfamilie geleistet hat. Ich denke hier insbesondere an den



Wischnewski
engen und ständigen Kontakt mit unseren drei wichtigsten Verbündeten, ich denke an die ständige und immerwährende Abstimmung im NATO-Ministerrat, ich denke an den ständigen Kontakt und die Übereinstimmung in diesen Fragen mit den Ländern in der Europäischen Gemeinschaft.

(Zurufe von CDU/CSU.)

Ich denke an seine Gespräche in der Sowjetunion, aber auch an die Gespräche in China, das heute Mitglied des Weltsicherheitsrates ist und dort die Möglichkeit hat, ein Veto einzulegen.

(Abg. Reddemann: Da war Schröder zuerst!)

Ich denke an seine Gespräche bei den Vereinten Nationen. Der Name Walter Scheel bleibt mit dem Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen auf das engste verbunden. Wir möchten ihm dafür sehr herzlich danken.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu den Vereinten Nationen machen. Ich nehme an, daß wir in den Zielen der UN-Charta alle übereinstimmen. Es geht darum, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten durchzusetzen. Ich freue mich, daß wir die Möglichkeit haben, demnächst als Mitglied in den Vereinten Nationen zur Durchsetzung dieser Ziele einen aktiven Beitrag zu leisten. Mit dem Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen beginnt eine neue Dimension deutscher Außenpolitik. Wir haben mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutet auch, daß neue Probleme und oft auch neue Schwierigkeiten auf die Bundesrepublik zukommen werden. Aber wir haben keine Möglichkeiten, diesen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen.
Die Konstruktion der Vereinten Nationen hat mit Sicherheit von Anfang an einige Schwierigkeiten mit sich gebracht. Ob sich die gewisse Ungleichheit der Mitgliedschaft zum Segen der Organisation ausgewirkt hat, scheint mir sehr zweifelhaft zu sein. Wer den Abschlußbericht des früheren Generalsekretärs U Thant nach zehnjähriger Tätigkeit gelesen hat, weiß, um welche Probleme es sich handelt. Seit ihrer Gründung hat sich diese Weltorganisation entscheidend verändert. Sie war einmal das Ergebnis des zweiten Weltkrieges. Herr Professor Carstens hat hier schon einige Zahlen genannt. Heute gehören von 132 Mitgliedsländern in der Welt 96 der Dritten Welt an, d. h. es gibt in der Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Zweidrittel-Mehrheit der Länder der Dritten Welt. Heute spielt sich ein hoher Prozentsatz des NordSüd-Konflikts bei den Vereinten Nationen in New York ab. Zu einem erheblichen Teil ist es auch noch ein West-Süd-Konflikt, und es gibt mit Sicherheit auch Länder, die daran interessiert sind, daß es ein West-Süd-Konflikt bleibt. Trotz aller Probleme und trotz aller Schwierigkeiten gibt es aber auch eine große Chance, nämlich die Chance des ständigen Dialogs und die Möglichkeit des Ausgleichs zwischen Nord und Süd, zwischen den Ländern der Dritten Welt und den industrialisierten Ländern. Die Interessengebiete sind unterschiedlich. Die Länder der Dritten Welt interessieren sich in erster Linie für die Entwicklungspolitik, für die Beseitigung des Kolonialismus und für die Beseitigung des Rassismus. Die Industrieländer denken in stärkerem Maße an Probleme der Abrüstung, der Umwelt und der Handelsfragen. Hier müssen wir in der neuen Aufgabe darum bemüht sein, unseren Beitrag zu leisten, um einen Interessenausgleich zu erreichen. Wir sind keine Großmacht, aber wir sollten unsere Möglichkeiten auch nicht unterschätzen.
Ich glaube, wir haben allen Anlaß, ein dankbares Wort an unsere EWG-Partner zu richten. Wir waren nicht Mitglied der Vereinten Nationen, aber wir haben innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in New York ständig bei den Bemühungen mitarbeiten können, zu einer gemeinsamen Auffassung der Länder der Gemeinschaft auch bei den Vereinten Nationen zu kommen.
Der Ausbau dieser bedeutenden Vertretung wird nach der Aufnahme sicher notwendig sein. Vielleicht, Herr Bundesaußenminister, können Sie daran denken, zu prüfen, ob nun in jedem kleinen afrikanischen Land für die Zukunft eine Botschaft notwendig ist oder ob wir dort einen gewissen Ausgleich herbeiführen können. Wir haben die herzliche Bitte an Sie, Herr Bundesaußenminister, sich dafür einzusetzen, daß ein angemessener Anteil an deutschen Mitarbeitern bei der Weltorganisation — wir wissen, daß das nicht von heute auf morgen möglich ist zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erreicht wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich sieben abschließende Bemerkungen machen. Davon richten sich einige an die verehrte Opposition.
Ich bedaure es außerordentlich, daß Sie sich in Ihrer Fraktion mit Mehrheit gegen den Beitritt entschieden haben. Ich habe neulich vor dem Bundeshaus unter dem Scheibenwischer meines Wagens ein Flugblatt der CDU mit folgendem Wortlaut gefunden, der Ihrer Haltung jetzt nicht mehr entspricht:
Das Ja der CDU zum UNO-Beitritt
CDU-Regierungen haben in den fünfziger Jahren die Mitarbeit der Bundesrepublik Deutschland in den Sonderorganisationen der UNO erreicht, z. B. in der Weltgesundheitsorganisation und dem Weltkinderhilfswerk. Seitdem sind wir mit einer Beobachterkommission bei der UNO vertreten. Die Vollmitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der UNO ist also die logische Fortführung langjähriger CDUPolitik.

(Hört! Hört! bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Wer hat denn das geschrieben?)

Dieses Flugblatt ist nicht von irgendeinem unbekannten Ortsverein, sondern es ist ein Flugblatt der Bundesgeschäftsstelle der CDU, also des Partei-
1572 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode - 30, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973
Wischnewski
vorstandes. Ich stelle also fest: Was Sie noch vor wenigen Tagen in Bonn in einer riesengroßen Auflage der Bevölkerung mitgeteilt haben, ist heute Ihre Politik nicht mehr. Sie haben Ihre Politik geändert.

(Zuruf von der SPD: Einstampfen!)

Das Zweite. Sie stimmen mit Mehrheit auch nicht mehr mit den von der CDU/CSU geführten Ländern überein.

(Abg. Sauer [Salzgitter] : Das befiehlt nicht der Genosse Parteisekretär, sondern unsere Fraktion entscheidet! — Beifall bei der CDU/CSU.)

— Ich freue mich, daß Sie an dem Wort „Genosse" so viel Spaß haben, daß Sie es nun in Ihrer Partei auch übernehmen wollen. Dann wird vieles besser werden bei Ihnen.

(Zurufe des Abg. Sauer [Salzgitter].)

Am 2. Februar hat Herr Stoltenberg — oder soll ich von der Voraussetzung ausgehen, daß das auch der „Genosse Parteisekretär" ist — vor dem Bundesrat gesagt — ich bitte, zitieren zu dürfen —:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte, zugleich im Namen der Landesregierungen von Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und des Saarlandes, hier folgendes erklären. Wir stimmen dem Entwurf eines Gesetzes zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen zu. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit den fünfziger Jahren bereits intensiv und erfolgreich in den Sonderorganisationen der UNO mitgewirkt und darüber hinaus auch für die allgemeinen Programme der Vereinten Nationen erhebliche materielle und politische Beiträge geleistet. Insoweit ist die Vollmitgliedschaft eine logische und begrüßenswerte Erweiterung dieser Aktivität im Rahmen der UNO,

(Abg. Wehner: Hört! Hört!)

die Chance, die Ziele der Vereinten Nationen wirksamer zu fördern und unsere Belange in diesem Rahmen zur Geltung zu bringen.

(Beifall bei den Regierungsparteien Abg. Wehner: Hört! Hört!)

Sie stimmen mit Ihren Ländern nicht mehr überein, mit keinem, auch nicht mit Bayern!
Drittens. Am 10. Mai 1952 wurde in der Bundesrepublik die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen gegründet. Sie hatte sich zwei Aufgaben zum Ziel gesetzt: erstens die Förderung der Ziele der Vereinten Nationen, zweitens aber auch die Erreichung unserer Mitgliedschaft. Von seiten der CDU waren oder sind noch Mitglieder im Präsidium dieser Gesellschaft: Dr. Konrad Adenauer, Prof. Dr. Erhard, Dr. Kiesinger, Dr. Barzel und der langjährige Mitarbeiter des ersten Bundeskanzlers, Herr von Eckardt, der durch seine Tätigkeit als Botschafter bei den Vereinten Nationen mit Sicherheit über besondere Erfahrungen verfügt.
Mit Ihrer Entscheidung, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben Sie sich auch in dieser
Frage, in der Frage des Verhältnisses zu den Vereinten Nationen, von der Haltung Dr. Adenauers weit abgesetzt.
Viertens. Unsere Bemühungen um die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen erfolgen in völliger Übereinstimmung mit unseren Verbündeten. Sie, meine Damen und Herren, befinden sich nicht mehr in Übereinstimmung mit den wichtigsten Verbündeten, und wenn Sie ehrlich sind, dann sagen Sie jetzt auch der Bevölkerung in der Bundesrepublik,

(Zustimmung des Abg. Wehner)

daß Sie in Grundfragen deutscher Politik mit den wichtigsten Verbündeten nicht mehr übereinstimmen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Deshalb darf ich mit großem Respekt zitieren, was Ihr früherer Fraktionsvorsitzender und jetziger Parteivorsitzender zu dieser speziellen Frage gesagt hat:
Nachdem die Bedingungen erfüllt sind, die unser Sprecher in der ersten Lesung des Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen im Auftrag der Fraktion verbindlich im Deutschen Bundestag genannt hatte, hielt ich es für ein Gebot der Redlichkeit, nun mit Ja zu stimmen, zumal ein Nein niemand in der Welt und schon gar nicht unsere Freunde - verstehen würde.

(Abg. Wehner: Hört! Hört!)

Ich wiederhole: und schon gar nicht unsere Freunde verstehen würden.
Fünftens. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie befinden sich mit Ihrer Politik auf dem Weg in eine weltweite Isolierung. Das ist gefährlich nicht nur für Sie, sondern auch für unser Land. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der Koalition, besteht jetzt in ganz entscheidendem Maße darin, der Welt klarzumachen, daß nicht die Mehrheit der Bevölkerung in unserem Lande diese Auffassung teilt, nicht einmal die Mehrheit Ihrer Wähler; darüber gibt es in dieser speziellen Frage interessante Untersuchungen aus den letzten Tagen.
Sechstens. Seit ihrem Bestehen hat die Bundesrepublik Deutschland mehr als 3 Milliarden DM für Einrichtungen der UNO gezahlt. Jetzt kommt es darauf an, nicht nur zu bezahlen, sondern auch die Möglichkeit zu haben, mitzuwirken. Dies ist für uns von entscheidender Bedeutung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich komme mit meiner Zeit nicht ganz aus; deshalb ein abschließendes Wort an die Damen und Herren der Opposition. Wir haben heute oder morgen in einer außen- und in einer deutschlandpolitischen Frage zwei wichtige Entscheidungen zu fällen. Bei einer Bestandsaufnahme Ihrer Politik komme ich zu folgendem Ergebnis.
Zum Moskauer Vertrag und zum Warschauer Vertrag haben Sie zuerst gesagt: Jetzt nicht. Dann haben Sie gesagt: So nicht. Und dann haben Sie sich der Stimme enthalten. Bei dem Grundlagenvertrag



Wischnewski
entscheiden Sie sich dagegen, gegen das Bemühen, für die Menschen etwas zu erreichen.

(Abg. Jäger [Wangen]: Das ist ja unerhört! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Unglaublich! — Unerhört! — Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP. — Zuruf des Abg. Dr. Marx.)

Beim Gesetz zum Beitritt zu den Vereinten Nationen haben Sie Ihren Fraktionsvorsitzenden gestürzt.

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Sie sind auf dem Weg in die weltweite Isolierung.

(Abg. Reddemann: Das hätten Sie gern!)

In entscheidenden Fragen deutscher Politik stimmen Sie mit unseren Verbündeten nicht mehr überein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihre Oppositionszeit wird sehr, sehr lange dauern; im Interesse unseres Landes ist dies auch zwingend notwendig!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703004800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bangemann. Für ihn hat die Fraktion der Freien Demokraten eine Redezeit von 25 Minuten beantragt.

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703004900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jede Regierung und die sie tragenden Parteien haben die Verpflichtung, sich mit den Argumenten der Opposition ernsthaft auseinanderzusetzen, und zwar nicht nur deswegen, weil es eine durch die Verfassung begründete Pflicht ist, sondern weil diese Auseinandersetzung im eigenen Interesse der Regierung liegt, die ja im Widerstreit mit dem, was die Opposition sagt, ihre Position klären, festigen und vertreten soll. Deswegen kommt der Rolle der Opposition eine ganz besondere Bedeutung zu.
Nun ist es nicht einfach, in diesen beiden Fragen, die wir heute hier zu entscheiden haben, eine Meinung der Opposition festzustellen. Das erschwert diese Stellungnahme der Regierung nicht ganz unerheblich, und deswegen müssen wir uns zunächst einmal mit der Frage befassen, wer denn nun der berufene Sprecher der Opposition ist und welche Meinung überhaupt die der Opposition darstellt.
Herr Professor Abelein hat Zweifel geäußert, wer denn nun der berufene Sprecher der Regierung sei. Ich meinerseits muß sagen: mir ist es fast unmöglich festzustellen, wer denn nun der berufene Sprecher der Opposition mindestens in der Frage des UNO-Beitritts ist.
Wir haben auch eine große Vielfalt der Meinungen innerhalb Ihrer eigenen Fraktion. Es gibt Leute, die sind gegen den Grundlagenvertrag und gegen den Beitritt zur Charta der Vereinten Nationen. Dann gibt es wieder welche, die sind für beides; diese sind allerdings der Zahl nach geringer.

(Zuruf von der SPD: Sehr klein!)

Dann gibt es Leute, die sind für den Grundlagenvertrag, aber möglicherweise gegen den Beitritt zur UNO.

(Abg. Dr. Wagner [Trier] : Nein, die Variante fehlt, Herr Bangemann!)

Dann gibt es auf jeden Fall Leute, die sind gegen den Grundlagenvertrag und für den Beitritt in die Vereinten Nationen.
Sie werden mir zugeben, daß das eine etwas verwirrende Vielfalt von Meinungen ist und daß wir uns deswegen mit einem gewissen Erbarmen an die Rolle erinnern müssen, die Herr Professor Carstens hier übernommen hat und übernehmen mußte, um diese unterschiedlichen Meinungen festzustellen.

(Abg. Jäger [Wangen] : Damit haben Sie in Ihrer Partei auch Erfahrung!)

— Wissen Sie, wir haben insofern damit Erfahrung, als wir uns selbstverständlich — genau wie jede andere Partei auch — zu solchen wichtigen Fragen zunächst einmal eine Meinung bilden müssen. Das ist ohne einen Streit gänzlich ausgeschlossen. Aber wir unterscheiden uns von Ihnen in einem wichtigen Punkt: Wir beenden unsere Auseinandersetzung dann, wenn es für die Öffentlichkeit wichtig ist, und dann vertreten wir eine Meinung, während Sie das nicht fertigbringen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Zum Beispiel bei der EWG!)

Herr Professor Carstens hat z. B. gesagt, die Bedenken zum UNO-Beitritt rührten nicht daher, daß wir selber der Charta beitreten wollten, sondern daher, daß gleichzeitig mit uns auch die DDR dieser Charta beitreten wird. Das ist sicherlich zunächst einmal ein Ausgangspunkt, den man diskutieren kann. Nur: Wenn Sie sich einmal die Alternative vor Augen führen, die sich ergäbe, wenn die DDR nicht beiträte, müßten Sie doch wohl ganz ohne jeden Zweifel zugeben, daß sich damit auch das Problem des Beitritts der Bundesrepublik überhaupt nicht ergäbe. Es kann doch gar keinem Zweifel unterliegen, daß unser alleiniger Aufnahmeantrag mit Sicherheit im Sicherheitsrat abgelehnt werden würde, so daß der Beitritt beider deutscher Staaten überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, daß wir ernsthaft über den Beitritt der Bundesrepublik zur Charta der Vereinten Nationen diskutieren können.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Deswegen haben wir 20 Jahre lang den Aufnahmeantrag nicht gestellt!)

— Herr Mertes, Sie können dem Problem nicht ausweichen. Das ist im Grunde genommen die ganze Methodik, die Sie in der Debatte zum Grundlagenvertrag begonnen haben. Diese Methodik führt uns deswegen nicht weiter, weil Sie eben immer nur das für sich, für uns, für die Bundesrepublik in Anspruch nehmen wollen, was Ihnen zweifelsfrei paßt, was überhaupt keine Probleme aufwirft; aber alles das, was Probleme aufwerfen würde, wollen Sie beiseite schieben und sagen: Das wollen wir nicht! Sie wollen nicht den inneren Zusammenhang anerkennen. Das ist das Problem.




Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703005000
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger (Wangen) ?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703005100
Bitte!

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703005200
Herr Kollege Bangemann, wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Feststellung beurteilen, daß die Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen der Aufnahme der Volksrepublik China in die Vereinten Nationen ausdrücklich mit der Maßgabe zugestimmt hat, daß die in Formosa angesiedelte chinesische Regierung gleichzeitig aus der UNO zu verschwinden habe, die bis dahin im Sicherheitsrat sogar einen ständigen Sitz eingenommen hatte?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703005300
Herr Jäger, die Frage kann ich Ihnen leicht beantworten: Nur aus der Sicht von Wangen können wir uns mit China vergleichen.

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien. — Oh-Rufe bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx: Der Ortsverein in Wangen wird Sie einladen! Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Herr Bangemann, so primitiv sollte man auch nicht argumentieren!)

— Herr Marx, ich will mich mit den Fragen auseinandersetzen, die Sie bei der ersten Lesung namens der CDU/CSU-Fraktion aufgeworfen haben.

(Zuruf des Abg. Dr. Marx.)

Ich nehme an, daß diese Fragen immer noch die Fragen der CDU/CSU-Fraktion sind;

(Abg. Dr. Marx: Aber nicht in diesem Maße wie damals!)

denn die Fraktion selbst ist ja noch die gleiche.
Dabei müssen wir allerdings zunächst einmal eine Voraussetzung machen, wenn wir uns überhaupt darüber einigen können, ob nun diese Antworten die gegeben worden sind, befriedigend sind oder nicht: es besteht nicht nur ein legitimes Recht der Opposition, Fragen zu stellen, sondern die Opposition muß selbstverständlich auch bei der Hoffnung auf eine Antwort eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten zur Antwort in ihre Überlegungen einbeziehen.
Ich will Ihnen deutlich machen, an welchem Punkt Sie nach meiner Meinung diese realistische Einschätzung verlassen haben: als Herr Strauß in der Beurteilung der Mai-Erklärung gesagt hat, es sei ein ganz merkwürdiges Spiel gewesen, daß die Bundesregierung erklärt habe, diese Entschließung des Deutschen Bundestages vom Mai 1972 könne keine neuen Rechte und Pflichten entstehen lassen, sondern sie sei eben eine Interpretation des Bundestages; das hat Herr Strauß beklagt.
Wenn das ernsthaft aufrechterhalten werden soll, dann wird keine Antwort der Bundesregierung Sie befriedigen können, weil Sie von Grundlagen ausgehen, die niemand in dieser Welt überhaupt akzeptieren kann. Daß — es tut mir sehr leid, daß man so etwas überhaupt sagen muß — Rechte und Pflichten
überhaupt nur aus einem Vertrag entstehen können, aber niemals aus einer wie auch immer gearteten Interpretation eines Vertragspartners, ist ein so selbstverständlicher Grundsatz schon des normalen zivilrechtlichen Verhaltens, daß das im Völkerrecht eigentlich keiner weiteren Betonung bedürfte. Aber es bedarf dieser Betonung wohl doch. Denn offenbar sind Sie ja an diesem Punkt der Meinung, daß die Regierung etwas leisten solle, was niemand leisten kann. Sie können nicht durch eine einseitige Interpretation Rechte und Verpflichtungen begründen, auch dann nicht, wenn Sie sie sehr feierlich abgeben.
Nun hat Herr Marx die Bundesregierung aufgefordert, für die Wahrung der Menschenrechte in der DDR mit allem Nachdruck einzutreten und insbesondere die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu verlangen.
In diesem Zusammenhang haben wir auch in der Debatte zum Grundlagenvertrag sehr häufig die Situation an der Grenze zur DDR, insbesondere an der Mauer in Berlin, von Ihnen zitiert bekommen. Dazu möchte ich, auch im Anschluß an das, was von einem Sprecher der SPD vorhin gesagt worden ist, folgendes sagen.
Wir sind uns ja wohl alle darüber einig — das sollte ich nicht betonen müssen; ich tue es nur vorsichtshalber , daß eine Grenze, an der geschossen wird und an der Menschen bei dem Versuch umkommen, von einem Teil eines Landes in einen anderen Teil und von einem Teil einer Stadt in den anderen zu gelangen, ein Zustand ist, der weder normal noch menschlich, noch selbstverständlich ist, noch den Grund- und Menschenrechten entspricht.

(Abg. Dr. Gradl: Und daher auch keine Legitimation für den Eintritt in die Vereinten Nationen!)

— Herr Gradl, es geht nicht darum, ob wir uns darüber nicht einig sind, sondern die Frage, die ich jetzt allen Ernstes einmal an Sie richten möchte, lautet: Warum betonen Sie dies im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag, im Zusammenhang mit dem Beitritt zur UNO-Charta immer wieder? Warum tun Sie das?

(Abg. Dr. Hupka: Weil es Realität ist!)

— Nein, es ist nicht bloß die Frage der Feststellung einer Realität, Herr Hupka. Das ist natürlich im Grunde genommen ein unpolitisches Verhalten, das ich Ihnen gar nicht unterstellen möchte. Realitäten sind da, sie ändern sich nicht, und sie werden auch nicht realistischer, indem man sie ständig betont und auf sie hinweist.
Man könnte von Ihrer Seite sagen: Wir wollen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit darauf lenken. Das wäre ein Argument, das sich hören ließe. Es ließe sich allerdings nicht in der Frage hören, ob wir der UNO-Charta beitreten sollen; denn dann hätten Sie ja die Möglichkeit, eine viel größere Weltöffentlichkeit auf die Verletzung dieser Menschenrechte hinzuweisen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)




Dr. Bangemann
Aber das ist ja nicht das, was Sie eigentlich damit verbinden wollen. Denn nach meiner Einschätzung verwenden Sie das als Argument gegen die Politik der Regierung. Und das ist einfach unredlich, und es wird auch dadurch nicht besser, daß Sie es mit einer Phrasenhaftigkeit verbinden und man letzten Endes bei einer Debatte darüber landet — und das ist doch das Erschütternde daran —, ob eine automatische Tötungsanlage stärker zu verurteilen ist als irgendeine Form von Minen, die gelegt worden sind. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich einmal vor Augen führen, in welche Diskussion Sie da hineingeraten sind, müssen Sie zugeben, daß das keine Argumente sind, weder gegen die Regierung noch gegen die Politik, die sie vertritt.

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703005400
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703005500
Bitte!

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0703005600
Herr Kollege Bangemann, ist Ihnen nicht klar, daß wir die Tötungsanlagen, die neu aufgebaut sind, deswegen so besonders herausstellen, weil sie nach dem Abschluß des Vertrages immer noch gebaut werden, eines Vertrages, der doch den Gewaltverzicht beinhaltet, und daß alle anderen Behauptungen, die Sie jetzt aufstellen, einfach an der Realität unserer Ansicht vorbeigehen?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703005700
Herr Reddemann, mir fällt überhaupt auf, daß Sie die gesamte Entwicklung, soweit sie nicht so verläuft, wie wir es uns alle erhoffen, immer nur betrachten, soweit sie nach dem Vertrag eingetreten ist.

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

Was vor dem Vertrag da war, was vor dem Vertrag zu beanstanden ist, das bringen Sie nicht vor, geschweige denn das, was nach dem Vertrag besser werden kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien. —Abg. Jäger [Wangen] : Das Vorher hätte Sie vorsichtiger machen müssen! — Abg. Reddemann: Das stimmt doch gar nicht, Herr Bangemann!)

Die Forderung, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, ist im Grunde genommen genau die falsche Art und Weise, in der UNO Politik zu machen. Wollen Sie das weiter betreiben. was wir schon einmal erlebt haben? Wir haben ja schon einmal einen solchen Ausschuß gehabt, der die Frage untersuchen sollte, ob in der DDR die Vorbedingungen für freie gesamtdeutsche Wahlen vorhanden sind oder nicht. Und was war das politische Ergebnis? Das politische Ergebnis war, daß die UNO zum Forum der sogenannten Querelles Allemandes gemacht worden ist

(Zuruf des Abg. Dr. Marx)

und nichts geschehen ist, als daß sich die einzelnen
Parteien gegenseitig ein Forum geschaffen haben,
ihre miteinander unvereinbaren Gegensätze zu bestätigen und beruhigt wieder nach Hause zu gehen und zu sagen: Wie haben wir doch unsere nationalen Interessen gut vertreten!

(Abg. Dr. Marx: Daran werden wir Sie in der Zukunft erinnern!)

Das ist das Problem gewesen, und vor dem stehen Sie heute noch.
Herr Abelein erklärt hier — man glaubt gar nicht, daß man so etwas überhaupt noch hört , man müsse zu einer Vertretung derjenigen zurückkommen, die nicht sprechen können, man müsse den Zustand wieder erreichen, in dem die DDR auf eine internationale Vertretung verzichten mußte. Ja, meine Damen und Herren, das ist ja doch wohl eine Position, die bisher nicht einmal von der CDU/ CSU ernsthaft vertreten worden ist, sondern die in ein Arsenal gehört, das wir überwunden glaubten. Das nun in die UNO projiziert, kann man wirklich nicht als eine Politik verkaufen, die geeignet ist, in diesem Zusammenhang die Interessen Deutschlands in der Zukunft zu wahren.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Herr Marx hat weiter gefragt, ob die Bundesregierung bereit sei, bei der Erklärung des Beitritts zu den Vereinten Nationen durch ausdrücklichen Vorbehalt klarzumachen, daß die Hinnahme des Beitritts der DDR in die Vereinten Nationen und unser eigenes Wirken dort keine völkerrechtliche Anerkennung des anderen Staates bedeuten. Das war eine dieser Fragen. Wir haben uns im Ausschuß lange darüber unterhalten. Ich halte bei dieser Frage zweierlei für bemerkenswert. Ich meine nicht den völkerrechtlichen Streit. Darüber könnten wir uns sehr lange unterhalten. Es gibt, wie jeder Jurist weiß, zu jeder Frage immer zwei Meinungen, wobei man ein bißchen differenzieren kann. Es gibt — das bringt schon ein politisches Gewicht — eine überwiegende Meinung und eine Meinung, die nur in der Minderheit vertreten wird. Auffällig ist hier zweierlei. Einmal hat sich die CDU/CSU in dieser Frage wie auch in jeder anderen Frage nicht die Meinung herausgesucht, die unseren Interessen entsprechen würde. Das könnte man noch erklären, weil Sie eben sagen: Wir müssen als Opposition sozusagen die schwarze Alternative aufklären, um die unmöglichen und ungünstigen Wirkungen auszuschließen.

(Abg. Jäger [Wangen] : Die Roten wollt ihr aufklären!)

— Na also, wissen Sie, ich will nicht wieder auf Wangen zurückkommen; aber dort scheint mir die Aufklärung des Schwarzen besonders dringlich zu sein und nicht die des Roten.

(Abg. Reddemann: Ich habe den Eindruck, Sie wollen Fremdenverkehrswerbung für Wangen treiben!)

Das könnte man also noch von Ihrer Oppositionsrolle her verstehen. Was man aber nicht mehr verstehen kann, ist, daß Sie sich nicht der herrschenden Meinung im Völkerrecht anschließen, nicht einmal der herrschenden Meinung, wie sie unisono im



Dr. Bangemann
westlichen Lager, aber auch in den sozialistischen Doktrinen vertreten wird, sondern daß Sie sich eine Minderheitenposition heraussuchen und behaupten, durch den Beitritt beider Staaten zur UNO werde die völkerrechtliche Anerkennung der DDR mindestens gefährlich nahegerückt. Es ist inzwischen ja schwierig, — —

(Abg. Dr. Klein [Göttingen] : Wer hat denn das je behauptet? — Abg. Jäger [Wangen]: Wer hat das behauptet?)

Sie haben das gestern bestritten. Es ist wirklich inzwischen schwierig. — Ja, gut, dann verlese ich das. Ich wollte es eigentlich gar nicht zitieren; aber da Sie mich danach fragen, muß ich es machen. Im „BayernKurier" vom 3. März 1973 — ich glaube, es ist angesichts der gestrigen Entscheidung besser, den „Bayern-Kurier" zu zitieren, weil der die wahren Machtverhältnisse wohl besser wiedergibt — heißt es:
Mit Art. 2 des Grundvertrages und dem folgenden Briefwechsel zur UN-Mitgliedschaft macht sich die Bundesrepublik zum Komplizen der DDR bei deren Versuch, über eine UNO-Mitgliedschaft die völkerrechtliche Anerkennung zu erreichen.

(Abg. Dr. Klein [Göttingen] : Aber doch nicht die völkerrechtliche Anerkennung der Bundesrepublik! Das steht doch da gar nicht!)

— Die völkerrechtliche Anerkennung zu erreichen, darum geht es.

(Zuruf von der CDU/CSU: Welche?)

— Ja, auf den Punkt komme ich gleich. Das ist die eine Frage.
Die andere Frage ist die, ob wir die DDR anerkennen. Das meinen Sie damit.

(Abg. Dr. Klein [Göttingen] : Dies ist der Punkt!)

Gerade dort besteht nun eine ausgesprochene Praxis, sogar der UNO, das zu verneinen. Sie stellen das in Zweifel. Wir lesen in einem Memorandum des UNO-Sekretariats — Sie halten es mindestens für bezweifelnswert, Herr Marx, und wollen eine ausdrückliche Erklärung — —

Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703005800
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Marx?

Dr. Werner Marx (CDU):
Rede ID: ID0703005900
Herr Bangemann, sind Sie nun Ihrerseits bereit, zuzugeben, daß das, was ich in der ersten Rede gesagt habe, von Ihnen jetzt in einer ganz spezifischen Art zusammengezogen, herausgesucht wird, um eine Form des Angriffes zu führen, die an dem Inhalt oder — um etwas Zeitgemäßes zu sagen — am Geist und Inhalt meiner Ausführungen ganz vorbeigeht?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703006000
Nein, Herr Marx. Es tut mir leid, ich kann Ihnen dieses Zugeständnis nicht machen, weil ich ja die Debatte, die wir zum Teil
auch selber im Auswärtigen Ausschuß geführt haben, noch sehr gut in Erinnerung habe.

(Zuruf des Abg. Dr. Mertes [Gerolstein].)

— Es geht doch im Grunde genommen, Herr Mertes, um folgenden Punkt. Sie sagen, es gibt zwei völkerrechtlich unterschiedliche Meinungen. Die eine sagt, der Beitritt zweier Staaten zur UNO bedeutet gleichzeitig, daß sie sich auch gegenseitig anerkennen.

(Abg. Metzger: Die gibt es überhaupt nicht!)

— Doch, doch. Es gibt eine solche. Es ist eine Minderheitenmeinung. Ich habe ja gesagt: es gibt eine ausgesprochene Minderheitenmeinung, die Sie vertreten. Dann gibt es die Meinung der großen Mehrheit einschließlich der Praxis des UNO-Sekretariats — ich wollte hier aus einem Dokument zitieren, aber Sie werden das sicher selbst kennen —, die sagt: Ein solcher Beitritt ist keine gegenseitige Anerkennung,

(Abg. Dr. Marx: Das wissen wir doch!)

weil die gegenseitige Anerkennung voraussetzt —

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das ist doch gar nicht strittig!)

— Gut, also davon können wir ausgehen.

(Abg. Dr. Marx: Das steht da auch gar nicht drinnen!)

— Doch. Es steht da drin, Herr Marx. Sie haben in den Ausschußberatungen gesagt — und ich wiederhole das jetzt —, das reiche Ihnen nicht aus. Sie wollen — das steht auch in Ihrer Frage — eine ausdrückliche Erklärung oder Zusicherung oder in irgendeiner Form eine Bestätigung dieser Meinung des überwiegenden Teils der Völkerrechtler. Das ist der zweite von mir nicht gebilligte Punkt.

(Abg. Dr. Marx meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Darf ich das jetzt zu Ende führen? — Es ist der zweite von mir nicht gebilligte Punkt. Ich stelle fest, daß Sie Dinge, die geklärt sind, die in der Praxis in einem Sinne gehandhabt werden, der unserem Interesse entspricht, zum Gegenstand des Streites und damit zum Gegenstand des Zweifels machen wollen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703006100
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Marx?

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703006200
Bitte!

Dr. Werner Marx (CDU):
Rede ID: ID0703006300
Herr Kollege Bangemann, ich sehe davon ab, daß der Bundesaußenminister damals sofort für unseren Begriff in einer uns befriedigenden Weise geantwortet hat. Ich möchte aber doch fragen, ob Sie nicht Verständnis dafür haben, daß wir Sicherungen einbauen wollen, auch in dieser Sache, der eigenen Regierung gegenüber, von der wir leider erlebt haben, daß sie seit der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 viele Dinge behauptet hat, die sie dann Stück um Stück zurückgenommen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU.)





Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703006400
Herr Marx, das ist ein anderes Problem. Sie wünschen eine verläßliche Erklärung der Bundesregierung, haben aber soeben selber gesagt, daß das, was der Außenminister im Auswärtigen Ausschuß hat erklären lassen, Sie befriedigt habe.

(Abg. Dr. Marx: Nein, was er hier erklärt hat!)

— Nein. Das Auswärtige Amt hat dort erklären lassen, falls irgendwelche Zweifel in diesem oder in dem Punkt Berlin-Vertretung aufträten, würden derartige Zweifel ausgeräumt; aber nur für den Fall, daß sie auftreten würden. Damit haben Sie sich zufriedengegeben. Ein solcher Zweifelsfall ist nicht eingetreten, denn die Bundesregierung hat bis jetzt zu dieser Frage keine öffentliche Erklärung abgeben müssen, sondern wir haben uns alle darauf geeinigt, daß diese Frage, auch was Berlin angeht, befriedigend geregelt ist.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Warum sprechen Sie denn darüber? — Zuruf des Abg. Dr. Marx.)

— Herr Marx. ich weiß nicht genau, wie Sie in der Fraktion abgestimmt haben, und ich weiß auch nicht genau, wie Sie abstimmen werden.

(Abg. Dr. Marx: Lesen Sie die Zeitung!)

— Das ist ja leider auch in dieser sehr wichtigen Frage ein mich im Grunde genommen sehr bedrückendes Faktum. Wenn überhaupt Zweifel entstehen konnten, Herr Marx, daß die Entscheidung über die wichtige Frage des UNO-Beitritts in Ihrer Fraktion mit personalpolitischen Überlegungen verbunden war, so ist das ein Manko, das Sie hier schleunigst beseitigen sollten. Sie sollten erklären, daß Sie nicht mit solchen Überlegungen verbunden war.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703006500
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Carstens?

Dr. Karl Carstens (CDU):
Rede ID: ID0703006600
Herr Kollege Bangemann, sind Sie bereit, zuzugeben, daß Sie das Haus soeben falsch informiert haben, indem Sie behauptet haben, daß in der Berlin-Frage und in der Frage der völkerrechtlichen Anerkennung eine weitere Information von der Regierung erwartet worden sei? Eine solche Information ist nur in der Berlin-Frage erwartet und nur in der Berlin-Frage von der Regierung zugesagt worden. Insoweit ist ihre ganze Argumentation falsch.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx: Was ich gemeint habe, war das, was der Bundesaußenminister hier gesagt hat!)


Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703006700
Herr Professor Carstens, ich bin natürlich nicht in der Lage, hier für die Regierung Erklärungen abzugeben. Ich habe das so wiedergegeben, wie es sich aus den Debatten im Auswärtigen Ausschuß ergeben hat. Wenn Sie
irgendeinen Zweifel haben oder wenn die Bundesregierung selber einen Zweifel hat, wird sie sicherlich Gelegenheit nehmen, das klarzustellen.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich komme zum letzten Punkt, den Herr Marx angesprochen hat, nämlich zur Frage der Feindstaatenklauseln.

(Abg. Dr. Marx: Ich habe noch eine Reihe weiterer Punkte angesprochen!)

— Ich denke, daß ich sie alle behandelt habe.

(Abg. Dr. Marx: Das, was Sie soeben ganz unnötig ausgeführt haben, war durch die Darstellung des Außenministers erledigt! Lesen Sie doch die Rede Ihres Parteivorsitzenden!)

— Na ja, gut, man ist schon froh, wenn man wirklich einmal von Ihnen hört, daß irgend etwas erledigt ist. Hoffentlich entspricht das auch der Meinung Ihrer übrigen Kollegen.
Lassen Sie mich jetzt zu den Art. 53 und 107 kommen, nämlich zur Frage der Feindstaatenklauseln. Durch diese beiden Artikel werden die ehemaligen Feindstaaten der UN-Gründer im zweiten Weltkrieg sicherlich auf eine Sonderstufe unter den Nichtmitgliedern gestellt. Das muß man ganz klar sehen. Eine inhaltliche Interpretation ergibt aber folgendes.
Erstens. Unter Feindstaaten sind Bulgarien, Deutschland, Finnland, Italien, Japan, Österreich, Rumänien, Thailand und Ungarn zu verstehen. Mit Ausnahme von Deutschland haben heute alle diese ehemaligen Feindstaaten sowohl einen Friedensvertrag abgeschlossen als auch die UN-Mitgliedschaft erworben. Wir sind also unter den Staaten mit Sonderstatus der letzte Staat mit Sonderstatus.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das heißt auf deutsch: Wir sind der einzige besiegte Staat, der geteilt ist.)

Zweitens. Die Formulierungen dieser beiden Artikel sind ausgesprochen vage im Gegensatz zu dem, was sonst in der Charta an Genauigkeit zu verzeichnen ist. Es ist z. B. von „Folge des Krieges" und von „Maßnahmen" die Rede. Es sind also sehr unklar formulierte Bestimmungen.

(Abg. Dr. Marx: Sie sind ja auch damals entstanden!)

So lassen diese Formulierungen auch keinen Schluß darüber zu, ob die Maßnahmen, die in Art. 53 und 107 angesprochen sind, nur gemeinsam von allen Siegermächten oder von einer Siegermacht allein durchzuführen sind.

(Abg. Dr. Marx: Am besten gemeinsam!)

Drittens. Die Handlungen der Siegermächte sind, soweit sie unter diese beiden Artikel fallen, nicht nach der UNO-Charta zu beurteilen. Das ist der Sinn dieser Feindstaatenklauseln. Wohl aber unterliegen sie den Regeln des allgemeinen Völkerrechts
— das ist völlig unstrittig —, so daß sich daraus schon ergibt, daß diese beiden Artikel nicht für sehr lange Zeit, jedenfalls nicht ewig, geltend gemacht werden können. Wann sie obsolet werden,



Dr. Bangemann
ist natürlich auch eine offene Frage. Aber im Zusammenhang mit dem Beitritt der Bundesrepublik zum NATO-Pakt und zum Brüsseler Vertrag haben zumindest die drei westlichen Großmächte auf der Londoner Konferenz zu Protokoll gegeben, sie würden sich in ihren Beziehungen zur Bundesrepublik von den in Art. 2 der UN-Charta enthaltenen Grundsätzen leiten lassen. Das würde also bedeuten, daß insoweit diese beiden Feindstaatenklauseln obsolet geworden sind. Ähnliches ließe sich zumindest im Wege der Interpretation von anderen Verträgen sagen. Wichtig ist jedenfalls, daß die UNO-Charta in ihrer Gesamtheit in ihren grundsätzlichen Bestimmungen in jedem Fall Vorrang vor Sonderbestimmungen hat.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das ist nicht strittig! -Abg. Dr. Marx meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

- Ich möchte das zunächst einmal zu Ende führen,
Herr Marx. Sonst wird es für mich immer schwerer, Ihren sehr diffizilen Überlegungen zu folgen, was ich, wie Sie sehen, hier ja versuche.
Es ist jedenfalls politisch wichtig, daß unsere Position, die wir als Nichtmitglied der UNO jetzt haben, sich durch den Beitritt in keinem Fall verschlechtern kann. Denn daß die Feindstaatenklauseln sämtliche Interpretationen jetzt einmal beiseite gelassen — für ein Nichtmitglied viel stärker gelten müssen als für ein Mitglied, dürfte doch zweifelsfrei feststehen. Unser Beitritt zur UNO kann unsere Position also in jedem Fall nicht verschlechtern, sondern er kann sie nur verbessern. Damit dürfte auch dieses Argument erledigt sein.
Zum Schluß möchte ich nun einen nach meinem Dafürhalten viel wichtigeren Ausblick geben, nämlich einen Ausblick auf die Politik, die wir auf Grund unserer Mitgliedschaft in der UNO betreiben können. Ich möchte umreißen, was sich — jenseits aller dieser Auseinandersetzungen — für uns politisch mit der Mitgliedschaft in der UNO verbinden kann. Zu Anfang möchte ich dabei eines klar sagen. Man kann unsere Mitgliedschaft politisch nicht dadurch zurückweisen, daß man sagt, wir kämen in größere Schwierigkeiten. Dies ist ganz ohne jeden Zweifel so. Wir werden zu verschiedenen Fragen, die in der Weltöffentlichkeit heftig umstritten sind, viel präziser, viel unmittelbarer Stellung nehmen müssen, als das heute der Fall ist.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das ist unstrittig!)

— Das ist unstrittig. Strittig ist aber, ob das ein Vorteil sein kann oder ob das ein Nachteil sein muß.

(Abg. Dr. Marx: Das wird sich erst später erweisen!)

— Nein, das erweist sich jetzt schon, Herr Marx, und zwar in der Bereitschaft, diese Streitigkeiten in unsere Politik mit einzubeziehen. Das ist nämlich der entscheidende Punkt.
Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu der Meinung einiger weniger in der Publizistik. Ich denke hier an alle die Zeitungen, die in einem bestimmten Zusammenhang sehr häufig Anführungszeichen verwenden. Sie kennen ja einige Zeitungen, die das tun. Einige verwenden diese Anführungszeichen wieder weniger. Die Zeitungen, die die Anführungszeichen sehr häufig verwenden müssen, heben hervor, daß unser UNO-Beitritt schon deswegen sinnlos sei, weil wir uns dadurch mit den Schwierigkeiten der Welt zu beschäftigen hätten und weil wir uns dadurch mit den Problemen der Entwicklungsländer möglicherweise unmittelbarer auseinandersetzen müßten. Meine Damen und Herren, das ist mit unsere Aufgabe. Das ist nicht eine Schwierigkeit, der wir ausweichen sollten, sondern das gehört mit zum Inhalt der Friedenspolitik dieser Regierung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Kai-Uwe von Hassel (CDU):
Rede ID: ID0703006800
Meine Damen und Herren, bevor wir nunmehr in die Mittagspause eintreten, teile ich mit, daß die Fragestunde um 14 Uhr beginnt und die Bundesregierung um 15 Uhr eine Erklärung zum Thema der Stabilität abgeben wird.
Ich unterbreche die Sitzung nunmehr bis 14 Uhr.

(Unterbrechung von 12.59 bis 14.01 Uhr.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703006900
Die Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 7/511 —
Es sind noch restliche Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu beantworten. Zur Beantwortung steht Herr Bundesminister Ertl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 83 des Abgeordneten Engelsberger auf:
Welcher Anteil ist in bezug auf den verbilligten Butterverkauf an die Sowjetunion, der die Steuerzahler mit über 1 Milliarde DM belastet, auf die Bundesrepublik Deutschland entfallen, und wie ist der teilweise Weiterverkauf nach Chile mit dem in den Verkaufsverträgen enthaltenen Lieferverbot an Drittländer in Einklang zu bringen?
Bitte schön, Herr Minister!

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703007000
Herr Kollege Engelsberger, die Ausfuhr von 200 000 t Butter in die UdSSR erfolgt zu einem Preis von 30 Rechnungseinheiten je 100 kg ab Kühlhaus. Gegenüber dem Interventionspreis von 186 Rechnungseinheiten je 100 kg erfolgt eine Verbilligung um 156 Rechnungseinheiten je 100 kg. Die Kosten für die Ausfuhr von 200 000 t betragen demnach 312 Millionen Rechnungseinheiten oder 1 142 Millionen DM.
Die Finanzierung dieser Ausfuhr erfolgt aus dem Haushalt der Gemeinschaft, Abteilung Garantie des Fonds. Dieser Haushalt wird aus Abschöpfungen, Zollanteilen sowie Finanzbeiträgen der einzelnen Mitgliedstaaten gespeist. Der Anteil der Bundesrepublik Deutschland an der Finanzierung dürfte im Zeitraum der Abwicklung dieses Geschäfts etwa 29 % des Gesamthaushalts betragen.



Bundesminister Ertl
Die UdSSR hat beim Kauf der Butter die Verpflichtung übernommen, diese Butter nicht wiederauszuführen. Ich bin sicher, daß die UdSSR diese Verpflichtung einhalten wird. Es entzieht sich meiner Kenntnis, inwieweit die in der Presse gemachten Mitteilungen zutreffen, daß die Sowjetunion im Augenblick Lieferungen an Chile tätigt. Sollte es so sein, dann weiß ich nicht, aus welchen Beständen sie das tut.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703007100
Eine Zusatzfrage.

Matthias Engelsberger (CSU):
Rede ID: ID0703007200
Herr Bundesminister, Ihnen ist sicher bekannt, daß diese Behauptung von der Wochenzeitschrift „Der Spiegel" aufgestellt worden ist, wonach 50- bis 60 000 t Butter mit einem erheblichen Preisaufschlag an Chile weiterverkauft werden sollen. Das wäre eindeutig vertragswidrig. Ich stelle an Sie die Frage: Wie kann die Bundesregierung sicherstellen, daß die vertraglichen Verpflichtungen im Rahmen des von der EG abgeschlossenen Vertrages auch eingehalten werden?
Ertl, Bundesminister für Ernährung; Landwirtschaft und Forsten: Die Bundesregierung hat direkt überhaupt keine Möglichkeit. Ich habe mit dem zuständigen Agrarkommissar, Herrn Lardinois, gesprochen. Er hat mir bestätigt, daß in dem Geschäftsvertrag ausdrücklich die Verpflichtung eines Nichtweiterverkaufs enthalten ist. Ich glaube nicht, daß man der UdSSR a priori unterstellen kann, daß sie solche vertraglichen Bindungen nicht einhält.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703007300
Zweite Zusatzfrage.

Matthias Engelsberger (CSU):
Rede ID: ID0703007400
Herr Bundesminister, muß man sich nicht auf lange Sicht Gedanken machen, wie man in Zukunft so miserablen Geschäftsabschlüssen aus dem Weg gehen kann und wie man diese Überschüsse innerhalb der EWG z. B. sozial Schwächeren in einem größeren Maß als bisher preisgünstig anbieten kann?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703007500
Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Anregung, Herr Kollege. Ich habe das wiederholt im Ministerrat beantragt. Auf meine Initiative
hin das darf ich, glaube ich, hier bei aller notwendigen Zurückhaltung mal sagen sind die bisherigen Aktionen überhaupt erst in Gang gebracht worden, sei es die verbilligte Molkereibutterabgabe an die deutschen Konsumenten, seien es die Sozialaktionen. Ich bin der Meinung, daß man den Katalog ausweiten könnte. Die deutsche Delegation hat diesen Antrag wiederholt gestellt. Er ist sogar ein Bestandteil des Luxemburger Pakets. Die Kommission hat sich auf ausdrückliches Verlangen der deutschen Delegation bereit erklärt, den Katalog der Sozialmaßnahmen auszuweiten.
Ich verhehle allerdings nicht, daß wir ebenso Anstrengungen machen müssen, die Butterproduktion besser den Marktgegebenheiten anzupassen. Das ist allerdings ein Anliegen, das sich nicht in erster Linie
an die deutschen Produzenten richtet, sondern nur in gewissem Umfang. Aber in viel größerem Umfang betrifft diese Notwendigkeit natürlich die Produzenten in anderen Partnerstaaten, speziell in Frankreich und den Niederlanden. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die dort zuständigen Regierungen dieser Frage dasselbe Augenmerk schenkten, wie es die deutsche Bundesregierung tut.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703007600
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 84 des Herrn Abgeordneten Kunz auf:
Wie wird die Förderungsschwelle beim einzelbetrieblichen Förderungsprogramm für die Landwirtschaft auf Grund des Einspruchs der EG-Kommission abgeändert, und welche Änderungen werden darüber hinaus notwendig werden?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703007700
Herr Kollege, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten.
Die Anpassung der nationalen Durchführungsvorschriften des Einzelbetrieblichen Förderungsprogramms ist im Planungsausschuß besprochen worden. Es sind entsprechend den EWG-Strukturrichtlinien einige Veränderungen vorgenommen worden. Der Planungsausschuß für Agrarstruktur und Küstenschutz hat Anfang April 1973 darüber entschieden. Eine entsprechende Bundestagsdrucksache mit den neuen Grundsätzen liegt Ihnen bereits vor.
Bund und Länder haben sich bei der Anpassung bemüht, die größte Flexibilität zu erhalten. Zu dem speziellen Problem der Förderungsschwelle ist zu bemerken — und das möchte ich besonders betonen —, daß in Zukunft statt des Gewinns das Arbeitseinkommen als Kriterium für die Entwicklungsfähigkeit des Betriebes gilt. Es ist für 1973 auf 17 300 DM je AK auf Grund statistischer Unterlagen über die Höhe des vergleichbaren außerlandwirtschaftlichen Einkommens errechnet und wird mit 3,5 % fortgeschrieben. Ich darf dabei darauf hinweisen, daß wir im Wirtschaftsjahr 1971/72, so wie es im Agrarbericht nachzulesen ist, ein Durchschnittsarbeitseinkommen von 15 500 DM erwirtschaftet haben. Ich halte auch die Bindung in der Zielsetzung, die Heranführung an vergleichbare außerlandwirtschaftliche Einkommen, für notwendig. Denn wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, werden wir möglicherweise auf lange Sicht lebensfähige Betriebe nicht sichern können.
Die Förderungsschwelle wird nur noch pro Arbeitskraft festgesetzt und nicht mehr gleichzeitig pro Betrieb.
In der Bundesrepublik sind 27 Regionen gebildet worden, damit man die Förderungsschwelle regionalisieren kann. Die Höhe des Arbeitseinkommens schwankt je nach Regionen — die sind wiederum nach dem statistischen Material festgelegt — zwischen 13 500 DM und 19 200 DM. Der höchste Wert liegt in Nordrhein-Westfalen. Von den 27 Regionen liegen 8 Regionen über dem Durchschnitt von 17 300 DM je Arbeitskraft. Es handelt sich dabei um die Stadtstaaten und um Ballungsgebiete.



Bundesminister Ertl
Durch einen Zuschlag zum Arbeitseinkommen von 10 0/o soll es in begründeten Fällen möglich sein, Betriebe zu fördern, die die Förderungsschwelle im Zieljahr nur durch den Zuschlag erreichen.
Diese Bestimmungen erlauben eine außerordentliche Flexibilität bei der Förderung.
Die anderen Punkte, die geändert worden sind, möchte ich im einzelnen nicht aufführen. Sie sind aus der schon erwähnten Bundestagsdrucksache ersichtlich.
Klargestellt werden muß aber: Es ist nicht richtig, daß die Anpassung nur Verschärfungen für die deutsche Landwirtschaft mit sich bringt, wie oftmals behauptet wird.
Im übrigen hoffe ich, daß ich am 23. Mai 1973 im Ernährungsausschuß darüber ausführlich berichten kann.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703007800
Eine Zusatzfrage.

Prof. Dr. Max Kunz (CSU):
Rede ID: ID0703007900
Herr Minister, ist dann bei der Ermittlung der Förderungsschwelle die Einbeziehung des Einkommens aus Forstwirtschaft künftig nicht mehr möglich?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703008000
Nein, Herr Kollege Kunz. Hier unterliegen Sie einer falschen Information. Aber ich bin sehr dankbar, daß Ihre Frage mir Gelegenheit gibt, das in aller Präzision zu erläutern.
Bei der Prüfung der Strukturrichtlinien und der daraus folgenden Notifizierung — denn wir haben ja nur unsere nationalen Programme zu notifizieren; es handelt sich nicht um eine Verordnung, sondern um eine Richtlinie, und eine Richtlinie enthält nur Rahmenbestimmungen; deshalb wird nur notifiziert — hat der juristische Dienst der Kommission zu aller Überraschung — einschließlich auch des zuständigen Agrarkommissars — die Feststellung gemacht, daß Holz nicht im Anhang 2 des Vertrages verankert ist. Nun war die sicherlich richtige Meinung der Juristen der Kommission: weil Holz im Anhang 2 des Vertrages nicht verankert sei, könne es natürlich im Rahmen der Römischen Verträge nicht berücksichtigt werden. Das war der Tatbestand.
Ich habe diese Frage im Ministerrat zur Sprache gebracht — deshalb habe ich auch mit gutem Grund nein sagen können — und sie mit dem zuständigen Agrarkommissar, Herrn Lardinois, besprochen, der sich ebenso wie ich wunderte. Daraufhin hat Herr Lardinois gesagt, er werde dieses Problem entweder im Bereich der Kommission bereinigen oder es werde, wenn es notwendig sei, zu dieser Frage ein Ministerratsbeschluß gefaßt.
Aber ich kann, glaube ich, heute mit Sicherheit davon ausgehen, daß diese juristische Panne auf jeden Fall politisch befriedigend gelöst wird.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703008100
Eine Zusatzfrage.

Prof. Dr. Max Kunz (CSU):
Rede ID: ID0703008200
Trifft eine ähnliche Regelung auch für die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr auf dem Bauernhof zu?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703008300
Wie Sie wissen, sind ja 20 % vorgesehen. Ich glaube, es wäre ein kurioser Zustand, wenn wir in demselben Zeitpunkt, in dem wir — wie Sie wissen — in Form einer Resolution ein eigenes Bergbauernprogramm verabschieden — in dem nicht zuletzt auch auf unsere Anregungen hin die kombinierte Einkommensform, also eine mögliche, wünschenswerte Form der Landwirtschaft in Bergregionen gefördert werden soll —, gleichzeitig sagten: aber das darf dann bei der Schwelle nicht berücksichtigt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Kuriosität europäisch abgesichert wird.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703008400
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 85 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Werden die deutschen Bauern auf Grund der letzten Preisbeschlüsse des EG-Agrarministerrats in der Lage sein, die steigenden Betriebskosten infolge der zunehmenden inflationären Entwicklung auszugleichen, und Anschluß an die Einkommensentwicklung im übrigen wirtschaftlichen Bereich finden?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703008500
Herr Kollege Niegel, die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise sind im bisherigen Verlauf des Wirtschaftsjahres 1972/73 stark gestiegen. Sie werden durch die Preisbeschlüsse des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft auf einem deutlich höheren Niveau als bisher abgesichert.
Die Erhöhung des Stützungsniveaus um 4,7 % als Grundlage für die weitere Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft ist ein Verhandlungsergebnis, das die unterschiedliche Interessenlage der Mitgliedstaaten berücksichtigt. Es trägt dazu bei, daß die Einkommen der Landwirte bei den zu erwarteten Betriebsmittelpreisen — die im Augenblick niemand mit Sicherheit voraussagen kann — auch 1973/74 weiter steigen bzw. sich verbessern werden.
Das Ausmaß der Einkommenssteigerung in der Landwirtschaft im Wirtschaftsjahr 1973/74 läßt sich sicherlich erst im Laufe dieses Wirtschaftsjahres, insbesondere nach Vorlage der Ernteergebnisse, vorausschätzen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703008600
Eine Zusatzfrage.

Lorenz Niegel (CSU):
Rede ID: ID0703008700
Herr Bundesminister, welche Auswirkungen wird z. B. der negative Berichtigungsbetrag bei den Milchprodukten haben, der so aussieht, daß wir im Vergleich zu Frankreich und anderen Ländern eine geringere Erhöhung der Milchprodukte erhalten, demgegenüber jedoch eine Senkung des Butterinterventionspreises hinnehmen müssen?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703008800
Erstens würde das für den Ver-



Bundesminister Ertl
braucher eine günstige Auswirkung haben, weil die Verbraucher billige Butter bekommen. Ich verspreche mir davon sogar einen höheren Absatz. Das ist in der Landwirtschaft ganz nützlich, weil sich Marktprobleme dann leichter lösen lassen. Das ist das erste.
Zum zweiten ist dadurch die Magermilchpulverstützung erhöht worden. Insoweit werden sich wahrscheinlich einige Eiweißprodukte verteuern.
Somit wird der Erzeuger durch diese Aktion auf jeden Fall keine negativen Folgen zu erwarten haben.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703008900
Eine zweite Zusatzfrage.

Lorenz Niegel (CSU):
Rede ID: ID0703009000
Wie erklärt sich, daß Ihr Ministerium den künftigen Grenzausgleich mit 7,75 % berechnet, während das Bundeswirtschaftsministerium ihn nur mit 7,1 % angibt?

Josef Ertl (FDP):
Rede ID: ID0703009100
Herr Kollege Niegel, ich weiß nicht, welche Unterlagen Sie vor sich haben. Dazu kann ich nicht Stellung nehmen. Sie müßten eine Frage an den Wirtschaftsminister stellen; ich kann Ihnen nur sagen: meine Rechnungen stimmen immer.

(Heiterkeit.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703009200
Dazu hat keiner eine Zusatzfrage. Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Ravens zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 des Abg. Dr. Müller (München) auf:
Betrachtet die Bundesregierung die Äußerung des Bundeskanzlers auf dem SPD-Parteitag, „es gebe Gäste, die man lieber gehen als kommen sehe", als eine Belastung für den kommenden Besuch des Sekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Leonid Breschnew?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703009300
Ich beantworte Ihre Frage mit Nein!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703009400
Eine Zusatzfrage.

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0703009500
Herr Staatssekretär, teilen Sie die Meinung, daß diese Äußerung des Bundeskanzlers zwar Verständnis für den erheblichen Linksdruck auf dem Parteitag in Hannover zeigt, aber nicht staatsmännisch ist?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703009600
Nein, Herr Kollege, diese Auffassung kann ich erstens nicht teilen, und zweitens sehen Sie die Äußerung falsch, wenn Sie sie so, wie Sie sie begründen, begründen wollen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703009700
Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0703009800
Herr Staatssekretär, verfällt die Bundesregierung hier in den Stil, wie er in den Zeiten vor der Weimarer Republik üblich war, daß man zwar gegenüber den Staatsmännern kleinerer Staaten beckmesserisch auftritt, aber schweigt, wenn es sich um mächtige handelt?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703009900
Herr Kollege, auch hier irren Sie. Die Bundesregierung tritt gegenüber jedermann zu jeder Zeit und an jedem Ort für die Einhaltung der Menschenrechte ein.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703010000
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höcherl.

Hermann Höcherl (CSU):
Rede ID: ID0703010100
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß Höflichkeit die erste Tugend auch unserer Regierung sein sollte?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703010200
Ich wüßte nicht, daß das bestritten werden sollte und bestritten werden kann.

(Abg. Höcherl: Und die Praxis?)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703010300
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 9 des Herrn Abgeordneten Dr. Müller (München) auf:
Bedeutet die Äußerung des Bundeskanzlers in einer Diskussion mit jugoslawischen Arbeitern in Pula — die vom Fernsehen übertragen wurde - „ein Teil der Wähler der CDU/CSU sei ebenfalls für den Frieden", daß der übrige Teil gegen den Frieden sei?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703010400
Hinweisend auf die Tatsache, daß das von Ihnen in Ihrer Frage gebrauchte Zitat falsch ist und bezugnehmend auf die Rede, die der Herr Bundeskanzler gestern vor dem Hohen Haus gehalten hat, lautet meine Antwort: nein.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703010500
Eine Zusatzfrage.

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0703010600
In der Annahme, daß das Zitat richtig ist — weil ich selbst es im Deutschen Fernsehen gehört 'habe und vielleicht Ihre Unterlagen nicht der Fernsehübertragung entsprechen , stelle ich die Frage, ob mit einer solchen Äußerung des Herrn Bundeskanzlers der Herr Bundeskanzler nicht bei zukünftigen Tribunalen der Jungsozialisten oder der Sozialistischen Arbeiterjugend gegen die „Revanchisten" in diesem Lande als Kronzeuge angerufen werden kann.

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703010700
Herr Kollege Müller, ich hatte schon gesagt, Ihr Zitat sei falsch. Der Herr Bundeskanzler hat gestern auf die Mitschrift 'und auf den Mitschnitt seines Interviews in Pula verwiesen, und er hat gestern dem Hohen Hause gesagt, daß dieses Material in



Parl. Staatssekretär Ravens
den Unterlagen des Presseamtes vom 19. April dieses Jahres zu finden ist. Er hat es hier verlesen. Daher kann ich auf Ihre hypothetische Frage, die von einer falschen Voraussetzung ausgeht, keine hypothetische Antwort geben.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703010800
Eine zweite Zusatzfrage.

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0703010900
Herr Staatssekretär, könnten Sie auf die klare Frage an die Bundesregierung, ob die Bundesregierung die Meinung teilt, daß die Wähler in der Bundesrepublik, ganz gleich, ob sie die Oppositionsparteien oder die Regierungsparteien wählen, für den Frieden sind, mit Ja antworten?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703011000
Herr Kollege, ich habe auf Ihre 1. Frage klar mit „Nein" geantwortet. Ihre Frage lautete, ob daraus zu schließen sei, ,daß der Bundeskanzler Wählern der Union bestätigen wolle, Sie seien nicht für den Frieden.

(Beifall bei der SPD.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703011100
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 10 des Herrn Abgeordneten Engelsberger auf:
Ist durch die Äußerung von Bundeskanzler Brandt vor Werftarbeitern in Pula (Jugoslawien), daß unter den Wählern der CDU und der CSU „viele sind, die genauso für den Frieden eintreten wie die Wähler, die meiner Regierung ihr direktes Vertrauen gegeben haben", nicht der Eindruck erweckt worden, als oh die Unionsparteien selbst und ihre Führungskräfte nicht und die Unionswähler nur teilweise für den Frieden seien, und womit begründet der Bundeskanzler einen derartig massiven Vorwurf gegen die Kritiker der Politik der Bundesregierung?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703011200
Herr Kollege Engelsberger, auch bei Ihrer Frage darf ich auf die Rede des Herrn Bundeskanzlers von gestern hier im Hohen Hause verweisen und mit Nein antworten.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703011300
Eine Zusatzfrage.

Matthias Engelsberger (CSU):
Rede ID: ID0703011400
Herr Staatssekretär, selbst bei den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers gestern in diesem Hause ist deutlich geworden, daß diese Äußerung in Pula sinngemäß so gefallen ist, wie dies Inhalt meiner Frage ist. Deshalb möchte ich daran die Frage knüpfen, ob mit dieser Äußerung des Herrn Bundeskanzlers nicht ein Teil der Opposition und ein Teil der Wähler der Opposition als Friedensfeinde diffamiert worden sind.

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703011500
Nein, Herr Kollege, das können Sie daraus nicht schließen. Denn der Herr Bundeskanzler hat in seiner Pula-Rede gesagt, daß ein Teil der Wähler, die die Opposition gewählt haben, genauso für den Frieden einträten wie die Wähler, die unmittelbar die Sozialdemokratische Partei oder die FDP gewählt haben. Und er hat vorher von seiner Friedenspolitik gesprochen, Nur bei böswilliger Auslegung könnte man zu der Deutung kommen, die Sie dem Bundeskanzler in den Mund zu legen versuchen.

(Beifall bei der SPD.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703011600
Eine Zusatzfrage.

Matthias Engelsberger (CSU):
Rede ID: ID0703011700
Herr Staatssekretär, ich glaube, man braucht nicht bösartig zu sein, um zu dem Schluß kommen zu müssen, daß dann eben der andere Teil, der nicht für die sogenannte Friedenspolitik des Bundeskanzlers eintritt, praktisch kein Freund des Friedens, sondern gegen den Frieden wäre. Erhebt der Bundeskanzler durch diese Äußerung nicht einen Absolutheitsanspruch, den Anspruch, daß seine Ostpolitik die einzige Alternative sei, die dem Frieden diene?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703011800
Herr Kollege Engelsberger, auch das können Sie so nicht schließen. Der Bundeskanzler hat gesprochen von „der Friedenspolitik, wie ich sie betreibe". So heißt es bei ihm. Daß es in diesem Punkt erhebliche Gegensätze zwischen der Opposition oder Teilen der Opposition und der Regierungskoalition gibt, dies haben wir nun eineinhalb Tage lang, gestern und heute, hier im Hause gehört, und das ist ja wohl auch nicht aus der Welt zu wischen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703011900
Herr Abgeordneter Müller!

Johannes Müller (CDU):
Rede ID: ID0703012000
Herr Staatssekretär, habe ich Ihre Antwort, der Kanzler habe gesagt „genauso für den Frieden eintreten" — Sie haben das betont —, richtig dahin verstanden, daß die Wähler oder Mitglieder der CDU anders für den Frieden eintreten?

Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703012100
Der Kanzler hat festgestellt, daß Wähler der Union die Friedenspolitik dieser Bundesregierung unterstützen, daß aber bei den Wählern nicht allein Bekenntnisse für eine solche oder eine andere Politik das Wahlverhalten bestimmen, sondern dabei viele Komponenten zusammenkommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Warum hat er das dann nicht gesagt?)

— Das hat er gesagt.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703012200
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller (München).

Dr. Günther Müller (CSU):
Rede ID: ID0703012300
Herr Staatssekretär, wenn ich Ihre Betonung richtig verstanden habe, dann heißt das, daß ein Teil der Wähler der Opposition diese Friedenspolitik des Bundeskanzlers unterstützt und der andere Teil der Wähler der Opposition die Friedenspolitik der CDU/ CSU unterstützt.




Karl Ravens (SPD):
Rede ID: ID0703012400
Ich würde sagen: Das heißt, daß Wähler der Opposition die Friedenspolitik dieser Bundesregierung unterstützen.

(Abg. Dr. Müller [München] : Also doch, daß sie sie nicht unterstützen!)

— Nein. Ich erläutere das, was der Bundeskanzler gesagt hat: die Friedenspolitik dieser Bundesregierung.

(Abg. Dr. Müller [München] : Jetzt ist es klar. Das ist wichtig für das Protokoll!)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703012500
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 130 des Herrn Abgeordneten Reddemann auf, die an dieser Stelle behandelt werden müßte. — Der Kollege ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet, Herr Staatssekretär Ravens. Ich danke Ihnen.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bayerl hier. Ich rufe die Frage 62 des Abgeordneten Dr. Geßner auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß jährlich eine große Zahl von Urlaubsreisenden durch falsche und täuschende Angaben in Prospekten und sonstigen Veröffentlichungen von Reiseveranstaltern um ihre wohlverdiente Erholung gebracht wird, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, solche irreführenden Angebote zu unterbinden bzw. einzudämmen?
Bitte schön!

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703012600
Herr Kollege Geßner, ich habe bereits auf eine Frage des Abgeordneten de With am 14. Juni 1972 zu diesem Sachbereich ausführlich Stellung genommen und dargetan, daß der Bundesregierung selbstverständlich bekannt ist, daß die Rechtslage der Touristen gegenüber Reiseveranstaltern insbesondere bei Pauschalreisen immer noch nicht befriedigend geregelt ist. Dabei wird durchaus anerkannt, daß in der Zwischenzeit die Geschäftsbedingungen der Reiseveranstalter unter dem Druck der öffentlichen Diskussion verbessert worden sind. Danach haften die Reiseveranstalter gegenüber dem Reiseteilnehmer insbesondere für die Richtigkeit der Prospektbeschreibungen.
Die Reiseveranstalter haben sich auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar Anfang März 1973 in Berlin zurr Thema „Der Tourist und sein Recht" bereit erklärt, mit dem Bundesministerium der Justiz über eine Neugestaltung ihrer Reisebedingungen zu verhandeln. Wir sind dazu bereit. Ob sich dadurch eine gesetzliche Regelung erübrigt, kann ich jetzt noch nicht voraussagen.
Führen die Verhandlungen mit den Reiseveranstaltern in allernächster Zeit zu keinem befriedigenden Ergebnis, so werden wir den Justizverwaltungen der Länder einen Referentenentwurf zur Stellungnahme übersenden. Eine internationale Regelung, an der wir sehr interessiert waren, ist bisher nicht möglich gewesen. Deshalb ist die innerstaatliche Regelung des Reisevertragsrechts geboten.
Die Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, daß eine solche Regelung noch in dieser Legislaturperiode entweder durch Änderung der allgemeinen Geschäftsbedingungen oder durch eine neue gesetzliche Regelung erreicht wird.
Im übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, daß irreführende Angaben in Prospekten nach den §§ 3 und 13 UWG auf Veranlassung der Verbraucherverbände zivilrechtlich untersagt sowie nach § 4 des gleichen Gesetzes von Amts wegen strafrechtlich verfolgt werden können.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703012700
Eine Zusatzfrage.

Dr. Manfred Achim Geßner (SPD):
Rede ID: ID0703012800
Herr Staatssekretär, Sie erklärten eben, die Bundesregierung wolle notfalls einen Referentenentwurf vorlegen. Sind Sie in der Lage, wesentliche Punkte dieses Referentenentwurfs zu nennen?

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703012900
Herr Kollege Geßner, ich würde es begrüßen, wenn sich die Bundesregierung in diesen Fragen erst mit den Landesjustizverwaltungen absprechen könnte. Das ist noch nicht geschehen. Und ich würde auch nicht gern den Verhandlungen mit den Touristikunternehmen vorgreifen, die das Ziel haben, gegebenenfalls die allgemeinen Geschäftsbedingungen zu ändern, damit wir den Gesetzentwurf nicht benötigen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703013000
Eine weitere Zusatzfrage.

Dr. Manfred Achim Geßner (SPD):
Rede ID: ID0703013100
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung-
bzw. Ihr Haus — bereits im Besitze eines derartigen Referentenentwurfs ist, oder muß dieser Entwurf erst noch als Ergebnis der Gespräche, die zu führen Sie vorhaben, ausgearbeitet werden?

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703013200
Nein, Sie haben mich richtig verstanden. In unserem Hause ist der Entwurf in groben Zügen erstellt, und wir wären in der Lage, ihn sehr bald an die Landesjustizverwaltungen zu verschicken.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703013300
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hansen.

Karl-Heinz Hansen (SPD):
Rede ID: ID0703013400
Herr Staatssekretär, können Sie in Ergänzung Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Geßner bestätigen, daß schon jetzt irreführende Angaben in Prospekten zu Schadenersatzforderungen der Betroffenen führen können?




Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703013500
Das kann ich bestätigen. Nur sind dabei die Regelungen für die Verbraucher immer noch nicht ausreichend.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703013600
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID0703013700
Trifft es zu, daß der Bundesminister der Justiz einen Stab von Mitarbeitern eingesetzt hat, der prüft, welche Maßnahmen gegen zu mißbilligende Geschäftsbedingungen ergriffen werden können, und daß dabei unter Umständen auch die Bedingungen der Touristikunternehmen überprüft werden?

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703013800
Das trifft zu, Herr Kollege de With. Wir haben zu Beginn dieser Legislaturperiode eine solche Kommission berufen. Sie arbeitet bereits sehr intensiv und beschäftigt sich selbstverständlich auch mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Touristikunternehmen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703013900
Keine weiteren Zusatzfragen.
Dann rufe ich Frage 63 des Herrn Abgeordneten Gallus auf:
Ist die Bundesregierung bereit, sofort die Jugendarrestvollzugsordnung vom 1. September 1966 (BGBl. I S. 505) dahin zu ändern, daß die „strengen Tage", „Raudiverbot" u. ä. wegfallen, oder hält es die Bundesregierung noch für gerechtfertigt - angesichts der Vermutung, daß dies bereits in einigen Bundesländern geschieht — damit bis zum Inkrafttreten des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch, also im Jahre 1975, zu warten?

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703014000
Herr Kollege Gallus, die Bundesregierung teilt Ihre Ansicht — ich wiederhole das in der vorvorletzten Fragestunde Gesagte , daß die sogenannten strengen Tage und andere rigorose Formen des Jugendarrestvollzugs kriminalpädagogisch nicht länger gerechtfertigt sind.
Wie ich bereits in einer Antwort der Bundesregierung am 21. März 1973 ausgeführt habe, sind die Arbeiten für eine Änderung der Jugendarrestvollzugsordnung seit längerer Zeit von uns eingeleitet. Mit der Abschaffung der rigorosen Vollzugsformen muß nicht notwendigerweise bis zum Inkrafttreten des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch — das wäre also der 1. Januar 1975 — gewartet werden.
Die Bundesregierung ist vielmehr der Ansicht, daß dieses Problem möglichst bald falls zweckmäßig, noch vor der in Aussicht genommenen grundsätzlichen Umgestaltung des gesamten Jugendarrestvollzugs — zu lösen ist.
Die Änderung der Jugendarrestvollzugsordnung insgesamt bedarf jedoch einer gründlichen Vorbereitung. Für die Übergangszeit bis zur Änderung der Jugendarrestvollzugsordnung gibt die geltende Fassung die Möglichkeit, den gewandelten kriminalpädagogischen Auffassungen Rechnung zu tragen; auch hier wiederhole ich mich aus der vergangenen Fragestunde.
§ 13 Abs. 1 der Jugendarrestvollzugsordnung gibt dem Vollzugsleiter die Möglichkeit, von der Anordnung strenger Tage abzusehen, wenn dies insbesondere aus erzieherischen Gründen im Einzelfall geboten ist. Nach meiner Auffassung sollte vom Vollzug der sogenannten strengen Tage immer abgesehen werden, weil hierfür erzieherische oder andere Gründe sprechen.
Es ist mir unverständlich, daß in den letzten Wochen in der Presse die Auffassung vertreten wurde, die geltende Jugendarrestvollzugsordnung zwinge den Vollzugsleiter dazu, die sogenannten strengen Tage durchzuführen. Die Bundesregierung ist nicht auf Vermutungen angewiesen, Herr Kollege Gallus, sondern sie weiß, daß in zahlreichen Jugendarrestvollzugsanstalten die Vollzugsleiter keine strengen Tage mehr durchführen und daß an verschiedenen Orten versucht wird, im Jugendarrestvollzug moderne pädagogische Vorstellungen zu erproben und zu verwirklichen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703014100
Eine Zusatzfrage.

Georg Gallus (FDP):
Rede ID: ID0703014200
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß man den überwachenden Beamten für ein überholtes Gesetz bzw. für eine überholte Verordnung nicht den Schwarzen Peter zuschieben darf, wenn auf der anderen Seite die Bundesregierung davon spricht, daß diese Vollzugsordnung geändert werden soll? Sie haben nicht gesagt, in welchem Zeitraum das überhaupt geschehen kann.

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703014300
Herr Kollege Gallus, hier geht es überhaupt nicht um einen Schwarzen Peter, der irgend jemandem - zu allerletzt dem Vollzugsbeamten — zugeschoben werden soll. Ich wiederhole noch einmal, daß in dem sicher überholten § 13 der Vollzugsordnung die Möglichkeit vorgesehen ist, von der Verhängung strenger Tage abzusehen, wenn dies erziehungsmäßig oder aus pädagogischen Gründen gerechtfertigt oder geboten ist.
Herr Kollege Gallus, die Jugendstrafanstalten Hamburg, Bad Harzburg, Frankfurt-Hoechst, Oberkaufungen, Rendsburg, Mayen, Worms und BremenLesum machen von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil sie ebenso wie das Bundesjustizministerium wissen, daß nach unseren modernen pädagogischen Auffassungen strenge Tage in einer Vollzugsanstalt insbesondere bei denjenigen, die bereits unter einem Erziehungsdefizit leiden, keinen pädagogischen Wert mehr haben. Keiner Vollzugsanstalt in irgendeinem Bundesland ist es verwehrt, ebenso zu verfahren wie die von mir aufgeführten Jugendstrafanstalten.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703014400
Zweite Zusatzfrage.

Georg Gallus (FDP):
Rede ID: ID0703014500
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, den Brief des Herrn Justizministers von BadenWürttemberg entsprechend Ihrer Ausführungen zu beantworten, damit sich seine Beamten demgemäß verhalten können?




Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703014600
Selbstverständlich bin ich dazu bereit. Ich habe auch der Presse dazu eine gleichlautende Erklärung übergeben.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703014700
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höcherl.

Hermann Höcherl (CSU):
Rede ID: ID0703014800
Herr Staatssekretär, sind Sie angesichts des zunehmenden Rowdietums der Meinung, daß es nichts Wichtigeres gibt, als z. B. das Rauchverbot abzuschaffen?

Dr. Alfons Bayerl (SPD):
Rede ID: ID0703014900
Herr Kollege Höcherl, von mir aus ist das Rauchverbot nicht erwähnt worden.

(Abg. Höcherl: Hier in der Frage!)

— Ich bin danach gefragt worden. Ich habe gesagt, daß wir die ganze Jugendarrestvollzugsordnung verändern müssen, daß es dazu mehr Zeit bedarf. Wir haben hierfür einen Forschungsauftrag vergeben. Ohne das Ergebnis des Forschungsauftrags abwarten zu müssen, weiß ich, daß man einem Achtzehn- oder Neunzehnjährigen, der sich in einer solchen Jugendstrafanstalt befindet, mit einem Rauchverbot erzieherisch sicher nicht beikommen kann.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703015000
Keine Zusatzfrage.
Wir kommen zu den Fragen 64 und 65 des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider. Der Herr Kollege ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 66 und 67 des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz (Bergstraße) sind zurückgezogen.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Damit kommen wir zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner anwesend. Ich rufe zunächst die Frage '77 des Herrn Abgeordneten Dr. Meinecke auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, über die bisherigen Bemühungen des Bundesministers für Wirtschaft, seit Juni 1969, und des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, seit Februar 1972, hinaus, den Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE), unter Hinweis auf das Energiewirtschaftsgesetz, das Maschinenschutzgesetz und den Beschluß des Bundestags vom 3. März 1971 zu veranlassen, die im Hause der Berliner Kraft-und Licht (Bewag) — Aktiengesellschaft entwickelte berührungssichere Glühlampenfassung in die VDE-Vorschriften aufzunehmen?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703015100
Herr Kollege Dr. Meinecke, technische Festlegungen, wie sie in den VDE-Vorschriften erfolgen, sind im Rahmen der Selbstverwaltung der Wirtschaft Angelegenheit der Normenorganisationen. Eine solche Festlegung kann bei der gegenwärtigen Rechtslage von der Bundesregierung nicht erzwungen werden. Die zitierten Gesetze regeln zwar bestimmte Rahmenbedingungen der Sicherheitstechnik, sie bedienen sich jedoch hierbei der
von den Normenorganisationen in eigener Verantwortung aufgestellten technischen Regeln.
Der VDE paßt üblicherweise seine Bestimmungen dem allgemein anerkannten Stand der Technik im Zuge der sogenannten nacheilenden Normung an. Dies setzt allerdings voraus, daß sich die betreffenden Erzeugnisse schon auf dem Markt befinden. Dies ist bei der betreffenden Sicherheitsfassung noch nicht der Fall.
Ich möchte jedoch betonen, daß die gutachtliche Prüfung eines Modells der Erfindung durch die VDEPrüfstelle ein positives Ergebnis hatte.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703015200
Eine Zusatzfrage.

Dr. Rolf Meinecke (SPD):
Rede ID: ID0703015300
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung geprüft, ob meine Auffassung stimmt, daß die Bestimmungen des Gesetzes über technische Arbeitsmittel in den §§ 5 und 6 durch die Sicherheitsvorschriften des Verbandes Deutscher Elektrotechniker eindeutig nicht erfüllt sind und damit eine Änderung dieser Vorschriften dringend erforderlich ist, insbesondere da es sich nicht um eine Erfindung, sondern um die im Handel befindliche Glühlampenfassung handelt?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703015400
Diese Frage ist von der Bundesregierung geprüft worden. Die Bundesregierung ist nicht der Meinung, daß hier eine Einwirkungsmöglichkeit im Sinne ,der von Ihnen zitierten Auffassung möglich ist. Ich kann aber versichern, daß gerade Ihre Anfrage der Bundesregierung Anlaß geben wird, diese Frage und diese hier angesprochenen Themen mit besonderer Aufmerksamkeit zu verfolgen, um zu erreichen, daß in diesem Bereich das Mögliche geschieht.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703015500
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Meinecke.

Dr. Rolf Meinecke (SPD):
Rede ID: ID0703015600
Wenn die Bundesregierung nicht ,dieser Auffassung war, möchte ich Sie fragen, wie Sie es sich denn erklären, daß die Bundesregierung bereits im Jahre 1969, also vor vier Jahren, und im Jahre 1970, nämlich das Bundesministerium für Wirtschaft, diesen Verband aufgefordert hat, sich mit der Frage zu befassen, ob die derzeitig im Gebrauch befindliche Glühlampenfassung sicherheitstechnisch in Ordnung ist oder nicht, und dieser Verband es in vier Jahren nicht einmal für nötig befunden hat, überhaupt einmal zusammenzutreten. Wie ist das zu erklären?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703015700
Ich habe schon darauf hingewiesen, Herr Kollege Dr. Meinecke, daß die Prüfung der Sicherheitsfassung, die Sie erwähnen, beim VDE ein positives Prüfungsergebnis ergeben hat, daß aber die geltenden Normungsregelungen keine Möglichkeit geben, eine nicht auf ,dem Markt befindliche und ausreichend erprobte Sicherheitsfassung zur Grundlage etwa eines Verbots anderer Sicherheitsfassungen zu machen.




Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703015800
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe nun die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Dr. Meinecke auf:
ist die Bundesregierung der Meinung, daß der Grund fur die Verschleppung dieser für die Unfallverhütung wichtigen Angelegenheit durch den VDE darin zu suchen ist, daß die Mehrkosten für eine Vollschutzfassung ca. 10 Pfennig betragen würden oder daß der VDE die Aufforderung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung und der Stiftung Warentest nicht ernsthaft genug zur Kenntnis nehmen will?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703015900
Die Bundesregierung ist nicht der Meinung, Herr Kollege Dr. Meinecke, daß für die bisherige Haltung ,des VDE Kostenfragen maßgebend waren oder daß der VDE ,die einschlägigen Aufforderungen der am Arbeitsschutz interessierten Stellen nicht ernsthaft genug zur Kenntnis nehmen will.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703016000
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Meinecke.

Dr. Rolf Meinecke (SPD):
Rede ID: ID0703016100
Ist die Bundesregierung dann bereit, in Anbetracht der Tatsache, daß der Deutsche Bundestag am 3. März 1971 folgendes Ersuchen an die Regierung gerichtet hat:
Die Bundesregierung wird ersucht, die Maßnahmen für die Unfallverhütung im häuslichen Bereich zu intensivieren und dabei im Rahmen der Unfallforschung eine bessere Erfassung der häuslichen Unfälle und ihrer Ursachen anzustreben
zu untersuchen, ob nicht zwischen dem in der Frage angesprochenen Problem und dem Entschließungsantrag durch den Bundestag zum Ausdruck gekommenen Willen ein besonderer Zusammenhang besteht?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703016200
Die Bundesregierung ist dieser Verpflichtung nachgekommen, Herr Kollege Dr. Meinecke. Sie ist aber nicht in der Lage, eine Sicherheitsfassung — im Sinne einer Verpflichtung zur Abnahme am Markt — zu empfehlen, solange die praktische Erprobung dieser Sicherheitsfassung am Markt dafür nicht ausreichende Grundlagen geschaffen hat.
Ich möchte hinzufügen, daß auch gerade die wirtschaftlichen Auswirkungen, die in diesem Bereich am Markt natürlich eine erhebliche Rolle spielen, mit in diese Überlegungen einbezogen werden müssen. Wir haben festgestellt, daß die bisher verwendeten Fassungen bei Glühbirnen zu keinen schwerwiegenden Nachteilen geführt haben.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703016300
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Meinecke.

Dr. Rolf Meinecke (SPD):
Rede ID: ID0703016400
Herr Staatssekretär, wären Sie so freundlich, diese letzte Aussage, die Sie soeben gemacht haben, noch einmal im Hinblick darauf zu überprüfen, daß in den letzten fünf Jahren, nämlich seit 1968, in Zeitungen und Fachzeitschriften 21 Publikationen erschienen sind
und weiterhin vier Rundfunk- und Fernsehdarstellungen ausgestrahlt worden sind. In allen wird von exakt nachweisbaren tödlichen Unfällen gesprochen, die zum Teil durch die jetzige Glühlampenfassung erzeugt sind. Das ist nachweisbar. Ist Ihr Haus gewillt, das noch einmal zu überprüfen?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703016500
Herr Kollege Dr. Meinecke, ich werde das sehr gerne nachprüfen lassen. Ich habe hier lediglich einen Informationsvermerk — allerdings nicht über den von Ihnen genannten Zeitraum —, der sagt, daß 1972 acht Unfälle ohne tödliche Folgen registriert worden sind. Das ist allerdings eine Zahl nur für 1972.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Ihre Anfrage uns Anlaß geben wird, dem Thema nachzugehen. Wir werden die Frage, die Sie nun angeschnitten und auf frühere Zeiträume ausgedehnt haben, mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen. Ich werde unaufgefordert darauf noch einmal zurückkommen.

Dr. Rolf Meinecke (SPD):
Rede ID: ID0703016600
Danke schön.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703016700
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lemp.

Hans Lemp (SPD):
Rede ID: ID0703016800
Herr Staatssekretär, im Anschluß an die Frage des Kollegen Meinecke möchte ich folgende Frage stellen: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß durch die häufige Verschleppung von Beratungen durch deutsche Stellen fortschrittliche Entwicklungen von ausländischen Herstellern erworben werden, für die anschließend unsererseits wieder hohe Lizenzgebühren bezahlt werden müssen?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703016900
Es ist mir nicht möglich, diese Frage in dem hier gegebenen Zusammenhang zu beantworten. Mir ist nicht bekannt, daß Verschleppungen mit den von Ihnen erwähnten Folgen im Zusammenhang mit Glühlampenfassungen eine Rolle gespielt haben.
Ich darf aber die Frage insoweit noch einmal aufgreifen, als man sich natürlich darüber im klaren sein -muß, daß eine Veränderung der Vorschriften überhaupt nur in internationalen Zusammenhängen möglich ist, weil eine einseitige Änderung unserer Vorschriften schwerwiegende wirtschaftliche Folgen haben könnte.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703017000
Keine weitere Frage.
Ich rufe die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Höcherl auf.
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Jahresbericht 1972 der Deutschen Bundesbank, in denn von der Bundesrepublik Deutschland Flankenschutz für die Geldpolitik mit dem Hinweis gefordert wird, daß eine Reduzierung der Geldmenge allein gegen den Preisauftrieb machtlos sei?




Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703017100
Ich bitte um Genehmigung, die beiden Fragen gemeinsam beantworten zu dürfen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703017200
Dann rufe ich auch noch die Frage 80 des Herrn Abgeordneten Höcherl auf:
ist sich die Bundesregierung im klaren, daß die Deutsche Bundesbank die bisherigen Regierungsmaßnahmen zur Erreichung der Stabilität nicht für ausreichend hält?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703017300
Mit ihrem Geschäftsbericht für das Jahr 1972 macht die Bundesbank wiederum deutlich, welche zentrale Rolle eine zu große monetäre Expansion für die Preissteigerungen in der gesamten Volkswirtschaft spielt. Die starken, überwiegend spekulativen Devisenzuflüsse und die damit verbundenen Stützungskäufe zwangen die Bundesbank in der Vergangenheit, selbst Inflationspotential zu schaffen. Durch die währungspolitischen Vereinbarungen in Verbindung mit den schon früher getroffenen Regelungen für den Kapitalverkehr hat die Bundesregierung die Voraussetzungen für eine stabilitätsgerechte Geld- und Kreditpolitik wesentlich verbessert. Bundesregierung und Bundesbank stimmen in dieser Beurteilung überein. Die Bundesregierung hat die restriktive kreditpolitische Linie zusätzlich dadurch gestützt, daß sie das Aufkommen aus der ersten Tranche der Stabilitätsanleihe in Höhe von 1,5 Milliarden DM bei der Bundesbank stillgelegt hat.
Wenn die Bundesbank in ihrem Geschäftsbericht von der „Notwendigkeit flankierender finanzpolitischer Maßnahmen" spricht, so befindet sie sich auch darin in Übereinstimmung mit der Bundesregierung, deren Stabilitätsprogramm vom 17. Februar dieses Jahres bereits in diese Richtung zielte. Es ist klargeworden, daß der sich über Erwarten kräftig beschleunigende Konjunkturaufschwung zusätzliche Dämpfungsmaßnahmen erforderlich macht. Die Bundesregierung hat gestern aus dieser Entwicklung die Konsequenz weiterer stabilitätspolitischer Beschlüsse gezogen, die ich als bekannt voraussetzen darf. Sie hofft bei der Verwirklichung des bisherigen Programms und für das neue Maßnahmenbündel auf die Unterstützung aller Fraktionen des Hohen Hauses.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703017400
Eine Zusatzfrage.

Hermann Höcherl (CSU):
Rede ID: ID0703017500
Herr Staatssekretär, ist es nicht traurig, daß die Bundesregierung innerhalb von wenigen Wochen zwei ganz verschiedene Auflagen eines Stabilitätsprogramms vorlegen muß?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703017600
Es ist sicher sehr viel schöner, wenn dazu keine Notwendigkeit besteht, Herr Kollege Höcherl. Aber ich möchte doch darauf aufmerksam machen, daß das Ausmaß dieses Wirtschaftsaufschwunges von niemandem vorausgesehen worden ist, weder von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten noch von sonstigen Sachkennern, geschweige denn von der Opposition.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703017700
Zusatzfrage.

Hermann Höcherl (CSU):
Rede ID: ID0703017800
Herr Staatssekretär, reicht die Voraussicht der Bundesregierung — regieren heißt ja voraussehen — nicht weiter als acht Wochen?

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703017900
Der wirtschaftliche Boom, Herr Kollege Höcherl, schlägt sich in unseren nachprüfbaren und erfaßbaren Statistiken mit einer zeitlichen Verzögerung nieder, die immerhin mit mindestens zwei Monaten anzusetzen ist. Ich meine, daß die Bundesregierung mit ihrem jetzt ergänzten Maßnahmenbündel sehr rasch auf diese Erkenntnisse reagiert hat.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703018000
Zusatzfrage.

Hermann Höcherl (CSU):
Rede ID: ID0703018100
Herr Staatssekretär, wäre es nicht besser gewesen, wenn die Bundesregierung immer der Stimme der Bundesbank gefolgt wäre, die seit 1970 über Nichtstun oder Halbheiten klagt? Dann wäre sie wohl nicht in diesen Schwierigkeiten.

Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703018200
Die Bundesregierung hat sich in allen wesentlichen Fragen in Übereinstimmung mit der Bundesbank befunden. Die Schwierigkeiten, die konjunkturpolitisch für uns aufgetreten sind — ich habe darauf schon hingewiesen —, sind ja vor allem durch die fehlende außenwirtschaftliche Absicherung eingetreten. Die Bundesbank selbst war deshalb gezwungen, praktisch Inflation in diesem Lande zuzulassen. Wir haben uns gemeinsam mit der Bundesbank darum bemüht, diese Lücke zu schließen, und das ist ja auch erfolgreich geschehen.

Hermann Höcherl (CSU):
Rede ID: ID0703018300
Herr Staatssekretär, ist es nicht vielmehr so, daß Sie deswegen der Bundesbank und den anderen Instituten nicht gefolgt sind, weil sich die Opposition dieser Stimme der Vernunft angeschlossen hat?

(Heiterkeit.)


Martin Grüner (FDP):
Rede ID: ID0703018400
Herr Kollege Höcherl, gute Ideen der Opposition sind wir gerne bereit zu übernehmen. Leider hat es die Opposition in diesem Bereich bisher an der nötigen Konkretisierung fehlen lassen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703018500
Keine Zusatzfrage.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Frage 86 des Herrn Abgeordneten Bremm:



Vizepräsident Frau Funcke
Hält die Bundesregierung die derzeitige Rechtslage für sachlich gerechtfertigt und sinnvoll, wonach ein wegen Überschreitens der Versicherungspflichtgrenze bei einer Ersatzkasse freiwillig weiterversicherter Angestellter, der daneben landwirtschaftlicher Unternehmer ist, an einer doppelten Beitragszahlung zur Krankenversicherung nicht vorbeikommt, denn den Krankengeldanspruch kann er nur durch die weitere Mitgliedschaft bei der Ersatzkasse aufrechterhalten, von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Landwirte kann er nicht befreit werden?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703018600
Frau Präsidentin, ich bitte, die Fragen Nummern 86 und 87 wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantworten zu dürfen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703018700
Bitte schön, wenn der Fragesteller einverstanden ist. — Dann rufe ich auch die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Bremm auf:
Ist die Bundesregierung zum Vorschlag einer Gesetzesänderung bereit, die in solchen Fällen eine Befreiungsmöglichkeit in der Krankenversicherung der Landwirte einräumt oder auf andere Weise den Betroffenen von der Beitragszahlung an die zweite Krankenkasse befreit, ohne daß er den Krankengeldanspruch und den Arbeitgeberzuschuß zum Krankenversicherungsbeitrag (§ 405 RVO) einbüßt?
Bitte, Herr Staatssekretär Eicher!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703018800
Zur Rechtslage, die Sie, Herr Abgeordneter, in Ihren Fragen ansprechen, ist folgendes zu sagen: Ob die in der Krankenversicherung der Landwirte versicherten landwirtschaftlichen Unternehmer, die als Angestellte mit einem Gehalt oberhalb der Jahresarbeitsverdienst-grenze beschäftigt sind, Anspruch auf den Arbeitgeberzuschuß nach § 405 der Reichsversicherungsordnung haben, wenn sie eine freiwillige Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung aufrechterhalten oder bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen unter den im Gesetz näher bezeichneten Voraussetzungen versichert sind, ist nicht zweifelsfrei. Für einen derartigen Anspruch spricht, daß durch die Regelung des § 405 der Reichsversicherungsordnung Angestellte mit einem über der Jahresarbeitsverdienstgrenze liegenden Gehalt den pflichtversicherten Arbeitnehmern hinsichtlich ihrer Beitragsbelastung gleichgestellt werden sollen. Dagegen könnte die Fassung des § 405 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung sprechen; denn danach haben den Anspruch „Angestellte, die nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze" nicht versicherungspflichtig sind. Eine rechtlich verbindliche Entscheidung über den Anspruch nach § 405 der Reichsversicherungsordnung können nur die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit treffen.
Dagegen haben keinen Anspruch auf einen Arbeitgeberzuschuß nach § 405 der Reichsversicherungsordnung Angestellte mit einem über der Jahresarbeitsverdienstgrenze liegenden Gehalt, wenn sie ausschließlich in der Krankenversicherung der Landwirte versichert sind. Um diese Rechtslage zu ändern, bedarf es eines von den gesetzgebenden Körperschaften zu verabschiedenden Änderungsgesetzes.
Für die Lösung der von Ihnen angesprochenen Probleme bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. In meinem Hause wird geprüft, welche dieser
Möglichkeiten den Vorzug verdient. Im Rahmen
der Prüfung werden auch die beteiligten Verbände
u. a. der Bundesverband der landwirtschaftlichen Krankenkassen — gehört werden.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703018900
Zusatzfrage.

Klaus Bremm (CDU):
Rede ID: ID0703019000
Herr Staatssekretär, liegt eine Freistellung von der Versicherungspflicht zur Krankenversicherung der Landwirte nicht auf der Linie der amtlichen Begründung des § 3 des Gesetzes? Dort heißt es:
Beim Zusammentreffen von selbständiger Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer und einer Tätigkeit als Arbeitnehmer muß die Versicherung aus dem Arbeitnehmertätigkeitsbereich Vorrang haben, weil bei Arbeitsunfähigkeit der anfallende Lohn durch Krankengeld zu ersetzen ist.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703019100
Herr Abgeordneter, das ist richtig. Ich habe auch zum Schluß meiner Ausführungen gesagt, daß wir die Möglichkeiten prüfen, wie in diesen Fällen geholfen werden kann. Es bietet sich unter anderem diese Möglichkeit an, die Sie eben angesprochen haben. Nur muß es dann expressis verbis im Gesetz aufgeführt werden. Das ist zur Zeit nicht der Fall.

Klaus Bremm (CDU):
Rede ID: ID0703019200
Dazu eine weitere Frage! Wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß das Problem bei dem nächsten die gesetzlichen Krankenversicherung betreffenden Gesetz oder aber spätestens beim Siebenten Änderungsgesetz über die Altershilfe für die Landwirte gelöst wird? Wann wollen Sie es lösen? Das ist die Frage.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703019300
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen hier keinen genauen Zeitpunkt sagen, weil er ja davon abhängt, wann die Prüfung der Frage, welche Lösung für den genannten Personenkreis auch hinsichtlich der Auswirkungen die günstigste ist, abgeschlossen sein wird. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir dieses Problem lösen wollen und werden.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703019400
Eine weitere Zusatzfrage.

Klaus Bremm (CDU):
Rede ID: ID0703019500
Herr Staatssekretär, Sie sprachen eben von verschiedenen Lösungsmöglichkeiten, die in Ihrem Hause eruiert würden. Wären Sie so gut und würden mir diese Lösungsmöglichkeiten zusenden?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703019600
Ja, gerne.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703019700
Keine Zusatzfrage mehr.



Vizepräsident Frau Funcke
Dann rufe ich Frage 88 des Herrn Abgeordneten Dr. Schäuble auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Nichtberücksichtigung einer durch nachgewiesene Denunziation erfolgten Inhaftierung durch eine Besatzungsmacht nach Kriegsende und die daran anschließende Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit im Sinne des § 28 AVG eine nicht vertretbare persönliche Härte für die Betroffenen bildet, und ist die Bundesregierung zu einer entsprechenden Gesetzesänderung bereit?
Bitte, Herr Staatssekretär!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703019800
Ich habe Verständnis dafür, Herr Abgeordneter, daß Personen, die sich nach Beendigung des zweiten Weltkrieges im sogenannten automatischen Arrest befunden haben, es in bestimmten Fällen als Härte empfinden, daß ihnen diese Zeit und eine eventuelle anschließende Zeit der Arbeitslosigkeit bei der Berechnung einer Rente aus der Rentenversicherung nicht angerechnet werden können. Gleichwohl hat die Bundesregierung Bedenken, eine dem Anliegen dieser Personen entsprechende Gesetzesänderung anzuregen.
Durch die geltenden Vorschriften der Rentengesetze werden die typischen Sachverhalte, durch die die Versicherten infolge Kriegs- und Nachkriegsereignissen an der Beitragsentrichtung verhindert sein konnten, in der Weise erfaßt, daß den Versicherten aus ihnen hinsichtlich der Höhe ihrer Rente grundsätzlich keine Nachteile erwachsen. Der Gesetzgeber war sich darüber im klaren, daß es nicht Aufgabe der Rentenversicherung sein kann, alle Schäden, die der einzelne infolge Kriegs- und Nachkriegsereignissen erleiden konnte, in der Rentenversicherung auszugleichen. Er war sich darüber hinaus auch der verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten bewußt, die mit Regelungen verbunden wären, die in dieser Hinsicht das Ziel einer möglichst großen Individualgerechtigkeit verfolgen würden. Das macht gerade der Ihrer Frage offenbar zugrunde liegende Einzelfall deutlich; denn eine Regelung zugunsten gerade dieses Betroffenen würde die Rentenversicherungsträger wahrscheinlich zwingen, heute. fast 30 Jahre nach Kriegsende, die Gründe für den damaligen automatischen Arrest festzustellen.
Schon der Gesetzgeber des Jahres 1957 hat daher zum Ausgleich dieser und ähnlicher Härten eine sogenannte Ausfallzeitenpauschale eingeführt. Durch die sogenannte Härtenovelle des Jahres 1965 ist diese Pauschale erheblich verbessert worden. Ich möchte annehmen, daß auf Grund dieser Regelung auch in den von Ihnen angesprochenen Fällen die Anrechnung der hier in Rede stehenden Zeiten jedenfalls zu einem erheblichen Teil möglich ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene im übrigen der Rentenversicherung regelmäßig angehört hat.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703019900
Zusatzfrage.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID0703020000
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß Ihre Darstellung aus der Sicht des jeweils Betroffenen nicht überzeugend sein kann, und sind Sie nicht mit mir der Ansicht, daß eine bessere Einzelfallgerechtigkeit in Fällen, in denen die verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten nicht zu groß wären, hergestellt werden sollte?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703020100
Herr Abgeordneter, ich bedaure, Ihre Auffassung in dieser allgemeinen Form nicht teilen zu können. Ich komme selbst aus diesem Bereich und kann Ihnen nur sagen, daß man, je individueller und je gerechter man handeln will, im Grunde genommen desto ungerechter wird, weil nämlich die Einzelfälle unseres Lebens überhaupt nicht mehr erfaßbar sind und dadurch lauter Lücken entstehen, was dazu führt, daß die Verwaltung heute mit diesen Gesetzen praktisch nicht mehr fertig wird.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703020200
Keine Zusatzfrage? — Dann rufe ich die Frage 89 des Herrn Abgeordneten Geisenhofer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß sich nach dem Rentenreformgesetz 1972 neben Hausfrauen und Selbständigen auch Schwerbehinderte, die nicht erwerbstätig sein können, zur freiwilligen Versicherung und Nachversicherung anmelden, daß diese Behinderten jedoch als Erwerbs- bzw. Berufsunfähige eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente nicht erhalten können?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703020300
Frau Präsidentin, ich wäre dankbar, wenn ich auch in diesem Fall die beiden Fragen des Herrn Abgeordneten Geisenhofer wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantworten dürfte.

(Abg. Geisenhofer: Einverstanden!)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703020400
Gut, dann rufe ich auch die Frage 90 auf:
Hält die Bundesregierung eine Gesetzesänderung dahin gehend für sinnvoll, daß wenigstens für solche Berufs- oder Erwerbsunfähige, für die 15 Jahre lang Beiträge entrichtet worden sind, eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente gezahlt werden kann, und falls ja, sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, diesem Personenkreis einen Freibetrag bei der Anrechnung der Rente auf Sozialhilfe einzuräumen, weil sonst Eigenvorsorge der Betroffenen oder auch ihrer Angehörigen im Regelfall sinnlos ist?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703020500
Herr Abgeordneter, ich beantworte Ihre Fragen im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit wie folgt.
Es trifft zu, daß nach geltendem Recht bei der Berechnung einer Rente nur die Versicherungszeiten berücksichtigt werden können, die vor Eintritt des der Rente zugrunde liegenden Versicherungsfalles zurückgelegt sind. Das bedeutet, daß die Beiträge, die von berufsunfähigen oder erwerbsunfähigen Schwerbehinderten entrichtet werden, erst bei Eintritt des nächsten Versicherungsfalles rentenwirksam werden können. Bei den erwerbsunfähigen Schwerbehinderten führt das dazu, daß aus den von ihnen entrichteten Beiträgen erst nach Erfüllung der Voraussetzungen für ein Altersruhegeld eine Rente gewährt werden kann.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß dieser Rechtszustand den besonderen Verhältnissen der Schwerbehinderten nicht gerecht wird. Es wird daher erwogen, die Voraussetzungen für den Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente zu erleichtern. Die im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen gehen in die von Ihnen aufgezeigte Richtung. Ich bitte jedoch um Verständnis, wenn ich heute



Staatssekretär Eicher
noch keine Einzelheiten der in Aussicht genommenen Regelung nennen kann, da die Überlegungen noch nicht abgeschlossen sind.
Was den letzten Teil Ihrer zweiten Frage betrifft, so sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, die Bestimmungen über den Einsatz des Einkommens in der Sozialhilfe zugunsten der Empfänger einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente in dem von Ihnen gewünschten Sinn zu ändern. Die aus allgemeinen öffentlichen Mitteln aufzubringende Sozialhilfe geht vom Grundsatz des Nachrangs aus, der bedeutet, daß grundsätzlich alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert als zu berücksichtigendes Einkommen gelten, insbesondere auch alle Leistungen anderer Sozialleistungsträger. Die Annahme Ihres Vorschlags würde die Wiedereinführung der bereits 1953 aufgegebenen sogenannten gehobenen Gruppenfürsorge bedeuten. Die Bevorzugung bestimmter Gruppen von Hilfeempfängern vor anderen Gruppen in der Sozialhilfe müßte als sozial nicht gerecht angesehen werden.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703020600
Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
Die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Lenzer soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen dann zu Frage 92 des Herrn Abgeordneten Spranger. — Der Herr Kollege ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 93 des Herrn Abgeordneten Peiter und die Frage 94 des Herrn Abgeordneten Zebisch sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 95 des Herrn Abgeordneten Müller (Berlin) auf:
Hält die Bundesregierung die in der Zeitschrift „die Familie" (Nr. 1 — Januar/Februar 1973) veröffentlichten Forderungen des Deutschen Familienverbands für berechtigt, wonach bis zur Steuerreform eine Übergangslösung zum Familienlastenausgleich in Form einer monatlichen Abschlagszahlung von 40 DM ab erstem Kind für jedes Kind, zusätzlich zum gegenwärtigen Kindergeld, geschaffen werden soll?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703020700
Herr Kollege Müller, die vom Deutschen Familienverband geforderte Leistungsverbesserung würde einen Mehraufwand von etwa 7,3 Milliarden DM jährlich zur Folge haben. Eine derartige Forderung liegt außerhalb der Grenzen des finanziell Realisierbaren.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703020800
Eine Zusatzfrage.

Johannes Müller (CDU):
Rede ID: ID0703020900
Herr Staatssekretär, um mir selbst ein Urteil über die Berechtigung der
Forderung bilden zu können, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir — unabhängig davon, wie viele Milliarden DM die Erfüllung dieser Forderung kostet — Angaben darüber machen, um wieviel seit dem Inkrafttreten des Bundeskindergeldgesetzes, d. h. seit der Übernahme des Kindergeldes durch den Bund im April 1964 a) die jährlichen Aufwendungen des Bundes für Kindergeld, b) die einzelnen Kindergeldbeträge für das zweite, dritte, vierte Kind und weitere Kinder effektiv und prozentual gestiegen sind und c) die Lebenshaltungskosten für Kinder in der gleichen Zeit gestiegen sind?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703021000
Herr Kollege Müller, ich hätte alle unsere Akten mitbringen müssen, wenn ich Ihnen diese Fragen hier beantworten wollte. Ich bin aber selbstverständlich gern bereit, sie Ihnen schriftlich zu beantworten. Sie werden sicher bemerkt haben, daß ich in meiner Antwort auf Ihre Frage, als ich sagte, daß die Erfüllung dieser Forderung außerhalb der Grenzen des finanziell Machbaren liege, wörtlich eine Formulierung übernommen habe, die von einem Arbeitskreis Ihrer Fraktion stammt.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703021100
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Müller.

Johannes Müller (CDU):
Rede ID: ID0703021200
Ich bedanke mich für Ihre Bereitschaft. Wann kann ich damit rechnen, daß mir diese Zahlen vorgelegt bzw. mitgeteilt werden?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703021300
Ich glaube, das kann in relativ kurzer Zeit erledigt sein.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703021400
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Stommel.

Maria Stommel (CDU):
Rede ID: ID0703021500
Herr Staatssekretär, haben Sie sich die Beantwortung dieser Frage von Herrn Müller nicht etwas zu einfach gemacht? Sie haben mit dem Blick auf die anstehende Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Stabilität nur Zahlenmaterial darüber vorgelegt, was die Dinge kosten würden. Ich glaube, es ist nicht damit getan, nur lapidar Zahlen zu nennen. Hätten Sie nicht zumindest an Hand eines Modells darstellen können, wie Sie die Realisierbarkeit sehen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703021600
Frau Kollegin Stommel, ich habe noch eine zweite Frage von Herrn Kollegen Müller zu beantworten. In meiner Antwort werde ich auf die Dinge etwas näher eingehen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703021700
Ich rufe dann die Frage 96 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Wenn ja, inwieweit ist dann die Bundesregierung bereit, dieser Forderung entgegenzukommen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!




Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703021800
Die Frage von Herrn Müller läuft darauf hinaus, inwieweit die Bundesregierung bereit sei, Forderungen entgegenzukommen, die mit dem Kindergeldproblem zu tun haben. Darauf möchte ich wie folgt antworten. Die Bundesregierung will weg von dem gegenwärtig geltenden zweigeteilten, in einigen Teilen sozial nicht gerecht gestalteten Kindergeldsystem. Sie konzentriert deshalb ihre Kräfte auf die Vorbereitung des Familienlastenausgleichs. Sie sieht es auf dem Gebiet des Familienlastenausgleichs als vorrangig an, das Kindergeld, den besoldungsrechtlichen Kinderzuschlag sowie die steuerlichen Kinderfreibeträge durch eine für alle Eltern gleiche, vom ersten Kind an einsetzende Leistung zu ersetzen und hierdurch die sozialpolitisch nicht länger vertretbaren Unterschiede zwischen Eltern verschiedener Einkommensschichten abzubauen. Diese Reform kann wegen ihres Sachzusammenhangs mit dem Steuerrecht, Herr Kollege Müller, und wegen ihres großen Finanzvolumens nur im Rahmen der Steuerreform verwirklicht werden und ist deshalb für den 1. Januar 1967 vorgesehen.
Denjenigen Familien, die heute besonders hohen Belastungen ausgesetzt sind, kann mit einkommensabhängigen Leistungen, die bei Bedürftigkeit auf weitgehende, wenn nicht gar auf vollständige Bedarfsdeckung gerichtet sind, geholfen werden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem Wohngeldgesetz zu erwähnen, die in der vorigen Legislaturperiode erheblich verbessert worden sind.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703021900
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Müller.

Johannes Müller (CDU):
Rede ID: ID0703022000
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Staatssekretär, haben Sie die Reform für 1976 in Aussicht gestellt. Teilen Sie mit mir denn nicht wenigstens die Besorgnis, daß die Mehrkinderfamilien - ich will den Ausdruck „kinderreiche Familien" gar nicht gebrauchen — unter der Preissteigerung besonders zu leiden haben? Die Lebenshaltungskosten für die Mehrkinderfamilien sind von Februar 1972 bis Februar 1973 um 7,4% gestiegen. Sie steigen also in der Regel mehr als die normalen Lebenshaltungskosten. Ich frage deshalb, ob für die Mehrkinderfamilien die Zeit bis zur Reform nicht zu lang wird.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703022100
Herr Kollege Müller, ich bestreite nicht die Tatbestände, die Sie erwähnen, ohne mich aber auf die Zahlen hier festlegen zu können. Ich bestreite auch nicht, daß die Mehrkinderfamilie durch ,die Entwicklung der Lebenshaltungskosten, wie wir sie heute vor uns haben, besonders belastet ist. Aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß man eine große Leistung wie den Familienlastenausgleich, der eine Umschichtung von 4 oder 5 Milliarden DM bewirkt, nur vollbringen kann, wenn man alle Kraft
darauf konzentriert und nicht vorher zu Zwischenlösungen greift.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703022200
Eine zweite Zusatzfrage.

Johannes Müller (CDU):
Rede ID: ID0703022300
Wäre die Regierung denn dann bereit, im Rahmen der vorgesehenen generellen Lösung eine Zwischenlösung herbeizuführen, um wenigstens den Mehrkinderfamilien zu helfen?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703022400
Wie schon gesagt, Zwischenlösungen halte ich nicht für opportun. Selbstverständlich wird zu dem Familienlastenausgleich eine Lösung gehören, die die Mehrkinderfamilie in guter Weise berücksichtigt.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703022500
Zu einer Zusatzfrage Frau Kollegin Stommel.

Maria Stommel (CDU):
Rede ID: ID0703022600
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie nicht bereit sind, bis zum Jahre 1976 eine Zwischenlösung anzustreben?

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703022700
Frau Kollegin Stommel, dazu sind wir zur Zeit nicht in der Lage. Sie sind selbst an einem Versuch beteiligt, Stabilität in diesem Land zu erreichen. Die Bewirkung von Mehrausgaben ist ein genau entgegengesetzter Kurs. Ich weiß selber, wie wünschenswert es wäre, für Mehrkinderfamilien jetzt Entlastung zu schaffen.

(Abg. Frau Stommel: Es kommt ja auf die Wertung an!)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703022800
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Baier.

Fritz Baier (CDU):
Rede ID: ID0703022900
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Stabilitätspolitik wieder auf dem Rücken der kinderreichen Familien austragen wollen, darf ich Sie daran erinnern, daß das Bundeskindergeld im Ansatz nicht zunimmt, sondern wegen der sinkenden Geburtenzahlen abnimmt und von daher in den letzten Jahren selbst bei Beibehaltung des Titels bei gutem Willen eine Erhöhung ab dem vierten Kind mgiich gewesen wäre.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID0703023000
Herr Kollege Baier, die Bundesregierung hat nicht die Absicht, die Stabilitätspolitik auf dem Rücken der Familien auszutragen.

(Beifall bei der SPD.)

Insofern möchte ich meine Antwort auf diesen Teil Ihrer Frage beschränken. Das andere ist Polemik.




Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703023100
Keine Zusatzfrage mehr. — Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Außerhalb der Tagesordnung hat der Herr Bundeskanzler das Wort zur
Abgabe einer Regierungserklärung erbeten. Bitte, Herr Bundeskanzler!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703023200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat gestern abend — auf Vorschlag der beiden in erster Linie zuständigen Ministerkollegen — ein zusätzliches, erweiterndes Stabilitätsprogramm beschlossen. Es entspricht einer Notwendigkeit; und es kann seiner Natur nach nicht nur Zustimmung finden. Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, dies hier gleich in aller Offenheit sagen: Mehr Preisstabilität läßt sich, so wie es in der Welt um uns aussieht, nicht von heute auf morgen erreichen. Aber mehr Stabilität läßt sich gewiß nur gewinnen, wenn man bereit ist, die Bedenken der einen beiseite zu schieben und den Widerstand von anderen zu überwinden. Anders geht es gewiß nicht.
Auch auf dem lebenswichtigen Gebiet, von dem jetzt die Rede ist — wir sprechen ja heute über ein anderes —, darf es keine Illusionen geben. Ebensowenig dürfen wir resignieren. Unsere Wirtschafts-
und Finanzpolitik ist und bleibt auf Stabilität ausgerichtet. Und das heißt gegenwärtig: Preisdämpfung. Konkret gilt es. mit unseren neuen Maßnahmen die Konsequenzen aus der jüngsten Konjunkturentwicklung zu ziehen.
Damit meine ich: Der Wirtschaftsaufschwung vollzieht sich eindeutig rascher, als noch bei Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts abzusehen war; parallel dazu hat auch die sachverständige Wissenschaft ihre Prognosen anzupassen verstanden.
Ich meine weiter: Eine starke Expansion der Inlands- und Auslandsnachfrage hat neue Spielräume für eine gefährliche Beschleunigung der Kosten- und der Preisentwicklung geschaffen.
Und ich meine auch: Wir sehen uns vor allem mit einem bedenklichen Anstieg der Verbraucherpreise konfrontiert. Dabei ist es nur ein geringer Trost, daß ein Teil des Anstiegs saisonbedingt ist oder daß es bei unseren europäischen Partnern mit den Preisen zum Teil erneut noch schärfer aufwärtsgeht als bei uns.
Um die wirtschaftspolitischen und die gesellschaftspolitischen Gefahren abzuwenden, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, sind erweiterte, durchgreifende Maßnahmen zur Reduzierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage unvermeidlich geworden. Nur so kann die dringend notwendige Tendenzwende in der Preisentwicklung herbeigeführt werden — wenn auch, wie stets in solchen Zusammenhängen, mit einer erheblichen Verzögerungswirkung. Vom Ziel dürfen wir uns nicht abbringen lassen, auch wenn es erst als Ergebnis harter Anstrengungen zu erreichen ist.
Meine Damen und Herren, ich habe in meinem ersten Satz davon gesprochen, daß es sich um ergänzende, erweiternde Maßnahmen handelt. Sie stützen sich auf das erste Stabilitätsprogramm vom 17. Februar 1973. Dieses das erste Programm — sollte nun, soweit es in der Macht der gesetzgebenden Körperschaften liegt, bald in Kraft treten. Wir sollten uns vielleicht überhaupt vornehmen, die Arbeit von Regierung — ich nenne die Regierung bewußt an erster Stelle in diesem Zusammenhang; nicht um unhöflich zu sein — und Parlament gerade auf diesen Gebieten zu modernisieren — und das heißt auch: zu beschleunigen —, jedenfalls nicht zu blockieren.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Bei ihrem erweiterten, aus 21 Punkten bestehenden Stabilitätsprogramm, das hier heute am späten Vormittag verteilt worden ist, geht die Bundesregierung von zwei Voraussetzungen aus, die kaum umstritten sein dürften.
Erstens. Unser Handeln ist und bleibt einbezogen in das Geflecht unserer internationalen Beziehungen. Es ist ganz besonders hineingestellt in den Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Wir sehen unsere Stabilitätsbemühungen als Beitrag zur Stärkung dieser Gemeinschaft. Unser Programm steht auf dem Boden der Beschlüsse des Ministerrats.
Unsere Partnerstaaten in der Europäischen Gemeinschaft und die Kommission in Brüssel sind unverzüglich und ausführlich unterrichtet worden. Bevor das Kabinett gestern abend in der vierten Sitzung im Laufe von zwei Tagen — durch die Fraktionsvorsitzenden der Koalition wirksam unterstützt — seine Beschlüsse faßte, ergab sich die willkommene Gelegenheit zu einem vertrauensvollen Meinungsaustausch mit dem französischen Finanzminister Giscard d'Estaing. Ich habe diesen Kontakt sehr begrüßt; er sollte bitte durch niemand, der guten Willens ist, mit Spekulationen befrachtet werden, und ich meine hier Spekulationen im direkten und im übertragenen Sinne des Wortes.
Zweitens. Wir werden weiterhin eine Wirtschafts-
und Finanzpolitik mit Augenmaß zu betreiben haben. Das heißt auch in der gegenwärtigen Konjunkturphase, daß man die Schraube nicht überdreht.
Deshalb haben wir keinen allgemeinen Konjunkturzuschlag vorgesehen.

(Beifall bei der SPD.)

Auf das Bemühen der Gewerkschaften um ein stabilitätsorientiertes Verhalten durfte nicht falsch reagiert werden.

(Beifall bei der SPD.)

Wir konnten und wollten aber auch nicht zu einer Politik des Preis- und Lohnstopps übergehen. Wie fragwürdig eine solche Politik sein kann, zeigen Beispiele in näherer und weiterer Nachbarschaft.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, auf diesem Hintergrund unsere Beschlüsse und unsere Initiativen zu sehen. Im Mittelpunkt steht dabei — und dies ist dem Charakter der konjunkturellen Entwicklung angemessen - die entschlossene Fortsetzung der restriktiven Kreditpolitik.



Bundeskanzler Brandt
Die Deutsche Bundesbank, mit der ganz eng zusammenzuwirken uns gerade jetzt sehr wichtig war und ist — ich freue mich, daß ich dies in Anwesenheit des Bundesbankpräsidenten hier sagen kann —,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

hat diese Politik eingeleitet, um den Liquiditätsspielraum so einzuengen, wie es notwendig ist. Dies ist mit Verantwortungsbewußtsein für die Gesamtwirtschaft geschehen; unsere währungspolitischen Beschlüsse vom März dieses Jahres waren dafür eine gute Hilfe; sie haben dafür in Wirklichkeit die vorher schmerzlich entbehrte Voraussetzung geschaffen.
Es kam jetzt darauf an, die Politik der Liquiditätsabschöpfung durch weitere konjunkturpolitische Maßnahmen zu erleichtern und zu flankieren. Die Geld- und Kreditpolitik kann und soll die Last der Stabilisierung nicht allein tragen. Deshalb müssen wir auch mit steuerpolitischen Maßnahmen besonders die überaus expansive Investitionsnachfrage dämpfen.
Wir halten - hier sage ich noch einmal: zusätzlich zum ersten Programm vom 17. Februar — für erforderlich: die vorübergehende Erhebung einer Investitionssteuer in Höhe von 11 % im Rahmen der Mehrwertsteuer und die befristete Aussetzung verschiedener Abschreibungserleichterungen nach dem Einkommensteuergesetz, selbstverständlich ohne Eingriffe in bereits laufende steuerliche Abschreibungsprozesse.
Zur Mäßigung der privaten Nachfrage halten wir eine Herabsetzung der im Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1973 vorgeschlagenen Einkommensgrenzen für die Stabilitätsabgabe für notwendig. Dies ist etwas anderes als ein allgemeiner Konjunkturzuschlag. Betroffen werden — neben 50 000 Körperschaften — 800 000 Steuerzahler in unserer Bundesrepublik. Wenn man schematisch von der Einkommensgrenze 24 000/48 000 DM spricht, so heißt das konkret, das Ledige in der Regel nicht herangezogen werden, wenn sie unter 2 275 DM im Monat verdienen, Verheiratete mit zwei Kindern nicht bei Monatseinkommen unter 4 845 DM.
Wir sind uns gleichwohl der Tatsache bewußt, daß wir von den Betroffenen — und es gibt nicht nur Betroffene in dem soeben erwähnten Bereich, sondern es gibt Betroffene auf zahlreichen Gebieten — einen gewissen Verzicht verlangen. Die Bundesregierung vertraut darauf, daß die Notwendigkeit eines befristeten Verzichts verstanden wird. Wenn wir uns hier irren sollten, könnten eines Tages härtere Opfer gefordert werden.
Meine Damen und Herren, eine Politik der Stabilität verlangt auch Einschränkung der Ausgaben aller öffentlichen Hände. Die Bundesregierung ist dazu über die Beschlüsse zum Haushalt 1973 vom 17. Februar hinaus bereit — die Beschlüsse liegen auf dem Tisch.
Zwei Dinge will ich allerdings in aller Deutlichkeit sagen.
Einmal wehre ich mich mit Nachdruck .dagegen, daß auch in den letzten Tagen wieder unverantwortliches Gerede nahezu einer staatsfeindlichen Kampagne gleichkam.

(Unruhe bei der CDU/CSU.)

Der demokratische Staat ist keine „Firma", die auf Kosten anderer ihr Schäfchen ins Trockene bringt.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Der demokratische Staat wirtschaftet nicht an seinen Bürgern vorbei — er wirtschaftet für seine Bürger!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Eine Politik der staatlichen, öffentlichen Armut wäre eine Politik zu Lasten, nicht zugunsten der Bürger. Deshalb sollte klar sein, daß man die öffentlichen Haushalte nicht auf die Dauer so schröpfen darf, wie es jetzt notwendig ist.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Zum anderen: In unserer bundesstaatlichen Ordnung darf der Bund nicht allein bleiben. Überall, wo dies möglich und notwendig ist, sind Länder und Gemeinden aufgefordert, ihren Teil zu den gemeinsamen Bemühungen beizusteuern; denn sie haben einen erheblich größeren Anteil an den öffentlichen Ausgaben als der Bund. Ich muß damit rechnen können, daß dieser Appell verstanden wird. Die alte Leier „Der Staat tut selber nichts für die Stabilität" sollte endlich verstummen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt doch!) Diese Behauptung wäre nun einfach falsch.


(Abg. Jenninger: Das sieht man an Ihrer Personalpolitik! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

— Es ist ganz interessant für diejenigen, die uns zuhören und zuschauen, wie die Opposition in diesem Augenblick hier reagiert.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Der Bund hat bei Gestaltung und Vollzug des Haushalts 1973 bereits Erhebliches geleistet, in Wirklichkeit vorgeleistet, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU: Wo?)

Entscheidungen in den Kernbereichen, von denen ich soeben sprach, werden durch Maßnahmen auf dem Gebiete der Handelspolitik ergänzt. Hier wollen wir auch in der Europäischen Gemeinschaft aktiv bleiben. Sie werden weiter ergänzt durch Maßnahmen auf den Gebieten der Wettbewerbs- und Verbraucherpolitik. Besondere Bedeutung kommt dabei den Beratungen dieses Hauses über die schon den vorigen Bundestag ohne Ergebnis beschäftigende Kartellgesetznovelle zu.

(Aha! bei der CDU/CSU.)

Die Bundesregierung hofft, daß die Kartellgesetznovelle bis zum Sommer verabschiedet sein wird. Die Bundesregierung empfiehlt auch, die Aufmerksamkeit noch mehr auf jene Probleme zu lenken,



Bundeskanzler Brandt
die mit der Preisbindung der zweiten Hand und den Preisempfehlungen zusammenhängen.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung des Abg. von Schoeler.)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung unternimmt mit diesem Programm das in der augenblicklichen Situation Mögliche und Notwendige. Trotzdem wird niemand in unserem Lande ganz rasche Resultate erwarten dürfen. Der Weg zu mehr Stabilität — ohne Abstrich an unseren übergeordneten sozialen Verpflichtungen — bleibt beschwerlich und zeitraubend. Aber die öffentliche Hand und die Bundesbank setzen Maßstäbe, an denen sich das Verhalten der Teilnehmer am Wirtschaftsleben — der Unternehmen, der Arbeitnehmer, der Verbraucher — ausrichten kann, ausrichten sollte und messen lassen wird.
Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit gehandelt. Jetzt müssen die Unternehmen, müssen die Tarifvertragsparteien diese neuen ökonomischen Daten bei ihren autonomen Entscheidungen beachten, wenn sie nicht selbst erhebliche Risiken herbeiführen wollen. Ob und inwieweit dieses in manchem harte, aber konsequente Programm Erfolg haben wird, hängt jetzt nicht zuletzt von den weiteren preis- und lohnpolitischen Entscheidungen ab.
Ein entsprechendes Verhalten aber ist — ich habe darauf am 6. April von dieser Stelle aus bei der Haushaltsdebatte hingewiesen — gerade dann notwendig, wenn wir, wie ich sagte, „das Ziel einer , fester gegründeten Stabilität unserer Sozialordnung", meine Damen und Herren, für wichtig halten. Die Maßnahmen der Bundesregierung gelten diesem Ziel.
Unsere Vorlage ist in Ihren Händen, meine Damen und Herren. Ich bitte für unsere Bürger um rasche und wirksame Unterstützung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703023300
Zur Aussprache über diese Erklärung hat der Herr Abgeordnete Dr. Narjes das Wort.

Dr. Karl-Heinz Narjes (CDU):
Rede ID: ID0703023400
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat uns soeben die vielleicht bemerkenswerteste halbe Stunde dieser Legislaturperiode geboten. Die ernste Situation, in die e r uns in den letzten 31/2 Jahren gebracht hat,

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! — Das ist die Lage!)

ist für uns aber kein Anlaß zu Schadenfreude oder Rechthaberei. Zum erstenmal nach 31/2 Jahren hat die Bundesregierung den Mut gehabt, hat sie den Mut gefunden, mit ihren Lippenbekenntnissen zur Stabilität ernst zu machen und Taten folgen zu lassen, jedenfalls anzukündigen. Offensichtlich hat der Herr Bundeskanzler die beschönigenden und verschweigenden Sprechzettel des Wahlkampfs mit
all ihren Irreführungen heute endlich beiseite gelegt.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ob die Taten richtig sind, ob die Akzente richtig gesetzt sind, ob die Maßnahmen ausreichen oder übersteuern, werden wir im einzelnen sorgsam prüfen. Jedenfalls steht fest, daß die Preissteigerungen heute für den Arbeitnehmer in vielen Bundesländern genau das Dreifache von dem ausmachen, was sie ausmachten, als Sie 1969 die Regierung übernahmen.

(Hört! Hört! und Beifall bei der CDU/CSU.)

Jahrelang, seit dem Frühjahr 1970, haben Wissenschaftler, Bundesbank und Opposition, die Stimme der Vernunft, immer wieder gemahnt, gefordert, gewarnt, die Inflation nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, und von den konstruktiven Vorschlägen der Opposition zur Preisstabilisierung

(Lachen bei den Regierungsparteien) wollte die Regierung nichts wissen!


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich glaube, es wird Ihnen noch einige peinliche Minuten bereiten, bevor wir die Vergangenheit voll auf dem Tisch haben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Landtagswahlen, Parteitage, Rücksichtnahme auf Gruppeninteressen aller Art und Alibis ohne Ende waren jeweils die Entschuldigung für Unterlassungen oder in Wirklichkeit mangelnden Mut zum Handeln.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Immer war jemand anders schuldig, nur nicht die Regierung. Man suchte den Täter der Inflation in Vietnam oder an den Schreibtischen obskurer Spekulanten, jedenfalls nicht da, wo er tatsächlich gesessen hat.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Heute, nach dreieinhalb Jahren des Zögerns, ist die Krankheit allerdings so weit fortgeschritten, daß keine homöopathischen Dosen mehr ausreichen, die 1970 noch möglich gewesen wären. Heute ist die Zeit der Chirurgie; heute muß der Patient unter das Messer, Herr Bundeskanzler, auf Grund Ihres Zögerns!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

— Dies wird schmerzen und hätte vermieden werden können, wenn rechtzeitig gehandelt worden wäre.
Bemerkenswert ist die Regierungserklärung, die wir soeben gehört haben, aber auch deshalb, weil sie einige Eingeständnisse enthält, z. B. das Eingeständnis, daß das heute schon vergessene Programm des 3. November mit seinen 15 Punkten nichts anderes als eine Scheinaktivität war. Wer es im einzelnen wissen will, mag in dem gestern veröffentlichten Sondergutachten der Sachverständigen lesen, aus dem sich dies deutlich ergibt.
Das zweite in der Regierungserklärung enthaltene Eingeständnis lautet, daß das Ziel des sogenannten Februar-Pakets, das wir schon damals als ein Sam-



Dr. Narjes
melsurium bezeichnet haben, nicht erreicht werden konnte. Frau Präsidentin, ich bitte um Ihre Genehmigung, wenn ich aus dem Sondergutachten drei Sätze zitiere:
Obwohl alles dies im wesentlichen unstreitig war, sind mehrere Monate kostbarer Zeit durch Zuwarten und Schwierigkeiten der politischen Willensbildung verlorengegangen, Monate, in denen die Last restriktiver Bemühungen allein bei der monetären Politik lag. Als die Bundesregierung mit dem Jahreswirtschaftsbericht ihre gesamtwirtschaftlichen Zielvorstellungen für das Jahr 1973 darlegte, war schon offenkundig, daß die angestrebten Zielgrößen wahrscheinlich gar nicht mehr erreichbar waren, zumindest nicht mit Hilfe des im Jahreswirtschaftsbericht vorgesehenen Stabilisierungsprogramms. Seither hat nicht einmal dieses Wenige den Entscheidungsprozeß passiert, und es ist nicht abzusehen, ob das überhaupt der Fall sein wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese beiden Eingeständnisse sind indirekt ebenfalls in der Regierungserklärung enthalten.
Ich möchte noch ein Drittes erneut hervorheben. Es ist doch nun unabweisbar geworden, Herr Bundeskanzler, hier und heute in Deutschland zu handeln, die deutsche Inflation in Deutschland zu bekämpfen und nicht irgendwo an dritten Orten außerhalb unserer Grenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Opposition, die Union, hat ihre konstruktive Haltung und ihre Bereitschaft zur Verantwortung in den letzten Jahren wiederholt erklärt. Sie hat sich bereit erklärt, an einem greifenden, in sich ausgewogenen und vernünftigen Stabilitätsprogramm mitzuwirken, das diesen Namen verdient. Diese Vorschläge werden wir jetzt genau durchrechnen und unsere Entscheidungen fällen. Im Augenblick darf ich mich auf einige Bemerkungen beschränken.
Vorab die Festellung, daß erst mit diesem Programm das Stabilitätsgesetz überhaupt angewendet wird. Das Februar-Programm mied noch peinlich jede Bezugnahme auf das Stabilitätsgesetz. Es wäre Ihre Pflicht gewesen, es damals schon anzuwenden.
Als Maßstab unserer Prüfung werden wir auch insbesondere das Sondergutachten der Sachverständigen heranziehen, auch soweit wir nicht in allen Punkten mit ihm einverstanden sind.
Zu den Einzelpunkten, Herr Bundeskanzler, darf ich hervorheben, daß die Bundesregierung fortfährt, ihre Bürger unter dem Vorwand der Stabilitätspolitik stärker zu belasten, als dies, vom Stabilitätsziel her gesehen, notwendig wäre. Denn die Stillegung von Nachfrage kann auch so gestaltet werden, daß den Bürgern nichts endgültig weggenommen wird, d. h.: durch einen rückzahlbaren und auch verzinslichen Konjunkturzuschlag.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dies gilt um so mehr, als Sie jetzt die Grenzen der Abgabe auf 24 000 DM bzw. 48 000 DM heruntergezogen haben.
Auf derselben Linie liegt die Festellung, daß das Programm keine vermögenspolitischen Maßnahmen enthält, obwohl die Opposition dies immer wieder gefordert hat und auch die Sachverständigen Ihnen ein Modell in dieser Richtung angeboten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Opposition bleibt auch bei ihrer Auffassung, daß die Belastung der Verbraucher durch die Erhöhung der Mineralölsteuer in diesem Zeitpunkt preistreibend wirkt.

(Abg. Dr. Ritz: Sehr wahr!)

Die Mineralölsteuererhöhung bringt dem Autofahrer nichts. Er muß zugunsten der Konjunkturdämpfung Opfer bringen, eine Stabilitätsabgabe zahlen, die ebensogut vermögenswirksam hätte gestaltet werden können, so daß ihm dadurch die Möglichkeit gegeben worden wäre, sein individuelles Vermögen auf die Dauer zu erhöhen.
Mir fällt auch auf, daß das Wort „Regionalpolitik" oder die Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den einzelnen deutschen Ländern in diesem Programm mit keinem Wort enthalten ist.

(Abg. Dr. Ritz: Leider! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben darauf hingewiesen, daß die Geld- und Kreditpolitik eine besondere Rolle spielen wird. Wir stimmen dem zu. Ich möchte mich hier auf die Bemerkung beschränken, daß die im Februar/März ausgehandelten Formen der außenwirtschaftlichen Absicherung im Verlauf des Vollzuges dieses Programms ihre erste und harte Bewährungsprobe bestehen müssen.
Hinsichtlich der Lohnpolitik müssen wir darauf hinweisen, daß auch dieses Programm keinen Hinweis auf die Möglichkeit, vermögenswirksame Leistungen einzubeziehen enthält.
Nun hat der Bundeskanzler durch die Hinweise auf wettbewerbspolitische und handelspolitische Maßnahmen eine Pflichtübung in sein Programm aufgenommen. Wir haben im Prinzip nichts gegen diese Maßnahmen. Wir wehren uns aber dagegen, sie so darzustellen, als ob mit ihrem Vollzug die Wende in der Konjunkturpolitik erreicht werden könnte. Ich darf dazu einen Satz aus dem Sachverständigen-Bericht vorlesen, der dies deutlicher sagt als alles andere:
Die Maßnahmen der Wettbewerbspolitik oder der Handelspolitik z. B. sind
— so heißt es -
- so bedeutsam es ist, sie nicht zu vernachlässigen — im Rahmen eines Stabilisierungsprogramms wohl eher als unterstützend zu qualifizieren. Niemals können solche Maßnahmen ein Kernprogramm monetärer und finanzieller Restriktionen ersetzen.
Dies zur Bedeutung dieser Maßnahmen, dies, um die richtigen Gewichte herzustellen.
1596 Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode — 30. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Mai 1973
Dr. Narjes
Eine besondere Kritik nun verdient die öffentliche Finanzwirtschaft, für die der Bund die konjunkturpolitische Verantwortung trägt. Wider alle öffentlichen Aussagen und Beteuerungen der Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, haben die Sachverständigen festgestellt, daß die Haushalte des Jahres 1973 eine zusätzliche Nachfrage von 7,5 Milliarden DM schaffen, mit denen die Preise getrieben werden. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie soeben behauptet haben, als Sie sagten, Sie hätten vorgeleistet. Sie haben das Gegenteil getan.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Zur Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden und deren gemeinsamer Finanzplanung stellt der Sachverständigenrat fest, „daß die Offentlichkeit den Stand der Finanzplanung in diesem Lande, insbesondere deren Koordinierungsformen, als einen Skandal betrachtet".

(Beifall und Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

Angesichts dieser wenigen Schlaglichter muß ich schon hier Zweifel anmelden, ob die öffentliche Finanzwirtschaft in Ihrem Stabilitätsprogramm, Herr Bundeskanzler, hinreichend mit in die Verantwortung genommen ist. Gerade wer wie die Opposition die öffentlichen Leistungen, die sozialen Leistungen des Staates aller Art durchgreifend verbessern will, weiß, daß dies ohne stabile Verhältnisse nicht geht, weder für die Gemeinden noch für die Länder noch für den Bund. Schon aus diesem Grunde ist ein beispielhafter Beitrag des Staates in dieser Stunde unverzichtbar,

(Beifall bei der CDU/CSU)

nicht zuletzt weil ohne diesen eigenen Beitrag der Staat die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Politik nachhaltig beeinträchtigt. Wie will jemand Ihren Anforderungen und Aufforderungen zu restriktivem Verhalten Glauben schenken, wenn Sie es nicht für den Staat selbst ebenfalls vorbildlich nachweisen?
Der Weg zurück in die Stabilität wird lang und mühsam sein, er wird die ganze Führungskraft der Bundesregierung, des Bundeskanzlers erfordern, wenn diese Maßnahme gelingen soll. Bei aller Klarheit, die wir über die Ursachen und die Verantwortung für die gegenwärtige Situation schaffen werden, werden wir aber auch unsererseits bereit sein, die Last mit Ihnen zu tragen, wenn Ihr heute vorliegendes zweites Programm wirklich ein neuer Anfang sein soll. Ihre Politik wird nur Erfolg haben, wenn alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten davon überzeugt sind, daß Ihr Programm ausreichend ist, und die Ernsthaftigkeit Ihres Bemühens glauben und Ihnen Vertrauen schenken. Darum müssen Sie sich in allererster Linie bemühen, Herr Bundeskanzler, als Vorsitzender einer Partei, in der es starke Kräfte gibt, die sich den Pflichten und Verpflichtungen entziehen möchten, die mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung untrennbar verbunden sind.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703023500
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schachtschabel.

Dr. Hans Georg Schachtschabel (SPD):
Rede ID: ID0703023600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehe ich zu der Stellungnahme der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zu dem neuen und erweiterten Stabilitätsprogramm komme, kann ich nicht umhin, doch einige wenige Bemerkungen zu den eben gehörten Ausführungen zu machen. Herr Dr. Narjes, ich halte es einfach für unmöglich, um nicht zu sagen, für unverschämt,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — OhRufe bei der CDU/CSU)

wenn Sie hier völlig ohne irgendeinen Beweis in polemischer Art

(Zurufe von der CDU/CSU)

dem Herrn Bundeskanzler unterstellen, er habe uns in diese Situation hineingebracht.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Genau!)

Meine Damen und Herren, ich darf an zwei Punkte erinnern. Haben Sie von der Opposition denn vergessen, daß gerade Sie es waren, die sich in der 6. Legislaturperiode nicht genug tun konnten, die Inflationsgefahr anzuheizen und die Inflationsmentalität immer wieder hochzutreiben?

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch und Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. van Delden: Dafür sind Sie Professor? Feine Professoren haben wir! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

Überprüfen wir doch die Dinge!

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Da stellt sich Herr Kollege Dr. Narjes hier hin und sagt — ich habe mir das notiert —, die Bundesregierung hätte nicht die konstruktiven Vorschläge der Opposition aufgenommen. Ich frage Sie: wo waren sie denn? Diese Vorschläge sind ja bis zum heutigen Tage nicht vorhanden.

(Beifall bei der SPD.)

Auf andere Bemerkungen, die hier gefallen sind, will ich nicht eingehen; das können wir vielleicht noch in einem anderen Zusammenhang tun. Gehen wir auf das zurück, was uns beschäftigt!
Die vom Herrn Bundeskanzler abgegebene Regierungserklärung zur Stabilitätspolitik beweist es sehr wohl — das sollten auch diejenigen wissen, die von sachlichen Kenntnissen nicht belastet sind —, daß die Bundesregierung mit einem erweiterten Stabilitätsprogramm verstärkt gegen die auftretende Preisentwicklung vorgeht.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt diese konsequente Politik, mit der deutlich zum Ausdruck kommt, daß inflationäre Tendenzen keineswegs als unausweichlich hingenommen werden müssen. Vielmehr bekundet die Bundesregierung mit dem von ihr bekanntgegebenen erweiterten Stabilitätsprogramm ihre feste Entschlossenheit, den Preisauftrieb energisch zu bekämpfen und eine dringend notwendige Tendenzwende in der Preisentwicklung zu erreichen. Die Bundesregierung beweist damit ihre konjunkturpolitische Verantwortung. Sie drängt mit Nachdruck auf eine Lösung der



Dr. Schachtschabel
gegenwärtig wichtigsten innenpolitischen Aufgabe, die sich vor allem als eine gleichermaßen gesellschafts- wie wirtschafts- und finanzpolitische Gefahr äußert. Dem in der konjunkturellen Entwicklung liegenden gefährlichen Trend einer weiteren Eskalation des Preisanstiegs wird mit den getroffenen und vorgesehenen Maßnahmen durchgreifend entgegengewirkt.
Das Stabilitätsprogramm zeigt aber auch - und darauf mache ich besonders aufmerksam —, daß die Bundesregierung bereit ist, die tatsächliche oder vermeintliche Inflationsmentalität abzubauen und es nicht zu einer Inflationsgewöhnung kommen zu lassen. Diese Auffassung hat die Bundesregierung immer vertreten, und sie hat auch danach gehandelt. Es sei nur daran erinnert, daß bereits am 7. Februar 1973 ein stabilitätspolitischer Maßnahmenkatalog beschlossen worden ist. Die jetzige Erweiterung des Stabilitätsprogramms umfaßt durchaus folgerichtig eine deutliche Verstärkung dieser Maßnahmen, enthält aber auch zusätzliche stabilitätspolitische Mittel. Insgesamt handelt es sich um ein ausgewogenes Programm, das mit entsprechenden Akzenten die öffentlichen Hände ebenso erfaßt wie die unternehmerischen Investitionen und die private Nachfrage.
Von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion wird besonders begrüßt, daß damit auch gegen eine gefahrdrohende Entwicklung der Unternehmereinkommen vorgegangen wird, von denen im soeben veröffentlichten Sondergutachten des Sachverständigenrates gesagt wird — das hätte man vielleicht mal nachlesen müssen -, daß ohne antiinflationäre Maßnahmen in diesem Jahr das Unternehmereinkommen netto um 17, das Arbeitnehmereinkommen jedoch nur um netto 9 v. H. steigen wird.

(Abg. Wehner: Hört! Hört!)

In diesem Zusammenhang mag es überraschen, daß nach den ergänzenden Maßnahmen die Stabilitätsabgabe schon ab 24 000 DM für Ledige und 48 000 DM für Verheiratete erhoben wird. Jedoch ist zu berücksichtigen — darauf hat der Herr Bundeskanzler aufmerksam gemacht —, daß von dieser Maßnahme nur rund 800 000 Steuerpflichtige betroffen werden. Diese Begrenzung läßt erkennen, daß damit die unteren Einkommensschichten nicht belastet werden. Es ist auch wichtig, darauf zu verweisen, daß etwa 80 v. H. aller Steuerpflichtigen von der Stabilitätsabgabe nicht betroffen werden. Wenn ferner berücksichtigt wird, daß besonders der expansiven Investitionsnachfrage mit einer Investitionssteuer in Höhe von 11 v. H. sowie mit der Aussetzung verschiedener Abschreibungsmöglichkeiten entgegengetreten wird, so ergibt sich in Verbindung mit den Beschränkungen der öffentlichen Haushalte ein stabilitätspolitischer Maßnahmenkatalog, der durchaus geeignet ist, nicht nur Signale zu setzen, sondern auch Wirkungen hervorzurufen. Es sei nur noch erwähnt, daß auch von der Einschränkung der steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten im Wohnungsbau dämpfende Wirkungen ausgehen werden.
Allerdings wäre es unzutreffend oder sogar leichtsinnig, der Meinung zu huldigen, daß mit den stabilitätspolitischen Beschlüssen bereits der Erfolg gesichert sei. Vielmehr wird es entscheidend auf das Verhalten aller ankommen, und wir betonen auch von unserer Seite, daß es darauf ankommen wird, daß sich alle verpflichtet und verantwortlich fühlen. Es muß das gemeinsame Bemühen sein, dieser Stabilitätspolitik zum Erfolg zu verhelfen. Wir erinnern daran, daß aus der Opposition Auffassungen laut geworden sind, nach denen Bereitschaft zu bestehen scheint, das Programm — ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin — „politisch mitzutragen". Wir wenden uns aber auch an die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat, sich ihrer Verantwortung für die Stabilität stärker bewußt zu werden und, wie es Herr Kollege Dr. Möller ausgedrückt hat — ich zitiere —, „soweit gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind, die parlamentarische Beratung und Verabschiedung durch die gesetzgebenden Körperschaften nicht weiter zu behindern".

(Beifall bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, in dem Zusammenhang könnte ich Herrn Kollegen Dr. Narjes noch einmal entgegenhalten: Er sollte hier nicht so lauthals sprechen, sondern seinen Kollegen von der CDU im Bundesrat erst einmal die Möglichkeit geben, sich wirklich schnell und klar zu entscheiden. Das wäre eher Stabilitätspolitik als das, was er in seinen von Unkenntnis getragenen Ausführungen vorgelegt hat.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Vogel [Ennepetal] : Genauso schnell wie die Bundesregierung! — Abg. Dr. Jenninger: Außer Polemik können Sie nichts!)

Wir sind aber auch der Meinung, meine Damen und Herren, und zwar mit der Bundesregierung der Meinung, daß die Deutsche Bundesbank ihre restriktive Kreditpolitik fortsetzen muß. Ferner erscheint es zweckmäßig, eine zweite Tranche der Stabilitätsanleihe in Kürze aufzulegen, wobei vermerkt werden soll, daß die erste Tranche in Höhe von 1,5 Milliarden DM erfolgreich aufgenommen worden ist. Der Abschöpfung weiterer Liquidität dient auch die verzinsliche Stillegung von liquiden Mitteln der Rentenversicherung. Allerdings muß mit diesen Maßnahmen eine weitere Zinssteigerung erwartet werden. Dies bedingt aber auch, die Kreditwirtschaft aufzufordern, im Interesse der Sparer die Habenzinsen ohne zeitliche Verzögerung anzupassen.
Wir anerkennen auch, daß die Bundesregierung ihre Bereitschaft erklärt, im Bereich der öffentlichen Haushalte die Möglichkeit weiterer Ausgabenreduzierung voll auszuschöpfen. Wir appellieren aber auch von unserer Seite an die Länder und Gemeinden, ihren Teil zum Erfolg der Stabilitätspolitik der Bundesregierung beizutragen. Ich glaube, die Worte, die vom Herrn Bundeskanzler in diesem Zusammenhang gesprochen worden sind, sind von ganz besonderer Bedeutung. Nicht zuletzt begrüßen wir, daß der Bundesminister für Wirtschaft beauftragt ist, zwecks Vergrößerung des Warenangebots im Inland Liberalisierungsmaßnahmen weiterzuführen, insbesondere gegenüber den Staatshandelsländern. Die Veröffentlichungen über das Stabilitäts-



Dr. Schachtschabel
Programm informieren darüber weiter. Schließlich messen wir auch den wettbewerbs- und verbraucherpolitischen Maßnahmen eine wirksame stabilitätspolitische Bedeutung zu.
Meine Damen und Herren, zweifellos beinhaltet das zweite Stabilitätsprogramm in Verbindung mit dem ersten Stabilitätsprogramm ein relativ weit gefaßtes Spektrum stabilitätspolitischer Maßnahmen. Diese Tatsache läßt aber gerade erkennen, daß alle in unserer Volkswirtschaft angesprochen werden, und zwar die öffentlichen Hände ebenso wie die Unternehmen und die Konsumenten. In diesem umfassenden Programm, das sich auf wesentliche Teile der Wirtschaft erstreckt, ist auch die Absicht zu sehen, nicht nur diesen oder jenen einseitig zum stabilitätsbewußten Verhalten zu veranlassen, sondern von allen — wir betonen noch einmal: von allen — ein gesamtwirtschaftlich bezogenes verantwortliches Verhalten zu verlangen.
Die Bundesregierung hat ein binnenwirtschaftlich orientiertes Stabilitätsprogramm vorgelegt. Wir stellen mit Genugtuung fest — vom Herrn Bundeskanzler ist dies ausgesprochen worden , daß dabei die Stellung der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft keineswegs unberücksichtigt geblieben ist. Vielmehr sind zur Absicherung dieser Politik auch entsprechende Kontakte aufgenommen worden, und dies, meine Damen und Herren, gibt die Gewißheit, daß auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland die von der Bundesregierung vertretene Stabilitätspolitik gewürdigt und wohl auch anerkannt wird, nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß es in unserem Lande ernsthafte Bemühungen gibt, die Stabilität wieder zurückzugewinnen und die Konjunktur auch im Interesse der Volkswirtschaften der EWG-Mitgliedstaaten wieder in eine Phase normaler wirtschaftlicher Entwicklung zu bringen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dankt der Bundesregierung für ihre stabilitätspolitischen Bemühungen. Sie wird diese mit ihren Möglichkeiten unterstützen. Sie ist sich aber auch darüber im klaren, daß es keineswegs von heute auf morgen gelingen wird, durchschlagende Erfolge sichtbar zu machen. Es wird und muß jedoch alles geschehen und alles getan werden, um so schnell wie möglich zum gewünschten Ziel zu gelangen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0703023700
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0703023800
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist in der Tat etwas schwierig, sich auf diese Opposition — auch in Fragen der Konjunkturpolitik — einen Reim zu machen.

(Abg. Dr. Jenninger: Auch auf die Regierung!)

Es ist erst zwei Stunden her, seit uns ein Fernschreiben mit Äußerungen des Herrn Kollegen
Strauß auf den Tisch kam. Es hieß darin, man werde
die Vorschläge der Regierung sorgfältig und unvoreingenommen prüfen. Ich frage mich, inwieweit dieser selbst auferlegte Maßstab — Herr Strauß, besten Dank dafür — eigentlich der Beurteilung standhält, wenn man ihn an die Rede von Herrn Dr. Narjes anlegt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, ein spöttischer Kollege dieses Hauses hat vor einiger Zeit gesagt — ich will mir den Ausspruch nicht zu eigen machen —: Der Herr Dr. Narjes — aus dieser Formulierung können Sie erkennen, daß dies ein Rheinländer gesagt haben muß — hält hier immer Reden, als wollte er die Handelskammer in Neumünster einweihen.

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

Verehrter Herr Narjes, heute haben Sie offenbar den Versuch unternommen, die Handelskammer einzureißen.

(Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

Mir scheint das nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein.
Sie haben uns Unterlassungen in den letzten drei Jahren vorgeworfen. Dazu möchte ich die Frage stellen — Herr Kollege Narjes, wir beide sind zwar damals noch nicht Mitglieder dieses Hauses gewesen, haben aber doch am Geschehen in diesem Hause teilgenommen —, wer denn eigentlich die Funktionsfähigkeit von Regierung und Parlament in der letzten Legislaturperiode so entscheidend beeinträchtigt hat.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Die Regierung!)

— Derjenige, der eben „Die Regierung!" dazwischengerufen hat,

(Zuruf von der CDU/CSU: Der war schneller!)

war offensichtlich weder in diesem Hause noch informiert.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Reddemann: Ich habe den Eindruck, Sie sind noch nicht informiert!)

Zuwarten und Nichtstun, — meine sehr verehrten Damen und Herren, so einfach können wir es uns nicht machen. Herr Kollege Professor Schachtschabel hat schon darauf hingewiesen, daß mit der schlichten Behauptung, die konstruktiven Vorschläge der Opposition —(Zuruf des Abg. Dr. Wagner [Trier].)

— Ich wollte ihn nur als meinen Vorredner zitieren, Herr Kollege Wagner.

(Abg. van Delden: Das ist eine gute Distanzierung!)

— Das ist keine Distanzierung, Herr van Delden. Ich kann wirklich nicht jeden, mit dem ich debattiere, als Autorität anführen. Wir beide werden uns darüber in bestimmten Zusammenhängen sicherlich auch noch zu unterhalten haben.



Dr. Graf Lambsdorff
Wo sind denn die konstruktiven Vorschläge der Opposition im Februar geblieben? Auch jetzt wieder hat Herr Narjes nichts Besseres zu sagen gewußt, als von dem Februar-Paket als einem Sammelsurium zu sprechen. Dies nennen Sie unvoreingenommene Prüfung?
Sie sind auf einige wenige Punkte des Pakets eingegangen, Herr Narjes, das uns die Regierung heute vorgelegt hat, u. a. auf die Mineralölsteuererhöhung, die Sie ablehnen. Sie haben dabei natürlich nicht erwähnt, daß das Sachverständigengutachten ausgerechnet die Erhöhung der Mineralölsteuer bejaht und für eine richtige Maßnahme hält.

(Beifall bei den Regierungsparteien. -- Zurufe von der CDU/CSU.)

Das paßte natürlich nicht in den Rahmen Ihrer Ausführungen.
Sie haben die Regionalpolitik als nicht erwähnt zitiert. Ich darf auf die Ziffern 10 und 12 der Ihnen bekannten Mitteilung und auf die Unterrichtung verweisen, die Sie gestern erfahren haben. Hier waren Sie also nicht nur nicht unvoreingenommen, hier haben Sie auch nicht geprüft.
Herr Kollege Narjes, Ihnen ist — ich gebe es zu — bei dem, was Sie eben vorgetragen haben, ein Versprecher unterlaufen. Sie haben die Bereitschaft Ihrer Fraktion zur Vergangenheit erklärt. Das war ein Versprecher; ich weiß das. Aber, Herr Narjes, hier geht es um die Frage, was eigentlich in Zukunft geschehen soll. Ich bin der Überzeugung, daß die Bürger im Lande von uns hören möchten, was wir in.der jetzigen Situation zu tun beabsichtigen, welche Maßnahmen wir ergreifen. Darum geht es. Über diese Maßnahmen müssen wir uns unterhalten,

(Abg. Dr. Müller-Hermann: Das war dann wohl die Tendenzwende der Koalition!)

— Das ist nicht die Tendenzwende der Koalition. Es ist allenfalls Ihre Tendenzwende, wenn Sie jetzt mitteilen, Sie wollten unvoreingenommen prüfen und sogar mitmachen und Opfer abverlangen, was Sie im Februar dieses Jahres noch entschieden abgelehnt haben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, für meine Fraktion darf ich erklären, daß wir die Initiative, die Entschlußkraft und die Ausführungen, die die Regierung heute gemacht hat, begrüßen und für richtig halten. Wir freuen uns, daß offensichtlich auf eine Situation schnell reagiert werden konnte, was mir zu beweisen scheint, daß man sich in den zuständigen Ministerien, hier insbesondere im Bundeswirtschaftsministerium, um so etwas wie einen Krisenplan und gedankliche Vorarbeit zukünftiger Entwicklungen Mühe gegeben hat.

(Abg. Dr. Jenninger: Warum nicht vor vier Wochen? )

Das ist sicherlich schon früher als vor vier
Wochen angefangen worden, Herr Kollege, Sie glauben wohl auch nicht, daß Krisenpläne aus dem Ärmel geschüttelt werden können.
Wir begrüßen weiter ausdrücklich, daß der Herr Bundeskanzler selbst heute diese Erklärung abgegeben und damit der Bedeutung und auch der Ernsthaftigkeit der entstandenen Situation, die wir mit keinem Wort herunterspielen wollen und werden, den notwendigen Nachdruck verliehen hat.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Geldentwertung und Preissteigerung, deren Raten sich zweistelligen Zahlen nähern, sind laufend und dauerhaft dazu angetan, unser marktwirtschaftliches System, und damit, wie wir glauben, unsere freiheitliche Ordnung zu ruinieren. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir dagegen angehen. Wir sind dazu bereit, bevor es zu merkwürdigen Entschlüssen kommen könnte, die zum Glück niemand erwähnt hat, die aber in anderen Ländern mit freiheitlicher Wirtschaftsordnung ergriffen worden sind. Ich meine z. B. — Herr Bundeskanzler, ich bin Ihnen dankbar. daß Sie das noch ausdrücklich einmal abgelehnt haben — die Möglichkeiten des Preis- und Lohnstopps. Das sind Dinge, die für meine Freunde und mich selbstverständlich nicht in Frage kommen, insbesondere nachdem wir gesehen haben, wie sich in einem Lande, hei dem die Voraussetzungen vielleicht sogar besser gewesen sind, nämlich in den Vereinigten Staaten, mit dem Ablauf der Phase III des Wirtschaftsprogramms des Präsidenten diese Maßnahme als, wie wir meinen, Fehlschlag erwiesen hat.
Lassen Sie mich einige Worte zu den Einzelmaßnahmen sagen.
Der Herr Bundeskanzler hat vorgetragen, warum die Regierung bei der Stabilitätsabgabe auf eine Grenze von 24 000 bzw. 48 000 DM heruntergegangen, aber dort auch stehengeblieben ist. Ich mache kein Hehl daraus — dies ist eine persönliche Bemerkung —, daß ich Zweifel daran habe, ob man nicht vielleicht auch anders, d. h. mit einem Konjunkturzuschlag genereller Art, hätte verfahren können. Aber die Auswirkungen, die uns in Aussicht gestellt worden sind, sind ein politisch ernsthafter und wesentlicher Tatbestand. Das Gegenteil ist nicht beweisbar. Wir werden daher diese Entscheidung mittragen. Wir werden sie mittragen angesichts der Bedeutung und des Ernstes der Situation. Wir werden sie mittragen, ohne dabei kleinliche, parteitaktisch oder wahltaktisch bedingte Rücksichten auf bestimmte Wählerschichten zu nehmen. Hier müssen Opfer verlangt werden. Wir sind bereit, sie zu bringen, und wir fordern auch diejenigen, die davon betroffen werden, auf, sie im Interesse der Sache mit uns zu bringen.
Hinzu kommen die Aussetzung der degressiven Abschreibung und die Investitionssteuer. Ohne Zweifel ist das eine Belastung für die deutsche Wirtschaft. Im Sachverständigengutachten ist ein Investitionssteuersatz von 5 % empfohlen worden. Aber ich halte die Entscheidung der Regierung für richtig. Denn nur dann, wenn die — richtigermaßen befristete — Belastung höher ist als die Preissteigerungserwartung, wird sie greifen und wird sie auf die Investitionsentscheidungen der Unternehmer Einfluß ausüben können. Das ist notwendig. Ich bin nicht froh darüber, daß wir auch die degressiven



Dr. Graf Lambsdorff
Abschreibungen aussetzen müssen, weil wir im Rahmen des Stabilitätsgesetzes andere Möglichkeiten, zu einer Gesamtbelastung zu kommen, die über 11 % liegt, nicht haben. Ich bitte die Bundesregierung, die notwendige Überarbeitung und Erneuerung des Stabilitätsgesetzes auch in diesem Punkte in Angriff zu nehmen.
Ich muß ich glaube, das ist wesentlich dafür,
daß die Maßnahmen zum Erfolge führen — die Bitte an die deutsche Wirtschaft aussprechen, nun die von uns geschaffenen Erschwerungen nicht dadurch kompensieren oder gar überkompensieren zu wollen, daß man sich in noch verstärktem Maße um die Förderung und den Ausbau des Exportgeschäftes bemüht. Diese Lücke kann nicht geschlossen werden. Es gibt keine marktwirtschaftlich geeigneten Mittel dafür. Wir müssen uns in diesem Land mit diesem hohen Exportanteil davon fernhalten. Aber ein allzu hoher Überschuß der Handelsbilanz —und es wird von Zahlen per Ende dieses Jahres geredet, die einen wirklich etwas schwindeln machen — kann die außenwirtschaftliche Absicherung gefährden, mit der unser ganzes Vorhaben — darüber wollen wir uns keinem Zweifel hingeben — steht und fällt, und würde im übrigen die handelspolitischen Gespräche mit den Vereinigten Staaten in ganz ungebührlicher Weise erschweren.
Drittens sind wir natürlich nicht begeistert — wer könnte das auch sein? — über die Einschränkung beim § 7 b. Aber, meine Damen und Herren, als ich vor 14 Tagen den Jahresbericht der Deutschen Bundesbank für 1972 las, ist mir klargeworden, daß hier und jetzt eingegriffen werden muß. Dieser Wohnungsüberhang, der auf der Basis von § 7 b existiert, kann nicht weiter vor uns hergeschoben werden. Er kann insbesondere nicht noch weiter vergrößert werden. Von dieser Quelle gehen Inflationsstöße aus, die wir anpacken müssen, auch wenn es uns und vor allem dem Betroffenen unangenehm ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nur Flucht in die Sachwerte!)

Wir begrüßen viertens, daß die Frage der Postgebührenerhöhung zurückgestellt worden ist. Wir glauben, daß der dafür gemachte Vorschlag mindestens zeitlich, wahrscheinlich aber auch strukturell nicht in die jetzige Landschaft gepaßt hat.
Ein Wort noch zur außenwirtschaftlichen Absicherung. Der Kollege Arndt hat vor einigen Tagen darauf hingewiesen, daß hier der Kernpunkt unseres Programms und unserer Möglichkeiten liegt, und ich stimme dem zu. Ich bin zuversichtlich, daß die Lösung, die wir im Februar und im März gefunden haben, hält. Ich bin zuversichtlich, daß sich das Provisorium — wie so häufig — als definitiver und haltbarer erweist als manche für endgültig und die Ewigkeit gezimmerte Regelung.
Auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen, wiederhole ich meine These — Herr Dr. Narjes, es ist keine Ausflucht, wie Sie vorhin gemeint haben, in der ganzen Welt nach dem Schuldigen zu suchen, nur nicht bei uns —, daß wir das Weltwährungssystem in Ordnung bringen müssen. Gespräche bei unseren Freunden in den Vereinigten Staaten haben mich in der Überzeugung bestärkt, daß wir hier unseren Anteil intensiv — vielleicht sogar intensiver — leisten müssen.

(Abg. Dr. Ritz: Ganz bestimmt!)

Ich bin dem Herrn Bundesfinanzminister dankbar, daß er bereit ist, in dieser Frage erneut die Initiative für gedankliche Arbeiten und Vorschläge zu ergreifen.
Ein Wort zu den öffentlichen Haushalten. Herr Dr. Narjes, der Herr Bundeskanzler hat vorhin nicht gesagt, die öffentlichen Haushalte hätten vorgeleistet — wer wollte das behaupten angesichts der Länderhaushalte und mancher Gemeindehaushalte, die wir kennen? —,

(Abg. Dr. Jenninger: Und des Bundeshaushaltes!)

sondern er hat gesagt, der Bundeshaushalt habe vorgeleistet. Diese Behauptung findet unsere Zustimmung. Sie ist durch Tatsachen erhärtet.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703023900
Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0703024000
Bitte sehr.

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID0703024100
Herr Kollege Lambsdorff, betrachten Sie es auch als eine Vorleistung, daß entgegen der Aussage des Bundesfinanzministers, im Haushalt 1973 2 000 Stellen zu kürzen, daß entgegen dieser Propaganda in Wirklichkeit jetzt 822 Stellen mehr genehmigt werden sollen, und zwar sogar rückwirkend bis in das Jahr 1972?

Dr. Graf Otto Lambsdorff (FDP):
Rede ID: ID0703024200
Herr Kollege, Sie müssen bitte sagen, in welchem Bereich. Ich bin über die Einzelheiten nicht informiert.

(Abg. Dr. Jenninger: Insgesamt!)

Aber wir haben den Haushalt ja noch nicht verabschiedet. Wir werden über diese Frage zu sprechen haben und werden jetzt im übrigen, wie Sie gehört haben, die disponiblen Ausgaben des Haushalts um 5% kürzen.
Im übrigen aber zu dieser Frage: Ich stimme meinem Freunde, dem Kollegen Kirst zu, der vor einiger Zeit einmal gesagt hat, daß der Haushalt nicht nur und dauernd als Mittel der Konjunkturpolitik verwandt werden könne. Das liegt auf derselben Linie, die der Herr Bundeskanzler vorhin dargelegt hat. Machen wir uns nichts vor: Ohne Wachstum der Infrastruktur gibt es auf die Dauer auch kein Wachstum der gewerblichen Wirtschaft. Das müssen wir zusammensehen.

(Abg. Dr. Wagner [Trier] : Deshalb ist es so traurig, daß das unter dieser Regierung so zurückgeht!)

Jetzt aber, in dieser Situation, müssen wir alle -
Länder, Gemeinden und natürlich auch der Bund —



Dr. Graf Lambsdorff
unseren Anteil dazu beitragen, daß die öffentliche Hand die Zurückhaltung wahrt, die der Herr Bundeskanzler vorhin empfohlen hat. Ich freue mich über deutliche Worte, die in diesem Zusammenhang gesprochen werden, die aber natürlich unpopulär sind. Ich habe mich gefreut, daß der Herr Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Herr Pöhl, den Mut gehabt hat, im Kongreßzentrum in Hamburg die Frage zu stellen, ob das Zentrum denn eigentlich gebaut werden mußte.
Lassen Sie mich ein abschließendes Wort sagen. Auch auf die Gefahr hin, daß Sie der Ansicht sind, wir hätten genügend Probleme, die uns auf den Nägeln brennen, und wir brauchten eigentlich nicht an übermorgen oder gar überübermorgen zu denken. Wir erleben zum erstenmal, so scheint mir, einen Abschnitt der Wirtschaftsgeschichte, in dem sich die nationalen Konjunkturen in der gesamten Welt parallel entwickeln. Wir haben auf der ganzen Welt Hochkonjunktur und Boom. Das hat es früher nie gegeben. Daraus entstehen eine Reihe von Problemen, die neu für uns sind und deren Lösung uns auch vor neue Aufgaben stellt.
Aber ich bitte die Regierung, daran zu denken, dali sich diese Parallelbewegungen auch dann zeigen werden, wenn die Konjunkturen einmal wieder nach unten fahren. Auch das wird uns — insbesondere in einem Lande wie der Bundesrepublik mit seiner Arbeitsmarkt- und Exportstruktur — vor neue Probleme stellen. Ich wäre dankbar, wenn man sich rechtzeitig gedanklich mit diesem Komplex beschäftigte.
Zusammenfassend sage ich, daß auch wir der Meinung sind, daß der Vorschlag, den uns die Bundesregierung gemacht hat, keine übertriebenen Erwartungen und optimistischen Ausgangspositionen für das Jahr 1973 mehr bedeuten kann. Niemand sollte das erwarten. Wir müssen jetzt Vorkehr treffen für eine Entwicklung im Jahre 1974, von der wir uns nicht überrollen lassen dürfen.
Wir, meine Freunde und ich, bitten in diesem Zusammenhang die Tarifpartner, die einen großen Teil der Verantwortung tragen, dieser Verantwortung gerecht zu werden und zu sehen, daß kurzfristige Erfolge langfristig einmal teuer bezahlt werden könnten oder müßten.
Wir bitten noch einmal die öffentlichen Hände —ich wiederhole, was ich vor einigen Wochen von dieser Stelle gesagt habe: damit appellieren wir auch an uns selbst, an uns in diesem Hause —, die notwendige Zurückhaltung zu zeigen, die der Herr Bundeskanzler erwähnt hat.
An die Opposition richten wir die Bitte um Zusammenarbeit. Wir wären erfreut, wenn das Zusammenarbeitsangebot, das wir vor einigen Tagen etwas pauschaler formuliert gehört haben und das ich in der Stellungnahme von Herrn Strauß wiedergefunden habe, die ich vorhin erwähnt habe, auf diesem Gebiet Anwendung finden würde. Denn wir wissen natürlich, daß Sie durch die Möglichkeiten im Bundesrat das blockieren können, was wir an Vorschlägen auf den Tisch legen. Wir dürfen hier aber — nicht nur der Sache, sondern auch des zeitlichen Ablaufes wegen — nicht blockieren. Deswegen unsere Bitte, die Zusammenarbeit, die uns angeboten worden ist, unter Beweis zu stellen.
Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, die Fraktion der Freien Demokraten unterstützt die Wirtschafts- und Finanzpolitik Ihrer, oder besser, unserer Regierung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703024300
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen in der Aussprache zur Regierungserklärung nicht vor.
Wir können daher in der unterbrochenen verbundenen Beratung der Punkte 2 und 3 der Tagesordnung fortfahren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Klein (Göttingen). Seine Fraktion hat eine Redezeit von 25 Minuten angemeldet.

Prof. Dr. Hans Hugo Klein (CDU):
Rede ID: ID0703024400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einigkeit der beiden großen Parteien dieses Hohen Hauses in Fragen der Deutschlandpolitik ist zerbrochen, als die Sozialdemokratische Partei nach den Wahlen vom 28. September 1969 ihr neues Verhältnis zur Wahrheit fand. Ich sage das nicht, um an eine im buchstäblichen Sinne des Wortes merkwürdige Rede zu erinnern, mit der ein hochgestellter Politiker hier seinen Einstand gab, sondern ich sage es, um einem bis zum heutigen Tage gültigen deutschlandpolitischen Grundsatz der CDU/CSU noch einmal Ausdruck zu geben. Danach war und ist die Weigerung, die Diktatur der SED im anderen Teil Deutschlands als ein gleichberechtigtes Modell deutscher Staatlichkeit neben der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen, eben nicht eine bloße Negation bestehender Realitäten. Handelte es sich nur darum, hätten Sie, meinen Damen und Herren von der Koalition, diese Position mit vollem Recht aufgegeben.
Aber es geht um mehr. Es geht um eine zutiefst moralische Haltung, es geht darum, einem politischen Regime die Anerkennung vorzuenthalten, weil es auf deutschem Boden die Freiheit unterdrückt und auf eine demokratische Legitimation verzichtet. Es geht darum, daß wir Deutsche nicht, weil es uns wieder einmal nicht schnell genug geht, erneut vor Unrecht und Gewalt kapitulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Mehrheit dieses Hauses ist in den vergangenen Jahren einen anderen Weg gegangen. Ich konzediere mit der einem Liberalen selbstverständlichen Toleranz, daß es auch dafür Gründe, auch solche moralischer Qualität, gibt.
Sie haben, meine Damen und Herren von der Koalition, die DDR als gleichberechtigte Ordnung in Deutschland anerkannt. Oder genauer: Dies wird mit der Verabschiedung dieses Grundvertrages geschehen. Diesen Weg konnten wir nicht mit Ihnen gehen — aus Gründen, die vielfach genannt worden sind und die ich nicht zu wiederholen brauche. Aber es erschiene doch denkbar, daß, nachdem diese



Dr. Klein (Göttingen)

Phase der Deutschlandpolitik durchlitten ist und ein Vertrag besteht, der eine neue Ausgangsbasis schafft, die Fraktionen dieses Hauses sich im Interesse Deutschlands und seiner Menschen zu neuer Einigkeit zusammenfinden, um diesem Interesse um so kraftvoller dienlich sein zu können, um die im Grundvertrag ja auch enthaltenen dynamischen Ansatzpunkte gemeinsam zu entfalten.
Ich gestehe, daß ich bis vor kurzem dieser Hoffnung angehangen habe, inzwischen aber zunehmend fürchte, in ihr enttäuscht zu werden. Ursächlich dafür sind neben manch anderem die Erfahrungen, die ich als Mitberichterstatter im Rechtsausschuß dieses Hauses habe machen müssen.
Gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit eine kurze Randbemerkung. In welch peinliche Verlegenheit müssen die Anträge, die von meinen Kollegen und mir dort eingebracht wurden, die Koalition versetzt haben, daß sie ihre Kenntnis dem Hause vorenthält!

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

So stehen wir vor der einigermaßen grotesken Situation, in der Drucksache 7/500 auf Seite 14, im Bericht des Innerdeutschen Ausschusses, einen Brief des Vorsitzenden des Rechtsausschusses an seinen Kollegen vom Innerdeutschen Ausschuß zitiert zu finden, in dessen letztem Absatz es heißt:
In der Anlage übersende ich Ihnen die von den Abgeordneten Dr. Klein ... gestellten und von der Mehrheit abgelehnten Anträge.
Nur, die Anlage findet man hier nicht, obgleich sie diesem Brief natürlich beilag.

(Abg. Dr. Ritz: Das gehört alles zu „mehr Demokratie" !)

Meine Damen und Herren, solche Kleinlichkeiten kann ich nur als ein Zeichen von Unsicherheit werten.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Sagen Sie mir einen Fall, wo das üblich ist!)

Diese Anträge waren von uns so gestellt, daß sie ausnahmslos, teilweise bis an die Grenze der Verleugnung unserer eigenen Überzeugung, das Ziel verfolgten, Zweifel, die der Text des Grundvertrages offenläßt, durch klarstellende Formulierungen auszuräumen. Dabei ging es darum, in einem offiziellen Dokument, wie es der Beschluß eines Ausschusses dieses Hauses ja ist, wenn er auch natürlich keine zwischenstaatliche Verbindlichkeit besitzt, Positionen festzuhalten, die eine den deutschen Interessen dienliche Basis in den künftigen Auseinandersetzungen hätten abgeben können.
Gerade bei Verträgen mit kommunistischen Staaten — darauf ist hier früher schon hingewiesen worden — ist auf die Klarheit der Formulierungen äußerstes Gewicht zu legen, weil die Prinzipien des Rechts und deshalb auch die Prinzipien der Auslegung von Rechtsnormen unterschiedlich sind und Unklarheiten deshalb zwangsläufig zur Quelle neuen Ärgers werden müssen.
Hinzu kommt, daß der Grundvertrag in einem engen Zusammenhang mit dem Moskauer Vertrag steht, daß also auch die Sowjetunion hinter diesem Grundvertrag steht und die Auslegungskünste unseres unmittelbaren Vertragspartners mit Nachdruck unterstützen wird. Ist in einer solchen Situation vor Vertragsschluß nicht Klarheit geschaffen, wird sie danach in einem uns vorteilhaften Sinn nicht mehr zu schaffen sein. Die Interpretationen der anderen Seite haben die größere Chance, sich durchzusetzen.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

Aber alle unsere Anträge im Ausschuß wurden mit der stereotypen Begründung, sie seien schädlich und überflüssig, von der Mehrheit abgelehnt.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Abg. Metzger: Sehr richtig!)

Dafür zwei Beispiele. Im Hinblick auf den Art. 3 des Vertrages hatte ich beantragt:
Der Rechtsausschuß möge feststellen:
Der Vertrag geht von der heute in Deutschland tatsächlich bestehenden Lage aus. Er schafft keine Rechtsgrundlage für die derzeit bestehenden Grenzen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.
Dieser Antrag ist bewußt in enger Anlehnung an die Ihnen bekannte Entschließung vom 17. Mai des vergangenen Jahres formuliert.

(So ist es! bei der CDU/CSU.)

Wir haben, was diese Entschließung angeht, ja in letzter Zeit einige bemerkenswerte Äußerungen von seiten der Koalition zur Kenntnis nehmen müssen; aber eine der bemerkenswertesten war sicherlich die, die der Herr Kollege Bangemann heute morgen hier gemacht hat, als er erklärte — gezielt auf diese Entschließung —, es gebe keine einseitigen Vertragsinterpretationen. Ich frage mich in diesem Zusammenhang und gestatte mir diese Randbemerkung, was wir dann vom Brief zur deutschen Einheit, der im Zusammenhang mit diesem Vertrag übergeben worden ist, zu halten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Mertes [Gerolstein] : Das war die Abwertung einer wesentlichen Leistung des Außenministers durch seinen Parteifreund Bangemann!)

Dem Antrag, den ich eben zitiert habe, ist der sozialdemokratische Berichterstatter, Herr Kollege Metzger, mit einem anderen Antrag, den er später wieder zurückgezogen hat, begegnet. Er lautet:
Der Vertrag geht von den derzeit bestehenden Grenzen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR aus. Er hat keine konstitutive Bedeutung für diese Grenzen.
Nun hat ja letzteres niemand je behauptet. Aber es galt und gilt eben auch und gerade die deklaratorische Anerkennung dieser Grenze seitens der Bundesrepublik zu vermeiden, wenn eine Wiedervereinigung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes rechtlich möglich bleiben soll.

(Beifall bei der CDU/CSU.)




Dr. Klein (Göttingen)

Der Verzicht auf eine gewaltsame Änderung der Grenze, den wir in Art. 3 erblicken, bleibt auch hinter einer bloß deklaratorischen Anerkennung zurück. Nach allem ist zumindest unklar, wie Art. 3 wirklich gemeint ist.
Ein weiteres Beispiel. Art. 4 des Vertrages statuiert eine Selbstverständlichkeit. Die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls hat nie beansprucht, die DDR international zu vertreten oder in ihrem Namen zu handeln. Die Bestimmung wird allerdings allgemein als Verzicht auf den — zugegebenermaßen nicht eben glücklich so genannten — Alleinvertretungsanspruch verstanden. Mit ihm ist der politische Anspruch der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet, für die deutsche Nation zu sprechen und vor der Weltöffentlichkeit für das Recht der Bevölkerung der DDR auf freie Selbstbestimmung einzutreten.
Festzuhalten, daß Art. 4 diesem Anspruch nicht entgegenstehe, war das Ziel eines unserer weiteren Anträge. Auch er verfiel der Ablehnung.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Das hat seine Logik, meine Damen und Herren, wie wir heute der Tatsache entnehmen können, daß das Memorandum über die Wahrung der Menschenrechte in Deutschland — besser: der Bericht über ihre Unterdrückung in der DDR —

(Sehr gut! bei der CDU/CSU) nicht veröffentlicht werden soll,


(Hört! Hört! bei der CDU/CSU) weil dies der Entspannung nicht diene.


(Zuruf von der CDU/CSU: Interessante Perspektiven!)

Glaubt man denn wirklich, der Entspannung dienen zu können, indem man so gravierendes Unrecht wie die Vorenthaltung von Menschenrechten und Selbstbestimmungsrecht verschweigt oder, schlimmer noch, ignoriert?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die ausnahmslose Ablehnung aller Hilfestellungen der Opposition, auch soweit sie sich inhaltlich mit der Meinung der Mehrheit deckten — ich kann es mir nicht anders vorstellen, als daß dies zumindest bei einem Teil unserer Anträge der Fall war —, muß zu der Schlußfolgerung führen, daß die Koalition auch dort, wo es im nationalen Interesse läge, Gemeinsamkeit mit der Opposition nicht will.

(Abg. Jäger [Wangen] : Leider wahr!)

Meine Damen und Herren, dies halte ich für ein bedenkliches Anzeichen. Man fragt sich natürlich, ob dahinter etwa ein parteitaktisches Kalkül steht, das sich von einer Verschärfung und Weiterführung der Konfrontation parteipolitische Vorteile verspricht. Ich hielte das nicht für ein sehr verantwortungsvolles Verhalten.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

In diesem Zusammenhang ist zu fragen, was die Bundesregierung zur Offenhaltung der deutschen Frage getan hat. Ich bestreite nicht — dies möchte ich hier ausdrücklich feststellen —, daß in einem rein juristischen Sinne die deutsche Frage auch weiterhin offen ist. Wir haben in Art. 9 des Vertrags den freilich recht indirekten Hinweis auf Art. 7 Abs. 2 des Deutschland-Vertrags, und wir haben einiges andere mehr.
Aber die entscheidende Frage ist doch, ob eine deutsche Politik der Wiedervereinigung durch den Grundvertrag und in gewisser Weise natürlich auch durch den gekoppelten Beitritt beider deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen — das ist das Entscheidende — nicht tatsächlich erschwert wird. Hier setzen unsere Bedenken ein.
Was also hat die Bundesregierung getan? Nun, sie hat bei der Poststelle des Ministerrats gegen eine nicht vorzeigbare Quittung den Brief zur deutschen Einheit abgeliefert.

(Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Hört! Hört! — Abg. Dr. Marx: Warum nicht vorzeigbar?)

Sie hat es dahin gebracht, daß die nationale Frage im Vertragstext Erwähnung findet, wobei sich die Meinungsverschiedenheiten schon darauf erstrekken, oh diese Frage als solche überhaupt existiert. Ferner hat sie besondere Beziehungen zur DDR begründet, die man drüben als Fiktion ansieht und die sich nach allem, was wir im Ausschuß hörten, darin erschöpfen, daß die ständigen Vertretungen der beiden deutschen Staaten im jeweils anderen Staat sich „ständige Vertretungen" und nicht „Botschaften" nennen.
Der Wille zur Wiedervereinigung — darauf kommt es entscheidend an — ist im Vertrag nicht hinreichend dokumentiert, und so wird er denn auch im Ausland weithin als Verzicht auf die Wiedervereinigung gewertet. Auch deshalb vermögen wir dem Vertrag nicht zuzustimmen.
Nun hat der Herr Bundesaußenminister heute morgen von dieser Stelle aus erklärt, man habe nirgendwo im Ausland einen Zweifel daran gelassen, daß wir an diesem politischen Ziel der Wiedervereinigung festhalten. Ich glaube 'dies. Ich glaube, daß dies alle Parteien dieses Hohen Hauses gemeinsam tun. Ich muß aber fragen: In welcher Form, mit welchem Nachdruck ist diese Notifikation gegenüber den anderen Staaten vorgenommen worden?
Aber unsere Sorge beschränkt sich nicht darauf, daß die Bundesrepublik künftig zu einer von der Welt ernst genommenen Politik der Wiedervereinigung in Freiheit nicht mehr oder doch nur unter erschwerten Umständen imstande sein könnte. Unsere Sorge gilt darüber hinaus einer der wesentlichen Voraussetzungen einer solchen Politik, nämlich dem ungefährdeten Fortbestand der freiheitlichen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, in der zu leben wir das Glück haben.
Dazu erlauben Sie mir eine abschließende Bernerkung. Ich fürchte mich nicht vor einem Wettbewerb der Systeme zwischen West und Ost hier in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx: Das muß aber auch ein Wettbewerb sein!)




Dr. Klein (Göttingen)

Ich glaube, daß wir in einem Wettbewerb die Chance haben zu bestehen. Nur muß es ein Wettbewerb sein, der frei von Unterschätzungen der Anfälligkeit einer freiheitlichen Ordnung ist, und es muß ein Wettbewerb sein, der unter gleichen Bedingungen stattfindet.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Diese Bedingungen sind nicht gleich, wenn wir hier einerseits im kommunistischen Propagandamaterial ertrinken und andererseits keine Möglichkeit haben, unsere eigenen liberalen politischen Vorstellungen drüben zu Gehör zu bringen.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

In diesem Zusammenhang sind auch die von meinem Kollegen Jäger akzentuierten Befürchtungen in Richtung auf die verschärft betriebene Infiltration durchaus berechtigt, um so mehr, als der Widerstand gegen diese Infiltration hier erlahmt.
Nimmt man die deutsche Geschichte, zumal die des 19. und des 20. Jahrhunderts, in den Blick, kann man sich — ich glaube, Herr Abelein hat das heute morgen schon angedeutet — der Einsicht nicht verschließen, daß das hauptsächliche Antriebselement der deutschen Geschichte in dieser Zeit der Drang nach nationaler Einheit war.
Man hat zutreffend einen Grund für das Scheitern der Revolution von 1848 darin gesehen, daß die Nationalversammlung in der Paulskirche — in einer uns sehr sympathischen Weise — der Freiheit Vorrang vor der Einheit gab, indem sie Monate im kräftezehrenden Kampf um die Grundrechte hinbrachte, statt die temporäre Schwäche der Gliedstaaten zur Errichtung einer kraftvollen Zentralgewalt zu nutzen, die dann in der Lage gewesen wäre, auch die Freiheit durchzusetzen. So verspielte sie mit der Einheit auch die Freiheit.
Bismarck hat diesen Fehler nicht gemacht, und natürlich hat auch Hitler auf seine kriminelle Weise die nationalen Gefühle unseres Volkes mißbraucht, während er es sich leisten konnte, die Freiheit verächtlich zu machen.
Es gibt Anzeichen dafür, daß die Grunddisposition der Deutschen, auf die dies alles zurückzuführen ist, heute keine andere ist. Und deshalb haben die Väter dieses Staates und seines Grundgesetzes, sie alle — mit Ausnahme der Kommunisten natürlich —, weise gehandelt, indem sie der Freiheit, auf welche sie die Bundesrepublik gründeten, einen über sich selbst hinausweisenden Sinn gaben, nämlich den, diese Freiheit für ganz Deutschland zu gewinnen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Wer dieses Ziel preisgibt oder aufhört, es deutlich und für alle Welt sichtbar zu verfolgen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre gut, wenn der Außenminister jetzt zuhörte!)

der gefährdet die Glaubwürdigkeit und damit die Existenz dieser Bundesrepublik; denn er nimmt ihr ihre Legitimation.

(Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU.)

Im Wettbewerb der in den beiden Teilen Deutschlands etablierten Systeme wird nach meiner Überzeugung der gewinnen, der das nationale Anliegen der Deutschen am glaubwürdigsten vertritt.
Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Sehr gut!)
Ich verkenne nicht, daß hinter der Politik der Intensivierung menschlicher Beziehungen, menschlicher Begegnungen, in beiden Teilen Deutschlands eine ähnliche Motivation stehen könnte. Nur möchte ich in diesem Zusammenhang davor warnen, den Tatbestand der Entfremdung, den wir alle als Gefahr sehr wohl sehen und fürchten, allzuoft zu beschwören. Denn es könnte in diesem Falle einmal sein, daß man mit der Nennung einer Gefahr sie erst herbeiredet.

(Abg. Dr. von Bismarck: Sehr gut!)

Aber, meine Damen und Herren, diese Politik der Intensivierung menschlicher Begegnungen genügt nach unserer Überzeugung allein nicht, zumal dann nicht, wenn wir uns zugleich darauf einrichten, „die unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen in jedem europäischen Staat nicht (zu) behindern", wie es in einer Entschließung des jüngsten SPD-Parteitags heißt, also gar noch einen positiven Beitrag zur Stabilisierung des auf Unrecht und Gewalt gegründeten Regimes in der DDR zu leisten.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Der Herr Bundesaußenminister hat heute morgen — ich hoffe, ich zitiere ihn zumindest sinngemäß richtig — hier den Satz gesprochen: Der Blick zurück auf die staatliche Einheit darf uns den Blick nach vorn nicht verstellen. — Ich möchte dem nur die Hoffnung anfügen, daß auch bei dem Blick nach vorn die staatliche Einheit nicht aus dem Blick gerät.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Eine vage Hoffnung! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU.)

Mein großer Respekt vor der Sozialdemokratie, meine Damen und Herren, gründet sich nicht zuletzt auf meine hohe Achtung vor Name und Leistung Friedrich Eberts. Ebert, der, als ihm Prinz Max von Baden mit den Worten: „Herr Ebert, ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz" die Reichskanzlerschaft übertrug, erwiderte: „Königliche Hoheit, ich habe zwei Söhne für dieses Reich verloren", hatte vier Wochen vorher, als es um die Beteiligung der SPD an der Regierung des Prinzen Max ging, seinen zögernden Parteifreunden zugerufen:
Wenn Sie das Interesse der Partei voranstellen, müssen Sie gegen jede Regierungsbeteiligung sein. Wenn Sie dagegen meinen, daß uns der Zusammenbruch unseres Landes nicht gleichgültig sein kann, dann prüfen Sie ernstlich, ob wir das Wagnis auf uns nehmen sollten.

(Zuruf von der SPD.) Er hat damit seine Freunde überzeugt.

Auch heute, meine Damen und Herren, drückt uns die Not ,des Vaterlandes in Gestalt seiner willkürlichen Teilung, durch die Tatsache, daß den



Dr. Klein (Göttingen)

Deutschen in der DDR Freiheit und Selbstbestimmung vorenthalten werden. Deshalb beschwöre ich Sie, sei es auch unter Zurückstellung des Interesses Ihrer Partei, um dieses Staates und seiner Verpflichtung gegenüber Deutschland willen nicht nur in Worten, sondern auch durch Taten die gemeinsame Haltung aller Parteien dieses Hohen Hauses in Fragen der Deutschlandpolitik wiederherzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Setzen Sie unübersehrbare Zeichen dafür, daß es uns Deutschen ernst ist mit unserem Willen zu nationaler Einheit. Lassen Sie uns gemeinsam tun, was Herr Bundesminister Bahr am 15. Februar in einer anderen als der eingangs zitierten Rede von diesem Platz aus gesagt, aber in der seither vergangenen Zeit, wie mir scheint, in der politischen Praxis nicht genügend beachtet hat. Lassen Sie uns, wie er sagt, „darauf sehen, daß Vereinbarungen in vollem Umfange gehalten und nicht administrativ ausgehöhlt werden", damit man im eigenen Lande, vor allem aber auch draußen in der Welt nicht vergißt, was uns allen aufgetragen ist: die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands in Freiheit.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703024500
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kreutzmann.

Dr. Heinz Kreutzmann (SPD):
Rede ID: ID0703024600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier einen leidenschaftlichen Appell zur Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik gehört. Es ist nicht das erstemal, daß wir das zu hören bekamen; aber bisher haben wir immer wieder erlebt, daß die Opposition unter Gemeinsamkeit, wenn es dann darauf ankam, die mit diesen Gemeinsamkeiten zusammenhängenden Fragen zu prüfen, eine absolute geistige Kapitulation der anderen vor ihren eigenen Vorstellungen erwartete.

(Beifall bei der SPD.)

Das ist letzten Endes der Grund, weshalb diese Gemeinsamkeiten bisher weitestgehend gescheitert sind.
Der Herr Kollege Klein hat hier auch kritisiert, daß im Rechtsausschuß die von ihm eingebrachten Anträge abgelehnt worden sind.

(Abg. Dr. Klein [Göttingen] : Alle!)

Auch das war ein Stück dieser „Gemeinsamkeitspolitik", wie er sie sich vorstellt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben es in der letzten Zeit wiederholt erleben müssen, daß man allgemeingültige Grundsätze, Teile von Regierungserklärungen aus dem Zusammenhange reißt, in andere Zusammenhänge hineinstellt oder so zu akzentuieren versucht, daß damit der eigentliche Sinn und Inhalt genau ins Gegenteil dessen verkehrt wird, was sie ausdrücken wollen.
Ein Weiteres kommt hinzu. Mit diesen Anträgen sollte doch nicht mehr und nicht weniger erreicht werden als seinerzeit mit der „Gemeinsamen Entschließung": Sie wollten uns Elemente Ihrer Vorstellungen aufzwingen, um unserer Politik eine Richtung zu geben, die wir nicht wollen. Darum haben wir diese Anträge abgelehnt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist deutlich!)

Damit komme ich zum eigentlichen Thema, dem Grundvertrag, zurück. Der Kollege Jäger hat gestern kritisiert, ich habe der CDU vorgeworfen, sie bilde sich ein, mit Verträgen die Verhältnisse in der DDR nach unseren Vorstellungen wandeln zu können. Er knüpfte daran die Frage, ob ich etwa nicht eine Vermenschlichung des Systems als einen Sinn dieser Verträge ansähe.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703024700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Mertes?

Dr. Heinz Kreutzmann (SPD):
Rede ID: ID0703024800
Ja.

Dr. Alois Mertes (CDU):
Rede ID: ID0703024900
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß der Text der gemeinsam erarbeiteten und gemeinsam verabschiedeten Entschließung ausschließlich auf Texten beruht, die die Bundesregierung gegenüber dem Parlament abgegeben hat, daß also hier nichts von uns zusätzlich hinzugefügt worden ist?

Dr. Heinz Kreutzmann (SPD):
Rede ID: ID0703025000
Das ist mir bekannt, Herr Kollege Mertes, und das ist gerade der Stil, den ich kritisiere: daß Sie versuchen, durch das Herausreißen von Teilen aus Regierungserklärungen und die Einordnung in neue Zusammenstellungen ihnen Dinge zu unterstellen, die gar nicht vorgesehen waren. Das habe ich hier kritisieren wollen, und das habe ich gemeint.

(Abg. Rawe: Also wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, daß die Regierungserklärungen nur in dem verschwommenen Zusammenhang zu sehen sind, in dem sie abgegeben werden!?)

Nun hat, wie gesagt, der Kollege Jäger daran die Frage geknüpft, ob ich etwa nicht die Vermenschlichung des Systems als einen Sinn dieser Verträge ansehe. Ich kann darauf mit einem Zitat aus einem Artikel antworten, den Peter Bender kürzlich zu diesem Thema geschrieben hat. Er sagt dort:
Wesentliche Änderungen im West-Ost-Verhältnis wie auch innerhalb des Ostens lassen sich nicht in Verträgen durchsetzen, sondern sind nur als Folge einer langen Entwicklung zu erwarten.
In unserem speziellen Fall kommt hinzu, daß es ja nicht die DDR war, die diese Verträge und Abmachungen wollte. Ganz im Gegenteil. Denn Bender schreibt an einer anderen Stelle — und ich gebe ihm darin recht —:
Was für die Bundesrepublik humanitäre Fragen
sind, sind für die DDR Probleme der Sicherheit.



Dr. Kreutzmann
Darin, so meine ich, liegen doch die eigentlichen Schwierigkeiten. Die DDR hat sich doch nur unter dem Druck der Sowjetunion zu dieser Politik bereitgefunden. Daraus resultieren doch die ganzen Schwierigkeiten, die es immer wieder von neuem gibt und auch in Zukunft geben wird.
Dabei muß ich die Frage stellen: Woher nehmen Sie die Kühnheit, Feststellungen zu treffen, was zu erreichen möglich gewesen wäre? Wir haben es doch bei diesen Verhandlungen mit einer DDR zu tun, deren Selbstbewußtsein in den letzten Jahren ständig zugenommen hat und die nun auf Anweisung der Sowjetunion ihre wirklichen und vermeintlichen Interessen denen Moskaus unterordnen mußte. Da wundern Sie sich, daß es Schwierigkeiten gibt!

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Herr Kollege, diese Kühnheit haben S i e !)

Noch etwas! Woher haben Sie eigentlich Ihre Erfahrungen über Verhandlungen so wichtiger Verträge mit der DDR? Sie haben doch in der ganzen Zeit Ihrer Regierungstätigkeit niemals direkte Verhandlungen mit der DDR geführt. Sie haben im Gegenteil Erlasse und Verfügungen herausgegeben, die darauf hinausliefen, selbst Verhandlungen zwischen lokalen Behörden weitestgehend unmöglich zu machen. Woher Sie daher die Kühnheit nehmen, festzustellen, was zu erreichen gewesen wäre, das ist mir wirklich unerfindlich.
Sie verlangen von dieser Regierung, daß sie Menschenrechte in der DDR durchsetzen soll. Sie meinen, daß die Forderung allein genügt, die DDR zu veranlassen, den Schießbefehl abzuschaffen. Wir Sozialdemokraten können uns nicht genug Menschenrechte für die Menschen dort drüben wünschen. Wir Sozialdemokraten empfinden den Schießbefehl mindestens als eine ebenso große Scheußlichkeit wie Sie. Aber glauben Sie vielleicht, mit der Forderung allein, womöglich noch mit ständigen scharfen moralischen Verurteilungen des Systems dort drüben, würden Sie die DDR zu einer Änderung veranlassen?

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das sagen wir ja gar nicht!)

Sie werfen unserer Regierung vor, sie habe sich durch ihre Ungeduld um den Erfolg von Verhandlungen gebracht. Sie erwarten aber, statt die Dinge erst einmal wirken und reifen zu lassen, daß die DDR den Vertrag noch vor der Ratifizierung buchstabengetreu erfüllt und auch seinem Geist gerecht wird, ehe man der anderen Seite an Hand der praktischen Erfahrungen von unserer Seite her eindeutig demonstrieren kann, wie wir uns die Praktizierung des Vertrages vorstellen.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703025100
Gestatten Sie, Herr Abgeordneter Kreutzmann, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger (Wangen)?

Dr. Heinz Kreutzmann (SPD):
Rede ID: ID0703025200
Ja.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703025300
Herr Kollege Kreutzmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Mitglieder unserer Fraktion bisher
nicht die Erfüllung derjenigen Vereinbarungen durch die DDR-Regierung verlangt haben, die naturgemäß erst nach dem Inkrafttreten des Vertrages erwartet werden können, sondern daß wir nur verlangt haben, daß seitens der Bundesregierung auf der Erfüllung derjenigen Vereinbarungen bestanden wird, die die DDR mit dem in Kraft getretenen Verkehrsvertrag längst zugesagt hatte?

Dr. Heinz Kreutzmann (SPD):
Rede ID: ID0703025400
Herr Kollege Jäger, das habe ich aber aus dem Munde politischer Freunde von Ihnen auch anders gehört.

(Abg. Rawe: Aber, aber! — Abg. Reddemann: Sie haben sich mal wieder verhören wollen!)

Wenn ich mir die von Ihnen im Zusammenhang mit den Verträgen betriebene Politik ansehe, muß ich sagen: Sie verlangen von dieser Regierung etwas, was Sie selber mit der von Ihnen betriebenen Politik niemals erreicht haben. Auch Sie haben Verträge mit Vorbehalten und Zusätzen, mit Briefen und einseitigen Erklärungen abgeschlossen. Warum ist es eine große politische Leistung, wenn das die CDU/CSU gemacht hat, aber nichts, wenn es durch eine sozialliberale Regierung geschehen ist?

(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Was meinen Sie damit?)

Die entscheidende Frage für uns alle ist jedoch: Was war in den Verträgen unter den gegebenen Umständen erreichbar, und führt uns dieser Vertrag in den Beziehungen der Deutschen zueinander ein Stück weiter oder nicht?
Die zweite Frage ist: Handelt es sich um einen weitestgehend ausgewogenen Vertrag, oder bringt er, wie Sie im Vollbesitz der Erfahrungen, die Sie in Verhandlungen mit der DDR gesammelt haben, behaupten, nur Vorteile für die andere Seite? Ich darf im Zusammenhang mit dieser Frage noch einmal an das erinnern, was ich bereits in der ersten Lesung gesagt habe. Ausgangspunkt für uns kann doch nur das sein, was war. Das war nicht etwa nur eine ideologische Abgrenzungspolitik, sondern die vollkommene Abschnürung der Menschen beider deutscher Staaten und einer Nation voneinander. Das hat nicht nur zur Errichtung eines Todesstreifens auf der DDR-Seite geführt, sondern auch unser Zonengrenzgebiet befand sich im ständigen Prozeß eines langsamen Absterbens, gegen den wir in einer Sisyphusarbeit ankämpften.
In diesen Tagen hat ein Kollege aus Ihren Reihen in einer Diskussion einmal gesagt, es sei doch kümmerlich, damit zu renommieren, daß man nun einmal im Jahr 14 Tage Urlaub in Thüringen machen könne. Ich frage Sie, ob es Ihnen eigentlich mit Ihren immer wieder erhobenen Forderungen nach menschlichen Beziehungen ernst ist. Selbst wenn dieser Vertrag nichts anderes gebracht hätte als die Chance touristischer Reisen ins andere Deutschland, und zwar auch für die, die dort drüben keine Angehörigen haben, wäre er gegenüber dem, was vorher war, ein großer Schritt nach vorn.



Dr. Kreutzmann
Aber es gibt ja nicht nur touristische Reisen in die DDR. Es gibt ein Vielfaches an Besuchen in dringenden Familienangelegenheiten: 30 000 in der kurzen Zeit, seitdem dieser Vertrag unterzeichnet wurde. Es gibt insgesamt vier neue Grenzübergänge. Es gibt im Rahmen der Verträge insgesamt einen ungehinderten Zugang nach Berlin. Es gibt ein Mehr an Familienzusammenführung und ein großes Mehr an Begegnungsmöglichkeiten. Allein im vergangenen Jahr konnten 7 Millionen Besuchsreisen in die DDR gemacht werden. Ich glaube, das ist kein Rinnsal, sondern ein großes Mehr an Begegnungsmöglichkeiten. Ostern 1973 sind 251 000 Personen in die DDR gereist. Die Zahl der Pkw-Reisen, es waren 44 364, hat sich verdoppelt. Das mögen Sie als Kleinigkeiten abtun oder bagatellisieren; für die davon betroffenen Menschen ist das ein großer Schritt nach vorn.

(Beifall bei der SPD.)

Sicher, die DDR hat den Schießbefehl nicht aufgehoben. Sicher, die DDR versucht, den Kreis derer, die Besuch aus dem Westen empfangen dürfen, laufend einzuschränken.

(Abg. Dr. Marx: Was heißt ''sicher''?)

Sicher, die DDR nimmt happige Preise bei touristischen Reisen. Aber daran, daß das Erreichte wesentliche Fortschritte gegenüber früher bringt, können Sie nicht zweifeln. Ich meine, dieser Vertrag ist im höchsten Maße ausgewogen.

(Abg. Dr. Marx: Im höchsten „Maße ausgewogen"!?)

Ich frage mich, woher Sie die Kühnheit nehmen, zu behaupten, Sie hätten Verträge zuwege gebracht, die gegen an den Rand der Vertragstreue gehende Mißgriffe fugendicht abgesichert gewesen wären. Wie sie das erreichen wollten, wenn Sie immer wieder betonen, daß man stets daran denken müsse, daß dieses Regime ein kommunistisches sei und man ihm eigentlich weder trauen noch mit einer solchen Diktatur paktieren könne, habe ich bisher von Ihnen nicht gehört.
Im Grunde genommen, sosehr Sie das mit Worten zu überdecken versuchen, halten doch auch Sie es, genau wie die andere Seite, mit einer Politik der Abgrenzung als der einzig sinnvollen.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Das ist nicht wahr!)

Wie man dann zu Verhandlungsergebnissen kommen soll, wie Sie sie von dieser Regierung fordern, ist mir schleierhaft.
Sie kritisieren nun, daß diese Regierung wesentliche Bestandteile des Vertrags nicht im Vertragstext, sondern in Briefen und Zusatzprotokollen niedergelegt habe. Sicherlich, auch uns wäre es lieber gewesen, man hätte das in den Vertragstext mit hineinbringen können. Sie sagen, die DDR sei ein Partner, der ständig den Versuch mache, die Vertragstexte nach seinem Geschmack auszulegen. Glauben Sie dann, die DDR hätte den Abmachungen einen verpflichtenderen Charakter zugeschrieben, wenn sie im Vertragstext enthalten wären?

(Abg. Jäger [Wangen] : Ja!)

Wir wollen doch den Menschen helfen. Das ist der Sinn dieser Politik. Ich meine, die Hilfe, die den Menschen im anderen Teil Deutschlands mit diesem Vertragswerk gebracht wird, das, was an Fortschritten auf dem Gebiet der menschlichen Begegnung erreicht wird, ist den bezahlten Preis wert. Der Vertrag gibt der DDR im Grunde genommen nicht viel mehr als das, was sie schon erreicht hat. Es ist einfach naiv zu glauben, man könne eine der zehn größten Industrienationen dieser Welt auf Dauer von der internationalen Anerkennung fernhalten.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Die DDR ist keine Nation!)

— Das war ein falscher Zungenschlag; das gebe ich zu.
Hinzu kommt noch ein Weiteres. Diese Anerkennung verschafft nicht nur der DDR mehr weltpolitisches Ansehen; sie bringt auch uns befreundete diplomatische Vertreter in die DDR, die bereit sind, dort unseren Standpunkt und unsere Vorstellungen mit zu unterstützen.
Die Opposition argumentiert nun weiter damit, der Vertrag sei — wie die ganze Politik — geeignet, unsere Bindungen an unsere westlichen Verbündeten zu lockern und die Bundesrepublik vielleicht sogar in eine Isolierung zu bringen. Diese Töne sind von Ihrer Seite seit dem Hannoverschen Parteitag der SPD merklich stiller geworden. Der Besuch des Bundeskanzlers in Washington hat Ihnen im übrigen wohl auch deutlich gezeigt, welche Resonanz dieser Kanzler in den Vereinigten Staaten hat, welches Vertrauen er dort besitzt. Daß das in der übrigen westlichen Welt nicht anders ist, ja, daß es selbst bei dem größten Teil Ihrer eigenen politischen Freunde in den westlichen Staaten so ist, ist Ihnen seit eh und je schmerzvoll und peinlich. Ich meine, Sie sollten einmal prüfen, ob Sie nicht zum Gefangenen Ihrer eigenen Propaganda geworden sind, wenn Sie dieser Regierung ständig Unfähigkeit unterstellen, die „Diabolik östlicher Politik" zu durchschauen. Sie sollten sich fragen, ob das, was diese Regierung erreicht hat und was in der Zwischenzeit Tausenden von Menschen geholfen hat, wirklich nur ein Rinnsal an Menschlichkeit war. Sie sollten sich fragen, was der Erhaltung der Einheit der Nation, die Sie hier angesprochen haben, mehr nützt: daß diese Einheit im Text des Vertrages verankert ist oder daß diese Einheit durch die Begegnung von Millionen Deutschen aus Ost und West wieder mehr zu einer Realität wird.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Niemand von uns bestreitet, daß die Regierung der DDR nur sehr schwer auf den neuen Kurs nach vorn zu bewegen war. Niemand bestreitet, daß sie sich nur zögernd von dem löst, was ihre Politik jahrelang bestimmt hat. Das heißt aber noch lange nicht, daß, wie Sie meinen, weder die DDR noch die UdSSR im Grunde genommen eine echte Klimaverbesserung wünschten und daß deren jetzige Politik nur eine besonders raffinierte Masche der Infiltration sei. Wer die Geschichte der deutschen Außenpolitik kennt, weiß, wie oft wir durch Mißtrauen und Selbstüberschätzung schon Chancen ver-



Dr. Kreutzmann
paßt und Möglichkeiten verspielt haben. Wer mit ideologischen Brettern vor dem Kopf Außenpolitik macht, manövriert sich nur allzuleicht selbst ins Abseits.
Wir meinen, dieser Vertrag ist ein mutiger Schritt nach vorn, sicher ein Schritt mit Risiken und auch ein Schritt in Neuland. Wir haben aber genug Vertrauen in die Loyalität unserer westlichen Freunde und in die Kraft des Gedankens der freiheitlichen Demokratie, um diesen Schritt zu wagen. Dieser Grundlagenvertrag erscheint uns als eine zuverlässige und ausbaufähige Basis. Darum werden wir Sozialdemokraten diesem Vertrag zustimmen und alles daransetzen, um zu erreichen, daß er im Endeffekt die Hoffnungen rechtfertigen wird, die mit ihm verbunden sind.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703025500
Das Wort hat der Bundesminister Eppler.

Dr. Erhard Eppler (SPD):
Rede ID: ID0703025600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ein paar Worte zu einem Thema sagen, das heute etwas zu kurz gekommen ist, nämlich zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen. Ich tue dies nicht etwa, um in irgendwelchen Wunden der Opposition zu wühlen, sondern einfach weil dieses Thema hier doch stärker herauskommen sollte.
Zuerst aber noch eine Bemerkung zum Herrn Kollegen Klein. Herr Kollege Klein, Sie haben vorhin in einem Nebensatz gesagt, wir in der Bundesrepublik hätten den Wettbewerb mit der DDR nicht zu fürchten. Ich möchte als der verantwortliche Minister hinzufügen: Dies gilt auch für die Entwicklungspolitik. Wir brauchen den Wettbewerb mit der DDR auf diesem Gebiet so wenig zu fürchten, daß wir es nicht nötig haben werden, unsere entwicklungspolitischen Entscheidungen von dem abhängig zu machen, was die DDR irgendwo tut oder nicht tut, sondern einzig und allein von dem, was wir in der Sache im Interesse des jeweiligen Landes für richtig halten. Ich glaube, daß wir uns in diesem Hause darüber einig sind.
Meine Damen und Herren, es gibt in diesem Hause wahrscheinlich auch keinen Abgeordneten, den nicht gelegentlich die Neigung zu zynischem Spott überfallen hätte, wenn er in dem einen oder anderen Falle die Hilflosigkeit, ja, die Ohnmacht jener Organisation beobachten mußte, der nun auch die Bundesrepublik Deutschland beitreten wird. Niemand wird bestreiten können, daß unter den Faktoren, die heute den großen Krieg verhindern, die Vereinten Nationen nicht der wichtigste ist.
Trotzdem gibt es in diesem Hause wohl auch kein Mitglied, das so über die Vereinten Nationen sprechen wollte, wie man auf der rechten Seite des Deutschen Reichstags einst über den Völkerbund gesprochen hat. Ich glaube, dies überlassen wir der einen oder anderen Gazette in diesem Lande. Dazu haben wir alle zu gründlich lernen müssen, daß nicht nur die Weltorganisation den Anforderungen
unserer Zeit nicht genügt — noch nicht, wie wir hoffen —, sondern auch der Nationalstaat, der seine Souveränität gegenüber dieser Organisation bisher zu behaupten weiß. Die Vereinten Nationen sind so stark, wie sie von den Nationalstaaten und damit in Zukunft auch von uns gemacht werden; und sie sind so schwach wie unsere Fähigkeit, über unsere unmittelbaren, kurzfristigen Interessen gelegentlich hinauszudenken.
Die Vereinten Nationen haben durch die Aufnahme der Volksrepublik China einen neuen Impuls erhalten, einmal weil damit die Epoche der Bipolarität endgültig abgeschlossen wurde, zum anderen weil dieses volkreichste Land der Erde erfolgreich mit dem Anspruch auftritt, Anwalt und Sprecher aller Entwicklungsländer in den Vereinten Nationen zu sein.
Es ist richtig, daß diese Entwicklungsländer häufig nicht weniger zerstritten sind als die Industrieländer. Aber wenn es in den Vereinten Nationen um ihre Interessen gegenüber den reichen Ländern geht, so sehen wir oft eine Einheitsfront, die Brasilien so sehr einschließt wie Chile, Pakistan so sehr wie Bangla Desh.
Wir, die wir heute den Grundvertrag und den UN-Beitritt in diesem Hause diskutieren, tun dies im Zeichen der Ost-West-Spannung, die wir abbauen wollen, aber an deren völliges Verschwinden hier wohl keiner so recht glauben kann. Der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in New York wird in der Vollversammlung sehr viel häufiger vor Entscheidungen stehen, die sich aus der Nord-SüdSpannung ergeben, als vor solchen, die aus dem Ost-West-Konflikt stammen. Das hat gute Gründe.
Erstens. Die Vereinten Nationen sind für die Entwicklungsländer zu dem Forum geworden, mit dem sie sich identifizieren, nicht nur, wie heute früh Herr Kollege Wischnewski zu Recht gesagt hat, weil sie dort eine klare Mehrheit bilden, sondern auch weil sie dort die übrige Welt mit ihren Forderungen so konfrontieren können, daß keiner mehr mit seiner Entscheidung ausweichen kann.
Zweitens. Die Verhandlungen in den Vereinten Nationen und im Wirtschafts- und Sozialrat, dem wir ebenfalls erst jetzt beitreten können, kreisen daher überwiegend um die Sorgen der Dritten Welt und um das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
Drittens. Die Sonderorganisationen der Vereinten Nationen von der UNESCO bis hin zur Weltbank beschäftigen sich entweder ausschließlich oder doch überwiegend mit Entwicklungshilfe. In 96 Staaten dieser Erde gibt es Büros der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen.
Vor dem Forum der UN wird es in den nächsten Jahren deshalb unter anderem um folgende Fragen gehen, über die hier bisher noch kaum geredet worden ist:
Es geht um die Verfügungsgewalt der Entwicklungsländer über ihre eigenen Bodenschätze. Damit wird über die künftige Energieversorgung der gesamten Menschheit einschließlich der Bundesrepu-



Bundesminister Dr. Eppler
blik diskutiert werden. Es wird gehen um die Kontrolle der Tätigkeit multinationaler Konzerne. Es wird gehen um die Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländern, die in vielen Teilen der Erde ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, geschweige denn überschritten hat. Darüber werden wir vor allem im nächsten Jahr 1974, im Bevölkerungsjahr der Vereinten Nationen, auf allen Ebenen zu sprechen haben. Es wird dort gehen um die wachsende Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern, die sich aus der Bevölkerungsexplosion ergibt und deren unmittelbare Auswirkungen wir in den nächsten Jahren hier im Problem der ausländischen Arbeiter zu spüren bekommen werden. Es wird gehen um den Hunger, mit dem auch die „grüne Revolution" nicht fertig wird und der in diesen Monaten durch Dürrekatastrophen wieder zunimmt. Es wird gehen um den Versuch eines Ausgleichs zwischen reichen und armen Ländern im Handel durch eine neue internationale Arbeitsteilung. Es wird gehen um die Reste des Kolonialismus, der, wie ich hoffe, auch diesem ganzen Haus ein Ärgernis ist.
Es ist nun durchaus offen, ob aus der Solidarisierung der Entwicklungsländer gegenüber den Industrieländern in den Vereinten Nationen eine zunehmende Radikalisierung mit starren Fronten wird. Es ist durchaus offen, ob die jetzt heranwachsende Generation in Afrika oder Lateinamerika noch die Zusammenarbeit mit der westlichen Industriewelt suchen oder ob sie sich vom Westen, möglicherweise sogar auch vom europäischen Osten abwenden wird. Es ist durchaus offen, ob die Vereinten Nationen einen solchen Prozeß in ihrer jetzigen Form überstehen können.
Sicher ist nur, daß sich Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen immer weniger auf den ohnehin wenig aussichtsreichen Versuch beschränken kann, das eine oder andere Feuer auszutreten, wenn es schon einmal aufgeflackert ist. Die Vereinten Nationen konzentrieren sich immer mehr auf den Versuch, wirtschaftliche, rassische und soziale Konflikte zu entschärfen, ehe sie zu gewaltsamen Ausbrüchen führen. Es könnte sein — und ich hoffe es - -, daß die Vereinten Nationen bei der indirekten Friedenssicherung durch Entwicklungspolitik erfolgreicher sind — das ist schon heute abzusehen — als bei der direkten Friedenssicherung im Sicherheitsrat. Ich könnte mir vorstellen, daß die Vereinten Nationen bei der Organisation des Überlebens eine entscheidende Rolle spielen werden. Das bedeutet, daß Entwicklungspolitik in diesen Vereinten Nationen nicht am Rande, sondern im Zentrum steht, daß Industrieländer dort danach beurteilt werden, ob und wie sie zu dieser gemeinsamen Anstrengung beitragen.
Die Bundesregierung hat ihren Beitrag geleistet, und sie wird dies nach ihrem Beitritt verstärkt tun. Sie wird auch den neugegründeten UN-Freiwilligendienst durch eine wachsende Zahl deutscher Entwicklungshelfer unterstützen. Sie wird auch ihre Leistungen auf dem Gebiet der Entwicklungsarbeit der Vereinten Nationen verstärken; Leistungen, die übrigens längst ein Mehrfaches dessen ausmachen, was jetzt als Verwaltungsbeitrag von den Vereinten Nationen gefordert wird. Ich hoffe in diesem Punkt auf die Unterstützung des ganzen Hauses.
Der Beobachterstatus in den Vereinten Nationen war eine pragmatische Schöpfung außerhalb der Satzung der Vereinten Nationen.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Wirkungsvoll!)

Dieser Beobachterstatus hat uns viele Unannehmlichkeiten gebracht, aber er hat uns auch manche schwierige Entscheidung erspart. Beides geht jetzt zu Ende. Wir müssen nun manchmal Farbe bekennen, wo uns das keineswegs bequem ist.
Aber hier möchte ich an das anknüpfen, was der Kollege Bangemann heute früh gesagt hat: Das ist nicht nur unbequem, das ist auch die Chance für uns, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, um die wir uns bisher in der Öffentlichkeit ein bißchen herumgedrückt haben. Es ist auch die Chance für dieses Haus, über manches zu sprechen, worüber bisher vielleicht zuwenig gesprochen worden ist.
Man setzt in den Vereinten Nationen und vor allem in den Entwicklungsländern Hoffnungen auf uns. Das Land, das Europa — für alle sichtbar und von allen honoriert — einem dauerhaften Frieden nähergebracht hat, wird auf der Bühne der Weltorganisation mit einem strengen Maßstab gemessen werden, vor allem von den Ländern der Dritten Welt. Provinzialismus wird uns in Zukunft noch wesentlich teurer zu stehen kommen als bisher.
Der neue Anfang, von dem in dieser Debatte die Rede war, bezieht sich also nicht nur auf unsere Beziehungen zur DDR, sondern auch auf unsere Verantwortung in der Völkergemeinschaft. Ich könnte mir vorstellen, daß uns unsere Kinder später nicht fragen werden, ob das Auftreten der DDR auf der weltpolitischen Bühne vielleicht doch noch um ein oder zwei Jahre hätte verschoben werden können, sondern sie werden uns fragen, ob es denn unvermeidlich gewesen sei, daß sie — diese Kinder — den Globus mit sieben oder zehn Milliarden Menschen zu teilen hätten, von denen keiner weiß, wie sie ernährt, wie sie beschäftigt, wie sie behaust oder wie sie sozial gesichert werden sollen.
Deshalb hoffe ich, daß wir alle, wenn dieses Haus seine Entscheidung gefällt hat — nämlich die mit einer möglichst großen Mehrheit getroffene Entscheidung für den Beitritt zur Charta der Vereinten Nationen —, uns gemeinsam bemühen — die Befürworter und die Gegner unseres UNO-Beitritts —, der Verantwortung gerecht zu werden, die wir alle mit dem Beitritt auf uns nehmen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703025700
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Stauffenberg.

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703025800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst ein Wort zu der Rede des Herrn Bundesministers Eppler sagen. Ich möchte ihm auf das, was er gesagt hat, an dieser Stelle nicht antworten, und zwar nicht etwa, weil wir dieser Ant-



Graf Stauffenberg
wort ausweichen oder weil wir das Gefühl hätten, in einer Wunde unangenehm berührt zu sein, sondern weil wir der Meinung sind, daß wir Zusammengehörendes zu Zusammengehörendem und Getrenntes zu Getrenntem tun sollten. Ich glaube, daß die Problematik und die Fragen des Grundvertrags noch nicht abschließend erörtert worden sind. Ich halte es für besser — meine Fraktion tut das mit mir —, daß wir zuerst diese Probleme abschließend erörtern, bevor wir dann zu der Frage des Beitritts zur UNO Stellung nehmen.
Erlauben Sie auch noch ein ganz kurzes Wort zu den Ausführungen des Herrn Kollegen Kreutzmann. Herr Kreutzmann, Sie haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gesagt, was für uns die humanitären Probleme, das seien für die DDR die Probleme der Sicherheit. Hier möchte ich doch ein klein wenig richtigstellen. Ich meine, es müßte heißen: Was für uns die humanitären Probleme, das spiegelt sich wieder dort drüben als die Sicherheitsprobleme des DDR-Regimes. Hier scheint mir doch ein sehr wesentlicher Unterschied zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Heyen: Mit dem Regime müssen Sie nun einmal verhandeln, wenn Sie etwas wollen! — Weiterer Zuruf von der SPD: Haben Sie nicht gemerkt, daß das ein Zitat war?)

Meine Damen und Herren, in der Debatte am 5. April hat der Herr Bundeskanzler in diesem Hause erneut erklärt, er brauche zur Deutschland-und Ostpolitik nichts anderes zu sagen, als was er in seiner Regierungserklärung aufgezeigt habe. Er hat es zum wiederholten Male gesagt; der Hinweis auf die Regierungserklärung ist in den letzten Wochen und Monaten immer wieder gefallen. Er hat gesagt, es solle niemand die Konsequenz dieser Politik bezweifeln. Nun, meine Damen und Herren, in diesem Bereich hat niemand die Konsequenz — oder besser: die Konsequenzen der Politik der Bundesregierung angezweifelt. Um es noch besser und noch richtiger zu sagen: Es hat niemand angezweifelt, daß die Politik dieser Regierung Konsequenzen hat. Sie sind in der Tat weitergegangen. Sie sind weitergegangen auf einem Weg, den Sie mit den Moskauer Vertragsverhandlungen eingeschlagen haben. Sie haben längst jene Positionen hinter sich gelassen, die Sie etwa noch im Frühjahr oder Sommer 1970 hielten. Sie sind von diesen Positionen bereits abgerückt. Im Mai 1970 hat es eine Debatte gegeben. Ich erinnere mich noch gut an diese Debatte. Ich habe sie damals — ich war ja noch nicht Mitglied dieses Hauses — am Fernsehen verfolgt wie viele andere. Damals hat es lauten Protest, erregten Widerspruch und empörte Zwischenrufe aus den Reihen der Koalitionsparteien, insbesondere der SPD, gegeben, als der Satz fiel: „Sie liegen auf Anerkennungskurs, Herr Bundeskanzler." Meine Damen und Herren, heute würde dieser Satz niemanden mehr zum Widerspruch reizen, es sei denn, er hätte diesen Vertrag nicht gelesen

(Beifall bei der CDU/CSU)

oder sei ganz einfach blind für das politische Geschehen der letzten drei Jahre.
Was ist denn die „präzise Konsequenz" der Politik des Herrn Bundeskanzlers, von der er selber spricht? Wir haben berechtigte und begründete Sorge bezüglich dessen, was die wirklichen Folgen dieser Politik sind. Wir wollen endlich Klarheit haben über den Unterschied zwischen hohen Worten einerseits, mit denen insbesondere der Herr Bundeskanzler die Herzen und Gemüter zu bewegen weiß, und andererseits dem, was diese Regierung tatsächlich tut und tatsächlich unterläßt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich muß mit Verlaub nochmals einen Vorfall in Erinnerung rufen, der mir wichtig erscheint, selbst wenn er einige Wochen zurückliegt, einen Vorfall, der sich in der Debatte um die so oft berufene Regierungserklärung ereignet hat, einen Vorfall, der mich als Neuling dieses Hauses, so muß ich schon sagen, erschreckt und tief erschüttert hat.

(Abg. Heyen: Sonst sind Sie doch nicht so empfindsam!)

— Warten Sie ruhig ab! Damals hat sich der Herr Bundeskanzler über Herrn Kollegen Windelen empört. Er meinte, aus der Rede des Herrn Kollegen Windelen den Vorwurf entnehmen zu müssen, er, der Bundeskanzler, habe die nationalen Interessen ungenügend vertreten. Ich muß nun wirklich fragen, was eigentlich hier unseres Amtes ist. Über was anderes haben wir denn hier zu sprechen als über das, was die nationalen Interessen sind und wie diese Interessen zu vertreten sind? Über was anders haben wir auch streitig zu verhandeln als gerade über diese Frage?

(Zurufe von der SPD: Wo ist denn Ihre Logik? — Hat er nicht!)

Dies ist doch, meine Damen und Herren, das Parlament eines demokratischen Staates, und hier kann niemand in Anspruch nehmen, kraft seines Amtes Gültigeres und Wahreres über das nationale Interesse festzustellen als irgendein anderes Mitglied dieses Hauses, auch nicht der Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx: Sehr gut!)

Er und seine Regierung haben kraft ihres Amtes lediglich die Macht, ihren Zielvorstellungen zu folgen; und sie haben auf der anderen Seite die Verantwortung für den Weg, den sie gehen. Aber gerade in dieser Verantwortung täte der Herr Bundeskanzler gut daran, das anzuhören, was andere über die Richtigkeit dieser Ziele und der Folgen und auch über die Art und Weise, wie die Ausübung dieses Auftrages geschieht, zu sagen haben.
Nun, meine Damen und Herren, es sieht ja so aus, als habe der Herr Bundeskanzler sich in der Zwischenzeit — vielleicht mit hilfreicher Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des diplomatischen Dienstes — jenen Artikel aus der Zeitschrift „Orbis" sichern können und als habe er auch Zeit gefunden, ihn zu lesen. Der Herr Bundeskanzler hat hier in Antwort auf Herrn Strauß versucht, zu seiner Verteidigung einen breitangelegten Angriff zu starten. Aber dieser Angriff bestand aus nichts anderem als aus einigen abfälligen Bemerkungen zur



Graf Stauffenberg
Person des Verfassers dieses Artikels. Das, was wir vermißt haben, ist eine klare Stellungnahme zum Inhalt jenes Artikels.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Darüber ist nämlich nichts gesagt worden.

Wissen Sie, wir finden diesen Artikel, diesen Bericht nicht so bemerkenswert, weil er im Inhalt etwa irgend etwas Neues brächte.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Er zeigt vielmehr etwas anderes. Er zeigt Logik, er zeigt Folgerichtigkeit für ein gewolltes Ziel, die Logik und die Folgerichtigkeit, meine Damen und Herren, die man beim Herrn Bundeskanzler in der gefälligen Geräuschkulisse eines wohlgetönten Wortgemäldes hier und dort vergeblich sucht. Dieser Artikel zeigt die, wie es der Herr Bundeskanzler selber nannte, „präzise Konsequenz" einer Politik, die er selber begonnen hat und die, ob er es selber will oder nicht, den Abschied von der atlantischen Allianz und von der Einigung der freien Staaten Westeuropas

(Widerspruch bei der SPD)

als den Garanten für die Freiheit diesseits und den Garanten für die Hoffnung jenseits des Stacheldrahtes zur Folge hat.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Lassen Sie mich gleich eines hinzufügen. Nachdem wir die kunstfertige Feinheit mancher Reden kennengelernt haben, ersparen Sie uns bitte, meine Damen und Herren von der Bundesregierung oder von den Koalitionsparteien, die neuerliche Versicherung, daß Bündnis und Europäische Gemeinschaft die Basis Ihrer Politik seien. Wir wollen nicht erneut hören, was die Basis, also die Grundlage und der Ausgangspunkt Ihres Handelns ist; wir wollen die Gewähr, daß die Stärkung des Bündnisses und die Verwirklichung der westeuropäischen Einheit auch Gegenstand, Folge und Ziel dieser Politik sind, meine Damen und Herren. Es ist doch an der Zeit, das endlich einmal klarzustellen!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie werden es mir sicherlich auch nicht verübeln, wenn nach den ersten Auftritten von Herrn Bahr vor diesem Hause mein Vertrauen in die Verhandlungsführung der Bundesregierung, in ihre Gelassenheit und Ausdauer, in ihre Unbeirrbarkeit und ihr Geschick nicht eben gewachsen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Warum hat denn der Herr Bundeskanzler die, wie er es selber nannte, „nationale Tugend der Geduld", der Beharrlichkeit und der Ausdauer, die er selber vom ganzen deutschen Volk verlangt hat, nicht zuerst seinem eigenen Unterhändler abgefordert?

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber mehr noch: Der Bundeskanzler hat die Verhandlungen mit den Machthabern in der DDR so angelegt, daß sie ausgerechnet elf Tage vor der Wahl zu einem Ergebnis führten. Er hat sicherlich auch überlegt, daß der Verhandlungspartner diese Datierung selbst in sein Kalkül aufgenommen hat.
Ich frage nun mit allem Ernst und mit aller Sorge: Kann die Bundesregierung — —

(Zuruf von der SPD.)

— Sie finden das lächerlich; ich finde das nicht lächerlich, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der SPD: Theatralisch!)

Ich frage wirklich mit aller Sorge: Kann der Bundeskanzler, kann die Bundesregierung den letzten Zweifel beseitigen, daß zu einem anderen, zu einem späteren Termin mehr und Besseres hätte erreicht werden können als bis zum 8. November 1972? Kann sie wirklich das letzte Unbehagen ausräumen, daß vielleicht doch der Zeitpunkt Teil und Gegenstand des gesamten Verhandlungspaketes von Leistung und Gegenleistung war?
Ich frage dies, weil ich meine, daß in Fragen von solch zentraler Bedeutung, wie sie in diesem Vertrag behandelt sind, nicht nur das inhaltliche Ergebnis wichtig ist, sondern wichtig sind auch das Wissen und das Vertrauen, daß die Regierung in der Wahrnehmung des gemeinsamen, des nationalen Interesses das Beste zu erreichen versucht hat;
denn auch von diesem Vertrauen lebt die Demokratie. An Ihnen, meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, liegt der Nachweis. Ich meine, Sie täten gut daran, den Nachweis zu führen, daß hier nicht am gleichen Ort und zur gleichen Zeit sowohl deutsche Positionen als auch Wahlerfolge und Wahlaussichten zur Überlegung standen, daß Ihnen nicht doch ein Ergebnis zum gewünschten Zeitpunkt wichtiger war als das beste Ergebnis zu irgendeinem Zeitpunkt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es liegt uns eine eigenartige Sammlung von Angaben und Aussagen vor. Ich möchte nicht im einzelnen darauf eingehen; das wird an anderer Stelle geschehen. Mir scheint doch bemerkenswert und aufschlußreich, was der Bundeskanzler am 5. April selbst dazu sagte — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren —:
Wir haben seit 1970 in jedem Jahr Materialien unterbreitet und diesmal ganz bewußt solche, die uns helfen können, im Zusammenhang mit der zweiten Lesung eine Bestandsaufnahme zu machen.
Das bedeutet in der nüchternen, aber vielleicht auch etwas kräftigeren Umgangssprache: Eine für einen ganz bestimmten und gewollten Zweck bewußt frisierte Angelegenheit und nichts anderes. Auf den Bericht „zur Lage der Nation" warten wir dafür vergebens.
Auf der anderen Seite haben wir in den letzten Monaten sehr, sehr viel von dem Begriff „Nation" gehört. Wir haben gehört, daß die Nation weiterlebe; wir haben gehört, daß sie weiterlebe in der Geschichte, in der Gemeinsamkeit der Sprache, der Kunst, der Kultur, des Alltags — was auch immer das ist. Der Begriff „Nation" als geistiges Erbe hat doch — gerade nach den bitteren Erfahrungen unserer Geschichte — nur einen Sinn: den allen Deutschen gemeinsamen und unaufhebbaren Anspruch, die Unfreiheit zu überwinden und in Frei-



Graf Stauffenberg
heit zu leben; des Unrechts Herr zu werden und das Recht zu gewinnen.

(Zuruf von der FDP: Wie?)

Ich frage: Ist das nicht die einzige und entscheidende Lehre, die wir aus der Geschichte zu ziehen haben, oder wollen Sie, die Sie jetzt erhebend die Geschichte beschwören, uns ausgerechnet jene Jahrhunderte der deutschen Vergangenheit wieder schmackhaft machen, deren Merkmale staatliche Zerrissenheit, Abhängigkeit und Unfreiheit waren?

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703025900
Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Bangemann?

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703026000
Bitte sehr!

Dr. Martin Bangemann (FDP):
Rede ID: ID0703026100
Herr Kollege, könnten Sie mir und dem Hause vielleicht einmal freundlicherweise erklären, wie Sie diese hehren Grundsätze, von denen Sie gerade gesprochen haben, in die Praxis umsetzen wollen?

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703026200
Herr Kollege, ich glaube, daß es andere Völker gegeben hat,

(Lachen bei der SPD)

die sehr viel mehr Ausdauer, sehr viel mehr geschichtliches Bewußtsein

(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! — Polen!)

in der Erringung ihrer Ziele bewiesen haben als wir in diesen 25 Jahren, die wir nun hinter uns haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich glaube, allein ein Blick auf Polen etwa oder auch auf Japan würde Ihnen das eine oder andere vielleicht etwas klarer machen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Anhaltende Zurufe von der SPD.)

Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien — ich komme gleich zu Ihnen —, Sie haben sich zuweilen bzw. des öfteren darin gefallen,

(Zurufe von der SPD)

uns von der Union in die nationalistische und rechtsreaktionäre Ecke zu schieben.

(Zuruf von der SPD: Da stehen Sie doch! Weiterer Zuruf von der SPD.)

— Sie sagen: ich stehe hier! Und ich sage Ihnen dies
— ganz besonders an die Adresse von Herrn Bahr —: Sie können unter Ihrem weiten Mantel ganz getrost alle jene versammeln, die die Einheit der Nation oder ein nationales Hochgefühl über die Sache der Freiheit stellen. Sie selber haben doch im November gesagt: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land!" Das haben Sie dann noch werbewirksam schwarz-rot-gold verbrämt.
Wenn Sie wirklich Ihrer Verantwortung gerecht I werden wollen, meine Damen und Herren,

(Zuruf von der SPD)

dann reden Sie doch bitte zuerst einmal von der Sorge, die Sie angesichts der Lage der Nation erfüllen muß; nennen Sie bitte die Realitäten beim Namen, die Sie sonst so oft im Munde führen, und dann reden Sie bitte erst vom Stolz. Ich glaube, darauf haben wir einen Anspruch.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Freilich, das scheint nicht Ihre Politik, nicht Ihre Linie zu sein.
Sie sagen ja nicht, man müsse die Realitäten nennen, sondern Sie sagen, man müsse sie anerkennen. Das scheint Mode zu sein. Schumacher, Ollenhauer, Erler und auch Herr Wehner haben früher die Zone und auch das, was dort geschieht, beim richtigen Namen genannt.

(Zuruf von der SPD.)

Jetzt gilt anderes, jetzt sind Sie dabei, die DDR anzuerkennen.
Nun, meine Damen und Herren von der SPD, ich gebe Ihnen, die Sie da so unruhig sind,

(Lachen bei der SPD)

ja recht: mit starrem Beharren und Formaljuristerei ist niemandem gedient und wird auch nichts erreicht. Das war auch nie die Politik der Union. Wäre sie es gewesen, hätten wir nicht den Weg nach Europa angetreten, sondern wären damals Ihrem Deutschlandplan gefolgt. Die zwar ungewollte, aber dennoch unabwendbare Konsequenz wäre gewesen: der Weg unter die sowjetische Vorherrschaft, in die kommunistische Knechtschaft — wenn Sie diesen Ausdruck entschuldigen wollen.

(Zurufe von der SPD.)

Natürlich müssen wir beweglich sein. Und wir von der Union waren immer elastisch, wenn es um konkrete Fortschritte für unsere, für die entscheidenden Ziele ging. Und diese Ziele heißen: Freiheit und Frieden und Einheit oder — wenn Sie die alte und immer noch gültige Formel lieber wollen Einheit in Frieden und Freiheit.

(Zuruf von der SPD: Nur haben Sie nichts erreicht!)

Aber, meine Damen und Herren — ich gebe die Antwort , wir waren nie bereit und wir werden auch nie bereit sein, diese unsere Ziele einer Beweglichkeit an sich, sozusagen einem Selbstzweckmobilismus, zu opfern.
Damit wir uns ja nicht mißverstehen, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien: Sie meinen, daß das starre Festhalten an rechtlichen Formeln niemandem nütze. — Richtig! Gleichwohl möchte ich Ihnen sagen: Wir sind nicht bereit, neue Formeln an die Stelle des Rechts zu setzen. Und wir sind nicht bereit, um eines formelhaften Friedens, eines formelhaften Ausgleichs willen das zu ver-



Graf Stauffenberg
schweigen, was das Recht und die Pflicht und der Friede von uns fordern.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Der Vertrag, den die Bundesregierung uns hier präsentiert, verschweigt die Unfreiheit, er legitimiert sie. Er verschweigt die unmenschliche Teilung, er normalisiert sie. Er verschweigt Verbrechen und Mord; der Vertrag nimmt es schweigend hin. Er schweigt über Deutschland und setzt an seine Stelle jene merkwürdige Formel von der unterschiedlichen Auffassung zur nationalen Frage.
Ich gebe Ihnen recht, meine Damen und Herren: Wenn ich vom Recht spreche, weiß niemand und selbstverständlich auch ich nicht, wie scharf eigentlich diese Waffe des Rechts ist, von der einmal gesprochen worden ist. Niemand weiß wohl, wann wirklich — in Antwort auf Herrn Bangemann von vorhin — seine Chance da sein wird, gegen die nackte und gegen die übermächtige Gewalt und gegen Willkür und gegen Zwang. Aber wenn Sie anfangen zu schweigen, dann machen Sie diese Waffe stumpf für immer. Wenn Sie einmal dem Unrecht den Schein des Rechts geben, den Schein der Legitimität, dann wendet sich diese Walte allerdings gegen Sie selbst.
Glauben Sie ja nicht, daß Sie bei dem haltmachen können, was im Verhältnis zu den Machthabern dort drüben gilt, und gleichzeitig den Schirm über geordnete Verhältnisse bei uns halten können. Wann und wo immer Sie dem Unrecht den Mantel dieser Scheinlegitimität umlegen, ermutigen Sie die Friedensbrecher, Sie ermutigen die Apostel der Gewalt, gleich, wo sie leben, hüben oder drüben. Und manche von denen auch herüben fühlen sich durch Sie und Ihre großen Parolen, mit denen Sie Ihre Politik begleiten, ermutigt.
Sie wissen auch, daß ich hier nicht ein schwarzes Bild von einer ungewissen Zukunft male, sondern von dem spreche, was Sie heute vielerorts aus den Zeitungen, und zwar aus Zeitungen jeglicher Richtung und manchmal auch aus den Akten der Gerichte entnehmen können, und daß ich auch von dem spreche, was aus Ihren eigenen Reihen einmal die Schildbürgerei in der Stadt des Hans Sachs genannt worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx: Die wirkliche Mauer steht, die Erinnerung haben sie abgerissen!)

Das hier behandelte Vertragswerk ist das Ergebnis hastiger und ungeeigneter Verhandlungsführung. Es bringt eine ganze Menge Ungereimtes und eine ganze Menge Absurdes. Lassen Sie mich bitte dazu einmal ein Beispiel herausnehmen. Vielleicht kann dies auch der Bestandsaufnahme dienen, von der der Herr Bundeskanzler gesprochen hat.
Da lesen wir, daß in Zukunft in besonderen Ausnahmefällen die Genehmigung der Eheschließung zwischen hüben und drüben erteilt werden könne. Das finde ich fabelhaft. Es steht nicht etwa drin, daß sie zu erteilen ist — nein —, es steht auch nicht drin: in besonderen Fällen — auch nicht —, es steht auch nicht: in Ausnahmefällen — nein —, in
besonderen Ausnahmefällen soll eventuell möglich sein, was nach den Grundsätzen der UN-Menschenrechtscharta ganz selbstverständlich ist!

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Dr. Marx.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703026300
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reddemann?

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703026400
Bitte sehr!

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0703026500
Herr Kollege, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß dieser Vertrag sogar gegen die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen deswegen verstößt, weil er sie mit dieser Vertragsbestimmung eindeutig einschränkt?

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703026600
Danke.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD.)

Ich stimme Ihnen völlig zu und darf dies an genau
diesem Beispiel, das ich eben erwähnt habe, exemplifizieren.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703026700
Herr Abgeordneter Graf Stauffenberg, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Heyen?

Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703026800
Bitte sehr!

Roelf Heyen (SPD):
Rede ID: ID0703026900
Herr Kollege Graf Stauffenberg, haben Sie schon einmal den Versuch unternommen, in der DDR mit den Menschen selbst über diesen Vertrag zu sprechen, um sich ein Bild darüber zu machen, was diese Menschen darüber und über die Politik der Vergangenheit denken?

(Beifall bei der SPD.)


Graf Franz Ludwig Schenk von Stauffenberg (CSU):
Rede ID: ID0703027000
Danke sehr. Ich darf Ihnen gleich die Antwort darauf geben. Viele Menschen in der DDR begrüßen diesen Vertrag, weil sie ganz große Hoffnungen in ihn setzen, und es ist unsere Aufgabe, hier zu untersuchen, wie berechtigt diese Hoffnungen sind. Wir haben bei dieser Untersuchung die ernste Sorge, daß diese Hoffnungen, die hier geweckt worden sind, und zwar manchmal über das Maß der Verantwortlichkeit hinaus, eben nicht berechtigt sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Lassen Sie mich noch einmal auf die Frage der Genehmigung für die Eheschließung in besonderen Ausnahmefällen zurückkommen. Ich habe mich natürlich gefragt, warum, wenn also auch in Zukunft ebenso wie bisher in ganz seltenen Fällen diese Genehmigung eventuell erteilt werden kann, diese Bestimmung dann überhaupt in dem Vertragswerk steht. Ich habe mich gefragt, ob denn die Bundesrepublik selber die Eheschließung jemals diesen Genehmigungen unterworfen hat. Das hat sie natürlich keinesfalls. Wir haben niemals das DDR-Regime



Graf Stauffenberg
daran gehindert, solche Eheschließungen zu genehmigen. Bisher war es den DDR-Behörden auch nicht versagt, solche Genehmigungen nach Belieben zu erteilen. Aber auch in Zukunft und darauf kommt es an — sind die DDR-Behörden nicht daran gehindert, nach Willkür und Belieben diese Genehmigung zu erteilen oder nicht.
Also warum jener seltsame Passus? Ich habe eigentlich keine Erklärung. Es sei denn, diese Bestimmung — das ist meine Antwort auf die Frage des Herrn Reddemann im Vertragswerk soll uns daran hindern, von den DDR-Behörden das zu verlangen, was gemäß den Zielen und Grundsätzen der UN primitivstes Recht der Menschen ist, der beizutreten sich jetzt die DDR durch Ihren Beistand, meine Damen und Herren von der FDP und SPD, anschickt. Ich kann nur sagen: ich gratuliere herzlich, Herr Minister Bahr.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.— Zurufe von der SPD.)

Es bedarf schon einer besonderen dialektischen Schulung, zu begreifen, daß ein Vertrag, der die Trennung besiegelt, die nationale Einheit fördern soll, daß ein Vertrag, der Schießbefehl und Willkür als geachtete Hoheitsgewalt hinnimmt, dem Frieden und dem Fortschritt dienen soll. Ich beherrsche diese Dialektik nicht.
Ich zitiere nochmals die Regierungserklärung. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten wörtlich zitieren —:
Wie in der Deutschlandpolitik werden wir auch anderweitig lernen müssen, neue Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, und
— so wörtlich —
uns durch sie nicht beugen lassen.
Regierungserklärung vom 18. Januar. Hohe Worte, sicherlich, und auch neue für den, der gut zuzuhören weiß. Ich habe über diese Worte sehr lange nachgedacht.

(Zurufe von der SPD.)

Ich habe sie immer und immer wieder gelesen. Ich habe auch an den Herrn Bundeskanzler und an seine Amtszeit in Berlin gedacht. Damals war er ein sehr mutiger und fester Anwalt für die Freiheit der Berliner; das bleibt sein ungeschmälertes Verdienst.

(Zuruf von der SPD: Unverschämt!)

— Sie werden doch nicht sagen, daß es unverschämt ist, wenn ich dies würdige.
Aber wie steht es denn jetzt um die Politik der letzten Jahre? Der Bundeskanzler sagte — er sagte es jetzt —, wir sollten die neuen Realitäten zur Kenntnis nehmen und uns durch sie nicht beugen lassen. Aber der Herr Bundeskanzler hat sich doch beugen lassen. Er hat sich vor dem gebeugt, was er die Realitäten genannt hat, und Sie, die Bundesregierung, die Koalitionsparteien haben sich vor dem gebeugt, was Sie Realitäten nennen. Sie haben resigniert vor der Gewalt und der Macht. Sie haben Ihren
lieben Frieden mit denen gemacht, die den Frieden verhindern, und nennen dies jetzt Friedenspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie haben doch selbst auf die Waffe des Rechts verzichtet und haben Tür und Tor für jene geöffnet, die die Unfreiheit und das Unrecht auch hierher bringen und hier vertreten wollen. Der Herr Bundeskanzler, wenn es ihm ernst gewesen wäre mit jenem Satz, hätte dann sogar vor seinem eigenen Wort versagt.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703027100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Flach.

Karl-Hermann Flach (FDP):
Rede ID: ID0703027200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Ausführungen des Kollegen Stauffenberg möchte ich mich zunächst in aller Form gegen die Behauptung verwahren, daß es in dieser Regierung, in dieser Koalition oder überhaupt in diesem Hohen Hause Mitglieder gebe, die bereit seien, Unrecht den Schein der Legitimität zu geben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wenn wir auf dieser Basis die Diskussion in diesem Hause fortsetzen, werden wir dem im Grunde immer wieder angesprochenen Ziel, wenigstens ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit herbeizuführen, keinen einzigen Schritt näherkommen.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es geht doch nicht darum darüber könnten wir
uns natürlich schnell wieder einigen —, zu großen, gemeinsamen, pathetischen, moralischen Appellen zusammenzutreten, sondern es geht darum, nach Jahrzehnten endlich ein kleines Stückchen in Deutschland und in Europa weiterzukommen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

In dieser Hinsicht — das hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen heute morgen bereits betont — können wir natürlich auch den Grundlagenvertrag und den Gesetzentwurf zum Beitritt zur Charta der Vereinten Nationen nicht isoliert betrachten, sondern wir müssen beides als wichtige Steine im Mosaik einer Außenpolitik sehen, zu der die Verträge von Moskau und Warschau ebenso gehören wie der zu erwartende Vertrag mit der Tschechoslowakei und zu der am Ende auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Ungarn und Bulgarien gehören wird.
Diese Politik bewirkt zunächst nichts anderes als die Beseitigung eines gefährlichen Staus in der deutschen Außenpolitik. Sie ist keine Neuorientierung und schon gar keine Umorientierung, sondern bedeutet die Einordnung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland und auch die Einordnung der nationalen Interessen des deutschen Volkes in die Bewegungen innerhalb des westlichen Bündnisses und in die Ströme der Weltpolitik. Durch diese Bonner Ostpolitik ist gerade das westliche Bündnis bewegungsfähiger geworden. Es kann elastisch im



Flach
großen West-Ost-Dialog reagieren, ohne Gefahr zu laufen, dabei brüchig zu werden.
Diese Politik war auch die Voraussetzung für die Fortschritte auf dem schwierigen Weg der europäischen Einigung, die immerhin in letzter Zeit gemacht werden konnten. Dieses westliche Bündnis und diese europäische Einigung wären am Ende bedroht, wenn ein Partner glaubte offene Grenzfragen in dieses Bündnis einführen und damit Risiken hineinbringen zu können, die die Partner als unzumutbar empfinden müssen.
Diese von den maßgebenden Kräften beinahe in der ganzen Welt als richtig und notwendig erkannte Aufarbeitung von Versäumnissen der Vergangenheit und die Einordnung der deutschen Politik in die Weltpolitik wird in der Tat von zwei Irrtümern begleitet, auf die ich hinweisen möchte, Irrtümer, die sowohl innerhalb als auch außerhalb dieses Hauses vorhanden sind. Der erste Irrtum, der auch in dieser Debatte immer wieder durchgeklungen ist, besteht darin, daß einige von uns immer noch glauben, diese Politik der West-Ost-Entspannung wäre ohne oder gegen die DDR möglich. Dies ist nach Lage der Kräfteverhältnisse und nach den aeoaraphischen Verhältnissen eben nicht möglich. Mit dieser Illusion wäre die gesamte Politik gescheitert, und zwar mit allen Folgen einer außenpolitischen Isolierung der Bundesrepublik. Diese Politik wird selbstverständlich mit Enttäuschungen und Rückschlägen verbunden sein.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703027300
Herr Abgeordneter Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger (Wangen) ?

Karl-Hermann Flach (FDP):
Rede ID: ID0703027400
Ja.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703027500
Herr Kollege Flach, können Sie mir sagen, wie die Frage, die Sie soeben an uns gerichtet haben, nämlich ob wir glaubten, eine Entspannung sei heute noch an der DDR vorbei oder gegen sie möglich, angesichts der ganzen Politik zu verstehen ist, die die DDR in den vergangenen Monaten betrieben hat und die wir doch alle in diesem Hause als ausgesprochen entspannungswidrig und entspannungsfeindlich ansehen mußten, und zwar sowohl an unseren Grenzen als auch in der Frage der menschlichen Erleichterungen, deren Beschränkung wir immer wieder beanstandet haben? Nennen Sie das Entspannungspolitik?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Karl-Hermann Flach (FDP):
Rede ID: ID0703027600
Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Es kommt nicht darauf an, ob sich die DDR in der einen oder anderen Frage jetzt entspannungsfeindlich verhält, sondern es kommt darauf an, ob wir in der internationalen Diskussion aus der Ecke herauskommen, ein Störenfried der internationalen Entspannung zu sein, und ob sich die DDR möglicherweise in diese Ecke hineinmanövriert.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Keiner von uns hat diese Politik mit Illusionen begonnen. Wir wissen, daß die eine oder andere Enttäuschung und der eine oder andere Rückschlag eingebaut sind. Wir haben von einem steinigen Weg gesprochen. Diese Rückschritte — auch die, die Sie hier soeben angeführt haben — dürfen uns aber nicht dazu verführen, auf dem Wege einer als richtig erkannten und richtig angelegten Gesamtpolitik dann auf der halben Strecke steckenzubleiben.
Wenn wir das täten, arbeiteten wir nur den Kräften — auch in der DDR in die Hände, die der Herausforderung dieser Entspannungspolitik nicht gewachsen sind oder sich ihr nicht gewachsen fühlen, die am liebsten wieder das westliche Bündnis durch divergierende Interessen durcheinanderbringen wollen, die die Bundesrepublik am liebsten wieder zum Buhmann in der weltpolitischen Diskussion aufbauen wollen,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

die die Bundesrepublik am liebsten wieder in eine Lage brächten, in der sie auch von wesentlichen Strömungen der öffentlichen Meinung ihrer eigenen Verbündeten und der dritten Welt isoliert wird.

(Abg. Probst: Die an der Unfreiheit nicht schuldig werden wollen!)

— Es geht doch nicht immer nur um diese moralische Kategorie von Schuld und Nichtschuld, von Schuld und Sühne. Es geht darum, eine reale Politik zu betreiben, die uns in einem widerspruchsvollen Prozeß wenigstens Stück für Stück weiterbringt, die den Frieden hier in der Mitte Europas sicherer macht, die die nationale Frage offenhält und die menschliche Erleichterungen schafft. Allein darum geht es!

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Probst: Selbsttäuschung!)

Niemand hat die Illusion, daß mit dem Grundlagenvertrag die Probleme des geteilten Deutschland zufriedenstellend und dauerhaft gelöst werden können. Er schafft erst die Voraussetzungen dafür, daß sich überhaupt eine Lage unter günstigen Umständen entwickeln kann, in der man in diesen Fragen ein kleines Stück weiterkommt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht einmal ,das ist gesichert!)

Meine Damen und Herren von der Opposition, dieses ist doch auch für uns keine Stunde des Triumphs und keine Stunde, um Jubel vonstatten gehen zu lassen. Dies ist auch für uns eine Stunde bitterer Wahrheiten, deren Erkenntnis uns aber erst frei macht, um in der nationalen Sache ein Stückchen weiterzukommen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Probst Illusionär!)

— Nein! Die entscheidende Frage ist nicht die nach dem einen oder anderen Rückschlag und nicht die nach der einen oder anderen Enttäuschung, sondern die entscheidende Frage ist die nach der Alternative zu dieser Gesamtpolitik. Bis zu dieser Stunde hat die Opposition in dieser gesamten Debatte



Flach
nicht eine einzige konstruktive Alternative zu dieser Politik aufgezeigt. Solange sie das nicht kann, ist es geradezu Pflicht der Regierungsparteien, diese Politik konsequent fortzuführen.
Ich sage eines ganz offen: Ich habe es als ein wenig schmerzlich empfunden, welches Interesse, welches Engagement und auch welche Bewegung in diesem Haus vorhanden waren, als es um das Geld ging, und welches geringere Interesse und geringere Engagement demgegenüber spürbar sind, wenn es um die Nation geht.

(Beifall.)

Ich will Ihnen auch sagen, woran das meiner Meinung nach liegt. Das liegt letzten Endes daran, daß wir über Jahre und Jahrzehnte hinweg eine so starke Lücke zwischen Anspruch und Möglichkeit, zwischen dem, was vorgegeben wurde, und dem, was erreicht werden konnte, geschaffen haben, daß diese Frage einfach nicht mehr so stark im Mittelpunkt der Gefühle und des Denkens der Menschen steht.
Ich behaupte: Allein beispielsweise die Begegnung von Erfurt, an der ich noch als Journalist teilzunehmen das Glück hatte, hat für den Zusammenhalt der deutschen Nation mehr gebracht als alle moralischen Appelle und Rechtspositionen in der Zeit davor.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Warum wird es weiterhin Ärger geben, und warum wird es in dieser Politik Rückschläge geben? Für die DDR ist die Anpassung an die neuen internationalen Gegebenheiten viel schwieriger als für uns. Wenn bei uns Feindbilder zerbrechen, dann stört das vielleicht den einen oder anderen in seinem seelischen Gleichgewicht, wie ich einigen Reden hier entnehmen mußte, aber dann gefährdet das nicht das Gesamtverständnis unserer Politik und unseres Systems. Drüben sind die Kräfte in der Administration und im Parteiapparat sehr stark, vor allen Dingen auf der mittleren und der unteren Ebene, die der Herausforderung dieser Entspannungspolitik nicht gewachsen sind oder sich nicht gewachsen fühlen, die die Welt ebenso, wie sie sich jetzt verändert, auch nicht mehr recht verstehen und die die Entspannung im Verhältnis zur Bundesrepublik mit allen möglichen Mitteln und Maßnahmen zu bremsen versuchen. Das führt zum Teil zu kuriosen Kapriolen und merkwürdig restriktiven Umwegen in der Handhabung der Politik, die wir vereinbart haben.

Dr. Hermann Schmitt (SPD):
Rede ID: ID0703027700
Herr Abgeordneter Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka?

Karl-Hermann Flach (FDP):
Rede ID: ID0703027800
Ja.

Dr. Herbert Hupka (CDU):
Rede ID: ID0703027900
Würden Sie die Politmitglieder Hager, Norden und Axen auch nur für das mittlere und untere Geschoß der Administration drüben halten?

Karl-Hermann Flach (FDP):
Rede ID: ID0703028000
Das werde ich ganz sicher nicht. Ich habe deswegen „vor allem" gesagt, weil nämlich die Anpassung an neue Gegebenheiten und die Umstellung auf eine neue Herausforderung der Politik für solche mittleren und unteren Funktionäre noch viel schwieriger sind als für die dogmatischen Kräfte in der Führung, die es selbstverständlich auch gibt und die selbstverständlich auch eine solche Politik bremsen wollen.
Aber, Herr Kollege Hupka, diese dogmatischen unbeweglichen Kräfte setzen doch ihre Hoffnungen im Grunde heute darauf, daß der Grundlagenvertrag scheitert oder wenigstens verzögert wird. Sie sollten alles tun, um nicht von Ihnen aus die Hoffnung dieser Kräfte zu nähren und unbewußt und ungewollt ihre Politik zu betreiben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Maximalisten in der Deutschlandfrage haben sich auf beiden Seiten zu lange unbewußt die Bälle zugespielt und damit erreicht, daß die europäische Politik und die deutsche Frage blockiert wurden, als daß wir dies weiter gestatten könnten. Alle politischen Kräfte in diesem Hause sollten ihre Energie besser darauf konzentrieren, gemeinsam die Vertragspartner zur Einhaltung der Vereinbarungen dem Geist und dem Buchstaben nach zu veranlassen, dies auch taktisch geschickt und klug zu tun und nicht, indem man nur immer laut herausschreit. Wir sollten unsere weltweiten Verbindungen nutzen, damit das geschieht.
Ich vertraue darauf, daß es Lernprozesse hüben und drüben geben wird. Die DDR wird und muß eines Tages erkennen, daß es in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt, sich nicht selbst durch hinhaltende und restriktive Handhabung der Verträge in die Ecke des Störenfrieds der europäischen Entspannung zu manövrieren.
Für die Bundesrepublik gibt der Grundlagenvertrag endlich die Möglichkeit, in Wahrnehmung ihrer Interessen und in Gestaltung ihrer Beziehungen nicht länger durch krampfhaftes Festhalten an überholten und nicht durchsetzbaren Positionen eingeengt zu sein. Wir sollten uns doch endlich einmal von dieser defensiven Haltung befreien, die Jahrzehnte der Politik bestimmt hat und bei der manchen unserer Diplomaten schon das das Cocktailglas aus der Hand fiel, wenn einmal ein DDR-Diplomat erschien. Es ist doch hier mehrfach betont worden: Wir brauchen den Wettbewerb um die Ordnung und um die Ordnungssysteme nicht zu scheuen. Wer von der Überlegenheit der Freiheit und von der Kraft der Freiheit von Grund auf überzeugt ist, der braucht sich nicht defensiv zu verhalten, der braucht auch nicht in kleinliche Prestige- und Abgrenzungsdiskussionen zu gehen. Diese krankhafte Furcht und diese Abgrenzungsneurose sollten wir ruhig denen überlassen, die es nötig haben, nämlich bestimmten Kräften in der DDR.

(Abg. Jäger [Wangen] : Das ist leider die Blindheit der Koalition, die Blindheit gegenüber den Realitäten in Deutschland!)

Betrifft der eine Irrtum die Annahme, diese Gesamtpolitik wäre ohne oder gegen die DDR möglich,



Flach
so gibt es auch auf der anderen Seite einen Irrtum, der diese Politik begleitet und der weniger in diesem Hause als draußen vorhanden ist, nämlich der, die Bundesrepublik könne eine solche Politik jemals im Alleingang machen. Es macht mir Sorgen, daß das wieder stärker wird, auch bei dem jüngeren Teil unserer Bevölkerung, nämlich eine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und eine Überschätzung der Rolle und der Kraft des eigenen Landes, die einstmals in dem verhängnisvollen Satz gipfelte: Am deutschen Wesen wird die Welt genesen. Das habe ich auch in dem Artikel gemeint, den der Kollege Strauß hier zitiert hat, dem Artikel in der „Welt der Arbeit", nämlich, daß man glaubt, Zensuren und moralische Belehrungen über die ganze Welt hin verteilen zu müssen, als ob ausgerechnet die Geschichte des eigenen Volkes so frei von Irrtümern, von Fehlern und Verbrechen sei, daß wir uns zum Lehrmeister der Nationen eigneten.
Wer mit Recht gegen einen weitgehend gängigen Antikommunismus einen primitiven Antikommunismus, meine ich — in der Bundesrepublik angeht, sollte sich davor hüten, in einen unreflektierten Antiamerikanismus zu verfallen. Denn diese merkwürdige Mischung von Geschichtslosigkeit und echtem moralischen Engagement, von intellektueller Arroganz und gutem Willen, von Theorieanbetung und Empireverachtung, von Friedenswillen nach außen und Aggressionsbereitschaft nach innen könnte dazu führen, diese unsere Entspannungspolitik falsch zu verstehen. Sie könnte die Interessen des eigenen Landes unterbewerten, das Potential der anderen Seite übersehen und das A und O aller Entspannungspolitik vergessen, nämlich die Notwendigkeit eines Mindestgleichgewichts der Kräfte in einem Raum.
Meine Damen und Herren, die Opposition ist geneigt, diese Strömungen als Folge der Entspannungspolitik der Bundesregierung und der Koalition darzustellen. In Wahrheit, glaube ich, ist dies der Reflex auf eine mit anderen Vorzeichen ideologisch betriebene Ostpolitik, nämlich in der Zeit des kalten Krieges. Die damals übliche Verteufelung des potentiellen Gegners hat im psychologischen Umkehrschluß zu dem Trugschluß geführt, es gebe überhaupt keine Machtpolitik mehr auf dieser Welt oder man könne sie allein mit moralischem Engagement überwinden. Das heißt, eine zeitweise ideologische, von Kreuzzugsideen und falsch angewandten abendländischen Geschichtsbildern betrachtete Außenpolitik hat im Augenblick ihres Versagens eine wiederum — mit umgekehrten Vorzeichen — ideologisch bestimmte Außenpolitik als Wunschtraum geboren, die dem Irrtum huldigt, Spannung und Konflikt, Entspannung und Friede seien allein Funktionen gesellschaftlicher Prozesse und Produktionssysteme.
Außenpolitik läßt sich aber auf eine illusionslose Einschätzung der Kräfteverhältnisse und der offenen und verdeckten Interessen der Beteiligten stützen.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein]: Sehr richtig!)

Ich behaupte: Es ist das große Verdienst der Bun-
desregierung unter Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel, diese Betrachtung der Außenpolitik durchgesetzt zu haben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Selbstverständlich ist das erste Ziel einer solchen Politik die Friedenssicherung, aber nicht allein durch moralischen Appell und schon gar nicht etwa durch eigene Wehrlosigkeit, sondern durch Schaffung von Gleichgewichtsverhältnissen und politischen Rahmenbedingungen, die Friedensbewahrung zum Hauptinteresse aller potentiellen Konfliktspartner werden läßt. Sie kann im Zeitalter kontinentaler und weltweiter Kooperationen von einer mittleren Macht wie der Bundesrepublik nicht im Sinne eines nationalen Neutralismus geführt werden, sondern einzig und allein im Verein mit den Bündnispartnern, wie das Schritt für Schritt und Folge für Folge geschehen ist.
Denn selbstverständlich darf eine sinnvolle Friedenspolitik niemals ein Machtvakuum entstehen lassen, in das sich in einer bestimmten — nicht aktuellen, aber vielleicht denkbaren — Situation Hegemoniebestrebungen und Expansionsdrang hineinentladen könnten.

(Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] : Sehr richtig!)

Insoweit wäre es auf übersehbare Zeit auch illusionär, eine europäische Friedenssicherung ohne oder gegen die Vereinigten Staaten von Amerika erreichen zu wollen. Das müssen und werden auch die einsehen, die zu einer Liebeserklärung an die USA im Augenblick weder bereit noch in der Lage sind.
Wir müssen also die Irrtümer, die diese Politik begleiten, nach beiden Seiten hin überwinden, sowohl den Irrtum, als sei diese Politik unter Ausklammerung der DDR möglich, wie den anderen — der nicht in diesem Hause, aber im Lande hier und dort vertreten wird —, als sei sie ohne die Amerikaner möglich. Wenn wir das tun, dann nähern wir uns dem Zustand einer nüchternen, illusionslosen, abwägenden, von ideologischen und emotionalen Bindungen freien Außenpolitik, dem Idealzustand einer Außenpolitik überhaupt. Ich finde, auch in unserer heutigen Diskussion ist zuviel Gefühlsmäßiges, zuviel Emotionales, ein wenig zuviel Historisches und Rechtliches immer wieder durchgeklungen, was davon ablenken und abhalten könnte, das Realistische, Nötige und Richtige zu tun.
Aber eins geht wirklich nicht und gefährdet am Ende die Restbestände einer gemeinsamen Haltung in den Lebensfragen der Nation, nämlich diese illusionslose, auf eine nüchterne Kräfteeinschätzung beruhende Politik, die Gewicht und Gegengewicht durchaus zu setzen imstande ist, als Funktion und als Teil einer großangelegten kommunistischen Strategie zu denunzieren, wie es der Kollege Strauß gestern getan hat. Wenn wir auf diese Weise diskutieren und wenn wir uns auf dieses Niveau einlassen, dann besteht in der Tat die Gefahr, daß wir uns in diesem Hause vollends auseinanderreden und am Ende nicht den Interessen unseres Landes dienen. Man kann nicht auf der einen Seite Gemeinsamkeit fordern und auf der anderen Seite einen Ton in



Flach
diese Debatten hineinbringen, der Gemeinsamkeit einfach unmöglich macht.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die heutige Politik ist im Gegensatz zu der Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte elastisch und dynamisch, sie ist eben nicht statisch und starr. Sie führt endlich zu einer Übereinstimmung von Zielen und Mitteln. Denn es war eine der größten Gefahren der vergangenen Jahre, daß Ziele und Mittel nicht mehr übereinstimmten, daß man auf der einen Seite verbal immer wieder die Wiedervereinigung beschwor, aber real eine Politik betrieb, die immer wieder von dieser Wiedervereinigung weggeführt hat, daß man jene Widersprüchlichkeit herstellte, indem man die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 als real ausgab und gleichzeitig als bedeutenden Erfolg feierte, daß die Russen nicht bereits am Rhein stehen, daß man auf der einen Seite die nationale Einheit in den Vordergrund der Aussagen stellte und auf der anderen Seite zur damaligen Zeit den Weg der Westeuropäischen Union ging, der natürlich diesem Ziel nicht näherführen konnte.
Wo wären wir — das sollten wir uns vielleicht einmal vorstellen —, wenn die Weltpolitik sich so weiterentwickelt hätte, wie sie sich in den letzten Jahren weiterentwickelt hat, und die Bundesrepublik auf dem Stand von Alleinvertretungsanspruch, Hallstein-Doktrin und dem Operieren mit dem Begriff von sogenannten Phänomenen stehengeblieben wäre? Ich glaube, jedermann kann übersehen, daß die Bundesrepublik in eine unerträgliche Position hineingekommen wäre und keines ihrer entscheidenden Ziele — die europäische Einigung, das westliche Bündnis, die deutsche Einheit — in irgendeiner Form hätte erreichen können. Die Politik dieser Regierung hat die Bundesrepublik vor Schaden bewahrt. Sie wäre ohne die Ratifizierung des Grundlagenvertrages und des Beitritts zu den Vereinten Nationen Stückwerk. Wir sollten uns bemühen, sie illusionslos zu vollenden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703028100
Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.

(Abg. Reddemann: Bei Ihnen hat man wohl keine Redner mehr! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Mattick zweite Auflage!)


Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703028200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, auf die Ausführungen des Herrn von Stauffenberg weiter einzugehen. Ich glaube, seine Rede hat die Not der CDU ausgedrückt, und damit soll sich die CDU auseinandersetzen.

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.)

Mir liegt nur daran, an seine letzte Bemerkung anzuknüpfen, die Bundesregierung habe — so sagte er wörtlich — „ihren lieben Frieden gemacht mit denen, die den Frieden verhindern".
Da fiel mir ein, daß eine Bundesregierung einmal ihren „lieben Frieden" gemacht hat, als es um Berlin ging: bei dem ersten Konsularabkommen unter Staatssekretär Lahr. Damals sagte man uns Berlinern, es sei uns doch wohl zuzumuten, auf einen Bundespaß und die Vertretung durch Bonn zu verzichten, wenn wir in die Ostblockstaaten fahren wollen. Das wollte ich auch Herrn Amrehn auf Grund seiner gestrigen Rede noch einmal in Erinnerung rufen.
Den „lieben Frieden" hat der Herr Bundeskanzler damals gemacht, als der sowjetische Botschafter einige Tage nach dem Bau der Mauer bei ihm war und die Besprechung laut Presse eingeleitet wurde mit dem Bemerken des Herrn Bundeskanzlers: Besondere Probleme zwischen der Bundesregierung und der sowjetischen Regierung gibt es wohl zur Zeit nicht. Das war „lieben Frieden machen", wenn solch ein Ausdruck in diesem Zusammenhang schon berechtigt ist.
Meine Damen und Herren, die Not der CDU liegt in der Vergangenheit. Warten war keine Politik, und Sonntagsreden brachten keine Klärung. Die CDU ist ohne Alternative. Sie sagt nein zu dem Vertrag mit der Behauptung, sie würde einen besseren Vertrag ausgehandelt haben nachdem sie selbst 20 Jahre gar nichts getan und dabei auch gar nichts erreicht hat!

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Jäger [Wangen] : Das ist die Unwahrheit!)

Wir sagen ja zum Vertrag in dem Wissen, daß er ein Schritt ist

(Abg. Reddemann: Ein Schritt zurück!)

auf dem Wege zu zweckmäßigen Veränderungen. Er ist kein Ende und kein Abschluß. Er soll Dinge regeln, die notwendig sind, um überhaupt Bewegung nach vorn in die deutsche Politik zu bringen. Der Streit, der hier heute und gestern ausgetragen wurde, der Streit um die Vollkommenheit dieses Vertrages, ist meiner Ansicht nach unpolitisch. Er ist engstirnig juristisch oder — was ich mehr annehme von seiten der CDU nur eine Ausrede.
Nein zum Grundvertrag heißt nein zu den Möglichkeiten, die nach dem Versagen in der Vergangenheit noch übriggeblieben sind, heißt Absage an unsere befreundeten Mächte und heißt vor allen Dingen ein Imstichlassen der Menschen in dem anderen Teil Deutschlands und zwischen beiden Teilen Deutschlands.
Die CDU, meine Damen und Herren, sagt nein zum Beitritt in die UNO — wegen der DDR. Die CDU weiß, daß zwei Drittel der Mitglieder der UNO in dem Sinne, in dem die CDU die DDR als Mitglied der UNO ablehnt, nicht in der UNO sein dürften. Wer in den afrikanischen Gebieten ist denn nach Ihrer Meinung reif für die UNO? Wer ist denn nach Ihrer Meinung in Südamerika reif für die UNO? Wer ist denn nach Ihrer Meinung reif für die UNO in den Ostblockländern oder in Spanien, Portugal und Griechenland, wenn Sie die Frage der Mitgliedschaft in der UNO so sehen?

Mattick
Die CDU weiß, daß der Beitritt zur UNO sowohl für die DDR als auch für die Bundesrepublik keine Auszeichnung bedeutet, sondern das Ende einer Periode, nämlich der Nachkriegsperiode mit ihrer Diffamierung der Kriegsgegner.
Die UNO ist keine Anstalt einer moralischen Gemeinsamkeit oder einer moralischen Gemeinschaft. Die UNO ist eine Gemeinschaft mit dem Ziel, eine friedliche Welt zu entwickeln. Daher sind auch so viele Staaten in der UNO, die z. B. in bezug auf die Menschenrechte eigentlich gar keine Beziehung zu dieser UNO haben. Das müßten Sie sehen, wenn Sie die Frage der Mitgliedschaft in der UNO untersuchen.
Die UNO sollte eine Verpflichtung für ihre Mitglieder werden, und in diese Verpflichtung tritt dann auch die DDR ein, und in diesem Sinne ist die DDR dann auch zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie Mitglied der UNO geworden ist. Und ich glaube, wir selbst werden dann, wenn wir in der UNO sind, auch eine neue Plattform der Auseinandersetzung über die Frage der Menschenrechte überhaupt haben.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703028300
Herr Mattick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?

Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703028400
In dem Falle nicht gern, aber bitte!

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Abg. Reddemann: Ich verstehe Sie ja vollkommen, Herr Kollege Mattick, aber darf ich trotzdem die Frage stellen?)

— Sie können mich gar nicht verstehen, so weit sind wir in unserer Gesinnung auseinander.

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0703028500
Ja gewiß, Herr Kollege Mattick; früher waren Sie ja auch mehr meiner Meinung. — Ich darf jetzt trotzdem die Frage stellen: Wenn Sie hier schon die Auffassung vertreten, daß zwei Drittel aller UNO-Mitglieder nach den Kriterien der Menschenrechte nicht in die UNO gehören, wie wollen Sie dann die DDR in die Pflicht der Menschenrechte nehmen, wenn sie in die UNO eintritt?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0703028600
Weil ich dies wie auch alles andere in der Politik und in unserem Handeln als einen Prozeß ansehe, Herr Reddemann.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Und wer diesen Prozeß nicht beginnt, der führt ihn auch nicht zu Ende.
Meine Damen und Herren, die CDU sagt Nein zum Grundvertrag — und die CSU zum Beitritt zur UNO —, weil sie glaubt, das Berlin-Problem sei nicht vollkommen geregelt. Das Wichtigste aber für die Berliner ist in dieser Phase der deutschen Politik die Solidarität, die Solidarität aller deutschen Institutionen, Vereine und Kreise, die in das Problem einbezogen sind, sich gegenüber der DDR und den Ostblockländern zu engagieren und dabei
zu wissen, wie sie sich in der Berlin-Frage zu verhalten haben — das heißt: zu Berlin zu stehen oder nicht zu stehen.
Rechtlich ist die Position Berlins so gut geregelt, wie es nach der Entwicklung bisher überhaupt möglich war. Mehr war nicht zu erreichen.

(Zuruf von der CDU/CSU: In dieser Zeit!)

Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zu dem machen, was gestern gesagt worden ist. Hier ist die Frage gestellt worden, was die Bundesregierung früher alles für Berlin getan hat, und hier ist von Herrn Amrehn die Lage so dargestellt worden, als sei, gemessen an den früheren Leistungen, die Lage Berlins eher schlechter als besser geworden. Herr Dr. Gradl soll in meiner Abwesenheit heute eine Bemerkung dazu gemacht haben, wie ich auf diese Behauptung von Herrn Amrehn reagiert habe. Ich möchte hier ohne jede Härte und ohne jede Polemik wiederholen: Herr Amrehn, ich fand diese Rede gestern nach dem, was wir gemeinsam in und um Berlin und im Kampf in und um Berlin erlebt haben, von Ihrer eigenen Einsicht in die Wirklichkeit her in einem Ausmaß deplaciert, daß ich mir eine solche Antwort nicht ersparen konnte.
Unsere Auseinandersetzung um Berlin — ich erinnerte eben z. B. an das Konsularabkommen — hat ihren Ursprung doch in der Frage, in welchem Umfang die erste Bundesregierung Adenauer überhaupt bereit war, Berlin in den Rahmen der Bundesrepublik mit einzubeziehen, und zwar noch in einer Lage, als vieles, vieles offen war. Sehen Sie, ich habe hier bei der damaligen Auseinandersetzung um die Ostverträge daran erinnert — von Ihnen ist niemand darauf eingegangen —, daß Kennedy 1960, als Adenauer in Washington war — das war noch vor dem Bau der Mauer —, den Bundeskanzler vor seiner Zurückhaltung in einigen deutschen Fragen gewarnt und ihm Vorschläge gemacht hat, was zu tun wäre, um in einigen Fragen einen Schritt weiterzukommen. Ich will das hier nicht noch einmal zitieren; es steht in einem Protokoll.
Jetzt erscheinen die Memoiren von Macmillan. Er schreibt in seinem Buch — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —:
Präsident Kennedy rief mich am 9. November an, um meinen Rat darüber einzuholen, wie er sich Adenauer gegenüber verhalten solle, wozu er ihn im einzelnen zu überreden versuchen solle. Ich erwiderte: Nun ja, Herr Präsident, ich würde vorschlagen, daß Sie soviel Druck auf Adenauer ausüben, wie Sie können, und ihm begreiflich machen, daß die Möglichkeit eines Geschäfts besteht; daß er aber natürlich auch zu geben und nicht nur zu nehmen hat.
Macmillan erwähnt als erstes die Oder-Neiße-Linie. Das hat Kennedy dem Bundeskanzler damals auch gesagt. Macmillan schreibt weiter:
... zweitens irgendeine Formel, die auf ein beträchtliches Maß an De-facto-Anerkennung der



Mattick
DDR hinausläuft; ... drittens meine ich, muß Adenauer anerkennen, daß politische Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik aufgegeben werden müßten, daß aber die wirtschaftlichen und finanziellen Bindungen sogar noch verstärkt und erweitert werden könnten.
Macmillan schreibt zum Schluß:
Adenauer muß begreifen, daß bei einem solchen Geschäft jetzt die Möglichkeit bestünde, die Berlinfrage fest in den Griff zu bekommen und stetig festzulegen.
Dieses hat Präsident Kennedy dem Bundeskanzler Adenauer damals gesagt. Ich weiß: Wir wußten alle nichts davon, auch der damalige Außenminister wußte von diesem Gespräch nichts. Macmillan hat das noch einmal bestätigt. Berlin wäre weiter und wir hätten nicht auf die Bundesregierung Brandt/ Scheel warten müssen, wenn die Adenauer-Regierung in dieser Beziehung etwas beweglicher, etwas offener gewesen wäre.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Noch eine Bemerkung zu den Inhalten der gestrigen Debatte, die mir in bezug auf die Ausführungen von Herrn Strauß aufgefallen sind.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703028700
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703028800
Bitte!

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0703028900
Herr Kollege Mattick, nur eine Frage. Sie haben aus den Memoiren von Macmillan zitiert. Sie haben vorgelesen, daß einer der Ratschläge, die Herrn Adenauer gegeben werden sollten, darin bestand, auf die politische Bindung West-Berlins zur Bundesrepublik zu verzichten. Hielten Sie das für eine Basis für Berlin?

Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703029000
Nein, bloß haben wir das, was Herr Macmillan damit gemeint hat, Herr Dr. Gradl, z. B. 1965 aufgegeben, als auf Grund der Demonstration der sowjetischen Flieger keine Bundestagssitzung mehr stattgefunden hat. Sie kennen doch den Ablauf der Dinge. Sie wissen, daß wir zehn Jahre mit der Mauer leben. Sie wissen, daß wir in jedem Jahr, drei, vier Perioden hatten, in denen der Fahrweg zwischen Berlin und Westdeutschland so gestört war, daß Schwierigkeiten ernstester Art entstanden. Und Sie wissen auch, Herr Kollege Dr. Gradl, daß nach dem Bau der Mauer, die wir auch um des „lieben Friedens" willen — das klingt so schön -- hingenommen haben, ein Exodus aus Berlin begann. Wir haben jetzt Mühe, das alles allmählich wieder in Ordnung zu bringen.

Dr. Johann Baptist Gradl (CDU):
Rede ID: ID0703029100
Herr Kollege Mattick, Sie sind sich doch darüber im klaren, daß es im Augenblick nicht darum geht, wie sich der Leidensweg Berlins in all jenen Tagen vollzogen hat; wir haben das gemeinsam erlebt.
Ich möchte Sie vielmehr fragen, ob Sie mir nicht darin zustimmen, daß es nach Ihrer Ausführung soeben einfach um die Frage ging, ob z. B. im Jahre 1960, das Sie genannt haben, eine Chance vorhanden war, die von unserer Seite versäumt worden ist.
Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß eine Regelung, bei der die Zustimmung zu einem Verzicht auf die politischen Bindungen West-Berlins zur Bundesrepublik verlangt wird, keine Chance ist?

Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703029200
Herr Dr. Gradl, wenn Sie das Buch schon kennen, dann wissen Sie, daß es ein Angebot zur Verhandlung war, einer Verhandlung, bei der man — wie Macmillan geschrieben hat — geben und nehmen sollte. In einer solchen Verhandlung handelt man etwas aus. Aber wir haben auf das Angebot verzichtet.

(Zuruf von der CDU/CSU. — Gegenrufe von der SPD.)

Das ist das Entscheidende, Herr Dr. Gradl: daß diese Regierung nicht bereit war, in ein solches Gespräch einzutreten.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Daher stehen wir heute da und konnten dies alles erst unter weit schwierigeren Bedingungen, als wir sie damals angetroffen haben, nachholen.
Ich möchte, meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Ausführungen des Herrn Dr. Strauß sagen. Er hat gestern in seiner Rede, die genau 60 Minuten dauerte, am Schluß vier Phasen aufgezeigt, in der sich die sowjetische Politik bewegen würde. Ich will seine Ausführungen nicht im einzelnen wiedergeben. Die letzte Phase bezeichnete er als die Phase des sowjetischen Angriffs auf Westeuropa — kurz gefaßt —, als die Offensive der Sowjetunion auf Westeuropa. Dazu, so sagte er, würde die Bundesregierung durch ihre Politik die Hand reichen.
Ich will darüber nicht polemisieren. Ich halte die ganze Phasenvorstellung von Herrn Dr. Strauß, die er gestern dargestellt hat, für zu wenig durchdacht, als daß sie für uns diskussionsfähig sein sollte.
Nur eine Bemerkung: Was steckt da für ein Defätismus drin, wenn ein führender Vertreter einer Partei, die Sie repräsentieren, behauptet, in 20 Jahren eine Bundesrepublik aufgebaut zu haben, die jede gesellschaftliche Auseinandersetzung verträgt! Der Herr Strauß geht davon aus, daß durch unsere heutige Politik der Sowjetunion die Offensive nach Westeuropa freigeschippt worden ist. — Ich danke schön! Wir sehen die Dinge anders, meine Damen und Herren. Wir wissen nämlich genau, was sich abgespielt hat. Wir wissen, daß 1959, nach dem Chruschtschow-Ultimatum, die SED davon ausgegangen ist, daß in zehn Jahren ganz Berlin die Hauptstadt der DDR sein werde.
Wenn Sie sich jetzt einmal ansehen, was aus Berlin geworden ist, so können Sie nicht umhin, zuzugeben, daß wir jetzt erstmalig eine Viermächtever-



Mattick
einbarung — da wird es noch Schwierigkeiten geben; das wissen wir — und erstmalig nach der ganzen Zeit eine geregelte rechtliche Position haben. Und hier wird die Frage aufgeworfen, ob denn Berlin genügend gesichert ist! Berlin ist international besser gesichert als zu der Zeit, als Herr Lahr die Verträge abschloß. Auch ist Berlin innenpolitisch abgesichert. Der Weg zwischen der Bundesrepublik und Berlin ist frei

(Zuruf von der CDU/CSU: Ausland!)

und garantiert. Die Vereinbarungen und Verträge geben die Sicherheit dafür, daß dies, solange die Verträge gelten, so bleibt. Davon gehen wir heute aus.
Wir wissen, daß die DDR Rechtsnormen, Formeln und auch manches deutsche Wort in der deutschen Sprache generell nicht so auslegt wie wir. Wir wissen, daß sich die DDR-Führung sicher auch in bezug auf diesen Grundlagenvertrag — ich sage das mit aller Erkenntnis, die ich gewonnen habe — lange Zeit sehr eng am Rande der rechtlichen Auslegung und — wahrscheinlich noch mehr — des Geistes bewegen wird. Wir wissen, daß die Schwierigkeiten in Berlin mit dem Vertragsschluß logischerweise nicht aufhören, sondern sich eben nur — und das ist entscheidend — auf einer für uns weit besseren Grundlage, nämlich auf gültigem Recht, austragen lassen, das von den Vier Mächten abgesichert ist.
Nach der 20jährigen Fehlentwicklung blieb uns nur der Weg, den wir jetzt gehen. Die Vorstellung der SED über das, was aus Berlin wird, und die nationale Position der DDR waren uns bekannt. Dem haben wir unsere eigene Position entgegenstellen können, soweit es unsere Partnerschaft und die machtpolitische Lage ermöglichten. Wir suchen Frieden und Ausgleich im Interesse der Menschen, die den Frieden brauchen, und wir scheuen uns nicht, der DDR-Führung zu sagen, was wir von ihrer Politik halten. Nur, wir setzen uns — und das will ich hier auch tun — sachlich mit ihr auseinander, mit dem Ziel, Veränderungen zu erreichen, auch wenn es ein mühseliger Weg sein wird.
Indem wir uns ausdrücklich zum Grundvertrag bekennen und uns dafür entscheiden, daß die DDR Mitglied der UNO wird, möchten wir an die DDRFührung einige Fragen stellen, man kann vielleicht auch sagen, in Form von Appellen sprechen.
In einem Interview vor zirka drei Monaten hat Herr Honecker ungefähr folgendes gesagt:
Wer an dafür nicht vorgesehener Stelle — —

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703029300
Herr Abgeordneter, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703029400
Ich bitte noch um etwas Geduld, ich mache gleich Schluß.
Wer an dafür nicht vorgesehener Stelle als DDR-Bürger die DDR-Grenze zu überschreiten versucht, der benimmt sich kriminell, verstößt gegen unsere Gesetze und muß daher auch mit unserer Abwehr rechnen.
Meine Damen und Herren, diese Abwehr ist der Schießbefehl. Ich kann mir nicht denken, daß Herr Honecker vergessen hat, daß der Grenzübertritt dem Normalbürger an keiner Stelle möglich ist. Ich möchte daher feststellen: Solange die Mauer steht, wird sich der Bürger in der DDR und im Ostteil der Stadt Berlin, also in der Hauptstadt der DDR, bevormundet fühlen und seiner Freiheit und Freizügigkeit beraubt sein. Freizügigkeit ist aber die Voraussetzung für jede Freiheit und eine Grundforderung der Arbeiterbewegung. Daher ist der Auftrag an die Grenzbewacher, auf jeden Flüchtling der DDR, der in die Bundesrepublik will, bedingungslos zu schießen, eine Verletzung der Menschenrechte. Eben weil es jedem Normalbürger ausdrücklich verboten ist, einmal über die Mauer zu sehen, schießt man automatisch auch auf junge Menschen, deren einzige Kriminalität in der Sehnsucht jedes jungen Menschen besteht, Verbotenes kennenzulernen oder auch nur sein Menschenrecht in Anspruch zu nehmen, das in der UNO-Charta festgelegt ist. Wir wissen, daß die DDR-Führung nach der Öffnung der Mauer Schwierigkeiten hat, ihr ideologisches Ziel aufrechtzuerhalten, daß nämlich der Bürger der DDR in jedem Bürger der Bundesrepublik, auch in Verwandten und Freunden, einen Gegner oder gar Feind sieht. Der Normalbürger hat die Spaltung nicht gewollt, er hat auch keinen Einfluß darauf gehabt. So blieb der Bruder Bruder trotz aller Versuche zur ideologischen Entfremdung durch die DDR-Führung.
Wir wissen, daß das Bemühen der DDR-Führung, über die Bundesrepublik und ihre politischen Ziele und Handlungsweisen bei den DDR-Bürgern ein Feindbild aufzubauen, durch die jetzigen Begegnungen aus beiden Teilen Deutschlands zerstört wird, desgleichen auch der Rest des Glaubensbildes, das durch die Medien vermittelt werden sollte. Dies alles wird zerstört, das macht Sorgen.
Aber lassen Sie mich zum Schluß die Frage an die DDR-Führung richten: Hat sich das deutsche Volk in der DDR, der deutsche Bürger und Arbeitnehmer in der DDR nach dem Weltkriege schlechter verhalten, schlechter bewährt als in der Bundesrepublik? Hat der Werktätige nicht mehr Vertrauen auch seiner Führung verdient? Wird es nicht auf die Dauer eine unerträgliche Beleidigung der Menschen im anderen Teil Deutschlands, wenn die Führung durch die Mauer ihr Mißtrauen nur gegen die eigenen Bürger ausdrückt? Denn einen anderen Zweck kann die Mauer auch für den Bürger der DDR und für den Arbeiter an der Werkbank nicht mehr haben. Die sehen das jetzt auch so, und so viel müßte auch die DDR-Führung wissen.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703029500
Herr Abgeordneter Mattick, ich muß Sie leider ein zweites Mal darauf aufmerksam machen, Sie haben keine verlängerte Redezeit von Ihrer Fraktion bekommen. Es ist auch interfraktionell nichts anderes ausgemacht.

Kurt Mattick (SPD):
Rede ID: ID0703029600
Ich bin am Schluß.
Meine Damen und Herren, die Souveränität eines Staates drückt sich nicht allein durch diplomatische Beziehungen oder durch die Mitgliedschaft in der



Mattick
UNO aus, sie drückt sich vielmehr vor allem in dem aus, was der Staat als Ganzes durch seine Bürger und was sich im Verhältnis der Bürger zum Staat ausdrückt. Wir sollten uns vornehmen, dies mit der Führung der DDR öffentlich zu diskutieren. Das geht nicht auf der Basis einer Polemik, sondern nur auf der Basis einer sachlichen Auseinandersetzung. Damit sind wir wahrscheinlich in der Lage, „den Brüdern und den Schwestern" im anderen Teil Deutschlands Schritt für Schritt dabei zu helfen, aus ihrer jetzigen Lage herauszukommen.
Wir sagen ja zum Grundvertrag und zum Beitritt zur UNO.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703029700
Das Wort hat der Herr Bundesminister Bahr.

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703029800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich in Ergänzung dessen, was Herr Kollege Mattick eben zu Berlin gesagt hat, einige Ausführungen mache, wollte ich eine Bemerkung zur Wiedergabe des Gesprächs machen, das ich am 9. Januar vor vier Jahren mit einem amerikanischen Professor geführt habe. Die Wiedergabe dieses Gesprächs war nicht autorisiert. Sie war auch ungenau. Der Autor hat auch davon abgesehen, sich darum zu bemühen oder einen Kontakt aufzunehmen, als er kürzlich in der Bundesrepublik war.
In diesem Gespräch habe ich mir über die Zukunft Europas Gedanken gemacht. Daran kann Anstoß nehmen, wer nicht bereit ist, auf eine Überwindung der unseligen Spaltung unseres Kontinents und damit auch Deutschlands hinzuwirken. Es ist inzwischen eine wohl gemeinsame Auffassung dieses Hauses, daß der Weg dahin lang und dornenreich sein wird. Dabei haben auch prominente Vertreter der Opposition die Auffassung vertreten, daß die Überwindung der europäischen Spaltung nicht durch die Ausdehnung der NATO erfolgen wird. In den Auszügen der Springer-Presse aus dem Artikel der amerikanischen Zeitschrift steht nicht, daß es sich bei dem Gespräch um ein theoretisches Planspiel handelte. In der amerikanischen Zeitschrift wiederum steht nicht, daß ich in dem damaligen Gespräch — einem Planspiel — einen Gedanken äußerte, den neun Jahre vorher Konrad Adenauer als Bundeskanzler folgendermaßen formuliert hat — ich zitiere —:
Wenn wir eines Tages zu einer Verständigung auch mit Sowjetrußland kommen — und ich hoffe, daß wir dies mit viel Geduld erreichen werden , werden Warschauer Pakt und NATO der Vergangenheit angehören. Das müssen Sie sich doch einmal klarmachen. Das sind doch keine Ewigkeitsinstitutionen. Aber jetzt haben wir die NATO nötig, und deshalb sind wir ihr beigetreten.
Dies ist ein Auszug aus der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers Adenauer vom 6. April 1960 vor diesem Hause. Das „Jetzt", von dem der damalige Bundeskanzler sprach, ist noch immer nicht vorbei. Niemand kann absehen, wann es zu Ende ist.
Für die Politik dieser Regierung gilt die Regie- e rungserklärung. Der Herr Bundeskanzler hat dies im Zusammenhang mit Anfragen zu diesem Artikel am 5. April dieses Jahres erklärt. Ich wiederhole die Erklärung:
Die Bundesregierung wird in ihrer Außenpolitik, in ihrer Europapolitik, in ihrer Deutschlandpolitik weiterhin den Kurs verfolgen, den ich in meiner Regierungserklärung vom 18. Januar aufgezeigt habe.
Es war überflüssig, daß der Kollege Strauß in seiner Frage an den Bundeskanzler so tat, als gäbe es diese Erklärung nicht. Ich darf aber meine persönliche Überzeugung, weil danach gefragt wurde, hinzufügen. Ich denke, daß die NATO für eine nicht abzusehende Zeit das unentbehrliche Instrument unserer Sicherheit bleiben wird. Ich bin überzeugt, daß es ohne das fortdauernde Engagement der Vereinigten Staaten Sicherheit in Europa überhaupt nicht geben kann.
Darf ich jetzt zu den Ausführungen kommen, die einige Sprecher ,der Opposition gestern und auch heute zu Berlin gemacht haben. Diese Ausführungen stellen Angriffe auf das Viermächteabkommen und eine Kritik an den Drei Mächten dar, die bisher in dieser Schärfe neu sind und die ich zurückweisen möchte. Zunächst einmal hat kein verantwortlicher Politiker behauptet, daß das Viermächteabkommen eine Lösung der Berlin-Frage gebracht habe. Es ist bewußt formuliert und immer wieder öffentlich begründet worden, warum von einer „Berlin-Regelung" und nicht von einer „Berlin-Lösung" die Rede ist. Man sollte auch die großen praktischen Verbesserungen für die Lage der Berliner, über die Herr Kollege Mattick gerade gesprochen hat, nicht so verkleinern, wie es zuweilen hier geschehen ist, und man sollte vor allem nicht verschweigen, daß Entspannung und Friedenssicherung in Europa ohne dieses Abkommen blockiert worden wären.
Ein Mann, der Stärken und Schwächen der Berlin-Regelung sicher besonders gut kennt — es gibt natürlich auch Schwächen; es gibt überhaupt kein Abkommen zwischen Ost und West, das nicht auch Schwächen hat —,

(Abg. Rawe: Vor allen Dingen keines, das Sie ausgehandelt haben!)

wie der damalige Botschafter der Vereinigten Staaten und heutige stellvertretende Außenminister Kenneth Rush, hat im September 1971 in Berlin gesagt — ich darf ihn zitieren —:
Bei der Vorausschau auf die Entwicklung nach dem Berlin-Abkommen möchte ich ausdrücklich vor der Annahme warnen, diese Vereinbarung bringe eine endgültige Lösung für alle oder auch nur für einen großen Teil der Probleme Berlins und Europas. Es ist ein Teilabkommen, das mit begrenzten Zielen ausgehandelt wurde, um zunächst einmal praktische Verbesserungen für die Berliner Bevölkerung zu erreichen. In diesem Abkommen sind die Vier Mächte zum erstenmal schriftlich übereingekommen, daß die Lage der Stadt verbessert, ihre Bindungen zur Bundesrepublik aufrechterhalten und entwickelt



Bundesminister Bahr
und praktische Verbesserungen für ihre Bewohner vorgenommen werden sollen. In ihm haben sowohl die Sowjetunion als auch die Alliierten ernste Verpflichtungen auf sich genommen. Sie werden darüber hinaus Bedingungen schaffen helfen, die eine Verminderung der Spannungen in ganz Europa zur Folge haben könnten. Das wird meines Erachtens der wesentlichste Nutzen der Arbeit sein, die wir hier geleistet haben.
Es genügt zu sagen, daß sowohl der Osten als auch der Westen in den 25 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg mehrmals wegen der Stadt bis an den Rand des Krieges gegangen sind.
Die Schwierigkeiten, von denen gestern die Rede war und die nicht verniedlicht werden sollen und dürfen, führen nicht an den Rand des Krieges. Sie führen auch nicht zu der Frage, ob wir den Unternehmern die stundenlangen Wartezeiten ihrer Lastwagen auf den Autobahnen ersetzen sollen oder ob Sonderflugzeuge eingesetzt werden müssen, um Personen, denen die Durchreise verweigert wird, nach Berlin zu bringen, oder ob für die Berliner eine neue
..Zitterprämie" zu bewilligen ist.
Es ist gestern von einem Sprecher der Koalition darauf hingewiesen worden, daß die deutschen Vereinbarungen auf Grund des Viermächteabkommens funktionieren. In der Tat hat an diesem Funktionieren der deutschen Vereinbarungen kein Sprecher der Opposition Kritik geübt. Ich darf mich auch im Namen meines Kollegen vom Senat, der sein Abkommen ausgehandelt hat, für dieses sicher nicht gewollte Kompliment bedanken.
Ich bin sicher, daß die Schwierigkeiten in der Durchführung des Viermächteabkommens von den Drei Mächten sehr aufmerksam verfolgt werden. Ich möchte aber in aller Sachlichkeit feststellen, daß die Drei Mächte es bisher nicht für notwendig befunden haben, öffentlich in der Richtung zu formulieren, in der gestern hier formuliert wurde, oder das für den Fall ernster Schwierigkeiten vorgesehene Konsultationsverfahren mit der Sowjetunion in Gang zu setzen. Es ist allerdings kein Zufall, daß in der gemeinsamen Erklärung, die nach den Besprechungen in Washington am 2. Mai veröffentlicht wurde, insoweit zum erstenmal eine der Vier Mächte mit uns auf die Notwendigkeit der Beachtung des Abkommens nach Buchstaben und Geist durch alle Beteiligten für eine anhaltende Entspannung in Europa hingewiesen hat. Die Schwierigkeiten bei der Anwendung rühren zum Teil aus der Tatsache her, daß es sich um ein Rahmenabkommen handelt. Eine Regelung sämtlicher praktischer Fragen im Abkommen selbst wäre weder technisch möglich noch politisch ratsam gewesen. Die Verhandlungen würden noch heute andauern. Die Schwierigkeiten von heute — auch dies muß man sehen — betreffen nicht wie früher das Ob, sondern das Wie: nicht ob Berliner Verlage an einer Buchausstellung in Moskau teilnehmen, sondern wie die Stände aufgestellt werden; nicht ob Berlin an einem Kulturabkommen beteiligt wird, sondern wie die Berlin-Klausel formuliert wird. Auch bei aufkommenden Zweifelsfragen muß man darauf achten, daß
nicht gegen Buchstaben und Geist des Viermächteabkommens verstoßen wird.
Vorkommnisse bei der sowjetischen Industrieausstellung entsprachen nicht den Erwartungen — insofern gebe ich Ihnen recht, Herr Amrehn —, die Bundesregierung, Senat, die Drei Mächte und — davon bin ich überzeugt — auch die sowjetische Regierung hinsichtlich der praktischen Anwendung des Abkommens bei Abschluß gehabt haben. Es gibt bei uns das Wort „Kleinvieh macht auch Mist". Hier handelt es sich um einen Ärger, der eine große Sache zu diskreditieren imstande ist. Insofern gilt — wie auch früher —, daß Berlin ein Barometer für die politische Wetterlage Europas bleibt.
Herr Kollege Amrehn, was nun Ihre Entrüstung darüber angeht, daß Firmen Verträge schließen, indem sie ihren Namen vergewaltigen, so schließe ich mich dieser Entrüstung voll an. In der Sache sind wir auch einer Auffassung, was das gemeinsame Fahren in einem Bus angeht. Daß dieses Problem in positivem Sinne gelöst ist, ist Ihrer Fraktion doch mitgeteilt worden. Ich nehme an, daß Ihnen dies entgangen ist.
In einem anderen Punkt im Schlußteil Ihrer Rede
sind Sie von einer falschen Voraussetzung ausgegangen, die ich hier in aller Sachlichkeit geraderücken möchte. Entgegen Ihrer Behauptung gibt es nämlich keine Klausel im Viermächteabkommen, durch die die Einbeziehung Berlins in Verträge zwischen uns und der DDR bestimmt wird — und schon gar nicht ein für allemal. Sonst wäre es in der Tat auch leichter gewesen, zu verhandeln. Das Viermächteabkommen hat Regelungen für die Vertretung der Interessen der drei Westsektoren im Ausland formuliert. Ich denke, wir betrachten die DDR auch weiterhin nicht als Ausland.
Im übrigen möchte ich die Ausführungen des Regierenden Bürgermeisters über die Kannvorschrift, die soviel Beunruhigung ausgelöst und Fragen aufgeworfen hat, ergänzen. Eine Mußvorschrift über die Einbeziehung wäre nicht mit den originären Rechten der Drei Mächte und auch nicht mit der Souveränität anderer Staaten zu vereinbaren. Die Vier Mächte können nicht verbindlich für fünfte oder sechste Staaten beschließen, daß diese in ihre Verträge mit uns West-Berlin einzubeziehen haben. Sie haben es auch nicht getan.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703029900
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Amrehn?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703030000
Ja.

Franz Amrehn (CDU):
Rede ID: ID0703030100
Herr Bundesminister Bahr, stimmen Sie mir darin zu, daß in der Viermächtevereinbarung der Alliierten die Einbeziehung Berlins nicht für Verträge mit dem Ausland, sondern ausdrücklich für völkerrechtliche Vereinbarungen vorgesehen ist, daß die Vereinbarungen mit der DDR nach der Erklärung, die Sie in diesem Hause am 15. Februar abgegeben haben, völkerrechtlichen



Amrehn
Charakter haben, weil es andersartige Vereinbarungen zwischen voneinander unabhängigen Staaten nicht geben kann, und daß mithin Ihre Schlußfolgerung, die deutschen Vereinbarungen fielen nicht unter die Berlin-Vereinbarung der Alliierten, nach Ihren eigenen Ausführungen unrichtig ist?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703030200

(Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Ihnen nicht ins Konzept paßt!)

— Nein, sondern weil es nicht logisch ist, und zwar aus folgendem Grunde: Wenn ich gesagt habe, es gibt völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen mit der DDR — und um eine solche handelt es sich hier, aber auch in anderen Fällen —, so charakterisiert das die Art der Vereinbarung. Die Viermächteregelung bestimmt aber unter Buchstabe D die Vertretung der Westberliner Interessen im Ausland. Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß wir uns darüber einig sind, daß die DDR eben kein Ausland ist, wir aber dennoch völkerrechtlich verbindliche Verträge mit ihr machen. So kompliziert ist die deutsche Lage.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703030300
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Amrehn?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703030400
Ich darf aus dem Buchstaben D vorlesen:
Die Vertretung der Interessen der Westsektoren Berlins im Ausland und die konsularische Tätigkeit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in den Westsektoren Berlins können, wie in Anlage 4 niedergelegt, ausgeübt werden.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703030500
Gestatten Sie nun eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Amrehn?

Franz Amrehn (CDU):
Rede ID: ID0703030600
Betrachten Sie es, Herr Bundesminister Bahr, nicht als einen Widerspruch, daß die Bundesregierung zwar erklärt, sie könne und werde auf alle Fälle in den Folgeverträgen die Berlin-Klausel durchsetzen, aber meint, daß bei dem grundlegenden Vertrag, dem Grundvertrag, eine solche Klausel aus Rechtsgründen nicht durchsetzbar gewesen sei?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703030700
Dies ist eine Ihrer Kernfragen schon von gestern gewesen. Ich bin gerade dabei, sie zu beantworten.
Das Ergebnis des Berlin-Abkommens ist insoweit also, daß die Einbeziehung Westberlins, die bisher mit westlichen und neutralen Staaten ohne große Schwierigkeiten möglich war, nun auch in jedem
einzelnen Fall bei Vereinbarungen mit osteuropäischen Staaten möglich sein wird. Die Bundesregierung wird in jedem einzelnen Fall, der sich dafür eignet — das ist also eine Einschränkung —, einen Vertrag eben nur mit einer befriedigenden Einbeziehung Berlins schließen.
Es wird Vereinbarungen geben, bei denen die Einbeziehung Berlins nicht möglich ist. Ich nenne ein Beispiel. Sollten wir eines Tages — wie andere Staaten der NATO — mit Staaten des Warschauer Pakts Militärattachés austauschen, so werden diese nicht die Interessen West-Berlins vertreten; denn Sicherheit und Status bleiben direkt in der Zuständigkeit der Drei Mächte. West-Berlin in alle Nachfolgeverträge des Grundvertrags einzubeziehen ist eine Globalforderung, die mit dem Viermächte-abkommen nicht zu vereinbaren ist; es gibt dort bekanntlich einige Punkte, die der direkten Verhandlung zwischen Senat und DDR zugewiesen sind.
Daraus ergibt sich, daß unsere Vereinbarungen, die wir mit der DDR über den Personenverkehr im grenznahen Raum schließen, nicht auf West-Berlin übertragen werden. Dort gibt es nämlich eine Besucherregelung; ich will nur dieses eine Beispiel nennen.
Aber im übrigen haben die Sprecher der Opposition offene Türen eingerannt; denn es liegt die Erklärung der Bundesregierung vor, daß sie Berlin in alle Abkommen einbeziehen wird, bei denen das nach dem Viermächteabkommen möglich -ist. Dies ist durch den Grundvertrag erreicht. Die erste konkrete Regelung des Grundvertrags selbst ist die Einrichtung der ständigen Vertretung. Dafür ist deshalb auch im Vertrag selbst die entsprechende Vereinbarung enthalten.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703030800
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kunz?

Gerhard Kunz (CDU):
Rede ID: ID0703030900
Herr Bundesminister, muß man Ihre Formulierung von der Einbeziehung in Verträge, die sich dafür eignen, so verstehen, daß Sie der eben ausgeführten Position selber bereits den juristischen Boden unter den Füßen wieder wegziehen, wie es überhaupt Ihre Methode zu sein scheint, etwas aufzubauen und in einem Nachsatz einzureißen?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703031000
Ich bin für die Frage sehr dankbar; denn sie gibt mir Gelegenheit, Ihnen zu sagen: Dies dürfen Sie so nicht verstehen, sondern Sie müssen es bitte so verstehen, wie ich es eben gesagt habe: in alle Abkommen, in denen das nach dem Viermächteabkommen möglich ist.
Die Anwendung des Viermächteabkommens auf Abkommen zwischen den beiden deutschen Staaten ist also erst durch den Grundvertrag möglich, genauer gesagt: sie wird durch ihn möglich werden, wenn er in Kraft ist.




Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703031100
Herr Bundesminister, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703031200
Bitte sehr.

Dr. Gerhard Reddemann (CDU):
Rede ID: ID0703031300
Herr Minister, wäre der ganze Tatbestand nicht wesentlich weniger kompliziert und sehr viel eindeutiger, wenn in den Grundvertrag eine Generalklausel für Berlin eingearbeitet worden wäre, aus der eindeutig hervorginge, daß alle Verträge, die entsprechend der alliierten Berlin-Abmachung abgeschlossen werden können, dann auch auf Berlin übertragen werden?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703031400
Das wäre zwar für uns einfacher gewesen, aber es hätte nicht dem Viermächteabkommen entsprochen, weil, wie ich Ihnen vorhin erklärt habe und wie Sie auch nachlesen können, in jedem einzelnen Falle, d. h. in jedem abzuschließenden Vertrag, die Einbeziehung vorgenommen werden muß, — nach dem Viermächteabkommen, und wir hatten nicht vor, das Viermächteabkommen zu verletzen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703031500
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger (Wangen)?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703031600
Bitte sehr.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID0703031700
Herr Bundesminister, nachdem Sie die Auffassung vertreten haben, daß die in der Anlage IV A oder B — sie sind gleichlautend — Nr. 2 b ermöglichte Erstreckung von Abmachungen, die die Bundesrepublik Deutschland schließt, auf Berlin nur Verträge mit ausländischen Staaten betreffe, wie sehen Sie bei dieser Interpretation die Möglichkeit, überhaupt irgendeinen Folgevertrag mit der DDR auf der Grundlage dieser Abmachungen mit einer Berlin-Klausel zu versehen?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703031800
Das ist ja gerade der Inhalt der Abmachungen gewesen. Obwohl es im Viermächteabkommen nicht vorgesehen war, haben wir die Abmachung mit der DDR, daß wir in künftigen Folgeverträgen, soweit das dem Viermächteabkommen entspricht, die Einbeziehung Berlins vornehmen. Im ersten konkreten Fall ist dies bereits geschehen. In anderen Fällen wird es geschehen, wenn die Sache reif ist.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703031900
Herr Bundesminister, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Abgeordneten Amrehn?

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703032000
Bitte sehr.

Franz Amrehn (CDU):
Rede ID: ID0703032100
Wie verträgt sich die Auffassung, daß die Regelung für Berlin-Vereinbarungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Viermächteabkommen nicht getroffen sei, mit der von Ihnen unterschriebenen Erklärung, daß die Einbeziehung in Übereinstimmung mit der Viermächtevereinbarung erfolge, und ist Ihnen, Herr Bundesminister, nicht ganz gegenwärtig, daß wir im Dritten Überleitungsgesetz zwar eine Verpflichtung für Berlin begründet haben, alle Gesetze zu übernehmen, daß eine solche Verpflichtung, wie wir sie auch für den Grundvertrag fordern, dennoch nicht der Einzelregelung im Wege steht, sondern sie nach sich zieht, aber die Verpflichtung zur Voraussetzung hat und daß das hier im Vertragsverhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten hätte gemacht werden können.

Prof. Egon Bahr (SPD):
Rede ID: ID0703032200
Die Antwort, Herr Kollege Amrehn, ist ganz einfach: Da es im Viermächteabkommen nicht vorgesehen war, daß Verträge zwischen der Bundesrepublik und der DDR einbezogen werden, haben sich die beiden deutschen Staaten gewissermaßen das Viermächte-abkommen zum Vorbild genommen und erklärt: Dies wird unsere Grundlage für die Einbeziehung Berlins sein. Diese Lücke ist durch diese Vereinbarung exakt geschlossen worden.

(Abg. Amrehn: Und warum fehlt nun die Verpflichtung?)

Die Verpflichtung konnte nicht automatisch ein für allemal erfolgen, weil - ich wiederhole es — wir eben das Viermächteabkommen zur Grundlage gemacht haben, und dort gibt es eine Kannvorschrift. Warum die Kannvorschrift existiert, habe ich soeben versucht, noch einmal zu erklären.

(Abg. Amrehn: Das überzeugt mich nicht!) - Aber so ist es.

Ich glaube -- um diesen Passus abzuschließen —, daß die letzte und diese Bundesregierung das Schicksal ihrer gesamten Politik zugunsten Berlins eingesetzt hat. Sie hat die Behandlung des Moskauer und des Warschauer Vertrages in diesem Hause mit dem erfolgreichen Abschluß der Viermächtevereinbarungen verbunden. Sie hat damit die Interessen West-Berlins gewahrt, ohne die Verhandlungsposition der Drei Mächte zu schwächen; im Gegenteil. Sie hat die Möglichkeit der Vertretung Westberliner Interessen nach Osten nicht erhalten, um sie nun nicht wahrzunehmen, sondern sie wird diese Interessen mit aller Sorgfalt wahrnehmen.
Wir werden dabei jede falsche Dramatisierung vermeiden. Wir stehen nicht vor solchen Gefahren wie bei den Berlin-Krisen zwischen 1946 und 1969. Wir werden geduldig und zielstrebig darauf hinwirken, Schwierigkeiten — künstliche und wirkliche im Geiste des Abkommens aus dem Wege zu räumen. Das geschieht in diesen Tagen und — wie der Bundeskanzler angekündigt hat —, falls noch erforderlich, in aller Offenheit dann auch mit dem Generalsekretär des ZK der KPdSU.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)





Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0703032300
Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell vereinbart, um 19.00 Uhr die Debatte über diesen Punkt zu schließen. Sie ist damit für heute abgeschlossen und wird morgen fortgesetzt.
Es ist aber auch interfraktionell vereinbart worden, noch die Punkte 21 bis 34 der Tagesordnung zu erledigen. Ich rufe sie hiermit auf:
21. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes vom 1. Oktober 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Rechtshilfe in Strafsachen
— Drucksache 7/371 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschus
22. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. November 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Auslieferung
— Drucksache 7/372 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
23. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes vom 14. Januar 1969 zu dem Übereinkommen vom 7. September 1967 zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden über gegenseitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen und zu dem Protokoll über den Beitritt Griechenlands zu diesem Übereinkommen
— Drucksache 7/470 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
24. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 7/471 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
25. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. November 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Liberia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 7/472 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
26. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Kostenermächtigungsvorschriften des Seemannsgesetzes
— Drucksache 7/482 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
27. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung der Wirtschaftspläne des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1973 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1973)

— Drucksache 7/479 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Haushaltsausschuß
28. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 120 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 8. Juli 1964 über den Gesundheitsschutz im Handel und in Büros
— Drucksache 7/414 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
29. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Olivenöl-Übereinkommen von 1963
- Drucksache 7/413 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
30. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse
Drucksache 7/400 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
31. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine Statistik des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs
— Drucksache 7/426 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr (federführend) Innenausschuß
32. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. Februar 1966 über die Eichung von Binnenschiffen
— Drucksache 7/481 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr
33. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts
— Drucksache 7/506 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Sonderausschuß für die Strafrechtsreform



Vizepräsident Dr. Jaeger
34. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwicklung der Reichsärztekammer (Reichsärztekammer-Abwicklungsgesetz)

— Drucksache 7/507 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Es handelt sich um von der Bundesregierung und von Mitgliedern des Hauses vorgelegte Gesetzentwürfe. Das Wort wird nicht gewünscht. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen
Sie aus der Tagesordnung. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Mai, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.