Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Hauses soll der Bericht betreffend die soziale Lage der verheirateten Studenten — Drucksache VI/2864 — dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — federführend — und dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — überwiesen werden. Ich frage, ob sich Widerspruch erhebt. — Widerspruch erhebt sich nicht; ich stelle fest, daß so beschlossen ist.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die heutige Tagesordnung erweitert um die zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung . des Tabaksteuergesetzes, Drucksachen VI/3048 und zu VI/3048. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Der Ausschuß für Wirtschaft hat gegen die nachfolgenden, bereits verkündeten Verordnungen keine Bedenken erhoben:Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte Aale der Tarifstelle ex 03.01 A II des Gemeinsamen Zolltarifs— Drucksache VI/2834 —Verordnung des Rates
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Zeitungsdruckpapier der Tarifstelle 48.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrosilizium der Tarifstelle 73.02 C des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrosiliziummangan der Tarifstelle 73.02 D des Gemeinsamen Zolltarifs
über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Ferrochrom, mit einem Gehalt an Kohlenstoff von 0,10 Gewichtshundertteilen oder weniger und an Chrom von mehr als 30 bis 90 Gewichtshundertteilen der Tarifstelle ex 73.02 E I des Gemeinsamen Zolltarifs (1972)— Drucksache VI/2836 —Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Rohmagnesium der Untertarifstelle 77.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs (1972)— Drucksache VI/2839 — Verordnung des Rates über die zeitweilige Aussetzung von autonomen Zollsätzen des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte Waren— Drucksache VI/2876 —Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten für bestimmte Erzeugnisseüber die vollständige oder teilweise Aussetzung der Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse— Drucksache VI/2915 —Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für gefrorenes Rindfleisch der Tarifstelle 02.01 A II a) 2 des Gemeinsamen Zolltarifs (1972)— Drucksache VI/2960 —Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten für Werkblei und Rohblei, anderes als Werkblei, der Tarifstelle 78.01 A I und A II des Gemeinsamen Zolltarifs (Jahr 1972)über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines Gemeinschaftszollkontingents für Rohzink der Tarifstelle 79.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs
— Drucksache VI/2984 —Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der heutigen Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rückzahlung der einbehaltenen Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner
— Drucksache VI/2919 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache VI/3043 —Berichterstatter: Abgeordneter Krampeb) Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/3031 —Berichterstatter: Abgeordneter Härzschel
Die Herren Berichterstatter haben nicht zu einer Ergänzung ihrer Berichte um das Wort gebeten, so daß wir in die zweite Beratung eintreten. Ich rufe auf §§ 1, — 2, — 3, — 4, — 5, — 6, — 7, — 8, —9, — 10, — Einleitung und Überschrift. — Wer dem Gesetzentwurf in der zweiten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
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9488 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen Wir treten in diedritte Beratungein. Ich frage: wer wünscht zur dritten Beratung das Wort? — Herr Abgeordneter Härzschel von der Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt im Interesse der Rentner, daß diesen durch das vorliegende Gesetz eine zusätzliche Leistung gewährt wird. Wir haben uns im Ausschuß für eine rasche Verabschiedung des Gesetzes eingesetzt, und wir werden ihm zustimmen. Die CDU/CSU erblickt in der Verabschiedung des Gesetzes einen Teilerfolg ihrer ständigen Bemühungen, die Situation der Rentner zu verbessern, die sich durch die inflationäre Preisentwicklung der letzten zwei Jahre verschlechtert hat. Dadurch ist das Rentenniveau auf einen Tiefstand von 41 % abgesunken. Einkommenssteigerungen von 22 % in den letzten zwei Jahren bei den Aktiven stehen Rentenerhöhungen von 11,8 % gegenüber. So ist z. B. im vergangenen Jahr bei einer Rentenerhöhung von 5,5 % und einer Geldentwertung von 5,2 % fast keine effektive Verbesserung mehr erfolgt.Die CDU/CSU hat deshalb versucht, durch einen Gesetzentwurf die 1958 nicht durchgeführte Anpassung zur Hälfte nachzuholen, um damit einen Ausgleich für die verlorene Kaufkraft zu schaffen. Dieser Antrag wurde durch die Koalition abgelehnt. Die CDU/CSU hat danach den Entwurf eines 15. Rentenanpassungsgesetzes mit der Maßgabe eingebracht, die Anpassung bereits am 1. Juli 1972 in Kraft treten zu lassen. Leider ist eine Beratung im Ausschuß bisher nicht erfolgt. Da dieser Antrag zusammen mit den anderen Rentengesetzen beraten werden soll, ist eine rechtzeitige Verabschiedung nicht möglich; sie wurde dadurch blockiert.Wegen der zunehmenden Kritik der Rentner und wegen des Echos in der Öffentlichkeit konnte jedoch die Koalition auf die Dauer nicht untätig bleiben. Sie hat deshalb diesen Gesetzentwurf eingebracht. Dies war ursprünglich nicht vorgesehen. Die Koalition hat diesen Gesetzentwurf eingebracht mit der Begründung, das Unrecht wiedergutzumachen, das durch die damalige Finanzsituation in der Rentenversicherung entstanden sei. Daß dieser Gesetzentwurf ursprünglich nicht vorgesehen war, beweist die Tatsache, daß er in keiner Regierungserklärung erscheint und daß weder in der mittelfristigen Finanzplanung noch im Haushalt 1972 Mittel für die Finanzierung dieses Vorhabens eingesetzt worden sind. Die nicht ausgewiesenen Mittel müssen deshalb bei der Rentenversicherung auf dem Darlehenswege beschafft werden. Bei der Rentenversicherung müssen Darlehen von 169 Millionen DM zugunsten der knappschaftlichen Rentenversicherung aufgenommen werden. Das ist ein bedenklicher Finanzierungsstil, den es bisher nicht gegeben hat.Leider deuten die Äußerungen der Vertreter der Koalition darauf hin, daß mit diesem Gesetzentwurf der Entwurf der CDU/CSU-Fraktion für ein 15. Rentenanpassungsgesetz abgewürgt werden soll. Wir erklären mit allem Nachdruck, daß es sich hier um eine einmalige Rückzahlung von Beiträgen handelt, die in keinem Zusammenhang mit dem Antrag der CDU/CSU auf Vorziehung der 15. Rentenanpassung auf den 1. Juli 1972 gesehen werden kann.
Denn mit diesem Gesetzentwurf wird keine dauernde Verbesserung der Situation der Rentner erreicht. Die CDU/CSU hält ihren Antrag voll aufrecht und wird weiterhin bemüht sein, durch ihre Gesetzesinitiative eine Anhebung des Rentenniveaus zu erreichen, da nur auf diesem Wege langfristig eine Verbesserung dieses Niveaus erreicht werden kann. Dies ist insbesondere deshalb notwendig, damit das Ziel der Rentenreform, die Rentner an der Produktivitätsentwicklung teilhaben zu lassen, erreicht wird.Die Einführung des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner im Jahre 1968 war Teil eines Bündels von Maßnahmen, die zur Sanierung der Rentenversicherung nach der Kürzung der Bundeszuschüsse getroffen wurden. Mit Hilfe dieser Maßnahmen konnte damals die Stabilisierung der Rentenversicherung erreicht und nach dem Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz langfristig gesichert werden. Da sich die Finanzsituation der Rentenversicherung in der Zwischenzeit verbessert hat, kann dieser Beschluß nunmehr rückgängig gemacht werden. Da aber von seiten der SPD immer wieder versucht wird, diesen Beitrag allein der CDU/CSU anzulasten, muß noch einmal mit Nachdruck betont werden, daß dieser Beschluß in der Großen Koalition von beiden Partnern getroffen worden ist.
Es ist zudem unredlich, Herr Kollege Schellenberg, von der Wiedergutmachung eines Unrechts zu sprechen und zu verschweigen, daß im Zuge der damaligen Entscheidung auch andere Belastungen für die Rentner beschlossen worden sind, die nicht rückgängig gemacht wurden. In erster Linie geht es dabei um die von der SPD gewünschte Hinausschiebung des Rentenbeginns um einen Monat. Wir reden heute von der flexiblen Altersgrenze, von der Möglichkeit des vorzeitigen Rentenbeginns. Sie haben damals den Antrag gestellt, den Rentenbeginn hinauszuschieben. Weiterhin wurde damals die Abschmelzung des Steigerungsbetrages in der Knappschaft beschlossen. Der Bundeszuschuß von 4 Milliarden DM ist der Rentenversicherung in der Zwischenzeit ebenfalls verlorengegangen. Auch dieser Beschluß ist nicht rückgängig gemacht worden. Herr Kollege Schellenberg hat bei der ersten Lesung und schon vorher angedeutet, daß die Koalition durchaus bereit sei, auch darüber zu reden. Auf meine Frage im Ausschuß hat die SPD-Fraktion aber nicht einmal eine Antwort gegeben. Man hat über diese Fragen überhaupt nicht diskutiert. Auch das muß hier einmal festgestellt werden. Wir sind jedenfalls der Meinung, daß diese Maßnahme unsere anderen Vorschläge in keiner Weise überflüssig macht.Die CDU/CSU erblickt allein in der Wiedergewinnung der Stabilität die einzige Möglichkeit,
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Härzscheldie Rentner kontinuierlich an der Entwicklung der Volkswirtschaft teilhaben zu lassen. Sie wird deshalb durch die Anträge zur Niveauanhebung, zur Strukturverbesserung der Kleinstrenten, zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige und durch einen eigenen Antrag zur flexiblen Altersgrenze ihre konstruktiven Beiträge zur Weiterentwicklung der Rentenversicherung leisten.Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der sozialdemokratischen Fraktion gebe ich folgende Erklärung ab. Schon wenige Wochen nachdem die Fraktionen der SPD und FDP ihren Initiativgesetzentwurf eingebracht haben, können wir heute in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Rückzahlung der Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung verabschieden. Damit wird ein Gesetz verabschiedet, das nicht nur für die Rentner von heute von großem wirtschaftlichem Nutzen sein wird, sondern das auch gesellschaftspolitisch von großer Bedeutung ist.Im Zusammenhang mit der Rezession und der Finanzkrise wurde durch das Finanzänderungsgesetz 1967 bestimmt, daß von den Rentnern in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 1. Januar 1968 an 2 % ihrer monatlichen Rente als Beitrag zur Rentnerkrankenversicherung einzubehalten sind. Die Einführung dieses Beitrages zur Rentnerkrankenversicherung war ein verhängnisvoller Eingriff in die bruttolohnbezogene Rente. Sie hat seinerzeit das Vertrauen unserer Rentner in die gesetzliche Rentenversicherung schwer erschüttert. Diese Rentenkürzung ist von den Rentnern stets als großes Unrecht angesehen worden, und ich meine, das mit Recht.Wir Sozialdemokraten haben der Einführung des Beitrages zur Rentnerkrankenversicherung damals notgedrungen zustimmen müssen, um — man sollte das hier auch deutlich sagen — nach der von der CDU/CSU verschuldeten Rezession die Voraussetzung zur Überwindung der Finanzkrise des Bundes zu schaffen.
Ich darf daran erinnern, daß die CDU/CSU damals sogar einen Beitrag von 4 % zur Krankenversicherung der Rentner einbehalten wollte,
das aber am Widerstand der Sozialdemokraten scheiterte.
Wir Sozialdemokraten haben damals erklärt, daß wir einen solchen Beitrag der Rentner grundsätzlich ablehnen,
haben ihn aber zur Rettung der lohndynamischen Rente akzeptiert. Wir haben den Beitrag zur Rentnerkrankenversicherung nur als notwendiges Übel hingenommen, ganz im Gegensatz zur heutigen Opposition: sie hat den Beitrag zur Krankenversicherung der Rentner stets als systemkonform verteidigt und als zumutbare Belastung der Rentner angesehen. Sie hat sich damit politisch ganz bewußt für eine langfristige Minderung des Rentenniveaus entschieden.
Uns Sozialdemokraten hat dieser Beitrag zur Krankenversicherung der Rentner immer bedrückt, weil wir wußten, daß dieser Rentenabschlag ein harter Akt gegenüber den Rentnern war. Deshalb hat die Regierung der sozialliberalen Koalition nach Überwindung der Rezession als eine ihrer ersten Initiativen am 17. November 1969 einen Gesetzentwurf über den Wegfall dieses Krankenversicherungsbeitrages eingebracht.
— Ja, meine Herren, das hören Sie nicht gerne. — Gegen den hinhaltenden Widerstand der CDU/CSU haben wir dann die Beseitigung des Beitrages zur Rentnerkrankenversicherung mit Wirkung vom 1. Januar durchgesetzt.
— Natürlich haben Sie zugestimmt, weil Sie gar nicht anders konnten. — Seitdem erhalten die Rentner wieder ihre volle bruttolohnbezogene Rente. Damit ist eine entscheidende Voraussetzung für ein dauerhaft hohes Rentenniveau geschaffen.Die Beseitigung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages war sicher ein Schritt von großer gesellschaftspolitischer Tragweite, der nicht nur die Renten von heute, sondern auch die Renten von morgen verbessert. Dennoch bleibt es ein soziales Ärgernis, daß die Rentner zwei Jahre lang Rentenkürzungen hinnehmen mußten, die in Wirklichkeit überhaupt keine echten Beiträge für die Krankenversicherung waren, sondern der Sanierung des Bundes und der Rentenfinanzen dienten.
Es ist deshalb heute, nachdem die Finanzlage der Rentenversicherung es zuläßt, ein Akt der sozialen Gerechtigkeit, den Rentnern ihre in den Jahren 1968 und 1969 geleisteten Krankenversicherungsbeiträge zu erstatten. Das soll heute das zur Verabschiedung stehende Gesetz der sozial-liberalen Koalition sicherstellen. Für neun Millionen Rentner und ihre Hinterbliebenen, die seinerzeit zwei Jahre lang eine Rentenkürzung hinnehmen mußten, ergibt sich dadurch eine einmalige Rentennachzahlung von 40 % ihrer heutigen Rente. Sie wird den Rentnern Ende März durch die Bundespost ausgezahlt werden. Zusammen mit der am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretenen Rentenerhöhung von 6,3 % ergibt sich unter Berücksichtigung der Rückzahlung der Rentnerkrankenversicherungsbeiträge, auf das ganze Jahr 1972 gerechnet, eine Rentenerhöhung von 9,6 %. Die Rückzahlung bietet somit eine Möglichkeit, den verhältnismäßig geringen Steigerungssatz des Jahres 1972, der bekanntlich auf die Rezessionszeit zurückzuführen ist, zu erhöhen und auch 1972 den Rentnern
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Wolfeinen Zuwachs an realer Kaufkraft zu gewährleisten. Damit wird die Zeitspanne bis zum Eintreten der starken Rentensteigerung der Jahre ab 1973 überbrückt.Die Rückzahlung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages bedeutet für die sozial-liberale Koalition, daß die rezessionsbedingten Rentenkürzungen der Jahre 1968 und 1969 jetzt nachträglich rückgängig gemacht werden. Damit wird das Prinzip der bruttolohnbezogenen Rente auch für die Vergangenheit wieder voll hergestellt. Dieses Prinzip der bruttolohnbezogenen Rente werden wir im Interesse eines hohen Rentenniveaus auch für die Zukunft sichern.Ich darf Ihnen, meine Damen und Herren, und allen Rentnern im Namen meiner Fraktion versichern: solange Sozialdemokraten Regierungsverantwortung tragen, wird es keinen negativen Eingriff mehr in die bruttolohnbezogene Rente geben.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Namens der FDP-Fraktion darf ich die folgende Erklärung abgeben. Wir Freien Demokraten begrüßen die heutige Stunde ganz besonders. Es ist eine Stunde, in der dieses Hohe Haus einstimmig ein Unrecht wiedergutmacht, das von uns seinerzeit, als in diesem Hause der zweiprozentige Krankenversicherungsbeitrag der Rentner beschlossen wurde, als ein solches Unrecht angeprangert wurde. Deshalb ist es unrichtig — das darf ich dem Kollegen Härzschel und der CDU/CSU sagen —, hier irgendeinen Zusammenhang mit den Vorstellungen der CDU/CSU von der Anpassung der Rente zu sehen, und es ist auch unrichtig, zu behaupten, daß von Anfang an nicht an eine Abschaffung dieses Rentnerkrankenversicherungsbeitrages seitens der Koalition gedacht worden wäre;
denn es war eine der ersten Maßnahmen aus den Koalitionsfraktionen heraus, in diesem Hause die Abschaffung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages einzuleiten. Heute erreichen wir nun auch die Rückzahlung.Die Große Koalition hat 1967 unter falschen Vorzeichen, mit einer nicht ehrlichen Argumentation und mit einer irreführenden Bezeichnung die Renten um 2 % gekürzt. Wir Freien Demokraten haben diese Rentenkürzung abgelehnt, weil sie in der Sache nicht für gerechtfertigt gehalten wurde und in der Methode eine Täuschung der Rentner und der Öffentlichkeit darstellte.Es ist auch für uns kein Geheimnis gewesen, daß die SPD-Fraktion damals — und der Kollege Wolf hat das noch einmal deutlich gemacht — den Vorschlägen von Finanzminister Strauß und Arbeitsminister Katzer nur widerwillig folgte. Das Nein der FDP zu dieser Art der Manipulation der Renten und der Rentenformel war, glaube ich, hilfreich und hat schließlich mit dazu beigetragen, daß wenigstens die im Kabinett zunächst beschlossene 4%ige Kürzung der dauernden Leistungen im Tausch,
— die Kürzung der dauernden Leistungen — —
— Herr Kollege Ruf, ich gebe zwar eine Erklärung ab, und deshalb lese ich auch ab; aber wenn Sie Zwischenrufe machen, kann ich ja darauf antworten. Die Kürzung der dauernden Leistungen — und es wäre eine Kürzung geblieben, wenn die Abschaffung durch diese Koalition nicht wieder erreicht worden wäre — konnte schließlich im Tausch mit einigen anderen, auch von uns nicht begrüßten Dingen doch auf 2 % reduziert werden. Ich glaube, wir Freien Demokraten waren bei diesem Denkprozeß innerhalb der Großen Koalition hilfreich, so daß es wenigstens nur zu einem 2%igen Abzug kam.
Das ist vielleicht gerade in diesem Falle der Belastung der Rentner in der damaligen Zeit sehr gut gewesen; denn wir hatten einen sehr konsequenten Standpunkt.In der damaligen Phase wurde deutlich, daß die großen Versprechungen der CDU aus dem Jahre 1957 nicht nur unerfüllbar waren, sondern daß sogar in die laufenden Renten durch Kürzung eingegriffen werden mußte, und dies nur deshalb, weil die Steigerung der Beitragseinnahmen nicht in dem erhofften Maße eintrat und die Rentenversicherungsträger im Vertrauen auf Bundesgarantien finanzielle Reserven so angelegt hatten, daß sie ohne Verursachung größten wirtschaftlichen Schadens nicht verfügbar waren.Die jetzige sozial-liberale Koalition, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat bereits vor zwei Jahren einen Teil des Unrechts und heute den Rest des Unrechts, das seitdem über den Rentnern schwebte und das ihnen viel, viel Geld entzogen hat, wieder gutgemacht. Wir haben in dieser Koalition die Rentenkürzung sofort abgeschafft, und wir werden heute durch die dankenswerterweise auch von der CDU/CSU im Ausschuß mitbeschlossene Rückzahlung diesen Weg des Unrechts völlig verlassen. Ich bin dafür namens der Freien Demokraten dem gesamten Hohen Hause dankbar.Diese Wiedergutmachung hat für die Rentner zwei positive Folgen gehabt, und das darf, glaube ich, noch einmal gesagt werden. Sie verfügen bereits seit 1970 durch die Abschaffung des Krankenversicherungsbeitrags jährlich dynamisiert über ca. 800 Millionen DM zusätzlich. Umgerechnet auf das Jahr 1972 liegt darüber hinaus die Rente um 3 % über dem üblichen Anpassungssatz, so daß die Rentner insgesamt über mehr als 9 % gegenüber dem Vorjahr verfügen.
Diese Entscheidungen sind der Beweis dafür, daß diese Koalition den Rentnern jede Leistung zukom-
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Schmidt
men läßt, die möglich ist, und daß ihnen nichts vorenthalten wird, wie es aus Kreisen der Opposition und ihres Anhanges behauptet wird. Die positive Entwicklung der Beitragseinnahmen hat die Beseitigung des Unrechts aus der Zeit der Großen Koalition ermöglicht und hat bei den weiteren Entwicklungen die Möglichkeit eröffnet, zusätzliche Überschüsse — und darauf werden wir Freien Demokraten in der sozialliberalen Koalition sehr achten — auch grundsätzlich den Versicherten und den Rentnern zukommen zu lassen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, angesichts der dauernden Verdächtigungen, als solle hier irgend jemandem etwas vorenthalten werden, erschien es mir und den Freien Demokraten notwendig, zumal die Argumentation gegen die Koalition in diesen Fragen manchmal ausufert, wieder einmal deutlich zu machen, daß wir Freien Demokraten und diese Koalition den Rentnern alles zugute kommen lassen werden, was den Rentnern im Rahmen ihres Bereichs zugute kommen kann.Diese beiden Leistungen ergeben zusammen mit den normalen Anpassungen prozentuale Erhöhungen der Renten, die wesentlich über den Preissteigerungsraten liegen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wer bisher und immer wieder ständig das Gegenteil behauptet oder es in Zukunft weiter tut, täuscht die Öffentlichkeit und die Rentner aus Unkenntnis oder aus bewußter parteitaktischer Absicht. Wenn die normalen Rentenanpassungssätze wesentlich unter den Lohn- und Gehaltssteigerungsraten der Jahre 1969, 1970 und 1971 lagen — auch das muß wieder einmal gesagt werden —, so ist dies einzig und allein die Folge der geltenden Rentenformel, die die CDU/CSU mit ihrer absoluten Mehrheit 1957 durchgesetzt hat. Wir machen der heutigen CDU/ CSU-Opposition nicht diese Formel zum Vorwurf, sondern die von Anfang an falsche Behauptung, als sei auf diesem Wege eine Rente in Höhe von 60 % eines vergleichbaren Bruttoentgelts bei einer 40jährigen Versicherungszeit überhaupt möglich. Der Planungsstab der CDU/CSU hat bis vor wenigen Monaten diese Behauptung wiederholt.Es ist interessant, daß der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Kollege Barzel, in seiner jüngsten Erklärung nur noch von 50 % spricht. Aber auch hierzu ist festzustellen, daß diese Grenzen — das ist eine Feststellung, die immer wieder einmal getroffen werden muß — nur ein einziges Mal, nämlich im Wahljahr 1957 erreicht wurden, obwohl man behauptete, 60 % zu erreichen.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition! Was in der gegenwärtigen Rentendiskussion von Ihrer Seite not tut — ich muß es einmal so deutlich sagen —, ist mehr Ehrlichkeit und Offenheit über die Möglichkeiten der Rentenreform und mehr Erhrlichkeit gegenüber den Rentnern. Man soll nicht immer von 60 % reden, wenn man nur ein einziges Mal 50 % über seine eigene Formel erreicht hat.
Die sozialliberale Koalition hat die Fehlentscheidungen der Großen Koalition unter Kanzler Kiesinger und Finanzminister Strauß korrigiert. Darum handelt es sich bei der heutigen Verabschiedung dieser Gesetzesvorlage. Sie wird das allgemeine Rentenrecht strukturell und darüber hinaus in einzelnen Leistungskategorien so verbessern, daß auch dann, wenn die Beitragseinnahmen in ein oder zwei Jahren einmal nicht so hoch wie erhofft steigen, Eingriffe in das Leistungsrecht wie in der Zeit der Großen Koalition nicht mehr nötig sein werden. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung und deren Leistungen steht für uns Freie Demokraten auch bei künftigen Entscheidungen an erster Stelle.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die dritte Beratung. Wer dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Punkt 3 der heutigen Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Horten, Frau Schroeder , Frau Stommel, Maucher und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung sozialer Hilfsdienste— Drucksache VI/485 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache VI/3028 —Berichterstatter: Abgeordneter Seidelb) Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache VI/2948 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Eilers
Von den Berichterstattern wird keine Ergänzung der schriftlich vorgelegten Berichte gewünscht.Wir treten in die zweite Beratung ein. Ich rufe die §§ 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10 und 11 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Wer dem Gesetz in der zweiten Beratung zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.Wir treten ein in diedritte Beratung.Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horten.
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9492 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Voraussetzungen und Thema des vorliegenden Gesetzentwurfes sind in der ersten Lesung, im Ausschuß und auch im Bericht des Ausschusses so ausführlich behandelt worden, daß ich mich auf einige kurze Bemerkungen beschränken kann. Zunächst möchte ich mit großer Befriedigung feststellen, daß mit diesem Gesetz endlich ein Vorhaben zu Ende gebracht wird, das dieses Hohe Haus nunmehr schon seit der 4. Legislaturperiode, also fast acht Jahre, beschäftigt und das immerhin einen sehr bemerkenswerten Abschluß in der Weise gefunden hat, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung der jetzt hier vorliegenden Vorlage einstimmig zugestimmt hat.Es war ein langer, zeitweise schwieriger Weg bis zu diesem nun vorliegenden Ergebnis, das man aber doch als einen echten, gesunden Kompromiß bezeichnen kann. Allerdings ist es leider nicht gelungen, die mit sehr guten Gründen zu vertretende Erhöhung des gesetzlichen Freibetrags für die Anrechnung der Renten in Höhe von 100 DM durchzusetzen. Aber die Anliegen der Initiatoren sind doch im wesentlichen erreicht, nämlich Wegfall der Lohnsteuerkarte und damit auch einer eventuellen steuerlichen Beeinträchtigung des sonstigen Einkommens oder des Einkommens des Ehemanns, Wegfall des Zwangs zur Doppelversicherung, die oft zum Wechsel der Krankenkasse und des Arztes geführt hat, schließlich Freihaltung von der Stellung von Anträgen und allen damit verbundenen Belastungen durch Besuch und Schreibaufwand, die sich in der Praxis als besonders nachteilig erwiesen haben.Ich möchte in diesem Zusammenhang übrigens die Erwartung aussprechen, daß das Bundesfinanzministerium den Satz für die Lohnsteuerpauschalierung, der im Laufe der letzten Jahre im Zusammenhang mit den Besprechungen über dieses Gesetz entgegenkommenderweise schon zweimal von ursprünglich 60 DM wöchentlich auf heute 85 DM wöchentlich erhöht worden ist, auch künftig proportional der allgemeinen Einkommensentwicklung anpaßt. Ich hoffe sehr, daß man diesem vernünftigen Anliegen entsprechen kann, da es sinngemäß auf eine maßvolle Dynamisierung hinausläuft, wie Sie, Herr Bundesarbeitsminister, das übrigens auch bei Ihrer Rede zur Einbringung der Rentenreform am 16. Dezember für die Behandlung der Teilzeitbeschäftigung der frühzeitig in den Ruhestand tretenden Arbeitnehmer formuliert haben. Noch besser wäre es natürlich, wenn die kommende Steuerreform die Bedingungen für die Lohnsteuerpauschalierung grundsätzlich regelte, damit die jetzt notwendige jeweilige Neufestsetzung auf dem Verwaltungswege vermieden wird.Diese Anpassung an das allgemeine Einkommensniveau darf natürlich nicht dazu führen, daß das Nettoeinkommen der Teilzeitbeschäftigten höher ist als das einer vollbeschäftigten Arbeitskraft, damit da keine Spannungen und Verschiebungen auftreten.Für die Krankenhäuser, Altenheime, Jugendheime usw. ist die Übernahme der pauschaliertenLohnsteuer sowie der Arbeitnehmeranteil an den Sozialbeiträgen, wie die Praxis zeigt, durchaus zumutbar. Nach den vom Bundesarbeitsministerium bestätigten Grundsätzen sind nämlich bei Ansatz von Nettolöhnen Steuer und Sozialbeitrag nach diesen Nettobeträgen zu berechnen. Der Bruttoaufwand des Arbeitgebers für eine Stunde Teilzeitarbeit bei ungefähr gleichem Nettoeinkommen ist also nicht höher, in der Praxis sogar etwas niedriger als der für eine Stunde normaler Vollzeitarbeit. Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, der den Arbeitgebern klargemacht werden muß.Es liegt auf der Hand, daß das vorliegende Gesetz, wie auch in der ersten Lesung sehr deutlich ausgesprochen wurde, selbstverständlich nur eine Voraussetzung schafft, um den sich ständig verschärfenden Mangel an Pflegekräften zu mildern. Die Berichterstatterin, unsere verehrte Kollegin Frau Eilers, hat in ihrem Schriftlichen Bericht eine ganze Reihe im Ausschuß behandelter Maßnahmen aufgezählt, die zusätzlich erforderlich sind, um die Personalnot in den pflegerischen und erzieherischen Berufen wirksam zu beheben, zumal der Bedarf an derartigem Personal, wie die Sozialenquete ja sehr deutlich macht, in den nächsten Jahren noch erheblich wachsen wird. Immerhin ist zu hoffen, daß auch das vorliegende Gesetz schon erhebliche Erleichterungen bringen wird.Zahlreiche Zuschriften, die sicherlich alle Mitglieder des Ausschusses erhalten haben, beweisen das große Interesse an der vorgesehenen Regelung und lassen erwarten, daß das Gesetz den angestrebten Zweck schnell und wirksam erreicht: mehr freiwillige Hilfskräfte, um die ausgebildeten Schwestern zu entlasten und freizuhalten für ihre wirklichen Aufgaben, möglichst viele ausgebildete Schwestern, die infolge von Eheschließung für einige Jahre ihren Beruf verlassen haben, aber wieder zurückkommen können, um wenigstens halbtagsweise im Krankenhaus oder sonstwo dienlich zu sein.Um dieses Ziel zu erreichen, ist es allerdings erforderlich, daß die Verbände und Organisationen, die sich in dem vom Ausschuß veranstalteten Hearing so überzeugend für das Gesetz ausgesprochen haben, nunmehr auch alles tun, damit die dadurch geschaffenen günstigeren Voraussetzungen bekannt und wirksam genutzt werden. In drei Jahren werden wir dann überprüfen müssen, was auf Grund der vorliegenden Erfahrungen geändert oder noch ergänzt werden soll.Natürlich handelt es sich hier nur um einen Teilbereich. Aber dieses neue Gesetz hat doch auch grundsätzliche Bedeutung. Nach langen, oft sehr kontroversen Diskussionen haben wir uns schließlich einstimmig dazu entschlossen, den hohen Grundsatz der Solidarität — alle für einen, einer für alle —, die Grundlage unseres Sozialsystems, in diesem Punkt etwas elastischer zu interpretieren, um damit Hemmnisse zu beseitigen, die bisher offensichtlich die Bereitschaft zur freiwilligen Tätigkeit gemindert haben. Damit wird der Grundsatz anerkannt, daß der Beitrag des einzelnen zur großen Solidarität nicht ausschließlich durch finanzielle
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9493
HortenLeistungen erbracht werden muß, sondern auch durch den freiwilligen persönlichen Einsatz in pflegerischer Tätigkeit geleistet werden kann. Und auf diese Ermutigung zu freiwilliger sozialer Hilfstätigkeit kommt sehr viel an, weil sicherlich nur bei Zunahme einer solchen Hilfstätigkeit die steigenden und sich weiter differenzierenden sozialen Anforderungen überhaupt in der Zukunft befriedigend erfüllt werden können.Ich möchte deshalb den Mitgliedern des Ausschusses aufrichtig dafür danken, daß sie diesen Gesetzentwurf schließlich einstimmig verabschiedet haben, und ich hoffe sehr, daß dieses Hohe Haus dem Beispiel des Ausschusses folgen wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Eilers.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hauptsinn und -zweck des Gesetzentwurfes zur Förderung der sozialen Hilfsdienste in seiner heute vorliegenden Fassung ist, wenn ich kurz zusammenfassen darf, folgender: Durch bestimmte Vergünstigungen im Rahmen der Sozialversicherung soll die Teilzeitarbeit im sozialen Bereich gefördert werden. Allerdings darf eine bestimmte Verdienstgrenze nicht überschritten werden. Es handelt sich dabei um pflegerische und pädagogische Tätigkeiten in Einrichtungen und Anstalten der Wohlfahrtspflege, der Gesundheits- und Jugendhilfe und in den öffentlichen Krankenhäusern. Durch die im Gesetz geschaffenen Vorteile hofft man, zusätzlich Kräfte — sowohl Fachkräfte wie auch Hilfspersonal — zu gewinnen.Um einen Anreiz zur Aufnahme einer Teilzeitarbeit im sozialen Bereich zu bieten, ist man dabei folgende Wege gegangen.Erstens. Die im sozialen Hilfsdienst Tätigen können sich auf Antrag von der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung befreien lassen, sofern sie bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert sind und Leistungen erhalten, die denen der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbar sind.Zweitens. Die Beiträge zur Sozialversicherung und zur Bundesanstalt für Arbeit werden allein vom Arbeitgeber getragen.Drittens. Eine weitgehende Steuerfreiheit der Tätigkeit ist denkbar. Das ergibt sich aus generellen steuerlichen Richtlinien für die Teilzeitarbeit. Bei einem wöchentlichen Verdienst bis zu 80 DM ist eine Lohnsteuerpauschalierung möglich, d. h. der Arbeitgeber zahlt in diesem Pauschal-Falle eine Lohnsteuer von 10%. Mithin könnte die Führung einer besonderen Lohnsteuerkarte entfallen, und es erfolgte keine zusätzliche steuerliche Belastung des sonstigen Einkommens, sowohl des eigenen wie desjenigen des Ehemannes.In welcher Weise wurde nun der CDU/CSU-Entwurf in den intensiven Ausschußberatungen durch die Anträge der sozial-liberalen Koalition geändert, und wie weit wurde er verbessert, damit eine einheitliche, gemeinschaftliche Verabschiedung im Ausschuß erreicht werden konnte?§ 3, die Bestimmung über die auf Antrag mögliche Befreiung von der gesetzlichen Krankenversicherung, wurde klarer formuliert und sachlich richtiggestellt. Eindeutig ist eine Befreiung nur dann denkbar, wenn einem anderen Versicherungsunternehmen gegenüber ein Anspruch auf Leistungen besteht, die den von der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewährenden vergleichbar sind.Zu § 7: Der CDU/CSU-Gesetzentwurf sah vor, daß man sich auf Antrag auch von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen konnte. An dieser Bestimmung wurde sowohl von den Regierungsparteien als auch von den Sachverständigen, wie z. B. von denen der freien Wohlfahrtsverbände, heftige Kritik geübt. Es wurde die Gefahr gesehen, daß aus Unkenntnis über die Folgen eines solchen Antrags, der sehr schnell gestellt ist, hinterher Nachteile entstehen könnten. Das würde unseren mühsamen Versuchen widersprechen, eine Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau zu erreichen. Durch die Teilzeitbeschäftigung bietet sich doch gerade für manche Frauen die Möglichkeit, eigene Versicherungsansprüche auszubauen oder sie erst einmal zu erwerben.Es konnte eine positive Neufassung des Paragraphen erreicht werden. Nach der jetzt vorgesehenen Regelung gibt es keinen Ausschluß von der gesetzlichen Rentenversicherung mehr. Die Beiträge werden in voller Höhe vom Arbeitgeber allein getragen. Die Beitragshälfte, die dem Anteil des Arbeitnehmers entsprechen würde, wird bei der Rentenberechnung dann fiktiv als sein rentenversichertes Entgelt mit berücksichtigt, damit Nachteile ausgeschlossen werden.Zu § 9: Als weitere Vergünstigung für die im sozialen Hilfsdienst Tätigen war ursprünglich von der CDU/CSU die Einführung eines Freibetrages von 100 DM vorgesehen worden. Dieser Betrag sollte bei der Feststellung von Einkommen aus sonstigen Versorgungsbezügen, etwa von Leistungen aus dem Beamtenrecht oder der Kriegsopferversorgung, unberücksichtigt bleiben, also nicht angerechnet werden. Dieser Paragraph wurde in den Ausschußsitzungen eingehend diskutiert. Auf Grund größerer Bedenken auch der beteiligten Ministerien wurde er schließlich gestrichen. Eine solche Regelung wäre nämlich ein schwerwiegender Einbruch in die Anrechnungsvorschriften des öffentlichen Leistungssystems gewesen. Auch hätte diese einseitige Begünstigung einer bestimmten Personengruppe unter Umständen weitere Ausnahmeregelungen präjudiziert.Ferner werden die arbeitsfähigen und arbeitswilligen Kriegerwitwen und Lastenausgleichsempfänger, für die diese Regelung wohl vor allem gedacht war, wie wir alle mit jedem Jahr älter, und daher wird auch ihre Zahl ständig kleiner. Ihr Durchschnittsalter beträgt jetzt schon 64,2 Jahre. — Es hätte Rechtsprobleme dort gegeben, wo der Anspruch auf eine Rente davon abhängt, daß das
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9494 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Frau EilersArbeitseinkommen einen bestimmten Betrag nichtübersteigt, z. B. beim vorgezogenen Altersruhegeld.§ 8 des Gesetzentwurfes sah vor, daß es eine generelle Möglichkeit der Befreiung von der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Hinterbliebenen von Beamten, Ruhegeldempfängern usw. geben sollte. Auf Antrag der SPD und der FDP wurde dieser Paragraph gestrichen, weil hier im Vorgriff ein Problem gelöst worden wäre, das erst im größeren Rahmen der Weiterentwicklung der Krankenversicherung geklärt werden muß. Eine solche Bevorzugung der Hinterbliebenen von Beamten gegenüber den Hinterbliebenen von Angestellten und Arbeitern hätte darüber hinaus eventuell schwerwiegende Folgen für das Arbeitsklima haben können.Das Gesetz soll nun gemäß § 11 drei Jahre in Kraft bleiben. Dann können die bis zu diesem Zeitpunkt gesammelten Erfahrungen ausgewertet werden, und es wird sich zeigen, ob das Gesetz so weitergeführt werden sollte oder ob es einer Revision bedarf. Obwohl das Gesetz in wesentlichen Bestimmungen so umgestaltet wurde, daß es den Vorstellungen der sozial-liberalen Koalition entsprach und im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung einstimmig verabschiedet werden konnte, ist doch nicht zu übersehen, daß noch gewisse Bedenken bestehengeblieben sind.Die CDU/CSU sieht ein bisher noch nicht ausgeschöpftes Arbeitskräftereservoir für Tätigkeiten in sozialen Bereichen in der großen Gruppe älterer und alleinstehender Frauen. Es fragt sich jedoch, ob dieser Kreis der Schwere der Aufgaben heute überhaupt noch gewachsen ist.Sofern an Mütter gedacht wird, deren Kinder dem Elternhaus entwachsen sind und die durch die Vergünstigungen dieses Gesetzes wieder für das Berufsleben zurückgewonnen werden sollen, so ist auf die zum 1. Oktober 1970 erfolgte Änderung des Bundesangestelltentarifs für das Krankenhauspflegepersonal hinzuweisen. Neben einer pauschalen Erhöhung der Bezüge gab es strukturelle Verbesserungen, die sich besonders positiv für die Personen auswirken, die nach längerer Berufsunterbrechung wieder arbeiten: Die Gehaltsklasse richtet sich jetzt nicht mehr nach Berufsjahren, sondern nach dem Alter. Des weiteren sind die Aufstiegsmöglichkeiten wesentlich verbessert worden. Somit ist eine der Forderungen der CDU/CSU, nämlich das Einkommen der pflegerisch und erzieherisch Tätigen zu erhöhen, weitgehend erfüllt.Es ist auch nicht auszuschließen, daß das Pflege- und Betreuungspersonal, das zur Zeit ganz- oder halbtags arbeitet, auf die steuermäßig und sozialversicherungsrechtlich begünstigte stundenweise Teilzeitbeschäftigung umsteigt. Das Gesetz würde dann ungewollt die Personalnot noch erhöhen.Durch die Schaffung unterschiedlich behandelter Arbeitskräfte könnte sich darüber hinaus eventuell auch der Arbeitsfrieden weniger harmonisch gestalten.Als Sozialhilfsdienste gelten pflegerische und erzieherische Tätigkeiten. In der Hauswirtschaft Beschäftigte und mit Verwaltungsaufgaben Betraute erfüllen aber für den Ablauf des Arbeitsprozesses in den sozialen Einrichtungen ebenfalls sehr wichtige Funktionen. Auch hier könnte es Spannungen geben, wenn sie nicht von diesem Gesetz erfaßt würden.Um die Vergünstigungen des Gesetzes in Anspruch nehmen zu können, ist eine obere Verdienstgrenze vorgesehen. Obwohl durch die Koppelung an die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung die Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung gewährleistet ist, ist das Maximaleinkommen jedoch sehr gering. Der maximale Stundenlohn beträgt zur Zeit 5,25 DM, der maximale Monatslohn 420,— DM. Bei Höchstlohn darf also auch eine Arbeitszeit von 80 Stunden im Monat nicht überschritten werden. Mit diesen Verdienstmöglichkeiten können Fachkräfte wohl nur schwer gewonnen werden. Der Bedarf an sozial geschultem Fachpersonal ist aber heute größer als der an ungelernten Hilfskräften.Es muß sich also zeigen, ob das Gesetz alle Hoffnungen erfüllen wird und die richtigen Mittel und Wege bereitstellt, um die personelle Notsituation in unseren sozialen Einrichtungen beheben zu können. Allein auf das Gesetz kann man sich ganz gewiß nicht verlassen. Ich glaube, daß — genau wie Kollege Horten eben schon sagte — mit Nachdruck auf den in dem Schriftlichen Bericht niedergelegten Katalog aufmerksam gemacht werden muß, der auf eine Vielzahl aufeinander abgestimmter und sich ergänzender Maßnahmen hinweist, um der personellen Not in den sozialen Einrichtungen besser begegnen zu können. Wenn wir beides miteinander sehen — dieses Gesetz zur Förderung sozialer Hilfsdienste, von dem wir trotz all der Bedenken, die ich noch einmal aufgezeigt habe, eine Initialzündung erhoffen, und die Verwirklichung der in dem Katalog niedergelegten Aufgaben, die noch zu erfüllen sind —, hoffen wir endlich zu einer Erleichterung der personellen Situation in den sozialen Einrichtungen im Dienste aller Bevölkerungsschichten zu kommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Geldner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der Fraktion der Freien Demokraten darf ich zum vorliegenden Gesetzentwurf folgende Erklärung abgeben.Alle Fraktionen dieses Hauses sind sich darin einig, daß alle staatlichen Hilfen und alle öffentlichen und privaten Einrichtungen nicht ausreichen, wenn es uns nicht gelingt, eine genügende Zahl von Arbeitskräften für Berufe und die Tätigkeit in Krankenhäusern sowie Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und der Jugendhilfe zu interessieren.Die Frage, wie der heutige große Mangel an Pflege-, Betreuungs- und Erziehungspersonal in diesen Bereichen gemildert werden kann, stand im Mittelpunkt der Beratungen über den vorliegenden
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9495
GeldnerEntwurf eines Gesetzes zur Förderung sozialer Hilfsdienste. Wir wissen, daß die Vergünstigungen, die dieser Entwurf für Hilfskräfte im Hinblick auf die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung vorsieht, diese Probleme des Personalmangels nicht lösen kann; aber das Gesetz kann zumindest einen Schritt in dieser Richtung beitragen. Im Grunde genommen, meine Damen und Herren, beschränken sich die Vergünstigungen auf eine Halbtagsbeschäftigung, d. h. eine Teilzeitbeschäftigung nach der geltenden Beitragsbemessungsgrenze von 420 DM.Wenn die angebotene Chance in dem einen oder anderen Fall wahrgenommen wird, kann das Gesetz den beabsichtigten Zweck erfüllen. Wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bereitschaft, in entsprechend begrenztem Raum beruflich tätig zu sein, durch die heute üblichen Belastungen mit sozialen Abgaben und Steuern stark beeinträchtigt wird. Diese sind allein schon ein Grund, auf solch eine Arbeit zu verzichten. Es ist kein Zufall, daß wir uns heute bei Nebentätigkeit in begrenztem Umfange auf pauschale Besteuerung beim Arbeitgeber beschränken, weil dies häufig die einzige Möglichkeit ist, für diese Tätigkeit entsprechende Arbeitskräfte zu finden. Eine Ausweitung dieser Bestimmungen speziell auf soziale Hilfsdienste hätte zweifellos ihre Problematik, und ich möchte darauf — ganz besonders in rechtlicher und sozialer Hinsicht — aufmerksam machen.Das Bemühen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ging deshalb dahin, auf dem vorgeschlagenen Weg sozialer Vergünstigungen einen Anreiz zu entsprechender Tätigkeit zu bieten. Um das Problem des mangelnden Personals zu überwinden, sind jedoch auch nach Auffassung der Freien Demokraten weitere Maßnahmen erforderlich, wie sie im Bericht — Drucksache VI/2948 — auf Seite 2 dargestellt wurden.Das Gesetz wurde bewußt auf eine dreijährige Laufzeit begrenzt. Diese Zeit wird genügen, um Erfahrungen darüber zu sammeln, ob der vorgeschlagene Weg richtig ist oder ob andere, weitergehende Lösungen, speziell im Hinblick auf die Hilfskräfte und Teilzeitbeschäftigten, gefunden werden müssen. In diesem Zeitpunkt bleibt uns die Hoffnung, daß von dem Angebot Gebrauch gemacht wird und daß dies dazu beitragen wird, die größten personellen Engpässe zu überwinden. Deshalb werden wir Freien Demokraten dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. — Herr Abgeordneter Maucher, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich in Zukunft rechtzeitig meldeten.
— Auch wenn er sich erst im letzten Moment entscheidet, muß sich der Kollege zu Wort melden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sehe mich deshalb zu meiner kurzfristigen Wortmeldung veranlaßt, weil ich an dem Gesetzentwurf mitgearbeitet und im Ausschuß für Arbeit und Sozialpolitik den § 9, der gestrichen worden ist, verteidigt habe. Meine Freunde und ich haben von einer Antragstellung abgesehen, weil sich in der Diskussion und bei der Abstimmung im Ausschuß ergeben hat, daß für einen entsprechenden Antrag eine Mehrheit in diesem Hause nicht zu erreichen ist. Ich muß aber feststellen, daß ich der kurzen Begründung im Schriftlichen Bericht und auch den in der Diskussion im Ausschuß vorgetragenen Meinungen hinsichtlich der Frage, ob ein Teilbetrag vor allem bei Kriegerwitwen, Versorgungsempfängern usw. anrechnungsfrei gelassen werden sollte, nicht folgen kann.
Es wird geltend gemacht, daß man hier eine grundsätzliche Entscheidung treffe. Ich habe im Ausschuß darauf hingewiesen, daß in Notsituationen besondere zeitbedingte Maßnahmen zulässig sind und keine Konsequenz bezüglich der grundsätzlichen Regelung nach sich ziehen müssen. Ich sage hier in aller Offenheit, daß wir nach der von Ihnen getroffenen Entscheidung in der besonderen Situation, in der wir uns befinden, einfach nicht in der Lage sind, das erforderliche Krankenhauspersonal zu bekommen. Ich weise jetzt schon in diesem Hause darauf hin, daß wir uns in den nächsten Jahren mit diesem Problem in einem viel größeren Umfang beschäftigen werden. Wenn dieser Freibetrag ausgeschlossen wird, so bedeutet das, daß wir Tausenden diesen Weg verwehren, weil es sich auf Grund der Anrechnungsbestimmungen einfach gar nicht lohnt, überhaupt erst zu beginnen. Gerade dieser Umstand scheint mir von ganz entscheidender Bedeutung zu sein. Ich muß auf diese Tatsache hinweisen, damit es im Protokoll steht, und ich bitte, sich die Sache bei allen Stellen, Regierung und Parlament, nochmals zu überlegen.
Auf Grund der Ausschußbeschlüsse wird das Parlament für die Zukunft eine Reihe von Aufträgen erteilen. Diese Aufträge sind wünschenswert und notwendig. Ich persönlich aber bedaure außerordentlich, daß der Freibetrag abgelehnt worden ist. Ich bin nicht der Meinung, daß er die genannten Konsequenzen haben würde.
Dennoch werde ich dem Gesetzentwurf als einem bescheidenen Schritt vorwärts zustimmen.
Meine Damen und Herren, es liegen jetzt keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Beratung.Wer dem Gesetzentwurf in dritter Lesung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.Ich rufe jetzt Punkt 4 der Tagesordnung auf:Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
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9496 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen zu dem Gesetz über die weitere Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und des Bundesfernstraßenbaus (Verkehrsfinanzgesetz 1971)— Drucksache VI/3025 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Apel Der Berichterstatter hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Bundesrat sind zu diesem Gesetzentwurf insgesamt vier Vermittlungsbegehren und Veränderungswünsche vorgetragen worden.
Erstens: Die Ausweitung des Katalogs der Förderungsmaßnahmen für den gemeindlichen Verkehrswegebau. Der Bundesrat hatte insbesondere darum gebeten, auch die Finanzierung von Fahrzeugen in den Katalog der Förderungsmaßnahmen einzubeziehen, und zwar mit der Begründung, bei der Einrichtung neuer Linien und der Verdichtung bestehender Linien entstünden hier zusätzliche Kosten. Wir haben dieses Vermittlungsbegehren im Vermittlungsausschuß mehrheitlich ablehnen müssen, weil es das Prinzip des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes ist, Zuschüsse des Bundes zur Infrastruktur, d. h. also zu Tief- und Hochbaumaßnahmen zu geben, nicht aber für den rollenden Teil im öffentlichen Personennahverkehr.
Das zweite Vermittlungsbegehren des Bundesrates bezog sich auf die Forderung, den Förderungsanteil des Bundes von 60 auf 66 2/3 % anzuheben. Wir haben auch dieser Maßnahme mit Mehrheit widersprechen müssen, weil die Mittel insgesamt ja auf 1 Milliarde DM begrenzt sind und eine Anhebung des Anteils des Bundes die Mittel insgesamt schmälern würde. Es kommt hinzu, daß wir am Ende des Jahres eine Erhöhung der Kfz-Steuer für den Lkw beschlossen haben, die den Ländern zufließt und ihnen 250 Millionen DM mehr bringt.
Das dritte Begehren des Bundesrates war es, eine Reihe von Ausnahmen von der Mineralölsteuererhöhung vorzusehen: für den gewerblichen Güterfernverkehr und den Werkfernverkehr im Zonenrand, für die Transporte agrarischer Güter über die lange Strecke und für die Seehäfentransporte. Aus wechselnden Gründen haben wir auch hier mehrheitlich ablehnen müssen. Einmal müssen wir bedenken, daß Subventionen dieser Art — das wäre es ja quasi — nicht EWG-konform sind, und zweitens müssen wir berücksichtigen, daß der Zonenrand durch die Förderungsmaßnahmen des Bundes sowieso besonders gut wegkommt; denn hier ist der Anteil des Bundes auf 75 % der Investitionskosten — gegenüber sonst 60 % — angehoben worden. Außerdem haben wir die Zuschüsse des Bundes für den Werkfernverkehr im Zonenrand verdoppelt.
Ein echter Kompromiß ist bei dem vierten Anrufungsbegehren des Bundesrates erreicht worden, und dieser Kompromiß ist dann auch im Vermittlungsausschuß einstimmig angenommen worden. Der Bundesrat hatte sich dagegen gewandt, daß die 1 Milliarde, die den Gemeinden zusätzlich zufließen soll, dadurch gekürzt wird, daß wir die 250 Millionen DM Mineralölsteuererstattung für den öffentlichen Personennahverkehr, die wir hier beschlossen haben, voll zu Lasten dieser einen Milliarde gehen lassen und damit im Endeffekt aus der einen Milliarde 750 Millionen machen würden. Der Kompromiß, den meine Fraktion vorgeschlagen hat und der einstimmig im Vermittlungsausschuß gebilligt worden ist, sieht folgendermaßen aus. Wir ziehen von der einen Milliarde für die Gemeinden die Mineralölsteuererstattung für diejenigen Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs ab, die nicht dem Bund gehören, d. h. also: Bundesbahn und Bundespost werden aus dieser Mineralölsteuererstattung herausgenommen. Es bleiben dann ungefähr 140 oder 150 Millionen DM von der einen Milliarde für die Gemeinden abzuziehen. Dies allerdings halten wir für richtig und für vertretbar. Denn dieser Abzug von der einen Milliarde kommt ja den Gemeindehaushalten dadurch zugute, daß sie Kosten und Zuschüsse für ihre eigenen öffentlichen Nahverkehrsunternehmen sparen. Bei Bundesbahn und Bundespost bleibt es bei der Defizithaftung des Bundes. Hier wird also keine Kontennormalisierung durchgeführt.
Zur Klarstellung möchte ich für meine Fraktion eine zusätzliche Bemerkung machen. Wenn wir — —
Herr Kollege Apel, darf ich fragen, ob Sie jetzt gleichzeitig Ihre Wortmeldung als Abgeordneter der SPD-Fraktion in Anspruch nehmen wollen. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden.
Ja, das ist aus zeitökonomischen Gründen einfach zweckmäßig, Herr Präsident. Ich bin Ihnen sehr dankbar für den Hinweis.Für meine Fraktion möchte ich zwei Bemerkungen machen. Erstens. Mit der Herausnahme der Fahrzeuge der Bundesbahn und der Bundespost aus der Mineralölsteuererstattung wollen wir im Plenum unterstreichen, daß das nicht heißt, daß diejenigen Privatunternehmer nicht mit einbezogen werden sollen, die im Auftrage der Bundesbahn und der Bundespost fahren bzw. auf Grund von Betriebsübertragungen der beiden Bundesunternehmen tätig sind; diese Unternehmen sollen Mineralölsteuererstattung erhalten. Das muß fürs Protokoll deutlich sein, obwohl ich meine, daß der Beschluß des Vermittlungsausschusses in dieser Frage deutlich genug ist; dennoch möchte ich es hier gesagt haben.Eine zweite Bemerkung für meine Fraktion: Wir stimmen dem Vermittlungsbegehren in der vorliegenden Form zu. Wir hoffen sehr und sind eigentlich sicher, daß jetzt im Bundesrat eine klare Mehrheit die Verabschiedung dieses Gesetzes sicherstellt. Denn von den Einnahmen, die sich aus der Erhöhung der Mineralölsteuer ergeben, gehen ja 75 % an die Gemeinden für ihren Verkehrswegebau. Die Finanzlage der Gemeinden gebietet es geradezu, dieses Gesetz schnell zu verabschieden. Wir mußten das Inkrafttreten dieses Gesetzes sowieso
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9497
Dr. Apelauf den 1. März vordatieren. Wir haben also schon zwei Monate verloren. Eile ist geboten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Krammig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da das Gesetz über die weitere Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und des Bundesfernstraßenbaus erst rechtswirksam werden kann, wenn der Vermittlungsvorschlag von beiden Körperschaften angenommen ist, möchte ich hier namens der CDU/CSU-Fraktion erklären, daß das für uns der Grund ist, den Vermittlungsvorschlag abzulehnen.
Wir haben bei der ersten Beratung des Gesetzes und auch in der dritten Beratung darauf hingewiesen, daß wir Steuererhöhungen aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen müssen, weil sie nicht dazu dienen sollen, Infrastrukturmaßnahmen zusätzlich zu fördern, sondern weil sie in erster Linie dazu gedacht sind, die im Bundeshaushalt entstandenen Löcher auf Grund der Inflationspolitik der letzten Jahre zu stopfen.
Das mitzumachen ist nicht unsere Absicht. Daher müssen wir auch den Vermittlungsvorschlag ablehnen.
Herr Präsident, Sie werden gestatten, daß ich gleich einen Satz anfüge, um mir nachher eine Wortmeldung ersparen zu können. Meine Damen und Herren, Sie haben heute morgen das Änderungsgesetz zum Tabaksteuergesetz in die Tagesordnung aufgenommen. Die Erklärung, die ich soeben hinsichtlich der Steuererhöhung abgab, gilt auch für dieses Gesetz. Auch dieses Gesetz wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus den gleichen Gründen ablehnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freien Demrokraten begrüßen es, daß es im Vermittlungsausschuß gelungen ist, zu einem Mehrheitsbeschluß zu kommen, der Ihnen hier zur Annahme unterbreitet wird, um das Gesetz über die weitere Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und des Bundesfernstraßenbaus endlich in Kraft setzen zu können. Wir Freien Demokraten sind der Auffassung, daß mit diesem Gesetz sowohl den Gemeinden in der Bundesrepublik wie auch den Betrieben, die öffentlichen Personennahverkehr durchführen, eine entscheidende Hilfe gegeben wird. Aus diesen Gründen, um diese Hilfen geben zu können, sind wir bereit, der vorgesehenen Mineralölsteuererhöhung um 4 Pfennig je Liter zuzustimmen. Wir geben unserer BefriediAusdruck, daß allen Versuchen, über die Erhöhung der Mineralölsteuer um 4 Pfennig hinauszugehen, widerstanden werden konnte und daß es bei der im Dezember hier im Hause beschlossenen Erhöhung um 4 Pfennig je Liter Mineralöl bleibt.
Wir empfinden es als etwas seltsam, daß die Opposition hier im Hause das Gesetz, also diese Steuererhöhung zum Zwecke des Verkehrswegeausbaus der Gemeinden und zur Hilfe für die Betriebe, die öffentlichen Personennahverkehr betreiben, ablehnt, während andererseits im Bundesrat den CDU-geführten Ländern die Erhöhung noch zu gering erschien und die Hilfen für die Gemeinden, die durch dieses Gesetz eingeleitet werden, als nicht umfassend genug angesehen wurden. Hier scheint mir doch eine Diskrepanz in den Auffassungen vorzuliegen, von der ich hoffe, daß sie unter Umständen bei ähnlichen Gelegenheiten zutage treten könnte, wenn Sie beispielsweise hier sehr wichtigen politischen Verträgen zustimmen könnten, obwohl die von Ihnen geführten Länder anderer Auffassung sind. Wir hoffen also, daß diese unterschiedlichen Auffassungen und daß unterschiedliche Abstimmungen in Zukunft für andere Gelegenheiten Schule machen.
Wir Freie Demokraten bekennen uns zu dieser Einigung, wir sind zufrieden, daß dieses Gesetz, wenn auch mit Verzögerung, endlich in Kraft treten kann.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Danke. Stimmenthaltungen? — Meine Damen und Herren, damit ist der Antrag angenommen.
Ich rufe Punkt 5 der heutigen Tagesordnung auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Dritten Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen
— Drucksache VI/3026 —
Das Wort zur Berichterstattung hat der Abgeordnete Dr. Arndt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens des Vermittlungsausschusses darf ich Ihnen folgenden Bericht erstatten.Im Vermittlungsausschuß standen insgesamt drei Vermittlungsbegehren zur Debatte, von denen zwei ihrerseits noch unterteilt waren. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt Ihnen, wie Sie aus der Ihnen
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9498 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Dr. Arndt
vorliegenden Drucksache entnehmen können, das Vermittlungsbegehren unter Nr. 1 mit den Punkten a) und b) so zu beschließen, wie es der Bundesrat beantragt hat, und im übrigen die Vermittlungsbegehren des Bundesrates zurückzuweisen bzw. beim letzten Punkt, wie ich Ihnen gleich noch erläutern werde, eine dritte Position zu beziehen, nämlich die im Rechtsausschuß neu hineingenommene Vorschrift zu streichen.Erstens: § 850 c Abs. 2 der Zivilprozeßordnung. Hier hatte der Rechtsausschuß beschlossen, bestimmte Sätze zu erhöhen und damit die pfändungsfreien Beträge heraufzusetzen. Es hat sich aber in den Beratungen des Bundesrates gezeigt, daß es Bundesländer gibt, in denen diese Beträge dazu führen, daß die pfändungsfreien Beträge noch unterhalb der Sätze der Sozialhilfe liegen, so daß hier ein Sozialhilfeanspruch des gepfändeten Schuldners entstünde, den die Gemeinden als Sozialhilfeträger auszugleichen hätten. Im Endergebnis hätten dann die Gemeinden für die Schulden aufzukommen. Wir hielten dies im Vermittlungsausschuß nicht für vertretbar und haben uns infolgedessen der Fassung des Bundesrates für die Festsetzung der pfändungsfreien Beträge angeschlossen. Daher bittet Sie der Vermittlungsausschuß, § 850 c Abs. 2 ZPO so zu fassen, wie er Ihnen in der Drucksache vorliegt.Zweitens: Bei § 850 c Abs. 4 der Zivilprozeßordnung hatte der Entwurf des Bundestages, wie ihn der Rechtsausschuß empfohlen hatte, erstmalig eine feste Einkommensgrenze für den mitverdienenden Ehepartner vorgeschlagen, die bei der Festsetzung des Betrages berücksichtigt werden sollte, welcher der Festlegung des pfändungsfreien Betrages zugrunde liegt. Diese starre Einkommensgrenze, die dabei für den mitverdienenden Ehegatten berücksichtigt werden sollte, führt aber, wie es allerdings allen starren Grenzen eigen ist, insbesondere in Grenzfällen zu groben Ungerechtigkeiten. Es ist etwa der Fall denkbar, daß der Ehepartner nur 20 DM mehr im Monat verdient und dieses dann zu einer Erhöhung des pfändbaren Betrages bei dem hauptverdienenden Ehepartner um fast 240 DM führt.Der Vermittlungsausschuß meinte, hier dem Bundesrat folgen zu sollen, und schlägt Ihnen vor, es insoweit beim geltenden Recht zu belassen und keine feste Anrechnungsgrenze für die Berücksichtigung des Einkommens des mitverdienenden Ehepartners einzuführen. Allerdings sollte man in Zukunft bei einer sogenannten großen Novellierung des Gesetzes über die Pfändungsfreigrenzen einmal überlegen, wie man ohne eine starre Grenze hier mehr Gerechtigkeit walten lassen könnte. Der Vermittlungsausschuß sah sich jedoch nicht in der Lage, schon heute einen entsprechenden Vorschlag zu machen, und empfiehlt Ihnen deswegen die Ihnen in der Drucksache vorliegende Fassung des § 850 c Abs. 4 der Zivilprozeßordnung.Drittens: § 850 d Abs. 2 Buchstabe a der Zivilprozeßordnung. Hier geht es um die Unterhaltsansprüche minderjähriger unverheirateter Kinder im Vergleich zum Ehegatten und zu früheren Ehegatten. Hier stand ein Verfassungsproblem mit zur Debatte, nämlich die Frage der Berücksichtigung der gleichen Chancen für die nicht ehelichen Kinder. Nach Meinung des Vermittlungsausschusses entspricht die Entscheidung, die der Bundestag hier in zweiter und dritter Lesung auf Vorschlag des Rechtsausschusses getroffen hat, auch der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 5 des Grundgesetzes, in dem er das nicht eheliche Kind nicht dadurch auch nur mittelbar benachteiligt, daß er der Mutter eines nicht ehelichen Kindes einen besseren Rang gibt als der eines nicht ehelichen. Materiellrechtlich — das ist zuzugeben — ist zwar eine andere Rangfolge der Unterhaltsansprüche bestimmt. Die materiellrechtliche Rangfolge betrifft jedoch die Frage, wer zurückstehen muß, wenn die Mittel des Unterhaltsschuldners nicht zur Befriedigung aller Unterhaltsgläubiger ausreichen. Vollstreckt aber die Mutter eines nicht ehelichen Kindes in das Arbeitseinkommen des Vaters, so ist seine Leistungsfähigkeit bereits vorher im materiellrechtlichen Verfahren festgestellt. Nach Meinung des Vermittlungsausschusses wäre es daher unbillig, der Mutter des nicht ehelichen Kindes dann grundsätzlich einen schlechteren Rang als den erstberechtigten Unterhaltsgläubigern zuzuweisen. Der Vermittlungsausschuß schlägt Ihnen daher vor, es insoweit bei der Fassung zu belassen, die der Bundestag in dritter Lesung beschlossen hat.Viertens: § 850 k der Zivilprozeßordnung; zugleich auch fünftens: § 850 k Abs. 3 Satz i der Zivilprozeßordnung. Diese Vorschrift, meine sehr verehrten Damen und Herren, war in der Vorlage der Bundesregierung nicht enthalten. Sie ist auf Grund einer Initiative der beiden Berichterstatter der CDU/CSU und der Sozialdemokratischen Partei im Rechtsausschuß in das Gesetz hineingekommen. Bei den Beratungen im Vermittlungsausschuß, aber auch schon vorher im Bundesrat und am Rande auch von Beratungen, die nach der dritten Lesung stattgefunden haben, hat sich erwiesen, daß diese Neuregelung, die vorsah, daß in Zukunft eine Regelung von Pfändungsfreigrenzen auch für Gehaltskonten eingeführt werden soll, die bei Geldinstituten geführt werden, noch zu unausgegoren ist, um heute schon Gesetz zu werden. Der Vermittlungsausschuß hat Ihnen daher empfohlen, zunächst an dieser Stelle von der Einfügung eines § 850 k der Zivilprozeßordnung, der sich mit der speziellen Pfändung von Gehaltskonten bei Geldinstituten befaßt, abzusehen und dieses Problem erst noch gründlicher, auch in der Wissenschaft, zu diskutieren, ehe es in das Gesetz eingefügt wird. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt Ihnen daher, abweichend sowohl von den Beschlüssen des Bundestages als auch vom Vermittlungsbegehren des Bundesrates, den § 850 k aus dem Entwurf zu streichen.Ich darf daher zusammenfassend sagen, daß der Vermittlungsausschuß Ihnen empfiehlt, die Nummer 1 mit cien Buchstaben a und b im Sinne der Drucksache 2976 zu beschließen, bei der Nummer 2 der Drucksache 2976 das Vermittlungsbegehren abzulehnen und bei der Nummer 3 der Drucksache 2976 dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zu folgen, den § 850 k in der Fassung der dritten Lesung wieder aus dem Gesetz zu streichen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9499
Ich danke dem Herrn Berichterstatter für seinen Bericht und erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Erhard .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe für die CDU/CSU-Fraktion eine Erklärung abzugeben. Die CDU/CSU-Fraktion kann dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses nicht zustimmen. Die Gründe sind die folgenden:
Erstens. Die erhebliche Anhebung der Pfändungsfreigrenzen begegnet Bedenken. Die Bundesregierung hat eine Steigerung der Lebenshaltungskosten für die Zeit vom Oktober 1965 bis Ende 1970 mit 14,1% in der Begründung des Gesetzentwurfs angegeben. Inzwischen sind die Lebenshaltungskosten sicher um mehr als 6 % weiter gestiegen, also auf etwa mindestens jetzt 20 %. Die Pfändungsfreigrenzen werden aber im Sockelbetrag um 50% im einen und um rund 150 % im anderen Fall angehoben. In den unteren Einkommensgruppen beträgt die Gesamterhöhung für den Schuldner mit unterhaltsberechtigter Familie knapp 100 %. Diese außerordentlich starke Anhebung wird von der CDU/CSU-Fraktion nur deshalb hingenommen, weil wir der Überzeugung sind, daß die Bundesregierung offensichtlich nicht entschlossen gegen die weitere Geldentwertung vorgeht. Eine zusätzliche Erhöhung der Freibeträge für Normaleinkommen hält die Fraktion aber für unvertretbar, dies um so mehr, als die vom Rechtsausschuß einstimmig beschlossene Regelung über die Anrechenbarkeit des Einkommens von selbstverdienenden Familienangehörigen des Schuldners in Fortfall kommen soll. Die Rechte eines Gläubigers, z. B. aus unerlaubter Handlung, werden bei dieser Neuregelung oft unrealisierbar bleiben und zum reinen Papierrecht entwertet.
Zweitens. Die CDU/CSU-Fraktion ist mit dem Bundesrat der Auffassung, daß Unterhaltsansprüche minderjähriger unverheirateter Kinder, des Ehegatten und eines früheren Ehegatten weiterhin im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 unseres Grundgesetzes den Unterhaltsansprüchen der Mutter eines nicht ehelichen Kindes im Rang vorgehen. Auch nach materiellem Recht gehen diese Unterhaltsberechtigten vor. Die materiellrechtliche Rangfolge ist in der amtlichen Begründung zu dem Gesetz über das Nichtehelichenrecht wie folgt begründet worden: Sie dient dem Anliegen des Schutzes von Ehe und Familie. Auf ganz der gleichen Linie liegt auch der Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Ehe- und Familienrechts, den die Bundesregierung erst vor wenigen Wochen vorgelegt hat. Gegen die einstimmige Entscheidung des Bundesrates — im Bundesratsplenum und im Bundesratsrechtsausschuß — sowie gegen die Stellungnahme der CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuß dieses Hauses wird hier aus irgendeiner verklemmten Parteiideologie der Begriff von Ehe und Familie verändert, entleert und entwertet. Dadurch wird das erst 1969 geschaffene Recht des BGB zur reinen Deklamation.
Drittens. Nachdem alle Anliegen der CDU/CSU-Fraktion im Vermittlungsausschuß abgelehnt wurden,
können wir diesem Vorschlag des Vermittlungsausschusses nicht zustimmen.
Eine letzte Bemerkung. Der Herr Kollege Arndt meinte, der Schutz von Gehaltskonten eines Schuldners bedürfe noch weiterer wissenschaftlicher Erörterungen und Klärungen. Diese Wissenschaft stellt sich in Wirklichkeit so dar, daß wir bereits in sechs geltenden Gesetzen diesen Schutz verankert haben, und das sollte im Zivilrecht bei der ZPO nicht möglich sein!? So steht es mit dem Reformwillen dieser Koalition.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Dr. Arndt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses darf ich Ihnen mitteilen, daß wir den Vorschlägen des Vermittlungsausschusses zustimmen werden. Wir halten diese Vorschläge für einen gerechten Kompromiß zwischen den berechtigten Anliegen, die die Länder uns im Vermittlungsverfahren dargelegt haben, und dem gesetzgeberischen Willen, wie er hier im Bundestag in der zweiten und dritten Lesung zum Ausdruck gekommen ist.
Wir bitten Sie daher, dem Antrag des Vermittlungsausschusses zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir stimmen über den Vorschlag des Vermittlungsausschusses als Ganzes ab. Wer dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke! Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Reihe von Stimmenthaltungen und zahlreichen Gegenstimmen ist der Vermittlungsvorschlag angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt der heutigen Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes— Drucksachen VI/2899, zu VI/2899, VI/3048, zu VI/3048 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Huber
Die Frau Berichterstatterin hat auf eine mündliche Ergänzung ihres Schriftlichen Berichtes verzichtet.Wir treten in die zweite Beratung ein.Ich rufe die Art. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz in der zweiten
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Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenBeratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke! Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Meine Damen und Herren, das Gesetz ist in der zweiten Beratung angenommen.Wir treten ein in diedritte Beratung.Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Gesetz in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke! Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Meine Damen und Herren, das Gesetz ist in der dritten Beratung angenommen.Der Ausschuß schlägt Ihnen vor, die zu diesem Gesetz eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt den Punkt 6 der heutigen Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher, ersatzdienstrechtlicher und anderer Vorschriften— Drucksache VI/3011 —Das Wort zur Begründung der Regierungsvorlage hat der Parlamentarische Staatssekretär Berkhan.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Rahmen des — —
Herr Staatssekretär, einen Augenblick! Ich bitte die Damen und Herren, die infolge anderweitiger Verpflichtungen an diesen Beratungen nicht teilnehmen wollen, die Gespräche draußen zu führen, damit die Begründung des Herrn Staatssekretärs im Hause auch verstanden wird.
Im Rahmen des Atlantischen Bündnisses und insbesondere im Rahmen der Organisation des Atlantischen Bündnisses fallen den Soldaten der Bundeswehr besondere Aufträge und Aufgaben zu. Die Bundesregierung geht davon aus, daß diese Aufträge und Aufgaben — zumindest in diesem Jahrzehnt — nur bei Aufrechterhaltung einer Wehrpflichtarmee zu erfüllen sind. Ich will hier keine nähere Begründung und Erklärung dafür abgeben, daß heute und in überschaubarer Zukunft allein die allgemeine Wehrpflicht die Basis unseres Verteidigungsbeitrags sein kann und sein wird.Nun ist allerdings sehr eng verknüpft mit der Frage der Wehrpflicht die Frage nach der Gerechtigkeit bei der Einberufung eines nachwachsenden jungen Jahrgangs. Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht erfordert gerechterweise, daß möglichst alle wehrdienstfähigen jungen Männer gleichmäßig zum Wehrdienst oder zu einem vergleichbaren anderen Dienst für die Gesellschaft herangezogen werden, jedenfalls im Rahmen der Gesetze, die uns heute vorliegen und die heute bereits zu erfüllen sind.Die Leistungen, die den Bürgern unseres Staates im Interesse der Sicherheit abverlangt werden, dürfen nicht gegen die Gebote der Gleichheit und der Angemessenheit und insbesondere nicht gegen das Gebot der sozialen Gerechtigkeit verstoßen. Ein ungerechtes Wehrpflichtsystem belastet nicht nur die betroffenen jungen Männer, sondern belastet im letzten Grunde die Glaubwürdigkeit unseres Staates, unserer Demokratie.Das Wehrpflichtsystem fordert von den jungen Bürgern, insbesondere von den jungen männlichen Bürgern unseres Landes ein großes Opfer, das sie zu bringen haben. Dieses Opfer wird von den einzelnen Wehrpflichtigen sicher nur dann als gerechtfertigt empfunden, wenn es möglichst von allen gebracht wird.Diese Gedankengänge haben auch die Wehrstrukturkommission, die von der Bundesregierung unter der Leitung unseres vormaligen Kollegen Dr. Mommer eingesetzt wurde, bewogen, ganz besonders hervorzuheben, daß es in den kommenden Jahren darauf ankommt, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Ich möchte dieser Kommission und ihrem Vorsitzenden hier heute namens der Bundesregierung für ihre Arbeit danken.Bisher dienten nur etwa 60 % der Wehrpflichtigen eines Erfassungsjahrganges in den Streitkräften oder leisteten einen vergleichbaren Dienst. 30 % dieses Jahrgangs wurden als „eingeschränkt tauglich" gemustert und aus diesem Grunde überhaupt nicht einberufen. Die Tauglichkeitskriterien orientieren sich an den Erfordernissen der allgemeinen Grundausbildung und orientieren sich nicht an den unterschiedlichen Erfordernissen der Verwendungen des einzelnen Wehrpflichtigen. In den Streitkräften gibt es sehr unterschiedliche Tätigkeiten, und die Belastungen sind sehr häufig nicht anders als im zivilen Beruf auch. Kein anderes Land in Europa hat einen so hohen Anteil an eingeschränkt tauglich Gemusterten, wie wir ihn heute haben.Dieses System ist in. der Tat ungerecht und wird von den Wehrpflichtigen, aber auch von der älteren Generation so empfunden. Dem will die Bundesregierung nun soweit wie möglich abhelfen. In Zukunft sollen nicht nur 60 %, sondern 75 % der Wehrpflichtigen zu einem Dienst, insbesondere zum Wehrdienst, einberufen werden. Dazu werden die bisherigen Musterungsbestimmungen den tatsächlichen Gegebenheiten der hochtechnisierten Bundeswehr angepaßt. Das hat zur Folge, daß bis zu 50 % jener Wehrpflichtigen, die heute noch als eingeschränkt Taugliche nicht herangezogen werden, künftig wehrdienstfähig werden und eine bestimmte Funktion in der Bundeswehr erfüllen können.Der organisatorische Umfang der Streitkräfte ist durch Gesetz auf 460 000 Mann begrenzt und soll sich auch nicht erhöhen. Die Bundesregierung hat sich für eine Reduzierung der Grundwehrdienstdauer
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Parlamentarischer Staatssekretär Berkhanauf 15 Monate entschieden, weil bei dieser Lösung die Zahl der tatsächlich Einzuziehenden höher ist und damit für einen längeren Zeitraum ein größeres Maß an Gerechtigkeit gewährleistet ist. Die Reduzierung des Grundwehrdienstes auf 15 Monate wird fast bis zum Ende des Jahrzehnts ein angemessenes Maß an Gerechtigkeit in der Frage des Wehrdienstes junger Männer sichern.Strukturänderungen der Streitkräfte werden aber nicht nur aus Gründen der Wehrgerechtigkeit, sondern auch aus anderen, gesamtpolitischen, verteidigungspolitischen und nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen zu erwägen sein.Die NATO wurde über unsere Absichten und Maßnahmen, die zu treffen waren, über unsere Schritte laufend informiert, aber auch konsultiert. Sowohl in den politischen als auch in den militärischen Spitzengremien der NATO wurde der deutschen Situation Verständnis entgegengebracht. Die Einführung einer Verfügungsbereitschaft von drei Monaten Dauer im Anschluß an den abgeleisteten Grundwehrdienst hat gewisse militärische Bedenken der NATO ausgeräumt oder gemindert. Während der dreimonatigen Verfügungsbereitschaft sollen die kurz vorher aus der Bundeswehr entlassenen Wehrpflichtigen in Krisenzeiten — und nur in Krisenzeiten — rasch und auf unbürokratische Weise diejenigen jungen Wehrpflichtigen ersetzen, die sich in der Grundausbildung bei der Truppe befinden.Auch bei sehr gründlicher Vorarbeit und darauf aufbauender Planung können wir mehr Gerechtigkeit nicht von einem auf den anderen Tag schaffen, vielmehr wirken sich die Maßnahmen erst mit dem Inkrafttreten dieses Artikelgesetzes, welches ich Ihnen heute vorlege, etwa am 1. Januar 1973, aus. Zu diesem Termin werden dann erstmalig Wehrpflichtige nach den neuen Musterungsbestimmungen einberufen und die in der Bundeswehr dienenden Wehrpflichtigen nach 15 Monaten entlassen. Praktisch bedeutet das, daß damit die Umstellung auf den 15monatigen Grundwehrdienst bereits am 1. Oktober 1971 begonnen hat; die Verkürzung ist also für die jetzt dienenden jungen Soldaten gewissermaßen schon in Kraft.Eine solche Umstellungsphase ist aus verschiedenen Gründen nötig, nicht zuletzt, um die Musterung der Wehrpflichtigen nach neuen Kriterien vorbereiten zu können, um Platz für Ausbildung und anschließende Verwendung von 20 % mehr Pflichtigen zu schaffen und um die Ausbildungspläne auf die neue, gestraffte Grundausbildung von drei Monaten Dauer umstellen zu können, und auch, um die begleitenden Maßnahmen, die dazu dienen sollen, mehr längerdienende Soldaten zu gewinnen, noch vor dem 1. Januar 1973 wirksam werden zu lassen. In diesem Jahr wollen wir außerdem einen personellen Überhang aufbauen, um das durch die gleichzeitige Entlassung zweier Einstellungsquoten zu Weihnachten 1972 verursachte zahlenmäßige Absinken der Bundeswehr in etwa auszugleichen. Damit rücken wir dem Ziel, mehr Wehrgerechtigkeit zu erreichen, schon heute ein ganzes Stück näher.Ich bin mir — wie auch die militärische Führung der Bundeswehr — darüber im klaren, daß zugunsten größerer Gerechtigkeit in einer Übergangszeit der Truppe einige unvermeidbare Belastungen zugemutet werden müssen. Dazu gehört z. B., daß die Kasernen so lange mit mehr Soldaten belegt werden müssen, bis die eingeleiteten Infrastrukturmaßnahmen sich auswirken können. Ich habe veranlaßt, daß dies mit möglichst großer Beschleunigung geschieht. Dazu gehört, daß die Umstellung auf ein neues, modernes Ausbildungssystem sowie der schnellere Personaldurchlauf von den Ausbildern aller Grade, hier aber insbesondere von den Ausbildern des Heeres, viel Phantasie und Einsatzwillen verlangt. Ich möchte Ihnen hier sagen, daß auch die Ausbilder, also in der Regel länger dienende Soldaten, für das Ziel größerer Gerechtigkeit bei der Praktizierung der Wehrpflicht ihr Opfer bringen.Der Abbau dieser Mehrbelastung hängt im wesentlichen davon ab, ob es uns gelingt, die Lage bei den längerdienenden Soldaten, bei den sogenannten Zeitsoldaten, zu verbessern. Wenn das aber so ist, dann haben die flankierenden Maßnahmen zur Gewinnung von längerdienenden Soldaten ganz besondere Bedeutung. Mit der Einführung einer Verpflichtungsprämie von 1000 DM für einen Soldaten, der sich auf zwei Jahre verpflichtet, und mit der Erhöhung der Prämien für die längeren Verpflichtungszeiten — also vier Jahre, acht Jahre und zwölf Jahre — sowie der Schaffung eines freiwilligen Dienstverhältnisses von 21 Monaten — 15 + 6, entsprechend dem früheren Z 2-Soldaten — macht die Bundesregierung große Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen.Alle Maßnahmen — einschließlich der Einführung der dreimonatigen Verfügungsbereitschaft und einer verstärkten Nutzung des Reservistenpotentials — sind aufeinander abgestimmt, daß die Verkürzung des Grundwehrdienstes auf 15 Monate die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte nicht mindert. Der kürzere Grundwehrdienst wird den einzelnen Wehrpflichtigen zugute kommen; die Grundausbildung wie die Vollausbildung werden effektiver und nicht zuletzt dadurch auch für den Soldaten interessanter gestaltet. Ich bin überzeugt, daß ein Mehr an Gerechtigkeit bei der Einberufung eines Jahrganges auch ein Mehr an Bereitschaft, diesen Dienst zu leisten, erzeugen wird; Soldaten würden sagen: die Moral der Truppe wird steigen. Wehrbereitschaft ist aber nicht der unwichtigste Faktor, an dem der Einsatzwert unserer Streitkräfte zu messen ist.Die Bundesregierung hat in Ziffer 89 des Weißbuches 1970 auf die Regierungserklärung vom Oktober 1969 hingewiesen und ihren Willen bekräftigt, daß sie ein Maximum an Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung der wehrpflichtigen jungen Männer schaffen wolle. Um die Glaubwürdigkeit des Wehrdienstes im demokratischen Staat, in unserem Gemeinwesen zu sichern, ist es aber unerläßlich, den Staat von dem Vorwurf zu befreien, er ließe nicht Gerechtigkeit gegen jedermann walten. — Die Bundesregierung ist überzeugt, diesen Auftrag mit dem vorliegenden Artikelgesetz zu erfüllen.
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Damm. Seine
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Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenFraktion hat für ihn eine Redezeit von 40 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird gar nicht zu umgehen sein, daß in dieser ersten Behandlung der Wehrdienstzeitverkürzung auch der Name desjenigen genannt wird, der diese Sache seit zwei Jahren betreibt. Ich meine Helmut Schmidt, den Verteidigungsminister. Wir bedauern, daß er nicht hier sein kann. Und so, wie ich meine Erklärung zur Sache im Namen und in voller Übereinstimmung mit der CDU/CSU-Fraktion abgebe, spreche ich auch für meine ganze Fraktion — und ich denke, auch für das ganze Haus —, wenn ich Helmut Schmidt baldige und volle Genesung wünsche.
Mit Befriedigung habe ich in den letzten Tagen gehört, daß der Verteidigungsminister nicht in akuter Gefahr schwebt. Er ist zwar noch immer nicht wieder auf dem Damm, aber er ist auf dem Wege der Besserung. Um so eher ist es für mich möglich, ihn auch in seiner Abwesenheit zu kritisieren; denn das ist bei dieser Thematik gar nicht zu umgehen.Meine Damen und Herren, hinter der Vorlage Drucksache VI/3011, hinter dem jüngsten Artikelgesetzentwurf „zur Änderung wehrrechtlicher, ersatzdienstrechtlicher und anderer Vorschriften", verbirgt sich die Herabsetzung der Grundwehrdienstzeit von 18 auf 15 Monate. Es handelt sich also um eine außen- wie innenpolitisch bedeutsame Angelegenheit, um eine Angelegenheit, die auf hunderttausende junger Männer sogar eine unmittelbare Wirkung — und zwar eine angenehme — hat. Es geht schließlich und im Kern um ein so hohes Ziel wie Gerechtigkeit, in diesem Falle um Wehrgerechtigkeit. Wir haben also allen Anlaß, uns sehr sorgfältig, kritisch, aber unvoreingenommen und für alle Argumente offen mit der Sache zu beschäftigen.Es gibt ja, meine Damen und Herren, das große Maß an Übereinstimmung auf dem Felde, auf dem das hier anstehende Problem geregelt werden soll. Alle Mitglieder dieses Hauses, alle hier vertretenden Parteien und auch alle Mitglieder der Regierung sind überzeugt von der Notwendigkeit der militärischen Sicherung unserer Freiheit vor der Unterwerfung unter einen fremden politischen Willen. Alle sind wir davon überzeugt, daß dieses Ziel unserer Sicherheitspolitik nur im nordatlantischen Bündnis zu erreichen ist. Alle sind wir überzeugt, daß die Bundeswehr ihre Aufgabe nicht ohne Wehrpflichtige erfüllen kann, und alle sind wir davon überzeugt, daß die allgemeine Wehrpflicht durch Wehrungerechtigkeit gefährdet wird.
Wir stimmen mit den Aussagen des Weißbuchs 1970 überein, in dem es wörtlich heißt:Die Erreichung größerer Wehrgerechtigkeit bei Durchführung der Wehrpflicht ist zum Kernproblem und Prüfstein des derzeitigen Wehrsystems geworden. Um die Glaubwürdigkeit des Wehrdienstes im demokratischen Gemeinwesenzu sichern, ist es unerläßlich, den Staat vomVorwurf der Wehrungerechtigkeit zu befreien.Meine Damen und Herren, die Voraussetzungen für eine einvernehmliche Behandlung der Regierungsabsichten sind also denkbar gut. Es fällt der Opposition folglich leicht, der Zielsetzung des vorliegenden Entwurfs zuzustimmen, jedenfalls insoweit, als auf dem Vorblatt der Drucksache davon die Rede ist, mit dem Gesetzesvorhaben mehr Wehrgerechtigkeit erzielen zu wollen. Allerdings zwingen mich nicht nur die schulmeisterliche Ordnung, sondern auch allgemeine Vorbehalte in der Sache selbst dazu, das zu wiederholen, was ich neulich im Verteidigungsausschuß schon gesagt habe. Mit einer Verbesserung der Wehrstruktur hat der Gesetzentwurf nichts zu tun, obwohl das auf dem Vorblatt behauptet wird. Ich sage: leider hat er damit nichts zu tun. An dieser Feststellung ändert auch der Widerspruch des Parlamentarischen Staatssekretärs nichts, den er schon im Ausschuß formuliert hat. Würde nämlich unsere Wehrstruktur durch dieses Gesetz geändert, wären Voraussetzungen denkbar, die eine wesentliche Verkürzung der Grundwehrdienstzeit nicht nur möglich machten, sondern vielleicht sogar erzwängen. Alle Versuche, auch zu einer besseren Relation zwischen Längerdienenden und Wehrpflichtigen zu kommen, als wir sie heute haben — heute haben wir in der Bundeswehr ein Verhältnis der Längerdienenden zu den Wehrpflichtigen von 49,5 % zu 50,5 % statt von 60 % zu 40 % zu verzeichnen —,
blieben so lange eine Kur in homöopathischen Dosen, als es nicht zu einer drastischen Veränderung der heute vor allem im Heer katastrophalen Verhältnisse käme. Im Heer kommen 43 Längerdienende auf 57 Wehrpflichtige. Andererseits zeigen diese Zahlen, in welch hohem Maße die Bundeswehr auf Wehrpflichtige angewiesen ist.Damit sind wir erneut beim Kernthema, bei der Wehrgerechtigkeit. Der Verteidigungsminister hat sich persönlich in dieser Frage sehr engagiert. Ich nehme es ihm nicht nur ab, sondern teile seine Meinung, wenn er sagt, daß die Sicherung der allgemeinen Wehrpflicht eine zentrale sicherheitspolitische Angelegenheit ist. Meine Damen und Herren, die Fairneß gebietet aber, zu sagen, daß diese Erkenntnis nicht in der „Reformierung" Brandt/Scheel über uns gekommen ist.
— Das war in Anführungsstrichen zu verstehen.
Frühere Regierungen haben das Problem ebenfalls gesehen und angepackt. Das gilt z. B. für die vorige Legislaturperiode, ihre Verteidigungsminister und auch den Verteidigungsausschuß. Herausragender Beweis ist der Bericht der Adorno-Kommission von 1968,
der nicht nur das Problem in allen seinen Konsequenzen analysiert, sondern auch ein Bündel inein-
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Dammandergreifender Maßnahmen vorgeschlagen hat. Das Weißbuch 1970 spricht eigens davon und sagt:Eine Reihe der damals vorgeschlagenen Leistungsverbesserungen wurde inzwischen verwirklicht. Darüber hinaus hat der Deutsche Bundestag eine Reihe weiterer Verbesserungen vorgenommen.An dieser Leistung waren neben Kollegen aller Fraktionen vor allem der damalige Parlamentarische Staatssekretär Adorno und mein Fraktionskollege Ernesti maßgeblich beteiligt. Sie haben vor allem auch diejenigen Vorschläge des damaligen Pakets vertreten, die nicht verwirklicht worden sind und auch heute auf die Ablehnung des Verteidigungsministers stoßen: den gleitenden Wehrdienst von 18 bis zu 12 Monaten, die Ausgleichsabgabe für Nichtdienende und die Steuervergünstigung für Gediente.Meine Damen und Herren, die Ausgleichsabgabe für Nichtdienende ist damals allgemein als problematisch angesehen worden und vom damaligen Verteidigungsminister als eine Vorstellung apostrophiert worden, die selbst Bismarck nicht verwirklicht habe. Es ist kaum anzunehmen, daß sie je wieder ernsthaft in die Debatte gebracht wird, so logisch sie auch in eine Gesamtlösung paßt.Die Steuervergünstigung für Gediente wird auch von dieser Regierung mit der Bemerkung verworfen, sie erfordere einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand und schaffe neue Ungerechtigkeiten. Die Steuervergünstigung für Gediente steht heute nicht zur Debatte; aber ich bezweifle nicht nur die Gründe, die das Weißbuch 1970 für ihre Ablehnung nennt, sondern sage voraus, daß dieser Weg zu mehr Wehrgerechtigkeit in dem Maße an Bedeutung gewinnen wird, wie die steigenden Jahrgangszahlen alle Pläne für mehr Wehrgerechtigkeit -nicht zuletzt die Vorschläge von Helmut Schmidt über den Haufen werfen werden, und das wird bereits in wenigen Jahren der Fall sein.Die gleitende Grundwehrdienstzeit, meine Damen und Herren, ist jedenfalls für unsere Fraktion nach wie vor aktuell. Sie unterscheidet sich vom heute geltenden System der starren 18 Monate dadurch, daß sie die Regierung in die Lage versetzt — ich zitiere jetzt meinen Freund Ernesti —, „ohne großen Zeitverlust je nach Weltlage und Freiwilligenaufkommen die Wehrdienstzeit innerhalb einer Spanne von etwa 12 bis 18 Monaten festzulegen". Ernesti hat damals hinzugefügt, daß eine solche Regelung auch dem flexiblen Konzept der NATO entgegenkäme. Ich sagte schon, daß die CDU/ CSU-Fraktion dieses Verfahren auch und gerade heute und künftig für angemessen hält. Deshalb haben wir in unserer Alternative, von der nachher ausführlich die Rede sein wird, eine Ermächtigung für die Regierung vorgesehen, den Grundwehrdienst im Rahmen einer Spanne von 18 bis 12 Monaten festzusetzen. Das kann übrigens nicht nur zu einer Herabsetzung, sondern logischerweise auch zu einer Heraufsetzung führen, wenn vorher herabgesetzt worden ist.Nun ist hier und da dieser Vorschlag als Versuch gedeutet worden, Helmut Schmidt und der Regierung die Schau zu stehlen und die Liberalsozialen noch übertrumpfen zu wollen nach dem Motto: „Seid Ihr für 15 Monate, dann sind wir für 12!" Meine Herren, schließlich sind sieben Jahrgänge Neuwähler auch eine Versuchung wert! Diese Interpretation unseres Vorschlages ist aber absolut falsch. Die gesetzlich vorgesehene Ermächtigung für die Regierung zu gleitendem Grundwehrdienst ist eine generelle Sache.Die CDU/CSU-Fraktion meint damit nicht, daß, gäbe es diese Ermächtigung heute, die Regierung hier und heute mit gutem Gewissen den Grundwehrdienst auf 12 Monate herabsetzen könnte, ja, müßte. Im Gegenteil: wir sind sehr skeptisch, ob die von der Regierung vorgeschlagene Herabsetzung auf 15 Monate heute und angesichts fehlender Voraussetzungen zu verantworten ist. Fragen dazu werde ich gleich formulieren.Denjenigen Kritikern jedoch, die der CDU/CSU vorgeworfen haben, es sei eine unverantwortliche Abdankung des Parlaments, der Regierung in der Frage der Wehrdienstdauer eine Ermächtigung zu geben, antworte ich, daß die heute zu behandelnde Vorlage von uns ein gleiches verlangt. Die vorgesehene Verfügungsbereitschaft für drei Monate nach Abschluß des 15monatigen Grundwehrdienstes ist eine solche Ermächtigung;
denn künftig sollen diese Wehrpflichtigen in vereinfachtem Verfahren, das heißt also per Verordnung des Verteidigungsministeriums, ein weiteres Viertel-j ahr eingezogen werden können.Bevor ich auf die Einzelproblematik der Schmidt-schen Vorlage eingehe, meine Damen und Herren, muß ich auf einen ersten Mangel ihrer Begründung hinweisen. Sowohl die Vorlage als auch die Weißbücher sprechen nur von Wehrungerechtigkeit und versäumen, im gleichen Atemzug von Ersatzdienstungerechtigkeit zu sprechen. Genaugenommen müßte diese Vorlage mit der Vorlage eines Zivildienstgesetzes verbunden werden; denn die Ersatzdienstungerechtigkeit ist erschreckend.
Das Weißbuch 1971/72 sagt, daß von den 53 610 anerkannten Wehrdienstverweigerern der Jahre 1956 bis 1971 nur 15 327 einen Ersatzdienst geleistet haben.
.
Zur Zeit — so sagt das Weißbuch weiter — fehlen 15 000 Ersatzdienstplätze bei 7500 vorhandenen.
Wir haben es nicht mit Wehrungerechtigkeit, sondern mit Dienstungerechtigkeit zu tun.
Schmidts Grundirrtum ist, daß er glaubt, die notwendige Dienstgerechtigkeit über mehr Wehrgerechtigkeit erreichen zu müssen. Mit anderen Worten: der Verteidigungsminister sieht allein den
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DammWehrdienst als den Raum an, in dem die berechtigte Forderung nach Dienstgerechtigkeit erfüllt werden kann. Das ist, wie wir meinen, grundsätzlich falsch.Außerdem ist das nach meiner Meinung ein antiquierter Standpunkt. Die moderne Gesellschaft und der moderne Staat verlangen heute und erst recht morgen Dienstleistungen für die Gemeinschaft außerhalb der Streitkräfte, wenn ihre lebenswichtigen Probleme bewältigt werden sollen.
Unsere Alternative, meine Damen und Herren: Weil die Regierung weder den Zusammenhang von Wehr- und Ersatzdienstungerechtigkeit noch die Notwendigkeiten gesetzlich normierter Dienstleistungen für die Allgemeinheit sieht, haben ihre Vertreter ebenso wie die Koalition unsere Alternative im mitberatenden Verteidigungsausschuß verworfen, die wir vor Weihnachten zur Regelung der Probleme im zivilen Ersatzdienst vorgeschlagen haben.
Herr Abgeordneter Damm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schlaga?
Herr Damm, waren Sie es nicht, der im Ausschuß gefordert hat, daß die Ersatzdienstplätze reduziert werden nur auf sozialpflegerische Berufe, womit Sie also lediglich 2000 Plätze geschaffen hätten?
Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß der Kollege Schlaga den Darlegungen, die ich zu diesem Thema im Verteidigungsausschuß gemacht habe, nicht hat folgen können. Denn unsere Alternative bot — ich werde das gleich noch einmal darstellen — ein Vielfältiges der Zahl der jetzt hier vorgesehenen Dienstplätze, nicht aber, wie Sie soeben behauptet haben, eine Verringerung der heute schon zu geringen Zahl. Es handelt sich nämlich um Vorschläge zu wirklicher Dienstgerechtigkeit, die einen unmittelbaren Zusammenhang auch mit dem Wehrdienst haben.Wir halten die Zeit für überholt, wo die einzelnen Dienste nebeneinander und ohne inneren Zusammenhang gesetzlich normiert und organisiert werden. Wir schlagen deshalb vor:Erstens Festlegung aller Dienste für die staatliche Gemeinschaft in einem Gesetz auf der Grundlage der Art. 12 und 12 a GG,zweitens Ableistung der im Grundgesetz vorgesehenen „herkömmlichen, allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht" in der Bundeswehr, im Bundesgrenzschutz, in einem Zivilschutzverband und im Rahmen humanitärer und karitativer Gemeinschaftshilfe,drittens Zuweisung der für die Bundeswehr nicht notwendigen Dienstpflichtigen u. a. an den Zivilschutzverband — denken Sie an das frühere Zivilschutzkorps —,viertens im kasernierten Zivilschutzverband Verwendung vor allem der eingeschränkt Tauglichen, dadurch Vermeidung der im vorliegenden Entwurf vorgesehenen zusätzlichen Belastung der Bundeswehr mit eben diesen eingeschränkt Tauglichen,fünftens Ausbildung der Angehörigen des Zivilschutzverbandes zur Hilfe im Katastrophen- und Verteidigungsfall undsechstens Verwendung des Zivilschutzverbandes auf Grund seiner Ausbildung u. a. im Rettungsdienst an den Autobahnen und den Bundesstraßen und im Umweltschutz.
Die Kosten für diesen Zivilschutzverband würden die von der Regierung vorgesehenen Mittel für die Herabsetzung des Wehrdienstes auf fünfzehn Monate nicht überschreiten. Diese Regelung böte aber eine Dienstmöglichkeit nicht nur für 75 % eines Jahrgangs, sondern für einen wesentlich höheren Prozentsatz, ohne daß die einzelnen und die Institutionen wegen der Rücksichtnahme auf die individuellen Behinderungen überfordert würden. Diese Regelung würde darüber hinaus für den Schutz der Zivilbevölkerung Möglichkeiten schaffen, deren Schaffung seit Jahren unterlassen worden ist.
Unsere Fraktion hat also eine konstruktive Alternative anzubieten. In absehbarer Zeit werden wir auch den vorbereiteten Gesetzentwurf abschließend in der Gesamtfraktion beraten haben.
Die vor uns liegende parlamentarische Behandlung des Regierungsentwurfs zur Herabsetzung des Grundwehrdienstes sollte so sorgfältig und so unvoreingenommen geschehen, daß jede konstruktive Alternative einbezogen werden kann. Die Sache ist nämlich zu wichtig und der von der Regierung vorgeschlagene Weg ist zu problematisch, als daß der Deutsche Bundestag mit vorgefaßten Meinungen oder gar unter Zeitdruck die Probleme der Wehr- und der Dienstpflicht behandeln dürfte.
Lassen Sie mich jetzt zur Problematik dieses Regierungsentwurfs Stellung nehmen, und zwar zunächst zu den Voraussetzungen. Anfang Dezember 1969 sagte der Verteidigungsminister Schmidt, eine Verkürzung der Grundwehrdienstzeit könne nur dann „erwogen" werden — so hat er damals gesagt, und nun wörtlich —, „wenn die erforderlichen finanziellen Mittel sichergestellt sind, wenn eine ausreichende Zahl der längerdienenden Soldaten gesichert ist und wenn die Kampfkraft der Bundeswehr uneingeschränkt erhalten bleibt".
An anderer Stelle hat Schmidt die Zustimmung des Bündnisses als weitere Voraussetzung genannt, und man darf schließlich entsprechend mehr Truppenunterkünfte, also eine bessere Infrastruktur, ebenfalls als Voraussetzung dafür nennen, daß eine Her-
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Dammabsetzung, wie Schmidt damals gesagt hat, „erwogen" werden könne.Die Frage ist nun, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Ich melde für meine Fraktion starke Zweifel an, Zweifel an der Behauptung der Regierung, daß das der Fall sei. Meine Fraktion teilt die vom Bundesrat einstimmig vorgetragenen Bedenken.
Der Bundesrat hat im Plenum — wohlgemerkt: einstimmig — folgendes festgestellt. Er gehe davon aus, daß die „Aufrechterhaltung des globalen Gleichgewichts der Kräfte" notwendig bleibe und daß dazu „ein ausreichendes Gegengewicht zum militärischen Potential der Sowjetunion und des Warschauer Paktes erhalten bleiben" müsse; er zitiert damit das neue Weißbuch. Er gehe ferner davon aus, daß „die Bedrohung Westeuropas durch den Warschauer Pakt" fortbestehe, „welche Absichten die Sowjetunion auch immer hegen möge" ; wiederum Weißbuch-Zitat. Dann sagt er: „Eine Verkürzung der Grundwehrdienstzeit setzt angesichts dieser Feststellungen voraus: die Erhaltung der uneingeschränkten Kampfkraft und Präsenz der Bundeswehr, die Sicherstellung einer ausreichenden Zahl längerdienender Soldaten, die Zustimmung der Verbündeten."
Der Bundesrat bittet dann die Bundesregierung, im weiteren Gesetzgebungsverfahren umfassend — umfassend! — dazulegen, daß diese Voraussetzungen vorliegen. Der Bundesrat sagt ferner, er sei der Auffassung, daß die sich aus einer Verkürzung der Grundwehrdienstzeit ergebenden Folgen in Bezug auf die notwendige Umstrukturierung der Truppe, das Verhältnis der Wehrgerechtigkeit zur Ersatzdienstgerechtigkeit und die Folgekosten noch nicht hinreichend geklärt seien, und bittet die Bundesregierung, für eine solche Klärung Sorge zu tragen.Mit beträchtlichem Erstaunen vermerke ich die flapsige Art der Gegenäußerung der Bundesregierung.
Es heißt nämlich auf der letzten Seite der Vorlage, die wir hier zu behandeln haben:Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß alle sich aus einer Verkürzung der Wehrdienstzeit ergebenden Folgen geprüft und hinreichend geklärt sind. Sie wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren hierzu noch zusätzlich Stellung nehmen.Das ist alles, was die Bundesregierung in der gedruckten Vorlage zu dem zu sagen weiß, was der Bundesrat einstimmig ihr an Bedenken entgegengetragen hat. Ich meine, abgesehen von der Stilfrage ist das in der Sache wirklich zu billig.
Nun entspricht diese flapsige Ausdrucksweise allerdings der nicht selten geübten Art des Verteidigungsministers selbst, kritische Einwände zu behandeln. Das „Spiegel"-Interview vom 20. September 1971 zum Thema der Wehrdienstverkürzung ist ein weiterer Beweis dafür. Da fragt nämlich der „Spiegel" nach den personellen Voraussetzungen und verweist auf die, wie er sagt, „miserable" Unterführernachwuchslage, vor allen Dingen beim Heer. Schmidt weist nicht nur die Vokabel „miserabel" zurück, sondern sagt auch wörtlich: „Lassen Sie sich doch nicht verrückt machen von dem Geschwätz von Reaktionären." Meine Damen und Herren, das scheint mir auch zu wenig, zu billig und flapsig zu sein, wobei ich hier nicht den „Spiegel" zu verteidigen habe. Der wird das schon selber tun und hat das in den letzten Jahren oftmals selbst über Gebühr betrieben.Der Verteidigungsminister behauptet in diesem Interview wörtlich, durch die Herabsetzung würden „nicht wesentlich mehr" Unteroffiziere benötigt. Tausend Unteroffiziere hält er im übrigen für keine unüberwindliche Quantität, wie er wörtlich sagt. Erfahren, sagt er ferner, müßten diese Ausbilder auch nicht unbedingt sein.
Ich stelle hierzu fest: die personellen Voraussetzungen sind eine wesentliche Grundlage für diese Gesetzesänderung. Der Minister wird im Verteidigungsausschuß die personelle Realisierbarkeit darzulegen haben, 45 000 Wehrpflichtige pro Jahr mehr einzuziehen und auszubilden. Und die derzeitige Lage bei den längerdienenden Soldaten ist jedenfalls mehr als kritisch. Wenn es gewünscht wird, können wir aus dem Weißbuch mit Zahlen aufwarten.Ein anderes Problem ist die Frage der Einwirkung dieser Maßnahme auf die Kampfkraft der Bundeswehr. Zum mindesten ist nicht auszuschließen, daß diese Maßnahme, wie jüngst ein Kommentator gesagt hat, eine Minderung des Einsatzwertes unserer Streitkräfte zur Folge haben kann. Mit der lapidaren Bemerkung des Weißbuches 1971/72, das Gesetz schaffe mehr Wehrgerechtigkeit, ohne Kampfkraft und Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zu beeinträchtigen — wörtliches Zitat —, kann der Minister nicht davonkommen. Diese Frage ist viel zu bedeutend, als daß man sie so leicht abtun könnte. Er hat ja auch dem Bundesrat immer noch eine Antwort zu geben. Wir werden jedenfalls im Verteidigungsausschuß darauf drängen, daß er im einzelnen nachweist, daß die Behauptung stimmt.In diesem Zusammenhang ist ungeheuer interessant, meine ich, was seinerzeit die damalige Regierung auf die Vorschläge der Adorno-Kommission geantwortet hat. Damals hat der Staatssekretär von Hase zu den Vorschlägen der Adorno-Kommission folgendes gesagt — ich darf zitieren, Herr Präsident —:Was die gleitende Grundwehrdienstdauer be-betrifft,— also die Herabsetzung um drei Monate, wie sie damals als Möglichkeit im Gespräch war, über das Institut der gleitenden Grundwehrdienstzeit; das war 1968 —so ist festzustellen, daß zwischen der Vorlagedes Kommissionsberichtes und heute die Beset-
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Dammzung der CSSR durch Truppen des Warschauer Paktes liegt. Die Bundesregierung glaubt daher von der Möglichkeit, das Parlament um die Ermächtigung zu bitten, die Grundwehrdienstpflichtigen im Zusammenhang mit einer gleitenden Grundwehrdienstdauer drei Monate früher aus dem Wehrdienst zu entlassen und so den Grundwehrdienst auf 15 Monate zu reduzieren, vorläufig keinen Gebrauch machen zu sollen. In zwei NATO-Ministerratssitzungen wurde darüber beraten,— sagt Herr von Hase weiter —was notwendig ist, um eine weitere Erosion der NATO, die vor der Besetzung der CSSR zweifellos am Gange war, zu verhindern. Es ist gelungen — ich füge hinzu: eindrucksvoll gelungen —, diese Erosion anzuhalten. Es ist darüber hinaus auch gelungen, die Verteidigungskraft des Bündnisses nicht unbeträchtlich zu erhöhen. Es würde allen diesbezüglichen Bemühungen diametral entgegenlaufen, wenn ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland als der NATO-Partner, dessen Streitkräfte wegen der Grenzlage zum Warschauer Pakt eine der wichtigsten Funktionen im Bündnis haben und daher auch besonders präsent und schlagkräftig sein müssen, die Dauer des Grundwehrdienstes von 18 auf 15 Monate herabsetzen oder eine Herabsetzung auch nur gesetzgeberisch vorbereiten würde.Er führt etwas später aus:Wenn die Bundesrepublik den Grundwehrdienst herabsetzen würde, wäre das für andere Bündnispartner das Signal dafür, gleiches oder ähnliches zu tun. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß es nicht möglich sein wird, unsere Bündnispartner davon zu überzeugen, daß eine Herabsetzung der Dauer des Grundwehrdienstes von 18 auf 15 Monate die Kampf- und Schlagkraft der Truppe erhöht. Dann würde durch den schnelleren Durchlauf von Wehrpflichtigen das Potential an Reservisten erhöht. Doch das Verteidigungskonzept der NATO beruht auf der „flexible response". Diese setzt eine hohe Präsenz, d. h. die Möglichkeit zum sofortigen Einsatz beweglicher hochtechnisierter Verbände, voraus.Ohne sie kann die Vorneverteidigung nicht verwirklicht werden. Es wird keinem Experten klarzumachen sein, daß die beiden wichtigsten Grundlagen unserer militärischen Verteidigung, sofortige Einsatzbereitschaft und hohe operative Beweglichkeit, durch eine Verkürzung des Grundwehrdienstes verbessert werden.Meine Damen und Herren, ich habe das deswegen so ausführlich zitiert, weil doch wohl unstrittig ist, daß hinter dieser Äußerung des damaligen Staatssekretärs von Hase der militärische Sachverstand des Ministeriums stand. Und der damalige Generalinspekteur, der den Sachverstand an der Spitze repräsentierte, ist der heutige Generalinspekteur.
Es ist nicht anzunehmen, daß er eine wesentliche Änderung der Betrachtung für sich selbst vorgenommen hat, denn was feststeht, ist doch, daß sich die militärisch-politischen Voraussetzungen etwa zugunsten des Bündnisses überhaupt nicht geändert haben.
Die NATO sagt in ihren Kommuniqués der letzten beiden Jahre selbst:
das genaue Gegenteil ist der Fall.
Darum ist es eben eine Frage an die Regierung: Wie wird sie sichern, daß bei einer Herabsetzung der Dienstzeit um drei Monate all diese befürchteten Folgen eben nicht eintreten?Es gibt ferner eine Frage, die ich ebenfalls nicht mit meinen Worten stellen möchte, sondern mit den Worten eines Mannes, der weiß Gott völlig unverdächtig ist, der CDU nach dem Munde zu reden. Ich meine denjenigen Herrn, den sich Minister Schmidt nach Amtsübernahme selbst ins Ministerium geholt hat, um seine Planungsabteilung für ein halbes Jahr von ihm leiten zu lassen, den hervorragenden Journalisten Theo Sommer, der ja nach seiner Tätigkeit als Chef der Planungsabteilung in der Wehrstrukturkommission gearbeitet hat und — Seite 27 des Berichts der Wehrstrukturkommission — zu Protokoll gegeben hat, warum er allenfalls für eine Herabsetzung auf 16 Monate sei, obwohl er von der Sache der Wehrgerechtigkeit her sehr wohl einsehe, daß 15 Monate besser wären. Er sagt wörtlich:Dennoch habe ich am Ende für 16 Monate gestimmt. Die nicht zu leugnenden militärtechnischen Umstellungsschwierigkeiten ließen sich auch bei 15 Monaten Grundwehrdienstdauer überwinden. Der Präsenzverlust — 11 Monate statt bisher 12 Monate — würde durch die neue Verfügungsbereitschaft aufgehoben, die ja nichts anderes ist als rasch zurückrufbare potentielle Präsenz. Gravierend und unwiderlegbar erschien mir jedoch der Einwand, daß der Zustrom der Wehrpflichtigen bei einer 15monatigen Grundwehrdienstdauer mir bewältigt werden kann, wenn Längerdienende, vor allem Ausbilder, aus den Kampfverbänden geholt werden, die der NATO unterstellt sind. Der zusätzliche Bedarf an Stammpersonal ginge zu Lasten der präsenten Truppe. Praktisch müßten etwa 38 Kampfkompanien in Ausbildungskompanien umgewandelt werden, d. h. ein bis drei Brigaden, je nach ihrer Zusammensetzung, würden der NATO-Assignierung entzogen. Dies hielte ich in der Tat für bündnispolitisch fatal. Eine über 16 Monate hinausgehende Kürzung der Dienstzeit erscheint mir erst vertretbar, wenn eine oder beide der folgenden Voraussetzungen gegeben sind, a) wenn die Bundeswehr ihren längerdienenden Anteil, Unteroffiziere, aber besonders auch Offiziere, spürbar erhöhen könnte, b) wenn in Ost-West-Verhandlungen eine beiderseitige und ausgewogene
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DammTruppenreduzierung vereinbart würde, die auch der Bundeswehr eine Verminderung ihrer as-signierten Kampfverbände gestattete.Meine Damen und Herren, ich zitiere das hier, um deutlich zu machen, daß es nicht irgendwelches reaktionäres Geschwätz sein kann, wenn wir kritische Fragen stellen, denn das wird man selbst Helmut Schmidt nicht unterstellen dürfen, daß er sich seinerzeit an einen wichtigen Posten einen Reaktionär geholt hätte. Ich sage noch einmal: der Minister und das Verteidigungsministerium werden uns im Ausschuß darzulegen haben, warum das alles keine Rolle spielt
und wieso es sich bündnispolitisch nicht fatal auswirken muß, mal eben 38 Kampfkompanien in Ausbildungskompanien umzuwandeln.Meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Verfügungsbereitschaft. Ich habe vorhin schon gesagt, sie ist als Institution, als gesetzgeberische Möglichkeit, eine Ermächtigung an die Regierung. Dagegen haben wir gar nichts. Im Gegenteil, ich sagte ja, wir seien für eine Ermächtigung zum gleitenden Wehrdienst. Wir meinen übrigens, daß diese Fragen nicht so spektakulär behandelt werden sollten, wie das allgemein geschehen ist, insbesondere nicht zuletzt durch die propagandistische Vorbereitung, die der Verteidigungsminister in den letzten zwei Jahren vorgenommen hat. Das sollte in größerer Ruhe und vielleicht auch mit mehr Gelassenheit behandelt werden. Dazu böte eine solche Ermächtigung eine Möglichkeit. Aber wir müssen auch sehen, daß diese Verfügungsbereitschaft alles andere ist als die Fortsetzung der heutigen Präsenz; denn die Soldaten sind nach 15 Monaten aus den Kasernen heraus. Das Gesetz sieht eigens vor, daß sie völlig freizügig sein können. Sie können also — ich hätte dafür Verständnis, wenn sie das dann tun — verreisen, und zwar nicht nur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch ins Ausland, ganz wie sie wollen. Sie sollen lediglich sicherstellen, daß ihre Einheit immer weiß, wo sie sind. Aber in vielen Fällen — das ist doch sicherlich gar nicht schwarzgemalt — wird es Tage dauern, bis sie ein Anruf oder eine Postkarte ihrer Einheit erreicht, wenn sie sich irgendwo an einer italienischen oder spanischen Küste aufhalten. Dann wird es wiederum Tage dauern, bis sie zurückkommen. Dabei handelt es sich immer noch um die Gutwilligen, die das Ganze überhaupt entgegengenommen haben.
Wir können also nicht davon sprechen, daß durch die Verfügungsbereitschaft die Präsenz tatsächlich in dem bisher vorhandenen Maße gesichert würde.
Das ist eine weitere Frage an den Verteidigungsminister. Mir scheint, es wird immer zweifelhafter, wie er mit einem Nebensatz sagen kann, daß weder die Kampffähigkeit noch die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch diese Maßnahmen geschwächt würden.Ich komme zum Schluß und sage sehr deutlich: die Frage der Dauer der Grundwehrdienstzeit ist für die CDU/CSU alles andere als eine Weltanschauungsfrage. Wir sind bereit, diese Frage nur unter nüchternen, sachlichen, außen- und innenpolitischen, bündnis- und sicherheitspolitischen Kategorien zu prüfen. Wir selbst räumen ja sogar die Möglichkeit eines Wehrdienstes von 12 Monaten als eine von der Regierung zu prüfende Angelegenheit theoretisch für die künftige Zeit ein. Es ist also nicht so, daß für uns nur 18 Monate in Frage kommen. Wir sind offen für eine Herabsetzung auf 15 Monate, aber wir wollen nicht, daß hier leichtfertig Entscheidungen getroffen werden, die wir alle miteinander zu bereuen hätten, wenn nämlich z. B. der Bündniswert und die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr dadurch geschwächt würden.Ich habe die Fragen hier vorgetragen. Wenn der Bundesminister der Verteidigung in der Lage sein wird, alle diese Fragen — Sie können auch sagen: die Fragen, die der Bundesrat an ihn gestellt hat — ausreichend und befriedigend zu beantworten, dann hat er —
— Herr Buchstaller, ich rede in der Tat für meine Fraktion. Wenn Sie Wert darauf legen, daß diese Fraktion die Mitverantwortung übernimmt, wenn Sie also Wert darauf legen, daß wir zu diesem Gesetz ja sagen, dann wird es ja wohl für den Verteidigungsminister keine Zumutung sein, daß er diese Fragen ausführlich und ausreichend beantwortet. Sollten Sie allerdings glauben, daß Sie das mit der schwachen Mehrheit, die Sie in diesem Hause haben, allein machen sollten, könnten wir gleich die zweite und dritte Lesung hier anschließen.Ich sage noch einmal: Wenn der Verteidigungsminister willens und in der Lage ist, diese Fragen ausreichend und befriedigend zu beantworten, hat er eine absolut unvoreingenommene CDU/CSU-Fraktion als Verhandlungs- und Gesprächspartner. In diesem Sinne werden wir an die Verhandlungen herangehen. Aber bei all den Aussichten, die sich die Wehrpflichtigen, die jetzt anstehen, auf eine verkürzte Wehrdienstzeit ausrechnen, will ich deutlich machen, daß wir Grund haben, denjenigen, die über Jahre hinweg 18 Monate ihren Wehrdienst geleistet haben und ihn auch zur Zeit leisten und ihn in aller Regel gutwillig und gut leisten, unseren Dank zu sagen. Darin, denke ich, werden wir ja alle miteinander übereinstimmen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Würtz. Für ihn sind 15 Minuten Redezeit festgelegt. Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der SPD-Fraktion gebe ich folgende Erklärung ab.
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WürtzMeine Fraktion begrüßt im Gegensatz zum Sprecher der CDU/CSU die Vorlage des Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher, ersatzdienstrechtlicher und anderer Vorschriften als einen Schritt zur Lösung eines grundsätzlichen Problems unseres Staates. Wir sehen darin den Versuch, eine Verminderung der Ungerechtigkeiten bei der Praktizierung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen.Schon in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hat die Bundesregierung diesen Schritt angekündigt. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren. In der Regierungserklärung heißt es:Wir wollen ein Maximum an Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung der wehrpflichtigen jungen Männer schaffen; Wehrdienstausnahmen und -befreiungen werden abgebaut. Ob sich daraus Konsequenzen für die Dauer des Grundwehrdienstes ergeben, werden wir prüfen.Und ein paar Zeilen weiter heißt es dann:Wir werden die bisherigen Bemühungen um geeignete Ausbilder, Truppenführer und technische Fachleute fortsetzen und ausbauen.Diese Absichtserklärung der Bundesregierung hat bei der kritischen Bestandsaufnahme in der Bundeswehr einen besonders großen Raum eingenommen. Dabei ergab sich, daß die Erreichung größerer Wehrgerechtigkeit bei der Durchführung der Wehrpflicht zum Kernproblem und Prüfstein des derzeitigen Wehrsystems wurde. Im Weißbuch 1970 wurde zwar noch keine endgültige Lösung dieses gesellschaftspolitischen Problems aufgezeigt, jedoch die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der künftigen Wehrstruktur zur Herbeiführung größerer Wehrgerechtigkeit angekündigt.Die Kommission, der unter der Leitung des früheren Vizepräsidenten dieses Hohen Hauses, Dr. Karl Mommer, neben Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch eine Reihe von militärischen Praktikern angehörte, legte am 3. Februar 1971 die umfangreichen Ergebnisse ihrer Arbeiten vor. Bei der Erfüllung des Auftrages, Vorschläge zur Schaffung größerer Wehrgerechtigkeit für dieses Jahrzehnt zu unterbreiten, ging die Wehrstrukturkommission von den folgenden vier von der Bundesregierung vorgegebenen Leitlinien aus.Erstens. Der organisatorische Umfang der Bundeswehr soll wie bisher 460 000 Mann betragen. Dazu kommt der variable Umfang bis zu 30 000 Soldaten.Zweitens. Bei fortdauernder allgemeiner Wehrpflicht soll etwa die Hälfte jener Wehrpflichtigen zum Grundwehrdienst herangezogen werden, die als eingeschränkt Taugliche gemustert worden sind, jedoch nach ärztlichem Urteil und nach Auffassung der Streitkräfte zum Grundwehrdienst mit Einschränkungen geeignet sind.Drittens. Der finanzielle Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung soll eingehalten werden.Viertens. Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr muß gewährleistet bleiben.Dabei legte die Kommission unter anderem ihrem Vorschlag und Bericht den Grundsatz zugrunde, daß eine mangelnde Wehrgerechtigkeit auf die Dauer unsere Sicherheit gefährden muß; denn mit einem ungerechten Wehrdienstsystem wächst zwangsläufig — auch nach unserer Auffassung — die Abneigung gegen den Wehrdienst überhaupt.Der Kommissionsvorschlag beinhaltete als wesentliche Forderung die Heranziehung aller wehrdienstfähigen Wehrpflichtigen zur Bundeswehr oder zu einem vergleichbaren Dienst, die Verkürzung der Wehrdienstzeit, die Einführung einer Verfügungsbereitschaft vor Überführung in den Reservistenstatus, eine Erhöhung der materiellen Entschädigung für den Wehrdienst und die Verbesserung der Tagesdienststärken in den einsatzbereiten Verbänden, die Steigerung des Anteils an längerdienenden Freiwilligen und eine Straffung und Rationalisierung der Ausbildung, um den Kampfwert der Bundeswehr zu erhalten.Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf folgt die Bundesregierung nach unserer Auffassung in wesentlichen Punkten den Vorschlägen dieser von der Bundesregierung eingesetzten Wehrstrukturkommission. Das Ziel des Gesetzentwurfes, möglichst alle wehrdienstfähigen Wehrpflichtigen in der Zukunft zur Bundeswehr oder zu einem vergleichbaren Dienst heranzuziehen, soll durch eine Reihe von Maßnahmen erreicht werden.Die Einführung der drei neuen Musterungskategorien „wehrdienstfähig", „vorübergehend nicht wehrdienstfähig" und „nicht wehrdienstfähig" an Stelle der bisherigen Tauglichkeitsmerkmale „tauglich", „eingeschränkt tauglich", „vorübergehend untauglich" und „untauglich" sollen dazu beitragen, daß in der Zukunft auch die Wehrpflichtigen ihren Dienst in der Bundeswehr zu leisten haben, die als „eingeschränkt Taugliche" heute zwar in der Bundesliga — wie es Beispiele beweisen — Fußball spielen können, jedoch bisher nicht eingezogen wurden.In der Zukunft werden etwa 75 % statt bisher 60 % der Wehrpflichtigen eines Jahrganges als wehrdienstfähig gemustert und danach auch eingezogen. Die vorgesehene Heraufsetzung der Altersgrenze für die Einberufung von bisher 25 auf 28 Jahre — wie im Gesetzentwurf vorgesehen — wird dazu führen, daß Wehrpflichtige, die insbesondere aus Ausbildungsgründen zurückgestellt wurden, zukünftig die Wehrpflicht nicht wegen Überschreitens der Altersgrenze umgehen können.Meine Freunde und ich begrüßen diese Maßnahme und sehen in der Möglichkeit, den Grundwehrdienst aus Härtegründen in zeitlich getrennten Abschnitten ableisten zu können, eine notwendige Ergänzung. Die Eingrenzung der Ausnahmeregelungen wird von uns ebenfalls bejaht.Um mehr Wehrpflichtige zum Dienst in der Bundeswehr bei gleichbleibendem organisatorischen Umfang heranziehen zu können, ist notwendigerweise die Verkürzung des Grundwehrdienstes erforderlich. Wir halten eine Verkürzung auf 15 Monate für
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Würtzsinnvoll, weil damit in der Zukunft nicht wie heute 195 000 Wehrpflichtige im Jahr eingezogen werden, sondern sich die Zahl auf 230 000 bis 240 000 junge Männer erhöht. Diese 20 % mehr führen zu einem gewissen Maß an Wehrgerechtigkeit bis in die Jahre 1976/1977.Die Bedenken, die hier angemeldet worden sind, unsere Verpflichtungen gegenüber unseren Verbündeten würden wegen der Verkürzung des Grundwehrdienstes nicht eingehalten werden können, werden durch die Einführung einer dreimonatigen Verfügungsbereitschaft für alle Wehrpflichtigen nach Beendigung ihres Dienstes in der Bundeswehr ausgeräumt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Biehle?
Bitte sehr, Herr Kollege!
Herr Kollege Würtz, sind Sie mit mir der Auffassung, daß das vorgetragene Zahlenspiel mit der Wirklichkeit einfach nicht übereinstimmt, weil Sie außer acht lassen, daß im Gegensatz zu den gering steigenden Einberufungsquoten bei der Bundeswehr in viel höherem Maße die Quoten derjenigen steigen, die den Wehrdienst verweigern und nicht eingezogen werden, und daß deshalb die Zahlen, die Sie angeführt haben, egalisiert werden?
Herr Kollege Biehle, ich darf dazu nur folgendes sagen. Wir haben im Wehrstrukturbericht durch die Kommission eine außerordentlich gute Übersicht erarbeitet bekommen. Für uns steht fest, daß das uns vorgelegte Zahlenmaterial auch zutrifft. Die Problematik in der Frage der Zivildienstleistenden oder besser derjenigen, die den Dienst aus Gewissensgründen verweigern, wird im zukünftigen Zivildienstgesetz noch einmal eine erneute Überprüfung erforderlich machen.Wehrpflichtige können auf Anforderung des Bundesministeriums der Verteidigung ohne Einschaltung der Wehrersatzbehörden sofort zu ihren Einheiten zurückgerufen werden. Darin sehen wir auch eine Ergänzung des Instrumentariums der militärischen Maßnahmen, das der Bundesregierung und damit der NATO im Rahmen der flexiblen Bewältigung von Krisen zur Verfügung steht.Die Verkürzung der Dienstzeit auf 15 Monate und die damit verbundene schnellere Rotation der Wehrpflichtigen führt sicher zu einer Mehrbelastung des Ausbildungspersonals. Das Mehraufkommen an Wehrpflichtigen erfordert zusätzlich die Gewinnung von längerdienenden Freiwilligen, um die Ausbildungsaufgaben erfüllen zu können.Folgende flankierende Maßnahmen — ich darf sie hier zitieren — sind im Gesetzentwurf vorgesehen: die Einführung einer Mindestdienstzeit für Soldaten auf Zeit für die Dauer von 21 Monaten, die Anhebung der Verpflichtungsprämien für Dienstzeiten von vier und acht Jahren um den Betrag der durch das Gesetz eingeführten Prämie für eine Dienstzeit von zwei Jahren, die Wiedereinführung einer Verpflichtungsprämie für eine Dienstzeit von 12 Jahren sowie die Beibehaltung des bisherigen Höchstsatzes des Entlassungsgeldes für einen Grundwehrdienst von 18 Monaten bei einem Grundwehrdienst von nunmehr 15 Monaten. Sie sind nach unserer Meinung unbedingt erforderlich.Ich weiß, daß sich die Truppe mit der Verkürzung der Wehrdienstdauer abfinden und sich auf diese Verkürzung einstellen wird.
— Sie selbst wissen ja, Herr Kollege Biehle, daß es schon Zeiten gegeben hat, in denen sich die Bundeswehr auf andere Wehrdienstzeiten einstellen mußte, so im Jahre 1961, sicher in umgekehrter Form. Wir verkennen nicht die besonderen Schwierigkeiten, denen sich die Bundeswehr bei der Bewältigung der fünfzehnmonatigen Dienstzeit gegenübersehen wird. Wir sind daher ebenso davon überzeugt, daß die Bundeswehr diese Schwierigkeiten meistern wird.Neben der Sorge wegen der organisatorischen Auswirkungen des Gesetzes auf die Bundeswehr, die auch hier von dem Kollegen Damm vorgetragen worden ist, sind mehrfach Bedenken wegen der Haltung unserer Verbündeten geäußert worden. Die Bundesregierung hat jedoch die Allianz über die von ihr in Aussicht genommenen Maßnahmen frühzeitig konsultiert und am 8. September 1971 diese Konsultation mit zustimmendem Ergebnis abgeschlossen, wobei die Partner zum Ausdruck brachten, daß sie die politische Zielsetzung der geplanten Maßnahmen — —
— Ich weiß gar nicht, was Sie haben, Herr Dr. Klepsch.
— Sie wissen es ganz genau — Sie können es im „Bulletin" nachlesen —, daß diese Konsultationen positiv abgeschlossen worden sind, wobei die Partner zum Ausdruck brachten, daß sie die politische Zielsetzung der geplanten Maßnahmen zur Herbeiführung der Wehrgerechtigkeit und zur Aufrechterhaltung der Wehrpflicht verständen. Gleichzeitig wurden die kompensierenden Maßnahmen finanzieller Art und die Einführung einer Verfügungsbereitschaft für Wehrpflichtige am Ende ihrer Wehrdienstzeit begrüßt.Bevor ich zum Schluß meiner Ausführungen komme, möchte ich auf die sich aus der Änderung des Wehrpflichtgesetzes ergebenden Folgewirkungen für den zivilen Ersatzdienst kurz hinweisen. Hier gibt es noch Unklarheiten, die wir im Ausschuß ausräumen müssen. Die geringen Änderungen des Bundesbesoldungsgesetzes, des Wehrsoldgesetzes, des Soldatenversorgungsgesetzes und des Bundespolizeibeamtengesetzes stellen notwendige Ergänzungen des Gesetzentwurfs dar.Auf Grund der besonderen Bedeutung dieses Gesetzes, nämlich der Schaffung größerer Wehrgerechtigkeit, erscheinen meiner Fraktion die entstehenden Mehrausgaben für 1972 in Höhe von 70 Millio-
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Würtznen DM voll gerechtfertigt. Sie sind im Globalansatz von 180 Millionen DM bei Kap. 14 02 enthalten und werden in den kommenden Jahren in der Finanzplanung berücksichtigt.Frühere Bundesregierungen haben ohne Erfolg die Schaffung von mehr Wehrgerechtigkeit zu erreichen versucht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den von Ihnen zitierten Bericht der Adorno-Kommission, der am 28. Juni 1968 vorgelegt wurde und der zu keiner grundlegenden Entscheidung führte. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß die Unsicherheit der CDU/CSU-Fraktion in dieser Frage ausschlaggebend war. Jedenfalls war es der Kollege Dr. Zimmermann, der bei der Debatte über die Regierungserklärung am 29. Oktober 1969 hier in diesem Hohen Hause davon sprach, daß, je mehr man sich in dieses Thema hineinarbeite, um so schwieriger eine perfekte Lösung werde.Ich bin mir in Übereinstimmung mit meinen Freunden darüber im klaren, daß der Gesetzentwurf nicht in allen Fragen eine befriedigende Antwort gibt. Hier wird die Ausschußarbeit eine notwendige Ergänzung bringen müssen. Gleichwohl sage ich aber der Bundesregierung Dank für den mutigen Schritt, den sie mit der Vorlage dieses Gesetzes nach vorn getan hat.
Meine Damen und Herren, ich benutze die Gelegenheit, unserem Kollegen Würtz zur heutigen Jungfernrede die Glückwünsche des ganzen Hauses auszusprechen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Krall; 15 Minuten Redezeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Namens der Fraktion der Freien Demokraten gebe ich nachstehende Erklärung ab.Mit der Bundestagsdrucksache VI/3011 liegt ein Gesetzentwurf vor, der im wesentlichen die Verkürzung des Grundwehrdienstes von 18 auf 15 Monate zum Inhalt hat. Zusätzlich ist eine Reihe von flankierenden Maßnahmen angesprochen mit dem Ziel, die Zahl der Längerdiener in der Armee zu erhöhen.Das Ziel der Gesetzesänderungen ist die Durchsetzung einer größeren Wehrgerechtigkeit bei gleichzeitiger Erhaltung des Kampfwertes der Bundeswehr. Hierzu hat der Parlamentarische Staatssekretär soeben die grundsätzlichen Verbesserungen im Ausbildungsrhythmus dargelegt. Wir sind uns darüber im klaren, daß die Verkürzung der Wehrdienstzeit eine schnellere Rotation von Wehrpflichtigen mit sich bringt, die in der Übergangszeit — das muß hier klar erkannt werden — zu einer erheblichen Belastung der Truppe, und vor allem des Heeres führt. Um militärische Nachteile und bündnispolitisch negative Auswirkungen zu vermeiden, ist eine Reihe von Maßnahmen erforderlich, die auf die Erhaltung des Kampfwertes der Bundeswehr abzielen. Die Präsenzlücke soll dadurch vermieden werden, daß die Wehrpflichtigen drei Monate nach ihrer Entlassung einer Verfügungsbereitschaft unterliegen, aus der sie jederzeit in einem vereinfachten Verfahren zum Dienst in ihren Verband zurückgerufen werden können.Weiter ist vorgesehen:Einführung einer Mindestdienstzeit für Soldaten auf Zeit für die Dauer von 21 Monaten;Einführung einer Verpflichtungsprämie für die Dienstzeit von zwei Jahren;Anhebung der Verpflichtungsprämien für Dienstzeiten von vier und acht Jahren um den Betrag der durch das Gesetz eingeführten Prämie für eine Dienstzeit von zwei Jahren;Wiedereinführung einer Verpflichtungsprämie für eine Dienstzeit von zwölf Jahren;Beibehaltung des bisherigen Höchstsatzes des Entlassungsgeldes für einen Grundwehrdienst von 18 Monaten bei einem Grundwehrdienst von nunmehr 15 Monaten.Das rechtzeitige Inkrafttreten dieser genannten Maßnahmen ist also die unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der Wehrdienstverkürzung. Drei weitere Vorschläge möchte ich namens meiner Fraktion als Anregungen geben, die dann der näheren Behandlung im Ausschuß bedürfen:Es sollte geprüft werden, ob nicht für den Z 15 gleichfalls Bedarf besteht. Bei den zur Zeit stattfindenden Überlegungen, einen B 20 einzuführen, erscheint das Ausklammern des Z 15 im Rahmen der Verpflichtungsprämien inkonsequent.Für diejenigen, die sich nach dem 30. Juni 1968, aber vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes auf zwölf Jahre verpflichtet haben, sollte eine Übergangsregelung auftretende Härten ausgleichen.Außerdem halte ich es für erforderlich, den Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Verpflichtungsprämien rückwirkend auf den 1. Oktober 1971 festzusetzen, damit die für die Umstellung benötigten Längerdienenden — und hierauf kommt es im wesentlichen an — auch dann keine Nachteile erleiden, wenn sie sich im vierten Quartal 1971 verpflichtet haben.Schließlich sei noch die Frage gestattet, ob mit der gleichzeitig erfolgenden Festsetzung der Zeit für den Ersatzdienst von 16 Monaten tatsächlich die Mehrbelastung des Wehrpflichtigen voll ausgeglichen ist, die sich neben dem Wehrdienst aus Verfügungsbereitschaft und Reserveübungen zusammensetzt.Meine Fraktion schließt sich dem Vorschlag an, den Gesetzentwurf dem Verteidigungsausschuß zur Beratung zuzuleiten, und bittet dabei, die von mir soeben erwähnten Ergänzungen mit zu berücksichtigen.Wir werden sicher über die Probleme, die der Kollege Damm angesprochen hat, im Ausschuß eingehend beraten müssen. Die Frage eines allgemei-
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Krallnen Zivildienstes habe ich von dieser Stelle aus im vergangenen Jahr bereits angesprochen.Der neue Gesetzentwurf sieht 15 Monate Wehrdienstzeit vor. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß wir Freien Demokraten seit langem für eine Verkürzung des Wehrdienstes eingetreten sind mit dem Ziel, eine größere Wehrgerechtigkeit zu erreichen. Der Entwurf leistet hierzu einen wesentlichen Beitrag.
Wir sind am Ende der Aussprache in erster Lesung. Der Ältestenrat schlägt vor, den Entwurf an den Verteidigungsausschuß —federführend —, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den Innenausschuß zur Mitberatung sowie an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Wer diesem Vorschlag zustimmen will, den bitte ich um das Hndzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? -
Es ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 7 und 8 der Tagesordnung auf — Sie werden mir darin zustimmen, daß wir die Punkte gemeinsam behandeln können —:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft nach Durchschnittsätzen und des Einkommensteuergesetzes
— Drucksache VI/2983 —
Erste Beratung des von den Abgeordneten Stücklen, Dr. Dollinger, Dr. Riedl , Weber (Heidelberg), Leicht, Erhard (Bad Schwalbach), Lemmrich und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Postverwaltungsgesetzes
— Drucksache VI/3027 —
Das Wort wird zu beiden Vorlagen nicht gewünscht.
Sind Sie damit einverstanden, daß wir über die Vorschläge des Ältestenrates, die Entwürfe an die in der Tagesordnung ausgewiesenen Ausschüsse zu überweisen, zusammen abstimmen? — Ich höre keinen Widerspruch. Wer den Vorschlägen des Altestenrates zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Demnach ist zu Punkt 7 die Überweisung an den Finanzausschuß — federführend —, an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend — und an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung und zu Punkt 8 die Überweisung an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — federführend —, an cien Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen, den Innenausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Haushaltsausschuß zur Mitberatung erfolgt.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rollmann, Dr. Arnold, Frau Dr. Henze, Dr. Riedl und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Jugend vor Mediengefahren
— Drucksache VI/3013 —
Zur Begründung des Entwurfs erteile ich Herrn Rollmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bestimmungen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren, die von Medien ausgehen können, sind heute in eine Vielzahl von Gesetzen, Verträgen und Grundsätzen zersplittert. Wir haben einmal das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, das sogenannte GjS; wir haben den § 6 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit in Verbindung mit den Grundsätzen der Freiwilligen Film-Selbstkontrolle, der FSK; wir haben § 10 des Staatsvertrages für das Zweite Deutsche Fernsehen, und wir haben Programmgrundsätze des Ersten Deutschen Fernsehens.Eine Folge der Zersplitterung ist diese: Seit Jahren flimmern Tag für Tag Gewalttätigkeit, Brutalität und Verbrechen in einem beträchtlichen Umfange und in einer beträchtlichen Intensität von den Bildschirmen des deutschen Fernsehens in Millionen deutscher Wohnzimmer, vor allen Dingen aber hin zu Millionen deutscher Kinder und Jugendlicher. Diese Inhumanität dient nicht der Dokumentation von Ereignissen unserer Zeit oder der Geschichte — was allein sie rechtfertigen würde —, sondern ist Teil der Unterhaltungssendungen.Das Audiovisuelle Zentrum Hildesheim unter Professor Dr. Heinrichs zählte in einer Woche — in der Woche vom 13. bis 19. Februrar 1971 — in den Unterhaltungsprogrammen des Fernsehens 416 Gewaltverbrechen, darunter 103 Morde, 52 schwere Schlägereien, 27 Schießereien, 26 Schußverletzungen, 11 Faustattacken, 8 Raubüberfälle usw. Professor Heinrichs sagt in seiner Untersuchung:Der Medienpädagoge muß auf Grund internationaler Forschungsergebnisse feststellen, daß jede Fernsehproduktion, welchen Inhalt sie auch immer haben möge, erzieht, bildet, ausrütet, prägt. Das Fernsehen ist eine gewaltige Lernmaschine. Alles, was aus ihr herauskommt, setzt einen Lernprozeß in Gang. Insofern haben alle TV-Produktionen -- von der Unterhaltung bis zur Information — didaktische Struktur.Wir sind der Meinung, daß die zunehmende Gewalttätigkeit, Brutalität und das Verbrechen auf den Bildschirmen unseres Landes eine der zahlreichen Ursachen für die Welle der Gewalt und Kriminalität sind, die über unser Land hinwegrollt.Die CDU/CSU-Fraktion möchte mit ihrem Gesetzentwurf zum Schutze der Jugend vor Mediengefahren einen umfassenden, zeitgerechten und wirksamen Kinder- und Jugendschutz erreichen. Unsere Konzeption unterscheidet sich grundlegend von der
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RollmannAuffassung der Regierung und der Regierungskoalition, die nicht die Zusammenfassung, sondern die weitere Zersplitterung des Jugendschutzes im Bereich der Mediengefahren dadurch bewirken, daß sie im Begriffe sind, Teile des Jugendschutzes aus dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften herauszunehmen und in den §§ 131 und 184 StGB zu regeln. Wir wollen nicht, daß Tatbestände des Jugendschutzes im Bereich der Mediengefahren im Strafgesetzbuch normiert werden. Entweder kommt dabei der Jugendschutz zu kurz, oder der grundgesetzlich geschützte Freiheitsraum der Erwachsenen wird zu sehr eingeschränkt.Jugendschutz und allgemeines Strafrecht haben mancherlei Berührungspunkte, aber sie sind nicht identisch, sondern müssen so wie bisher — wir haben damit gute Erfahrungen gemacht — voneinander getrennt gehalten werden. Der § 184 des Strafgesetzbuches hat, wie der Bundesgerichtshof im Fanny-Hill-Urteil ausdrücklich festgestellt hat, nicht die Aufgabe, den Jugendschutz zu gewährleisten. Wir meinen, wer nicht nur Lippenbekenntnisse zum Jugendschutz im Bereich der Mediengefahren ablegen, sondern diesen Jugendschutz wirklich will, muß auch für ein einheitliches und geschlossenes Gesetz zum Schutz der Jugend vor Mediengefahren eintreten. Dieses Gesetz haben die Fachleute des Jugendschutzes in den vergangenen Jahren auch immer wieder gefordert, nicht zuletzt in Anhörungen, die die verschiedenen Ausschüsse des Deutschen Bundestages durchgeführt haben.Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften stellt nach seinem Wortlaut, wenn auch nicht nach seinem Sinn vor allen Dingen auf die sittliche Gefährdung von Kindern und Jugendlichen ab. Wir machen in unserem Gesetzentwurf zum Schutze der Jugend vor Mediengefahren ganz deutlich, daß wir nicht nur die sittliche, sondern auch die soziale und seelische Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen schützen wollen. Über das, was hier im einzelnen gemeint ist, wird nachher mein Kollege Dr. Arnold sprechen.Ich möchte hier im Anschluß an meine einleitenden Worte nur eines herausgreifen: den Schutz unserer jungen Generation vor Druck-, Ton- oder Bilderzeugnissen, die Gewalttätigkeit, Brutalität oder Verbrechen irreführend oder nachahmenswert darstellen, einen Schutz, den wir unserer jungen Generation doch nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch um unser selbst willen schulden. Auch wenn immer wieder behauptet wird, daß gesicherte Erkenntnisse über die negative Wirkung einer positiven Darstellung von Gewalttätigkeit, Brutalität und Verbrechen auf Kinder und Jugendliche nicht vorlägen, — sie liegen vor.Von tiefem Eindruck ist für mich gewesen, was Männer wie die Professoren Geerds, Lemp, Mitscherlich, Hallermann und die Kriminaldirektorin Frau Dr. Matthes in dem Hearing des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform im Herbst 1970 dazu ausgeführt haben. Lassen Sie mich hier nur Herrn Professor Mitscherlich zitieren, der doch nun wirklich nicht ein Mann von uns, sondern ein Mann der Linken in unserem Lande ist:Die aggressiven Phantasien und Strebungen von Kindern und Jugendlichen sind durch Abbildungen sehr leicht zu wecken und zu brutalisieren. . . . Auf diesem Sektor tut ein durchdachter Jugendschutz sehr not.Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat jüngst die wissenschaftlichen Forschungen und Ergebnisse ausgewertet, die dem Zusammenhang zwischen dargestellter Gewalt auf dem Bildschirm und aggressiven Neigungen und Verhaltensweisen gewidmet sind. Ich möchte mit Genehmigung des Herrn Präsidenten nur dies zitieren:Gewaltdarstellungen können unter bestimmten Voraussetzungen bei den Zuschauern vorhandene aggressive Neigungen stimulieren bzw. deren Kontrolle mindern.Ein anderes Zitat:Als wissenschaftlich gesichert und durch eine Vielzahl empirischer Untersuchungen mit sehr unterschiedlichen Forschungsansätzen dokumentiert darf die allgemeine Feststellung gelten, daß Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen aggressionsstimulierend wirken bzw. die Hemmschwelle für aggressive oder kriminelle Verhaltensweisen herabsetzen können, wenn sie beim Zuschauer auf bestimmte „Prädispositionen", d. h. Vorprägungen und Einflüsse treffen.Schließlich heißt es zu den Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen:Das kindliche Lernverhalten ist im besonderen Maße durch die Neigung zum Beobachten und Nachahmen gekennzeichnet. Da das Kind seine eigenen Probleme in die Filmhandlung — so wie es diese versteht — hineinprojiziert, erblickt es in dem Helden des Stückes, der aus der Gewaltszene siegreich und gestärkt hervorgeht, das Idol für die Lösung der eigenen Probleme, insbesondere der Selbstbehauptung gegenüber den Erwachsenen.Die Untersuchung unseres Wissenschaftlichen Dienstes kommt zu dem Ergebnis:Somit ergibt sich, daß nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung zahlreiche, kaum widerlegte Untersuchungsergebnisse für die Vermutung sprechen, daß aggressive Medieninhalte bei den Rezipienten aggressive Tendenzen stimulieren bzw. die Kontrollschwelle für aggressives Verhalten herabsetzen. Die dargestellte Gewalt hätte demnach also nicht nur die Eigenschaft, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zum handlungsauslösenden Faktor werden zu können oder imitiert zu werden, sondern sie wäre ein selbständig wirkender Faktor.Ich glaube also, meine Damen und Herren, daß die CDU/CSU-Fraktion vollauf berechtigt ist, Druck-, Ton- oder Bilderzeugnisse, die Gewalttätigkeit, Brutalität oder Verbrechen irreführend oder nachahmenswert darstellen, als kinder- und jugendgefährdend anzusehen und der Meinung zu sein, daß solche Erzeugnisse zu indizieren sind.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9513
RollmannWir sind auch der Auffassung — offensichtlich im Gegensatz zum Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, wenn man der „Frankfurter Rundschau" vom 14. Januar 1972 vertrauen darf —, daß solche Ton- oder Bilderzeugnisse erst nach 22 Uhr im Rundfunk oder im Fernsehen verbreitet werden dürfen. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten", sagt Artikel 5 unseres Grundgesetzes; aber dort heißt es ebenso: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend." Ich glaube, dies ist in der heutigen Zeit notwendig festzustellen, daß das Recht der Publikationsfreiheit nach unserem Grundgesetz durch den Jugendschutz begrenzt wird. Wir wollen durch § 4 Abs. 3 Satz 2 unseres Gesetzentwurfs den Rundfunk- und Fernsehanstalten zuvörderst eine Rechtspflicht auferlegen, keine kinder- und jugendgefährdenden Sendungen vor 22 Uhr zu verbreiten. Erst wenn sie dieses Recht und diese Pflicht nicht wahrnehmen, wird — und dann leider meist verspätet — die Bundesprüfstelle für kinder- und jugendgefährdende Druck-, Ton- oder Bilderzeugnisse in Erscheinung treten und diese Ton- oder Bilderzeugnisse indizieren müssen.Mit dem Gesetz zum Schutz der Jugend vor Mediengefahren werden wir ein Weniger an Druck-, Ton- oder Bilderzeugnissen kinder- und jugendgefährdenden Inhalts in unserem Lande haben. Die Kinder- und Jugendgefährdung als solche, die aus so vielen Quellen gespeist wird, werden wir damit natürlich nicht beseitigen können; aber als Parlament werden wir mit diesem Gesetz einen Beitrag zur Verminderung dieser Kinder- und Jugendgefährdung leisten können, den Beitrag, der uns als Parlament möglich ist. Ich meine, daß es darauf ankommt, daß wir als Deutscher Bundestag hier Zeichen und Signale setzen.
Sie haben die Einbringung der Gesetzesvorlage gehört. Wir treten in die Aussprache zur ersten Lesung ein. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Herr Westphal.
herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jugendschutz ist eine ernste Sache. Man darf ihn nicht für billige Effekte mißbrauchen. Er muß wirksam sein.
— Er muß wirksam und praktikabel sein, Herr Vogel. Er muß für jeden Bürger einleuchtend gestaltet sein. Jugendschutz ist ein Hilfsinstrument im Rahmen der Erziehung. Er ist nicht dazu da, jungen Menschen durch Isolierung von gesellschaftlicherWirklichkeit eine Art heile Welt vorzugaukeln, die gar nicht vorhanden ist.
Weil das Erkennen, das Begreifen, das Meistern, sozusagen das Fertigwerden mit gesellschaftlicher Wirklichkeit mit ihren schädlichen und hilfreichen, mit ihren schmutzigen und sauberen, mit ihren friedfertigen und brutalen Seiten ein Prozeß ist, der Zeit erfordert, der erzieherisch Begleitung erfordert und der Möglichkeiten des Verarbeitens bedarf, gibt es die erzieherische Notwendigkeit, nicht alle Wirklichkeit gleichzeitig auf alle Altersgruppen sozusagen einprasseln zu lassen. Die Überforderung der sich entwickelnden Persönlichkeit des jungen Menschen muß vermieden werden können.Auf Erziehung und Bildung angelegte Bemühungen, also nicht solche der Unterhaltung, des Zeitvertreibs oder gar der Aufstachelung bestimmter Wünsche und Triebe, müssen das Heft in der Hand behalten, müssen die Zeitpunkte der Konfrontation mit üblen Realitäten, die durch Mißbrauch freiheitlicher Lebensordnung entstehen, bestimmen können, wenn es um den Weg des jungen Menschen zur Emanzipation und zur Eigenverantwortlichkeit geht. Deshalb muß Erziehung auch — ich füge ein: wohl oder übel — mit dem Verbot, mit rechtlichen Einschränkungen arbeiten.Verbote aber schränken Freiheitsrechte ein. In unserem Fall, über den wir heute hier reden, also im Falle der Vorlage der CDU/CSU zu einem Medienschutzgesetz, geht es um den Bereich der Eingriffe in die Meinungs- und Informationsfreiheiten. Das sind hohe Güter. Wir sind aufgefordert, damit äußerst vorsichtig umzugehen. Vertretbar ist ein Eingriff in diese Freiheitsrechte nur in einem sehr, sehr engen Rahmen.Jeder wird ein entsprechendes Verbot einsehen, wenn es darum geht, den Zugang zu Gewalt verherrlichenden oder pornographischen Publikationen in der Öffentlichkeit zu erschweren oder zu verhindern. Ein Verbot, diese Arten von Veröffentlichungen an Jugendliche zu geben, und die Vertriebs- und Werbebeschränkung zur Durchsetzung dieses Verbots gehören nach unserer Ansicht in das allgemeine Strafrecht hinein. Wer dieses Verbot mißachtet, handelt nämlich sozialschädlich. Die Verletzung der Psyche des jungen Menschen ist genauso strafwürdig wie die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit.Eine solche Regelung wird, wie Sie wissen, meine Damen und Herren, zur Zeit im Strafrechtssonderausschuß dieses Hohen Hauses im Rahmen des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes beraten. Es bestand schon vor der Einbringung dieses Gesetzentwurfs der CDU/CSU und eigentlich im Gegensatz zu diesem Entwurf Einigkeit — und die Bundesregierung hat diesem Beratungsergebnis inzwischen auch voll und ganz ihre Zustimmung gegeben —, daß auch die leichtfertige Weitergabe solcher Publikationen an Jugendliche bestraft werden muß. Das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz stellt eindeutig klar, daß Gewalt verherrlichende und pornographi-
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9514 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Westphalsehe Darstellungen auch nicht im Fernsehen und im Rundfunk verbreitet werden dürfen.Ein gleiches Verbot für tatsächliche oder zu vermutende jugendgefährdende Darstellungen sozusagen unterhalb dieser Schwelle, wie es der Oppositionsentwurf will, wäre — darüber müssen wir uns klar sein — ein Sonderstrafrecht für Journalisten, eine Überspannung ihrer Sorgfaltspflicht bei der Auswahl von Sendungen und ein nicht annehmbarer Eingriff in die Informations- und Meinungsfreiheit. Eine Vorzensur von Sendungen durch die Bundesprüfstelle oder ein anderes Gremium wäre erst recht verfassungsrechtlich unzulässig. Meine Damen und Herren, wir wollen keine Vorzensur.Frau Bundesminster Strobel hat sich deshalb in einem persönlichem Schreiben an die Intendanten und die Vorsitzenden der Gremien aller Rundfunk- und Fernsehanstalten gewandt und zu einer Intensivierung der Selbstkontrolle vor allem gegenüber gewaltverherrlichenden Sendungen aufgefordert. Die bisher vorliegenden Antworten lassen erkennen, daß sich die Anstalten ihrer großen Verpflichtung und Verantwortung durchaus bewußt sind und selber stärker als bisher um den Jugendschutz bemüht sein wollen. Wir begrüßen diese Stellungnahmen von Intendanten und Gremienvorsitzenden der Rundfunk- und Fernsehanstalten, und wir erwarten unverzügliches Handeln auf diesem Gebiet. Die bessere Einsicht darf nicht an wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheitern. Eine Serie, angefüllt mit Brutalitäten, kann auch abgesetzt werden; sie muß nicht abgespult werden, weil man sie billig gekauft hat oder Eigenproduktionen teurer sind.Ich habe schon gesagt, daß es auch nach unserer Meinung Publikationen gibt, bei denen Jugendschutz greifen muß, obwohl sie unterhalb der Schwelle von Gewaltverherrlichung und Pornographie liegen. Aber da müssen die Sachverständigen heran zur Beurteilung vor der Entscheidung über Vertriebs- und Werbebeschränkungen. Die im CDU/CSU-Entwurf vorgesehene und aus dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften übernommene Regelung der entsprechenden Beschränkungen für offensichtlich schwer jugendgefährdende Publikationen, die nicht in die Liste aufgenommen worden sind, kann nach unserer Meinung so nicht bleiben. Um beurteilen zu können, ob eine Schrift, ein Bild, eine Schallplatte jugendgefährdend ist, braucht man eine aus Sachverständigen zusammengesetzte unabhängige Prüfstelle. Man kann nicht jedem Burger, noch dazu unter Strafandrohung, zumuten, Publikationen nicht an Jugendliche weiterzugeben und Vertriebs- und Wettbewerbsbeschränkungen zu beachten, bevor die Sachverständigen gesprochen und durch Aufnahme in die Liste die Jugendgefährdung festgestellt haben.Noch ein Wort zur Antragsbefugnis! Eine Erweiterung der Antragsbefugnis und damit ein besseres Funktionieren der Bundesprüfstelle ist seit langem ein Wunsch der Bundesregierung. Wir haben dies bereits in mehreren Verlautbarungen hervorgehoben. Die dafür vorgesehene Änderung der Durchführungsverordnung zum GjS wird unverzüglich in Angriff genommen, sobald über die im Entwurf des 4. Strafrechtsreformgesetzes vorgesehene Angleichung des GjS an das Strafgesetzbuch entschieden worden ist. Was der Entwurf der Opposition dazu bringt, ist nach unserer Ansicht zu wenig. Selbstverständlich ist die Bundesregierung gern zu weiteren Diskussionen über die mögliche Verbesserung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften bereit. Die Verabschiedung des 4. Strafrechtsreformgesetzes und die Erweiterung der Antragsbefugnis haben jedoch für die Bundesregierung Vorrang vor weiteren Einzelheiten, weil sie den Jugendschutz vernünftig verbessern will, aber kein Maulkorbgesetz für Journalisten mitmachen wird.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dürr. Für ihn sind nur 15 Minuten vorgesehen. Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Förderung des Wohls unserer Jugend ist eine Aufgabe, der sich alle Parteien in diesem Hohen Hause verpflichtet fühlen. Keine Gruppe kann für sich den Anspruch erheben, die besseren Jugendschützer zu sein, und keine Partei sollte der anderen — bei allen Meinungsverschiedenheiten über den Weg, der richtig ist — vorwerfen, ihr liege das Wohl der Jugend weniger am Herzen. Ich glaube, wir können uns auf eine Formel einigen — ich zitiere —: „Die Jugend muß befähigt werden, ihr Leben selbst zu meistern und in die künftige Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft hineinzuwachsen." Das stammt aus dem Godesberger Programm der SPD, das sich entgegen anderslautenden Unkenrufen aus den Reihen der Opposition noch in voller Kraft und Geltung befindet.
— Das kann man wohl sagen. — Und bis in die Ewigkeit wird sich auch kein Godesberger Programm in Kraft befinden,
aber noch lange.
Vielleicht hat das komplexe Thema — jetzt nicht das Godesberger Programm, sondern die vorliegende Materie —, das die Zuständigkeit mehrerer Ministerien und mehrerer Arbeitskreise in den Fraktionen betrifft, von den Bundes- und Landeszuständigkeiten überhaupt nicht zu reden, dazu geführt, daß wir manchmal nur Teilaspekte des ganzen Problems betrachten, sozusagen nur einzelne Stücke eines ganzen Kuchens anschauen. Wenn wir die Frage stellen: Was ist jugendgefährdend?, dringen wir noch nicht zum Kern des Problems vor.
Das ist eine rein defensive Frage. Wir müssen unsdie Frage vorlegen: Was ist jugendfördernd, d. h.was muß von uns gewollt werden? Damit kommen
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Dürrwir dem Kern näher. Die Kriterien dafür sind: Der junge Mensch muß die Möglichkeit der Information haben. Er muß sich ein eigenes Urteil bilden können. Er muß sich abgrenzen, muß sich in der sozialen Wirklichkeit zurechtfinden können. Ich glaube, in diesen Kriterien sind wir uns einig. Die ganze Materie ist mehr zur sachlichen Zusammenarbeit und weniger zur parteipolitischen Profilierung geeignet. Bloß bei diesem Entwurf hat man den gegenteiligen Weg gewählt. Er versucht parteipolitische Profilierung.
Oder vermute ich recht, daß es noch mehr Profilierung der Verfasser innerhalb ihrer eigenen Partei ist? Aber das ist I h r Problem.
Dieser Entwurf ist unausgegoren in den politischen Winterschlußverkauf gegeben worden, vermutlich in der Befürchtung, zügige Beratungen des Strafrechtssonderausschusses dieses Hohen Hauses könnten ihn überholen und zu großen Teilen zur Makulatur machen. Er ist trotz der anspruchsvollen Überschrift eine mäßig aufpolierte Neufassung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, ein wenig eine Wuermeling-Erinnerungs-Novelle, die halbfertig vorgelegt wurde, um nur ja das parlamentarische Erstgeburtsrecht zu behalten.„Halbfertig" ist ein Vorwurf, den ich zu beweisen habe. Herr Kollege Rollmann, wer in § 24 Ihres Entwurfs heute noch hineinschreibt: „wird mit Gefängnis bestraft", obwohl schon der vorige Bundestag die Bezeichnung „Gefängnis" abgeschafft und durch das Wort „Freiheitsstrafe" ersetzt hat, der sollte gelegentlich einmal in sein Kämmerlein gehen und bitterlich weinen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rollmann?
Verehrter Herr Kollege Dürr, da Sie das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften so schlecht beurteilen, frage ich: Ist Ihnen vielleicht noch erinnerlich, daß Sie vor zehn Jahren, allerdings einer anderen Fraktion angehörend, Berichterstatter des Jugend- und Familienausschusses für dieses Gesetz im Plenum waren und damals diesem Gesetz zugestimmt haben?
Sehr verehrter Herr Kollege Rollmann, erstens ist mir bekannt, was ich am 18. Januar 1961 gesagt habe. Zweitens habe ich es vorsichtshalber noch einmal nachgelesen, Sie nur zur Hälfte. Ich war Berichterstatter und habe für die Fraktion, der ich damals angehörte, die Ablehnung des Gesetzes durch die FDP-Fraktion begründet.Noch eines zu dieser Debatte damals. Erinnern Sie sich: Die CDU/CSU hat damals im Besitz ihrer absoluten Mehrheit wörtlich übereinstimmende Anträge von SPD und FDP auf Streichung des § 6 Abs. 2 niedergeschmettert und im Brustton der Überzeugung erklärt, § 6 Abs. 2 des GjS sei verfassungsmäßig. Recht behalten haben durch den Spruch des Bundesverfassungsgerichts nicht die CDU/CSU, sondern die übereinstimmend sich dagegen wendenden damaligen Oppositionsfraktionen, die jetzt gemeinsam Koalitionsfraktionen sind. So viel zur Stärkung Ihrer Erinnerung.
Meine Damen und Herren, Grund zum Weinen für die Verfasser, aber zur Freude für uns alle ist die Tatsache, daß der Strafrechtssonderausschuß in den letzten Wochen die Strafbestimmungen über Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt und über die Verbreitung pornographischer Schriften behandelt hat. Die Beschlüsse des Ausschusses sind wichtig und für uns alle hocherfreulich. Die Jugendschutzbestimmungen, die bisher im Nebenstrafrecht ein Schattendasein führten, sind verbessert ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Herr Kollege Rollmann, das ist keine Zerplitterung. Ich sage es besser mit einem Wort, das Sie auf anderen politischen Gebieten so gerne in den Mund nehmen: das ist eine Aufwertung. Die öffentliche Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt wird eine Straftat. Die Jugend wird vor Pornographie geschützt. Da die Jugend öffentliche Wege, Straßen und Plätze benutzt, wird Pornographie aus der Öffentlichkeit verbannt. Dabei wird das Recht der Medien auf Information gewahrt.Da die Ausrede „Ich habe nicht hineingeschaut, ich habe gar nicht gemerkt, daß es sich um Pornographie handelt" eine häufig gebrauchte und gelegentlich vor Gerichten auch erfolgreiche Ausflucht ist, hat letzte Woche der Strafrechtssonderausschuß einstimmig — ich betone: einstimmig — beschlossen, daß auch das leichtfertige Verbreiten von Pornographie im Sinne von § 184 Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt werden soll. Ich weiß nur nicht, ob da die verschiedenen Arbeitskreise der CDU mit ihren Strafrechtlern Fühlung gehalten haben. Sonst hätte Herr Rollmann hier heute nicht von der Zersplitterung reden können, nachdem die Strafrechtsfachleute der CDU das, was Herr Rollmann Zersplitterung nennt, ausdrücklich durch ihre Stimmabgabe mit beschlossen haben.Das Problem des § 6 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, das Problem offensichtlich schwer jugendgefährdender Schriften, hat die Opposition durch Abschreiben von der Wuermeling-Fassung des Gesetzes gelöst. Wir sind uns darüber klar, daß es unter der Schwelle des Pornographischen oder der Gewaltverherrlichung Schriften und Darstellungen gibt, bei denen eine tatsächliche oder zu vermutende Gefährdung der Entwicklung junger Menschen besteht. Ich habe gerade vorsichtig formuliert. Warum? Weil erst Frau Minister Strobel die notwendigen Forschungsaufträge in die Wege geleitet hat, während ihre Vorgänger als Familienminister sich zum Teil auf den Lorbeeren der Gesetzgebung aus dem Januar
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Dürr1961 auszuruhen schienen. Deshalb sind wir in der Zwischenphase, in der der Vorsichtige, bevor er weitere sichere Informationen erhält, Gefährdung der Jugend so lange vermuten muß, als Unschädlichkeit nicht klar erwiesen ist.Meine Damen und Herren, was Pornographie und Gewaltverherrlichung im Sinne der Bestimmungen des Strafgesetzbuches sind, sollte jeder einigermaßen wissen. Unterhalb dieser Schwelle braucht aber der Buchhändler, braucht der Leihbüchereiinhaber oder wer sonst damit befaßt ist Anhaltspunkte, damit er weiß, woran er ist. Er hat nicht die Zeit zur Prüfung, und er wäre auch überfordert, wenn er sozusagen seine eigene Bundesprüfstelle sein sollte.
Ich brauche kein Wort mehr darüber zu sagen. Jeder muß seine eigene Bundesprüfstelle sein, solange die Fassung des § 6, die Sie vorlegen, nicht vernünftiger weiterentwickelt wird. Die Zweiteilung: hier Strafgesetzbuch und darunter Indizierung und Aufnahme in eine Liste, in die jeder Betroffene hineinschauen kann, scheint in dieser Sache richtig zu sein.
Das Zwischenstück, § 6, war deshalb rechtlich nie besonders wirksam. Das Problem lassen Sie ungelöst.
— Aber, Herr Kollege Rollmann, wegen des Spielraums der Politiker, schlechte, gute und sehr gute Gesetze machen zu können, ist die Behauptung, daß § 6 Abs. 1 nicht der Verfassung widerspreche, kein Beweis dafür, daß es sich um eine praktikable besondere Glanzleistung des Gesetzgebers handelt. Darüber, ob es ein guter oder ein schlechter Paragraph ist, entscheiden bekanntlich die Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe nicht.Aber ich komme zum Glanzstück Ihres Entwurfs, und das ist außer der Überschrift die Bestimmung über die „saubere Mattscheibe" zumindest vor 22 Uhr. Hier kann ich mich nach den Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs kurz fassen. Über Gewalt und Brutalität im Fernsehen ist heute hier und auch in der Öffentlichkeit sehr viel diskutiert worden. Wir sind uns darüber klar, daß manche Sendungen des Fernsehens für Jugendliche schlechthin ungeeignet sind, und wir wissen, daß einige davon gerade in der Zeit des Werbefunks eingespielt werden, in einer Zeit, in der mehr jugendliche Zuschauer vor dem Bildschirm sitzen als während der eigentlichen Kinder- und Jugendstunde. Wer wie wir der Meinung ist, daß Django und seine zahlreichen Verwandten unserer Jugend weit mehr schaden als der Anblick des unbekleideten Oberkörpers einer Dame, muß in diese Problematik stärker eintreten als nur mit der Patentlösung, die Sie vorschlagen, die keine Patentlösung ist. Ich halte deshalb die Diskussion von Frau Minister Strobel mit den Intendanten der Rundfunk- und Fernsehanstalten für sehr förderlich. Denn diesen war zum Teil bei manchen früheren Sendungen auch nicht wohl. Sie hatten jedoch langfristige Verträge, die sie abwickeln müssen, und zwar in dem Sinne, daß sie bezahlen müssen. Aber Herr Westphal hat schon mit Recht gesagt, sie müssen nicht alles vorführen. Wir sind uns auch darüber im klaren, daß der Bezug und die eigene Herstellung besserer jugendfördernder Filme mehr Geld kosten. Auch darüber müssen wir uns Gedanken machen. Das Problem ist noch nicht voll gelöst. Aber die Fernsehkritik durch die Bundesprüfstelle — das ist, glaube ich, eine zutreffende Würdigung Ihres Paragraphen, Herr Rollmann — ist kein gangbarer Weg.Meine Damen und Herren, angemessene und praktikable Strafbestimmungen allein helfen nicht. Was wir erreichen müssen, ist eine Änderung des Produzentenverhaltens. Dazu brauchen wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Parlaments. Das Ziel, das wir erreichen wollen, sieht man zum Teil in Skandinavien. Wenn man dort, wo Brutalität in Film und Fernsehen so gut wie nicht zu sehen ist, fragt, mit welchen Strafbestimmungen sie das hingekriegt hätten, dann bekommt man eine recht dürftige Antwort. Sie haben so gut wie keine Strafbestimmungen dazu. Aber sie antworten mit voller Überzeugung: Wissen Sie, so etwas kommt bei uns einfach nicht an, und jeder, der so etwas versuchen würde, würde einen geschäftlichen und anderen Mißerfolg erleiden.
— Herr Rollmann, ich habe hier von der Darstellung von Brutalität gesprochen und war bisher der Meinung, daß auch Ihnen dieser Teilaspekt wichtiger ist als der vorhin zitierte unbekleidete Oberkörper. Wenn wir diesem Ziel näherkommen — dafür ist dieser Entwurf keine Patentlösung —, dann sind wir viel weiter.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Arnold mit einer Redezeit von 15 Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stellungnahmen, die die Regierung, aber auch Sie, Herr Kollege Dürr, zu unserem Entwurf abgegeben haben, zeigen, daß Sie das, was wir wollen, entweder nicht ganz verstanden haben oder daß Sie es nicht ganz verstehen wollen. Mein Kollege Rollmann hat mit Deutlichkeit klargemacht, um was es uns geht. Ich glaube, er hat mit aller Deutlichkeit und zu Recht darauf hingewiesen, daß wir kein Zensurgesetz haben oder etwa eine Vorzensur ausüben wollen.
Herr Staatssekretär Westphal, ich habe es als sehr eigenartig empfunden, daß gerade Sie glaubten, in Richtung auf meine Fraktion einen solchen Vor-
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Dr. ArnoldWurf oder eine solche Unterstellung zu machen; ich glaube nach den Diskussionen, die wir zu diesem Thema — Presse- und Informationsfreiheit — in den letzten Wochen hatten, ist die CDU/CSU hier im Hause wohl ein sehr ungeeigneter Adressat, um solche Unterstellungen loszuwerden.
Uns kommt es darauf an, mit diesem Gesetzentwurf das, was wir an Bestimmungen des Jugendschutzes haben, zeitgemäß auf einem sehr bedeutsamen Feld auszubauen und auch, Herr Kollege Dürr, das Verfahren vor der Bundesprüfstelle selbst zu vereinfachen.Völlig unverständlich ist es, wenn unserem Entwurf unterstellt wird, er ziele lediglich auf eine Effekthascherei ab. Wer so spricht, dem gefällt vielleicht die sehr breite Zustimmung, die dieser Gesetzentwurf in unserer Bevölkerung gefunden hat, nicht.Der Einwand, das Gesetz erübrige sich, da man im Rahmen der Strafrechtsreform die Ziele unseres Entwurfs wirksam einbauen könne, geht fehl.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Moersch?
Bitte sehr!
Herr Kollege Arnold, könnten Sie uns vielleicht den Widerspruch erklären, der darin liegt, daß Ihre Freunde neuerdings wieder die Einrichtung privater Fernseh- und Rundfunkanstalten betreiben, gleichzeitig aber der Meinung sind, daß man die jetzt von Ihnen selbst mit kontrollierten Rundfunk- und Fernsehanstalten durch Gesetz zwingen müsse, die Stunde der Brutalität erst um zehn Uhr abends beginnen zu lassen?
Ich glaube, Herr Kollege Moersch, daß dies nicht eine Frage der Struktur des Fernsehens und des Rundfunks ist. Ich glaube, daß die Gedanken, die wir hier entwickeln und die ich vortrage, für die eine wie für die andere Struktur Gültigkeit haben würden.
Im Augenblick haben wir es nur mit einer Struktur zu tun, und wir werden uns diesem Thema — der Zulassung auch privatrechtlicher Anstalten —, wie Sie ja wissen, durchaus weiter widmen.Meine Damen und Herren, es ist gesagt worden, man könnte die Jugend vor Mediengefahren besser schützen, indem man entsprechende Bestimmungen in das Strafrecht einbaut. Wir wollen dem widersprechen. Uns kommt es gerade darauf an, in einem eigenen Gesetzentwurf deutlich zu machen, daß dem Gedanken des Jugendschutzes angesichts der technischen Möglichkeiten, die die modernen Medien heute haben, von allen in diesen Medien Tätigen und Verantwortlichen so umfassend wie nur irgend möglich Rechnung getragen werden muß.Wie Kinder und wie Jugendliche in ihrer sozialen sittlichen und seelischen Entwicklung zu schützen sind, ist heute eine Frage von so großer Bedeutung geworden, daß wir eigentlich alle miteinander, Herr Kollege Dürr, nach den besten Lösungsmöglichkeiten suchen sollten. Dabei wissen wir — und das räumen wir ein —, daß Veränderungen in der Lebensauffassung zu bedenken sind. Aber wir wissen auch — und das unterstreichen wir —, daß es Wertvorstellungen für die Ordnung von Recht und Gesellschaft gibt, die von allgemeiner Gültigkeit sind. Bei allem Wandel geistiger und gesellschaftlicher Gegebenheiten muß unseres Erachtens der Gesetzgeber den Bürgern die elementaren Grundlagen der Rechtsordnung deutlich vor Augen stellen und bestrebt sein, gerade seine jungen Bürger vor Verletzungen der die Rechtsordnung bedingenden Wertvorstellungen zu schützen.Uns geht es dabei nicht — auch das sage ich ausdrücklich —, um eine Schematisierung, die letzten Endes nur auf Kosten der Freiheit gehen würde. Wir sind vielmehr bestrebt, mit diesem Gesetz eine angemessene Berücksichtigung der Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen auch und gerade um den Preis des kommerziellen Interesses zu gewährleisten. Es ist nicht so, daß durch dieses Gesetz die Freiheit auch nur eines einzigen Bürgers unseres Landes unzumutbar eingeschränkt würde.
Unsere Gesellschaft, meine Damen und Herren, leidet auf diesem Gebiet nach meiner Meinung nicht an einem Zuwenig, sondern eher an einem Mißbrauch der Freiheit.Es ist dann möglich, die gröbsten Auswüchse einzudämmen, wenn der Wille dazu bei allen Verantwortlichen vorhanden ist. Ich finde, wir sollten diesen Willen bekräftigen. Wir sollten gemeinsam handeln, bevor das Millionengeschäft mit der harten Pornographie — und um die geht es — mit den Begleiterscheinungen von Gewalttätigkeit, Brutalität und Verbrechen zu einem Milliardengeschäft wird.Immer mehr Stimmen aus der Wissenschaft rufen uns dazu auf. Herr Staatssekretär Westphal, wir haben uns vor längerer Zeit in einer Fragestunde des Hohen Hauses darüber einmal unterhalten. Bei Ihnen ist sicherlich in der Zwischenzeit eine ganze Reihe zusätzlicher wissenschaftlicher Stellungnahmen mit besorgniserregendem Inhalt eingegangen. In der Bevölkerung, meine Damen und Herren, gibt es Rückendeckung. Im letzten Jahr haben sich in einer entsprechenden Umfrage nicht weniger als drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung für eine wirksame gesetzgeberische Maßnahme ausgesprochen.In § 1 unseres Gesetzes stellen wir einen Katalog von Tatbeständen auf, die wir für besonders gravierend halten. Diese Tatbestände müssen einmal im Kontext unserer Zeit und zum anderen, und nicht zuletzt, auf dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte gesehen werden. Ich glaube, in diesem Hause brauchen wir kein Wort darüber zu verlieren, daß die Verharmlosung oder Verherrlichung des Krieges, die Anreizung zum Rassen-, Völkeroder Klassenhaß zu den verwerflichsten Handlungen
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9518 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Dr. Arnoldüberhaupt gehören und daß es zu den Aufgaben unserer Rechtsordnung gehört, unsere Jugend, aber, wie ich meine, selbst auch unsere Erwachsenen, vor diesen Dingen zu schützen.Aber auch Gewalttätigkeit und Brutalität sollten hier in einem Atemzug genannt werden. Denn der innere Zusammenhang zwischen Gewalttätigkeit und Brutalität mit den eben genannten Tatbeständen kann überhaupt nicht übersehen werden. Mit Recht, meine Damen und Herren, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß in der Wertordnung des Grundgesetzes die Menschenwürde an oberster Stelle steht und daß es dieser Würde widerspricht, den Menschen zum bloßen Objekt zu machen. Aus einer solchen Feststellung folgt nach unserer Meinung für den Gesetzgeber die Verpflichtung, unsere Jugend vor solchen Erzeugnissen zu schützen, in denen der Mensch zum bloßen Objekt gemacht oder in denen seine Würde verletzt wird.Damit aber ist gleichzeitig eine weitere Tendenz unseres Entwurfs angegeben. Wir denken nämlich gar nicht so sehr an diejenigen Fälle, in denen die Grenzen des Erlaubten überschritten werden und in denen dann zu bestrafen ist, sondern wir erhoffen uns von unserm Entwurf — nicht zuletzt auch im Bereich der Massenmedien — eine positive Wirkung dahin gehend, daß Programme und Druckerzeugnisse daraufhin geprüft werden, ob sie wirklich zu einer echten Wertbejahung und verantwortlichen Erziehung beitragen. Denn es kommt nicht darauf an, nicht straffällig zu werden, also die gesetzliche Norm gerade noch zu erfüllen, sondern vielmehr darauf, das Gegenteil von Gewalt und Brutalität, das Gegenteil von Rassen-, Völker- oder Klassenhaß und das Gegenteil von Verbrechen und Krieg immer wieder bejahend herauszustellen.Wer ein Gesetz nicht verletzt, hat dadurch allein noch nichts Positives getan. Wir hoffen, daß unser Entwurf eine Anregung dafür darstellt, kritisch darüber nachzudenken, was eine verantwortungsvolle Presse und eine verantwortungsvolle Programmgestaltung heute bedeuten.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus. Sie hat vorsorglich 30 Minuten Redezeit beantragt. — Es folgt dann Herr Dr. Schulze-Vorberg.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Schlußwort des Herrn Kollegen Arnold, daß der Gesetzentwurf Anlaß gibt, intensiv über die verantwortungsvolle Aufgabe nachzudenken, die Jugend besser zu schützen, ist sicherlich zutreffend. Ferner ist darüber nachzudenken, ob das Gesetz gegen jugendgefährdende Schriften ausreicht, weil die Jugendgefährdung heutzutage nicht nur von Schriften, sondern auch vom Rundfunk und stärker noch vom Fernsehen ausgehen kann. Insofern stimme ich mit Ihnen überein. Herr Kollege Rollmann hat auch darin recht — ich vermute, er hat die Protokolle des Strafrechtsausschusses in dieser Hinsicht sehr sorgfältig gelesen; ich habe das bei unserer kurzen Diskussion in der letzten Woche festgestellt —, daß wir als Freie Demokraten die Auffassung hatten, die Bestimmungen, die dem Jugendschutz dienen, sollten aus dem Strafgesetzbuch herausgenommen und vollständig in ein Jugendschutzgesetz eingearbeitet werden.Die Bundesregierung zeigt in der Begründung der von ihr im Strafrechtsausschuß zur Pornographie und zum § 131 StGB gemachten Vorschlägen sowie in der Begründung ihres Entwurfs zwei mögliche Wege auf. Der eine Weg ist der, den Sie jetzt beschritten haben und den auch wir zu gehen bereit gewesen wären: alles in ein besonderes Jugendschutzgesetz aufzunehmen. Der andere Weg, zu dem sich die Regierung entschlossen hat, ist der, entsprechende Strafbestimmungen in das Strafgesetzbuch einzuarbeiten.Für uns ist das keine so grundsätzliche Frage, daß deswegen unsere Mitarbeit am Regierungsentwurf irgendwie in Frage gestellt wird. Nur, Herr Kollege Rollmann, jetzt kommt das ganz große „Aber". In der Frage, wie der Jugendschutz zu gestalten ist, damit er nicht nur mit dem Wortlaut, sondern auch mit dem Geist des Grundgesetzes übereinstimmt, haben wir allerdings eine völlig andere Auffassung, als sie in Ihrem Entwurf zum Ausdruck kommt. Das möchte ich hier von vornherein mit aller Klarheit sagen.Wie ist es denn dazu gekommen, daß die Frage der Gewaltverherrlichung heute intensiver behandelt wird, als das noch vor zwei Jahren der Fall war? Mit ausschlaggebend war das Hearing, das wir bei der Beratung des Entwurfs zur Reform des Sexualstrafrechts hatten, als es hauptsächlich um Porno ging. Damals sagten uns die Sachverständigen: Viel schlimmer als Pornographie ist die Darstellung von Gewalttätigkeiten. Es war schon von Anfang an im Regierungsentwurf enthalten, daß Pornographie nicht freigegeben werden darf, wenn sie mit Darstellungen von Gewalttätigkeiten verbunden ist. Dieses Hearing hat den Anlaß gegeben zu überlegen: Sollte man nicht überhaupt, auch wenn nicht Sex daran beteiligt ist, Gewaltdarstellungen irgendwie auch strafrechtlich in den Griff bekommen? Das war der Anlaß für die Vorschläge zu § 131.Jetzt muß ich allerdings eines sagen. Wir haben über die Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalttätigkeiten — was auch den Erwachsenen betrifft, nicht nur den Jugendlichen — im Strafrechtsausschuß eingehend beraten. Ich werde über die Problematik, die darin liegt, an anderer Stelle noch eingehend sprechen. Ich muß Ihnen nur sagen: Für mich hat sich gezeigt, daß man eine wirklich gute Lösung nicht gefunden hat. Aber ich möchte jetzt die Diskussion darüber nicht vertiefen. Ich möchte nur sagen, daß ich die Vorbehalte zu § 131, die auch schon früher bei der Großen Strafrechtskommission da waren — auch andere Länder haben keine entsprechende Formulierung finden können , im Ausschuß vorgebracht habe.
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Frau Dr. Diemer-NicolausAber jetzt zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Ich habe ihn vor allen Dingen mit dem jetzt gültigen Jugendschutzgesetz verglichen. Das eine werden Sie mir zugeben: Da er nicht nur Schriften erfaßt, sondern darüber hinaus auch Rundfunk und Fernsehen, also diese heute so wichtigen Massenmedien, geht er weit über das bisher gültige Jugendschutzgesetz hinaus, in der Ausweitung dessen, was in die Liste aufgenommen werden soll und auch was gegebenenfalls kriminell strafbar sein soll.Herr Kollege Arnold, Sie haben im einzelnen etwas begründet. Sie haben dabei zu § 1 nur die Dinge angesprochen, über die man natürlich einig ist. Daß die Verharmlosung des Krieges oder seine Verherrlichung oder Brutalität und Verbrechen und Mißbrauch und Gewalttätigkeiten ethisch zu verurteilen sind, darüber sind wir uns vollkommen klar. Sie haben aber nicht darauf hingewiesen — das hat Herr Kollege Rollmann zitiert, indem er es in seine Ausführungen einbaute , was alles außerdem kriminell strafbar sein soll, wenn es an Kinder oder Jugendliche weitergegeben wird.Zunächst sind wahrscheinlich alle Parteien einer Meinung, daß es unterhalb dessen, was im Strafgesetzbuch zu pönalisieren ist und als echt kriminell zu bestrafen ist, also z. B. bei Pornographie, einen Bereich gibt, wo die Jugend einen besonderen Schutz haben muß wie im bisherigen Jugendschutzgesetz.Aber jetzt zu dem anderen Teil des § 1: da möchte ich auf Art. 103 unseres Grundgesetzes hinweisen. Art. 103 des Grundgesetzes verlangt, daß unsere Gesetze klar und exakt formuliert sind. Das gilt selbstverständlich ganz besonders bei Vorschriften, die so in die Presse- und Informationsfreiheit nach Art. 5 des Grundgesetzes eingreifen, wie das bei Ihrem Gesetzesvorschlag nun einmal der Fall ist. Sie sagen: „Druck-, Ton- oder Bilderzeugnisse, die geeignet sind, Kinder oder Jugendliche in ihrer sozialen, seelischen, sittlichen Entwicklung zu gefährden, . . .". Was kann denn darunter alles fallen?
Ich hätte mich wirklich sehr gefreut, Herr Kollege Arnold, wenn sie genaue Beispiele angeführt hätten. Das ist doch eine völlig wachsweiche Bestimmung, worunter man alles fassen kann, je nachdem, wie die subjektive Einstellung desjenigen ist, der diese Fragen zu beurteilen hat. Hier fehlt die notwendige Klarheit.
— Und noch weiter, Herr Kollege Schulze-Vorberg:dazu zählen vor allem Druck-, Ton- oder Bilderzeugnisse, die der Sozialbildung des Menschenentgegenwirken". Jetzt frage ich Sie: Was wirktdenn nicht alles der Sozialbildung des Menschen entgegen? Können Sie damit nicht gegebenenfalls einengroßen Teil auch unserer wertvollsten Literatur erfassen, wenn ihr Inhalt nicht den ethischen Vorstellungen des Prüfungsausschusses entspricht, wennVerhältnisse geschildert werden, wodurch der Jugendliche gegebenenfalls beeinflußt wird? Das müssen nicht nur Gewalttätigkeiten, Brutalitäten sein. Wie beurteilen Sie z. B. auch die Klassik, wie beurteilen Sie die ganzen griechischen Sagen, die doch teilweise außerordentlich grausam sind? Können die nicht auch dahin wirken, den Jugendlichen in seiner seelischen und sozialen Bildung zu beeinflussen? Wie beurteilen Sie z. B. auch geschichtliche Vorgänge? Wie beurteilen Sie die Grausamkeiten, die wir heutzutage erleben? Ich werde nachher noch ein Wort dazu sagen.Das sind leider Tatsachen, da ist die Wirklichkeit, was gewesen ist, was heute ist. Ich bin dafür, daß man dem entgegenwirkt, soweit das nur irgendwie möglich ist. Aber ist es möglich, daß alle die Schriften und Filme, die sich mit diesen Problemen befassen, dann gegebenenfalls von der Prüfstelle in ihre Liste aufgenommen werden und damit aus der Öffentlichkeit ausscheiden?Und was ist das nun: . . zum Mißbrauch derSexualität verleiten können"? Da taucht natürlich die Frage auf: Was ist ein Mißbrauch der Sexualität? Wie wollen Sie das eigentlich abgrenzen, ob eine Verleitung, wann gegebenenfalls eine Gefährdung vorliegt? Da sind die verschiedensten Auslegungen möglich. Ich halte deshalb diese Kriterien, die Sie gebracht haben, indem Sie die sittliche Gefährdung im § 1 des Jugendschutzgesetzes jetzt in dieser Art und Weise aufgliedern wollen, einfach nicht für praktikabel.Meine Herren und Damen von der CDU/CSU, es wurde von Herrn Staatssekretär Westphal mit Recht auf die Bedeutung des Art. 5 des Grundgesetzes — Presse- und Informationsfreiheit — hingewiesen. Es wurde mit Recht von ihm geltend gemacht, daß hier die Journalistentätigkeit außerordentlich eingeschränkt würde. Ich denke auch noch an etwas anderes: In dem Strafrechtsausschuß wurden Sachverständige gehört im Zusammenhang mit § 131, mit der Verherrlichung bzw. Verharmlosung von Gewalttätigkeiten. Alle Sachverständigen, ob es die des Presserates waren, ob das die Vertreter dei Fernsehanstalten waren, ob das die anderen waren, alle haben gesagt: Das geht so nicht! Und sie haben auf die Beeinträchtigungen hingewiesen, die ihnen dadurch entstehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg?
Jawohl.
Gnädige Frau, da Sie so für die Pressefreiheit kämpfen, darf ich Sie fragen, ob Sie unserem Antrag zustimmen, den 353 c zu beseitigen, nach den Erfahrungen, daß damit ganze Serien von Journalisten als Beschuldigte verhört werden und damit deutlich zumindest Einschüchterungsversuche geschehen sind gegen- über Journalisten.
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Dr. Schulze-VorbergWürden Sie mit uns darin übereinstimmen, daß der 353 c verschwinden sollte?
Herr Präsident, das ist eine Frage, die nicht in das Thema gehört; darf ich sie außerhalb meiner Redezeit kurz beantworten?
Bei Zwischenfragen geben wir immer eine Minute zu. Aber ich darf vielleicht, Frau Kollegin, auf etwas anderes aufmerksam machen. Wir haben im Ältestenrat in der letzten Sitzung auf Grund der Erfahrungen in den letzten Fragestunden festgelegt, daß die Fragestunde um 1 Uhr beginnt. Ich habe inzwischen mehr Wortmeldungen für diesen Punkt, so daß wir davon ausgehen müssen: Von 1 bis 2 Uhr Fragestunde, danach Fortsetzung dieser Aussprache. Nur daß sich alle bereits darauf einstellen können.
Sie bekommen eine Zusatzminute für diese Frage. Bitte schön, Frau Kollegin!
Herr Kollege Schulze-Vorberg, ich darf Ihnen empfehlen, doch einmal die Protokolle der Beratungen des Strafrechtsausschusses über diesen § 353 c zu lesen.
Dann werden Sie sehen, daß der Ausschuß davon ausgegangen ist, daß insofern Art. 5 des Grundgesetzes gilt, weswegen die Journalisten, die sich ihre Kenntnis auf ordnungsgemäße Weise und nicht durch Bestechung oder auf sonst strafbare oder unlautere Weise beschafft und sie veröffentlicht haben, nicht unter diese Bestimmung fallen.
Sie sehen also hier unsere klare Haltung, die insofern — selbstverständlich auch in bezug auf dieses Gesetz — unverändert besteht.
Und dann die Ausnahmen, die Sie für ein Erzeugnis machen, Herr Kollege Rollmann: „ ... ausschließlich wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts". Das ist genauso wachsweich. — Und dann nachher in Nr. 3 in Abs. 2 geht es um das „öffentliche Interesse". Sehen Sie, die Gerichte tun sich schon heute außerordentlich schwer mit dem Kunstvorbehalt bei Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes, und dieser Kunst- und Wissenschaftsvorbehalt gilt selbstverständlich auch hier und kann nicht eingeschränkt werden. Und da wollen Sie gegebenenfalls — und es sollen Klagen möglich sein! — die Bundesprüfstelle und auch noch die Gerichte mit derartigen Auslegungsunmöglichkeiten belasten!
Und dann wollen Sie noch mehr: Was Sie heute bringen, ist ja mehr als die „Saubere Leinwand" der Vergangenheit. Mit dem, was Sie heute machen wollen, mit Ihrem Verbot, das, was gegebenenfalls auf der Liste steht, bis 22 Uhr zu senden und zu verbreiten, wollen Sie das Fernsehen und den Rundfunk bis zu dieser Stunde in eine Kinderbewahranstalt für Erwachsene umfunktionieren. Das möchte ich hier mit aller Eindeutigkeit sagen. Und so etwas können Sie unseren erwachsenen Bürgern nicht zumuten!
Herr Rollmann, am meisten war ich über diesen Gesetzentwurf überrascht, weil Sie mir in persönlichen Gesprächen ja immer versichert haben, wie liberal Sie sind.
Aber darin, daß sie so etwas Illiberales wie das hier überhaupt vorlegen, zeigt sich, daß zwischen dem, was die FDP unter liberal versteht, was wir unter „Mündigkeit des Erwachsenen" verstehen, und dem,
wie weit Sie obrigkeitlich Freiheitsrechte einschränken wollen, doch nach wie vor grundlegende Unterschiede bestehen. — Überlegen Sie sich doch einmal, wie der Liberalismus tatsächlich aussehen sollte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann?
Ja.
Frau Diemer-Nicolaus, wenn man diese Auffassung, die Sie hier eben vertreten haben, zu Ende denkt, läuft das doch darauf hinaus, daß ein Jugendschutz im Fernsehen überhaupt nicht stattfinden kann, denn es läßt sich alles unter dem Motto „Wir dürfen die Freiheit der Erwachsenen nicht einschränken" abwenden.
Nein, Herr Rollmann, man fällt ja nicht von einem Extrem ins andere. Es war für mich sehr aufschlußreich von meinen Vorrednern, die mir politisch nahestehen, wurde bereits darauf hingewiesen —, daß die Rundfunkanstalten jetzt dabei sind, ihre Programme von schädlichen brutalen Filmen frei zu halten. Ich teile die Auffassung, daß da, wo Filme eingekauft worden sind, die für die Jugend nicht geeignet sind, sie trotzdem nicht gesendet werden sollten.Noch etwas anderes, Herr Rollmann: Wie lange die Kinder vor dem Fernsehschirm sitzen und was sie sehen, ist zuvörderst Sache der Eltern. Es ist die Pflicht der Eltern, darauf zu achten, daß ihre Kinder nicht mit solchen Sendungen in Berührung kommen, die nicht für sie geeignet sind. Ich bin nicht bereit, die Eltern von den Verpflichtungen, die Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes ihnen auferlegt, so leicht zu entlasten, wie Sie das denken, indem Sie einfach pauschal alles untersagen wollen. So geht es nicht! Und daß in § 6, wenn die Schriften, Filme usw. noch nicht einmal in die Liste aufgenommen wurden, gegebenenfalls schon die Strafbarkeit einsetzen und
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Frau Dr. Diemer-Nicolausweitere Folgen eintreten sollen, das ist einfach indiskutabel.Nun noch folgendes: Sie haben vorhin behauptet, daß die wissenschaftlichen Untersuchungen schon ganz klar ergeben hätten, wie die Wirkung dieser Filme mit Darstellungen von Gewalttätigkeiten — gegen die ich absolut eingestellt bin — zur Auslösung von Agressivitäten ist. Aber das wissen Sie doch auch, Herr Rollmann, daß die Untersuchungen in gar keiner Weise abgeschlossen sind.
Ich habe diese wissenschaftliche Dokumentation von vorn bis hinten gelesen. Aber mit den Wertungen, die seitens des Wissenschaftlichen Dienstes hinsichtlich dessen, was Sie vorhin schilderten, vorgenommen worden sind, stimme ich nicht in vollem Umfange überein. Ich freue mich deshalb über die jetzt von Frau Minister Strobel erteilten Untersuchungsaufträge. Ich möchte Sie zum Schluß aber doch noch auf folgendes hinweisen. Es sind ja auch in Amerika — und zwar besonders von Chaffee und McLeod — sehr eingehende Untersuchungen angestellt worden. Ich rate Ihnen, das doch einmal genau nachzulesen. Sie finden dies in ,Media-Perspektiven", Nr. 158 vom November 1971, Seiten 334 ff.In diesen Untersuchungen hat sich etwas ergeben, was für mich im Zusammenhang mit dem, was Herr Dürr über Skandinavien gesagt hat, sehr aufschlußreich war. Er hat hier die verschiedenen Erziehertypen der Eltern nebeneinander gestellt und — davon ausgehend — dargelegt, wie ihre Kinder auf Darstellungen von Brutalitäten im Fernsehen reagieren. Dabei hat sich das für mich überraschende Ergebnis — und dieses Ergebnis wird durch die Ergebnisse der genannten wissenschaftlichen Untersuchungen untermauert — gezeigt, daß die Kinder, denen die Eltern die größte eigene Entscheidungsfreiheit lassen, am wenigsten anfällig sind; brutale Filme im Fernsehen haben auf diese Kinder am wenigsten aggressive Auswirkungen. Hier zeigt sich die vernünftige Erziehung, die skandinavische Eltern ihren Kindern zuteil werden lassen. Bei uns wird leider immer noch viel zu sehr mit Prügeln erzogen, anstatt unsere Kinder heute auf vernünftige und moderne Art zu erziehen und sie damit gegen Brutalität immun zu machen.Ich bin selbstverständlich für einen wirksamen Jugendschutz — aber die Freiheitsrechte der Erwachsenen dürfen nicht unnötig eingeschränkt werden, der das Fernsehen und auch die Jugendschutzprüfstellen nicht vor unlösbare Aufgaben stellt, der auch die Freiheit der Journalisten nicht zu sehr beschneidet, sondern der im Geiste unseres Grundgesetzes davon ausgeht, daß wir keine Zensur, keine Vorzensur haben. Herr Arnold, auch Sie haben sich dagegen gewehrt. Sie haben gesagt, das wollten Sie nicht. Aber durch die Hintertür führen Sie sie mit diesem Entwurf wieder ein.
Meine Damen und Herren, die Redezeit ist nicht ganz ausgenutzt worden.
Dafür danke ich. Es ermöglicht uns, bis 13 Uhr fertig zu werden. Vielleicht sind die beiden Herren, die sich noch zu Wort gemeldet haben, ebenfalls in der Lage, sich etwas kürzer zu fassen, damit wir um 13 Uhr fertig sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Im Bundeskriminalamt gibt es erschütternde Beweise dafür, daß brutale Szenen im Fernsehen zur Nachahmung reizen. Es gibt sie seit über zehn Jahren, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in allen Fernsehländern der Welt. Ich glaube, wir sind uns hier im Hause zwischen den Fraktionen und, so hoffe ich, auch mit der Regierung darüber einig, daß das so ist, daß dieser Tatbestand also nicht bestritten werden kann. Darum habe ich sehr bedauert, Herr Staatssekretär, daß Sie glaubten, der CDU/CSU-Fraktion das Wort „Maulkorbgesetz" entgegenhalten zu müssen.
Das hört sich zwar „gut" an, aber ich kann wohl unterstellen, daß keiner besser weiß als Sie, daß dieses Wort im Hinblick auf unser Anliegen völlig unzutreffend ist. Ich gehe — auch in diesen Ausführungen — davon aus, daß wir uns im Ziel einig sind, nämlich unsere Bevölkerung, aber vor allen Dingen unsere Jugend vor der Überflutung mit Brutalität zu bewahren. Ich habe das Buch „Aggression" von Professor Hacker gelesen. Er behauptet, daß Aggressivität die Tendenz zur Ausdehnung und Generalisierung hat. Professor Hacker sagt, daß das Fernsehen — er geht vor allen Dingen von den amerikanischen Erfahrungen aus — das Grausamkeitsbedürfnis der Öffentlichkeit befriedigt und dadurch verstärkt. Er ist der Meinung, daß das Überleben demokratischer Staatsformen geradezu davon abhängig sein wird, daß die Massenmedien möglichst objektiv, fachmännisch und unabhängig geleitet werden. Fernsehbrutalitäten, unter denen wir leiden, müssen möglichst verhindert werden.Nun ist hier ein besonderer Tatbestand in der Bundesrepublik vorhin schon einmal angesprochen worden. Wir haben in der Bundesrepublik ein öffentlich-rechtliches System des Rundfunks und Fernsehens. Darum bin ich der Meinung — in diesem Sinne habe ich mich wiederholt in Artikeln usw. geäußert; deshalb habe ich mich auch hier zu Wort gemeldet —, es sollte unserem Fernsehen und seinen Aufsichtsorganen selbst möglich sein, das Kompendium der Gewalttaten und Roheitsakte in unseren Fernsehprogrammen drastisch zu beschränken; vor allem in den Vorabendprogrammen sollten die Mordserien endlich aufgegeben werden. Denn das ist der eigentliche Kern und der Zielpunkt unseres Entwurfes: Weg mit den Mordserien — mit den furchtbaren Mordserien aus den Vorabendprogrammen des Fernsehens! Nun weiß man das in den Funkhäusern ganz genau und kennt die Auswirkungen auch, und wenn Frau Diemer-Nicolaus meint, das sei wissenschaftlich noch nicht genügend erhär-
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Dr. Schulze-Vorbergtet — nun, in der Wissenschaft wird es immer wieder einmal verschiedene Meinungen geben. In der Tat mag eine Sendung, die auf Kinder verhetzend und verrohend wirkt, auf einen Erwachsenen ganz andere Wirkungen ausüben. Das bestreite ich gar nicht. Man weiß, daß Kinder zur Nachahmung neigen und daß das, was man immer wieder in sie hineintrichtert, zum Schluß gefährliche Auswirkungen haben kann. Sehen Sie sich um, und sie werden es glauben. Wir sind im Grunde genommen einer Meinung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Diemer-Nicolaus?
Bitte sehr, gnädige Frau!
Daß diese Auswirkungen eintreten können, darüber sind wir einer Meinung. Aber wie wollen Sie Ihre Forderung, das alles bis 22 Uhr zu verbieten, begründen, wenn vorher in der Tagesschau, während die Kinder dabei sind, diese schrecklichen Kriegsbilder gesendet werden?
Gnädige Frau, niemand in unseren Reihen ist der Meinung, wir hätten ein Patentrezept gegen diese Vorgänge, die unsere Welt so sehr belasten und über die man sich in vielen Ländern Gedanken macht. Hier wird ein Gedanke in unser Haus hineingetragen. Im Grunde genommen bin ich der Meinung, es wäre Aufgabe des Fernsehens und seiner Aufsichtsorgane, diese Dinge selbst in Ordnung zu bringen. Dann brauchten wir uns hier damit gar nicht zu befassen. Diesen Appell — —
— Was ich dann täte, Herr Wehner? Es gäbe vielleicht noch das eine oder andere zu tun. So breit gefächert wie Ihre Palette ist meine natürlich nicht. Das gebe ich zu. Ihre Spannweite hat kaum jemand in diesem Hause.
— Das ist richtig; aber die politische Spannweite ist bei Ihnen eindeutig größer; das bestreitet hier niemand.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dorn?
Herr Kollege Schulze-Vorberg, würden Sie mir, nachdem Sie soeben noch einmal einen Appell an die Institutionen des Fernsehens und des Rundfunks gerichtet haben, wenigstens in der Schlußfolgerung zustimmen, daß diese Positionen in den entsprechenden Gremien überwiegend von Mitgliedern Ihrer Partei und der Schwesterpartei, der CDU, besetzt sind, so daß Sie eigentlich einen Appell an Ihre eigenen Parteifreunde richten müßten?
„Überwiegend" stimmt z. B. für Bayern und für die CSU mit Sicherheit nicht, da dort ein Spektrum von Organisationen am Rundfunkrat beteiligt ist. In anderen Rundfunkanstalten mag es anders sein. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß diese Frage da eigentlich hingehört. Nun weiß ich, daß man sich in diesen Organen Gedanken darüber gemacht hat. Ich weiß, daß sich auch die Rundfunkintendanten selbst Gedanken gemacht haben. Ich weiß, daß es seit vielen Jahren zwischen den Kirchen und dem Deutschen Fernsehen vereinbarte Programmgrundsätze gibt, in denen es unter anderem heißt:Handlungen, die eine verrohende und verhetzende Wirkung beim Zuschauer, vor allem beim Jugendlichen, hervorrufen können, haben im Fernsehen keinen Platz. Die Darstellung von kriminellen Handlungen und vom Verbrechermilieu ist dann zur Vorführung nicht geeignet, wenn diese sowie ihre Folgen als vorbildlich erscheinen, ferner wenn das Dargestellte geeignet ist, das sittliche Empfinden und Denken negativ zu beeinflussen, zur Nachahmung anzureizen oder in der Durchführung strafbarer Handlungen zu unterweisen.Herr Intendant von Bismarck hat gesagt, daß diese Programmgrundsätze zu Unrecht in Vergessenheit geraten seien. Dem stimme ich zu. Nur lautet die Frage: wie konnte das eigentlich bei solchen Intendanten und den Aufsichtsorganen geschehen?
— Sie haben recht; aber dann fragen Sie HerrnWeyer. Dann kommen wir noch einen Schritt weiter.Das eigentlich Schlimme für mich ist, daß in diesen Mordserien, wenn ich sie wieder einmal so nennen darf — und das sind Mordserien, die im Vorabendprogramm flimmern, vor allem amerikanische Importe —, immer der Sieger bleibt, der zur Gewalt greift, der rücksichtslos Gewalt anwendet, der früher den Colt zieht. Wie kann man erwarten, daß nach solchen Sendungen der Jugend Verständnis für Kompromisse wächst, für das, was wir im Parlament, und wenn es noch so schwierig ist, immer wieder brauchen, um den fairen Ausgleich herzustellen? Wie kann man das erwarten, wenn man unserer Jugend immer wieder die Gewalttat eintrichtert? Darum bin ich der Meinung, daß es höchste Zeit ist, daß in den Fernsehanstalten selbst erkannt wird, um was es geht.Manchmal hört man dann aus den Funkhäusern, hier solle offenbar das Fernsehen zum Sündenbock gemacht werden für ein Fehlverhalten der Gesellschaft, das sicher nicht zunächst vom Fernsehen verschuldet worden ist. Ich denke, niemand von uns will das und tut das.Jetzt zitiere ich — wenn ich darf — noch einmaleinen Satz von Herrn von Bismarck:
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Dr. Schulze-VorbergAllerdings wird dieses Übel, eine primitive Lust an der Gewalt, vom Fernsehen nicht nur in voller Schärfe sichtbar gemacht, sondern gelegentlich auch gesteigert.Darum geht es. Wir sollten nicht die Lust an der Gewalt, die Gewalttätigkeit und alles das steigern, sondern sollten dazu beitragen, daß die Gewalt in unserer Gesellschaft abnimmt — im Volk und zwischen den Völkern. Das ist das Ziel, dem auch das Fernsehen verpflichtet ist, wie wir alle uns ihm verpflichtet fühlen.
Die letzte Wortmeldung. Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Fiebig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Vorredner hat bei seiner Analyse der Frage, wodurch eigentlich Kriminalität, Eigentumsdelikte in der heutigen Jugend besonders entstehen, etwas vergessen. Er hat einzig und allein zunächst einmal das Fernsehen dafür verantwortlich gemacht.
Meines Erachtens muß man in aller Deutlichkeit eines hinzufügen: Wenn Jugendliche kriminell werden, gibt es dafür gesellschaftliche Ursachen. Diese gesellschaftlichen Ursachen muß man beseitigen, wenn man der Jugendkriminalität beikommen will. Denn wie sehr versagt sich die Gesellschaft oft der Jugend?! Ich denke nur an Jugendliche aus Obdachlosenasylen. Ich habe da persönliche Erfahrungen. Wie oft versagen sich auch die eigenen Eltern ihren Kindern und leisten damit einen Beitrag dazu, daß die Kinder kriminell werden?! Und dann kommt das Fernsehen hinzu; es findet hier dann offene Türen.
Ich bin der Meinung, man muß ganz eindeutig den Finger auf die gesellschaftlichen Ursachen legen und diese aufzeigen. Wer dies versäumt, könnte der Gefahr erliegen, einem Law-and-Order-Denken zu verfallen. Davor aber müssen wir uns hüten. Mit Law and Order allein kommen wir den Problemen nicht bei.
Wie sieht das bei Ihnen in der Praxis aus? — Nach 22 Uhr „Othello", „Macbeth", die Königsdramen von Shakespeare, „Salome" von Richard Strauß, alles nach 22 Uhr? Zu diesem Zweck will man sogar die in Art. 5 Abs. 1 GG genannten Grundrechte einschränken. Ist das nicht ein etwas leichtfertiger Umgang mit dem Grundgesetz und den Grundrechten?
In aller Deutlichkeit, meine ich, müßte man auch einmal feststellen, daß im Strafrechtssonderausschuß des Bundestages die ganze Diskussion bereits gelaufen ist. Von § 131 ist die Rede gewesen. Ich muß hinzufügen: in der Regierungsvorlage steht ein § 184 a, der die Darstellung von Sadismus, Pädophilie und Sodomie unter Strafe stellt. Wir haben die Arbeit im Strafrechtssonderausschuß bereits geleistet. Es ist bedauerlich, Herr Kollege Rollmann, daß Sie an diesen Sitzungen so wenig teilnehmen. Sonst hätten Sie uns diese Debatte hier erspart. Wir können wie der Igel im Grimmschen Märchen „Der Hase und der Igel" sagen: „Ich bin schon hie", und der Hase ist mal wieder umsonst gelaufen. Ich habe schon oft an einer Beerdigung teilgenommen. Dies war eine Beerdigung 1. Klasse.
Wir sind am Ende der Rednerliste. Ich schließe die Aussprache in der ersten Lesung.Es ist begehrt worden, den Entwurf an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend — sowie an den Rechtsausschuß, den Innenausschuß, den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform und den Haushaltsausschuß — auch gemäß § 96 der Geschäftsordnung — zur Mitberatung zu überweisen. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.Ich rufe jetzt die Punkte 10, 11 und 12 der Tagesordnung auf:10. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für eineVerordnung des Rates über die Finanzierung von Interventionskosten auf dem Sektor FischereierzeugnisseVerordnung des Rates zur Verlängerung des äußersten Termins für die Feststellung der Notierungen für geschlachtete Schweine nach dem gemeinschaftlichen Handelsklassenschema für Schweinehälften in ItalienVerordnung des Rates über die Lieferung von Milcherzeugnissen als NahrungsmittelhilfeVerordnung des Rates zur Festlegung von gemeinsamen Vermarktungsnormen für bestimmte gefrorene SeefischeVerordnung des Rates zur Festlegung von gemeinsamen Vermarktungsnormen für Kalmare, Tintenfische und Kraken— Drucksachen VI/2734, VI/2758, VI/2804, VI/2807, VI/3022 —Berichterstatter: Abgeordneter Kiechle11. Beratung des Mündlichen Berichts des Innenausschusses über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der Europäischen Gemeinschaften für einea) Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Kernfor-
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Präsident von Hasselschungsstelle, die in Italien dienstlich verwendet werden, und eineb) Verordnung des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Kernforschungsstelle, die in den Niederlanden dienstlich verwendet werden— Drucksachen VI/2788, VI/3020 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Schäfer
12. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung über die von der Bundesregierung vorgelegten1. Übereinkommen Nr. 131 über die Festsetzung von Mindestlöhnen, besonders unter Berücksichtigung der Entwicklungsländer2. Übereinkommen Nr. 132 über den bezahlten Jahresurlaub
3. Empfehlung Nr. 135 betr. die Festsetzung von Mindestlöhnen, besonders unter Berücksichtigung der Entwicklungsländer4. Empfehlung Nr. 136 betr. Sonderprogramm für die Beschäftigung Jugendlicher zu Entwicklungszwecken— Drucksachen VI/2639, VI/3024 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. BöhmeWünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort in der Aussprache verlangt? — Das ist nicht der Fall.Das Haus ist sicher damit einverstanden, daß wir der Einfachheit halber über diese Punkte gemeinsam abstimmen. — Kein Widerspruch.Wir kommen zur Abstimmung über die Ausschußanträge auf den Drucksachen VI/3022, VI/3020, VI/3024. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Der nächste Punkt der Tagesordnung ist übermorgen aufzurufen.Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde— Drucksache VI/3033 —Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Ich übergebe die Leitung dem Vizepräsidenten Professor Dr. Carlo Schmid.
Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Dr. Häfele auf:
Ist die Bundesregierung bereit, beim einzelbetrieblichen Förderungsprogramm für die Landwirtschaft nicht nur die Förderschwelle etwas herunterzusetzen, sondern auch die Bedingungen zu erleichtern, z. B. durch Gewährung von Investitionszuschüssen an Stelle von Zinsbeihilfen oder durch Begünstigung von Grünlandbetrieben in Höhegebieten?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär Dr. Griesau!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In Anbetracht der erheblichen Einkommenssteigerungen, die seit Verabschiedung des einzelbetrieblichen Förderungsprogramms im außerlandwirtschaftlichen Bereich erzielt wurden, hält die Bundesregierung eine Verringerung der Förderungsschwelle im Bereich der Landwirtschaft nicht für vertretbar. Eine solche Maßnahme hätte zur Folge, daß teilweise betriebliche Investitionen durchgeführt werden, obwohl zu erkennen ist, daß der betreffende Landwirt nach Abschluß der Investitionsförderung ein weit unter dem Vergleichslohn liegendes Einkommen erzielen wird. Die Bundesregierung ist nicht bereit, die Verantwortung für ein solches Vorgehen zu übernehmen. Grünlandbetriebe erhalten nach den Richtlinien zum einzelbetrieblichen Förderungsprogramm eine stärkere Förderung als die übrigen landwirtschaftlichen Betriebe.
Darüber hinaus wird zur Zeit geprüft, ob die für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" vorgesehenen Förderungskonditionen, die bei Grünlandbetrieben auch die Gewährung von Beihilfen vorsehen, schon für 1972 angewandt werden können.
Eine Zusatzfrage, bitte!
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht angesichts der Überreaktion bei der Abwanderung aus der Landwirtschaft, die wir infolge der Inflation der letzten zwei Jahre verstärkt feststellen — und die auch das Sachverständigengutachten der fünf Weisen konstatiert hat —, für notwendig, schon aus diesem Grunde die Zielgrenze herunterzusetzen, — natürlich nur damit wirklich Aufstrebende, Tüchtige, die bisher nicht diese Grenze erreichen, vor allem in Problemgebieten, die Möglichkeit haben, doch weiterzumachen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich glaube, daß wir das Ziel, das Sie soeben präzisiert haben — den Betrieben, die bereit sind, „weiterzumachen", wie Sie sich ausdrücken, dazu zu verhelfen —, auch mit anderen Mitteln als durch eine Herabsetzung der Förderungsschwelle erreichen können, auf die Ihre ursprüngliche Frage zielte. Hierüber werden Überlegungen angestellt. Ich kann Ihnen folgendes sagen: ich bin ja sozusagen auf den Sprung nach Berlin zur Sitzung des Unterausschusses im Rahmen des Gemeinschaftsaufgabengesetzes. Dort werden wir über diese Dinge schon einen Meinungsaustausch haben, darüber hinaus morgen im Rahmen der Amtschefs der Länderministerien, und morgen nachmittag findet in Berlin eine Agrarministerkonferenz statt, wo auch das einzelbetriebliche Förderungsprogramm diskutiert werden wird.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9525
Eine weitere Zusatzfrage.
Glauben Sie nicht, daß die Gewährung von Investitionszuschüssen — an Stelle der Zinsbeihilfen —, ebenfalls für tüchtige, strebsame Landwirte, die wir z. B. in den Problemgebieten dringend brauchen, einen Anreiz schaffen würde, daß die Betreffenden überhaupt weitermachen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich würde nicht sagen „Investitionszuschüsse", sondern wahrscheinlich meinen Sie, weil Sie die Problemgebiete ansprechen, die Überbrückungshilfen. In der Tat ist eine Diskussion darüber im Gange, die sogenannten Überbrückungshilfen zu erhöhen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Früh.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, daß Sie angesichts der Einkommenssteigerung der übrigen Wirtschaft keine Notwendigkeit sehen — oder keine sinnvolle Maßnahme darin sehen —, die Förderschwelle zu senken. Darf ich Sie deshalb fragen, ob Ihnen nicht auch bekannt ist, daß gerade jetzt im Rahmen einer noch neu zu konzipierenden EWG-Agrarpolitik von maßgeblicher Seite das Problem aufgeworfen wird, ob überhaupt der Einkommensvergleich mit den übrigen Branchen der Wirtschaft und die Festlegung einer Einkommensschwelle für die Landwirtschaft sinnvoll ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich, Herr Abgeordneter, ist uns das bekannt. Eine weitere Frage, die mir zur Beantwortung vorliegt — von Ihrem Kollegen Kiechle —, die den neuen französischen Vorschlag betrifft — und das ist der Kern Ihrer Zusatzfrage soeben —, werde ich ja gleich noch zu beantworten haben. Ich bin gern bereit, im Zusammenhang mit der Beantwortung dieser Fragen Ihnen auch einen kurzen Sachstandbericht über die neueste Entwicklung nach der Agrarministerratssitzung von gestern zu geben.
Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Dr. Häfele auf:
Ist die Bundesregierung bereit, das komplizierte Antragsverfahren beim einzelbetrieblichen Förderungsprogramm durchgreifend zu vereinfachen und auch zu verbilligen, indem die hohe Gebührenlast beseitigt wird, was zum Beispiel durch einen Verzicht auf statische Berechnungen bei Typenbauten möglich wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Hinblick darauf, daß die Verbesserung der Agrarstruktur künftig als Gemeinschaftsaufgabe durchgeführt wird, hat es die Bundesregierung weithin den Ländern überlassen, die Durchführungsbestimmungen zum einzelbetrieblichen Förderungsprogramm festzulegen. Das Antragsverfahren richtet sich infolgedessen nach den von den Ländern hierfür erlassenen Richtlinien. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die den Ländern übertragene Kompetenz nachträglich wieder einzuengen. Die Genehmigung von Bautypen fällt unter das Bauaufsichtsrecht der Länder. Sofern eine Typengenehmigung vorliegt, sind statische Berechnungen für den Einzelfall nicht mehr erforderlich. Leider wurde bisher von Typengenehmigungen, die z. B. für Dachbinder schon lange vorliegen, im landwirtschaftlichen Bauwesen nur wenig Gebrauch gemacht.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß es richtig wäre, wenn die Bundesregierung auf die Bundesländer einwirkte, um eine Überkomplizierung der Vorschriften einzuschränken und damit den Landwirten die Scheu zu nehmen, überhaupt solche Anträge zu stellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das möchte ich sogar unterstreichen, Herr Abgeordneter. Ich nehme Ihre Frage dankbar als Unterstützung auf. Wir werden das sicherlich in diesem Sinne tun.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Landwirte teilweise sehr hohe Gebühren zahlen müssen, so daß auch aus diesem Grunde das gute Ziel dieses Programms praktisch teilweise rückgängig gemacht wird, eben weil die hohen Gebühren abschrecken?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist bekannt, Herr Abgeordneter. Darüber werde ich morgen mit meinen Kollegen aus den Bundesländern sprechen.
Herr Dr. Früh zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da die Baukosten insbesondere auf dem landwirtschaftlichen Sektor so eminent gestiegen sind und die Förderungsbedingungen dem keineswegs nachgekommen sind, könnten Sie sich vorstellen, daß man eventuell über den einfachen Weg, bei Investitionen im Bauwesen der Landwirtschaft die Mehrwertsteuer wegfallen zu lassen, etwas erreichen könnte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, hier bin ich wirklich ressortmäßig überfordert. Wenn ich hier eine Äußerung über die Mehrwertsteuer machen wollte, würde ich
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Staatssekretär Dr. Griesauzu sehr in andere Bereiche eingreifen. Ich bitte, mir die Antwort zu erlassen.
— Ich will es gern als Anregung aufnehmen, ein Gespräch darüber zu führen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie schon nicht für die Fragen der Mehrwertsteuer zuständig sind, gestatten Sie mir bitte die Frage: Ist die Bundesregierung dann mindestens bereit, bei den hohen Investitionskosten auf dem Bausektor die Zinsverbilligung von seither 4 auf 5 % anzuheben, damit die Betriebe die so selten in Anspruch genommenen Förderungsmittel des Bundes für die Strukturverbesserung in der Zukunft annehmen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, dabei pleite zu gehen?
Herr Abgeordneter, Ihre Frage bezog sich nicht auf das Thema, das in der Frage 35 angeschnitten ist. Sie fragen nach Dingen, die den Herrn Finanzminister angehen.
— Sie sprachen von der Mehrwertsteuer.
— Können sie die Frage beantworten, Herr Staatssekretär?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jawohl, Herr Präsident. Die Zinsverbilligung gehört in unseren Bereich, und ich kann ganz kurz darauf antworten, und zwar, Herr Abgeordneter, mit einem klaren Ja.
Ich rufe die Frage 36 des Abgeordneten Rollmann auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, auch die Frage 37 des Abgeordneten Rollmann. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Diese beiden Fragen hatte Herr Abgeordneter Rollmann schon für die letzte Fragestunde gestellt und jetzt um Neuaufsetzung gebeten, weil er sie vom Herrn Minister persönlich beantwortet wissen wollte.
Frage 38 des Abgeordneten Dr. Früh:
Inwieweit treffen Meldungen zu , daß die französische Agrarpolitik im Begriff ist, sich von den gemeinsam beschlossenen Richtlinien zur europäischen Agrarstrukturpolitik zu entfernen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die französische Regierung beabsichtigt nicht, sich von den gemeinsam beschlossenen Prinzipien der europäischen Agrarstrukturpolitik zu entfernen. Der Grundsatz der Selektivität, d. h. der Beschränkung der Investitionsförderung auf entwicklungsfähige Betriebe wird auch von Frankreich weiterhin unterstützt. Es hat jedoch für die Ermittlung des nach Durchführung der Investitionen zu fordernden Vergleichseinkommens eigene Vorstellungen entwickelt, die zum Teil vom Inhalt der Entschließung des Ministerrats vom 25. Mai 1971 abweichen. Der Vorschlag Frankreichs, das Einkommensziel landwirtschaftlicher Betriebe nicht an der außerlandwirtschaftlichen Entwicklung, sondern an der innerlandwirtschaftlichen Wertschöpfung zu orientieren, fand bisher bei der Mehrheit der Mitgliedstaaten keine Unterstützung.
Darüber hinaus kann ich Ihnen jetzt die Mitteilung machen, Herr Abgeordneter Dr. Früh, die ich vorhin andeutete, daß nach dem neuesten Verlauf der Ministerratssitzung am gestrigen Tage Frankreich seinen ursprünglichen Vorschlag zurückgezogen hat, und zwar auf Vorstellungen von Bundesminister Ertl und Vertretern anderer Mitgliedstaaten.
Zusatzfrage.
Dies würde bedeuten, Herr Staatssekretär, daß die Meldungen im VWD-Europa nicht mehr zutreffen. Denn dort ist ja dargestellt, daß Frankreich in dieser Richtung in Brüssel mehr an Boden gewonnen hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Meldung ist überholt, Herr Abgeordneter.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie hätte sich eine solche Förderungsmöglichkeit nach französischen Vorstellungen für den Fall ausgewirkt, daß sie auf die deutsche Landwirtschaft übertragen worden wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der grundsätzliche Unterschied, Herr Abgeordneter Niegel, liegt darin, daß sich der französische Vorschlag abhob auf einen Vergleich innerhalb der Landwirtschaft und nicht mehr auf das Vergleichseinkommen außerhalb der Landwirtschaft, wie dies bei uns gemäß Landwirtschaftsgesetz der Fall ist. Infolgedessen wäre die deutsche Situation von Grund auf verändert worden. Eine genaue Analyse, wieweit hier eine Veränderung eingetreten wäre, vermag ich Ihnen jetzt nicht zu geben, weil dieses Problem in Brüssel in den Arbeitsgruppen erst andiskutiert worden war.
Keine Frage mehr. Frage 39 des Abgeordneten Dr. Früh:Trifft es zu, daß die im Ertl-Programm festgesetzten Einkommensschwellen pro Arbeitskraft und die zum Nachweis hierfür erforderliche Buchführung vom französischen Parlament und Landwirtschaftsminister Cointat neuerdings wieder in Frage gestellt werden?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9527
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie bereits erläutert, hat die französische Regierung Vorstellungen entwickelt, die sich in einigen Detailfragen vom Inhalt der am 25. Mai 1971 verabschiedeten Ratsentschließung unterscheiden. Diese Vorschläge werden im Zuge der Beratung über die Richtlinienentwürfe zur Strukturpolitik diskutiert. Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, ihrerseits vom Inhalt dieser Entschließung abzuweichen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind damit auch die Meldungen in „Agra Europe" gegenstandslos wonach die französische Nationalversammlung den französischen Landwirtschaftsminister praktisch gezwungen hat, von den im März beschlossenen Richtlinien abzuweichen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Meldung dürfte ebenfalls überholt sein, Herr Abgeordneter Dr. Früh. Ich selbst hatte in der vorhergehenden Sitzung des Ministerrats, wo ich die Aufgabe hatte, die Bundesregierung zu vertreten, den französischen Minister Cointat ausdrücklich gefragt, ob er von der Ratsentschließung des letzten Jahres abweiche, und er hat dies mir gegenüber im Ministerrat offiziell ausdrücklich verneint.
Sehen Sie eine Möglichkeit, Herr Staatssekretär, wenn die Dinge so klar liegen, daß die Meldungen im VWD wie auch in „Agra Europe" widerrufen werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wahrscheinlich wird die Redaktion dieses Pressedienstes über die neue Entwicklung wiederum eine Sachstandsmeldung bringen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Susset.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade auf Fragen meines Kollegen Früh geantwortet, daß die Erklärungen des Rates vom Mai 1971 weiterhin beibehalten werden; aber ich glaube, daß sich die Fragen des Abgeordneten Früh auf die Ratsentschließungen vom März 1971 bezogen haben, und aus diesem Grunde wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie den Unterschied zwischen den Ratsentschließungen vom März 1971 und vom Mai 1971 aufklärten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, sie sind identisch, es ist ein und dieselbe. Der Unterschied liegt allein darin, daß die Verhandlungen vom März datieren und daß die Veröffentlichung der Ratsentschließung im Amtsblatt im Mai erfolgt ist und als sogenannter A-Punkt auch
erst im Mai vom Rat formell verabschiedet wurde.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Susset auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die in der Agrardebatte der französischen Nationalversammlung geäußerte Ansicht, daß der Mansholt-Plan 80 % der Bauern in der EG zum Ausscheiden zwinge und das Ende des Familienbetriebs bedeute ?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß der ursprüngliche Mansholt-Plan kein geeignetes Instrument darstellte, um die Probleme in der Landwirtschaft zu lösen. Sie hat diese Auffassung, der sich mittlerweile auch die EG-Kommission angeschlossen hat, stets mit Nachdruck vertreten. Die jetzigen Vorschläge der Kommission unterscheiden sich wesentlich vom ursprünglichen Mansholt-Plan. Eine an einheitlichen technischen Mindestgrößen orientierte Agrarstrukturpolitik wird den Gegebenheiten der Praxis nicht gerecht. Sie würde die Eigeninitiative der betroffenen Landwirte in nicht vertretbarer Weise einengen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist dann die Bundesregierung bereit, insoweit vom Mansholt-Plan abzugehen, daß auch das möglich ist, was in der „Rheinischen Post" von heute steht, daß Herr Ertl nämlich dafür eintreten wird, daß auch Höfe mit 10 Kühen und 15 Touristenbetten lebensfähig sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Susset, ich weiß nicht, auf welche Äußerung sich die „Rheinische Post" hier bezieht. Ich glaube, Sie werden von mir nicht erwarten, hier jetzt eine Kuhzahl und bestimmte Touristenbettenzahlen zu nennen oder für die Bundesregierung eine verbindliche Erklärung dazu abzugeben; denn darüber sind ja die Diskussionen, wie eingangs geschildert, jetzt erst in Gang gekommen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, aber ich glaube, daß wir angesichts der Beratungen um einen Rahmenplan über den Mansholt-Plan, die bis zum 7./8. Februar 1972 abgeschlossen sein sollen, doch wissen sollten, was die Bundesregierung bei diesen Beratungen für eine Einstellung vertritt, die Einstellung Mansholts oder die hier heute von Herrn Minister Ertl in der Presse dargelegte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe soeben gesagt, daß die jetzigen Vorschläge der Kommission zur Strukturpolitik mit dem ursprünglichen Mansholt-Plan nicht mehr identisch sind. Auch nach den Ihnen vorlie-
Metadaten/Kopzeile:
9528 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Staatssekretär Dr. Griesaugenden Informationen werden Sie mir sicherlich beistimmen. Die Diskussion über die Richtlinien der Kommission sind in sämtlichen Gremien — dem Ministerrat, dem Sonderausschuß und den Arbeitsgruppen — in vollem Gange. Beim jetzigen Stand der Diskussion ist noch nicht absehbar, wie die Richtlinien nachher aus dem Ministerrat herauskommen werden. Wenn Sie mir einen Vergleich erlauben: vielleicht so ähnlich wie nie voraussehbar ist, wie ein Regierungsentwurf, der dem Hohen Hause hier zugeleitet wird, letzten Endes wieder aus dem Hohen Haus herauskommt.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Früh.
Herr Staatssekretär, da Sie erläutert haben, daß der ursprüngliche Mansholt-Plan wesentlich geändert ist, frage ich: kann man dann annehmen, daß auf Grund der Debatten, die nun um die Strukturrichtlinien geführt werden, sich das Ergebnis mehr in der Nähe einer Partnerschaft von Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben ansiedeln wird als bei dem ursprünglichen Konzept einer starren, einseitigen Betriebsförderung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Früh, das ist unser Bemühen.
Ich rufe die Frage 41 des Herrn Abgeordneten Susset auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung zu der im selben Zusammenhang gestellten französischen Forderung, die Entwicklungsfähigkeit von landwirtschaftlichen Betrieben nicht am außerlandwirtschaftlichen Einkommen zu messen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der französische Vorschlag, die Entwicklungsfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe nicht am außerlandwirtschaftlichen Einkommen zu orientieren, steht im Gegensatz zu den Vorstellungen der Bundesregierung. Ich habe dies soeben auch auf eine Zusatzfrage von Herrn Abgeordneten Niegel bereits erklärt. Auf Grund der in der Bundesrepublik besonders engen räumlichen Verflechtung zwischen landwirtschaftlichen und außerlandwirtschaftlichen Berufsgruppen orientieren sich die Einkommenserwartungen der Landwirte vorwiegend an der Einkommensentwicklung im außerlandwirtschaftlichen Bereich. Die Bundesregierung hält daher nur solche Betriebe für entwicklungsfähig, in denen gegebenenfalls nach Inanspruchnahme von Förderungsmitteln ein an der allgemeinen Entwicklung orientiertes Einkommen erzielt wird.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie hier erklären, daß die Bundesregierung nach wie vor am Einkommen aus dem außerlandwirtschaftlichen Bereich die Förderungskriterien festlegen will, frage ich Sie: ist dann die Bundesregierung auch bereit, die regionalen Unterschiede über die 10 und 15 0/o hinaus, wie sie in der Förderschwelle möglich sind, in der Zukunft noch etwas zu erweitern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auch darüber findet im Augenblick ein Meinungsaustausch mit den Ländern statt. Die Bereitschaft seitens der Bundesregierung dazu ist vorhanden.
Herr Abgeordneter Niegel.
Herr Staatssekretär, in diesem Zusammenhang — da Sie die Förderschwelle ansprachen — die Frage: hängt es mit dieser Orientierung, daß das außerlandwirtschaftliche Einkommen so hoch angesetzt wird, zusammen, daß so wenige Anträge auf Inanspruchnahme der Förderung nach dem Ertl-Programm gestellt wurden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Niegel, wir halten zum jetzigen Zeitpunkt, da die neuen Richtlinien gerade ein halbes Jahr wirksam sind, eine Wertung noch für verfrüht, ob das genügend in Anspruch genommen wird oder nicht. Neue Richtlinien brauchen immer eine gewisse Zeit des Einlaufens, schon allein draußen im Beratungswesen, bis sie nach unten durchdringen. Nach einem halben Jahr kann man diese Sache, nachdem das so umgestellt worden ist, noch nicht beurteilen. Ich werde aber morgen vormittag mit meinen Kollegen aus den Ländern und Herr Bundesminister Ertl wird morgen nachmittag mit seinen Kollegen aus den Ländern sicherlich auch diese Frage erörtern.
Zu einer Zusatzfrage Herr Dr. Früh.
Herr Staatssekretär, nachdem das außerlandwirtschaftliche Einkommen angesprochen worden ist, darf ich Sie fragen, ob es zutrifft, daß der französische Landwirtschaftsminister seine bisherigen Vorbehalte in dieser Frage aufgibt und sich sogar vorstellen könnte, daß z. B. aus dem Fremdenverkehr bis zu 20 % Einkommen zum Erreichen der Förderschwelle hinzugerechnet werden könnten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ohne mich jetzt Herr Abgeordneter Dr. Früh, auf diese 20 % oder irgendeine andere Zahl festlegen zu können, kann ich Ihnen doch sagen, daß die Haltung des französischen Landwirtschaftsministers in der letzten Ratssitzung flexibler geworden ist. Es zeichnet sich ab, daß möglicherweise hier eine Einigung auch mit nach deutschen Vorstellungen zustande kommen kann.
Ich rufe die Frage 23 des Herrn Abgeordneten Kiechle auf:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9529
Präsident von HasselIst die Bundesregierung bereit zu klären, was unter dem in Frankreich verwendeten Begriff „valeur ajoutée brute" als Entwicklungsmaßstab gegenüber dem Vergleichseinkommen konkret zu verstehen ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der in Frankreich verwendete Begriff „valeur ajoutée brute" , auch „produit intérieur brute" genannt, entspricht dem Bruttoinlandsprodukt in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Das Bruttoinlandsprodukt ergibt sich, wenn vom Produktionswert die Vorleistungen abgezogen werden. Es handelt sich hierbei noch nicht um eine Einkommensgröße, da Abschreibungen und der Saldo aus indirekten Steuern und Subventionen noch enthalten sind. Unter Vergleichseinkommen versteht die EG-Kommission das Arbeitseinkommen vergleichbarer außerlandwirtschaftlicher Berufe in dem betreffenden Gebiet. Dies wird im Agrarbericht der Bundesregierung als Vergleichslohn bezeichnet.
Im Gegensatz zum Vergleichseinkommen wird beim Bruttomehrwert der Landwirtschaft nur die innerlandwirtschaftliche Entwicklung berücksichtigt. Die Verwendung des Bruttomehrwerts der Landwirtschaft als Entwicklungsmaßstab würde bedeuten, daß landwirtschaftliche Betriebe als entwicklungsfähig angesehen werden, die zwar mit der durchschnittlichen innerlandwirtschaftlichen Entwicklung, nicht aber notwendigerweise auch mit der Entwicklung im außerlandwirtschaftlichen Bereich Schritt halten. Ich darf nochmals meine Bemerkung von vorhin wiederholen, daß die Franzosen gestern ihren Vorschlag zurückgezogen haben.
Ich rufe die Frage 24 des Herrn Abgeordneten Kiechle auf:
Kann die Bundesregierung bejahendenfalls diesen Begriff auf deutsche Verhältnisse übertragen und daraus sich eventuell ergebende Veränderungen der Förderungsmöglichkeit von Betrieben in Zahlen ausdrücken?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die sich eventuell ergebenden Veränderungen der Förderungsmöglichkeit von Betrieben in Zahlen auszudrücken, da die französische Delegation ihren Vorschlag bisher nicht ausreichend konkretisiert hat. Auch hier darf ich bemerken, daß ich mich bereits in der Beantwortung der Zusatzfrage von Herrn Abgeordneten Niegel hierzu geäußert habe.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, im Zusammenhang mit dieser durch den Rückzieher der Franzosen jetzt etwas gegenstandslos gewordenen Anfrage noch einmal zurück zu der Frage der Regionalisierung. Denn das war die Ursache der französischen Haltung. Wären Sie bereit, auch hinsichtlich des außerlandwirtschaftlichen Vergleichseinkommens, das den Förderungsrichtlinien unseres einzelbetrieblichen Förderungsprogrammes zugrunde liegt, für die Zukunft vielleicht Überlegungen dahin anzustellen, ob man die regionalen Durchschnittseinkommen der außerlandwirtschaftlichen Einkommen mit in Betracht ziehen und nicht ein generelles durchschnittliches Vergleichseinkommen über die ganze Bundesrepublik hinweg ansetzen sollte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Kiechle, gemäß der Ratsentschließung, die vorhin zur Diskussion stand, ist das sogar erforderlich. Es wird also in den Strukturrichtlinien der Gemeinschaft eine Differenzierung vorgenommen werden müssen.
— Ja, das ist dann auch für die Bundesrepublik bindendes Recht.
Herr Dr. Früh, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, diese Differenzierung besteht ja schon zu einem geringen Teil. Sind Sie aber nicht ebenfalls der Meinung, daß dieser Abschlag von 10 % zu gering ist und daß er deshalb erhöht und noch stärker differenziert werden sollte? Denn wenn wir uns die verschiedenen Landschaften in unserem Lande ansehen, wird doch deutlich, daß 10 % einfach zu wenig sind, um den gegebenen Verhältnissen gerecht zu werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Dr. Früh, auch hier kann ich Ihnen weitgehend folgen. Ich werde morgen diese Probleme mit den Kollegen — insbesondere aus den süddeutschen Ländern —, die diese Problemgebiete haben, diskutieren.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Städtebau und Wohnungswesen. Ich rufe die Frage 1 des Herrn Abgeordneten Geisenhofer auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Ich rufe auch die Frage 2 des Abgeordneten Geisenhofer auf. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Schlaga auf:
Welche Kriterien für eine Begnadigung von Strafgefangenen, insbesondere von lebenslänglichen, erwägt der Bundesminister der Justiz, den Ländern im Sinne einer möglichst einheitlichen Handhabung in der Bundesrepublik Deutschland vorzuschlagen und in welchem der zu erwartenden Gesetzesnovellierungen wird dies voraussichtlich seinen Niederschlag finden?
Herr Kollege Schlaga, die Verfassungen der Länder weisen die Ausübung des Begnadigungsrechtes mit dem Recht der Weiterübertragung den Ministerpräsidenten oder den Landesregierungen zu. Ob im Einzelfall Gnade walten soll, unterliegt der alleinigen Entscheidung der zuständigen Landesbehörde. Einer
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9530 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. BayerlRegelung durch materielle Richtlinien des Bundes ist das den Ländern zustehende Begnadigungsrecht nicht zugänglich. Sie würde dem Wesen des Gnadenrechts widersprechen. Gesetzliche Vorschriften bezüglich des Gnadenrechts werden daher nicht erwogen. Unabhängig von dieser Rechtslage findet zwischen den Ministerpräsidenten ein Meinungsaustausch über Fragen der Begnadigung zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe Verurteilter statt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hält es die Bundesregierung im Rahmen einer Bund-LänderKommission oder einer ähnlichen Einrichtung, und zwar im Interesse der Erhaltung der Resozialisierungsfähigkeit z. B. von zu lebenslänglicher Strafe Verurteilten, nicht für erforderlich, Begnadigungskriterien zu entwickeln, diese den Ländern vorzuschlagen oder mit ihnen auszuhandeln?
Die Bundesregierung hat hierzu im Wege einer Bund-Länder-Kommission keine verfassungsrechtlichen Kompetenzen, wird jedoch selbstverständlich z. B. im Bereich der Justizministerkonferenzen über den Bundesjustizminister für die Gestaltung des Gnadenrechts Anregungen geben.
Herr Staatssekretär, meine Intention ergibt sich auch aus folgendem. Ist Ihnen bekannt, daß ich lege Wert darauf, das zu betonen -- entgegen der in der Öffentlichkeit so weit verbreiteten, von ganz bestimmten Presseorganen geschürten Auffassung und Meinung z. B. lebenslängliche in der Bundesrepublik in der Regel frühestens nach 20 Jahren benadigt werden, während Begnadigung für Lebenslängliche in Großbritannien im Durchschnitt nach zirka 10 Jahren, in der Schweiz nach zirka 15 Jahren und in Frankreich ab 15 Jahren ausgesprochen werden?
Das ist der Bundesregierung bekannt. Ich teile Ihre Meinung, daß das Bild in der Öffentlichkeit falsch ist. Sie wissen, daß sich der Deutsche Bundestag in der letzten Legislaturperiode mit dieser Problematik beschäftigt hat. Es stand zur Debatte, eine obligatorische Überprüfung der Freiheitsstrafe nach Ablauf von 20 Jahren vorzunehmen. Der Deutsche Bundestag konnte sich nicht mit Mehrheit dieser Vorstellung anschließen und sie beschließen.
Frage 10 des Abgeordneten Dr. Arndt, — auch gleichzeitig Frage 11?
— Fragen 10 und 11:
Ist der Bundesregierung die Äußerung des Strafrechtsprofessors Dr. Baumann in der Fernsehsendung „Panorama" am 15. November 1971 bekannt, durch die vorgeschlagen wurde, bestimmte Delikte der Diebstahls-Kleinkriminalität aus dem Strafrecht herauszunehmen und in Ordnungswidrigkeiten umzuwandeln?
Teilt die Bundesregierung die vorerwähnte Meinung Professor Dr. Baumanns und gegebenenfalls für welche Delikte ?
Zur ersten Frage, Herr Kollege Arndt: Ja.Zur zweiten Frage: Der Bundesregierung ist die Problematik bei der Behandlung der Kleinkriminalität bekannt. Diese ist besonders aktualisiert durch den Wegfall der Deliktsform der Übertretung durch das 2. Strafrechtsreformgesetz. Dieser Problematik kann auf zwei Wegen begegnet werden, materiellrechtlich und prozessualrechtlich.Eine materielirechtliche Lösung würde zu großen Schwierigkeiten führen, da die Umwandlung geringfügiger Verstöße gegen Strafvorschriften zum Schutz von Eigentum und gegebenenfalls Vermögen in Ordnungswidrigkeiten nur dann vertretbar wäre, wenn sich eine feste, praktikable und tatbestandsmäßig umschriebene Grenze zwischen solchen geringfügigen Verstößen und dem verbleibenden Kriminalunrecht ziehen ließe. Dies ist nach Meinung der Bundesregierung jedoch nicht der Fall. Bereits im geltenden Recht hat sich gezeigt, daß die Abgrenzung zwischen § 242 StGB, dem Grundtatbestand des Diebstahls, und den Privilegierungstatbeständen in dogmatischer und praktischer Hinsicht nicht einfach ist; eine kasuistische Abgrenzung führt, wie bei der sogenannten Verbrauchsmittelentwendung des § 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB, häufig zu unbefriedigenden Ergebnissen.Die Bundesregierung hat deshalb im Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch vorgeschlagen, dem Problem durch eine entsprechende Fassung der §§ 153, 153 a StPO gerecht zu werden. Im § 153 neuer Fassung ist die Möglichkeit vorgesehen, daß die Staatsanwaltschaft in geeigneten Fällen von Vermögensdelikten, in deren Bereich die Masse der Kleinkriminalität liegt, ohne Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absieht. Diese Lockerung knüpft an die bisherige Regelung an, wonach § 153 Abs. 1 StPO der Staatsanwaltschaft gestattet, bei Übertretungen ohne die Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung abzusehen.Die vorgeschlagene neue Regelung des § 153 a StPO eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit mit Zustimmung des Beschuldigten von der Erfüllung bestimmter Auflagen und Weisungen abhängig zu machen. Dabei trägt er den Grundsätzen des § 46 Abs. 2 StGB in der Fassung des 2. Strafrechtsreformgesetzes Rechnung, wonach für die Strafzumessung auch das Verhalten des Täters nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen ist. Die Vorschrift schafft die Möglichkeit, kleinere Strafverfahren rasch und zweckmäßig ohne Schuldspruch und ohne Hauptverhandlung zu erledigen, und ermöglicht damit zugleich Staatsanwaltschaften und Gerichten, sich mit der mittleren und schweren Kriminalität intensiver zu befassen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9531
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. BayerlDiese prozessualrechtliche Lösung bietet für das praktische Verfahren somit die Vorteile, die ein Bußgeldverfahren bieten könnte, vermeidet jedoch die Nachteile, die mit einer Herabstufung bestimmter Fälle von Diebstahl zu Ordnungswidrigkeiten verbunden wären.
Zusatzfrage.
Herr Staatsskretär, wäre die Bundesregierung eventuell bereit, die dogmatischen Schwierigkeiten, die sich aus Ihrer Antwort ergeben, durch einen Forschungsauftrag klären zu lassen?
Herr Kollege Arndt, es sind nicht nur dogmatische Schwierigkeiten, sondern auch Schwierigkeiten hinsichtlich der Praktikabilität. Wir meinen, daß wir mit dieser prozessualen Möglichkeit, die Verfahren der Kleinstkriminalität individuell zu behandeln, eigentlich einen besseren Weg gewählt haben.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sollte nicht bei der Beurteilung der Sozialschädlichkeit bestimmter Diebstahlshandlungen berücksichtigt werden, daß den Bestohlenen häufig eine Art —untechnisch gesprochen — Mitverschulden trifft, weil er alles tut, um psychologische Aneignungshemmungen — etwa um des hohen Umsatzes eines Selbstbedienungsladens willen — abzubauen?
Sicher. Das können Sie aber über das Ordnungswidrigkeitsverfahren genausowenig in den Griff bekommen wie hier bei der Behandlung im StGB.
Zusatzfrage.
Beurteilt die Bundesregierung die kriminelle Energie und die Sozialschädlichkeit bestimmter Arten kleiner Diebstahlsdelikte, insbesondere des Gelegenheitsdiebstahl von geringwertigen Gütern, anders als Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, bei denen potentiell stets sogar Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet werden und die dennoch nur Ordnungswidrigkeiten sind?
Im Rahmen des Verkehrsrechts, Herr Kollege Arndt, ist oft das Deliktverhalten auf ein menschliches Versagen zurückzuführen. Ich weiß allerdings sehr wohl, daß es in der Kleinstkriminalität Fälle geben kann, die kriminalpolitisch völlig ohne jede Bedeutung sind, denen man pädagogisch begegnen müßte. Aber hier meine ich, daß man diesem Ziel über das Prozeßrecht näherkommt als nur mit der Herabstufung dieser Tatbestände zu einer Ordnungswidrigkeit.
Letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie nicht in Ihre Überlegungen die Tatsache mit einbeziehen, daß bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten das Opportunitätsprinzip herrscht im Gegensatz zur Strafverfolgung, die nach dem Legalitätsprinzip vor sich geht?
Das kann ich selbstverständlich in meine Überlegungen einbeziehen, Herr Kollege Arndt. Aber wir haben den Unterschied etwas abgeschwächt, indem wir die neue Fassung der §§ 153 und 153 a in das Prozeßrecht einführen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie auch so verstehen, daß Sie der Auffassung sind, daß eine Umwandlung dieser Kleinstdelikte, wenn ich es einmal so ausdrükken darf, in Ordnungswidrigkeiten nicht zumindest eine Relativierung des Eigentumsbegriffs bedeutet, also des geschützten Rechtsgutes, und daß das letzten Endes, wenn man einmal damit beginnt, zu der Tendenz führen kann — sie ist jetzt schon erkennbar —, das Recht in dem Sinne zu soziologisieren, daß nicht das Sein dem Sollen, sondern das Sollen dem Sein mehr angepaßt wird?
Selbstverständlich, weil auch insbesondere eine Grenze zu ziehen, wann ein Eigentumsdelikt eine Ordnungswidrigkeit sein soll, sehr schwierig ist; denn es gibt auch hier schwankende Grenzen, die eine Beurteilung des Einzelfalles fordern.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, bedeutet nicht die langsame Mühle des Strafverfahrens eine noch viel schlimmere Relativierung des Eigentumsbegriffs?
Sie haben völlig recht, Herr Kollege Sperling. Demzufolge hat die Bundesregierung eine Beschleunigungsnovelle für die Strafverfahren vorbereitet, die wir demnächst dem Hohen Hause vorlegen werden.
Ich rufe die Frage 12 des Herrn Abgeordneten Erpenbeck auf:Teilt die Bundesregierung die weit verbreitete Auslegung des sogenannten Artikelgesetzes, daß bei Modernisierungen des Althausbesitzes in den weißen Kreisen Mieterhöhungen unzulässig sind, selbst wenn die Mieter diese Modernisierungen wünschen und bereit sind, dafür auch eine etwas höhere Miete zu zahlen?
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9532 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Herr Präsident, darf ich des Sachzusammenhangs wegen die Fragen 12 und 13 gemeinsam beantworten?
Einverstanden, dann rufe ich auch die Frage 13 des Herrn Abgeordneten Erpenbeck auf:
Ist die Bundesregierung bereit, diesen Mangel im Artikelgesetz durch ein Änderungsgesetz zu beheben?
Sie sprechen ein Auslegungsproblem an, Herr Kollege Erpenbeck, das nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Kündigungsschutz für Mietverhältnisse über Wohnraum aufgeworfen und in Presseberichten aufgegriffen worden ist:
Es sind Zweifel geäußert worden, ob sich Vermieter und Mieter darauf einigen können, daß die Miete im Falle einer Modernisierung der Wohnung erhöht wird, oder ob solche Vereinbarungen nur wirksam sind, wenn die für das Verlangen des Vermieters auf Mieterhöhung vorgeschriebenen Voraussetzungen und Fristen des Kündigungsschutzgesetzes beachtet werden.
Die Bundesregierung teilt diese Zweifel nicht. Sie ist der Meinung, daß das erwähnte Kündigungsschutzgesetz Vermieter und Mieter nicht daran hindert, von Fall zu Fall, also auch im Hinblick auf eine Modernisierung, wirksame Vereinbarungen über die Höhe der Miete zu treffen. Wenn der Mieter allerdings nicht mit der Mieterhöhung einverstanden ist, dann bleibt dem Vermieter auch im Falle von Modernisierungen nur die Möglichkeit, eine Mieterhöhung unter den Voraussetzungen und innerhalb der Fristen des Kündigungsschutzgesetzes zu erreichen. Diese Auffassung wird auch überwiegend im fachwissenschaftlichen Schrifttum vertreten. Die Bundesregierung sieht deshalb zur Zeit keinen Anlaß zu prüfen, ob gesetzgeberische Maßnahmen zur Änderung des Kündigungsschutzgesetzes vorzubereiten sind. Wir werden die Entwicklung aber aufmerksam beobachten, insbesondere die zu erwartende Rechtsprechung hierzu.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß die im Gesetz angesprochene ortsübliche Vergleichsmiete auch im Falle von Modernisierungen bereits erreicht ist oder nicht den Spielraum zuläßt, der dann eine entsprechende Abdeckung der Modernisierungskosten ermöglicht?
Das weiß die Bundesregierung, aber ich meine, daß es in der Disposition der beiden Vertragspartner steht, eine Miete auf Grund von Modernisierungen der Wohnungen zu vereinbaren, ohne an das Kündigungsschutzgesetz gebunden zu sein.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß große gemeinnützige Wohnungsbauunternehmungen, die in der Vergangenheit Millionenbeträge in die Modernisierung gesteckt haben, jetzt sämtliche Modernisierungsaufträge zurückgezogen haben und nicht weiter modernisieren, weil sie ihre Kosten nicht gedeckt bekommen?
Ich hoffe, daß diese Fragestunde dazu beiträgt, diese Rechtsunsicherheit draußen zu beseitigen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es angesichts der vielen aufgetretenen Zweifel — sie ergeben sich eben aus der Praxis — trotz dieser Fragestunde nicht doch notwendig, schon heute zu überlegen, ob nicht Änderungen des Gesetzes notwendig sind?
Herr Kollege Erpenbeck, wir halten das Gesetz für zweifelsfrei.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie es angesichts der vom Kollegen Erpenbeck geschilderten Situation nicht für erforderlich, daß sich die Bundesregierung mit den Verbänden zusammensetzt und dieses Problem erörtert?
Sicher, das ist zu bedenken, und es ist auch zu bedenken, ob wir vielleicht hierzu in der zweiten Auflage unserer Mietfibel einen eigenen Hinweis anbringen.
Wir kommen zu Frage 14. Soll Frage 15 gleichzeitig beantwortet werden?
— Dann rufe ich die Fragen 14 und 15 des Abg. Dr. Gradl auf:
Hat sich die Bundesregierung darum bemüht, daß das in Aussicht genommene Europäische Patentamt in Berlin errichtet wird?
Gibt es Schwierigkeiten, und — wenn ja — was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um sie zu überwinden?
Das Europäische Patentamt, Herr Kollege Gradl, kann nach Auffassung der Bundesregierung und nach Auffassung der überwiegenden Mehrzahl der zur Zeit 18 anderen Vertragspartner, die auch von der gesamten übrigen Fachwelt geteilt wird, nur in unmittelbarer Nachbarschaft eines aktiven Prüfungspatentamtes mit einer umfassenden Dokumentation und einem größe-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9533
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bayerlren Prüferstab errichtet werden, da es die Einrichtungen dieses Amtes in der Aufbauzeit mitbenutzen muß. Diese Voraussetzungen erfüllen in Europa zur Zeit nur Den Haag und München in optimaler Weise.Die Bundesregierung hat deshalb bereits im Jahre 1963 nach eingehender Prüfung der in der Bundesrepublik bestehenden Möglichkeiten beschlossen, sich für München zu bewerben. In diese Prüfung ist seinerzeit auch die Möglichkeit einer Bewerbung für Berlin einbezogen worden. Die Bundesregierung war aber und ist auch heute noch der Meinung, daß nur für eine Bewerbung für München eine ausreichende Mehrheit der Stimmen der anderen Vertragspartner gewonnen werden kann, da nur München die genannten fachlichen Voraussetzungen erfüllt.Seit der Kabinettsentscheidung für 1963, die durch einen Kabinettsbeschluß aus dem Jahre 1970 bestätigt worden ist, wird die gesamte Planung auf München ausgerichtet. Schon damals sind die Weichen in entscheidender Weise für München gestellt worden.Eine Änderung der deutschen Bewerbung kommt daher nicht mehr in Betracht, zumal auch die Entscheidung über den Sitz bereits für diesen Sommer erwartet wird und im Anschluß daran unverzüglich die Vorbereitungen für die Errichtung eines Dienstgebäudes am Sitzort zu treffen sind.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß mittlerweile im Zuge der Berlin-, Deutschland- und Ostpolitik zusätzliche Grande aufgetreten sind, sich um — insbesondere auch europäische — zentrale Institutionen für Berlin zu bemühen?
Das ist der Bundesregierung sicherlich bekannt. Aber der Bundesregierung ist auch bekannt, daß der Standort München eine conditio sine qua non ist, um eine Mehrheit in diesem Entscheidungsgremium zu bekommen.
Verstehe ich Sie richtig, daß der Standort München in Aussicht genommen worden ist, weil sich dort das Bundespatentamt befindet? Ist das der entscheidende Grund für Ihre europäischen Partner?
Ja, weil dort das Bundespatentamt mit seiner riesengroßen Fachbibliothek ist und weil sich gegenüber dem Patentamt das Deutsche Museum mit einer fast Bleichgroßen Bibliothek für den Sektor Technik befindet.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung, wenn die Identität der Sitze des Europäischen Patentamtes und des Bundespatentamtes eine sachliche Notwendigkeit sein sollte, nicht Überlegungen angestellt, ob es angesichts der großen Entwicklung, die München erfreulicherweise genommen hat, und angesichts der Kritik, die im Ballungsraum München selbst an der Etablierung einer neuen Großbehörde ausgesprochen wird, nicht zweckmäßig ist, das Europäische Patentamt mit dem Bundespatentamt nach Berlin zu holen, woher letzteres ja, wie Sie wissen, insofern gekommen ist, als das Reichspatentamt seinen Sitz in Berlin hatte?
Herr Kollege Gradl, ich kann mir nicht vorstellen, daß wir den Bewerbungsprozeß, der von der Bundesregierung 1963 beschlossen wurde, im Stadium — ich möchte es einmal so salopp sagen — fünf Minuten vor zwölf noch einmal zurückdrehen können, ohne zu gefährden oder, so möchte ich fast sagen, unmöglich zu machen, daß der Sitz des Europäischen Patentamtes überhaupt an einen Ort in der Bundesrepublik vergeben wird.
Letzte Zusatzfrage.
Verstehe ich Sie also richtig, daß die Bundesregierung nicht die Absicht hat, noch einmal Anstrengungen zu unternehmen, um eine Veränderung zugunsten Berlins herbeizuführen?
Ja, Sie verstehen mich richtig.
Herr Abgeordneter Hansen zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, finden Sie es nicht höchst merkwürdig, daß die Frage aus der CDU/CSU-Fraktion kommt, die doch für die Verdünnung der Bundespräsenz in Berlin in der Vergangenheit verantwortlich gewesen ist?
Ich finde es merkwürdig.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit — vielleicht sind Sie heute in der Lage, etwas dazu zu sagen —, darzulegen, welche Folgelasten das Patentamt gerade auf Grund der neuesten Entwicklung von München für die Stadt und ihre Bewohner letzten Endes mit sich bringt? Ich denke nur an die Zurverfügungstellung von Wohnraum und an Preissteigerungen, die sich durch die internationalen Gehälter usw. ergeben.
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9534 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Ich kann Ihnen darüber keine exakten Auskünfte geben. Sie müssen aber bedenken, daß diese Frage und diese Problematik sich nicht der Bundesregierung, sondern der Stadt München und dem Stadtrat von München stellen. Der Stadtrat von München hat sich bereits zweimal in einem Beschluß für den Sitz des Europäischen Patentamtes in München ausgesprochen.
Herr Abgeordneter Sperling zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung darüber klar, daß ein von vornherein aussichtsloser Vorstoß zugunsten Berlins —nach Ihrer Aussage ist es wahrscheinlich, daß alle Vorstöße aussichtslos bleiben — dann nur als eine Abfuhr Berlins gewertet werden könnte?
Erstens dies, Herr Kollege Sperling. Zweitens würden wir es dann überhaupt unmöglich machen, das Europäische Patentamt nach München oder an einen anderen Ort der Bundesrepublik zu bekommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Gatzen.
Herr Staatssekretär, wäre die Bundesregierung bereit, sich positiv für Berlin zu verwenden, wenn vergleichbare europäische Institutionen möglicherweise nach Berlin gebracht werden könnten?
Das ist völlig selbstverständlich, Herr Kollege.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, haben sich die Vertragspartner endgültig für den Sitz des Europäischen Patentamtes in Deutschland und in München entschieden?
Nein. Ich sagte bereits in meiner ersten Antwort, daß die Entscheidung etwa im Sommer dieses Jahres fallen wird.
Keine Zusatzfrage mehr.
Wir kommen dann zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Ich rufe zunächst die Frage 52 des Abgeordneten Anbuhl auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen zur Gründung eines Europäischen Jugendwerks im Rahmen des Europarats?
Herr Kollege Anbuhl, die bisherigen Verhandlungen haben am 16. Dezember 1971 zu einem einstimmigen Grundsatzbeschluß des Ministerkomitees des Europarats geführt. Danach soll zur finanziellen Unterstützung der Zusammenarbeit der europäischen Jugend ein Europäisches Jugendwerk im Rahmen des Europarats geschaffen werden, das auch europäischen Nichtmitgliedstaaten offenstehen soll. Das Ministerkomitee hat die Ministerstellvertreter beauftragt, die Arbeit an der Vorbereitung eines Statutenentwurfs zügig fortzusetzen, und seine Absicht erklärt, auf seiner nächsten Sitzung im Mai 1972 eine endgültige Entscheidung über die Gründung des Europäischen Jugendwerks zu treffen. Die Bundesregierung begrüßt diesen einstimmigen Grundsatzbeschluß. Er trägt u. a. mit der Anerkennung des Prinzips der Offenheit für Nichtmitgliedstaaten dem Wunsch der Bundesregierung, die Jugend der osteuropäischen Staaten zu beteiligen, Rechnung und bestätigt durch die Festlegung auf einen Termin für die endgültige Entscheidung die Erwartung auf ein baldiges Zustandekommen des Jugendwerks.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die sehr widersprüchlichen Wertungen des Verhandlungsstandes von seiten der Opposition?
Es ist in der Tat etwas schwierig, herauszufinden, welche der gegenwärtig vorhandenen zwei Auffassungen, die geäußert werden, die Ansicht der Opposition ist. Während einerseits der Pressedienst, der DUD, mit etwa drei Wochen Verspätung darüber berichtete, daß das Kommuniqué des Ministerkomitees des Europarates vom 16. Dezember als eine Folge der auch nach meiner Meinung sehr anerkennenswerten Bemühungen unserer Kollegin Frau Klee in der Beratenden Versammlung des Europarates anzusehen ist — in diesem Zusammenhang wurden aber die Bemühungen der Bundesregierung gar nicht erwähnt —, ist es auf der anderen Seite unser Kollege Rollmann gewesen, der drei oder vier Tage vorher in einer Wochenzeitung deutlich gemacht hat, daß er die Bemühungen der Bundesregierung um ein Europäisches Jugendwerk im Rahmen des Europarats für gescheitert ansieht und meint, daß neue Initiativen außerhalb des Europarats unternommen werden. Diesen Widerspruch muß die Opposition selbst aufklären. Wir, Herr Kollege Anbuhl, gehören zu denjenigen, die darauf drängen, daß die bestehenden unterschiedlichen Auffassungen im Wege des Kompromisses überwunden werden, und wir werfen nicht die Flinte ins Korn, wenn es Schwierigkeiten gibt, die immerhin 17 Regierungen zu einer Einigung zu führen.
Eine letzte Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972 9535
Herr Staatssekretär, Sie stimmen also mit mir darin überein, daß es nicht sinnvoll ist, die Bemühungen im Europarat zugunsten einer schnellen Einigung mit anderen europäischen Ländern, die bereit sind, sofort ein Europäisches Jugendwerk zu bilden, aufzugeben?
Ja, das ist selbstverständlich, Herr Kollege. Nachdem gerade alle 17 Mitgliedsländer erklärt haben, sie bejahten das Europäische Jugendwerk, und da es im Mai dieses Jahres zu einer abschließenden Entscheidung kommen kann, wäre es nicht nur unsinnig, sondern in jeder Hinsicht unvertretbar, den Europarat als Gesprächsplattform und Verhandlungsplattform zu verlassen. Wir würden nicht nur alles zerschlagen, sondern auch kein Europäisches Jugendwerk zustande bringen.
Herr Abgeordneter Jahn hat das Wort zu einer Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in der EWG zur Zeit Beratungen über die Errichtung eines Europäischen Jugendwerkes laufen? Sind Sie bereit, diesen Bemühungen, die sich, daneben herlaufend, in der gleichen Richtung vorwärtsbewegen, zur Realisierung zu verhelfen und sie mit allem Nachdruck zu unterstützen, zumal in den Beratungen des Sozial-und Gesundheitsausschusses der Standpunkt vertreten wird, daß als Basis das deutsch-französische Jugendwerk ein Beispiel sein könnte?
Herr Kollege Jahn, die Problematik, daß sich die Europäischen Gemeinschaften, die zahlenmäßig weniger Länder umfassen als der Europarat, um ein Europäisches Jugendwerk bemühen, ist im Laufe der vergangenen Jahre immer und immer wieder aufgetaucht. Uns ist natürlich bekannt, daß auch jetzt in der entsprechenden Versammlung und in Ausschüssen dieses Thema erneut zur Beratung steht. Wir bemühen uns darum, dort die Linie durchzuhalten, die darauf gerichtet ist, die größtmögliche europäische Plattform zu benutzen, um ein Europäisches Jugendwerk zustande zu bringen. Das geschieht nicht gegen die Europäischen Gemeinschaften und ihre Bemühungen, die Jugendarbeit zu fördern, sondern mit dem Bemühen, eine sinnvolle Arbeitsteilung zustande zu bringen und Überschneidungen auszuschließen.
Ich rufe die Frage 53 der Frau Abgeordneten Huber auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß das Kindergeld den Mehrkinderfamilien nicht speziell für das die Bezugsberechtigung begründende Kind, sondern als Zuwendung zur Milderung der Gesamtbelastung einer Mehrkinderfamilie gegeben wird, und wie wirkt sich, falls ja, dieser Grundsatz bei Alimentenzahlung aus?
Frau Kollegin Huber, die Bundesregierung ist der Ansicht, daß das einem Berechtigten zustehende Kindergeld gleichmäßig für sämtliche bei seiner Bemessung berücksichtigten Kinder und somit zur Minderung der Gesamtbelastung bestimmt ist, die der Familie durch die Kinder erwächst. Grundsätzlich bedeutet für den Kindergeldberechtigten der Anspruch auf das Kindergeld eine Steigerung seiner unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit. Diese wiederum ist — neben anderen Faktoren — für die Bemessung des Unterhalts, den Eltern ihren Kindern schulden, maßgeblich. Die Steigerung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit, die auf dem Anspruch auf Kindergeld beruht, kommt bei gleichen tatsächlichen Verhältnissen grundsätzlich sämtlichen bei der Bemessung des Kindergeldes berücksichtigten Kindern zu gleichen Teilen zugute.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zugeben, daß das einfache Zuschlagen des Kindergeldes zum Einkommen des zur Unterhaltszahlung verpflichteten Vaters nur eine geringe oder sogar überhaupt keine Steigerung der Alimente bewirkt? Würden Sie es nicht für richtig halten, daß das nichteheliche Kind, das z. B. in dem von mir gemeinten Falle den Bezug von Kindergeld erst ermöglicht und begründet, auch an diesem Kindergeld partizipiert, so daß das Kindergeld ein besonderes, den Kindern zugedachtes Einkommen darstellt, an dem alle Kinder angemessen teilnehmen?
Sie wie ich, Frau Kollegin Huber, wissen, um was für eine schwierige Materie es sich handelt, zumal sich hier zwei Rechtsgebiete — Kinder- und Unterhaltsrecht — überschneiden und überkreuzen. Insofern ist es sicher richtiger, diese Frage an Hand des konkreten Einzelfalles zu untersuchen.
Wenn das Kindergeld dem nicht ehelichen Vater — was der Ausnahmefall ist als Berechtigtem gezahlt wird, muß dies Auswirkungen auf alle Kinder haben. Auf Grund der Tatsache, daß wir heute noch kein Erstkindergeld zahlen und für die Zahlung des Zweitkindergeldes eine Einkommensgrenze haben, muß auf diesem Wege ein Ausgleich stattfinden, da sonst Ungleichheiten entstehen würden. Das Ausmaß der Auswirkungen hängt allerdings von den jeweils vorhandenen Umständen — z. B. der Höhe des Verdienstes des Unterhaltsverpflichteten — ab.
Zweite Frage: Bekommt ein Vater auch dann Kindergeld für ein nicht eheliches Kind, das beispielsweise sein drittes, aber das einzige Kind der nichtehelichen Mutter ist, wenn er keinen Unterhalt zahlen kann, und an wen geht dann dieses Kindergeld?
Im wirtschaftlichen Ergebnis an die Mutter, wenn das Kind bei der Mutter ist. Dann würde also immer die Mutter das Kindergeld bekommen.
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9536 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Januar 1972
Wenn er keine Alimente zahlt, habe ich gefragt. Wenn er keinen Unterhalt leisten kann, beispielsweise auf Grund seiner Einkommensverhältnisse, überweist er dann das Kindergeld der nichtehelichen Mutter, oder behält er das für sich, für seine Familie?
Diese Frage kann ich Ihnen jetzt nicht in allen rechtlichen Einzelheiten beantworten. Wenn Sie es wünschen, werde ich das nachholen.
Frage 54 der Abgeordneten Frau Huber:
In welcher Höhe werden Alimente, die ein Vater mit ca. 1500 DM Monatseinkommen an ein uneheliches drittes Kind zahlt, aus öffentlichen Mitteln, d. h. durch Steuerersparnis und Kindergeld finanziert, und wirkt sich dabei der Erhalt von Kindergeld alimentesteigernd aus?
Das, was ich soeben über die unterhaltsrechtliche Wirkung eines Kindergeldanspruchs gesagt habe, gilt grundsätzlich auch für den Fall, daß dem Vater eines nichtehelichen Kindes für dieses Kindergeld zusteht. Insbesondere kann in einem derartigen Fall ein Kindergeldanspruch von Bedeutung dafür sein, ob der Vater nur den Regelunterhalt oder einen höheren Unterhaltsbetrag an das Kind zu zahlen hat. Ob und inwieweit die Zahlung von Kindergeld der Teilfinanzierung einer ohnehin bestehenden Unterhaltsschuld und damit einer echten Entlastung des Kindergeldberechtigten dient oder ob sie zu einer entsprechenden Erhöhung der Unterhaltsschuld führt und somit für den Kindergeldberechtigten im wirtschaftlichen Ergebnis nichts einbringt, läßt sich nicht allgemein sagen. Das hängt von den unterhaltsrechtlich erheblichen Umständen des Einzelfalles ab. Welche rechtlich erheblichen Umstände in dem von Ihnen angeführten Fall vorliegen, ist aus der Frage nicht zu erkennen.
Zur Frage der Steuerersparnis verweise ich auf § 33 a des Einkommensteuergesetzes. Danach wird die Einkommensteuer des Vaters eines nichtehelichen Kindes auf seinen Antrag dadurch ermäßigt, daß die von ihm geleisteten Unterhaltszahlungen für dieses Kind bis zum Höchstbetrag von 1200 DM jährlich von seinem Einkommen abgezogen werden. Die dadurch bewirkte Steuerersparnis bei einem Monatseinkommen von zirka 1500 DM läßt sich nur bei Kenntnis der individuellen Verhältnisse des Einzelfalles errechnen. Sie kann 19 DM monatlich betragen, aber eben auch etwas darüber liegen.
Ist es rechtlich von Bedeutung, ob das nichteheliche Kind das erst-, zweit-, drittgeborene oder weitere Kind des betreffenden Vaters ist?
Für die Einordnung in die Rangfolge für die Kindergeldzahlung ja.
Meine Damen und Herren, die 60 Minuten für die Fragestunde sind um. Wir brechen hier ab.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages ein auf Donnerstag, den 27. Januar, 13 Uhr. Tagesordnung: Fragestunde.
Ich schließe die heutige Sitzung.