Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die Tagesordnung erweitert um die
Beratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses betr. zusätzliche Ausgaben für den Ausbau und Neubau von Hochschulen und von Einrichtungen der wissenschaftlichen Forschung und Ausbildung außerhalb der Hochschulen im Haushaltsjahr 1971
— Drucksachen VI/2946, VI/2963 —
Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 5 und 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
— Drucksache VI/2916 —
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rückzahlung der einbehaltenen Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner
— Drucksache VI/2919 —
Wird von der Regierung das Wort zur Begründung gewünscht? — Bitte schön, Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, das Rentenreformprogramm der Bundesregierung, das Ihnen in der Drucksache VI/2916 vorliegt, heute in diesem Hohen Hause einbringen zu können. Der am 20. Oktober 1971 vom Bundeskabinett verabschiedete Gesetzentwurf zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung bringt wichtige Verbesserungen für alle Kreise der Bevölkerung: für Rentner und Beitragszahler, für Selbständige und nicht erwerbstätige Frauen. Mit dieser Gesetzesvorlage erfüllt die Bundesregierung einen Auftrag des Deutschen Bundestages vom 23. Juni 1971. Die Vorlage ist zugleich ein Kernstück der inneren Reformen, die sich die sozial-liberale Regierung zur Aufgabe gemacht hat.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 angekündigt — ich darf zitieren —:
Die Bundesregierung wird im Laufe der Legislaturperiode den schrittweisen Abbau der festen Altersgrenze prüfen und sich bemühen, sie durch ein Gesetz über die flexible Altersgrenze zu ersetzen. Die gesetzliche Alterssicherung soll für weitere Gesellschaftsgruppen geöffnet werden.
Soweit die Regierungserklärung. Diese Zusage wird mit dem Ihnen vorliegenden Rentenreformprogramm erfüllt. Darüber hinaus enthält dieses Programm noch weitere wichtige gezielte Strukturverbesserungen, die in erster Linie Müttern und Kleinrentnern zugute kommen.
Der Gesetzentwurf hat fünf Schwerpunkte: erstens die Einführung einer flexiblen Altersgrenze, zweitens die gezielte Anhebung von Kleinrenten, drittens die Einführung eines „Babyjahres" für Mütter mit einer eigenen Rentenversicherung; viertens die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige, mithelfende Familienangehörige und nicht erwerbstätige Hausfrauen und fünftens Regelungen zum Versorgungsausgleich bei Ehescheidungen.
Bei diesen Reformvorschlägen der Bundesregierung geht es um gezielte Strukturverbesserungen. Wie ich schon erwähnte, kommen diese Verbesserungen allen Gesellschaftsgruppen zugute. Durch die Einführung der flexiblen Altersgrenze werden der Entscheidungsspielraum und das Selbstbestimmungsrecht der Versicherten mit einem erfüllten Arbeitsleben erweitert. Das ist zugleich ein Beitrag zur Humanisierung des Arbeitslebens.
Für Rentnerinnen und Rentner werden frühere Entlohnungsnachteile durch die Einführung einer „Rente nach Mindesteinkommen" ausgeglichen. Durch die Einführung eines „Babyjahres" werden für rentenversicherte Mütter berufliche Nachteile infolge der Kindererziehung abgebaut. Außerdem wird die soziale Sicherung der geschiedenen Frau durch die Regelung des Versorgungsausgleichs bei Ehescheidungen verbessert. Durch die Öffnung der Rentenversicherung wird bisher ausgeschlossenen Gesellschaftsgruppen ein neuer Weg zur sozialen
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Bundesminister Arendt
Sicherung erschlossen. Die soziale Rentenversicherung wird damit praktisch zu einer Volksversicherung auf freiwilliger Grundlage.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich folgendes besonders hervorheben. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Reform hat insonderheit Verbesserungen für die heutigen Rentner zum Ziel. Sie beschränkt sich aber nicht darauf. Vielmehr soll zugleich das Rentenrecht für die Beitragszahler und die bisher ausgeschlossenen Gesellschaftsgruppen den heutigen Erfordernissen angepaßt werden.
In den Diskussionen der letzten Monate ist oft eine allgemeine Rentenanhebung als Alternative zum Rentenreformprogramm dargestellt worden. Diese Alternative ist jedoch falsch gestellt. Ich betone hier noch einmal: Von der vorgeschlagenen Rentenreform werden nicht nur die aktiven Arbeitnehmer das sind die Rentner von morgen — Vorteile haben, sondern auch die heutigen Rentner. So ist fast ein Drittel der Personen, die zunächst die Möglichkeit der flexiblen Altersgrenze in Anspruch nehmen können, heute schon berufs- oder erwerbsunfähig. Sie sind also Rentner.
Außerdem ergibt sich für eine große Zahl von Rentnern eine zum Teil beträchtliche Rentenanhebung. Die vorgeschlagene Rente nach Mindesteinkommen kann Rentenerhöhungen bis zu 75 % bewirken. In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, daß die sozial-liberale Bundesregierung sofort nach Übernahme der Regierungsverantwortung die Abschaffung des in der wirtschaftlichen Rezession von 1967 eingeführten Krankenversicherungsbeitrages der Rentner eingeleitet hat. Mit Wirkung vom 1. Januar 1970 erhalten die Rentner wieder ihre ungekürzte Rente.
Darüber hinaus sollen jetzt auch die in den Jahren 1968 und 1969 allmonatlich einbehaltenen Krankenversicherungsbeiträge zurückerstattet werden. Der von den Koalitionsfraktionen der SPD und FDP eingebrachte Gesetzentwurf zur Rückzahlung dieser Beiträge liegt Ihnen ebenfalls vor. Lassen Sie mich ein paar Worte dazu sagen. Der den damaligen Rentnern aufgebürdete Krankenversicherungsbeitrag war auch ein Beitrag zur Sanierung des Bundeshaushalts.
Er wurde von den Rentnern als Unrecht empfunden. Das soll jetzt wiedergutgemacht werden. Diese Wiedergutmachung ist systemgerecht. An der Rentenformel wird nicht manipuliert. Ich begrüße diese Initiative der Koalitionsfraktionen sehr, und ich freue mich ganz besonders, daß auch der sozialpolitische Sprecher der Opposition diesen Antrag begrüßt hat.
Die Rentner, die im nächsten Jahr ihre Krankenversicherungsbeiträge aus den Jahren 1968 und 1969 zurückerhalten, können 1972 insgesamt über 10 % mehr Rente verfügen als im Jahre 1971.
Außerdem sollte bedacht werden, daß vom nächsten Jahr an die Spätfolgen der wirtschaftlichen Rezession von 1967 sich bei der Rentenbemessung nicht mehr auswirken. Die 15. Rentenanpassung wird 1973 zu einer allgemeinen Rentenerhöhung um 9,5 % führen. Für 1974 sind sogar Rentensteigerungen von mehr als 11 % zu erwarten. Auf längere Sicht kommt eine allgemeine Einkommenssteigerung also auch den Rentnern zugute.
Ich darf deshalb hier noch einmal nachdrücklich unterstreichen: Unsere dynamische Rente hat sich bewährt. Auf die Dauer ist sie der beste Weg zur Beteiligung unserer alten Menschen, aber auch der frühzeitig Berufs- oder Erwerbsunfähigen, am wirtschaftlichen Wachstum. Um auch diese Feststellung noch einmal mit Zahlen zu belegen: Aus 100 DM Altersruhegeld im Jahre 1957 sind einschließlich der 14. Rentenanpassung 256 DM geworden.
Wir alle wissen aber, daß unsere Rentenversicherung noch Schwächen und Lücken hat. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß im Rentenbericht insgesamt mehr als 150 Änderungswünsche einzelner Gruppen und Personen zusammengestellt sind. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen sind bestrebt, vorhandene Mängel zu beseitigen. In der Sorge und Fürsorge für die Rentner lassen sie sich von niemandem übertreffen.
Die aus der Vergangenheit herrührenden Mängel — auch das muß ich in aller Offenheit sagen — lassen sich aber nicht alle auf einmal im Handumdrehen aus der Welt schaffen.
Soziale Gerechtigkeit erfordert auch die Berücksichtigung der Finanzlage. Dieser Grundsatz ist für die Bundesregierung ehernes Gebot. Wir planen nichts ins Blaue hinein, und so halten sich die Vorschläge zur Rentenreform streng im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten. Die Bundesregierung nutzt den finanziellen Spielraum, der sich aus den langfristigen und soliden Vorausschätzungen der finanziellen Entwicklung der Rentenversicherung ergibt. Die sich hier abzeichnende günstige Entwicklung ist vor allem eine Folge der überdurchschnittlichen Lahn- und Gehaltserhöhungen im Jahre 1970. Langfristig beruht sie aber auch auf der schon in der vorigen Legislaturperiode beschlossenen Anhebung des Beitragssatzes von 17 auf 18 % mit Wirkung vom 1. Januar 1973.
Es ist also absolut falsch zu behaupten, daß durch Einsparungen bei den Renten Leistungsverbesserungen für aktive Arbeitnehmer finanziert werden. Ebenso falsch ist die Behauptung, den Rentnern würde etwas vorenthalten.
Die Wahrheit ist doch, daß die Gelder für die langfristigen Reformverbesserungen erst noch von den Beitragszahlern aufgebracht werden müssen.
Leider wird dies in der sozialpolitischen Diskussion oft nur wenig oder überhaupt nicht beachtet.
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Bundesminister Arendt
Vielmehr wird in der Öffentlichkeit oft der Eindruck erweckt—ich habe es schon einmal gesagt—, in den Tresoren der Rentenversicherungsträger lägen heute schon Milliarden bereit und warteten darauf, verteilt zu werden. Ich wiederhole es hier noch einmal: Die für die Reform der Rentenversicherung notwendigen finanziellen Mittel müssen erst noch erarbeitet werden, und zwar von den Beitragszahlern. Deshalb ist es nicht mehr als gerecht, bei finanziell möglichen Verbesserungen nicht ausschließlich die Interessen der Rentner, sondern ebenso auch die Interessen der Beitragszahler zu berücksichtigen. Das ist auch mehr soziale Gerechtigkeit.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen jetzt die einzelnen Schwerpunkte des Reformprogramms näher erläutern. Die Einführung der flexiblen Altersgrenze wird entscheidend dazu beitragen, den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu erleichtern und zu humanisieren. Nach einem erfüllten Arbeitsleben sollen die älteren Arbeitnehmer ihre Altersgrenze künftig selbst bestimmen können. Das bedeutet vor allem eine Wohltat für alle, die sich den täglichen Anforderungen des Erwerbslebens nicht mehr gewachsen fühlen. Wer das 63. Lebensjahr vollendet hat und 35 Jahre oder länger versichert war, soll selbst entscheiden können, ob er in die Rente gehen will oder ob er weiterarbeiten will.
Diesen Versicherten wird es erspart, erst ihre Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nachweisen zu müssen. Für sie entfallen die heute notwendigen medizinischen Untersuchungen zur Feststellung der Invalidität. Diese Untersuchungen werden gerade von älteren Arbeitnehmern als belastend und diskriminierend empfunden. Außerdem entfallen die oft langen Wartezeiten, die sich bei einer Feststellung der Invalidität ergeben können. Die vorgeschlagene flexible Altersgrenze bringt allgemein die folgende Neuregelung: Alle Versicherten, die eine Vorversicherungszeit von 35 oder mehr anrechnungsfähigen Versicherungsjahren haben, sollen nach Vollendung des 63. Lebensjahres frei entscheiden können, von welchem Zeitpunkt an sie Altersruhegeld beziehen wollen. Als anrechnungsfähige Versicherungsjahre zählen sämtliche Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten.
Die Rente soll nach geltendem Recht berechnet werden. Jeder Versicherte, der von der flexiblen Altersgrenze Gebrauch macht, soll ,die Rente erhalten, auf die er zum Zeitpunkt des Rentenbeginns Anspruch hat. Besondere Abschläge von der Rente soll es nicht geben. Versicherungsmathematische Abschläge, wie sie hier und da gefordert werden, würden zu erheblichen Rentenkürzungen führen. Viele Versicherte, die im Alter allein auf die Rente angewiesen sind, wären dann schon von vornherein von den Vorteilen der flexiblen Altersgrenze ausgeschlossen. Sie müßten weiterarbeiten, weil sie für ihren Lebensunterhalt auf den ihnen entgehenden Teil der Rente nicht verzichten können.
Im Zusammenhang mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze soll ein allmählicher Übergang von der Arbeit zum Ruhestand erleichtert werden. Wir alle wissen, daß dieser Übergang für die Menschen ein Problem besonderer Art ist. Nicht ohne
Grund sprechen Ärzte vom „Pensionstod". Es ist deshalb vorgesehen, neben dem Bezug von Altersruhegeld beispielsweise eine Teilzeitbeschäftigung zuzulassen. Ein monatlicher Nebenverdienst bis zu einem Viertel der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten soll die Rentenzahlung nicht beeinträchtigen. Im Jahre 1973 wäre damit ein monatlicher Nebenverdienst bis zu 575 DM ohne Einfluß auf die Rente. Dadurch wird sichergestellt, daß die mit der Vollendung des 63. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Versicherten ihr bisheriges Nettoeinkommen weiterhin erzielen können.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Einführung der flexiblen Altersgrenze von ergänzenden Maßnahmen begleitet sein muß. In den Gesetzentwurf ist daher das Recht auf Auskunft über die Rentenanwartschaft für 62jährige Versicherte aufgenommen worden. Jeder dieser Versicherten kann sich auf diesem Wege über die Höhe seiner Rente unterrichten. Seine persönliche Entscheidung, ob er in die Rente gehen oder noch weiterarbeiten will, wird dadurch erheblich erleichtert.
Außerdem wird sich die Bundesregierung verstärkt dafür einsetzen, daß mehr als bisher Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Menschen geschaffen werden. Dabei geht es besonders auch um mehr Teilzeitarbeitsplätze für Männer. Die Bundesregierung wird sich ferner um eine stärkere Berücksichtigung der besonderen Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer bei der betrieblichen Personalplanung bemühen. Das von diesem Hohen Hause beschlossene neue Betriebsverfassungsgesetz enthält bereits entsprechende Vorschriften.
Im übrigen wird die flexible Altersgrenze auch nicht ohne Auswirkungen und Rückwirkungen im Bereich der betrieblichen Altersversorgung bleiben können. Die Unternehmen und die sonstigen Träger der betrieblichen Altersversorgung werden eine Form zur Angleichung ihrer Regelungen der Altersgrenze an die flexible Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung finden müssen. Nicht zuletzt werden auch Tarif- und Arbeitsverträge, die heute gelegentlich feste Altersgrenzen für das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis vorsehen, der flexiblen Altersgrenze angepaßt werden müssen. Die Vertragsparteien müssen darauf bedacht sein, daß die Vorteile, die dem Arbeitnehmer durch die flexible Altersgrenze gegeben werden, nicht durch arbeitsrechtliche Bestimmungen gemindert oder gar abgeschnitten werden.
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu der gezielten Anhebung von Kleinrenten. Durch die vorgeschlagene „Rente nach Mindesteinkommen" sollen die Nachteile bei der Rentenbemessung, die durch frühere Lohnunterschiede bedingt sind, nachträglich ausgeglichen werden. Voraussetzung dafür sind mindestens 35 Versicherungsjahre und eine persönliche Bemessungsgrundlage von mehr als 40 %. In all diesen Fällen soll der Rentenberechnung künftig ein Arbeitseinkommen in Höhe von 70 % des Durchschnittsentgelts aller Versicherten
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zugrunde gelegt werden. Diese gezielte Rentenaufbesserung kommt allen Rentnern zugute, die früher in ungünstigen Gebieten oder in Wirtschaftszweigen mit niedrigen Löhnen gearbeitet haben. Besonders begünstigt werden auch die Frauen, die früher in einigen Branchen schlechter bezahlt wurden als Männer und die erhebliche Lohnabschläge hinnehmen mußten. Auf Grund der vorgeschlagenen Neuregelung sind Rentenerhöhungen bis zu 75 % möglich. Die geplante Rente nach Mindesteinkommen wird sich auf die Witwenrente positiv auswirken.
Bei der hier vorgeschlagenen Strukturverbesserung sollen lediglich Kleinstrenten nicht berücksichtigt werden, die auf einem Einkommen bis zu 40 % des Durchschnittsentgelts aller Versicherten beruhen. In all diesen Fällen kann davon ausgegangen werden, daß die Rente entweder auf einer Teilzeitbeschäftigung oder einer Nebenversicherung mit niedrigen Beiträgen beruht. Diese Kleinstrenten können daher nicht als Hauptgrundlage des Lebensunterhalts des betreffenden Rentenempfängers angesehen werden. Sie sind vielmehr eine Art Nebeneinkommen, die mit früheren Arbeitseinkommen nicht sehr viel zu tun haben. Eine nachträgliche Lohnkorrektur wäre also hier weder angebracht noch gerechtfertigt.
Die geplante „Rente nach Mindesteinkommen" soll dagegen tatsächliche Lohndiskriminierungen und ungerechtfertigte Lohnunterschiede bei langer Versicherungszeit für die Vergangenheit korrigieren. Als Maßstab ist der gegenwärtige Lohn von ungelernten Arbeitskräften gewählt worden, wie er als Ortslohn für Zwecke der Krankenversicherung und Unfallversicherung festgelegt wird. Das ist der Satz von 70% des Durchschnittsentgelts, der im Gesetzentwurf vorgeschlagen wird. Im Prinzip wird bei der Rente nach Mindesteinkommen an der Bemessung der Rente nach Zahl und Höhe der Beiträge festgehalten. Auch hier soll also nicht an der Rentenformel manipuliert werden.
Mit der Einführung eines „Babyjahres" für rentenversicherte Frauen wird zum erstenmal die Arbeitsleistung der Hausfrau und Mutter und deren volkswirtschaftliche Bedeutung bei der Rente berücksichtigt.
Nach dem bisherigen Recht entstehen der rentenversicherten Frau durch die Geburt eines Kindes häufig Nachteile in ihrem beruflichen Werdegang und damit in ihrem Versicherungsleben. Meistens müssen Mütter nach der Geburt eines Kindes ihre Berufstätigkeit für kürzere oder für längere Zeit aufgeben, um sich der Pflege und Erziehung ihres Kindes zu widmen. Oft führt auch die Geburt eines Kindes für die Mutter zum Verlust des Arbeitsplatzes oder zu Schwierigkeiten bei der beruflichen Wiedereingliederung. Früher war damit sogar regelmäßig der berufliche Aufstieg beendet.
Diese sich aus der Geburt eines Kindes ergebenden Nachteile für die Alterssicherung sollen jetzt im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten ausgeglichen werden. Deshalb sollen alle Frauen, die 1973 oder später in die Rente gehen, für jedes lebend geborene Kind ein zusätzliches Versicherungsjahr angerechnet erhalten. Dieses zusätzliche Jahr soll durch einen Zuschlag zur Rente abgegolten werden. Besonders die versicherten Mütter, die mehrere Kinder geboren haben, erwerben durch diese Neuordnung einen erheblich höheren Rentenanspruch.
Nun zu einem weiteren Schwerpunkt des Rentenreformprogramms der Bundesregierung: die Öffnung der Rentenversicherung für weitere Gesellschaftsgruppen. Der Strukturwandel in der Wirtschaft hat dazu geführt, daß neue Gruppen der sozialen Sicherung bedürfen. Diesem Erfordernis will die Bundesregierung gerecht werden. Niemand soll zum Beitritt in die Rentenversicherung gezwungen, aber auch niemand davon ausgeschlossen werden. Die vorgesehene Öffnung der Rentenversicherung bietet etwa 750 000 Selbständigen, 7 Millionen nicht erwerbstätigen Hausfrauen und nahezu 2 Millionen mithelfenden Familienangehörigen die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung.
Der freiwillig Versicherte soll grundsätzlich einkommensgerechte Beiträge zahlen. Wer kein Einkommen erzielt — das sind in der Regel die Hausfrauen —, kann die Beitragsklasse frei wählen.
Eine regelmäßige Beitragsentrichtung wird nicht verlangt. Sie ist jedoch erforderlich, wenn der freiwillig Versicherte Leistungen wie ein Pflichtversicherter erreichen will. In diesen Fällen müssen regelmäßig einkommensgerechte Beiträge entrichtet werden. Das heißt, es sind mindestens neun Beiträge pro Kalenderjahr zu zahlen.
Um auch älteren Personen noch eine längere Versicherungszeit zu ermöglichen, ist die Nachentrichtung von Beiträgen vorgesehen. Auch den bisherigen Versicherten soll die Nachentrichtung von Beiträgen ermöglicht werden. Sie können dadurch Beitragslücken schließen und ihre Rentenanwartschaft verbessern. Beiträge sollen nachentrichtet werden können für die Zeiten nach Vollendung des 16. Lebensjahres und nach dem 1. Januar 1956.
Der Gesetzentwurf trägt weiterhin der Tatsache Rechnung, daß das bisherige Rentenrecht im Falle der Scheidung oftmals zu sozialen Härten für geschiedene Ehegatten führte. Die im Rentenreformprogramm enthaltenen Vorschriften stellen Übergangsregelungen bis zum Inkrafttreten des im Rahmen der Eherechtsreform vorgesehenen Versorgungsausgleichs dar. Die Grundgedanken des Versorgungsausgleichs werden schon jetzt berücksichtigt. Dazu gehören die Erleichterungen bei den Voraussetzungen für Witwen- und Witwerrenten an geschiedene Ehegatten und das Wiederaufleben von Hinterbliebenenrenten bei Auflösung einer weiteren Ehe. Die übrigen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen, die zur Durchführung und Ergänzung des Versorgungsausgleichs erforderlich sind, werden in den Entwurf eines Zweiten Eherechtsreformgesetzes aufgenommen.
Das vorgesehene „Rentensplitting" bei Ehescheidungen wirkt sich in erster Linie zugunsten der
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Frauen aus. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß auch die anderen Reformvorschläge zum großen Teil Frauen zugute kommen. Das gilt naturgemäß in vollem Umfange für die Einführung eines „Babyjahres". Das gilt aber auch für die Rente nach Mindesteinkommen. Die hier zu erwartenden Rentenerhöhungen kommen zu rund 90 % den Frauen zugute. Auch die Öffnung der Rentenversicherung wirkt sich positiv für Frauen aus. Vor allem die nicht erwerbstätigen Hausfrauen erhalten dadurch erstmalig die Möglichkeit, einen eigenständigen Rentenanspruch zu erwerben.
Neben den fünf Schwerpunkten, die ich Ihnen soeben erläutert habe, enthält das Rentenreformprogramm der Bundesregierung nach eine Reihe weiterer Verbesserungen. Aus Zeitgründen möchte ich hier beispielhaft die folgenden Verbesserungen nennen:
Erstens. Die Voraussetzungen für den Bezug von vorgezogenem Altersruhegeld bei Arbeitslosigkeit werden erleichtert.
Zweitens. Für die Anrechnung von Ersatzzeiten genügt auch künftig die regelmäßige Beitragsentrichtung.
Drittens. Auch die Anrechenbarkeit von Ausfallzeiten erfolgt unter erleichterten Voraussetzungen.
Viertens. Angestellte, die sich von der Versicherungspflicht befreien ließen, erhalten nochmals die Möglichkeit, auf die Befreiung für die Zukunft zu verzichten. Sie können in die Versicherungspflicht zurückkehren.
Fünftens. Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsrenten können bei Rentnern mit mindestens 35 Versicherungsjahren künftig schon mit 63 Jahren in das Altersruhegeld umgewandelt werden. Dadurch kommen die Berufsunfähigkeitsrentner früher in den Genuß weiterer Versicherungsjahre und damit der Vollrente. Das gleiche gilt für die Empfänger einer Erwerbsunfähigkeitsrente, wenn es sich bei der Rente um eine Umstellungsrente handelt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluß möchte ich Ihnen jetzt einige Zahlen nennen, die für die Beurteilung des von mir eingebrachten Gesetzentwurfes und Ihre weiteren Beratungen von erheblicher Bedeutung sind.
Nach dem Rentenanpassungsbericht 1971, auf dessen Zahlenwerk die finanzielle Begründung dieses Gesetzentwurfes beruht, war Ende 1985 eine Rücklage in Höhe von 132 Milliarden DM zu erwarten. Abzüglich der gesetzlich vorgeschriebenen Rücklage in Höhe von drei Monatsausgaben verblieb ein Finanzierungsspielraum von 104 Milliarden DM. Nach der Begründung des hier zur Beratung anstehenden Gesetzentwurfes wären davon 93 Milliarden DM gebunden worden, so daß insgesamt eine Reserve von elf Milliarden DM verblieben wäre.
Am Montag und Dienstag dieser Woche haben die Abstimmungsgespräche über die neuen Vorausschätzungen für den Rentenanpassungsbericht 1972 in meinem Hause stattgefunden. Aufgrund des Ergebnisses dieser Gespräche habe ich eine erste Computerrechnung anstellen lassen. Nach dieser Vorausschätzung wird sich die Rücklage von 132 auf etwa 168 Milliarden DM erhöhen. Abzüglich der gesetzlich vorgeschriebenen drei Monatsausgaben erhöht sich der Finanzierungsspielraum von 104 Milliarden auf 139 Milliarden DM. Gleichzeitig steigen aufgrund der aktualisierten Grundannahmen die Kosten des Rentenreformprogramms von ursprünglich 93 Milliarden auf rund 120 Milliarden DM. Dabei sind die Auswirkungen der Rückzahlung des Krankenversicherungsbeitrages an die Rentner berücksichtigt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die neuen Größenordnungen, die ich Ihnen soeben genannt habe, beweisen erneut, daß das Rentenreformprogramm der Bundesregierung auf einer soliden finanziellen Grundlage steht. Ich hoffe, daß Sie mit mir darin übereinstimmen. Ich bin sicher, daß Sie mir zustimmen werden, wenn ich sage: Diese Rentenreform schafft mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Lande.
Schönen Dank, Herr Bundesminister. Zur Begründung des von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurfs Drucksache VI/2919 hat der Abgeordnete Geiger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Zahl der sozialpolitischen Gesetzentwürfe, die die Opposition gegenwärtig vorlegt, ist nicht gering. Die Opposition wird verstärkt durch ihren verlängerten Arm, den Bundesrat, in dem die CDU/CSU-regierten Länder dem Anschein nach ihr soziales Herz vor allem für die Rentner entdecken. Daß dem nicht so ist, meine Damen und Herren, und daß es sich ganz eindeutig um parteitaktisches Verhalten handelt, kommt nicht nur in der Ablehnung des Städtebauförderungsgesetzes und des verbesserten sozialen Mietrechts,
das gerade für die Rentner von großer Bedeutung ist, zum Ausdruck, sondern vor allem auch in der Ablehnung des Betriebsverfassungsgesetzes. Dadurch, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird möglicherweise verhindert, daß die Millionen Arbeitnehmer unseres Landes
auf Grund des von der sozial-liberalen Koalition nach fast 20 Jahren reformierten Gesetzes eine freie Entfaltungsmöglichkeit erhalten.
Die von der Opposition vorgelegten Sozialgesetze
zeichnen sich zum Teil besonders durch ihre Un-
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praktizierbarkeit und durch ihr unerfüllbares finanzielles Volumen aus.
— Man spürt, Herr Kollege Ruf, so richtig, daß es der Opposition nur darauf ankommt, dieser Regierung Schwierigkeiten zu machen, wenn es sein muß auch auf Kosten der Betroffenen, denen sie angeblich helfen will.
Im Gegensatz zu ,diesem Verhalten der Opposition hat ,der Herr Bundesminister für Arbeit heute einen Gesetzentwurf zur Reform der Rentenversicherung eingebracht, der einen bedeutenden gesellschaftspolitischen Fortschritt, vor allem durch seine Konzeption einer flexiblen Altersgrenze, darstellt.
Zur Ergänzung dazu darf ich für die Koalitionsfraktionen den Koalitionsentwurf eines Gesetzes über die Rückzahlung der einbehaltenen Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner in den Jahren 1968/69 begründen.
Lassen Sie mich zunächst kurz darlegen, wie es überhaupt zu dem Rentnerkrankenversicherungsbeitrag kam.
Die CDU/CSU-Regierung Erhard hinterließ nach ihrem Abgang ein Defizit von 64 Milliarden DM, die im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung ausgeglichen werden mußten. Für dieses Defizit wurden fälschlicherweise auch die sozialen Leistungen verantwortlich gemacht. Bei Einbringung des Gesetzentwurfs führte der damalige Finanzminister, Franz Josef Strauß — der „Hemdsärmelige", wenn Sie es so haben wollen —, u. a. aus:
Gerade durch die Leistungen im Sozialbereich werden für die finanzielle Situation des Bundes wie für unsere Volkswirtschaft größte Probleme aufgeworfen. Der überproportionale Anstieg der Sozialleistungen, die sich in den Haushalten des Bundes niederschlagen, ist seit Jahren Gegenstand besonderer Sorge. Eine immer größere Zahl unseres Sozialprodukts wird durch diese Leistungen in Anspruch genommen. Dieser Anteil hat sich 1967 auf 16,1 % erhöht.
In Wirklichkeit ist dieser Anstieg keine Vergrößerung der sozialen Leistungen, sondern die Folge der Rezession gewesen. Er erschien durch den Rückgang des Sozialprodukts optisch erhöht. Jetzt hat sich der Anteil der Sozialleistungen am Sozialprodukt wieder normalisiert und ist bedeutend zurückgegangen.
Der damalige Bundeskanzler, Kurt Georg Kiesinger — auf den es damals ankam —, hatte die falsche Ideologie geboren, alle müßten Opfer bringen, alle, auch .die Rentner, auch jenes starke Drittel der Rentner, das zu jener Zeit noch eine Rente unter 350 DM hatte. Er beauftragte seinen Arbeitsminister, Hans Katzer, im Bereich der Rentenversicherung im Bundeshaushalt wesentliche Einsparungen zu machen und zu untersuchen, ob diese Einsparungen zur Festsetzung einer nettolohnbezogenen Rente führen könnten. In diesem Zusammenhang hatte die CDU/CSU den Rentnerkrankenversicherungsbeitrag erfunden und sogar 4 O/o für die Rentner als zumutbar angesehen.
In Wirklichkeit war schon der Name falsch. Die Krankenversicherung erhielt diesen Beitrag nicht; er wurde zum Ausgleich des Bundeshaushalts verwendet.
Meine Damen und Herren, nach langen und harten Auseinandersetzungen hatte der Bundestag einen Rentnerkrankenversicherungsbeitrag von 2 % beschlossen. Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion, Professor Schellenberg, führte damals aus: Der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag ist unerfreulich, aber nicht zu umgehen. Im Interesse der Erhaltung der bruttolohnbezogenen Rente, die stark in Gefahr war, stimmten wir Sozialdemokraten dem Gesetzentwurf zu. Mit Ausnahme der Freien Demokraten, was ich heute besonders herausheben will, ist er gemeinsam verabschiedet worden.
Der Sprecher ließ aber keinen Zweifel daran, weder bei der Zustimmung noch später, daß, sobald die finanziellen Verhältnisse wieder gesicherter seien, diese starke Belastung der Rentner — um nicht zu sagen: dieses Unrecht an den Rentnern — wieder beseitigt werden sollte.
Bereits am 17. November 1969, also wenige Wochen nach der Arbeitsaufnahme der sozial-liberalen Regierung, hat diese als einen der ersten Gesetzentwürfe den Gesetzentwurf zur Beseitigung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrags beim Bundesrat eingebracht. Diesem Bestreben setzte die neu installierte CDU/CSU-Opposition harten Widerstand entgegen. Ihr Fraktionsvorsitzender, der heutige Kanzlerkandidat Rainer Candidus Barzel,
sagte schon am folgenden Tag, am 18. November 1969, auf dem CDU-Parteitag in Mainz
— meine Damen und Herren, ich zitiere —:
Der jetzige Vorschlag, den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner wieder zu streichen, zwingt dazu, entweder die Beiträge zu erhöhen oder den Staatszuschuß; die langfristige Konsolidierung der Rentenversicherung ist in Frage gestellt.
Die CDU/CSU-Opposition scheint beim Einbringen all ihrer Gesetzentwürfe diese Mahnung völlig vergessen zu haben, oder, was wahrscheinlich richtiger ist, sie kümmert sich jetzt ohne Regierungsverantwortung nicht mehr um die finanziellen Auswirkungen ihrer Vorlagen.
Seit dem 1. Januar 1970 erhalten die Rentner auf Grund dieser Beschlüsse, denen Sie, obwohl Sie vor-
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her heftigen Widerstand dagegen geleistet hatten, schließlich auch zugestimmt haben, wieder die volle Rente; der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag von 2% wird ihnen nicht mehr abgezogen. Das hat es mit sich gebracht, daß die gesetzlich festgelegte Rentenerhöhung im Jahre 1970 von 5,3 % in Wirklichkeit 7,3% betragen hat. 1972 beträgt die Erhöhung 9,3%, wenn dieses Gesetz beschlossen ist.
Die Folgen der Rezession in den Jahren 1966 und 1967, die uns nahezu 1 Million Arbeitslose gebracht hat und von der manche maßgebenden CDU/CSU- Politiker als von einer gewollten Rezession oder gar von der Gnade der Stunde der Angst gesprochen haben, sind überwunden. Im Gegensatz zu dieser Politik der heutigen Opposition hat die Politik der Vollbeschäftigung der sozial-liberalen Koalition nicht nur die Angst und Unfreiheit der abhängig beschäftigten Menschen beseitigt, sondern auch die Finanzen der Rentenversicherung sich wieder konsolidieren lassen.
Die Koalitionsfraktionen legen deshalb den Gesetzentwurf mit dem Ziel vor, den für die Jahre 1968 und 1969 einbehaltenen Rentnerkrankenversicherungsbeitrag an die Rentner wieder zurückzuzahlen. Bei der finanziellen Entwicklung der Rentenversicherung halten wir es mit unserem Koalitionspartner für eine moralische Pflicht gegenüber den Rentnern,
diese Rentenkürzungen rückgängig zu machen. Daß dabei natürlich auch die Preisentwicklung, die sich für die Rentner relativ stark auswirkt, unser Handeln bestimmt, braucht nicht verhehlt zu werden. Der Preisentwicklung — darauf möchte ich aufmerksam machen — sind wir allerdings auch schon mit einer Reihe anderer Maßnahmen begegnet. Ich nenne hier insbesondere die Miet- und Lastenbeihilfe, die gerade für die Rentner, sowohl was die Beihilfen als auch die Anspruchsvoraussetzungen betrifft, eine bedeutende Verbesserung gebracht hat. Ich nenne weiter die Verbesserung des sozialen Mietrechts und nicht zuletzt die bedeutenden Verbesserungen im Rahmen der sozialen Krankenversicherung.
Wir legen Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Drucksache VI/2919 den Gesetzentwurf zur Rückzahlung dieses restlichen Beitrags vor. Dieser Gesetzentwurf erfüllt unser Anliegen. Zu den technischen Voraussetzungen darf ich noch einige Ausführungen machen.
Erstens. Das Verfahren selbst, den Rentnerkrankenversicherungsbeitrag für die Jahre 1968/69 zurückzuzahlen, ist einfach und belastet die Verwaltung nicht. Sowohl die Berechnung als auch die Auszahlung können durch die Bundespost vorgenommen werden. Die Nachzahlung kann mit der Rente für April 1972 ausgezahlt werden.
— Wenn das eine entsprechende Nebenwirkung hätte, Herr Kollege Ruf, wäre ich der letzte, der darüber böse wäre.
Es wäre längst schon Zeit gewesen. Seien Sie aber auch nicht böse darüber, daß wir hier aus einer langjährigen Praxis der heutigen Opposition gelernt haben, jener Opposition, die als Regierungspartei ihre sozialpolitischen Entscheidungen immer nur unter dem Druck der SPD-Fraktionen und von Bundestagswahlen getroffen hat.
Das sollten wir nicht vergessen.
Herr Kollege Geiger, es wird immer schwieriger, dem Hause begreiflich zu machen, daß während der Begründung keine Zwischenfragen gestellt werden dürfen.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Begründung und Debatte voneinander trennten.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, für den Hinweis! Ich will es versuchen und will mich bemühen.
Der Grundsatz des Gesetzes ist, daß die Beiträge, die für die Jahre 1968 und 1969 einbehalten worden sind, zurückgezahlt werden.
Zweitens. Die Höhe der Zahlung beträgt 40 v. H. der April-Rente für alle jene, die im Monat April 1972 eine Rente erhalten, und zwar ohne Kinderzuschlag, wenn die Rente im Jahre 1968 oder früher begonnen hat.
Drittens. Bei Witwen, Witwern und Waisen gilt die gleiche Voraussetzung, wenn die Rente im Jahre 1968 oder früher begonnen hat.
Viertens. Die Höhe der Zahlung beträgt 20 v. H. der Aprilrente 1972, wenn die Rente im Jahre 1969 begonnen hat und wenn ihr die entsprechenden Jahre als Bemessungsgrundlage zugrunde gelegt worden sind.
Fünftens. Bei Witwen und Waisen gilt hier ebenfalls die gleiche Voraussetzung, wenn die Rente im Jahre 1969 begonnen hat und wenn auch hier die entsprechenden Bemessungsgrundlagen und Jahre zugrunde gelegt worden sind.
Sechstens. Nicht bei allen Knappschaftsrentenarten werden Rückzahlungen vorgenommen.
Siebentens. Die Beiträge werden unabhängig vom Monat, von dem ab die Rente gewährt wurde, jeweils für das ganze Jahr pauschaliert gezahlt.
Achtens ist eine absolute Anrechnungsfreiheit festgelegt. Damit wird verhindert, daß — wie das
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Geiger
in Sozialgesetzen vielfach der Fall ist — die eine Hand etwas gibt, was die andere mehr oder weniger verschämt oder manches Mal gar unverschämt wieder zurücknimmt. Die ausgezahlten Beträge werden deshalb nicht auf Sozialleistungen angerechnet, deren Gewährung oder deren Höhe von anderen Einkommen abhängig ist.
Die Beträge, die die Rentner zurückgezahlt erhalten, belaufen sich bei der Arbeiterrentenversicherung auf 738 Millionen DM, bei der Angestelltenversicherung auf 429 Millionen DM und bei der knappschaftlichen Rentenversicherung auf 169 Millionen DM, insgesamt also auf 1336 Millionen DM. Die Kosten werden von den Rentenversicherungsträgern aufgebracht. Sie sind bei ihrer gegenwärtigen Finanzlage dazu auch imstande.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedet ist und den Rentnern der Krankenversicherungsbeitrag, der für sie in der Rezession eine starke Belastung darstellte, die eigentlich keine Begründung hatte, zurückgezahlt worden ist, dann ist auch den Rentnern gegenüber wieder ein Stück Gerechtigkeit durchgeführt worden, ein Stück der Gerechtigkeit, die in einer Reihe anderer sozialpolitischer Gesetzgebungsakte eingeleitet worden ist. Ich habe einige davon schon genannt. Wenn dieses Gesetz zusammen mit dem anderen heute vorgelegten und begründeten Gesetzentwurf gesehen wird, ist man damit auch ein Stück weitergekommen auf dem Wege zum Ziel einer sozialeren Gerechtigkeit mit Hilfe der Reform der sozialen Rentenversicherung. Ich bin fest überzeugt, daß dieses Gesetz bei ernsthafter Prüfung so angenommen werden kann und dann auch eine entsprechende Auswirkung hat.
Ich freue mich, daß die Koalitionsfraktionen diesen Gesetzentwurf gemeinsam einbringen konnten. Es ist außerordentlich anerkennenswert, daß die FDP, die schon damals der Einführung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner widersprochen hat, heute mit uns diesen Gesetzentwurf vorlegt. Ich bitte Sie, auch bei der Behandlung im Ausschuß diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, beide Gesetzentwürfe sind begründet. Wir kommen zur Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller . Für ihn sind 45 Minuten beantragt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche heute im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an Stelle meines Freundes Hans Katzer, der wegen einer Erkrankung, die Folge einer Kriegsverletzung ist, heute nicht anwesend sein kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein weiterer Schritt in dem breiten und vielfältigen Bemühen verantwortlicher politischer Kräfte um den Ausbau und die Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Bundesregierung hat verschiedene zur Lösung anstehende Fragen in einem Gesetzentwurf zusammengefaßt. Daß dieser Gesetzentwurf nicht alle aktuellen Fragen der Rentenversicherung behandelt, zeigt die erstaunliche Tatsache, daß die Fraktionen von SPD und FDP während des laufenden parlamentarischen Verfahrens einen zusätzlichen Gesetzentwurf eingebracht haben, der heute ebenfalls zur Debatte steht.
— Ich komme gleich darauf zurück, Herr Kollege Schellenberg.
Ich weise in diesem Zusammenhang ferner auf den Bericht der Bundesregierung zur Frage der Rentenversicherung vom 31. August 1970 hin. In diesem Bericht sind nicht weniger als 130 Wünsche zur Änderung unseres Rentenversicherungsrechtes enthalten. Das ist ein eigenartiges Verfahren, daß die Bundesregierung mit Ausnahme der fünf Punkte ihres Gesetzentwurfs keinen dieser 130 Vorschläge aufgegriffen hat. Sind Härten etwa weniger änderungsbedürftig, wenn sie nur eine kleine Personenzahl treffen? Es wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen, auf der Grundlage des Härteberichts in Gesetzesform eine Änderung derjenigen Punkte vorzuschlagen, die vordringlich revisionsbedürftig und finanziell vertretbar sind.
— Eine derartige Detailarbeit ist eigentlich nicht Aufgabe des Parlaments.
Da die Bundesregierung hier gepaßt hat, Herr Kollege Schellenberg, wird sich nun der federführende Ausschuß dieser Aufgabe dennoch unterziehen müssen. Wir werden dafür sorgen, daß in den zu verabschiedenden Gesetzen die dringendsten Härten berücksichtigt werden. Eine gerechte Bewertung der Zeiten von Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft nenne ich dabei an vorderster Stelle.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Punkte, in denen das grundsätzliche Wollen der drei Parteien in die gleiche Richtung geht. Diese Punkte bieten sich von vornherein für eine gegenseitige Verständigung an. Ich erwähne hier zunächst die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat hierzu im Frühjahr dieses Jahres einen wohlüberlegten Gesetzentwurf eingebracht, der auch bereits in erster Lesung in diesem Hause behandelt wurde. Dieser Gesetzentwurf hat auf populäre Effekthascherei verzichtet und den Selbständigen deutlich gesagt, daß eine angemessene Rente nur bei der Zahlung einkommensgerechter Beiträge erwartet werden kann.
Wir vermerken mit Genugtuung, daß sich in diesem
Punkte die ursprünglichen Vorstellungen des Bun-
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Müller
desarbeitsministers in Richtung auf unser Konzept verändert haben.
Ich bin zuversichtlich, daß der jetzt vorliegende Kenntnisstand der Regierung noch nicht das letzte Wort verantwortlicher Sozialpolitiker sein wird. Die Bundesregierung sollte es begrüßen, daß sich die Opposition gerade diesen Punkt nicht leicht gemacht und darauf verzichtet hat, einen Vorschlag zu bringen, der niemandem wehtut, aber dann auch keine ausreichende Sicherung enthält. Wir haben beispielsweise Fragen der Alterssicherung der älteren Selbständigen angepackt, die im Entwurf der Bundesregierung praktisch überhaupt nicht gelöst werden.
Übereinstimmung sollte sich im weiteren Verlauf der Beratungen auch erzielen lassen über eine gezielte Verbesserung bei bisher benachteiligten Kleinrentnern. Auch dazu haben wir diesem Haus einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Anhebung unterbezahlter Zeiten vorsieht. Daß die CDU/CSU diesen Weg beschreiten will, war seit der Klausurtagung der Sozialpolitiker meiner Fraktion im Januar 1970 bekannt. Hans Katzer hat unseren Gesetzentwurf bereits bei der ersten Debatte über die inneren Reformen im März dieses Jahres angekündigt. Ein Gesamtkonzept der SPD-Bundestagsfraktion ebenfalls vom März 1971 enthält dagegen für Kleinrentner nichts. Ich sage das hier deshalb, weil der Herr Bundesarbeitsminister vor kurzem an dieser Stelle höchst überflüssige und unzutreffende Bemerkungen über die Urheberfrage gemacht hat.
Das mußte zurechtgerückt werden. Im übrigen aber sollten wir die Debatte nach vorne führen, wobei die in vielem besseren Regelungen des Gesetzentwurfes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in die Diskussion einbezogen werden müssen. Mein Fraktionskollege Geisenhofer wird dazu im einzelnen Stellung nehmen.
Keine Lösung enthält der Regierungsentwurf für die anstehenden Probleme der sozialen Sicherung der Frau. Statt echter Reform werden hier von der Regierung Hoffnungen erweckt, die sich nicht erfüllen werden.
Wie in der Vergangenheit, so muß auch in der Zukunft Nüchternheit und Wahrheit der Regierenden bei der Sicherung des Alters Fundament des Handelns sein.
Der Regierungsentwurf beschränkt sich unter dem hochtrabenden Titel „Öffnung der Rentenversicherung für Frauen" auf eine Erleichterung der freiwilligen Weiterversicherung. Eine solche freiwillige Weiterversicherung ist bisher erst nach einer Pflichtversicherungszeit von fünf Jahren möglich.
— Wir stimmen dieser Erweiterung der Zugangsmöglichkeiten, Herr Kollege Schellenberg, zur freiwilligen Weiterversicherung der Frauen zu.
— Herr Kollege Schellenberg, wir können Ihnen doch nicht die ganze Arbeit abnehmen!
Aber natürlich, meine Damen und Herren, ist damit keine eigenständige Alterssicherung der Hausfrau geschaffen.
Denn welcher Familienhaushalt kann die notwendigen Beiträge, die ja für die Frau zusätzlich gezahlt werden müssen, abzweigen?
So wird diese Möglichkeit wohl nur von Familien genutzt werden können, bei denen der Ehemann ein hohes Einkommen hat.
Ich halte es, um vor Hoffnungen, die enttäuscht werden müßten, zu warnen, einfach für meine Pflicht, hier klar zu sagen, daß die Vorstellungen der Bundesregierung nicht die Hausfrauenrente enthalten.
Bei erwerbstätigen Frauen ist eine gezielte Anhebung niedriger Renten besonders wichtig. Aber gerade die wird durch den Regierungsentwurf nicht bewirkt, weil diese die Anhebung von Kleinrenten nur bei einer Versicherungszeit von mindestens 35 Jahren vorsieht. Wie sich aber aus den eigenen Angaben der Bundesregierung ergibt, beträgt die durchschnittliche Versicherungszeit bei Frauen weniger als 30 Jahre. Gerade den Frauen mit niedrigen Renten bringt daher der Regierungsentwurf keine gezielte Verbesserung.
Ebensowenig wie das Problem der Hausfrauenrente packt die Bundesregierung die Fragen der Witwenrente an. Es erreicht uns eine zunehmende Zahl von Briefen, in denen Witwen darüber Klage führen, daß sie nur 60 % der Rente ihres Ehemannes erhalten, während der überlebende Ehemann seine Rente zu 100 % weitergezahlt bekommt. Diese Frauen machen mit Recht darauf aufmerksam, daß der größte Teil der Kosten des gemeinsamen Haushalts auch nach dem Tode des Ehemannes weiter anfällt. Läge hier nicht ein Feld für echte Reformen?
Meine Fraktionskollegin Frau Kalinke wird auf diese Fragen und auch auf die Vorschläge für geschiedene Frauen sowie auf das von der Bundesregierung vorgeschlagene „Babyjahr" — im übrigen ein grauenhaftes Wort —
im Verlaufe der Debatte noch eingehen.
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Müller
Meine Damen und Herren, wenn ich bisher auf diejenigen Punkte eingegangen bin, bei denen wir zwar in vielen Einzelfragen unterschiedlicher Meinung sind, bei denen sich aber doch im Grundsatz gemeinsame Ziele der drei Parteien feststellen lassen, so komme ich nunmehr zum Hauptpunkt der Kritik meiner Fraktion an den beiden heute vorliegenden Gesetzentwürfen: Beide Entwürfe bringen keine Anhebung des Rentenniveaus.
Es war der große Gedanke der Rentenreform von 1957 — eines Resetzgebungswerkes übrigens, das den Namen „Reform" zu Recht trägt —,
daß die Inaktiven im gleichen Verhältnis wie die aktiv Erwerbstätigen am Produktivitätszuwachs unserer Wirtschaft teilhaben sollten. Auf die Verwirklichung dieses Gedankens können wir auch heute noch stolz sein. Noch heute ist die deutsche Rentenversicherung in diesem Punkte vorbildlich in der ganzen Welt.
Daß es gelungen ist, den Gedanken der anteiligen Teilhabe der Inaktiven in einer Zeit zu verwirklichen, in der jede Mark für den Wiederaufbau Deutschlands gebraucht wurde, kennzeichnet auch die Behauptung, die Nachkriegsgeschichte Deutschlands sei durch Gewinnstreben und Profitsucht charakterisiert, als inhaltloses Geschwätz.
Noch bei der Verabschiedung des Dritten Rentenversicherungsänderungsgesetzes am Ende der fünften Legislaturperiode haben alle drei Fraktionen dieses Hauses ein Rentenniveau von mindestens 50 % als angemessen bejaht. Von diesem Niveau sind wir heute weiter entfernt als je zuvor seit der Rentenreform.
Mit rund 41 % hat das Rentenniveau einen bisher nicht gekannten Tiefstand erreicht.
Hans Katzer hat das zutreffend so ausgedrückt, daß die Renten noch niemals im Vergleich zu den Einkommen der Erwerbstätigen so niedrig waren wie heute.
Trotz formelbedingter höherer Rentensteigerungen in den Jahren ab 1973 wird das Rentenniveau auf Dauer erheblich unter jenen 50 % bleiben,
die die CDU/CSU und vor zwei Jahren auch noch die SPD und die FDP für notwendig hielten.
Auch wenn die beiden Regierungsparteien dies nicht
gern hören, muß im Interesse der betroffenen Rentner hier und heute auf die außerordentliche Belastung der Rentner durch die exorbitanten Preissteigerungen aufmerksam gemacht werden.
Meine Fraktion hat, meine Damen und Herren, nicht Hunderte, sondern Tausende von Briefen erhalten, in denen erschütternde Rechnungen über die Schwierigkeiten in Rentnerhaushalten aufgemacht werden, die durch die Kostensteigerungen — angefangen vom Heizmaterial über Brot, Gebäck und andere Grundnahrungsmittel bis zu den Kleidungsstücken — verursacht sind.
Die Rentner haben nicht die Möglichkeit, ihre Forderungen durch Kampf durchzusetzen, wie das bei den aktiv Erwerbstätigen möglich ist. Sie brauchen aber eine Stimme, und diese Stimme wird die der CDU/CSU sein, die sich zum Anwalt der gerechten Forderungen der Rentner macht.
Wir lassen uns auch hiervon nicht abbringen.
Es ist mir eine Genugtuung, daß unser dauerndes Drängen auf Wiederanhebung des Rentenniveaus bei den Regierungsparteien nunmehr nach den Kleinrentnern einen weiteren Einbruch erzielt hat, der in ihrem Entwurf zur Rückzahlung der Krankenkassenbeiträge zum Ausdruck kommt, die die Rentner im Jahre 1968 und 1969 geleistet haben. Denn natürlich ist der Anknüpfungspunkt für die vorgesehene Einmalzahlung willkürlich und wird im Gesetzentwurf auch keineswegs strikt eingehalten. Im Interesse der Rentner begrüßt meine Fraktion diese Maßnahme trotz aller Ungereimtheiten, die in ihr stecken und auf die mein Fraktionskollege Kurt Härzschel noch eingehen wird.
In diesem Zusammenhang nur noch ein Wort der Klarstellung: In der letzten Debatte ist im Zusammenhang mit dem Krankenversicherungsbeitrag der Rentner das böse Wort vom „Katzer-Beitrag" gefallen. Ich möchte hier und heute feststellen, daß die Einführung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages einstimmig vom Kabinett der Großen Koalition beschlossen worden ist.
Man könnte deswegen genauso gut von einem „Brandt-Beitrag" oder entsprechend der Intensität des Drängens auf Kürzung der Bundeszuschüsse von einem „Schiller-Beitrag" sprechen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte mein Konzept gern geschlossen vortragen, wie das der Herr Bundesarbeitsminister auch getan hat.
— Das ist letzten Endes meine Entscheidung, Herr Kollege Nölling.
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Wenn wir in der von Ihnen beliebten Terminologie bleiben wollen, dann könnte man den Monat, um den seit dem gleichen Zeitpunkt jeder Erstrentner seine Rente einen Monat später erhält, als „Schellenberg-Monat" bezeichnen.
Ich meine, daß eine Partei, die Regierungsverantwortung getragen hat,
sich zu den damals getroffenen Maßnahmen, auch wenn sie nicht populär, aber im Interesse des Ganzen notwendig waren, bekennen sollte.
Es geht einfach nicht an, daß das Erfolgreiche und Angenehme der Großen Koalition von den Sozialdemokraten allein reklamiert wird, während das Harte und Unbequeme allein der CDU/CSU in die Schuhe geschoben wird.
Hier gilt es, ein Stück Glaubwürdigkeit im Interesse aller demokratischen Parteien zu bewahren; denn wenn einige Dinge so weitergehen, wie sie sich zu Beginn dieses Winters abzeichnen, könnte es sehr schnell sein, daß Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Führungsqualitäten der demokratischen Parteien zu einer existenzentscheidenden Hoffnung für unser Gemeinwesen werden.
Der von den Koalitionsparteien vorgesehene Einmalbetrag bringt natürlich keine auf Dauer wirksame Anhebung des Rentenniveaus. Wir sind der Meinung, hier müssen ständig fortwirkende Maßnahmen getroffen werden.
Daß diese Maßnahmen möglich sind, zeigt die Finanzentwicklung der Rentenversicherung. Die von der Regierung im Bericht zum Vierzehnten Rentenanpassungsgesetz vorausgeschätzten 137 Milliarden DM im Jahre 1985 treffen heute nicht mehr zu. Werden die Annahmen der Bundesregierung — Herr Bundesminister Arendt hat eben zwar andere Ausführungen gemacht — über die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung zugrunde gelegt, wie sie im Sommer dieses Jahres von der Bundesregierung benutzt wurden, ergäbe sich ein Betrag von rund 200 Milliarden DM. Nie ist gesagt worden, daß die CDU/CSU sich diese Annahme zu eigen macht. Wir haben auf die Konsequenzen hingewiesen, wenn eine solche Entwicklung eintreten würde.
Allen Vorausschätzungen gegenüber ist ein gewisses Maß gesunder Skepsis notwendig.
— Ja, auf Grund der mittelfristigen wirtschaftlichen Entwicklung ist dieser Betrag von 200 Milliarden DM genannt worden.
Bei allen Überlegungen über die Veränderung des Leistungsrechtes sollte daher eine erhebliche Sicherheitsreserve einkalkuliert werden.
Die Bundesregierung will ihre wirtschaftlichen Annahmen korrigieren. Herr Kollege Arendt hat heute morgen von vorerst 168 Milliarden DM gesprochen. Er hat gesagt, daß der Computer das als erstes ausgespuckt hat. Ich wäre froh, wenn es gelingen könnte, den Streit um die Zahlen aus der Debatte herauszuhalten; denn das Abstimmungsgespräch zwischen dem Bundesarbeitsministerium und dem Planungsstab meiner Fraktion ist ja aufgenommen worden, und die Gespräche sollen, sobald das Arbeitsministerium die noch fehlenden Unterlagen nachgereicht hat, fortgesetzt werden.
Wir verkennen auch nicht die Schwierigkeit, daß die Bundesregierung in Anbetracht der unsicheren wirtschaftlichen Verhältnisse von Monat zu Monat ihre Annahmen ändern muß. Trotzdem muß erreicht werden, daß bald neue Vorausschätzungen auf dem Tisch liegen, damit die Rentenversicherung solide weiterentwickelt werden kann. Dann werden wir ja sehen, wie viele Milliarden an Überschüssen der Rentenversicherung zur Verfügung stehen. Bis dahin sollten wir abwarten.
Aber eine Feststellung ist sicher schon heute gerechtfertigt: Diese Überschüsse sind kein Ergebnis des Zufalls, sie sind die unmittelbare Folge, ja, man kann sagen, das Spiegelbild des abgesunkenen Rentenniveaus.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung spricht daher in seinem Jahresgutachten 1971 von einem Nachholanspruch der Rentner. Mit Recht stellt der Sachverständigenrat fest, die geltende Rentenformel beruhe auf der Annahme, daß das Preisniveau stabil bleibt oder daß es zumindest keine Beschleunigung einer schleichenden Geldentwertung gibt. Mahnend ruft der Sachverständigenrat der Bundesregierung zu, daß es sich bei den Überschüssen der Rentenversicherung um Beträge handelt, deren Realwert den Rentnern vorenthalten wird.
Namens meiner Fraktion trete ich dieser Feststellung in vollem Umfang bei.
Es folgt daraus, daß das Gros der Finanzmasse der Rentenversicherung den Rentnern selbst zugute kommen muß. Wir halten daran fest, daß die Wiederanhebung des Rentenniveaus vordringlich ist. Denn es geht nicht an, neue Maßnahmen zu realisieren und gleichzeitig die Rentenreform zu ruinieren.
Damit, meine Damen und Herren, beziehe ich keine Gegenposition zur Einführung einer flexiblen Altersgrenze. Namens meiner Fraktion erkläre ich, daß wir die Einführung einer flexiblen Altersgrenze
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Müller
für ein berechtigtes sozialpolitisches Anliegen halten, das noch in dieser Legislaturperiode gesetzgeberisch verankert werden muß.
Entgegen dem Regierungsentwurf, der die flexible Altersgrenze ausschließlich mit dem individuell unterschiedlich verlaufenden Alterungsprozeß begründet, sehen wir zwei berechtigte Motive, die für die Einführung einer flexiblen Altersgrenze sprechen.
Einmal: Es häufen sich die Fälle stark sinkender Arbeits- und Leistungsfähigkeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres, mag diese geringere Leistungsfähigkeit in der persönlichen Konstitution des einzelnen Arbeitnehmers oder in der starken Belastung durch den Arbeitsprozeß oder in seinem Schicksal begründet liegen.
Das andere Motiv ist die individuelle Wahlfreiheit in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wer vom Selbstbestimmungsrecht des Menschen ausgeht — und das tun wir —, wird auch dieses Motiv bejahen. Denn der einzelne soll seinen Lebensabend in Rüstigkeit begehen können.
Beide Motive werden bei einer befriedigenden Regelung zu berücksichtigen sein, wobei zu sehen ist, daß sich manche Fragen nur bei einem Motiv, andere beim anderen stellen. So wird etwa die Frage der Weiterarbeit für diejenigen, die in ihrer Leistungsfähigkeit bereits behindert sind, eine geringere Rolle spielen. Auch die sehr wichtige Frage einer Öffnung der Altersgrenze nach oben, die zu einer flexiblen Altersgrenze mit dazugehört, wird nur für Personen eine Rolle spielen, deren Kräfte noch nicht in starkem Umfang nachgelassen haben.
Eine Lösung der Probleme des Übergangs von der Erwerbstätigkeit zum Ruhestand wird sich nicht auf die Einführung einer flexiblen Altersgrenze beschränken dürfen. Sie muß von den Bedürfnissen des einzelnen Menschen ausgehen. Meine Fraktion hat dazu vor kurzem ein Hearing mit Sachverständigen veranstaltet, das uns sehr interessante Erkenntnisse vermittelt hat. Nur ein in sich geschlossenes Programm für den älteren Arbeitnehmer wird eine flexible Altersgrenze wirklich zum Nutzen des betroffenen Personenkreises werden lassen.
Nur allzu leicht wird eine isolierte Einführung der flexiblen Altersgrenze dazu führen, daß ältere Arbeitnehmer im Zeichen des Rückgangs der Konjunktur von ihren Arbeitsplätzen verdrängt werden.
Dies würde ich allerdings als das Gegenteil einer menschengerechten Sozialpolitik bezeichnen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird ihre Vorstellungen über die Einführung einer flexiblen Altersgrenze gesetzesreif präzisieren, sobald die berichtigten Vorausberechnungen der Bundesregierung über den finanziellen Spielraum innerhalb der Rentenversicherung vorliegen. Die Berücksichtigung des Finanzrahmens zwingt nicht — das haben unsere bisherigen Untersuchungen ergeben — zur schematischen Übernahme eines der in der Diskussion befindlichen Modelle. Wir werden im Rahmen der zur Verfügung stehenden Finanzmasse eine Lösung vorschlagen, die den Bedürfnissen beider Gruppen unseres Volkes, nämlich der Rentner und der jetzt noch Aktiven, gerecht wird. Wer wie die Bundesregierung das Gros der vorhandenen Finanzmasse den Rentnern vorenthält — um nochmals mit dem Sachverständigenrat zu sprechen —, setzt den Akzent einseitig und damit sozial ungerecht.
Meine Damen und Herren, damit würde auch unter Umständen die Gefahr eines Generationenkonflikts innerhalb unserer Bevölkerung heraufbeschworen. Es muß klar festgestellt werden, daß der Regierungsentwurf den Großteil der Rentner leer ausgehen läßt,
um etwa 224 000 Personen von den 1,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 63 und 65 Jahren in einer besonders kostspieligen Form die Möglichkeit zu geben, früher eine Rente erhalten zu können. Hier sind die Proportionen falsch verteilt. Ich werfe der Bundesregierung vor, daß sie die Anhebung des Rentenniveaus und die Einführung einer flexiblen Altersgrenze als einander ausschließende Maßnahmen konzipiert hat. Diese einseitige Betrachtungsweise ist falsch; beide Maßnahmen sind miteinander kombinierbar.
Sie werden die Zustimmung der CDU/CSU in den parlamentarischen Gremien nur für ein Gesetzeswerk erhalten, das sowohl die berechtigten Ansprüche der Erwerbstätigen als auch die der Rentner berücksichtigt. Die Ausschließlichkeit Ihres Vorschlages ist falsch, die Kombinationsmöglichkeit ist richtig und möglich. Das ist unsere Auffassung; dafür setzen wir uns ein.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schellenberg.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion bedauert außerordentlich, daß Herr Kollege Katzer erkrankt ist und an der heutigen Debatte nicht teilnehmen kann.
Wir wünschen ihm von Herzen baldige Genesung. Aber der Tatbestand, daß Herr Kollege Katzer sich — wenn ich richtig gezählt habe — in den letzten sechs Monaten allein elfmal im Pressedienst seiner Partei zu Rentenfragen geäußert hat, nötigt uns natürlich, auch heute Herrn Katzer zu zitieren.
— Sie stellen sich darauf ein.
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40 Minuten Redezeit sind beantragt.
Der Tag, an dem dieses Haus die erste Beratung des von der sozial-liberalen Koalition vorgelegten Rentenreformgesetzes durchführt, ist ein guter Tag in der Geschichte unserer Rentenversicherung.
Daran können auch die kritischen Bemerkungen von Herrn Kollegen Müller nichts ändern.
Erstens. Die CDU/CSU behauptet, und Herr Kollege Müller hat das hier wiederholt
— das kommt alles —: Das Rentenniveau sei mit 41 % noch nie so niedrig gewesen wie heute und werde auch in den nächsten Jahren außergewöhnlich niedrig bleiben.
Diese Behauptung ist aus zwei Gründen falsch. Einmal vergleicht die CDU/CSU, weil es ihr aus politisch-taktischen Gründen, um zu einem niedrigen Renteniveau zu kommen, sinnvoll erscheint, die Renten mit den Bruttolöhnen. Renten sind jedoch Nettoeinkommen. Rentner zahlen nur selten Steuern. Herr Katzer hatte einmal einen Plan, die Renten zu versteuern. Die Rentner zahlen auch keine Sozialversicherungsbeiträge. Deshalb ist es eine Irreführung der Öffentlichkeit, die Renten als Nettoeinkünfte zu den Bruttoverdiensten der Arbeitnehmer in Beziehung zu setzen.
Auch Herr Professor Schreiber, den die CDU/CSU gern als den geistigen Vater der Rentenreform bezeichnet,
weist solche Vergleichspraktiken als abwegig zurück. Ich zitiere Herrn Schreiber. „Es ist also irreführend, das Rentenniveau ,am Verhältnis zwischen Rentenhöhe ... und Bruttoeinkommen zu messen."
Zum anderen ist idle Behauptung vom niedrigen Rentenniveau deshalb irreführend, weil die CDU aus politisch-taktischen Gründen ferner unterstellt, daß ein volles Arbeitsleben lediglich 40 Jahre umfaßt. Bei einem Vergleich zwischen Arbeitsverdienst und Rentenhöhe muß bezüglich der Renten von den gesetzlichen Vorschriften der Reichsversicherungsordnung und der anderen Rentenversicherungsgesetze ausgegangen werden.
Daraus ergibt sich, daß bei Versicherungspflicht ein
volles Arbeitsleben 49 Jahre beträgt, denn neben
den Beitragsjahren werden auch Zeiten der Ausbildung, der Krankheit, des Kriegsdienstes usw. als Versicherungsjahre angerechnet.
Unter Berücksichtigung dieser gesetzlichen Vorschriften
ergibt ein Vergleich bei einem vollen Arbeitsleben
mit den Nettoarbeitsverdiensten bei Verwendung aller amtlichen Unterlagen, und zwar des neuesten Zahlenmaterials, folgendes Bild: In den Jahren 1971 und 1972 beträgt die Rente 66,5 bzw. 66 % des Nettoverdienstes eines vergleichbaren Arbeitnehmers.
Dieses gegenwärtige Rentenniveau ist trotz — —
— Für diejenigen, die von Beginn ihres Arbeitslebens an Pflichtversicherte waren.
Für diejenigen, die früher selbständig waren, werden wir jetzt eine gesetzliche Regelung schaffen.
Herr Kollege Schellenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?
Ja, bitte!
Herr Kollege Schellenberg, würden Sie mir zustimmen, daß Sie einmal netto und einmal brutto beziehen, wie es Ihnen paßt?
Zweitens: Sie werden doch sicherlich mit mir darin übereinstimmen, daß Nettoeinkommen nicht gleich Nettoeinkommen ist, weil dies je nach Familienstand unterschiedlich ist. Man kann also einheitlich nur vom Bruttoeinkommen als einheitlicher Bezugsgröße ausgehen.
Herr Kollege Müller, um Sie zu unterrichten, worum es geht:
Bezüglich der Gestaltung der Rentenformel waren
und sind wir immer diejenigen, die für die volle
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Dr. Schellenberg
bruttolohnbezogene Rente in diesem Hause gekämpft haben, auch gegen Sie von der CDU/CSU.
Aber wenn man Renten mit Arbeitsverdienst vergleicht, dann muß man Gleichartiges vergleichen.
Darauf kommt es an, nämlich: die Rente als ein Nettoeinkommen mit dem Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers zu vergleichen.
Herr Kollege Schellenberg, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — Nicht.
Ach, Herr Kollege Müller, Ihre Fragen, die kenne ich schon aus dem Ausschuß.
— Nein, Herr Kollege Müller, Ihre letzte Frage traf nicht den Kern der Sache. Wer sich als Fragesteller zum Kern der Sache meldet, dem will ich gern Fragen beantworten.
Das gegenwärtige Rentenniveau — darauf kommt es politisch an — ist trotz der zur Zeit relativ niedrigen Anpassungssätze höher als in den Jahren 1962, 1963, 1964, 1965. Trotz dieser Fakten hat die CDU/CSU in diesen Jahren 1962 bis 1965 niemals von einem zu niedrigen Rentenniveau gesprochen; da war sie nämlich führende Regierungspartei.
— Auf die Preissteigerungen komme ich auch noch zu sprechen.
Im Jahre 1973 werden für den Bestand — für den Neuzugang schon ab 1. Januar 1972 — die Auswirkungen der Rezession überwunden sein. Dann werden die Renten bei vollem Arbeitsleben 68,4 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsverdienstes betragen. Das Rentenniveau ist dann höher als in den 8 von den insgesamt 16 Jahren seit der Rentenreform.
Von 1974 an wird sich die hohe Lohnentwicklung der letzten Jahre in der Höhe der Rente widerspiegeln.
Bis zum Jahre 1975 steigt das Rentenniveau weiter. Es wird dann 1975 einen absoluten Rekord in der Geschichte der deutschen Rentenversicherung erreichen, nämlich 75,5 %.
— Wenn Sie wollen, können wir noch heute nachmittag im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, bei dem diese Gesetze zur Klärung darüber, welche Sachverständigen wir hören, auf der Tagesordnung stehen, dieses Zahlenmaterial beraten. Dann werden Sie endlich mal lernen, wie die Tatsachen sind, und nicht die Öffentlichkeit durch falsche Unterrichtung irreführen.
Angesichts dieser Tatsachen ist es bedauerlich,
wenn die CDU behauptet, das Rentenniveau sei auf den tiefsten Stand seit der Rentenreform abgesunken.
Ich bedaure insbesondere, daß Herr Kollege Müller diese Redensart übernommen hat.
Die CDU/CSU stellt hier falsche Behauptungen auf, um ein politisches Geschäft mit der Angst vor einem ungesicherten Alter zu machen.
— Meine Damen und Herren, damit wir uns völlig klar sind, will ich eine deutliche Aussage machen: Da nach Überwindung der Rezessionsfolgen das Rentenniveau,
das durch die Rentenreform erstrebte Ziel nicht nur erreicht, sondern sogar übersteigt, gibt es keinen überzeugenden Grund für eine allgemeine Erhöhung des Rentenniveaus. Vorhandene Überschüsse müssen vielmehr für gezielte Leistungsverbesserungen im Dienste größerer sozialer Gerechtigkeit verwandt werden.
Zweitens. Das Gerede der CDU vom angeblich besonders niedrigen Rentenniveau ist auch aus einem anderen Grunde unglaubwürdig.
Der einzige umfassende Eingriff in das Rentenniveau
seit Errichtung der Bundesrepublik war die Ein-
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Dr. Schellenberg
führung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrags, der eine Rentenkürzung auf Dauer sein sollte.
Nun hat sich Herr Kollege Müller dagegen gewandt, daß man diesen Beitrag „Katzer-Beitrag" nennt.
Ich will Ihnen die Begründung geben. Bevor das Kabinett zum erstenmal das Thema Rentnerkrankenversicherungsbeitrag überhaupt erwogen und erörtert hat, hat Herr Katzer auf der Tagung der Sozialausschüsse am 9. Juli 1967 — das findet sich in den sogenannten Offenburger Beschlüssen wieder — erklärt: Die Leistung eines Beitrags der Rentner an die Krankenversicherung ist zumutbar.
Das war der Beginn des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages.
Nachdem das Kabinett den Rentnerkrankenversicherungsbeitrag beschlossen hatte, hat Herr Katzer erklärt — im Westdeutschen Rundfunk —: Ein Beitrag von 4 % ist eine zumutbare Belastung.
Herr Katzer stellt sich heute als Anwalt der Kleinrentner hin.
— Jawohl, wir haben das mitgemacht.
Wir Sozialdemokraten haben damals der Einführung des auf 2 % reduzierten Rentnerkrankenversicherungsbeitrags notgedrungen zugestimmt,
um die Voraussetzungen zur Überwindung der Finanzkrise des Bundes und der Rentenversicherung zu schaffen.
Meine Damen und Herren, gegen den sehr starken und dann allmählich schwächer werdenden Widerstand der CDU/CSU
hat die sozial-liberale Koalition als eine ihrer ersten gesetzlichen Maßnahmen mit Wirkung vom 1. Januar 1970 den Beitrag der Rentner zur Krankenversicherung wieder abgeschafft und damit die volle bruttolohnbezogene Rente wiederhergestellt.
— Über den Monat des Rentenbeginns können wir bei der Beratung des Rentenberichts sprechen. Darin ist nämlich dieser Monat als einer der Punkte enthalten. Wir sind selbstverständlich bereit, darüber zu sprechen.
Gleichzeitig mit dem Konzept der Bundesregierung, das der Herr Bundesarbeitsminister heute so überzeugend vorgetragen hat
— jawohl, und der Minister hat schon viele Monate dafür politisch gewirkt —, beraten wir den Entwurf der sozial-liberalen Koalition über die Rückzahlung der 1968 und 1969 vorgenommenen Rentenkürzung. Das ist konsequent.
Herr Kollege Katzer hat zur Rückzahlung ein sehr böses Wort gesprochen.
Er hat von einem Inflationszuschlag gesprochen.
Damit wollte er über die grundsätzliche Bedeutung dieser Rückzahlung hinwegtäuschen.
Die nachträgliche Wiedergutmachung des Unrechts der Rentenkürzung ist ein Bekenntnis der sozialliberalen Koalition zur vollen bruttolohnbezogenen Rente für die Vergangenheit, für die Gegenwart und für die Zukunft.
Ein dritter Punkt. Gewiß gibt es gegenwärtig eine unerfreuliche Spannung zwischen der Entwicklung der Lebenshaltungskosten
und dem relativ niedrigen Anpassungssatz der Renten. Das ist eine Spätfolge der von der CDU/CSU verursachten Rezession.
Sosehr wir das bedauern,
über eines muß man sich doch im klaren sein. Hören Sie einmal gut zu, Herr Müller, damit Sie etwas lernen.
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Bei lohnbezogener Rente läßt sich nämlich die Spannung zwischen Anpassungssatz und Lebenshaltungskostenindex grundsätzlich nicht vermeiden,
denn sie liegt im Konjunkturablauf begründet.
Das beweist die Unfallversicherung, in der wir den kürzestmöglichen Anpassungszeitraum haben. Hier betrug — um Ihnen ein Beispiel zu nennen — der Anpassungssatz im Jahr 1969 nur 3,3 %, während der Preisindex für die Lebenshaltungskosten der Rentner im gleichen Jahr erheblich höher war. Deshalb bringt der CDU/CSU-Vorschlag, den Anpassungszeitraum um ein halbes Jahr zu verkürzen, keine Lösung des Problems, obwohl dieser Vorschlag außerordentlich hohe Mittel beansprucht.
Meine Damen und Herren, die Spannung — um es ganz deutlich zu sagen — zwischen Preissteigerungsrate und Anpassungssatz ließe sich theoretisch nur durch eine sogenannte Preisindexrente beseitigen.
— Herr Müller, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen gut aufpassen, damit Sie etwas lernen.
Eine Preisindexrate würde bedeuten, daß die Rentner nur einen Ausgleich für die jeweiligen Preissteigerungen erhielten, aber am Produktivitätszuwachs unserer Wirtschaft keinen Anteil hätten. Dann würde der Lebensstandard der Rentner im Vergleich zu dem der Aktiven jährlich absinken. Das wollen wir nicht. Deshalb halten wir unbedingt am Grundsatz der bruttolohnbezogenen Rente fest.
— Bitte schön, Herr Kollege Müller!
Herr Kollege Schellenberg, wenn Sie mir vorwerfen bzw. sagen, ich müßte noch etwas lernen, dann haben Sie in den letzten 20 Jahren sicherlich sehr viel gelernt. Denken Sie an die VAB Berlin.
Herr Kollege Müller, wenn Sie daran erinnern, so kann ich nur sagen: Ich bin glücklich,
daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einer Öffnung der Rentenversicherung für weitere Gruppen, die wir in Berlin durchgeführt haben, führt. Ich bin weiter froh, daß in ihm auch den Grundsätzen der flexiblen Altersgrenze, die wir beispielsweise in unserem Volksversicherungsplan verkündet haben, Rechnung getragen wird und daß, wie wir es ebenfalls in unserem Volksversicherungsplan verkündet haben, ein Mindesteinkommen der Rentner jetzt gesichert werden soll.
Herr Kollege Schellenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann?
Ja, Herr Kollege Varelmann, natürlich!
Herr Kollege Professor Schellenberg, bei der Rentenreform war Ihre Hauptkritik auf die Findung der allgemeinen Bemessungsgrundlage, auf den Abstand der Rentenleistungen zu den Löhnen gerichtet. Halten Sie das, was Sie damals gesagt haben, aufrecht, oder haben Sie das gänzlich über Bord geworfen?
Herr Kollege Varelmann, ich muß Ihnen sagen, daß die grundsätzliche Entscheidung über die Rentenformel bei der Rentenreform im Jahre 1957 getroffen worden ist. Damals wurde ein Generationenvertrag geschlossen, und zwar durch die Form der nachholenden Anpassung. Wenn man jetzt diesen Generationenvertrag ändern und den Anpassungszeitraum der Rentenversicherung so gestalten würde wie den in der Unfallversicherung, so käme man zu einem Mehraufwand — über den Daumen gerechnet — von 150 Milliarden DM. Das würde jede Weiterentwicklung der Rentenversicherung unmöglich machen.
Deshalb bekennen wir uns zu den gemeinsam befaßten Beschlüssen der Rentenreform 1957.
Wir lassen daran nichts ändern. Eine Änderung war aber die Kürzung durch den Rentnerkrankenversicherungsbeitrag, den wir jetzt beseitigen wollen, damit wieder der Grundsatz der Rentenreform voll hergestellt ist.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann?
Herr Professor, wäre es aber nicht angebracht, diesen Abstand wenigstens um ein Jahr zu verkürzen? Oder müssen Sie zugeben, daß sich die Politiker der SPD 1957 in ihren Argumenten gänzlich geirrt haben?
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Herr Kollege Varelmann, wovon Sie sprechen, ist eine Frage des Rentenniveaus. Zum Rentenniveau habe ich am Anfang deutlich erklärt, daß wir nach Überwindung der Rezession ein Rentenniveau in einer Höhe erreichen werden, wie sie noch nie in der Geschichte der Rentenversicherung bestanden hat.
Viertens. Der Herr Bundesarbeitsminister hat heute dankenswerterweise vorgetragen, daß für die Rentenversicherung nicht unerhebliche Überschüsse zu erwarten sind. Herr Kollege Katzer hat erklärt und Herr Kollege Müller hat es das muß ich sehr bedauern — heute wiederholt, daß es sich bei diesen Überschüssen um Einsparungen zu Lasten der Rentner handelt.
— Ich komme sofort darauf. Diese Auffassung ist falsch, auch wenn sie von Wissenschaftlern im neuesten Gutachten des Sachverständigenrats vertreten wird. Daß sozialpolitische Fakten selbst hochangesehenen Wirtschaftswissenschaftlern nicht immer gegenwärtig sind, kommt leider gelegentlich vor.
Wenn aber Herr Katzer als früherer Arbeitsminister — er kennt natürlich die sozialpolitischen Zusammenhänge ganz genau - dennoch behauptet, es würden zig Millionen DM
zu Lasten der Rentner eingespart, so ist das — entschuldigen Sie das harte Wort, das ich in seiner Abwesenheit sagen muß — eine Aussage wider besseres Wissen. Herr Katzer hat den hohen Erkenntnisstand über die sozialpolitischen Zusammenhänge.
Ich möchte nur an eine Tatsache erinnern. Als damaliger Arbeitsminister hat Herr Katzer am 3. September 1966 dem Bundestag den Entwurf eines Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vorgelegt. In diesem Entwurf hat Herr Katzer eine Erhöhung des Beitragssatzes auf 15 % und von 1970 an auf 16 % vorgeschlagen. Wie es in der Begründung dieses Gesetzentwurfs hieß, sollten diese Beitragssätze der mittelfristigen Vorausschau dienen. Der Gesetzgeber hat jedoch unter dem Eindruck der Rezession wesentlich höhere Beitragssätze beschlossen.
Allein auf Grund dieser Entscheidung des Gesetzgebers werden in dem 15jährigen Vorausberechnungszeitraum, den das Gesetz vorschreibt, die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung um 60 Milliarden DM höher sein, als es sich auf Grund der von Herrn Katzer damals vorgeschlagenen Beitragssätze ergeben würde. Wäre der Gesetzgeber damals Herrn Katzer gefolgt, gäbe es heute faktisch keinen oder nur einen sehr geringen finanziellen Spielraum für weitere Reformmaßnahmen. Das weiß natürlich
Herr Katzer, und deshalb bin ich ihm so böse, daß er immer wieder von den x Milliarden spricht, die zu Lasten der Rentner eingespart würden.
Ich muß Herrn Katzer deshalb kritisieren und angreifen, weil er mit seinen Behauptungen das Vertrauen in unsere Rentenversicherung beeinträchtigt und die Rentner gegen die aktiv Tätigen ausspielt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ruf?
Ja, gern!
Herr Kollege Schellenberg, können Sie sich nicht entsinnen, daß der von Ihnen erwähnte Katzer-Entwurf, wie Sie ihn nennen, zum Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz ein ganzes Jahr in unserem Ausschuß liegengeblieben ist und deshalb nicht behandelt werden konnte, weil wir zunächst einmal auf neue Vorausschätzungen warten mußten? Auf Grund dieser neuen Vorausschätzungen haben wir dann bei der Schlußberatung des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes die Beitragssätze auf 17 und 18 % erhöht.
Herr Kollege Ruf, das ist richtig.
Aber die volle Wahrheit ist, daß Herr Kollege Katzer dem Bundestag Beitragssätze von 15 und 16 % mit der Begründung: „mittelfristige Vorausschau" vorgelegt hat. Wir sind dann unter dem Eindruck der Rezession bei der Erhöhung der Beitragssätze erheblich über die von der damaligen Bundesregierung vorgeschlagenen Sätze hinausgegangen.
Der Vermögenszuwachs, meine Damen und Herren — und darauf kommt es an —, ergibt sich durch jene selbstverständlich richtige Entscheidung des Hauses, höhere Beitragssätze festzusetzen, und nicht dadurch, daß den Rentnern etwas vorenthalten wird.
Herr Kollege Schellenberg, gestatten Sie eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Ruf?
Ja, bitte.
Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, Herr Kollege Schellenberg. Trifft es zu, daß wir im Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz den Beitragssatz auf 18 % ab 1. Januar 1973 festgesetzt haben, um dadurch wieder ein Rentenniveau von annähernd 501% zu erreichen, und haben
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Ruf
die Zahlen, die uns damals zur Verfügung standen, nicht bereits ergeben, daß mit diesen 18 % ein Rentenniveau von 48,7 % im Jahre 1970 und von 49,4 % in den Jahren von 1977 bis 1985 erreicht werden soll? Das alles können Sie in dem von Ihnen selber erstatteten Bericht des Ausschusses nachlesen.
Herr Kollege Ruf, ich weiß noch viel mehr, denn ich habe — das war meine damalige Aufgabe als Sprecher einer Regierungspartei — viele Gespräche unter vier Augen mit Herrn Kollgen Katzer über die weitere Beitragsfestsetzung geführt. Ich darf Ihnen, ohne die Vertraulichkeit zu brechen, sagen, daß ich gegen den Satz von 18 % war. Herr Katzer war dafür.
Dann haben wir einen Kompromiß geschlossen. Ich habe das Gespräch beendet und gesagt: Wenn die Beitragseinnahmen stärker als vorgesehen steigen, werden wir ein finanzielles Polster haben, um die Rentenversicherung weiterzuentwickeln. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.
Herr Kollege Schellenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?
Ich möchte jetzt fortfahren.
— Herr Kollege Burgbacher, selbstverständlich. Frau Kollegin Kalinke kann mir heute noch den ganzen Nachmittag im Ausschuß Fragen stellen.
Also, bitte, Herr Kollege Burgbacher.
Zunächst vielen Dank, Herr Schellenberg. — Habe ich Sie richtig verstanden, daß also ohne die sogenannten Katzerschen Beitragserhöhungen der von Ihnen so kühn und stolz für 1975 genannte Satz von 75,5 % Rente nicht möglich wäre?
Herr Kollege Burgbacher, Sie haben mich völlig richtig verstanden. Es ist in der Tat so, daß sich die höheren Überschüsse der Rentenversicherung wesentlich aus Beitragserhöhungen ergeben, die wir sehr vorsichtig unter dem Eindruck der Rezession festgesetzt haben. Das ist der Tatbestand.
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Kalinke?
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen mehr beantworten.
Fünftens. Herr Kollege Katzer hat - jetzt muß ich ihn leider wieder zitieren, obwohl er nicht anwesend ist; Herr Müller hat es mit anderen Worten nicht so ganz hart, aber dem Inhalt nach ebenfalls gesagt, die den Rentnern — ich muß hinzufügen: angeblich — vorenthaltenen Milliarden würden von der Bundesregierung anderweitig verplant. Damit behauptet Herr Katzer, um es deutlich zu sagen, gleichzeitig, die Versicherten würden die von der Bundesregierung vorgesehene Leistungsverbesserung zu Unrecht erhalten.
— Wenn man sagt: Hier werden x Milliarden den Rentnern vorenthalten, die verplant die Bundesregierung anders, dann ist das nichts anderes als eine Behauptung!
— Das ist der Tatbestand.
Meine Damen und Herren, die hohen Beiträge der Versicherten stellen die Finanzierung der bruttolohnbezogenen Rente sicher. Die Behauptung über die angeblich vorenthaltenen und anderweitig verplanten Milliarden macht es erforderlich, daß ich auf einige Fakten verweise.
Die Höhe der bruttolohnbezogenen Rente ist völlig unabhängig davon, welchen Beitragssatz der Rentner in seinem früheren Arbeitsleben entrichtet hat. Rentner, die bis 1949 beispielsweise einen Beitragssatz von nur 5,6 % zu zahlen hatten, sind gegenüber den Versicherten von heute, die mit 17 % mehr als den dreifachen Lohnanteil als Beitrag an die Rentenversicherung abzuführen haben, in keiner Weise benachteiligt. Das ergibt sich aus unserem System der bruttolohnbezogenen Rente und ist politisch so gewollt.
Bei den Überschüssen der Rentenversicherung handelt es sich — das hat der Herr Bundesarbeitsminister erklärt, und das möchte ich unterstreichen
— vorwiegend um Mittel, die erst noch in der Zukunft von den Versicherten erarbeitet und durch hohe Beitragssätze, ab 1. Januar 1973 sogar noch höhere Beitragssätze, aufgebracht werden müssen. Wer behauptet, das seien Einsparungen zu Lasten der Rentner, der treibt ein gefährliches Spiel mit der Solidarität der Aktiven, auf der unsere bruttolohnbezogene Rente beruht.
Deshalb ist es politisch erforderlich, bei der Verwendung der Mittel der Rentnerversicherung die sozialen Interessen sowohl der Rentner als auch der Versicherten in ausgewogener Weise zu wahren. Der Vorwurf der CDU/CSU, x Milliarden würden den
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Dr. Schellenberg
Rentnern vorenthalten und für andere Zwecke, nämlich für die Beitragszahler von heute, verplant, untergräbt die Solidarität zwischen den Generationen, die das Fundament unserer Rentenversicherung ist.
Sechstens. Meine Damen und Herren, wenn die CDU/CSU heute am Regierungsentwurf der Rentenreform herumnörgelt, so will sie nur davon ablenken, daß ihr ein eigenes Rentenreformkonzept fehlt. Das, was die CDU/CSU in vier verschiedenen Einzelgesetzen vorgelegt hat, ist sozialpolitisch unausgegoren und entspricht nicht den Anforderungen, die an eine Reform der Rentenreform gestellt werden müssen. Bei der Mindestrente öffnet die CDU/ CSU dem Mißbrauch Tür und Tor. Die älteren Arbeitnehmer hat die CDU bei ihren Gesetzentwürfen vergessen.
Was Herr Kollege Müller hier gesagt hat, war nur eine unverbindliche Mitteilung, aber nicht die Einbringung eines Gesetzentwurfs, den wir jetzt zu beraten hätten. Bei den Frauen hat die CDU/CSU an zusätzlicher sozialer Sicherung nichts zu bieten. Bei der Öffnung der Renten für Selbständige verkennt die CDU/CSU die Bedingungen der selbständigen Existenz. Die Notwendigkeit individueller Beratung für Versicherte und Rentner hat die CDU/CSU überhaupt nicht erkannt.
Zudem ist das, was die CDU/CSU bisher vorgelegt hat, finanziell unsolide.
Nachdem der CDU/CSU am 22. Oktober nachgewiesen wurde, daß sie 25 Milliarden DM mehr verplanen will, als an Reserven verfügbar sind, verfiel sie auf den Hochrechnungstrick. Sie verkündigte nämlich der erstaunten Öffentlichkeit, daß nunmehr bis 1985 200 Milliarden DM zur Verfügung stehen. Damit hat sie bei den Rentnern Hoffnungen erweckt, die unerfüllbar sind.
Meine Damen und Herren, der CDU-200-MilliardenRausch wird bald verfliegen.
Der Herr Bundesarbeitsminister wird uns genaues Zahlenmaterial vorlegen; dann werden wir es sorgfältig prüfen.
Wenn Kollege Müller hier gefordert hat, die Zahlen sollten schnell auf den Tisch, dann muß ich Sie, Herr Kollege Müller, an die gesetzlichen Vorschriften erinnern. Wir haben doch vorgeschrieben: Die Bundesregierung hat uns jährlich am 31. März einen Rentenanpassungsbericht vorzulegen. Er muß abgestimmtes Zahlenmaterial enthalten. Es ist doch ein gemeinsamer Erfolg, daß nicht mehr allein Zahlenmaterial des Bundesarbeitsministeriums vorgelegt wird, sondern Zahlenmaterial, das mit dem Bundesrechnungshof, mit der Bundesbank, mit dem Statistischen Bundesamt und mit den Rentenversicherungsträgern voll abgestimmt ist. Da kann man nicht, wenn man gerade Laune hat, erklären: Jetzt soll die Regierung mal schnell Zahlen vorlegen! Was wir wollen, sind solide langfristige finanzielle Grundlagen
und nicht Dinge, die nur einer kurzfristigen Effekthascherei dienen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Varelmann?
Ja.
Herr Kollege Schellenberg, ist es nicht bedrückend, wenn es um das Schicksal der wirtschaftlich schwächeren Rentner geht, daß in diesen Fällen kein Geld da ist, während man in anderen Fällen sehr großzügig auch in der Rentenversicherung wirtschaftet?
Aber lieber Herr Kollege Varelmann, ich muß Sie wirklich sehr dringend bitten, den Gesetzentwurf der Bundsregierung über die Mindestrenten gründlich zu studieren. Ich weiß, daß Ihnen die Rentner mit kleinen Renten sehr am Herzen liegen, uns allen! Aber Voraussetzung für die Mindestrente ist, daß sie langfristig gearbeitet haben. Das gehört nämlich auch zur Solidargemeinschaft. Für die sozial-liberale Koalition gilt der Grundsatz der unbedingten Solidität der Rentenverversicherung. Das sind wir den Rentnern, aber auch den Versicherten als Beitragszahlern schuldig.
Siebtens. Meine Damen und Herren, es ist ein großes Verdienst, daß die Bundesregierung gestützt auf solide Finanzgrundlagen ein wohlausgewogenes Gesamtkonzept zur Reform der Rentenversicherung vorlegt. Es geht darum, unsere Rentenversicherung so weiterzuentwickeln, daß sie immer mehr den Erfordernissen sozialer Gerechtigkeit entspricht. Wir begrüßen den Entwurf der Bundesregierung, weil er die soziale Sicherung verbessert für die Rentner, für die Versicherten und für alle diejenigen, denen bisher der Schutz der sozialen Sicherung vorenthalten wurde.
Ich fasse unsere Stellungnahme zum Regierungsentwurf zusammen. Wir begrüßen erstens die Einführung einer Mindestrente. Dadurch wird den Menschen, die trotz eines langen Arbeitslebens wegen
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Dr. Schellenberg
zu niedrigerer Löhne heute eine zu niedrige Rente haben, gezielt geholfen.
Wir begrüßen zweitens den Übergang zur flexiblen Altersgrenze. Mit ihr wird dem Lebensschicksal älterer Arbeitnehmer am Ende ihres Erwerbslebens Rechnung getragen. Im Interesse der persönlichen Gestaltungsfreiheit des einzelnen sollte — da ergibt sich vielleicht eine Gemeinsamkeit im Hause — die starre Grenze nicht nur nach unten, sondern auch im gleichen Ausmaße nach oben überwunden werden.
Wer aus persönlichen Gründen nach Erreichen der allgemeinen Altersgrenze von 65 Jahren seinen Rentenanspruch nicht geltend macht und bis zu zwei Jahre lang mit Beitragszahlung weiterarbeitet, sollte nach Ansicht der Koalitionsparteien eine entsprechend höhere Rente erhalten.
Wir begrüßen drittens die soziale Sicherung der Frau, die Öffnung der Rentenversicherung für alle Hausfrauen, die Zuerkennung eines Babyjahres an alle versicherten Frauen und die Verbesserung der sozialen Sicherung für geschiedene Frauen, weil dies richtungweisende Schritte zu größerer sozialer Gerechtigkeit sind.
Wir begrüßen viertens die Öffnung der Rentenversicherung, die auch den Selbständigen und den mithelfenden Familienangehörigen endlich den Aufbau einer sozialen Sicherung ermöglicht. Die Koalitionsparteien werden im Gesetzgebungsverfahren prüfen, in welcher Weise älteren Selbständigen gezielt die Nachversicherung erleichtert werden kann.
Wir sind befriedigt darüber, daß die Bundesregierung zur Erarbeitung konkreter Vorschläge in dieser Frage einen interministeriellen Ausschuß eingesetzt hat.
Wir begrüßen fünftens, daß den vielen Millionen Versicherten und Rentnern ein Recht auf individuelle Beratung in ihren Rentenangelegenheiten gegeben werden soll. Selbstverständlich kann eine solche für die Versicherungsträger verwaltungstechnisch schwierige Aufgabe nur schrittweise verwirklicht werden. Die Koalitionsparteien werden im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens unter Beteiligung von Sachverständigen der Rentenversicherungsträger prüfen, wie sich die wertvollen Ansätze des Regierungsentwurfs noch weiter verbessern lassen.
Wir begrüßen sechstens, daß die Bundesregierung den angeforderten Rentenbericht besonders sorgfältig erarbeitet hat. Jetzt ist die Zeit gekommen, um auf Grund dieses Berichtes im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten zu entscheiden, welche Unzulänglichkeiten, die trotz des Reformentwurfs der Bundesregierung noch bleiben, beseitigt werden können.
Die Rentenreform der Bundesregierung der sozialliberalen Koalition ist ein großes gesellschaftspolitisches Konzept. Wenn die CDU/CSU, deren Vorsitzender Barzel kürzlich vom „Ruin der Rentenreform" sprach, derartige Ausdrücke gebraucht, beweist sie damit nur, wie wenig sie von der historischen Bedeutung dieser Reform für die soziale Sicherung in unserem Lande begriffen hat.
Vizepräsident Frau Funckes Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist in dieser Debatte bereits deutlich geworden, daß es auf zwei wesentliche Grundtatsachen zurückgeht, daß wir überhaupt die Chance haben, über so weitgehende Verbesserungen, wie sie in den vorliegenden Gesetzentwürfen vorgesehen sind, und über die vielfältigen, bezüglich der Kosten noch viel weitergehenden Stellungnahmen des Bundesrates heute hier und in den nächsten Wochen im Ausschuß diskutieren zu können, nämlich auf die Grundtatsache, daß wir uns in einer Stunde der Not in diesem Parlament in allen drei Fraktionen gemeinsam zusammengerauft und Beschlüsse gefaßt haben, die diesen finanziellen Spielraum heute überhaupt ermöglichen: einmal dadurch, daß wir in den leidvollen Stunden ernüchternder Erkenntnis beschlossen haben, ab 1973 den Versicherten eine Beitragserhöhung auf 180/0 zuzumuten, und zum zweiten dadurch, daß wir uns in dieser Stunde der Erkenntnis und der Lohnsituation der Finanzlage der Rentenversicherungsträger dahin gehend entschieden haben, daß das bis dahin gültige Pflichtrücklagesoll von Rentenausgaben von zwölf auf drei Monate reduziert wurde.
Ohne diese beiden Beschlüsse gäbe es kaum finanziellen Spielraum für Verbesserungswünsche, die seit allen Jahren und in allen drei Fraktionen vorhanden waren, die man zwar diskutieren konnte, für die aber kein finanzieller Spielraum vorhanden wäre. Der finanzielle Spielraum ist jetzt gegeben. Wir sollten uns nunmehr, da wir sehen, daß sich die Finanzlage der Rentenversicherungsträger wieder besser darstellt als in den Jahren 1966, 1967 und 1968, auch dahin gehend einigen können, zu versuchen, das Notwendige und finanziell Mögliche in sachlicher Diskussion miteinander auszuhandeln und Gesetz werden zu lassen.
Ich erwähne das vorweg, weil die Finanzlage der Rentenversicherung keineswegs so phantastisch ist, wie das die Zahlenspiele mit 100 und mehr Milliarden DM Reserven, ja sogar mit den 200 Milliarden DM Vermögen — das muß man ja auch immer wieder unterscheiden —, die wir gar nicht haben, sondern vielleicht einmal theoretisch haben könnten, wie das die Riesenzahlen, die gar nicht so groß sind, vermuten lassen. Ich schicke das voraus, um deutlich zu machen: Was wir in der Rentendiskussion brauchen, ist sehr viel Nüchternheit für das, was sozial erstrebenswert und finanziell möglich ist.
Wir brauchen mehr Wahrheit und Klarheit gegenüber den 10 Millionen Rentnern, aber auch gegenüber den 22 Millionen Beitragszahlern. Wir brau-
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Spitzmüller
chen das Denken und Handeln in gesamtsozialen und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen, und wir brauchen den Mut — hier braucht ihn insbesondere die CDU/CSU —, von unerfüllbaren Vorstellungen, wie sie den Rentnern von der CDU/CSU seit 1957 bis zur Stunde vorgemacht wurden, abzurücken. Wir brauchen mehr Sachlichkeit in der sozialpolitischen Auseinandersetzung. Wer nämlich aus parteipolitischen Erwägungen fortwährend Gefühle hochputscht, dient weder den Rentnern noch den Beitragszahlern.
Ich bin der Meinung, wir sollten aufhören, irgendwelche Vorstellungen, ob sie verwirklicht worden sind oder nicht in der Vergangenheit, mit Attributen wie „Katzer-Beitrag" oder „Schellenberg-Monat" oder mit ähnlichem zu belegen. Denn als Sozialpolitiker müssen wir uns immer Gedanken machen, was sinnvoll sein könnte. Wenn man einen Gedanken veröffentlicht, kann sich in der Diskussion ergeben, daß er falsch gewesen ist. Aber es ist doch richtig, wenn wir uns Gedanken machen. Es ist auch richtig, daß man, wenn sich solche Gedanken im nachhinein als falsch herausstellen, auch den Mut und die Energie aufbringt, sich von den falschen Vorstellungen zu lösen.
Was wir Freien Demokraten erstreben und was im Vorschlag der Bundesregierung und im Initiativ-entwurf der Koalitionsfraktionen, der hier auf dem Tisch liegt, enthalten ist, ist einmal, daß das allgemeine Zugangsrecht für Selbständige und Hausfrauen eröffnet wird, das die CDU/CSU im Jahre 1957 nach meiner Meinung in totaler Verkennung des sozialpolitisch Erforderlichen mit ihrer absoluten Mehrheit beseitigt hat. Ich nenne hierzu nur das Stichwort „Öffnung der Rentenversicherung".
Nach unserer Meinung wäre eine Sozialpolitik, die die gesetzliche oder die private Vorsorge einseitig bevorzugt oder benachteiligt, falsch. Unser Ziel ist es, mehr Freiheit in der Form der Vorsorge nach beiden Seiten hin zu ermöglichen.
Wir streben die Garantie eines Mindestrenteneinkommens für diejenigen an, die nach dem geltenden Recht von 1957 trotz jahrzehntelanger Berufstätigkeit und Beitragsleistung nur kleine Renten erhalten. Ich nenne hier das Stichwort „Mindestrenten". Leider müssen wir eine solche Regelung einführen, weil sich die Hoffnungen der CDU, daß es im weiteren Verlauf der Rentengesetzgebung des Jahres 1957 keine Kleinstrenten mehr geben würde, nicht erfüllt haben.
Wir streben auch in der Gestaltung des Lebensabends mehr Freiheit für den einzelnen an und mehr finanzielle Anerkennung, wenn er ohne Rentenbezug weiterarbeitet. Ich nenne das Stichwort „flexible Altersgrenze nach unten und oben". Über das letztere wird im Ausschuß noch eingehend zu beraten sein.
Wir meinen, daß wir mehr Rücksicht auf die Kriegsgeneration zu nehmen haben, vor allem auf diejenigen, die bisher von der Anerkennung des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft als Ersatzzeiten mehr oder weniger ausgeschlossen sind, weil sie die Stichtagsvoraussetzungen nicht erfüllen. Hier kommt es darauf an, eine der sozialen Hypotheken des Krieges zu tilgen und den Strukturwandlungen Rechnung zu tragen.
Wir erstreben eine Stärkung der gesellschaftlichen und sozialen Stellung der Frau entsprechend den liberalen Gleichheitsgrundsätzen des Grundgesetzes, der Rechtsprechung der obersten Gerichte und den Empfehlungen der Sozialenquete-Kommission. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Stichworte Baby-Jahr und Rentensplitting analog zum Splitting im Steuerrecht und zum Zugewinn im Familien- und Erbrecht.
Das, meine Damen und Herren, ist der Katalog der Vorschläge, der das geltende Rentenrecht in wesentlichen Teilen reformieren will. Es wird dabei lebensnah gestaltet. Für uns Freie Demokraten versteht es sich von selbst, daß dabei auch die Stellungnahmen des Bundesrates in die Diskussionen des Ausschusses einbezogen werden müssen.
Wir müssen klar erkennen, daß die Reform von 1957 mit sehr viel Ideologie und sehr vielen Grundvorstellungen belastet war, was den praktischen Erfordernissen nicht ausreichend entsprach. Die CDU/CSU hat damals mit ihrer absoluten Mehrheit die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung für Selbständige beseitigt, auch für Hausfrauen. Diese Fehlentscheidung beruhte auf einer Fehleinschätzung des strukturellen und sozialen Wandels der Gesellschaft. Die sozial-liberale Koalition wird diese Fehlentscheidung korrigieren. Die CDU hat damals behauptet; die Renten würden bei einer langen Versicherungsdauer so hoch, daß kein Sockelbetrag mehr erforderlich sei. Daher könne man bei einer sogenannten beitragsgerechten Rente, von der man damals noch sprach, auf einen solchen Sockelbetrag verzichten. Diese Auffassung hat sich leider als fataler Irrtum erwiesen. Daher müssen wir bestimmte Änderungen zugunsten der Rentner im Rahmen der Mindestrenten schaffen. Kriegsdienst und Gefangenschaft haben nicht nur entscheidenden Einfluß auf den Lebensweg ,des einzelnen Betroffenen ausgeübt, sondern ihre Konsequenzen auch für die Höhe des Rentenanspruches gehabt. Das geltende Recht sieht die Berücksichtigung dieser Zeiten nicht für jeden Versicherten ganz oder teilweise vor. Auch hier müssen wir für die bisher Benachteiligten entscheidende Korrekturen vornehmen. Neben der Korrektur der Entscheidung des Jahres 1957 gilt es, neuen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen.
Zu der Kriegsgeneration noch eines, meine Damen und Herren von [der CDU/CSU. Gerade Sie, Herr Ruf, der Sie so vor mir sitzen, werden sich erinnern, daß wir Freien Demokraten im Jahre 1965 über diese Fragen mit Ihnen sehr gerungen haben, weil wir der Meinung waren, daß jeder, der einen langen Zeitraum der Versichertengemeinschaft angehört, einen Anspruch darauf haben sollte, daß die Wehrdienst- und Kriegsgefangenenzeiten als Ersatzzeiten angerechnet werden. Sie waren damals bei der Stichtagsvoraussetzung nur bereit, von 24 Monaten ,auf 36 Monate zu gehen. Wir freuen uns,
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Spitzmüller
daß Sie nun bereit sind, von Ihrer damaligen Haltung abzugehen, und stellen damit auch eine heilsame Wirkung fest, die Sie aus der Oppositionsrolle in dieser Frage erhalten haben.
Eine weitere Korrektur sind die flexible Altersgrenze und die Fragen der sozialen und rechtlichen Stellung der Frau in unserer Gesellschaft. Wir haben den Eindruck, daß zu diesen beiden Punkten innerhalb der CDU zwar in etwa ein Klärungsprozeß im Gange ist, aber eine eindeutige Bejahung, in welcher Form dies vorgenommen werden soll, noch nicht ganz deutlich geworden ist. Die Vorschläge der CDU/CSU, über die wir schon bei anderer Gelegenheit sprachen, lassen vermuten, daß es der CDU vordergründig nicht um eine Beseitigung von Härten und eine zeitgemäße Änderung des Systems geht, sondern zunächst ganz prinzipiell um eine allgemeine Anpassung und um eine allgemeine Erhöhung des Rentenniveaus.
Meine Damen und Herren, man kann aus der jeweiligen politischen Einstellung heraus das eine oder andere vertreten. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition: wer so tut, als sei beides in einem sinnvollen und wirksamen Rahmen finanzpolitisch möglich, macht nicht nur den Rentnern und den Beitragszahlern, sondern auch sich selbst etwas vor. Von daher bedauere ich, daß eigentlich so wenig Kollegen der Opposition aus dem Wirtschaftsausschuß und aus dem Finanzausschuß hier sind. Daß die Kollegen aus dem Haushaltsausschuß nicht hier sein können, versteht sich von selbst, da diese schwere Arbeitstage haben.
Aber wer das Rentenniveau wie die CDU anheben will und dann noch alle möglichen Verbesserungen daraufpacken will, schafft das nicht nur, indem er den finanziell möglichen und errechenbaren Spielraum voll ausreizt, sondern riskiert auch, daß er den Grundstein für notwendige Beitragserhöhungen in der Zukunft legt. Dies wollen wir Freie Demokraten nicht, dies wollen auch die Sozialdemokraten nicht. Von daher muß man erkennen, daß es sich bei all den Wünschen, die hier vorgetragen werden und die sogar in dieser Drucksache gesammelt sind — wenn wir hinten die Stellungnahme des Bundesrates nehmen —, nicht da und dort um einige Millionen, sondern um Milliardenbeträge handelt, die zu den Vorschlägen, die die Bundesregierung gemacht hat, zusätzlich hinzukommen würden.
Wer Schwächen und Mängel des heutigen Systems beseitigen will, muß den Mut haben zu sagen, daß in diesem Fall nicht jährlich noch zusätzliche allgemeine Erhöhungen in Milliardenhöhe möglich wären. Wir kämen nämlich, wenn wir all diese Wunschvorstellungen ins Gesetz schrieben, tatsächlich in die Situation, auf die Herr Müller schon hingewiesen hat, nämlich zu einer Konfrontation der Generationen, wenn wir ihnen immer höhere Beiträge abfordern, für die ihnen nach der Rentenformel kein zusätzlicher höherer Rentenanspruch entsteht. Wer allgemeine Anhebungen beschließen will, muß genauso den Mut haben zu sagen, daß für Verbesserungen des Rentensystems mit fühlbaren Leistungsverbesserungen kein entscheidender Raum mehr vorhanden ist.
Er muß auch den Mut haben zu sagen, daß er diese Mängel in die Zukunft weiterschleppen will, oder muß Beitragserhöhungen beschließen.
Die Koalitionsfraktionen sind entschlossen, im Interesse der betroffenen Rentner und der Beitragszahler die Solidität der künftigen finanziellen Entwicklung und die Sicherung der vorhandenen Ansprüche in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Dort, wo sich ein zusätzlicher finanzieller Spielraum zeigt, soll er den Versicherten und den Rentnern und niemand anderem zugute kommen. Wir haben aber nicht die Absicht, nur um uns gegenseitig zu überbieten, uns Entscheidungen abringen oder in Entscheidungen treiben zu lassen, die uns dann wieder in eine Situation führen, wie wir sie 1967 hatten, wo wir zum Nachteil der Rentner die Rentengesetze in vielen Punkten ändern mußten, und zwar nicht nur durch einen Rentnerkrankenversicherungsbeitrag. Ich glaube, das Jahr 1967 sollte uns hier bei den Ausschußberatungen immer mahnend vor Augen stehen.
Es gibt immer viele Konflikte zwischen sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen. Es gibt nicht nur in der Wirtschaftspolitik das magische Dreieck von Geldwertstabilität des wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung, es gibt analog dazu auch in der Sozialpolitik dieses magische Dreieck von sozialer Sicherheit, persönlicher Freiheit und Leistungsbereitschaft des einzelnen. In beiden Fällen führt ein Ungleichgewicht der einzelnen Faktoren zu einer einseitigen und schädlichen Entwicklung. Persönliche Freiheit und soziale Sicherheit bergen so lange keinen Widerspruch in sich, als sie nicht als notwendige Übel, sondern als Faktoren gesehen werden, die sich gegenseitig ergänzen.
Oder konkret gesprochen, meine Damen und Herren: wenn das System sozialer Sicherung zu einer so großen zwangsweisen direkten und indirekten Belastung mit Steuern und Sozialabgaben führt, daß kein frei verfügbarer Einkommensanteil mehr bleibt, leidet die Freiheit der Entscheidung des einzelnen Schaden, weil ihm gar kein Entscheidungsraum mehr bleibt.
Ich führe das aus, weil ich manchmal den Eindruck habe, daß wir in dem berechtigten Willen, soziale Härten und Mängel zu beseitigen, diesen Freiheitsraum einschränken könnten, indem wir zwar Beitrags- und Steuererhöhungen nicht sofort beschließen, aber zwangsläufig als spätere Maßnahme aufgrund von Beschlüssen von heute für die nächsten Jahre herbeiführen. Ohne Entscheidungsmöglichkeit gibt es keine Fähigkeit der Entscheidung und ohne diese Fähigkeit keinen mündigen Staatsbürger, den wir — alle drei Fraktionen — bejahen.
Meine Damen und Herren, umgekehrt wäre eine persönliche Freiheit ohne eine Sicherung vor schweren Belastungen aus den Wechselfällen des Lebens keine echte Freiheit, weil jeder dieser Risikofälle zu einer Belastung für den Betroffenen führen könnte, der er allein nicht gewachsen ist. Worum es
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geht, sind nicht Freiheit oder soziale Sicherheit, sondern das richtige Maß von beidem. In einem unlösbaren Zusammenhang mit beiden stehen die Leistungsbereitschaft und der Leistungswille des einzelnen. Sie verkümmern dort, wo sich in den Augen des einzelnen ein entsprechender Einsatz materiell oder ideel nicht mehr lohnt.
Ich erwähne dies deshalb, weil die sozialpolitischen Vorhaben, egal von welcher Seite sie kommen, ihren Preis haben werden, den Preis einer weiteren zusätzlichen Belastung der Einkommen durch die Steigerung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung von 17 auf 18 %, den wir schon vor Jahren beschlossen haben und den wir nicht rückgängig machen wollen. Ein Blick in den Sozialbericht 1971 zeigt aber auch, daß die Belastung der Bruttolohn- und Gehaltssumme mit Abzügen sich ohne Arbeitgeberanteil seit 1950 schrittweise von 12,6 auf 22,6 % im Jahre 1970 erhöht hat. Auch hier handelt es sich nur um einen Schritt neben anderen in anderen Bereichen. Es gibt zweifellos schon heute zahlreiche Fälle, wo sich einzelne Mitbürger fragen: Lohnt es sich noch, dieses oder jenes anzustreben, mehr zu tun, mehr zu arbeiten, wenn vom Mehreinkommen nur noch ein geringer Anteil übrigbleibt? Genau dies ist die Schwelle, wo das Ausmaß der Belastungen zu einer negativen Leistungsbereitschaft umschlagen kann. Diese Schwelle wird selbstverständlich nicht allein durch die Sozialabgaben, sondern genauso durch die Steuersätze bestimmt. Gerade deshalb dürfen wir aber bei keiner wichtigen sozialpolitischen Entscheidung die Wirkungen auf die anderen Bereiche übersehen.
Jede soziale Leistung hat ihren Preis. Daher gebietet es die politische Redlichkeit, diesen Preis zu nennen. 104 Milliarden DM theoretischer, rechnerischer Reserve beflügeln die Phantasie aller Beteiligten. Seit diese Zahl in diesem Frühjahr in die Diskussion eingegangen ist, ist sie in den Köpfen mancher bereits zur Größe von 200 Milliarden DM angewachsen. Auch hier scheint sich zu bewahrheiten, daß der Mensch Wunschträumen lieber nachhängt als der Auseinandersetzung mit Fakten. Die Auseinandersetzung mit Fakten ist mit dieser Frage und bei diesen Gesetzen einfach notwendig. Wir müssen vermeiden, weiteren Fehlentscheidungen und Fehlbeurteilungen zu unterliegen. Dabei müssen wir uns einfach ins Gedächtnis zurückrufen, daß die CDU/ CSU im Jahre 1956 die Vorstellung genährt hat, als sei mit einer geringen Beitragssteigerung eine unverhältnismäßige Erhöhung der Rente zu erreichen. Beides war illusionär. Die Schuld dafür will sie heute mit einer Art Verelendungstheorie vom Rentenniveau der Koalition von SPD und FDP in die Schuhe schieben.
Werfen wir den Blick noch einmal zurück; es ist sicher gut für die Zukunft. In einer Repräsentativumfrage der damaligen Regierung wurden Leute befragt — ich darf wörtlich zitieren —: „Wenn die Rentenneuregelung so durchgeführt wird, wie sie geplant ist, dann würden die laufenden künftigen Renten im Durchschnitt um etwa die Hälfte verbessert. Würden Sie — der Befragte — unter diesen Umständen einer Erhöhung Ihres Sozialversicherungsbeitrages um 1 % Ihres bisherigen Lohnes oder Gehaltes zustimmen, also z. B. bei 350 DM Lohn oder Gehalt 3,50 DM monatlich mehr bezahlen wollen als bisher, oder würden Sie das nicht übernehmen wollen?"
Aber es wurde damals nicht nur eine durchschnittliche Erhöhung der Renten um 50 % versprochen — was falsch war —, sondern den Wählern auch eine Rente in Höhe von 60 % eines vergleichbaren Bruttoeinkommens in Aussicht gestellt, wenn 40 Versicherungsjahre vorlägen. Diese Zielsetzung konnte leider nicht erreicht werden. Heute morgen in der Debatte ist schon angeklungen, daß man sich zufriedengäbe, wenn 50 % erreicht würden. Aber man muß sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß diese Zielsetzung mit 60 % in der Diskussion immer wieder eine große Rolle gespielt hat, daß sie aber leider illusionär war und nie eine Chance der Verwirklichung hatte. Die Renten sind nicht um 50 % gestiegen, jedenfalls nicht für einen beträchtlichen Anteil. Im Hinblick auf die Wahl im Jahre 1957 wurden denjenigen Rentnern, die keine Rentenerhöhung erhalten hätten oder wegen der Beseitigung des Sockelbetrages in Zukunft nach der neuen Rentenformel eine noch niedrigere Rente zu erwarten gehabt hätten, ein pauschaler monatlicher Zuschlag von 21 bzw. 14 DM gewährt. Man ging damals von der Meinung aus, in zehn Jahren habe sich dieses Problem geregelt. Es hat sich leider nicht von selbst geregelt. Es blieb nicht bei der angekündigten Beitragserhöhung, weder im ersten Deckungsabschnitt noch im zweiten Deckungsabschnitt. Die Rentenversicherungsbeiträge sind nicht, wie die Meinungsumfrage vermuten ließ, von 11% auf 13 %, sondern gleich auf 14% gestiegen, sie sind in der zweiten Deckungsdekade nicht auf 16 %, sondern auf 18 % gestiegen. Wir haben diese 18 % mitgemacht, und wir stehen dazu, weil wir wissen, daß die Renten ohnehin knapp bemessen sind. Aber man sollte seitens der Opposition nicht so tun, als ob man sich in der Vergangenheit nicht geirrt habe. Sie sind entscheidenden Irrtümern unterlegen, und Sie haben damit bei vielen Menschen in unserer Bevölkerung Erwartungen erweckt, die mitnichten gehalten werden können, auch dann nicht, wenn Sie alleine heute in der Regierung säßen.
Das Leistungsrecht mußte leider im Jahre 1967 eingeschränkt werden. Seien wir ehrlich: das war eigentlich nur in einer Großen Koalition möglich. Denn nur, wenn eine so breite Regierungsmehrheit von 90 % hinter so einschneidenden Eingriffen steht, ist das gegenüber dem Volk überhaupt noch vertretbar, ohne daß die Parteien auf maßlose Stimmenverluste rechnen müssen. Es mußte ein Beschneidungskatalog gemacht werden. Über 100 Änderungen im Sozialversicherungsrecht mußten wir damals hinnehmen. Ich will gar nicht auf einzelne Schwerpunkte eingehen. Denn einige dieser Änderungen haben wir sogar mit vertreten, weil wir uns mitverantwortlich fühlten für die Solidität der Rentenversicherung und für das solidarische Gewissen. Bei einigen allerdings haben wir uns zur
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Wehr gesetzt. Haben Sie deshalb Verständnis, daß wir natürlich gerne bereit waren und erfreut sind, daß in den Gesprächen mit unserem Koalitionspartner erreicht wurde, daß der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag, den wir damals für einen Unfug hielten, nun zurückerstattet wird, sozusagen als Wiedergutmachung einer falschen Einschätzung im Jahre 1967.
Wir Freien Demokraten gehörten leider immer zu denen — jemand mußte diese Rolle übernehmen —, die in den Zeiten, in denen die Finanzsituation der Rentenversicherungen als rosig angesehen wurde, danach verlangten, man möge uns doch Berechnungen vorlegen, wenn andere Steigerungsraten erwartet würden, damit man sähe, welch andere langfristige Tendenzen zu erwarten wären, wenn die Lohnraten weniger wachsen als angenommen. Wir haben aber auch in dem Krisenjahr 1967 nach Berechnungen verlangt, die von einer höheren Lohnsteigerungsrate ausgehen für den Fall, daß höhere Lohnsteigerungsraten zu verzeichnen sein sollten, weil wir in dieser Zeit des Defätismus — so kann man beinahe sagen — bezüglich der Finanzsituation der Rentner der Meinung waren, daß man diese Unglücksstimmung nicht unbedingt noch zusätzlich fördern, sondern gelegentlich auch Zahlen vorlegen sollte, die einen kleinen Silberstreif am Horizont erscheinen lassen.
Ich führe das an, um deutlich zu machen, daß wir auch als Freie Demokraten und als kleine Partei in diesem Parlament unseren Beitrag zu diesen Fragen der Rentenversicherung immer geleistet haben, daß wir hier manchmal einen unterschiedlichen Part in der Fragestellung spielen mußten, aber einen Part, der im Parlament gespielt werden mußte. Wir müssen doch ganz klar erkennen, daß zwischen Ideologie, d. h. Parteiprogrammen, und parlamentarischer Praxis eben oft eine große Lücke klafft. Es muß darauf hingewiesen werden, daß alle Ideologie, alle Zielsetzung gut und richtig sein kann, daß sie aber in der parlamentarischen Wirklichkeit immer in Einklag stehen muß mit dem wirtschaftlich Möglichen, weil nur das wirtschaftlich Mögliche für alle das am Ende Sinnvolle und Richtige sein kann.
Meine Damen und Herren, ich habe darauf hingewiesen, um deutlich zu machen, daß die Verbesserungen, über die wir uns heute hier und in der Zukunft im Ausschuß unterhalten, nur möglich sind durch die eminenten Beitragssteigerungen, die dieses Parlament beschlossen hat.
Für den Beitragszahler von heute ist es nämlich hinsichtlich seiner späteren Rente völlig gleichgültig, ob er von seinem Lohn 11 % — wie bis 1957 — oder 14 % oder — wie in Zukunft — 18 % abgeführt hat. Ich will nur ein einziges Beispiel herausgreifen, nämlich das Beispiel der Beitragsbemessungsgrenze von 2300 DM und eines Beitragssatzes von 18 %. Diese 18 % und die Beitragsbemessungsgrenze von 2300 DM bedeuten für den betroffenen Versicherten, daß für ihn gegenüber dem früheren Beitragssatz von 14 % ein Mehrbetrag von jährlich 1004 DM zu zahlen ist, ohne daß ihm durch diesen nominellen Betrag von 1004 DM ein höherer Rentenanspruch zuwächst. Auch das sollte man der Ehrlichkeit und Redlichkeit wegen einmal klar zum Ausdruck bringen.
Auch mit den höheren Beitragsbelastungen und mit gleichzeitigen Einschränkungen von Leistungen in bestimmten Fällen wäre das Rentenniveau von 60 % in keiner Phase auch nur annähernd erreichbar gewesen. Auch das wollen wir in dieser Stunde festhalten. Wenn die CDU/CSU gegenüber sich selbst ehrlich ist, dann muß sie zugeben, daß selbst die 50%-Grenze nur in einem einzigen Jahr, nämlich im Wahljahr 1957, überschritten worden ist. Jahrelang — und ich gehe nun im Gegensatz zu meinem Kollegen Schellenberg, der die Nettobeträge in den Raum gestellt hat, auf die Bruttobeträge über —, nämlich 1962, 1963, 1964 und 1965, als wir mit Ihnen in der Regierungsverantwortung waren, lagen die Sätze unter 45 %, ohne daß die damaligen, verantwortlichen Arbeitsminister dies öffentlich als einen beklagenswerten Zustand empfunden hätten.
Wenn heute erklärt wird, daß damals aus finanziellen Gründen eine zusätzliche Rentenanpassung nicht möglich gewesen wäre, dann, meine Damen und Herren von der CDU, handelt es sich schlicht um eine elegante Täuschung. Denn die Reserven waren im Prinzip damals genauso vorhanden wie heute. Wir hatten damals nämlich auch 10 und 12 Monatsreserven im Verhältnis zu den 8 und 9 Monatsreserven, die wir jetzt haben. Der Unterschied zu heute besteht darin, daß man heute von einer Reserve ausgeht, die nur noch einem Rentenbedarf von drei Monaten entspricht, während man damals eine Jahresrate für erforderlich hielt.
Meine Damen und Herren, wenn die CDU/CSU ehrlich ist, muß sie zweierlei zugeben. Rente in Höhe von 60 % eines vergleichbaren Bruttoentgeltes wäre nur in einem theoretischen Grenzfall denkbar, auf den ich in einer anderen Rede bereits deutlich hingewiesen habe. Diesen theoretischen Grenzfall wünschen wir lalle nicht, weil er mit einem dreijährigen Stillstand unseres Wachstums verbunden wäre. Das liegt nun einmal in der Rentenformel und in ihren Ergebnissen begründet. Es wäre deshalb ein sachlicher Beitrag in ,der Rentendiskussion, wenn diese Zusammenhänge auch von der CDU/CSU eingestanden würden und wenn sie gleichzeitig bekennen würde, daß für den Rentner etwas ganz anderes entscheidend ist, nämlich die langjährige und langfristige Entwicklung seines Nominal- und Realeinkommens. Allein dies entscheidet über das, was er sich kaufen und zusätzlich kaufen kann.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie ehrlich und offen argumentierten, müßten Sie bei Ihren Vergleichen nicht nur die normalen Rentenanpassungen. in die Berechnungen einbeziehen, sondern weitere 2 % aus dem Wegfall des sogenannten Krankenversicherungsbeitrags der Rentner, d. h. aus der Rentenkürzung aus den Jahren 1968 und 1969 durch die damals von Ihnen geführte Koalition. Den Rentnerhaushalten standen in den Jahren 1970 und 1971 nicht nur die Rentenanpassung von zum einen 6,3 % und zum anderen 5,5 %, sondern auch die zusätzlichen 2 %, die jährlich immerhin ein Volumen von 800 Millionen DM
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Spitzmüller
ausmachen, zur Verfügung. Sie hatten damals, als wir diese Regelung einführten, Bedenken.
Meine Damen und Herren, einschließlich der Erstattung der in den Jahren 1968 und 1969 einbehaltenen Beiträge ergibt sich für das Jahr 1972 eine Erhöhung von insgesamt 9 %, so daß sich die Behauptung oder zumindest der Eindruck, der erweckt wird, die Situation der Rentner habe sich verschlechtert oder würde sich verschlechtern, als eine Irreführung erweist, denn eine Erhöhung von 9 % bedeutet keine Verschlechterung.
Meine Damen und Herren, diese Koalition macht niemandem ein X für ein U vor.
Sie beschönigt nicht die Dinge, die problematisch sind. Sie macht vielmehr deutlich, wie die Dinge liegen, Sie versucht die Dinge dort ins Lot zu bringen, wo die Opposition versucht, andere für die Nichterfüllung ihrer eigenen unerfüllbaren Versprechungen verantwortlich zu machen.
Eine beliebte Methode in der Argumentation sind die Vergleiche mit der Sozialhilfe. Ich glaube nicht, daß es der CDU/CSU unbekannt ist, daß die Rentenhöhe, isoliert betrachtet, nicht das Geringste über die Lebenssituation des einzelnen Rentners aussagt. Ein Rentnerehepaar, das ausschließlich auf eine Rente in durchschnittlicher Höhe angewiesen ist, befindet sich unter Umständen in einer viel bescheideneren Lebenssituation als ein Rentnerehepaar oder ein einzelner Rentner, die eine kleine Rente beziehen, die für sie aber nur eine Nebeneinnahme ist. Leider steht uns nicht genügend Material über solche Fälle zur Verfügung.
Aber die Tatsache, daß 2% der Empfänger von Altersrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gleichzeitig Empfänger von Sozialhilfe sind, macht doch jedem, der sich in der Materie auskennt, deutlich, daß das Problem der Kleinstrenten nicht so entscheidend sein kann, wie es gelegentlich von der Opposition in einer parteipolitisch verständlichen, manchmal rührseligen Weise in der Öffentlichkeit dargestellt wird, um Emotionen zu erwekken.
— Herr Kollege Geisenhofer, ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, daß man den zwei Prozent der Rentner, die zum Sozialamt gehen, und dem einen Prozent der Rentner — so viele sind es vielleicht —, die zum Sozialamt gehen könnten, es aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht tun, helfen kann. Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht auch für diesen Kreis ja etwas vor.
Meine Damen und Herren, nun noch einige wenige Worte zu den Zahlen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat heute die Zahl von 168 Milliarden DM als mögliches Vermögen der Rentenversicherung genannt.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich muß ein Wort zu Herrn Katzer sagen. Leider muß ich es sagen, ohne daß er da ist. Aber ich benütze die Gelegenheit, ihm auch seitens meiner Fraktion recht gute Besserung zu wünschen; denn trotz mancher Sträuße, die wir miteinander auszufechten haben, sind wir uns mit Herrn Katzer in einem Ziel immer einig, nämlich durch die Diskussion zu versuchen, eine gute, die bestmögliche, aber auch die finanziell tragbare Lösung zu erreichen. Daß es dabei unterschiedliche Standorte gibt, daß es dabei Meinungsverschiedenheiten, Kontrastellungen und unterschiedliche Abstimmungen geben kann, ist klar. Aber in der Grundlage unseres Wollens sind wir uns auch mit Herrn Katzer einig. Nur eines habe ich sehr zu bedauern. Ich habe in einer Debatte im September hier als „freischaffender" Redner aus der Drucksache VI/2040 zitiert, den Betrag von 137 Milliarden DM genannt und dann einen Zwischenruf des Kollegen Franke bekommen: „Es sind mehr!" Dann bin ich dem Fehlschluß unterlegen, ich hätte bei den 137 Milliarden DM die 30 Milliarden DM Pflichtreserve schon abgezogen; deshalb hatte ich dann gesagt: Ach ja, 167 Milliarden DM.
Herr Kollege Katzer hat diese 167 Milliarden DM dann in die öffentliche Diskussion eingeführt und mich sozusagen als Hilfsstufe verwendet, um seine 190 oder 200 Milliarden DM in der Öffentlichkeit glaubwürdiger verkaufen zu können.
Meine Damen und Herren, wer meine weitere Rede nachlas, stellte fest, daß alle anderen Zahlen, die ich genannt hatte, korrekt das wiedergaben, was in der Drucksache VI/2040 bezüglich der 14 bis 15 Monatsreserven enthalten war, und daß sie auch den 168 Milliarden DM, die der Herr Arbeitsminister genannt hat, entsprechen, daß nämlich in diesen Beträgen 50 bis 60 Milliarden DM als Zinsen und Zinseszinsen drinstehen, von denen wir einiges, wenn wir die Gesetze beschlossen haben, wieder werden streichen müssen, so daß sich dann eine neue Rechnung ergibt; denn die Bundesregierung kann ja nur auf Grund der bestehenden Rechtssituation operieren. Auch von daher darf die Zahl der Restreserve von 19 Milliarden DM nach Abzug der Drei-Monats-Pflichtreserve von 29 Milliarden DM — die Restreserve entspricht einem zusätzlichen Spielraum von zwei Monatsausgaben — nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie echt nicht in diesem Umfange im Ausschuß ausgereizt werden könnte. Meine Damen und Herren, ich glaube, das müssen wir in den Ausschußberatungen berücksichtigen. Dort wird man von der Bundesregierung unter Umständen Zwischenzahlenmaterial verlangen müssen; denn ich gehe noch davon aus, daß wir uns alle drei einig sind, daß wir über 18 % Beitrag nicht hinausgehen wollen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ruf?
Herr Kollege Spitzmüller, sind Sie mit mir einig, wenn ich sage, daß weder die 137
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Ruf
noch die 168 Milliarden DM, noch gar etwa die 200 Milliarden DM vorhanden sind, sondern daß sie überhaupt erst erarbeitet und verdient werden müssen?
Herr Kollege Ruf, wir sind völlig einig. Sie bestätigen das, was ich damals, im September, gesagt habe. Diese Milliarden stehen rechnerisch, wenn es gut geht, ins Haus; wenn es besser geht, ist es noch etwas mehr. Aber wenn es einmal eine Talfahrt gibt, dann sind es gleich 10 oder 20 Milliarden DM weniger. Ich erinnere an die Anhörung der Sachverständigen in Berlin. Ich glaube, alle Kollegen, die im Sozialpolitischen Ausschuß neu tätig geworden sind, sollten sich einmal die Protokolle über diese Sachverständigenanhörung in Berlin durchlesen. Ich glaube, manche Beratung wird sich dann viel sachlicher zutragen, als die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit das im Augenblick vermuten läßt.
Ich möchte zum Schluß kommen. Die Einnahmeentwicklung der letzten Jahre und die Vorausschätzungen, die Erfahrungswerte der Vergangenheit einbeziehen, geben einen begrenzten Entscheidungsspielraum, wenn die 1967 beschlossene Beitragserhöhung auf 18 % nicht längerfristig ausgesetzt oder aufgehoben wird. Ein Verzicht auf diese Beitragserhöhung wäre auch eine politisch gangbare oder denkbare Entscheidung gewesen. Aber in diesem Fall hätten wir langfristig auf alle wesentlichen Verbesserungen des Rentenversicherungssystems verzichten müssen, die entsprechende kostenmäßige Auswirkungen haben. Das geltende Rentenrecht ist weder so vollkommen noch so ausgewogen, als daß man sich guten Gewissens für solch einen Weg hätte entscheiden können.
Die Koalitionsfraktionen haben sich daher geeinigt, den sichtbaren und denkbaren zusätzlichen finanziellen Rahmen für eine Verbesserung des Systems einzusetzen. Dies ist auch eine bewußte Abkehr von CDU-Ideologien, die 1957 mit absoluter Mehrheit durchgesetzt worden sind. Mindestrenten, die damals als verwerflich erklärt wurden, werden als grundsätzlicher Bestandteil Eingang in das künftige Recht finden. Hier hat auch die Opposition eingesehen, daß ihre damaligen Theorien wirklichkeitsfremd waren und nicht gezogen haben. Dies ist eine der heilsamen Wirkungen, die die Opposition für Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gebracht hat.
— Ich komme zum Schluß, Herr Präsident; ich hatte etliche Zwischenfragen zu beantworten.
Meine Damen und Herren, die Form der Vorsorgemöglichkeit wird für Selbständige und Hausfrauen erweitert.
Die sozial-liberale Koalition beweist mit diesen Gesetzesänderungen, daß sie trotz aller gegenteiligen Verdächtigungen neuen Raum zu freiheitlicher Entscheidung für den einzelnen schafft. Dies ist für uns der Grund dafür, daß wir diesem Gesetzentwurf nicht nur zustimmen, sondern wünschen, daß in der Ausschußarbeit manches noch verbessert wird und wir dann im Plenum eine breite Mehrheit bei seiner Verabschiedung finden.
Meine verehrten Damen und Herren, wir müssen uns einmal einen Augenblick lang über die Geschäftslage verständigen. Es liegen noch acht Wortmeldungen vor; für eine sind 30 Minuten beantragt worden, für die anderen gilt jeweils die Grenze von 15 Minuten. Ich halte es für ausgeschlossen, daß wir das Ziel der Klasse, um 13 Uhr fertig zu werden, erreichen. Wir werden daher wie folgt verfahren. Wir beraten bis 13 Uhr, von 13 bis 14 Uhr findet die Fragestunde statt, und anschließend setzen wir dann die Beratungen fort. Außerdem wird danach noch der gesamte Rest der Tagesordnung, was reibungslos gehen wird, abgewickelt werden. Ich bitte Sie, sich darauf einzustellen, meine Ankündigung jedoch nicht dazu zu benutzen, die Redezeit auszuweiten. Meine Bitte geht dahin, daß sich auch die 15-Minuten-Redner möglichst kurz fassen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Geisenhofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte vorweg mit zwei Sätzen auf die Ausführungen der Kollegen Spitzmüller und Professor Schellenberg antworten.
Herr Kollege Spitzmüller, es geht doch nicht darum, daß wir uns in unseren Forderungen gegenseitig überbieten, sondern es geht darum, daß wir Prioritäten setzen, daß wir dort helfen, wo Hilfe am dringendsten ist, und das ist bei den Rentnern, vor allem bei den Kleinstrentnern, der Fall.
Herr Professor Schellenberg, ich verstehe nicht, warum Sie ständig verschweigen, daß sowohl Sie persönlich als auch die SPD für den Rentnerkrankenversicherungsbeitrag gestimmt und ihn mitgetragen haben. Das muß doch auch hier einmal klargestellt werden.
Ich möchte über die Lage der Kleinrentner sprechen. Zur Finanzierung des uns vorliegenden Rentenreformgesetzentwurfs der Bundesregierung ist nach der Hochrechnung bis 1985 ein Betrag von 95 Milliarden DM erforderlich. Es ist zutiefst enttäuschend, daß von diesem hohen Betrag nur 13 Milliarden DM für die Kleinstrentenlösung abgezweigt werden. Die 1 Million Kleinrentner, die von ihrer kargen Rente leben müssen — es gibt auch andere Kleinrentner, die nicht davon leben müssen; immerhin leben in der Bundesrepublik 2 Millionen Kleinrentner—sind durch die jetzige Teuerung besonders schwer betroffen. Daher muß vor allem ihnen geholfen werden.
: Das hat Herr
Spitzmüller noch nicht gemerkt!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9259
Geisenhofer
Es ist traurig genug, daß die Kleinrentner wegen
der großen Inflationsrate zu den Stiefkindern der
Nation und auch dieser Bundesregierung gehören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Seit Sozialdemokraten regieren, geht es jedem in der Bundesrepublik Deutschland besser! Ja, wem geht es besser? Doch nicht den Kleinrentnern, sondern denen, die die Inflationsrate von 6 % durch Lohn- und Einkommenserhöhungen überspielen können, und denen, die in die Boden- und Sachwerte fliehen können.
Aber den Kleinrentnern und den Rentnern könnte es besser gehen, wenn die für die Rentner bestimmten Überschüsse in der sozialen Rentenversicherung nicht zweckentfremdet, sondern diesen zugeführt würden.
Eine Regierung, die den aus dem Arbeitsprozeß Ausscheidenden weniger Fürsorge angedeihen läßt als denen, die im Arbeitsprozeß stehen, macht meiner Meinung nach eine falsche Politik und mißt aus wahltaktischen Gründen mit zweierlei Maß.
Wenn Sie, Herr Bundesminister Arendt — er ist leider nicht da; aber Herr Professor Schellenberg hat in der Debatte das gleiche gesagt — gesagt haben: „Das stimmt nicht", dann muß ich fragen: Halten die SPD und die FDP an der Systemgerechtigkeit fest, derzufolge wir die Generationenhaftung haben. Demnach führen die jetzt im Arbeitsprozeß stehenden Arbeitnehmer die Beiträge für die ab, die jetzt Rentner sind, in dem Glauben und in der Hoffnung, daß die nach uns kommende Generation das gleiche tut, wenn wir, die wir jetzt im Arbeitsprozeß stehen, einmal Rentner werden? Wenn das stimmt — und es stimmt —, dann ist es auch notwendig, daß die Überschüsse in der Rentenversicherung für die Rentner bestimmt sind und nicht zweckentfremdet werden dürfen.
Dem ungenügenden Regierungsentwurf hinsichtlich der gezielten Anhebung — es ist ja keine gezielte Anhebung der Kleinrenten — stellt die CDU/ CSU-Fraktion den Gesetzentwurf zur Verbesserung der Alterssicherung für Frauen und Kleinrentner gegenüber. Lassen Sie mich ganz kurz die Unterschiede der beiden Gesetzentwürfe der Regierung und der CDU/CSU-Fraktion herausarbeiten.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung verlangt als Voraussetzung der Anhebung der persönlichen Bemessungsgrundlage auf 70 % einen Nachweis von 35 Jahren Versicherungsjahren, Pflichtbeitragszeiten. Freiwillige Beitragszeiten, Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten zählen mit. Diese 35 Jahre können die Masse der Frauen nicht erreichen. Die durchschnittliche Versicherungszeit der Frauen beträgt 25 bis 30 Jahre. Das ist also eine Regierungsmaßnahme, die am Problem vorbeizielt und es nicht trifft. Die Bundesregierung will leider nur 400 000 Kleinrentner begünstigen, und zwar der Höhe nach vollkommen ungenügend.
Der CDU/CSU-Gesetzentwurf fordert dagegen nur 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre und hebt bei Erfüllung dieser 25 Jahre die persönliche Bemessungsgrundlage auf 85 % an.
Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, daß mit ihrem Kleinrentenvorschlag und dem Babyjahr sowie der Öffnung der Rentenversicherung für Frauen das Problem der Frauenrente gelöst sei. Das ist nicht der Fall. Der Herr Bundesminister Arendt hat im Bundesrat gesagt, diese Kleinrentenregelung komme zu 90 % den Frauen zugute. Das stimmt nicht, und zwar deswegen nicht, weil die Voraussetzung von 35 Versicherungsjahren der Masse der Frauen den Anspruch auf Erhöhung der Rente verwehrt. Von dem Babyjahr, das nur Neurentnerinnen ab 1. Januar 1973 zugestanden wird, werden alle derzeitigen Rentnerinnen ausgeschlossen. Hierzu wird Frau Kalinke nähere Ausführungen machen.
Der CDU/CSU-Gesetzentwurf hilft zirka einer Million Kleinrentnern, meist Frauen und Müttern, und zwar viel mehr als alle fünf Punkte der Gesetzesvorlage der Bundesregierung zusammengenommen. Das kann man ganz klar beweisen. Im einzelnen ergeben sich in der Gegenüberstellung zum Regierungsentwurf, wenn jemand 60 % persönliche Bemessungsgrundlage erreicht hat, folgende Verbesserungen. Bei 25 Jahren hebt die CDU/CSU die Rente von jetzt 225 DM um 94 DM auf 319 DM an; die Bundesregierung tut für diese Renten überhaupt nichts. Bei 30 Jahren Anhebung von bisher 270 DM um 112 DM auf 382 DM; die Bundesregierung tut überhaupt nichts für diese 30 Jahre lang versicherungspflichtig gewesenen Rentner.
Bei 35 Jahren heben wir von jetzt 315 DM Monatsrente um 131 DM auf 446 DM an, die Bundesregierung nur auf 367 DM. Das letzte Beispiel: Bei 45 Jahren heben wir von jetzt 405 DM Monatsrente um 168 DM an auf 574 DM, die Bundesregierung dagegen nur auf 472 DM. Der Herr Bundesminister Arendt hat gesagt: Die Bundesregierung hebt die Kleinrenten bis zu 75 % an. Die Kleinrentner interessiert nicht die Prozentzahl, sondern das Geld, das herauskommt.
— Ja, ich bedaure das sehr. — Auch die Witwenrenten werden angehoben. Die Kosten unseres Gesetzentwurfes sind für das Jahr 1972 auf 930 Millionen DM zu beziffern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist bezeichnend, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung, wie überhaupt alle Maßnahmen der Bundesregierung, erst am 1. Januar 1973 in Kraft treten soll, also im Wahljahr. Man macht hier keine Sozialpolitik, sondern eine Wahlpolitik. Der Gesetzentwurf der CDU/CSU soll am 1. Januar 1972 in Kraft treten. Ich bitte die Bundesregierung, die Kleinrentenfrage aus ihrem Fünfpunkteprogramm herauszunehmen und vorzuziehen.
9260 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Geisenhofer
Wir müssen doch helfen, rasch helfen, damit die Rentner die Erhöhung auch noch erleben!
Zu dem Vorwurf, wir hätten den Referentenentwurf der Bundesregierung abgeschrieben, hat Herr Kollege Müller schon Ausführungen gemacht, auch mein Kollege Dr. Riedl bei der Debatte am 22. Oktober. Ich brauche darauf nicht mehr einzugehen.
Jede gezielte Verbesserung im Leistungsrecht der Rentenversicherung wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, inwieweit die Beitragsbezogenheit der Renten dadurch berührt wird. Das gilt für den Regierungsentwurf, das gilt aber auch für den CDU/CSU-Entwurf. Für meine Fraktion möchte ich erklären, daß die CDU/CSU an der Beitragsgerechtigkeit und damit an der Lohnbezogenheit der Rente festhält. Wir wollen nicht demjenigen, der nur eine kurze Gastrolle in der Sozialversicherung gespielt hat, eine hohe Rente zukommen lassen. Aber wir wollen denjenigen Rentnern, die 25 und mehr Jahre versicherungspflichtig tätig waren, die Rente dann anheben, wenn die beitragsgerechte Rente deswegen ungerecht ist, weil sie wegen Unterbewertung der Arbeitsleistung, das heißt durch Lohndiskriminierung, zu einer unverschuldeten Kleinrente geführt hat. Unserem Beispiel folgend hat auch die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf grundsätzlich diesen Weg beschritten, nur mit dem Unterschied, daß die Grenze von 35 Versicherungsjahren die Masse der bedürftigen Kleinrentner einfach ausscheidet, weil sie die Versicherungsjahre nicht erfüllen können.
Unsere Konzeption ist im Gegensatz zur Regierungsvorlage auf Pflichtversicherungsbeiträge abgestimmt und nicht auch auf freiwillige Beiträge.
Das Problem der Kleinrenten resultiert aus dem Strukturwandel und den Kriegs- und Nachkriegswirren und ist Gott sei Dank im Auslaufen begriffen. Daher können wir, wie ich meine, weil es ausläuft, auch schneller, stärker und besser helfen. Heute und in der Zukunft werden in der Regel Tarifverträge von den Tarifpartnern abgeschlossen, die bei oder über 85 % der allgemeinen Bemessungsgrundlage liegen. In den wenigen Fällen, wo das noch nicht der Fall ist, appellieren wir an die Tarifpartner, diesem Problem in Zukunft ihre ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Herr Präsident, wenn das der Redezeit zugerechnet wird!
Eine halbe Minute rechnen wir zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie sagten soeben, das Problem sei im Auslaufen begriffen, da es in Zukunft auf Grund der höheren Tarifabschlüsse nicht mehr in Erscheinung treten werde.
Sind Sie sich bewußt, daß Ihr Vorschlag von 85 % im kommenden Jahr einem Einkommen von 1100 DM entspricht? Glauben Sie, daß wir vom nächsten Jahr an — auch für ungelernte und angelernte Arbeiter sowie für Frauen in der Industrie — nur noch Tarifverträge, die nicht mehr unter 1100 DM liegen, haben werden?
Herr Kollege Killat, die allgemeine Bemessungsgrundlage für das Jahr 1972 ist nicht 1100 DM, sondern 1000 DM; 85 % davon sind 850 DM.
In diesem Bereich sollten wir, glaube ich, mit der unteren allgemeinen Bemessungsgrenze bleiben. -
Die Teilzeitarbeit fällt — das möchte ich noch erklären — nicht unter unser Anliegen.
Ich meine, es sollte auch Aufgabe des zuständigen Ausschusses sein, in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob in Zukunft die Versicherungspflicht der in Werkstätten beschäftigten körperlich behinderten Menschen im Rahmen dieser Rentenregelung eingeführt werden soll. Wir müssen uns, meine Damen und Herren, nämlich fragen: Ist der bisherige Weg der Verweisung dieser Personen ,auf die Sozialhilfe gerechtfertigt, oder wäre es nicht besser, diesen Menschen durch eine Beitragsleistung seitens der Sozialhilfe oder durch Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung eine Rente zu sichern, die auf der Höhe von 85 % liegt? Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Rentengesetz diesem Anliegen seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Herr Professor Schellenberg, Sie haben in der letzten Debatte den Vorwurf erhoben, die CDU/CSU wolle das Kleinrentenproblem über die Sozialhilfe lösen. Das ist nicht der Fall; da haben Sie uns gründlich mißverstanden. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß die Sozialhilfe nicht berufen ist, Leistungen zu übernehmen, deren Erbringung an und für sich Aufgabe der Rentenversicherung ist — aber auch nicht umgekehrt. Wer 25 Jahre und mehr versicherungspflichtig tätig war, gehört nicht in die Sozialhilfe; er muß aus der Sozialhilfe herausgenommen werden!
— Warum? Wenn jemand, Herr Kollege Bredl, eine solch lange Zeit versicherungspflichtig tätig war, muß er sich doch eine Rente erarbeitet haben, die über 250 DM — ,das ist der Satz der Sozialhilfe — liegt. Das ist unser Grundsatz. Bei einer Anhebung auf 85 % wird diesem Personenkreis eine Rente gesichert, die ungefähr 320 DM monatlich beträgt. Deshalb wollen wir ja den Satz von 85 % festlegen.
Auch der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme, möglichst viele Renten so anzuheben, daß sie über den Sätzen der Sozialhilfe liegen. Dadurch
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9261
Geisenhofer
würden auch die Sozialhilfeträger finanziell entlastet werden.
Wir gehen das Kleinrentenproblem von zwei Seiten an. Ich brauche darüber nichts mehr zu sagen, denn ich habe in meinen Ausführungen bei der ersten Lesung unseres Gesetzentwurfes am 22. Oktober dieses Jahres eindeutige und klare Aussagen gemacht.
Herr Kollege Spitzmüller, Ihr Gesetzentwurf — damit komme ich zum Schluß — gibt den Rentnern in der Sozialhilfe keine Mark mehr. Diejenigen Rentner, die — auch nach unserem Gesetzentwurf — nicht aus der Sozialhilfe herausfallen, weil sie nur kurze Zeit rentenversichert waren, sollen einen Rentenfreibetrag von 75 DM zugestanden erhalten. Leider haben SPD und FDP unseren diesbezüglichen, 40 Millionen DM erfordernden Antrag, diesen Rentenfreibetrag zu finanzieren, abgelehnt.
Ich schließe, indem ich die Meinung vertrete, daß eine Regierung danach gemessen wird, wie sehr sie jenen Personen, die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden und Rentner oder Invalide geworden sind, ein menschenwürdiges Dasein sichert. Ich glaube, niemand in der Bundesrepublik Deutschland kann verstehen, daß es in unserer Wohlstandsgesellschaft nicht möglich sein sollte, dieses Ziel zu erreichen. Ich bitte darum, daß wir zusammen im Ausschuß dazu beitragen, eine gute Lösung für die Kleinrentner zu finden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Regierung wird danach gemessen, Herr Kollege Geisenhofer, wie sie das, was sie zu Beginn ihrer Regierungszeit, wie sie das, was sie in ihrer Regierungserklärung gesagt hat, im Rahmen ihrer Regierungsarbeit verwirklicht.
— Verwirklicht, Herr Kollege Kiechle! — Ich glaube, eines ist in der ersten Runde der ersten Lesung des Gesetzentwurfs einer Rentenreform bereits deutlich geworfen: die Regierungsfraktionen und die von ihnen getragene Bundesregierung können heute wieder einmal einige Häkchen dort anbringen, wo in der Regierungserklärung der sozial-liberalen Koalition etwas zur sozialen Sicherung und zur Aufgabe dieser Regierung niedergeschrieben und in diesem Hause verkündet worden ist.
— Wir können einige Häkchen machen, Herr Kollege Ruf,
und wir werden im Rahmen dieses Abhakens
einige Korrekturen erreichen, wenn die Beratungen
abgeschlossen sein werden, dort, wo Sie zu Ihrer
Zeit in den Jahren 1956/57 leider negative Entwicklungen eingeleitet haben.
Ich will die einzelnen Dinge nicht ansprechen. Wir kommen ja immer wieder in ausführlichen Diskussionen darauf zurück. Eines möchte ich jedoch im Rahmen meiner Ausführungen für die Freien Demokraten zunächst noch einmal sehr deutlich sagen: das, was in fünf Punkten als Rentenreformgesetzentwurf auf dem Tisch dieses Hauses liegt, ist, glaube ich — ich meine, wir alle sollten uns auch später noch an diese Stunde erinnern —, ein zweiter großer Schritt nach der Rentenreform 1956/57 zum Ausbau unserer Altersversorgung unter freiheitlicheren Grundsätzen und im Hinblick auf die veränderte Struktursituation unserer Gesellschaft. Dafür sind wir Freien Demokraten sehr dankbar.
Wenn ich daran denke — der Kollege Dorn hat das gestern kurz einmal angesprochen —, daß es in diesem Hause schon des öfteren vorgekommen sein soll, daß Mehrheiten auch gegen den Sachverstand von Minderheiten Entscheidungen getroffen haben, und dann aus der Sicht der Freien Demokraten die Vorlage betrachte, kann ich sagen: hier hat sich mit dem Verständnis unseres Partners doch wohl eine ganze Menge von liberalem Sachverstand, der schon in den 50er Jahren und später in den sozialpolitischen Debatten dieses Hauses immer wieder vorgetragen wurde, durchgesetzt in einem Gesetzentwurf, den dieses Haus noch beschließen muß.
Denn wir waren es doch 1956/57, die die Beibehaltung der Selbstversicherung für richtig gehalten haben, die die Beibehaltung der Mindestrente für richtig gehalten haben. In diesem Regierungsentwurf ist die Öffnung, die Möglichkeit der Selbstversicherung — wenn ich das einmal so nennen darf, wenngleich das auch nicht ganz in das System paßt — wieder vorgesehen, die Möglichkeit der Einbeziehung derer, die damals von Ihnen ausgeschlossen wurden. In dem Entwurf ist eine Rente nach Mindesteinkommen vorgesehen. In diesem Zusammenhang komme ich gleich noch auf Herrn Kollegen Geisenhofer zu sprechen.
Wir haben die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der Hausfrauen in die soziale Altersversorgung immer wieder auf den Tisch gelegt. Das Wort Hausfrauenrente stammt aus dem Mund unserer derzeitigen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Die ersten Einstiege in diese Richtung liegen heute vor uns.
Wir haben — in diesem Zusammenhang muß ich gleich auch auf den Kollegen Müller, der vorhin gesprochen hat, kurz eingehen — in mehreren Debatten in diesem Hause bereits auf die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung der Kriegs- und Gefangenschaftszeiten in der Rentenversicherung hingewiesen. Ich glaube, ich habe mich mit dem Problem in einer meiner ersten Reden im Bundestag bei der Beratung einer entsprechenden Vorlage befaßt. Ich muß dem Kollegen Müller widersprechen, er hat den Entwurf anscheinend nicht ganz durchgelesen. In dem Gesetzentwurf sind bessere Anrechnungen im Rahmen der Ersatz- und Ausfallzeiten bereits vorhanden.
9262 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Schmidt
Sicherlich ist nicht alles, was noch zu regeln sein wird, in dem Gesetzentwurf enthalten. Ich glaube auch nicht, daß es Aufgabe des Regierungsentwurfs war, die Folgerungen aus dem vorgelegten Härtebericht generell zu ziehen. Das ist vielmehr erstens Aufgabe des zuständigen Ausschusses und des Parlaments nach Studium des Berichts, und zweitens wird es unsere Aufgabe im Ausschuß sein, wie weit wir das eine oder andere — sofern es möglich ist, das auch noch mit dem Finanzvolumen in Einklang zu bringen — der aus dem Härtebericht uns vorliegenden Dinge noch in die Überlegungen einbeziehen können.
Denn es ist ganz klar, daß es auch in dem Bereich der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge noch eine ganze Reihe von Problemen gibt, die wir im Sozialversicherungsrecht, insbesondere bei der Altersversorgung, noch regeln müssen. Aber das war nicht die Aufgabe der Bundesregierung. Deshalb möchte ich den Vorwurf des Kollegen Müller zurückweisen. Ihre Aufgabe war es, ein Reformgesetz entsprechend der Regierungserklärung vorzulegen. Das ist geschehen.
Namens der Freien Demokraten möchte ich gerade auch auf Grund der liberale, freiheitlichere Entwicklungen ermöglichenden Gedanken in diesem Entwurf der Bundesregierung, dem Bundesarbeitsminister und seinem Haus ausdrücklich dafür danken, daß sie die Vorlage nach sorgfältigen Berechnungen in dieser Form vorgelegt haben.
Herr Kollege Geisenhofer, ich habe Verständnis dafür, daß Sie als Antragsteller eines Oppositionsentwurfs hier noch einmal davon gesprochen haben, dort, wo die Hilfe am dringendsten sei, müßten die Prioritäten gesetzt werden. Ich habe auch Verständnis dafür, daß Sie seitens der Opposition damit und auch mit der Frage der Anhebung zunächst einmal immer wieder über die Dörfer gehen. Aber, mein lieber Kollege Geisenhofer und meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, was ist denn nun wirklich an diesen Dingen dran? Sie sprechen immer von 35 Jahren — —
— Sie müssen mich einmal ausreden lassen. Sie sprechen immer von 35 Jahren, halten das als ein Schild hin: Darunter kommt niemand! und sagen nie, daß es in Wirklichkeit nur 26 Jahre sind, weil im Durchschnitt neun Jahre Ersatz- und Ausfallzeiten dabei sind. Dann sieht es schon etwas anders aus.
— Sicher, das ist individuell verschieden. Aber die Zahl 35 sinkt eben um die Zahl der Jahre, die als Ersatz- und Ausfallzeiten vorhanden sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Varelmann?
Bitte schön!
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß von der Regierungsvorlage weniger als 1 % der Männerrenten betroffen werden und damit sich keinerlei Auswirkungen bei den gänzlich unzureichenden Witwenrenten zeigen werden? Kann man unter diesen Umständen hinsichtlich dieser Rentner überhaupt von einer Reform sprechen? Ist es nicht Stümperwerk?
Herr Kollege Varelmann, erstens geht es hier um eine Reform nicht nur für gestern und für heute, sondern für morgen. Zweitens geht es um Beträge, die wir im Rahmen dieser Reform für die Zukunft ausgeben wollen und von denen ich vorher schon einmal deutlich gesagt habe, daß sie noch gar nicht da sind, sondern daß diejenigen sie erarbeiten müssen, die heute Beitragszahler sind. Es ist unsere Verantwortung und Aufgabe, diese bis 1985 — wenn ich die Rechnung nehme — aufzubringenden Beiträge der jetzigen Beitragszahler in einer Reform so anzusetzen, daß diese Beitragszahler im Rahmen ihrer Vorstellungen — hier spielt die flexible Altersgrenze eine erhebliche Rolle — auch etwas davon haben. Das schließt nicht aus — Herr Kollege Varelmann, ich bin noch bei der Antwort auf Ihre Frage —, daß wir hier im Bereich der Renten Schritte ansetzen, um auch bei den Mindesteinkommen etwas zu tun, wie es die Bundesregierung vorschlägt.
Aber wir müssen auch etwas deutlich machen. Es ist schon oft gesagt worden, aber es muß immer wieder gesagt werden, weil sonst die Öffentlichkeit vielleicht einen falschen Eindruck bekommt. Der Planungsstab der CDU/CSU hat die Dinge etwas schief gesehen, als er in seiner Planstudie — ich habe sie da auf meinen Pult liegen — von 43% der Rentner der Arbeiterrentenversicherung und von 19 % der Rentner der Angestelltenversicherung sprach, die Sozialhilfe beziehen. Das waren die Zahlen, mit denen Sie zunächst einmal über Land gegangen sind. Dann stellte sich heraus, daß in Wirklichkeit nur 2 bis 3 % dieser von Ihnen gemeinten Rentner Sozialhilfe beziehen. Aus dieser Diskrepanz zwischen den 43% und den 19 % auf der einen Seite — man kann diese Zahlen nicht zusammenrechnen — und den 2 bis 3 % auf der anderen Seite, die Sozialhilfe beantragen, wird deutlich, daß der größte Teil derer, die Sie mit 43 % und 19 % beziffern, nicht allein mit der Rente seinen Lebensunterhalt bestreitet, sondern noch andere Einkommen hat. Das beruht wahrscheinlich darauf, daß er nur einen verhältnismäßig kleinen Teil seines Arbeitslebens rentenversicherungspflichtig war, dann anderen Berufen nachgegangen ist und möglicherweise auch daraus noch eine Altersversorgung hat. Sonst wären ja mehr Rentner bei den Sozialhilfeämtern.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann? — Bitte!
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9263
Herr Kollege, hat nicht die Rentnergeneration der Gegenwart ein gewisses Recht, an der Fortentwicklung des Wirtschaftsgeschehens mit teilzuhaben? Die Pläne, die jetzt die Regierung vorlegt, nehmen darauf leider nur in sehr geringem Umfang Bezug.
Herr Kollege Varelmann, ich glaube, es war der Kollege Schellenberg, der heute früh schon einmal deutlich gemacht hat, wie in den letzten 10, 15 Jahren das reale Rentnereinkommen Gott sei Dank — auch auf Grund der Beschlüsse von 1956/57 — erheblich angestiegen ist. Die Bundesregierung hat zusätzlich einiges getan. Ich erinnere an die Anschlußbeiträge und an die Anrechnung von Kriegsdienstzeiten, wie sie in Zukunft sein wird. Darüber steht ja schon einiges in der jetzigen Vorlage. — Doch, Herr Kollege Ruf. Sie haben soeben mit dem Kopf geschüttelt, und auch der Kollege Müller scheint das nicht so genau gelesen zu haben. Aber es steht dort einiges drin, was erheblich mehr Möglichkeiten öffnet. Ich will hier nicht auf die Einzelheiten eingehen. Sie wissen genau, was ich damit meine. Auf Grund der Neuberechnungen werden auch die Klein- und Kleinstrenten zum Teil angehoben werden können. Die Bundesregierung hat daran gedacht, daß ein Teil des Volumens selbstverständlich den jetzigen Rentnern zugute kommen muß.
Wir müssen auch davon ausgehen, daß die Beitragszahler, die das Volumen erst einmal aufbringen müssen, dadurch auch in der Gestaltung ihrer Altersversorgung freier sind und die Möglichkeit haben, die Altersgrenze vorzuziehen. Das ist eine legitime Aufgabe dieses Hauses, wie im übrigen auch von Ihrer Fraktion in ähnlicher Form immer wieder behauptet worden ist.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann? — Bitte!
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die Krankenschwester nach einem vollen Berufsleben heute in der Regel nur eine Rente bekommt, die bei 30% des vergleichbaren Einkommens liegt? Ist das eines sozialen Rechtsstaates würdig?
Herr Kollege Varelmann, Sie haben von einem vollen Berufsleben gesprochen. Ich nehme an, Sie meinen ein volles versicherungspflichtiges Berufsleben. Gerade diese Personen sind ja nach unserer Vorstellung von der Grenze von 35 Jahren einbezogen. Ihre Rentensituation wird in Zukunft auf Grund der Neuberechnung besser sein.
Ich darf nur zwei Zusatzfragen zulassen. Sie haben Ihre Fragen gehabt. Weitere kommen nicht in Betracht. — Bitte, Herr Abgeordneter Schmidt :
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich gerade im Hinblick auf die soeben gestellten Fragen und auf die Ausführungen des Kollegen Geisenhofer noch einmal darauf hinweisen, daß wir Freien Demokraten — ich glaube, den Sozialdemokraten geht es ähnlich — das Gefühl haben, daß Sie mit Ihrer immer wieder aufgestellten Forderung: „Erst Anhebung des Niveaus, erst Anhebung der Kleinrenten" in Wirklichkeit die draußen auf den Dörfern, in Versammlungen und Diskussionen immer wieder positiv bewertete flexible Altersgrenze doch verhindern möchten.
— Ich habe den Verdacht, und ich möchte das auch beweisen, Frau Kollegin Kalinke. Der Kollege Müller hat heute früh wieder für Ihre Fraktion gesagt: Wir wollen erst die Anhebung des Rentenniveaus. Er hat sogar gesagt — das habe ich mir aufgeschrieben —: Wir wollen nicht neue Maßnahmen finanzieren und gleichzeitig die Rentenreform ruinieren. Wenn Sie aber gleichzeitig die Anhebung des Rentenniveaus, die Anhebung der Kleinstrenten und, wie der Kollege Geisenhofer vorgeschlagen hat, die flexible Altersgrenze wollen, dann wollen Sie doch wohl diese flexible Altersgrenze mit versicherungsmathematischem Abschlag; denn sonst ist sie nicht finanzierbar.
Herr Kollege Ruf, auch Sie kennen doch die Zahlen. Mein Eindruck wird durch die Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion vom 3. Dezember 1971 verstärkt. Dort schreibt Herr Kollege Katzer auf Seite 3, man müsse sich zuerst über die Zahlen verständigen, dann über das Rentenniveau von 50 % reden, sich darüber verständigen, wie das zu erreichen sei, und dann müsse man über die Anhebung der Kleinstrenten sprechen und schließlich noch die Rentenversicherung für Selbständige öffnen. Von der flexiblen Altersgrenze steht in den fünf Punkten nichts drin. Sie scheint bei Ihnen doch zumindest einen sehr negativen Stellenwert zu haben. Diesen Eindruck muß man bekommen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Am Pult brennt die rote Lampe, lassen Sie mich deshalb nur noch einen letzten Satz zu einem Thema sagen, — —
— Wir haben von Ihnen in der letzten Zeit so viel Gesetzentwürfe bekommen, einmal zu dem, einmal zu dem, vielleicht kommt dazu auch noch einer. Wir werden uns dann im Ausschuß darüber unterhalten.
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen, meine Damen und Herren. Durch die Zwischenfragen ist das alles etwas anders gekommen, als ich wollte.
9264 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Schmidt
Wir als Freie Demokraten begrüßen es ganz besonders, daß im Rahmen der heutigen Debatte, nicht im Rahmen der Regierungsvorlage, gleichzeitig die erste Lesung des Gesetzentwurfs über die Rückzahlung der 2 % Krankenversicherungsbeitrag der Rentner erfolgt, weil wir von Anfang an diesen Beitrag als eine Manipulation unter dem Namen Krankenversicherungsbeitrag angesehen haben. Wir haben ihn von Anfang an als Unrecht betrachtet, und er wird jetzt nicht etwa — das möchte ich der Opposition noch einmal deutlich sagen — als Teuerungszuschlag oder dergleichen zurückgezahlt, sondern als Wiedergutmachung eines Unrechts, das wir als Freie Demokraten von Anfang an als ein solches angesehen haben.
Ehe ich das Wort an Frau Abgeordnete Schlei weitergebe, mache ich darauf aufmerksam, daß von 13 bis 14 Uhr — um ein paar Minuten werden wir es dehnen können — die Fragestunde stattfindet. Die Debatte wird um 14 Uhr fortgesetzt, die Ausschüsse werden aber alle wie vorgesehen tagen. Es ist also nicht so, daß die Ausschüsse wegen der Fortsetzung des Plenums nicht in der Lage wären zu tagen. Der Ältestenrat wird sich außerdem wie vorgesehen um 13 Uhr am gewohnten Ort versammeln.
Ich gebe das Wort an Frau Abgeordnete Schlei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die gesetzliche Alterssicherung soll für weitere Gesellschaftsgruppen geöffnet werden." Hinter diesem nüchternen Satz aus der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 war für unbefangene oder gar skeptische Beobachter der politischen Szene keineswegs erkennbar, wie stark sich diese Regierungskoalition dem sozialen Rechtsstaat, besonders was das Teilhaben der Frauen angeht, verpflichtet fühlt.
Der nun vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung macht klar, in welch gezielter grundlegender und konstruktiver Weise die Sozialpolitik bisher wenig integrierte Gruppen sichernd erfassen kann. In meiner Stellungnahme will ich mich auf den Teil der Reform beschränken, der vorwiegend der Gesellschaftsgruppe Frauen zugute kommt, und dieser Teil ist beträchtlich. Sicher werden die Beratungen zu diesem Gesetz uns wie auch der Öffentlichkeit noch klarer ins Bewußtsein heben, daß die Frauenfrage weiterhin eine Funktion der sozialen Frage ist. Die Einsicht, daß solche Probleme nicht allein von den Frauen, sondern nur von der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gelöst werden können, ist erst über den Abbau sehr alter Vorurteile zu erreichen. Erst die bewußte Einstellung auf veränderte gesellschaftliche und soziologische Verhältnisse fördert die Bereitschaft, notwendige Konsequenzen zu ziehen, und zwar in politischer, gesetzgeberischer Hinsicht wie auch für die konkrete persönliche Lebensgestaltung.
In der Erkenntnis, daß die jetzigen Regelungen der gesetzlichen Rentenversicherung der veränderten sozialen Wirklichkeit nicht mehr entsprechen, legt die Regierung ein ansehnliches Schwerpunktprogramm vor, das in wesentlichen Partien enorme Verbesserungen für das Versicherungsleben der Frau bewirken wird, abgestellt auf die soziale Biographie der Frau mit ihren typischen Lebensbelastungen. Ohne deren versicherungsrechtliche Berücksichtigung könnte es nie eine eigenständige soziale Sicherung der Frau geben. Aus diesem Grunde muß die Einführung des Babyjahres in der Geschichte der Rentenversicherung als ein bedeutsames Novum begrüßt werden. Dieses zusätzliche Versicherungsjahr ohne eigene Beitragszahlung bringt den Müttern eine Verbesserung ihres Rentenstatus. Seit langem werden Zeiten des Krieges und Wehrdienstes den Männern in der Rentenversicherung selbstverständlich rentensteigernd angerechnet. Für die Kindererziehung aber, die ohne Frage gesellschaftlich und ökonomisch notwendig ist, geschah dies bisher noch nicht. Dabei handelt es sich gerade hier um eine Leistung für die Gemeinschaft, die der Frau doch nicht zum Nachteil gereichen sollte. Die junge Mutter, die in Zukunft nach der Geburt ihres Kindes zu Hause bleiben will, um sich der Pflege- und Erziehungsaufgabe uneingeschränkt widmen zu können, ist durch das „Babyjahr" vor versicherungsrechtlichen Nachteilen bewahrt. Hervorzuheben ist ausdrücklich, daß bereits die Mütter von der Einführung des „Babyjahres" profitieren, die ab 1973 ihre Rente beantragen. Diese große Gruppe der weiblichen Versicherten erhält also die Anrechnung rückwirkend. In der Sprache des Gesetzes ausgedrückt: ab 1973 erhalten Frauen für jedes lebend geborene Kind zur Abgeltung eines zusätzlichen Versicherungsjahres einen Zuschlag zur Rente.
Wir sind uns darüber klar, daß das Problem der eigenständigen Sicherung der Frau auf diesem Wege nur schrittweise vorwärtsgebracht werden kann.
Aber es sind entscheidende Schritte, und die Richtung stimmt.
Der Gesetzentwurf berücksichtigt noch nicht diejenigen Frauen, die ein Pflege- oder Adoptivkind angenommen haben. Auch sie können aber, wie eine große Anzahl anderer Mütter auch, wegen der Versorgung des Kindes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und müssen daher den Verlust von Versicherungszeit hinnehmen. Während der weiteren Beratung sollten wir also sorgsam prüfen, ob das zur Verfügung stehende Finanzvolumen es zuläßt, auch den Frauen das „Babyjahr" gutzuschreiben, die aus anerkennenswertem Verantwortungsbewußtsein dem zunächst fremden Kind Mutter wurden.
Falls die Anrechnung jetzt noch nicht ermöglicht werden kann, müßten wir innerhalb eines Stufenplans an die Aufarbeitung dieser Problematik gehen. Ferner sollten die Pflegegeld zahlenden Stellen gründlich überprüfen, inwieweit die Rentenversicherung für Pflegemütter von ihnen als ein dringendes Gebot sozialer Verpflichtung angesehen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9265
Frau Schlei
werden müßte. Mein persönlicher Wunsch wäre, daß diese versicherungsrechtliche Anerkennung des „Babyjahres" auch den Frauen zugute kommen könnte, die bereits im Rentenalter sind. Sie haben ihre Kinder in sehr viel schwierigeren materiellen Verhältnissen aufziehen müssen, zur Welt bringen und großziehen müssen, als es heute im allgemeinen der Fall ist. Ich weiß, das ist nicht eine Sache der Einsicht oder des guten Willens, sondern das ist eine schwierigere Frage finanzieller Größenordnung. Aber dennoch sollten wir bei weiteren Beratungen auch auf diese Frage eingehen.
In jedem der fünf Schwerpunkte des Reformprogramms sind Verbesserungen für Frauen erkennbar oder sogar ausschließlich auf Frauen bezogen. Wie wichtig die Öffnung der Rentenversicherung ist, besonders für die nicht erwerbstätigen Hausfrauen, kann gar nicht oft genug betont werden. Es ist eine Neuerung, um die Frauen seit langem gekämpft haben. Von den nicht erwerbstätigen Frauen wurde es als eine große Ungerechtigkeit empfunden, daß man ihnen bisher die Möglichkeit einer eigenen Alterssicherung vorenthalten hat. In Zukunft kann die Hausfrau entscheiden — je nach Situation der Ehe allein oder gemeinsam mit dem Mann —, wie Beträge vom Einkommen auf Konsummöglichkeiten einerseits oder soziale Sicherung andererseits verteilt werden sollen. Wesentlich ist jedenfalls, daß dem unterschiedlichen Bedürfnis nach Sicherheit Möglichkeiten eröffnet werden. Bedingungslose Abhängigkeit verhindert die Selbstverwirklichung der Menschen. Das gilt auch für die absolute Abhängigkeit der Frau in der Ehe. Selbst eine angestrebte Rente, die lediglich Ergänzungsfunktion haben soll, kann der Frau einen persönlichen Freiheitsspielraum und ein verstärktes Eigengefühl vermitteln. Ein Sprecher meiner Fraktion wird gründlicher auf die Öffnung der Rentenversicherung eingehen.
Auch bei der Einführung der flexiblen Altersgrenze sind Vorteile für Frauen vorhanden. Aus der Fülle der Verbesserungen der Situation der Frau in der Sozialversicherung ragen als besonders wirksam der Ausgleich von meines Erachtens verfassungswidrigen Lohndiskriminierungen bei langjähriger Versicherungszeit sowie die gezielte Anhebung sogenannter Bestandsrenten hervor. Es ist ein eindrucksvoller Akt der Gerechtigkeit, daß hierdurch fast 400 000 Frauen, die ihr Leben lang in den so oft mit großen Worten gelobten dienenden Funktionen tätig waren und dafür so wenig materielle Anerkennung als Wirklichkeit erleben konnten, nun eine Anhebung ihrer Rente erfahren werden.
Gerade diese Anhebung trägt einen stark moralischen Zug, hebt sie doch, wenn auch erst sehr spät, die doppelte Diskriminierung — erst niedriger Lohn und dann auch noch niedrige Rente
— auf.
Als Beseitigung bisher möglicher Diskriminierung sind auch die Übergangslösungen dieses Gesetzentwurfs anzusehen, die sich auf den Versorgungsausgleich, das sogenannte Rentensplitting, beziehen. Der auf konkreter sozialer Gerechtigkeit basierende Grundsatz dieses Ausgleichs ist ein Kernstück der Reform des Ehe- und Familienrechts. Er besagt, daß die Probleme der Versorgung des sozial schwächeren geschiedenen Ehepartners — und das ist in unserer Zeit fast immer noch die Frau — stärker berücksichtigt werden sollen. Der Versorgungsausgleich muß als folgerichtige Anwendung des Zugewinnprinzips angesehen werden. Das heißt, was während der Ehezeit erworben wird, beruht auf der Arbeit beider Ehegatten und ist demzufolge gerecht zu teilen, falls die Ehe aufgelöst wird. Der während der Ehezeit erworbene Anspruch auf Altersversorgung ist gleichfalls als Teil der gemeinsamen Lebensleistung anzusehen und steht nach künftigem Recht im Falle der Scheidung zur Hälfte der Frau zu.
Die sozial-liberale Koalition bringt dadurch zum Ausdruck, daß die Arbeit der nicht erwerbstätigen Hausfrau mit Haushaltsführung und Kindererziehung als vollgültige Leistung bewertet wird, die das wirtschaftliche Ergebnis der Ehe in gleichem Anteil erbringt. Das muß als einleuchtend und sozial vollkommen gerecht angesehen werden, weil es Vorrechte des einen Partners sowie Abhängigkeit des anderen Partners gegeneinander aufhebt.
Bisher nimmt der Mann bei einer Scheidung alle Versorgungsansprüche mit und gibt nur dann etwas ab, wenn er zur Unterhaltszahlung verurteilt ist. Selbst dann kommt es häufig zu unverschuldeter Not der Frau. Das weiß jeder, der einmal im Petitionsausschuß tätig war und die Eingaben geschiedener Witwen bearbeitet hat.
Der heutige vorliegende Reformgesetzentwurf sieht bereits für den Übergang eine Erleichterung der Voraussetzungen für das Gewähren von Witwenrenten an geschiedene Ehefrauen vor. Die geschiedene Ehefrau eines verstorbenen Versicherten wird immer eine Witwenrente erhalten, wenn sie invalide ist oder mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht oder wenn sie im Zeitpunkt der Ehescheidung oder bei Beendigung der Erziehung mindestens eines waisenrentenberechtigten Kindes das 45. Lebensjahr vollendet hat. Selbst wenn sie diese Voraussetzungen nicht erfüllt, erhält sie mit der Vollendung des 60. Lebensjahres die Geschiedenenwitwenrente.
Im Blick auf alle erwähnten Verbesserungsvorschläge dieses Rentenreformprogramms läßt sich sagen, daß sie eine zeitgerechte und tragfähige Grundlage für die Weiterentwicklung einer eigenständigen sozialen Sicherung der Frau sind. Es darf wohl schon heute angenommen werden, daß alle früher oder später betroffenen Frauen die Verbesserung ihrer Stellung in der gesetzlichen Rentenversicherung zustimmend akzeptieren werden. Sie werden erkennen, daß dieses zukunftsorientierte Konzept unserer Sozialpolitik mehr Lebenssicherheit verwirklichen hilft.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kalinke. Für sie ist von der Frak-
9266 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Präsident von Hassel
tion der CDU/CSU eine Redezeit von 30 Minuten beantragt worden.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist eine schwierige Sache, vor einem leeren Haus — die großen Worte stimmen nicht mit dem Interesse der Fraktionen, und dies gilt für alle Fraktionen, an diesem Thema überein — über so schwerwiegende und in der Tat so „wichtige Fragen" großer Reformversprechen und solcher Reformansätze, die Reformen einleiten sollen, zu diskutieren. Herr Professor Schellenberg hat gesagt, dieser Tag werde ein guter Tag für die Rentenversicherung sein. Wir hoffen, daß es ein guter Tag werden wird. Er kann es aber nur werden, meine Kollegen, wenn Regierung und Opposition aufeinander hören, wenn hier sachlich und sachverständig diskutiert wird und wenn nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in den Versammlungen draußen und in den Flugblättern und Beilagen, die in den Hausfrauenzeitungen verteilt werden, „Klarheit und Wahrheit", die einige Mitglieder der Regierungsparteien erwähnten, wiederzufinden sind.
Nicht die großen sozialen Versprechungen, denen zu allen Zeiten und besonders „zu bestimmten Zeiten" Wert beigemessen wird, nicht die Illusionen und Wunschbilder sind es,
die mehr soziale Sicherheit schaffen. Es sind auch nicht die Forderungen und Versprechen, sondern in der Tat eben „Wahrheit und Klarheit" über die Möglichkeiten des Gebotenen und Versprochenen und über den Preis, den das alles kosten soll, die wir vermissen.
Es fällt mir sehr schwer, wegen der begrenzten Zeit, die ich zur Verfügung habe, zu den Ausführungen des Kollegen Schellenberg zum Rentenniveau nicht Stellung nehmen zu können. Ich muß hier das wiederholen, was einige meiner Kollegen schon angedeutet haben. Wenn Sie auf die in den nächsten zehn Jahren eintretenden Folgen der Koppelung der Renten an die jetzige höhere Lohnentwicklung hinweisen, nützt das den Rentnern in diesem Jahr bei der exorbitanten Kaufpreisinflation und bei dem sinkenden Kaufwert ihrer Renten nichts. Ein solcher Hinweis nützt ihnen genausowenig, wie den Menschen im anderen Teil Deutschlands ihre Hoffnungen nützen, daß sie vielleicht mit 65 Jahren zu uns kommen dürfen.
Ich glaube, daß muß Ihnen deutlich erklärt werden —, daß es falsch ist, daß wir hier in diesem Hause nicht von den Fragen einer variablen Altersgrenze gesprochen hätten. Als wir uns im Jahre 1957 unter der Führung der CDU/CSU mit Ihrer Zustimmung — und dies hat sich als gut und richtig erwiesen — für das vorgezogene Altersruhegeld für Frauen entschieden haben, haben wir die erste
wirklich große Tat für die vielen berufstätigen Frauen gemeinsam getan. Wir werden jetzt nur zu überlegen haben, wie es mit der Frage der Beschäftigung, der Frage des 'möglichen Zuverdienstes sein wird. Ich halte es für positiv, daß die Regierung an dieser Lösung des vorgezogenen Altersruhegeldes für Frauen festhalten will.
Wer in diesen Wochen die Diskussion, die besonders in den Frauenverbänden und in der Presse geführt wird, verfolgt, kann 'beruhigt feststellen, daß die veränderte Situation der Frau in der Gesellschaft und auch die veränderte Rolle der Frau im Zusammenhang mit der anders verstandenen Gleichberechtigung besser erkannt und zunehmend neu überdacht wird. Aber die Folgerungen, die die Regierung daraus gezogen hat, und die Folgerungen, die sie als Regierungsparteien z. B. aus der großen Diskussion über die Frauenenquete und die Sozialenquete und auch über den Rentenbericht — er enthält 150 Punkte —, den sie uns selber vorgelegt hat, gezogen hat, halten wir für nicht ausreichend. Ich kann nur hoffen, daß die von der SPD-Fraktion gegebenen Zusagen, nach der Anhöhrung von Sachverständigen im Ausschuß vieles zu verbessern und zu verdeutlichen, zu gemeinsamen besseren Lösungen führen werden. Nach zwei Jahrzehnten — es liegt mir besonders daran, das festzustellen —, in denen in diesem Hause die Christlich Demokratische Union und die Christlich Soziale Union die Verantwortung für eine fortschrittliche und dem laufenden Wandel der Gesellschaft angepaßte Sozialpolitik getragen haben, ist die Bundesrepublik nicht etwa ein unterentwickeltes Land — so hörte man es draußen manchmal —, das große Ansätze zur Klage bietet, weil etwa eine ganze Frauengeneration nun sozial ungesichert und unversorgt sei.
Das ist doch nicht richtig! Es gibt natürlich — wer wollte das bestreiten! — ungelöste sozialpolitische Probleme, verbesserungswürdige Zustände, die laufend Aufgabe permanenter Reformen bleiben. Es sind aber nicht zuletzt die Folgen der Wohlstandsgesellschaft und des großen Strukturwandels, die uns zum Suchen nach neuen Wegen und neuen Lösungen zwingen werden.
Das gilt in ganz besonderer Weise für die soziale Sicherung der berufstätigen Hausfrauen, die nur im Haushalt beschäftigt sind. Darum muß darauf hingewiesen werden, daß die nicht außerhäuslich erwerbstätige, aber im Haushalt vollbeschäftigte berufstätige Frau von Ihnen zwar gesehen wird, dagegen noch nicht die große Zahl der mithelfenden Ehefrauen, der vielen Frauen in den freien Berufen, der vielen Selbständigen unter den Frauen. Ich denke nur an die Situation der Journalistin, der Ärztin, der Landfrau und anderer. Sie wissen sehr genau, welch große Lücken bei diesem ersten Schritt, von dem Sie sprechen — ich würde sagen: bei dem ersten Schrittchen —, noch auszufüllen sind.
Niemand will Ihre guten Absichten verkleinern; denn wir haben es ja alle gemeinsam Monate hin-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9267
Frau Kalinke
durch diskutiert und seit der Sozialenquete immer wieder Lösungen zu finden versucht. Niemand wird bestreiten, daß dieser erste Schritt Geld kostet und ein Anfang ist, der allerdings gesellschaftspolitisch zunächst nur den jungen Frauen zugute kommen wird, die sich dank unserer in zwei Jahrzehnten betriebenen Politik in einer viel besseren Situation und in einer völlig gewandelten Lage befinden mit vielen Chancen, die gerade für die jungen Ehepartner bestehen. Dabei ist das sozialpolitische Thema Nr. 1 doch die Lage der älteren Frauen: Es sind die Alleingelassenen, die Witwen, die geschiedenen Frauen, die berufstätigen Frauen, die für sich, ihre Kinder und andere Angehörige ein ganzes Leben lang die Last unserer sozialen Wirklichkeit mit allen Realitäten der Industriegesellschaft wie des Wohlfahrtsstaats tragen müssen.
Die Regierung hat auf die Fragen meiner Fraktion, die wir in Drucksache VI/2363 zu diesem wichtigen Thema gestellt haben, leider sehr unbefriedigend Antwort gegeben. Ich sehe ein, daß sie in vielen Fällen vielleicht nicht antworten konnte; in anderen wollte sie vielleicht nicht antworten. Aber die Fachliteratur und der Mikrozensus geben darüber einigermaßen Auskunft. Davon hätte auch die Regierung Gebrauch machen können.
Ich finde es sehr merkwürdig, daß die besondere Lage der 10 Millionen Hausfrauen in der gesellschaftspolitischen Diskussion fast so dargestellt wird wie die Lage der Rentner. Aber weder Hausfrauen noch die Rentner sind eine homogene Klasse von Bürgern. Es ist gar kein Zweifel — das wird hoffentlich von allen gleichermaßen gesehen —, daß die Leistungen, die eine Hausfrau im Vollberuf erbringt — nicht nur als Konsument für die Volkswirtschaft, nicht nur als Mutter und Erzieherin, besser gewürdigt werden muß. Ich sehe die Hausfrauen auch als diejenigen, die die Last der zwei Kriege und der Nachkriegszeit in besonderer Weise getragen haben, die als Vertriebene auf alle individuellen Sicherheiten verzichten mußten, deren soziale Lage ein ganz großes sozialpolitisches Problem sein kann, aber nicht in allen Fällen ist, und ich sehe gerade in der Gegenwart die Unfallhäufigkeit, das Schicksal der vielen jungen Witwen und das Schicksal der älteren, die nicht mehr in den Arbeitsprozeß zurückkehren können. Allein die Probleme der sozialen Sicherheit der älteren Frauengeneration könnten eine große Debatte allein ausfüllen!
Die Sozialenquete hat das deutlich gemacht. Zwei Drittel aller Hausfrauen sind zwar im erwerbsfähigen Alter, bleiben aber in Haushalt und Familie. Es wäre ganz falsch, wenn wir diese Personen so betrachteten, als ob sie nun alle ohne soziale Sicherung wären.
Mit der Öffnung der Rentenversicherung, die wir realistisch, positiv einschätzen, wird in nur wenigen Fällen aber den älteren Mitbürgern die Möglichkeit gegeben werden, die große Wartezeit noch zu erfüllen. Außerdem dürften, auch wenn ihnen die nachträgliche Beitragsentrichtung gestattet wird, die meisten keine Chance haben, die dafür notwendigen Summen, von denen leider niemals gesprochen wird und von denen auch in Ihren Flugblättern nichts zu lesen ist, aufzubringen. Also weder die Öffnung der Rentenversicherung allein noch die Einführung des Rentensplittings im Scheidungsfall, noch die Teilung der Versorgungsansprüche zwischen Ehepartnern schaffen eine ausreichende soziale Sicherung für alle Frauen.
Ich glaube auch nicht, daß sich die Witwen von Beamten, die in der Regel sehr gut versorgt sind, alle abhängig fühlen und unglücklich darüber sind, daß sie einen abgeleiteten Versorgungsanspruch haben, wie es hier zum Ausdruck kam. Ich meine, auch das muß hier einmal ausgesprochen werden!
Es ist statistisch nachzuweisen, daß die Ehefrauen, die im Einverständnis mit ihren Ehepartnern verantwortungsbewußt gehandelt haben und handeln und sich selbst versorgen, die einen hohen Anspruch aus Eigentumsbildung, berufsständischer Sicherung, Alterssicherung oder Lebensversicherungen haben, nicht schlechthin als homogene Klasse unversorgter Hausfrauen hingestellt werden können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Nölling?
Ich darf wegen der knappen Zeit, die mir zur Verfügung steht, darum bitten, mir jetzt keine Zwischenfrage zu stellen.
Wir werden eine halbe Minute anhängen.
Ich werde auf alle Ihre Fragen antworten, wenn mir noch dafür Zeit bleibt.
Eine halbe Minute wollen wir gern hinzufügen.
Die halbe Minute, bitte schön, Herr Dr. Nölling! Ich will höflicher sein als Herr Schellenberg.
— Nein, er hat meine Frage nicht zugelassen.
Frau Kollegin Kalinke, werden wir, obwohl Sie nur sehr wenig Zeit zur Verfügung haben, dennoch damit rechnen können, daß Sie uns sagen, wie weit Ihre Gesetzentwürfe dem breiten Spektrum von Problemen der Frau in dieser Gesellschaft Rechnung tragen?
Wenn ich mehr als eine halbe Stunde Zeit hätte, wäre es mir ein großes Vergnügen,
9268 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Frau Kalinke
Ihnen den ganzen „Blumenstrauß" der Möglichkeiten darzulegen.
— Ach, lieber Herr Schellenberg, machen wir doch hier keine Schauspiele, sondern sprechen wir sachlich über die Probleme, die wir gemeinsam lösen müssen!
— Herr Professor Schellenberg, ein Mann Ihrer Partei, dessen Sachkenntnis ich hoch einschätze, nämlich der frühere Staatssekretär Dr. Walter Auerbach, hat auf einer Tagung der Gesellschaft für sozialen Fortschritt sehr nüchtern und, wie ich meine, sehr realistisch das beurteilt, „was auf dem Schleichpfad über die Änderung des Ehescheidungsrechts in die Diskussion geraten eist". Ich neige dieser nüchternen Beurteilung weit mehr zu als Ihren Sprüchen, Herr Professor Schellenberg. Einerseits haben Sie gesagt, Sie hätten die Erhöhung der Beiträge für falsch gehalten, andererseits haben Sie mir aber keine Möglichkeit gegeben, Sie zu fragen, ob Sie denn nun für eine Senkung bzw. Aussetzung der schon beschlossenen Beitragserhöhung auf 18 % sind?!
— Aha, das ist also klar, und zwar schon ab 1973 statt ab 1974?!
Mir geht es darum, deutlich zu sagen, was Sie bisher nicht gesagt haben. Den Hausfrauen und allen, die es angeht, muß gesagt werden, daß eine freiwillige Versicherung auf der Basis eines Einkommens von 100 DM mit einem Beitrag von 16, 17 oder 18 DM nicht geschaffen werden kann. Wir sollten erneut darum bemüht bleiben, daß dieser Mindestbeitrag von ei, .em Einkommen von wenigstens 200 oder 300 DM erhoben werden muß, wenn wir verhindern wollen, daß diejenigen, die Sie werben und für die Sie die Rentenversicherung attraktiv machen wollen, auch in Zukunft Renten von 15 oder 20 DM, also neue Mindestrenten, bekommen. Schließlich sollten wir verhindern, daß wegen zusätzlicher Leistungen — ich verweise hier nur auf die Krankenversicherung der Rentner — zwangsläufig neue und schwierige Probleme entstehen, deren Lösung dann auf Kosten der Versichertengemeinschaft finanziert werden muß.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Absicht, mit Ihnen sehr sachlich und sachverständig, aber auch konkret darüber zu sprechen, daß es künftig nach Ihrem Modell keine Staatspension für Hausfrauen geben kann und geben wird und daß Sie und Ihre Regierung nach wie vor den Auftrag haben, der Öffentlichkeit zu sagen, was Ihre Vorschläge kosten und welche Summen dafür aufgebracht werden müssen.
Auch Herr Staatssekretär Ehrenberg, der sich neuerdings als Festredner auf großen Frauentagungen betätigt, muß das tun. Er muß sagen, was es bedeutet,
wenn die Hausfrauen den Wert der Hausfrauentätigkeit auf 1000 DM einschätzen, und er muß ihnen sagen, daß sie dann für ihre Alterssicherung 170 bzw. 180 DM im Monat, nicht im Jahr, und zwar Monat für Monat, mindestens neun Monate wegen der Dreivierteldeckung, nach Ihrem Gesetzentwurf aufbringen müssen und daß sie dann nach 35 bis 40 Jahren eine Rente von 400 bis 450 DM erwarten können. Wie hoch der Kaufwert dieser Rente dann trotz Dynamisierung sein wird, wird sich erweisen. Dies müssen Sie sagen, damit nicht Illusionen und ein Nebel von sozialen Versprechungen verbreitet werden.
Wir gehen natürlich nicht von der Annahme aus, es gebe in Zukunft nur berufstätige Frauen und keine Hausfrauen mehr, die ihren Beruf als Hausfrau und Mutter daheim erfüllen wollen. Wir wollen hier auch nicht unsererseits Illusionen wecken und Dinge versprechen, von denen wir genau wissen, daß sie im Bereich der sozialen Rentenversicherung nur zu realisieren sind, wenn sie allen Versicherten, den Pflichtversicherten genau wie den freiwillig Weiterversicherten, und nicht nur den Versicherungsberechtigten gleichermaßen gewährt werden. Natürlich können wir Ihnen auch nicht abnehmen, daß Sie eine Wohltat für alle Frauen erstmalig einführen, wenn Sie damit in der gesetzlichen Rentenversicherung beginnen und völlig verschweigen, daß die große Zahl der Frauen, die nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sind und es wahrscheinlich auch niemals sein werden, vielleicht auch nicht sein wollen, nach dem bisherigen Text Ihrer Entwürfe von allen diesen Wohltaten nichts mitbekommen werden.
Ich habe anfangs schon gesagt: Das große Problem darf also nicht so gesehen werden, als gebe es eine homogene Klasse von Frauen, die Sie ganz einfach damit erreichen, daß Sie die Rentenversicherungen öffnen. Wer mehr soziale Sicherung für alle Frauen fordert — und wir wollen das —, wer die Diskussion über die Sozialenquete und die Frauenenquete ernst nimmt — und wir tun das — und wer die Anregungen und Gespräche auf dem Juristentag sorgfältig überprüft — und wir haben das getan —, der muß jetzt feststellen, welche sozialen Tatbestände Prioritäten haben. Selbst lautstarke Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Situation der Versorgung oder der Nichtversorgung vieler Frauen eben doch noch dringendere Tatbestände zu geben scheint!
Meinen Freunden in der Christlich Demokratischen Union und in der CSU erscheint besonders wichtig die Frage nach der Versorgung der berufsunfähigen, also der nicht mehr arbeitsfähigen Frauen oder Witwen, der geschiedenen Frauen, der alleingelassenen, auch der ledigen Mütter zu stellen, die hier überhaupt nicht berücksichtigt sind. Ich glaube, daß die Feststellungen von Professor Albers, Kiel, die er schon bei der ersten Anhörung zur Frauenenquete traf, sehr bedeutend sind. Ihm schien die „Hausfrauenrente", die es ohne ausreichende Beitragszahlung nicht geben kann, nicht ganz so wünschenswert zu sein wie etwa eine
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9269
Frau Kalinke
bessere Lösung der Witwenversorgung. Ich halte es in der Tat für eine bessere Lösung, für die älteren Frauen, die Kinder haben und aus wirtschaftlichen Gründen trotzdem arbeiten müssen oder nur teilarbeiten können und die von den Vorteilen dieses Angebots genauso wenig haben werden wie die vielen Selbständigen, die Angehörigen der freien Berufe von dem Angebot in bezug auf das sogenannte Babygeld, mehr zu tun. Auch ich finde die Versprechen alles andere als attraktiv - wenn erst klar werden wird, daß damit zwar ungewöhnliche Hoffnungen bei den Frauen geweckt werden, die ein ganzes arbeitsreiches Leben hinter sich haben, Kinder großgezogen haben, obwohl gerade diese älteren Frauen von den Regierungsvorschlägen nichts erwarten können, weil alle Verbesserungen erst für die Frauen morgen, nämlich nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, gelten werden.
Die Regierung hat also weder von den Erfahrungen, die sie selbst mit ihrem Rentenbericht gegeben hat, noch von den Anregungen, die im Bundesrat gegeben worden sind, Gebrauch gemacht. Meine Freunde meinen mit mir, daß es eben vorrangige Probleme gibt, wie z. B. das Problem der Höhe, aber auch Teilung der Hinterbliebenenrenten zwischen Witwen und früheren Ehefrauen, der Renten für Geschiedenen-Witwen, des Fortfalls und des Wiederauflebens von Renten im Fall der Wiederheirat, der Kumulierung von Renten, das nur lose angesprochen ist, und nicht zuletzt die vielen ernsten Fragen der besonderen Gruppen, der Kriegsopfer, der Vertriebenen, der Fälle von Wiedergutmachung, die auch gerade in bezug auf die Frauenschicksale einer besonderen Berücksichtung bedürfen. Sie alle gehen leer aus! Ich hoffe, daß es uns im Ausschuß gelingen wird, nach Anhörung der Sachverständigen den Entwurf entscheidend zu verbessern. Ich wiederhole: Die Witwenversorgung, die soziale Lage der älteren Frauen — das ist das sozialpolitische Problem Nr. 1. Ich bekenne, daß es für uns in der Sozialpolitik Prioritäten gibt, nämlich da, wie es mein Kollege von der CSU eben gesagt hat, wo eben die Not am größten ist und wo der Gesetzgeber zum schnellen Handeln aufgefordert ist. Das Problem der sogenannten Alten-Last, d. h. der älteren Menschen, die weder von der Öffnung noch vom Babyjahr etwas zu erwarten haben, wird mit allen Ihren Vorschlägen überhaupt nicht berührt und wird damit auch keiner Lösung zugeführt.
Auf Grund von Wunschbildern, die geweckt werden, kann und wird die Hausfrauenrente weder als Wahlgeschenk noch als Geschenk des Wohlfahrtsstaates noch als eine Mütterpension attraktiv sein, wenn Sie nicht offen zugeben — was der stellvertretende Vorsitzende des DGB gesagt und geschrieben hat —, daß das alles „ein Zukunftsmodell" ist.
Wir sind wohl darin einig, daß auch die an dieses Modell geknüpfte Forderung, die Witwenrente entfallen zu lassen, nicht Wirklichkeit werden darf, solange nicht eine andere ausreichende Sicherung vorhanden ist; ebenso darf in der Frage der Neuordnung des Rechts für die geschiedenen Frauen nichts geschehen, solange nicht die soziale Sicherung deutlicher und sehr viel klarer für alle verständlich und gerecht geregelt werden wird. Ich habe den Herrn Staatssekretär gebeten — und ich hoffe, er wird das in Zukunft tun —, endlich das Modell, das der BFA-
Präsident gelegentlich im Fernsehen vorgerechnet hat, bekanntzugeben. Wir haben den Minister für Arbeit mehrfach aufgefordert, das zu tun.
Ich glaube, daß eine Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige wie für Hausfrauen nicht diskutiert werden kann, ohne angesichts der notwendigen Einsicht in die Forderungen des Ortskrankenkassentages oder die Klagen der Ersatzkassen über zunehmende Belastungen auch flankierende Reformkonzeptionen für die Krankenversicherung der Rentner vorzulegen. Leider habe ich davon überhaupt nichts gehört! Es ist nicht erträglich, daß die große Zahl der berufstätigen Frauen in der Solidarhaftung diese wachsende Last auch nach Öffnung der Krankenversicherung und der Rentenversicherung weiter tragen muß. Ich sagte schon, daß viele dieser Leistungen nur einem Teil der Versicherten zugute kommen werden.
Das gilt in besonderer Weise für die neue Ersatzoder Ausfallzeit, die als familienpolitische Leistung erfolgen soll. Wir begrüßen den Ansatzpunkt dazu und halten es für positiv, daß die Untersuchungen und Anregungen, die schon unter der Regie unserer Kollegin im Familienministerium erfolgt sind, nun wenigstens, wenn auch sehr dürftig, als erster Versuch beabsichtigt sind. Aber wir verschweigen nicht, daß es Probleme gibt, die Sie auch gesehen haben, wie sich aus Erläuterungen ergibt, die wir sehr sorgfältig im Ausschuß untersuchen müssen. Wir werden dabei auch die Situation der Hausfrauen ohne Kinder gegenüber den Hausfrauen mit Kindern zu bedenken haben und die Situation der alleinstehenden berufstätigen Frau, deren Beitrags- und Steuerbelastung in ungewöhnlicher Weise zugenommen hat und leider weiter zunehmen wird, berücksichtigen müssen. Darum meine ich, daß Sie auch klarstellen müssen, wie es mit den Leistungen des „Babyjahres" für alle Mütter sein wird und wie Sie sicherstellen wollen, daß nicht nur die sozialversicherten, sondern auch die Frauen der Beamten — bei der Erneuerung des Beamtenrechts wird das eine Rolle spielen —, wie die Selbständigen, die Angehörigen der freien Berufe unter Umständen auch im Steuerrecht eine äquivalente Leistung erhalten. Das „Babyjahr" würde sonst zu einem Ärgernis und nicht zu einer Wohltat, wenn die gleiche Leistung nicht auch im Versorgungsrecht und nicht für alle übrigen Bürger Wirklichkeit würde. In dem Gutachten, das der Wissenschaftliche Beirat des Familienministeriums auch schon unter der Regie der Christlich-Demokratischen Union und nicht erst jetzt vorgelegt hat, ist ein sehr bemerkenswerter Vorschlag gemacht worden, nämlich die Zeiten der Kinderbetreuung ebenso zu behandeln wie Wehrdienstzeiten. Wir sollten uns im Ausschuß sehr ernsthaft darüber unterhalten, ob der Ersatz der Leistungen an die Rentenversicherungsträger nicht nach diesem Modell -
d. h. analog der Erstattung im Falle der Erfüllung der staatsbürgerlichen Wehrdienstpflicht — gehandhabt werden könnte.
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Frau Kalinke
In der Bundesrepublik gibt es 3,9 Millionen Frauen, die mindestens ein Kind unter sechs Jahren haben. Es wird für uns eine wichtige Sache sein, zu klären, wie hier ein fiktiver Betrag, der als Einkommensgrundlage angesehen wird, gefunden werden kann, damit es eben nicht nur 7 oder 10 DM sind, die dann jene, die heute eine Staatspension für Mütter erwarten, monatlich - wirklich bekommen werden, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. Über eine Ersatzleistung an die Sozialversicherungsträger sollte sorgfältig gesprochen und diskutiert, vor allem aber sollten die Versicherten darüber aufgeklärt werden, wer die Kosten tragen wird.
Meine sehr verehrten Herren und Damen, es ist eine sehr tragische Sache, daß wir in dieser Debatte nicht genügend Zeit haben, die ganz wichtige Frage der Neuordnung des Rechts der Geschiedenen und ihrer Versorgung gründlich anzusprechen. Meine Freunde haben hier ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, daß es dann, wenn der Ehemann einen Rentenanspruch aufteilen muß, zu weiteren kleinen und unzureichenden Renten kommen wird. Ich möchte dieser Sorge noch die andere hinzufügen, daß die Mehrzahl der Ehemänner im Scheidungsfalle auch kaum in der Lage ist die Zahlung für die mögliche Nachversicherung zu leisten; denn hier müssen, wie die Regierung selber in ihrer Antwort gesagt hat, 11 000, 22 000 oder 35 000 DM als Summe eingezahlt werden. Wir sollten hier sehr nüchtern, sehr konkret Überlegungen anstellen über das, was möglich und was nicht realistisch ist. Wir sollten aber auch die Problematik der Vorschläge des Bundesjustizministers zur Versorgung der geschiedenen Ehepartner so sachlich beraten, daß sich zeigt, welche Gefahren beim Rentensplitting bestehen; um dann gemeinsam nach Wegen zu suchen, um diese Gefahren zu beseitigen und es zu einer vernünftigen Lösung kommen zu lassen.
Auch hier möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir nicht davon ausgehen, daß alle Ehen in Zukunft geschieden werden oder daß auch nur die Zahl der Scheidungen zunehmen wird. Wir möchten vielmehr hoffen, daß unsere Gesellschaftspolitik so beschaffen sein wird, daß wir mit dazu beitragen können, daß der Schutz von Ehe und Familie anders und besser gewährleistet wird als bisher.
Dazu gab es auch bisher schon in der Familienpolitik eine Fülle von Ansätzen, in der Sozialversicherung, so daß wir den Ausspruch, „es sei ein Novum, erstmals familienpolitische Leistungen in der Sozialversicherung zu haben", nicht unwidersprochen stehenlassen.
Wir haben eine umfassende Leistung der Familienhilfe in der Renten- und Krankenversicherung; wir haben Leistungen der Familienhilfe, die von den Frauen, die gerade berufstätig sind, aufgebracht werden müssen. Hier spreche ich neben den übrigen Fragen — Versorgungsausgleich für Geschiedene, Verbesserung der Witwenleistungen — besonders ein großes Thema an, das wir einmal, nämlich 1957, in diesem Hause beinahe gemeinsam gelöst hätten: den Rechtsanspruch der berufstätigen Frauen, die selbst ein Leben lang Beiträge zahlen, auf eine Hinterbliebenenrente, die natürlich denjenigen, die Jahrzehnte Beiträge zahlten und Hinterbliebene unterhalten, nicht länger versagt werden kann, wenn nun neue Personenkreise in die Solidarhaftung der Versicherung der Arbeitnehmer hineinkommen. Ich hoffe, daß FDP und SPD dann zu ihren alten Anträgen von 1957 stehen werden, und zwar mit den gleichen Begründungen wie damals, und daß wir gemeinsam im Ausschuß auch hier zu besseren Lösungen kommen werden.
— Ich stehe mit Sicherheit dazu, und ich hoffe, Sie auf Grund Ihrer Lebenserfahrung auch!
Die Gründe für das Stückwerk in den Reformplänen der Regierung oder in dem Bündel von fünf Reformpunkten liegen sicher nicht nur in Finanzproblemen. Das Fehlen der für viele Versprechungen notwendigen Mittel im Haushaltsansatz, das wir festgestellt haben, ist sicherlich nicht das einzige, was wir hier als Grund für die Zurückhaltung ansehen müssen. Auch die Kompliziertheit der von Ihnen und uns positiv bewerteten ersten Schritte auf dem Wege zu besseren Lösungen kann nicht verdecken, daß es bei Ihren Prioritäten um ganz handfeste politische, besonders parteipolitische Interessen geht, die sicher jeder politischen Partei, jeder regierenden Partei in allen demokratischen Ländern der Welt nicht unvertraut sind.
Wir sollten aber nicht mit großen und schönen Worten darüber hinwegreden, sondern ehrlich sagen, daß manche Kontroverse im großen Streit um Reformen eben symptomatisch ist für die Schwierigkeit der Situation, für die Schwierigkeiten der Regierung und der Koalitionsparteien, und daß deshalb bei Ihnen die Prioritäten, wie ich fürchte, nicht immer nach Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, sondern nach anderen Gesichtspunkten, oder auch nicht nur nach sozialen Tatbeständen, sondern nach anderen Absichten gesetzt werden. Ich staune manchmal ein wenig über den Mut, den Herr Professor Schellenberg hat, wenn er unterstellt, als könnten wir uns seit seinem Berliner Modell, seit den Auseinandersetzungen um die VAB bis heute nicht sehr gut aller seiner Erklärungen und Aussprüche erinnern. Wir können die Protokolle nachlesen, und seien Sie sicher, daß wir in der Lage sind, auch unsererseits einiges aus dem Zettelkasten herauszuholen. Wir haben das heute morgen nicht getan.
Ich sehe es für die CDU/CSU als positiv an, daß bei Ihnen endlich Einsichten zu wachsen scheinen. Wenn nämlich Herr Schellenberg an dieser Stelle über Nettoentgelt überhaupt schon sprechen kann, während er früher andere Kollegen von uns angriff,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9271
Frau Kalinke
wenn sie das Wort nur in den Mund nahmen, muß ich das als einen Fortschritt ansehen. Realitäten — die will die Regierung ja — können nur dann richtig gesehen werden, wenn man den Mut hat, von dem zu sprechen, worauf es ankommt, nämlich von der Kaufkraft der Leistungen, von der Sorge um den steigenden Wert der Leistungen auch dann, wenn sich eine schlechte Wirtschaftspolitik, eine gefährliche Finanzpolitik, wenn sich die Schwäche der Regierung, die mit den steigenden Preisen nicht fertig wird, auf dem Rücken der Rentner auswirkt, wie das zur Zeit der Fall ist.
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu Ende kommen.
Herr Präsident, wie könnte ich dem nicht sofort Folge leisten! — Wir werden die Regierung also an allen Vorschlägen, die sie vorlegen wird, sehr sorgfältig messen; nicht an den Worten, sondern an den Taten, nicht an den Ankündigungen, sondern an den Beschlüssen.
Wir werden auch registrieren, ob die Herren der FDP, die der Regierung Hilfestellung geben, zu dem stehen werden, was sie draußen reden und was sie hier sagen, oder ob sie wie bisher mit einer Stimme Mehrheit zu allem ja sagen werden, was Sie dann als liberale Grundsätze und liberale Funktionen in dieser Koalition bezeichnen.
Wir werden darüber sicherlich nicht nur im Ausschuß, sondern gewiß in der zweiten Lesung eine vertiefte Diskussion führen können. Das sichern wir Ihnen zu.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Kollegin Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Herr Kollege Müller hat heute morgen — ich meine zu Recht — gesagt, daß das, was die jetzige Gesetzesvorlage zur Verbesserung der Situation der Frauen bringt, keineswegs die Reform für die Hausfrauen sein kann. Ich stimme dem voll zu. Aber dann habe ich den ganzen Vormittag sehr sorgfältig zugehört und gedacht, jetzt wird die CDU/CSU sagen, wie sie das besser machen will. Aber da war Sendepause, totale Sendepause, wir haben nichts davon gehört, worin nun das Konzept der CDU/CSU für die eigenständige Hausfrauenversicherung besteht.
Dabei wurde in Ihrem Düsseldorfer Programm vor knapp einem Jahr die Formulierung gefunden, die lautet:
Langfristig soll für alle Frauen ein eigenständiger Anspruch
auf eine ausreichende Sicherung im Alter und bei Invalidität angestrebt werden.
„Langfristig soll angestrebt werden", meine Herren und Damen! Man sieht im Hintergrund so richtig das Jahr 2000, wenn nicht sogar ein späteres Datum.
und, Herr Kollege Müller, das, was Frau Kollegin Kalinke soeben sagte, klang auch nicht so, als ob das vorrangig der Wunsch der CDU/CSU sei. Man hat den Eindruck — ich glaube, da liege ich nicht falsch —, daß sich die Frauen in der CDU seinerzeit nachdrücklich für den eigenständigen Anspruch eingesetzt haben, daß aber die in der Mehrheit befindlichen Männer gar nicht so wild darauf waren.
— Frau Kalinke, die CDU/CSU sitzt so im Glashaus, daß ich das an Ihrer Stelle jetzt nicht sagen würde. Die CDU/CSU ist nämlich prozentual am schwächsten vertreten.
— Mit vier! Ich bin ja auch noch da, Frau Kalinke. Wir sind immerhin mit einem Siebtel der Fraktion vertreten. Das ist bei Ihnen nicht der Fall. Aber wir wollen doch jetzt nicht auszählen. Oder sollen wir Hammelsprung machen?
Meine Herren und Damen, es ist eindeutig festzustellen, daß auch nicht in Ansätzen erkennbar ist, in welcher Richtung und in welcher Weise diese Sicherung der Hausfrauen von der Opposition vorgesehen ist. Frau Kollegin Kalinke, wohl jeder in diesem Raum ist davon überzeugt, daß Sie uns in einer halben Stunde eine Fülle von Vorschlägen machen würden. Aber ich bin nicht davon überzeugt, daß Ihre Fraktion diese Vorschläge abdeckt. Es kommt doch nicht darauf an, was Ihnen einfällt, sondern darauf, welche Vorschläge die CDU/CSU-Fraktion in ihrer Gesamtheit zur Verbesserung der Situation der Frauen macht. Und da haben wir eben nichts gehört.
Sie haben den merkwürdigen Unterschied gemacht, daß Sie vorrangig vor der Hausfrauenversicherung die Witwenversorgung verbessern wollen. Meine Herren und Damen, gerade die nicht berufstätigen Witwen meinen wir ja, wenn wir eine verbesserte Hausfrauensicherung anstreben; denn die Hausfrau mit nur 60 % ist sehr viel schlechter dran als eine berufstätige Frau, die die volle Alterssicherung aus ihrer Berufstätigkeit nachher zur Verfügung hat. Deswegen kommt im Ergebnis die Einführung einer Hausfrauenversicherung einer Verbesserung der Witwenversorgung gleich. Darum geht es doch eigentlich.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?
Würden Sie mir diese Sachfrage gestatten: Wie stellen Sie sich vor — und
9272 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Frau Kalinke
zu welchem Preis und mit welchen Beiträgen für die Nachentrichtung; 25 000 DM oder 30 000 DM? —, daß ältere Witwen bei der Öffnung der Rentenversicherung als Hausfrauen auf diesem Wege eine Verbesserung der Witwenversorgung erreichen können? Das müssen Sie uns wirklich sagen.
Frau Kalinke, ich habe deutlich gesagt, daß dies erst der Anfang und der Ansatz einer von uns gewünschten, und zwar im Wege des Splittings gewünschten Hausfrauenversicherung ist. Wir haben hier wenigstens einen Ansatz. Sie haben dagegen eine andere Form angedeutet. Sie haben angedeutet, wenn auch nicht als Beschluß Ihrer Fraktion, das Überlegungen dahin gehen, der Hausfrau, solange sie nicht im Beruf ist, eine beitragsfreie Zeit anzurechnen. Nun wissen wir ja miteinander, daß jedes Jahr beitragsfreie Anrechnung für eine Frau mit Kind für jedes Lebensjahr des Kindes 1 Milliarde DM kostet. Wenn Sie etwa annehmen, daß die Mutter während des schulpflichtigen Alters ihres Kindes nicht im Beruf ist, müssen Sie davon ausgehen, daß das 16 Milliarden DM im Jahr mehr kostet. Da müßten Sie nun allerdings seitens der CDU/CSU uns sagen, wie Sie das finanzieren wollen.
— Frau Kalinke, ich bin gerade dabei, zu erklären, was wir statt dessen wollen; denn diese 16 Milliarden DM sind in der Tat nicht da. Wenn Sie meinen, wir dürften keine Hoffnungen wecken, dann hätten Sie das besser auch nicht angedeutet; denn es klang so, als wollten Sie das. Aber wenn Sie sagen, es geht nicht, dann ist es ja gut. Dann können wir das aus den Illusionen streichen.
— Wer es bezahlen soll, will ich Ihnen sagen. Wir streben ja das Splitting an. Das ist die gerechte Form. So wie es beim Erbrecht ist. Da bekommt jeder Ehegatte ein Anrecht auf die Hälfte des in der Ehe erworbenen Vermögens. Und auch das Einkommensteuer-Splitting geht von der Halbierung des Einkommens aus, weil das die gerechte Form der Aufteilung in der Ehe ist. Und so, meine ich, muß auch die Frau, wenn sie für den Mann zu Hause arbeitet, einen Anspruch auf seine halbe Alterssicherung haben.
— Ja, die Männer sind natürlich sehr allergisch, weil sie fürchten, man nähme ihnen etwas von dem weg, was sie erarbeitet hätten. Daß die Frau seit Jahrhunderten gearbeitet hat, ohne überhaupt Ansprüche zu bekommen, das nehmen Sie offensichtlich nicht als einen Mißstand an.
Aber wir halten das in der Tat für einen Mißstand, und wir hätten gewünscht, daß schon in früherer Zeit die jetzige Opposition, als sie Regierungsverantwortung trug, diesen Mißstand beseitigt hätte.
Ich habe gesagt, der jetzige Entwurf ist ein Anfang und ein Ansatz. Er sieht vor, daß bei einer Scheidung ein Rentenausgleich im Sinne des Splitting stattfindet. Damit ist der erste Schritt auf eine Regelung hin getan, über die wir uns noch sehr gründlich unterhalten müssen. Denn, nun spreche ich einmal die Gleichberechtigung der Männer an; das wird nötig. Ich kann nicht einsehen, warum in einer kinderlosen Ehe, in der beide Ehepartner berufstätig sind, die Frau im Alter 160 % Rente und der Mann 100% bekommt, weil er als Angehöriger keinen Anteil an dem Rentenanspruch seiner verstorbenen Frau hat, wohl aber umgekehrt. Das halte ich auf die Dauer nicht mehr für verfassungskonform. Wenn ich heute unter den tatsächlichen Gegebenheiten und angesichts der wachsenden Berufstätigkeit der Frau das Verfassungsgerichtsurteil von 1962 lese, scheint es mir sehr fraglich zu sein, ob wir die Ausschließung des Witweranspruchs auf die Dauer noch hinnehmen können. Von daher stellt sich automatisch die Frage, ob das hochgebrachte System in diesem Punkt weiter aufrechterhalten werden kann; denn eine allgemeine Witwen- und Witwerversorgung werden wir wohl kaum bezahlen können. Hier müssen wir zu einer Änderung kommen. Deswegen begrüße ich sehr, daß die Bundesregierung in ihrem Vorschlag zum Rentenausgleich bei den Geschiedenen die Richtung einer wirksamen Reform angedeutet hat.
So begrüße ich auch, daß für ein Baby im Rahmen der Versicherung ein zusätzlicher Anspruch gegeben wird. Wenn wir das Splittingsystem haben — nun bitte ich einmal die Herren zuzuhören —, dann haben auch die Männer Anteil daran, denn das Baby gehört ja nicht nur der Frau, sondern auch dem Vater. Wenn im Wege des Splitting alle Ansprüche geteilt werden, so auch die, die aus einem Babyjahr erwachsen.
Wir werden eine solche durchgreifende Systemreform nicht von heute auf morgen einführen können. Aber alles das, was jetzt vorgeschlagen wird, widerspricht nicht einer möglichen Globalreform, sondern liegt im Zuge einer solchen, und deswegen stimmen wir im Grundsatz den Vorschlägen zu.
Ich unterbreche die Aussprache. Wir treten in die
Fragestunde
ein. Ich rufe die Frage 105 — Drucksache VI/2938 — des Abgeordneten Rollmann aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf:
Trifft es zu, daß Staatssekretär Ahlers der Deutschen Welle gegenüber den Vorwurf der „Staatsferne" erhoben hat, und wenn ja, billigt die Bundesregierung diesen Vorwurf?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Zunächst möchte ich mich dafür bedanken, daß es möglich war, die Beantwortung um eine Woche zu verschieben. Ich konnte letzte Woche nicht hier sein.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9273
Ahlers
Wenn der Herr Kollege Rollmann einverstanden ist, möchte ich gern beide Fragen zusammen beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe auch die Frage 106 des Abgeordneten Rollmann auf:
Bei Bejahung des Tatbestands, was versteht die Bundesregierung im einzelnen unter dem Begriff „Staatsferne", und aus welchen Gründen wurde dieser Vorwurf erhoben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, es ist richtig, daß ich bei einer sehr freimütigen Diskussion mit den Redakteuren der Deutschen Welle, die mich eigens dazu eingeladen hatten und nun auch gebeten haben, die Diskussion fortzusetzen, neben positiven auch kritische Anmerkungen zur Arbeit der Deutschen Welle gemacht habe. Diese Kritik haben offensichtlich einige Journalisten nicht gut vertragen können. Ich habe zum Beispiel die Meinung geäußert, daß die Deutsche Welle ein zu expansives und damit zu teures Programm habe, sowohl was die Zahl der Sprachen angehe, in denen gesendet werde, als auch was das technische Netz angehe. Ich habe die Frage aufgeworfen, ob die Wirkung der Deutschen Welle im Ausland und die Zahl ihrer Hörer in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand und damit zu den Kosten stehen. Schließlich habe ich auch — das ist der eigentliche Inhalt Ihrer Fragestellung, Herr Abgeordneter — über eine gewisse „Staatsferne" der redaktionellen Arbeit gesprochen. Darunter verstehe ich, daß nach meinem Eindruck zuweilen sehr individualistische Vorstellungen der einzelnen Redakteure durchschlagen, die nicht unbedingt mit der deutschen Auffassung zu wichtigen Fragen, wie es in der Satzung heißt, „identifiziert" werden können. Ich habe selber einige Zeit im Auslandsdienst der BBC, die als Vorbild der Deutschen Welle gesehen wird, gearbeitet und weiß, wie die Dinge dort gehandhabt werden.
Da ich nun, Herr Abgeordneter, diese Diskussion ausdrücklich als Kollege und nicht als Mitglied des Verwaltungsrats und schon gar nicht als Leiter des Bundespresseamtes geführt habe, gibt es keine Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Problem.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Rollmann.
Herr Staatssekretär, ist es möglich, daß Sie, wenn Sie in einer Redakteursversammlung der Deutschen Welle erscheinen, dann sagen: hier bin ich heute als Privatperson, das hat mit meinem Amt als Leiter des Bundespresse- und Informationsamtes der Bundesregierung und mit meiner Eigenschaft als Sprecher der Bundesregierung überhaupt nichts zu tun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich ist das möglich, Herr Abgeordneter. Ich führe viele Diskussionen mit Kollegen und habe auch die Absicht, sie weiter zu führen. Wenn man dann immer mit der Bundesregierung identifiziert werden sollte, könnte man diese Art freimütiger Aussprache überhaupt nicht fortsetzen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann.
Herr Staatssekretär, was versteht die Bundesregierung unter der „deutschen Auffassung" — wie es in Ihrer Antwort hieß — im Unterschied zu den „individualistischen Auffassungen" zu politischen Fragen, die nach Ihrer Meinung von Redakteuren der Deutschen Welle bei ihren Sendungen ins Ausland vertreten werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, das kann man immer nur im Einzelfall konkretisieren. Ich bin früher auch im Rundfunkrat der Anstalt gewesen, und wir haben dort eigentlich bei jeder Sitzung einzelne solcher Fälle auf der Tagesordnung gehabt. Eine pauschale Interpretation dieser an sich sehr generalklauselmäßig gefaßten Satzungsbestimmung der Deutschen Welle kann man nicht geben, und das sollte man auch nicht tun, weil damit natürlich der Freiheit der Redakteure eine zu große Einschränkung auferlegt werden würde. Insofern ist das nur im Einzelfall zu machen. Wir haben ja Kontroversen dieser Art gehabt, etwa über Sendungen der griechischen Redaktion und ähnliche Fälle. Man kann dann jeweils nur feststellen: Ist hier die deutsche Auffassung oder sind hier die Belange der Bundesrepublik Deutschland — nicht der Bundesregierung, Herr Abgeordneter - genügend gewahrt worden oder nicht?
Eine weitere Zusatzfrage.
Sehen Sie, Herr Staatssekretär, einen Zusammenhang zwischen Ihrer Äußerung der „Staatsferne" und dem Wort des Herrn Bundeskanzlers vom „Mißbrauch der Pressefreiheit" und den „Schreibtischtätern"?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich sehe nicht nur keinen Zusammenhang, sondern es gibt keinen Zusammenhang, Herr Abgeordneter.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann.
Herr Staatssekretär, ist es nur ein Zufall, daß in der gleichen Zeit, in der Sie bei den Redakteuren der Deutschen Welle den Vorwurf der Staatsferne erhoben haben, Radio Moskau
9274 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Rollmann
in einer Sendung vom 18. November heftige Angriffe gegen die Deutsche Welle gerichtet hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich übersehe einmal den unterstellenden Charakter Ihrer Frage. Da ich aber hier schon betont habe, daß die Einladung von den Redakteuren der Deutschen Welle ausgegangen ist, die auch den Termin bestimmt haben, müßten Sie dann Ihre Frage an die Redakteure der Deutschen Welle richten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Wulff.
Herr Staatssekretär, könnten Sie einmal an einem Beispiel erklären, was Sie im konkreten Fall mit „Staatsferne" gemeint haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der konkreteste Fall, den ich selber miterlebt habe, war die Kontroverse über die griechischen Sendungen der Deutschen Welle. Sie wissen, daß ich meiner politischen Überzeugung nach weit mehr auf der Seite derjenigen stehe, die diese Sendungen betrieben haben. Es ging ja dabei um die Demokratie in Griechenland. Nur stellt sich ganz konkret die Frage, inwieweit eine Anstalt des Bundesrechts hier Belange berühren darf, die zu außenpolitischen Schwierigkeiten für unseren Staat führen. Das sind Abwägungsfragen, die aber nur im Einzelfall entschieden werden können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Matthöfer.
Herr Staatssekretär, finden Sie es nicht auch merkwürdig, daß ausgerechnet von der konservativen Seite dieses Hauses die Forderung nach mehr Staatsnähe der Deutschen Welle kritisiert wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist sicher sehr merkwürdig. Ich glaube aber, Herr Abgeordneter, hier liegt eine Verwechslung zwischen Parteiferne und Staatsferne vor.
Eine letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Staatssekretär, stimmen wir als Journalisten in dem Punkte überein, daß ein Journalist — sei es in der Presse, sei es im Hörfunk — individuelle Beiträge — wenn Sie wollen: individualistische Beiträge — bringt und daß es der Vorzug unseres Staates ist, daß die Redakteure staatsfern sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich stimme mit Ihnen voll überein, was die Sendungen im Inland angeht. Es wird problematisch — und da gibt es zwangsläufig manchmal Konfliktmöglichkeiten —, wenn es sich um Anstalten des Bundesrechts handelt, die für uns alle — es handelt sich nicht um Fragen der Parteien und der Bundesregierung — ins Ausland senden, wo also der Bereich der Öffentlichkeitsarbeit im Ausland tangiert ist. Das ist sicher bei den Sendungen der Deutschen Welle der Fall. Insofern glaube ich, daß diejenigen Kollegen, die ja freiwillig bei der Deutschen Welle tätig sind, diese Einschränkungsmöglichkeit selber im Auge behalten müssen.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Städtebau und Wohnungswesen auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Ravens zur Verfügung. Die erste Frage ist von dem Herrn Abgeordneten Heyen eingebracht — Frage 24 —:
In wieviel Bundesländern werden Anträge auf Wohngeld mit EDV-Anlagen bearbeitet, und wie hat sich dieses Verfahren im Hinblick auf die Bearbeitungsdauer bewährt?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, in allen Bundesländern werden Wohngeldanträge mit EDV-Anlagen bearbeitet. In sechs Ländern sind die Wohngeldstellen ohne Ausnahme an jeweils eine oder mehrere zentrale Rechenstellen angeschlossen. Ein weiteres Land wird diesen Stand in Kürze erreichen. In vier Ländern bedient sich allerdings ein Teil der Wohngeldstellen nicht der EDV-Anlagen. Dort werden die Wohngeldanträge weiterhin manuell bearbeitet, weil der Arbeitsanfall verhältnismäßig gering ist und der Einsatz von EDV-Anlagen unwirtschaftlich wäre. Das neue Verfahren hat sich bewährt. Zwar sind der Beschleunigung des Verfahrens von der Antragstellung bis zur Bescheiderteilung und Zahlung des Wohngeldes Grenzen gesetzt, weil die zentralen Rechenstellen nicht ausschließlich, sondern in der Regel nur zu einem bestimmten Termin im Monat für das Wohngeld zur Verfügung stehen. Jedoch hat die Mehrzahl der Länder bestätigt, daß mit Hilfe der Datenverarbeitung die Bearbeitungsdauer je Wohngeldantrag verkürzt wird. Hervorgehoben wird, daß ihr Einsatz es ermöglicht hat, den nach Inkrafttreten des Zweiten Wohngeldgesetzes vermehrten Arbeitsanfall bei gleichem Personalbestand ohne wesentliche Verzögerung zu bewältigen. Wenn es bei zwei Bundesländern jedoch dennoch im Jahre 1971 zu einem Rückstand in der Erledigung der Wohngeldanträge gekommen ist, so ist dies auf die Umstellung auf eine zentrale Datenverarbeitung in der Anlaufphase zurückzuführen. Dieser Rückstand ist inzwischen weitgehend abgebaut und wird in absehbarer Zeit ganz behoben sein.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9275
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wann ist mit dem Erlaß der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Zweiten Wohngeldgesetz zu rechnen, und ist in diesen Verwaltungsvorschriften sichergestellt, daß bei der Wohngeldbearbeitung allgemein elektronische Datenverarbeitungsanlagen verwandt werden.
Herr Kollege, die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften der Bundesregierung zum Zweiten Wohngeldgesetz sollen am 1. Januar 1972 in Kraft treten. Sie sind dem Bundesrat zugeleitet und werden im Bundesrat in seiner Plenarsitzung am 17. Dezember verabschiedet werden. Die Vorschrift enthält eine Empfehlung des Inhalts, daß Entscheidungen nach dem Zweiten Wohngeldgesetz mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitungsanlagen erlassen werden sollen.
Ich rufe die nächste Frage auf, die des Herrn Abgeordneten Brandt :
Ist der Bundesregierung bekannt, in welchem Umfang heute der Abschluß von Mietverträgen von der Zahlung einer Kaution abhängig gemacht wird?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, der Bundesregierung ist dies nicht bekannt. Es gibt darüber keine statistischen Erhebungen.
Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß durch die Kautionsstellung der Mieter nicht unerheblich auch zur Vermögensbildung von Vermietern beigetragen wird?
Herr Kollege, hier kommen wir in den zweiten Bereich, auf die Beantwortung Ihrer zweiten Frage. Vielleicht kann ich das im Zusammenhang damit erledigen?
Dann rufe ich auch Frage 26 auf:
Denkt die Bundesregierung daran, die Höhe der Kautionen gesetzlich zu begrenzen und eine Verzinsung zugunsten der Mieter zu verlangen?
Herr Staatssekretär, bitte!
Herr Kollege, für den Bereich des öffentlich geförderten Wohnungsbaus enthält die Neubaumietenverordnung 1970 Vorschriften, die die Zulässigkeit von Sicherheitsleistungen beschränken. Danach sind Mieterleistungen zur Sicherung von Ansprüchen des Vermieters unzulässig, soweit sie zur Deckung dieser Ansprüche in der Kostenmiete als Mietausfallwagnis nach § 29 der Zweiten Berechnungsverordnung enthalten sind. Für sonstige Risiken dürfen Sicherheitsleistungen das Dreifache der zulässigen monatlichen Einzelmiete nicht übersteigen und dürfen frühestens nach Ablauf von zwei Jahren seit Beginn des Mietverhältnisses erbracht werden. Ferner darf die Befugnis des Mieters zur Mitverfügung über die angesammelten Sicherheitsleistungen nicht ausgeschlossen sein, und die Erträge daraus, also die Zinsleistungen, müssen dem Mieter zustehen. Für den übrigen Wohnungsbau gibt es keine Regelungen hinsichtlich der Zulässigkeit von Kautionen.
So hat der Bundesrat beim sogenannten ersten Durchgang des Gesetzentwurfs über Maßnahmen zur Verbesserung des Mietrechts und der Begrenzung des Mietanstiegs vorgeschlagen, in Gebieten besonderen Wohnbedarfs eine das Dreifache der monatlichen Miete übersteigende Sicherheitsleistung für unzulässig zu erklären. Dieser Vorschlag ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren jedoch nicht aufgegriffen worden. Das Gesetz vom 4. November 1971 wie auch das am 28. November 1971 in Kraft getretene Kündigungsschutzgesetz enthalten daher keine Bestimmungen über Sicherheitsleistungen des Mieters, so daß es insoweit bei den vertraglichen Vereinbarungen bleibt.
Es laufen allerdings im Augenblick Verhandlungen und Gespräche mit den Spitzenverbänden der Wohnungswirtschaft, mit dem Mieterbund und mit dem Haus- und Grundbesitzerverein beim Justizministerium über die Erstellung eines gemeinsamen Mustermietvertrages. Der erste Entwurf dieses Mustermietvertrages ist den interessierten Stellen zugegangen. Er sieht vor, daß in Zukunft Sicherheitsleistungen im freien Mietverhältnis jeweils auf ein Sonderkonto gezahlt werden müssen und der Zinsertrag jeweils dem Mieter zufließen muß.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, unter Hinweis auf meine vorhin gestellte Frage und da meine Frage ohnehin auf den freien Wohnungsmarkt abzielte und nicht auf den Bereich des sozialen Wohnungsbaus, darf ich Sie fragen, welche Verbindlichkeit Sie einem solchen Mustermietvertrag geben, die zwar dann vorhanden ist, wenn er abgeschlossen wird, aber doch offensichtlich die Freiheit läßt — wenn ich Sie recht verstehe —, ihn abzuschließen oder nicht.
Das ist richtig. Sie wissen, daß wir aus kartellrechtlichen Überlegungen einen Mietvertrag, der zwischen zwei freien Parteien abgeschlossen wird, nicht verbindlich gestalten können. Deswegen geht es
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Parlamentarischer Staatssekretär Ravens
uns bei der Erarbeitung und Vorbereitung dieses Mustermietvertrages darum, einen Vertragsentwurf zu entwickeln, der von beiden großen Gruppen, sowohl von den Vermietern als auch von den Mietern, akzeptiert wird und mit ihrer Empfehlung eingeführt werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn es schon schwierig sein wird, die Höhe zu begrenzen, bleibt doch die Frage noch offen, ob es keine andere Möglichkeit gibt, wenigstens die Frage der Verzinsung zu regeln, und zwar auf andere Art und Weise als über einen Mustermietvertrag.
Nun, Herr Kollege, man muß davon ausgehen, daß bei Abschluß eines freien Mietvertrages beide Vertragspartner nicht begrenzt sind. Beide sind frei, einen Vertrag abzuschließen oder nicht. Die Frage der Stellung der Kaution ist nur ein schmaler Aspekt der gesamten Mietfrage. Hier kann eine Nebenwirkung erfolgen, die wir sicher alle nicht wollen. Bei einer Begrenzung solcher Kautionsleistungen kann es nämlich möglich sein, daß der Vermieter vorab versucht, durch einen höheren Mietzins sein Risiko möglichst gering zu halten. Diese Zusammenhänge muß man sehen. Deshalb haben wir uns sehr stark auf die Einführung eines Mustermietvertrages konzentriert, der dann eine solche Regelung beinhaltet.
Eine letzte Zusatzfrage.
Wenn ich auch einsehe, daß es Schwierigkeiten gibt hinsichtlich der Höhe der Kaution, bleibt naturlich die Frage der Verzinsung davon eigentlich unberührt. Ihre Regelung wäre doch möglich. Glauben Sie, Herr Staatssekretär, daß die Freiheit des Abschlusses, von der Sie gerade gesprochen haben, über den juristischen Bereich hinaus in der Praxis bei denjenigen, die eine Wohnung suchen, wirklich existiert, solange der Wohnungsmarkt noch nicht ausgeglichen ist?
Sicher nicht. Deswegen hat ja die Bundesregierung das Gesetz zur Begrenzung des Mietanstiegs und zur Verbesserung des Kündigungsschutzes eingebracht. Trotz alledem bleibt der in unserer Rechtsordnung vorhandene Begriff der Vertragsfreiheit erhalten. Er wird dadurch nicht aufgelöst.
Ich rufe die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Staak auf:
Wird die Verwendung der öffentlichen Mittel für die Bauforschung zwischen Bund und Ländern koordiniert?
Herr Kollege, die bauforschungsfördernden Stellen der Bundesrepublik, darunter auch die bauforschungsfördernden Länderministerien, haben sich auf Veranlassung des Bundesministeriums im Jahre 1969 zu einer „Arbeitsgemeinschaft für Bauforschung" zusammengeschlossen. Die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft liegt beim Bundesminister für Städtebau.
Eine der Hauptaufgaben der Arbeitsgemeinschaft ist die gegenseitige Unterrichtung der Mitglieder über abgeschlossene und laufende Forschungsvorhaben. Dieser Unterrichtung dienen die vom Bundesministerium herausgegebenen „Mitteilungsblätter der Arbeitsgemeinschaft für Bauforschung". In den Mitteilungsblättern wird jedes einzelne Forschungsvorhaben registriert und kurz erläutert. Bisher sind drei Mitteilungsblätter, in denen insgesamt 459 Forschungsvorhaben erfaßt wurden, erschienen. Weitere Mitteilungsblätter befinden sich in Vorbereitung. Die in den Mitteilungsblättern enthaltenen Angaben sind Grundlagen auch für die unerläßliche Koordinierung der von Bund und Ländern eingesetzten Forschungsmittel. Es muß allerdings zugestanden werden, daß die personelle Besetzung der mit der Forschungsförderung und -koordinierung befaßten Stellen mit dem wachsenden Bedarf nicht Schritt gehalten hat. Eine leistungsfähige Forschungsförderung und -koordinierung kann nur durch eine eigens hierfür eingerichtete Bundesinstitution sichergestellt werden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung — trotz der vielen kritischen Stimmen zur Bauforschung — bei der Koordinierung von einem mit den Verbänden und Ländern abgestimmten Konzept für die Bauforschung ausgeht?
Ja, Herr Kollege, sie geht davon aus. Die kritischen Stimmen sind insofern nicht unberechtigt, als wir uns zu einer weitergehenden Zusammenfassung bekennen. Ich habe eben davon gesprochen, daß dafür notwendigerweise eine Bundesinstitution geschaffen werden müßte.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 28 des Herrn Abgeordneten Staak auf:
Falls eine solche Abstimmung erfolgt, geschieht sie auf freiwilliger Basis, oder gibt es hierfür verbindliche Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern?
Herr Kollege, nach der Geschäftsordnung der Arbeitsgemeinschaft für Bauforschung sind die Mit-
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glieder, darunter auch die bauforschungsfördernden Länderministerien, verpflichtet die Geschäftsstelle über die Erteilung und Beendigung von Forschungsaufträgen sowie über Inhalt und Veröffentlichung von Forschungsberichten zu unterrichten. Die Abstimmung der Forschungsprogramme sowie der Vergabe von Forschungsaufträgen hingegen erfolgt auf freiwilliger Basis.
Vom Prinzip der Freiwilligkeit kann derzeit nicht abgewichen werden, obwohl gerade die Koordinierung auf freiwilliger Basis wegen der Vielzahl der Forschungsvorhaben und der steigenden Forschungsaktivitäten besonders personalintensiv ist.
Verbindliche Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern sind erstrebenswert. Auch hierfür kann eine Bundesinstitution den geeigneten Rahmen abgeben.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie kommen die in Wissenschaft und Praxis, d. h. in der Fachwelt Interessierten in den Besitz der Erkenntnisse und Ergebnisse einer koordinierten Bauforschung? Gibt es in dieser Hinsicht bestimmte Vorstellungen bzw. Vereinbarungen?
Herr Kollege, im Augenblick geschieht das über drei Wege: erstens über die Veröffentlichungen unseres Hauses und damit auch der Geschäftsstelle des Koordinierungskreises zwischen Bund und Ländern; zweitens über den Deutschen Verband, der die Forschungsergebnisse in einer Loseblattsammlung darstellt und herausgibt; drittens über den Weg, der in der normalen Forschung neben der öffentlichen Forschung beschritten wird, nämlich durch die Veröffentlichungen der Institute und der außerwissenschaftlichen Forschungsstellen. Eine der Aufgaben einer solchen Bundesinstitution, wie ich sie genannt habe, müßte es sein, gerade auch die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse noch mehr zu intensivieren.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Heyen.
Herr Staatssekretär, inwieweit werden internationale Erfahrungen in der Bauforschung ausgewertet und dem deutschen Fachpublikum zugänglich gemacht?
Herr Kollege, diese Frage steht nicht mehr in dem notwendigen unmittelbaren Sachzusammenhang mit der eingereichten Frage.
Herr Kollege Josten zu einer Zusatzfrage.
Herr Präsident, auch meine Frage hält sich in diesem Rahmen: Angesichts des bedauerlichen Brückenunfalls vor kurzem in Koblenz, dessen Ursachen noch nicht restlos geklärt sind, möchte ich den Herrn Staatssekretär fragen — —
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, daß wir nicht auch noch diesen sehr bedauerlichen Brückenunfall mit der eingereichten Frage in Zusammenhang bringen können.
Es geht um den Erfahrungsaustausch, Herr Präsident.
Herr Kollege, es geht hier um die Abstimmung der Bauforschung zwischen Bund und Ländern. Darauf müssen sich Zusatzfragen beziehen.
Diese Abstimmung wurde gerade im Falle Koblenz kritisiert.
Ich rufe die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Henke auf:
Sind die in den Haushalten des Bundes und der Länder angesetzten Mittel für die Bauforschung ausreichend?
Herr Kollege Henke, die Höhe der derzeitig zur Verfügung stehenden Mittel ist, gemessen am tatsächlichen Bedarf, nicht ausreichend. Beim Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen beliefen sich die Forschungsmittel im Haushaltsjahr 1971 auf 7,5 Millionen DM; davon entfielen auf die städtebauliche und die bautechnische Forschung je die Hälfte. Verglichen mit dem Hochbauvolumen von etwa 70 Milliarden DM, sind 7,5 Millionen DM jedoch nur das Hundertstel eines Prozents. Erst eine Vervielfachung dieses Beitrags rückt die Aufwendungen für die Bauforschung in der Bundesrepublik in jene Größenordnung, die für viele andere Länder, darunter auch kleinere Länder, längst selbstverständlich ist.
Zahlreiche Organisationen, darunter der Forschungsrat der Arbeitsgemeinschaft für Bauforschung, insbesondere aber auch die Teilnehmer des ersten Bauforschungstages, der auf Anregung meines Hauses am 15./16. November 1971 in Berlin stattfand, haben eine bedeutende Steigerung und eine nachhaltige Sicherung der für die Bauforschung bereitzustellenden Mittel gefordert.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist bekannt, daß der technische Stand der deutschen Bauwirtschaft nicht der höchste ist, gemessen am internationalen Niveau. Das wird besonders deutlich, wenn man den Anteil des Fertigteilbaus am Wohnungsbau — —
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Herr Kollege, vergessen Sie bitte den Sachzusammenhang nicht!
Ja, danke. — Ich möchte gern wissen, ob Sie, Herr Staatssekretär, unter Berücksichtigung dessen, was Sie vorhin geantwortet haben, eine Möglichkeit sehen, schon in näherer Zukunft eine deutliche Aufstockung der Mittel für die Bauforschung durchzusetzen.
Herr Kollege, wenn ich von dem Zeitraum 1966/67 bis 1971 ausgehe, stellt sich das Problem etwa so dar: Wir haben 1965 im Haushalt des Bundes für die Bauforschung ganze 500 000 DM gehabt. 1966 waren es 600 000 DM. Wir haben im Jahre 1970 5 Millionen DM gehabt und haben im Jahre 1971 7,5 Millionen DM zur Verfügung, im nächsten Jahr ebenfalls. Sie sehen, daß wir im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Mittel unsere Anstrengungen verstärkt haben.
Wir wissen, daß im Augenblick auch die Länder dabei sind, ihre eigenen Anstrengungen für den Bereich der Bauforschung zu verstärken. Dies gilt für den öffentlichen Bereich.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Josten.
Herr Staatssekretär, können Sie uns die gesamte Summe von Bund und Ländern nennen, die neuerdings für die Bauforschung zur Verfügung stehen wird?
In unserem Haushalt stehen — um es noch einmal zu sagen — für die Forschung 7,5 Millionen DM. Wenn Sie Studien, Modellvorhaben und Demonstrativmaßnahmen hinzunehmen, die ja den Versuch der Anwendung der Forschung in der Wirklichkeit bedeuten, dann kommen noch einmal etwa 44 Millionen DM hinzu. Ich weiß aus den Haushaltsberatungen des Landes Nordrhein-Westfalen, daß sich dieses Land im Augenblick vorgenommen hat, durch diesen Haushalt etwa 10 Millionen DM für die Bauforschung bereitzustellen. Ich kann Ihnen im Augenblick Zahlen aus den übrigen Ländern nicht aus dem Gedächtnis nennen.
Zur letzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Ahrens.
Herr Staatssekretär, können Sie bei der geringen Höhe der zur Verfügung stehenden Mittel überhaupt die städtebaulichen Bezüge und die Stadtentwicklungsprobleme, die ja mit den Bauvorhaben zusammenhängen, ebenfalls untersuchen lassen?
Herr Kollege, Sie wissen, daß wir im Rahmen unseres 7,5-Millionen-DM-Programms eine Hälfte für die städtebauliche Forschung ausgeben. Wir wissen, daß diese in der Bundesrepublik in der Vergangenheit viel zu kurz gekommen ist. Wir können erst jetzt mit den notwendigen Forschungsaufgaben beginnen.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Henke auf:
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die deutsche Bauwirtschaft an den finanziellen Aufwendungen für die Bauforschung zu beteiligen, und gibt es hierzu bereits Überlegungen bezüglich der Höhe und des Verfahrens?
Herr Kollege, in der Diskussion befindet sich seit einiger Zeit die Erhebung einer sogenannten Bauforschungsabgabe. Ein Beispiel hierfür ist Schweden, das die Mittel für die Bauforschung durch eine Steuer von 0,6 % auf alle Löhne und Gehälter der Bauindustrie aufbringt. Ähnliche Regelungen bestehen meines Wissens in Südafrika und Australien.
Im übrigen hat die Bundesregierung im Städtebaubericht vom 1. Dezember 1970 auf den Seiten 81 ff. zu den mit einer Bauforschungsabgabe zusammenhängen Fragen bereits eingehend Stellung genommen. Auf dem ersten Bauforschungstag, der am 15./16. November in Berlin stattfand, hat der Bundesminister für Städtebau in Aussicht gestellt, die Bauwirtschaft zu gemeinsamen Beratungen über eine Bauforschungsabgabe einzuladen.
Bitte, Herr Abgeordneter, zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es so etwas außer in Schweden und Südafrika auch in Österreich gibt? Dort zahlen die Unternehmer 0,8 % des Umsatzes in den gemeinsamen Topf für Bauforschung. Daran anknüpfend meine Frage: Sehen Sie die Möglichkeit, auf diesem Sektor in näherer Zukunft wirklich zu Vereinbarungen mit den Unternehmern zu kommen?
Ich hoffe das. Diesem Zweck dient die Einladung. Es soll kein Kaffeeplausch werden, Herr Kollege, sondern wir wollen versuchen, mit der Bauwirtschaft darüber klarzukommen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet; ich danke Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Freyh zur Verfügung. Der
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Herr Abgeordnete Schedl hat um schriftliche Beantwortung seiner Fragen gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Wulff auf:
Welchen Einfluß wird die konjunkturpolitische Entwicklung auf Kosten- und Arbeitsmarktsituation arbeitsintensiver Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland haben?
Frau Staatssekretärin!
Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn ich die beiden Fragen gemeinsam beantworten dürfte.
Der Herr Fragesteller ist offensichtlich damit einverstanden. Ich rufe also noch die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Dr. Wulff auf:
In welcher Form beabsichtigt die Bundesregierung, die Zusammenarbeit deutscher Industrieunternehmen mit Firmen in Entwicklungsländern „systematisch zu fördern"?
Bitte, Frau Staatssekretärin!
Ich gehe bei meiner Antwort davon aus, daß ich die erste Frage in dem durch die zweite Frage abgesteckten entwicklungspolitischen Rahmen beantworten darf.
Die Bundesregierung fördert die Zusammenarbeit von deutschen Industrieunternehmen mit Firmen in Entwicklungsländern, indem sie Möglichkeiten zur Vermittlung der Zusammenarbeit eröffnet, aus der Unternehmer in der Bundesrepublik und in Entwicklungsländern wirtschaftlichen Nutzen ziehen können. Aus diesem Grunde haben sich bereits viele Partnerschaften gebildet, die schon bisher durch die öffentliche Hand, beispielsweise über die Deutsche Entwicklungsgesellschaft und die Bundesstelle für Außenhandelsinformationen, gefördert worden sind.
Viele in Frage kommende Unternehmen haben hiervon keinen Gebrauch machen können, weil sie nicht genügend mit den Eigenheiten und Erfordernissen der Entwicklungsländer vertraut waren. Die Bundesregierung beabsichtigt daher, interessierte und geeignete Firmen in Entwicklungsländern mit entsprechenden Unternehmen in der Bundesrepublik zusammenzuführen. Von der Bundesregierung eingeleitete Studien dienen der Untersuchung der dabei auftretenden Probleme und der Ermittlung von in Frage kommenden Partnern. Hierbei sollen vor allem technische Verfahren ermittelt werden, die dann auch vermittelt werden können, die zwar in der Bundesrepublik aus Gründen der Faktorkostenrelation nicht mehr zum Zuge kommen, Entwicklungsländern jedoch rentable und international wettbewerbsfähige Produktionen ermöglichen. Auch damit verfolgt die Bundesregierung das Ziel, die Entwicklungsländer stärker in die internationale Arbeitsteilung zu integrieren.
Diese Zusammenarbeit, Herr Kollege Dr. Wulff, hat langfristigen Charakter. Sie beeinflußt deshalb die konjunkturelle Entwicklung in der Bundesrepublik nicht.
Zusatzfrage!
Frau Staatssekretärin, bedeutet Ihre Antwort auf meine Frage, daß die Bundesregierung eine Zusammenarbeit mit Privatfirmen in den Entwicklungsländern ebenso fördert wie mit Firmen der öffentlichen Hand?
Herr Kollege Dr. Wulff, davon können Sie ausgehen.
Eine zweite Zusatzfrage: Wie stellt sich die Bundesregierung die Förderung dieser Zusammenarbeit beispielsweise für die deutschen Firmen vor? Heißt das: Steuererleichterungen, Zinssubventionen oder nur technische Beratung?
Herr Kollege Dr. Wulff, das Instrumentarium, das im Augenblick vorhanden ist, dürfte bekannt sein. Es umfaßt das, was Sie soeben in Ihrer Frage angedeutet haben. Ich darf aber hinzufügen, daß insbesondere die Studien, deren Abschluß die Bundesregierung erwartet, möglicherweise Ansatzpunkte bieten, um Überlegungen anzustellen, die beispielsweise die Förderung der Zusammenarbeit in bestimmten Branchen betreffen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten.
Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, nach Abschluß aller Ermittlungen - Sie sprachen von eingeleiteten Studien - im zuständigen Fachausschuß so schnell wie möglich weitere Auskünfte zu geben?
Herr Kollege Josten, im Augenblick ist die Situation so, daß wir damit rechnen, Mitte des kommenden Jahres die ersten Studien vorgelegt zu bekommen und daraus dann im Zusammenwirken der Ressorts entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist selbstverständlich bereit, im Ausschuß darüber zu berichten.
Die Fragen 35 und 36 des Herrn Abgeordneten Kiechle werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Das gilt auch für die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Roser. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammen-
9280 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
arbeit beantwortet. Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde zur Verfügung. Die erste Frage — Frage 82 — hat der Herr Abgeordnete Geisenhofer eingebracht:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts werdende Mütter, die zwar arbeitsfähig, aber doch nicht in der Lage sind, den Weg zu ihrer Arbeitsstätte ohne Gefährdung ihres eigenen Lebens oder des Lebens ihres Kindes zurückzulegen, weder Lohnfortzahlung noch Krankengeld erhalten, und was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um diese Gesetzeslücke, die vor allem „Pendlerinnen'' betrifft, zu beseitigen?
Herr Staatssekretär!
Es trifft zu, Herr Kollege, daß nach dem von Ihnen zitierten Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. August 1970 die werdende Mutter keinen Mutterschutzlohn nach § 11 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes verlangen kann, wenn sie nur deshalb nicht arbeiten kann, weil ihr der Arzt wegen ihrer Schwangerschaft die Fahrt von der Wohnung zur Arbeit und zurück verboten hat, obgleich sie ohne die Fahrt an ihrem Arbeitsplatz arbeiten könnte. Unser Haus prüft, wie diese vom Bundesarbeitsgericht aufgezeigte Gesetzeslücke im Mutterschutzgesetz geschlossen werden kann. Insbesondere geht es auch darum, einen Überblick über die Auswirkungen in der Gesamtheit der Fälle und über die damit verbundenen finanziellen Fragen zu erlangen. Es ist beabsichtigt, in nächster Zeit vorbereitende Gespräche hierüber mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften zu führen.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Geisenhofer auf, die Frage 83:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß große Schwierigkeiten bei pflichtversicherten, berufstätigen, alleinstehenden Frauen und Männern in dem Fall auftreten, wenn ein Kind, das üblicherweise in einem Kindergarten oder in einer Kinderkrippe untergebracht ist, erkrankt und häuslicher Pflege bedarf, und glaubt die Bundesregierung — nachdem es den Arbeitgebern nicht zugemutet werden kann, daß sich die Mütter zur Behandlung ihres Kindes krank melden, weil sie keinen unbezahlten Urlaub nehmen wollen —, daß durch die Gewährung eines Pflegegeldes diese Schwierigkeiten wesentlich gemildert würden, vor allem auch unter dem Aspekt, daß die Unterbringung in einem Krankenhaus der Krankenkasse wesentlich höhere Kosten verursachen würde?
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage vom 31. August 1970 — Bundestagsdrucksache VI/1123 — bereits darauf hingewiesen, daß sie die Frage prüft, wie jenen berufstätigen Müttern geholfen werden kann, die wegen der notwendigen Betreuung ihres kranken Kindes dem Arbeitsplatz fernbleiben müssen. Es sind Besprechungen darüber eingeleitet worden, welche sozialversicherungsrechtlichen, tarifvertraglichen oder arbeitsrechtlichen Wege zur Lösung der Frage beschritten werden können. So wird unter anderem untersucht, wie im
Rahmen der Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung die Hauspflege erweitert werden kann. Auch die von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung wird damit befaßt. Wir hoffen, daß in absehbarer Zeit die schwierigen rechtssystematischen und finanziellen Probleme geklärt werden können, die mit der von Ihnen aufgeworfenen Frage verbunden sind. Ich will noch einmal unterstreichen, daß die Bundesregierung — wie Sie ein sozialpolitisches Bedürfnis dafür anerkennt, daß die berufstätige Mutter, die wegen Erkrankung ihres Kindes an der Weiterarbeit gehindert ist, besser wirtschaftlich gesichert wird.
Ich rufe die nächste Frage auf, die Frage 84 des Herrn Abgeordneten Pohlmann:
Hält die Bundesregierung den Beschluß des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit, auch mittelbar von Arbeitskämpfen betroffenen Arbeitnehmern Arbeitslosenunterstützung oder Kurzarbeitsgeld zu gewähren, mit der gesetzlichen Verpflichtung zur Neutralität für vereinbar und gegebenenfalls mit welcher Begründung?
Herr Staatssekretär!
Herr Kollege, zunächst darf ich darauf hinweisen, daß mittelbar vom Arbeitskampf betroffene Arbeitnehmer nach dem Arbeitsförderungsgesetz grundsätzlich Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld erhalten. Die Bundesanstalt für Arbeit ist vom Gesetzgeber beauftragt worden, diesen von allen Fraktionen dieses Hohen Hauses bei der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1969 einmütig gebilligten Grundsatz durch eine Anordnung im Wege autonomer Rechtsetzung näher auszugestalten.
Überdies kann der Verwaltungsrat die Gewährung von Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld anordnen, wenn die Versagung der Leistung ausnahmsweise nicht gerechtfertigt ist. Von dieser Ermächtigung hat der Verwaltungsrat in dem von Ihnen zitierten Beschluß Gebrauch gemacht, weil er die von mir einleitend genannte, gesetzlich vorgesehene Anordnung noch nicht erlassen hat. Diese Entscheidung des Verwaltungsrats hält sich auch nach unserer Auffassung im Rahmen des ihm gesetzlich eingeräumten Ermessens.
Im übrigen, Herr Kollege, darf ich abschließend und der Vollständigkeit halber noch darauf hinweisen, daß der Verwaltungsrat beschlossen hat, die von mir erwähnte Anordnung zu § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes beschleunigt zu erlassen.
Herr Kollege Müller!
Herr Staatssekretär, unabhängig von Ihrer Interpretation des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes: Ist die Regierung wirklich der Auffassung, daß der Ausgang eines solchen Streiks, wie er jetzt in Nordbaden-Nordwürttemberg stattgefunden hat, keine Auswirkungen auf die
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9281
Müller
Tarifgestaltung für die betroffenen Arbeitnehmer hat?
Ich habe Ihre Frage zu Anfang akustisch nicht verstanden, Herr Kollege.
Ob die Bundesregierung der Auffassung ist, daß ein Streik, wie er jetzt in Nordbaden-Nordwürttemberg durchgeführt worden ist, — —
Herr Kollege, die Frage des Fragestellers heißt: „Hält die Bundesregierung den Beschluß des Verwaltungsrates . . .". Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Sachzusammenhang mit der Formulierung Ihrer Zusatzfrage herstellen würden.
Ja, dann will ich anders fragen.
Ja, bitte!
Gibt es keine Zweifel darüber, daß die Auslegung, die Sie hier vorgetragen haben, auch tatsächlich der Auffassung des Gesetzgebers entspricht?
Herr Kollege, ich habe deutlich gemacht, daß sich die Entscheidung des Verwaltungsrates nach unserer Auffassung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften hält.
Ich rufe die nächste Frage auf, die Frage 85 des Herrn Abgeordneten Müller :
Trifft es zu, daß freiwillige Mitglieder mit einem Einkommen über der Krankenversicherungspflichtgrenze wesentlich niedrigere Beiträge an die AOK Berlin entrichten als die unter der Versicherungspflichtgrenze liegenden versicherungspflichtigen Mitglieder?
Der Herr Abgeordnete ist noch am Mikrophon. — Bitte!
Herr Kollege, ich darf Sie bitten, beide Fragen gemeinsam beantworten zu dürfen.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 86 des Herrn Abgeordneten Müller auf:
Hält es die Bundesregierung unter Beachtung des in der sozialen Krankenversicherung geltenden Grundsatzes, wonach der Versicherungsträger eine Solidargemeinschaft darstellt und alle Mitglieder bei gleichem Leistungsanspruch und bei gleichem Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze gleiche Beiträge zahlen, für richtig, daß die Berliner Aufsichtsbehörden bei der AOK Berlin andere Maßstäbe im Hinblick auf die Beitragsgestaltung anlegen als die Aufsichtsbehörden der Träger der Krankenversicherung im übrigen Bundesgebiet?
Bitte!
Die AOK Berlin ist, wie Sie wissen, Herr Kollege, ein landesunmittelbarer Träger der Krankenversicherung. Er untersteht damit der Aufsicht der zuständigen Berliner Senatsbehörde. Sie hat die Satzung der AOK zu genehmigen, die von der Vertreterversammlung der Kasse beschlossen wird und die Bestimmungen über die Höhe der Beiträge sowohl für pflichtversicherte als auch für freiwillig versicherte Mitglieder enthält. Unser Haus vermag aus verfassungsrechtlichen Gründen weder den Aufsichtsbehörden Weisungen über die Maßstäbe der Beitragsgestaltung bei den Trägern der Krankenversicherung zu erteilen noch in sonstiger Weise auf die Beitragsgestaltung der Träger Einfluß zu nehmen.
Nach uns vorliegenden Informationen beabsichtigt die AOK Berlin jedoch, zum 1. Januar 1972 die Beiträge für die freiwillig und für die Pflichtversicherten weiter einander anzugleichen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich Sie so verstehen, daß Sie meine erste Frage bejahen, daß also tatsächlich ein unterschiedlicher Beitrag erhoben wird von einem Pflichtversicherten mit einem Einkommen von 1425 DM einerseits und einem freiwillig Versicherten mit einem Einkommen von beispielsweise 2000, 3000 oder sogar 5000 DM andererseits, und zwar in dem Sinne, daß der freiwillig Versicherte unter Umständen einen geringeren Beitrag zahlt?
Herr Kollege, ich bitte, meine Antwort insbesondere unter dem Hinweis zu würdigen, daß die AOK Berlin, wie wir unterrichtet worden sind, zum 1. Januar 1972 eine andere Beitragsregelung vornehmen wird.
Weitere Zusatzfragen des Herrn Abgeordneten Müller .
Auch unter Berücksichtigung dessen, was Sie über den Unterschied zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik sagten, darf ich Sie fragen: Gibt es noch andere gesetzliche Krankenkassen in der Bundesrepublik einschließlich Berlin mit einer derartigen oder vergleichbaren Regelung, wie sie jetzt in Berlin Gültigkeit hat?
Herr Kollege, das kann ich im Augenblick nicht übersehen. Im übrigen gehe ich davon aus — um das hier hinzuzufügen —, daß von den Selbstverwaltungsorganen der Kassen angestrebt wird, daß die Mitglieder einer Krankenkasse bei gleichem Lei-
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Parlamentarischer Staatssekretär Rohde
stungsanspruch und bei gleichem Einkommen auch gleiche Beiträge zahlen.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung wirklich keinen Einfluß darauf, daß auch in Berlin der allgemein geltende Grundsatz beachtet wird, daß die Beiträge für freiwillig Versicherte mit einem Einkommen über der Krankenversicherungspflichtgrenze mindestens dem höchsten Pflichtbeitrag zu entsprechen haben?
Herr Kollege, ich muß Sie um Verständnis für den Hinweis bitten, wie problematisch es sein würde, wenn ich bei der Beantwortung Ihrer Frage im Rahmen der Fragestunde den Eindruck erweckte, in Aufsichtsrechte der Länder oder in diesem Falle der zuständigen Senatsbehörde von Berlin eingreifen zu wollen.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Kalinke.
Meine Zusatzfrage zur ersten Frage: Wie denkt die Bundesregierung über Kampfbeiträge und Subventionen in der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Selbstverwaltungsorgane ihre Pflicht nicht erfüllen und die Aufsichtsbehörden versagen: Wird sie gegebenenfalls in einem Krankenversicherungsänderungsgesetz das Notwendige tun? Wann wird sie es vorlegen?
Frau Kollegin, Sie haben hier Motivationen für die Beitragsgestaltung gegeben, denen ich so ohne weiteres nicht beitreten kann. Das ist ein anderes Problem.
Darf ich eine zweite Frage stellen. Hat die Bundesregierung die Absicht, den § 17 SKAG ihrerseits zu ändern, wenn die Entscheidungen der Berliner Aufsichtsbehörde oder anderer Aufsichtsbehörden bei anderen Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung nicht den Vorstellungen entsprechen, die Sie, Herr Staatssekretär, selber zum Ausdruck gebracht haben, daß nämlich die Beiträge für die freiwillig Weiterversicherten mindestens dem Beitrag entsprechen sollten, der in der höchsten Klasse der Pflichtversicherten entrichtet wird?
Frau Kollegin, ich verstehe die Gründe, die insbesondere Sie veranlassen, eine solche Frage zu stellen. Aber ich darf Ihnen ganz offen und freimütig sagen, daß ich in die schwierigen Probleme des Organisationsrechts der Krankenversicherung nicht mit einer flüchtig hingeworfenen Antwort im Rahmen der Fragestunde eingreifen möchte. Das bedürfte schon einer sorgfältigeren Vorbereitung.
Ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Varelmann auf:
Hält die Bundesregierung es für vertretbar, daß die Arbeitnehmer, die bereits bisher im Gegensatz zum allgemeinen Bildungsweg die Kosten der beruflichen Weiterbildung durch Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit z. T. selbst deckten, nun noch zusätzlich durch Lehrgangsgebühren belastet werden?
Herr Kollege, ich würde auch in diesem Fall die Fragen 87 und 88 gemeinsam beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch noch die Frage 88 des Herrn Abgeordneten Varelmann auf:
Wirkt sich der Beschluß des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit, zu den beruflich fördernden Kursen für je Besucherstunde eine individuelle Beihilfe von 1,25 DM zu zahlen, nicht einseitig negativ für die wirtschaftlich schwachen, dünn besiedelten Gebiete aus, weil in der Regel hier die Zahl der Kursusteilnehmer aus natürlichen Gründen geringer ist als in den Großstädten?
Das Arbeitsförderungsgesetz sieht neben der Gewährung von Unterhaltsgeld, das bis zu 95 % des vorher erzielten Netto-Arbeitsentgelts beträgt, die volle oder teilweise Übernahme der Lehrgangskosten für berufliche Fortbildung oder Umschulung vor. Nach § 39 des Arbeitsförderungsgesetzes hat die Bundesanstalt für Arbeit hierzu das Nähere zu bestimmen.
Von dieser Ermächtigung hat die Bundesanstalt durch Erlaß der Anordnung über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung vom 9. September 1971 Gebrauch gemacht, Damit wollte sie nicht zuletzt der Kritik Rechnung tragen, die auch auf Grund mancher Erfahrungen des vergangenen Jahres in parlamentarischen Beratungen zum Ausdruck gekommen ist.
Nach der neuen Anordnung werden wie bisher die notwendigen Kosten übernommen, in der Regel jedoch höchstens bis zu 1,25 DM bzw. 1,75 DM bei maschinenorientierten Lehrgängen je Teilnehmer und Unterrichtsstunde.
Die Bundesanstalt für Arbeit hat dabei zu berücksichtigen gehabt, daß in der Vergangenheit manche Träger von Bildungsmaßnahmen ihre Lehrgangsgebühren im Hinblick auf die volle Kostenübernahme durch die Bundesanstalt zum Teil drastisch erhöht haben.
Aber ich will hinzufügen, Herr Kollege, daß die neue Anordnung darüber hinaus in besonders gelagerten Fällen nach wie vor eine Deckung der notwendigen Kosten in voller Höhe vorsieht. Ein solcher Fall liegt z. B. vor, wenn das Arbeitsamt wegen der besonderen Lage des Arbeitsmarktes die Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme für erforderlich hält, damit Arbeitslosigkeit oder unter-
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Parlamentarischer Staatssekretär Rohde
wertige Beschäftigung nicht eintritt bzw. nicht fortdauert. Wie sich diese auch der notwendigen Verwaltungsvereinfachung dienende Regelung auswirkt, wird von der Bundesanstalt für Arbeit verfolgt und meinem Hause berichtet. Ich gehe davon aus, daß dabei auch die von Ihnen angesprochene Problematik der ländlichen Bereiche berücksichtigt wird.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß die Mittel der Bundesanstalt für die berufliche Förderung ganz überwiegend in die Ballungsräume und Großstädte und nur in geringem Umfange in die Landgebiete fließen?
Herr Kollege, darauf habe ich Ihnen in einer der letzten Fragestunden eine mit Zahlen belegte Antwort gegeben. Ich darf mich auf diese Zahlen beziehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, Ihre damalige Antwort bezog sich nur auf Maßnahmen der überregionalen Förderung, also auf zentrale Förderungsmaßnahmen, nicht aber auf die Gesamtaufwendungen.
Herr Kollege, ergänzend darf ich noch anfügen, daß wir gemäß § 239 AFG im nächsten Jahr einen Bericht vorlegen werden, der vielfältige Aspekte der Bildungsförderung ansprechen und der sicherlich auch präzise Auskunft darüber geben wird, wie die Mittel für berufliche Förderung unter regionalen Gesichtspunkten zu bewerten sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, ist das Bundesarbeitsministerium bereit, darauf hinzuwirken, daß die derzeitigen Ungereimtheiten beseitigt werden, die in der Benachteiligung der Lehrgänge in ländlichen Räumen gegenüber denen in Großstädten in bezug auf die individuelle Förderung von 1,25 DM pro Stunde liegen, und zwar deswegen, weil der Kreis der Teilnehmer in den ländlichen Gebieten ja immer kleiner sein muß?
Herr Kollege, wenn es hier Anlässe zu begründeter Klage gibt, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich über die entsprechenden Sachverhalte unterrichten würden. Sie können sicher sein, daß Sie mich dann an Ihrer Seite finden werden.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, berücksichtigen Sie bei dieser Urteilsfindung auch den Umstand, daß für die Lehrgangsteilnehmer in den ländlichen Räumen zu den Aufwendungen für die Kurse noch erhebliche Fahrkosten hinzukommen?
Herr Kollege, dazu gibt es Regelungen in der Anordnung der Bundesanstalt über die berufliche Bildung.
Herr Abgeordneter Niegel!
Herr Staatssekretär, hat sich Ihr Haus — gerade auf Grund dessen, was man den letzten Illustriertenberichten entnehmen konnte — auch schon Gedanken darüber gemacht, wie man möglicherweise die mißbräuchliche Verwendung dieser Mittel ausschließen kann?
Herr Kollege, ich habe in meiner Antwort darauf hingewiesen, daß es der Sinn der neuen Anordnung der Bundesanstalt war, kritischen Einwänden zu begegnen, die auf Grund der Erfahrungen des vergangenen Jahres gemacht worden sind. Die Frage, die der Kollege Varelmann an mich gerichtet hat, ist die, ob nicht die neue Anordnung die Bildungsförderung zumindest in den ländlichen Bereichen in einer nach seiner Auffassung zu weitgehenden Weise einschränkt. Insofern steht das, was Sie sagen, in einem gewissen Widerspruch zur Frage des Herrn Kollegen Varelmann -- in einem Widerspruch, der sich aber durch den Hinweis auflöst, daß die Bundesanstalt in ihrer Anordnung offensichtlich versucht hat, eine Art mittlerer Linie — wenn ich das einmal so nennen darf — einzuhalten.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich Ihres Hauses erledigt.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Logemann zur Verfügung. Ich rufe Frage 66 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
In welcher Höhe und für welche Zeit beabsichtigt die Bundesregierung, sich für die Beibehaltung des Währungsausgleichs einzusetzen?
Herr Kollege Niegel, der Ausgleich für die Folgen der D-Mark-Aufwertung vom Oktober 1969, der sogenannte D-Mark-Aufwertungsausgleich, wird wie folgt weitergeführt: Der Teilausgleich über die Mehrwertsteuer ist in Art. 2 bis 5
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Parlamentarischer Staatssekretär Logemann
des Aufwertungsausgleichsgesetzes unbefristet geregelt. Für den Direktausgleich werden auch im Haushaltsjahr 1972 920 Millionen DM aus den im Einzelplan 10 veranschlagten Bundeshaushaltsmitteln bereitgestellt werden. Davon sind entsprechend dem Durchführungsgesetz zum Aufwertungsausgleichsgesetz 810 Millionen DM für unmittelbare Ausgleichsleistungen und 110 Millionen DM für zusätzliche Ausgaben bei den Sozialmaßnahmen vorgesehen.
Ab 1974 werden die nach Art. 1 und Art. 6 des Aufwertungsausgleichsgesetzes von der Bundesregierung bereitgestellten Mittel gemäß § 1 des Durchführungsgesetzes zum Aufwertungsausgleichgesetz nur noch vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des EG-Ministerrats in Form von Struktur- und Sozialmaßnahmen verwendet.
Die für 1973 vorgesehene Prüfung der Auswirkungen der Ausgleichmaßnahmen auf die wirtschaftliche Lage der deutschen Landwirtschaft durch den EG-Ministerrat an Hand eines Berichtes der Kommission bleibt abzuwarten. Deshalb wurde von der Einstellung eines bestimmten Betrages für den mittelbaren Ausgleich in den Finanzplan für die Haushaltsjahre 1974 und 1975 abgesehen.
Der Ausgleich für die Folgen der D-Mark-Wechselkursfreigabe im Mai 1971, der Paritätsausgleich, ist in der Verordnung 974/71 geregelt. Nach dieser Verordnung werden, sobald der Prozentsatz der Kursabweichung 2,5 % übersteigt, bei der Einfuhr aus Mitgliedstaaten und dritten Ländern Ausgleichbeträge erhoben, bei der Ausfuhr nach Mitgliedstaaten und dritten Ländern Ausgleichbeträge gewährt. Diese Verordnung ist so lange gültig, wie die Wechselkurse freigegeben sind.
Für den Fall einer Neufestsetzung der Kurse der DM-Parität wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß der deutschen Landwirtschaft daraus keine Nachteile entstehen, und sich für die Beibehaltung des Grenzausgleichssystems einsetzen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann man Ihren Worten folglich entnehmen, daß die deutsche Landwirtschaft ab 1974 wegen der Benachteiligung durch die Aufwertung im Jahre 1969 keinen Ausgleich mehr erhält?
Herr Kollege, das hängt von einer weiteren Prüfung ab. Ich habe soeben darauf hingewiesen, daß diese Prüfung der wirtschaftlichen Situation in der Landwirtschaft 1973 erfolgen wird. Von dem sich daraus ergebenden Urteil wird es abhängen, inwieweit ein Ausgleich dann noch erforderlich ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Welche Verluste entstehen der deutschen Landwirtschaft bereits jetzt durch die Nichtberücksichtigung der Veredelungserzeugnisse beim Grenzausgleich, d. h. dadurch, daß nur der Getreideanteil berücksichtigt wird?
Herr Kollege Niegel, ich glaube, man kann nicht davon sprechen, daß jetzt besondere Verluste entstehen. Im übrigen kann ich aus Ihrer Frage nicht entnehmen, ob Sie die Auswirkungen der D-
Mark-Aufwertung meinen oder das jetzige Floating.
— Bei dem jetzigen Grenzausgleich ist es so, daß wir für diesen Bereich, den Sie soeben erwähnten, in dem der Grenzausgleich nicht vom Zollwert ausgeht, sondern von der Getreideinzidenz, besondere Mittel zur Verfügung gestellt haben. Ich glaube, es sind inzwischen etwa 42 Millionen DM, die hier besonders eingesetzt werden. Wir sind der Meinung, daß bisher kein Schaden entstanden ist, sondern die erfolgten Einnahmeverminderungen ausgeglichen worden sind.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Struve.
Herr Staatssekretär, habe ich Ihre Antwort richtig verstanden, daß man unbekümmert um die mittelfristige Finanzplanung für 1975 keine Mittel vorgesehen hat und daß nach Auffassung der Bundesregierung bei Zustimmung der EG- Kommission ab 1975 die 920 Millionen DM in Form von Struktur- und Sozialmaßnahmen an die Landwirtschaft weiter gezahlt werden sollen?
Ich darf wiederholen, Herr Kollege Struve, daß wir die dann von uns zu treffenden Maßnahmen von einer Überprüfung der wirtschaftlichen Situation abhängig machen werden und jetzt schon die Vollmacht von der Europäischen Gemeinschaft haben, dann in Form von Sozialmaßnahmen einen Ausgleich durchzuführen. Wieweit noch in anderer Form ein Ausgleich zu erfolgen hat, muß dann auch die genannte Lageüberprüfung ausweisen.
Die Fragen 67 und 68 des Herrn Abgeordneten Gallus werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Der Herr Abgeordnete Dr. Weber ist nicht im Saal. Seine Frage 69 wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Lensing auf. — Ich habe den Herrn Kollegen doch noch vor einigen Minuten gesehen. Ich bedaure, daß er zu den Fragestellern gehört, die zunächst aus
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9285
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
harren, dann aber infolge der Zusatzfragen keine Hoffnung haben, ihre Fragen beantwortet zu bekommen. Die Fragen 70 und 71 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Der Herr Abgeordnete Dr. Jahn ist nicht mehr im Saal. Seine Frage 72 wird daher schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 73 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Ist die Bundesregierung bereit, den Vorschlag des Europäischen Parlaments zu unterstützen und im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft eine Anhebung der Agrarpreise um mindestens 8 % zu vertreten?
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat im Sommer dieses Jahres eine Anhebung des Angrarpreisniveaus von etwa 2 bis 3 % vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat diesen Vorschlag für völlig unzureichend gehalten. Nach der Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 18. November 1971 hat die Kommission neue Vorschläge angekündigt. Diese Vorschläge liegen noch nicht vor. Die Bundesregierung, Herr Kollege Niegel, hält an ihrer Forderung nach einer nachhaltigen und gleichzeitig differenzierten Preisanhebung fest und wird diese Forderung bei den Verhandlungen mit Nachdruck vertreten. Im einzelnen kann sie erst nach Vorlage der neuen Kommissionsvorschläge Stellung nehmen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie den Vorschlag des Europäischen Parlaments, die Agrarpreise um 8 % anzuheben, für den Vorschlag einer nachhaltigen und differenzierten Preisanhebung, wie Sie sie jetzt bezeichnet haben?
Dieser Vorschlag des Europäischen Parlaments steht ja zur Debatte. Ich würde sagen, es ist ein viel besserer Preisvorschlag als der, der bisher von der Kommission gemacht worden ist. Darüber sind wir uns einig. Inwieweit man einen solchen Vorschlag als nachhaltig und gleichzeitig differenziert in unserem Sinne ansehen kann, will ich heute noch nicht beantworten. Damit würde ich eine Festlegung treffen und den Verhandlungsspielraum meines Ministers bei den Beratungen im Ministerrat einengen.
Wollen Sie noch eine Frage stellen? — Bitte!
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß eine Anhebung der Agrarpreise um 8 % gerade den Inflationsverlust in diesem Jahr ausgleicht und daß damit noch nicht der Anschluß der Landwirtschaft an die allgemeine Entwicklung gefunden wird?
Nein, Herr Kollege Niegel, dieser Auffassung bin ich nicht. Ich bin nicht der Meinung, daß der Kaufkraftverlust so groß sein wird, wie Sie ihn eben unterstellten.
Ich rufe die Frage 74 des Herrn Abgeordneten Dr. Ritgen auf. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird daher schriftlich beantwortet, auch seine Frage 75. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Susset auf:
Ist die Bundesregierung auch der Meinung, daß es im Sinne einer objektiven Berichterstattung besser gewesen wäre, bei der Darstellung der Einkommenslage nicht vom schulden- und pachtfrei gedachten Betrieb auszugehen, sondern von den tatsächlich anzutreffenden Einkommensverhältnissen unter Berücksichtigung aller Einnahmen und Ausgaben in den landwirtschaftlichen Betrieben ?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Susset, bei der Darstellung von Buchführungsergebnissen im landwirtschaftlichen Betrieb ist es üblich, zwischen dem Produktionserfolg und dem wirtschaftlichen Erfolg zu unterscheiden. Unter dem Produktionserfolg ist das Wirtschaftsergebnis eines schulden- und pachtfrei gedachten Betriebes zu verstehen. Diese Abstraktion ist notwendig, um die Effizienz des Wirtschaftens unabhängig von den Besitz- und Vermögensverhältnissen des Unternehmers von Betrieb zu Betrieb und Betriebsgruppe zu Betriebsgruppe vergleichen zu können.
Auf diesen Vergleich kam es auch bei der Darstellung des Einkommensabstandes innerhalb der Landwirtschaft auf Seite 18 der Broschüre „Landwirtschaft im Umbruch" an. Als Maßstab für den Betriebserfolg wurde daher das Betriebseinkommen je Vollarbeitskraft gewählt. Sicherlich — das gebe ich Ihnen zu — hätte in der Broschüre zusätzlich auch der privatwirtschaftliche Erfolg dargestellt werden können. Maßstab hierfür ist das Reineinkommen, das dem üblichen bilanzmäßigen Begriff des Gewinns und damit dem tatsächlichen Einkommen entspricht. Es betrug im Wirtschaftsjahr 1969/ 70 in den Betrieben unter 20 ha LN 10 773 DM je Familienarbeitskraft, in den Betrieben mit 20 bis 150 ha LN 14 326 DM je Familienarbeitskraft, in den Betrieben mit 50 und mehr ha LN 30 314 DM je Familienarbeitskraft. Im Vergleich zum Betriebseinkommen je Vollarbeitskraft lagen die Werte in den Betrieben unter 20 ha LN niedriger, in den mittleren und größeren Betrieben höher. Diese zusätzlichen Angaben hätten also das Bild von der Einkommenssituation in der Landwirtschaft — und das möchte ich damit sagen — nicht mehr nennens-
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Parlamentarischer Staatssekretär Logemann
wert verändert, wohl aber die notwendige knappe Darstellung in einer derartigen Broschüre unnötig belastet.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem die Strukturpolitik der derzeitigen Bundesregierung davon ausgeht, daß die Betriebsaufstockung in erster Linie durch Zupacht erfolgen sollte, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht der Meinung sind, daß es zu einer objektiven Darstellung gehört hätte, die Pacht als Betriebsausgabe anzusetzen.
Darüber kann man verschiedener Auffassung sein. Wir haben uns in dieser methodischen Frage im übrigen an eine Broschüre von Herrn Minister Höcherl gehalten, die wir vorfanden. Wenn ich mich recht erinnere, ist damals ähnlich verfahren worden. Uns ging es um eine knappe Darstellung des Problems.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, haben Sie bei den Angaben in dieser Broschüre die Preissteigerungen im Produktionsmittelbereich so angesetzt, wie sie tatsächlich waren, oder haben Sie sie so angesetzt, wie man sie seitens der Regierung gern dargestellt hätte?
Herr Kollege, ich kann Ihnen versichern, daß in dieser Broschüre nichts manipuliert worden ist. Die Preisentwicklungen sind so angesetzt worden, wie sie sich im Zeitraum Juli 1970 bis März 1971 tatsächlich vollzogen haben.
Sie haben keine Zusatzfrage mehr. Ich gebe jetzt noch dem Herrn Abgeordneten Gleissner eine Zusatzfrage und werde dann Ihre zweite Frage aufrufen. Die Fragestunde ist gleich zu Ende.
Herr Staatssekretär, besteht nicht die Gefahr, daß durch solche, ich möchte doch sagen, einseitigen Darstellungen der Lage unserer Landwirtschaft, wie sie in Ihrer Broschüre „Landwirtschaft im Umbruch" enthalten sind, der Versuch gemacht wird, die Bundesregierung zu entlasten, daß aber durch solche Publikationen die Landwirtschaft selber in der Öffentlichkeit belastet wird und daß bei den betroffenen Landwirten die Resignation wächst und, wenn sie die Broschüre lesen und mit der wahren Lage der Landwirtschaft vergleichen, Verbitterung entsteht?
Herr Kollege, ich bin nicht dieser Auffassung. Sie vergessen bei der Durchsicht dieser Broschüre den begleitenden Text, In den Erläuterungen wird ja immer zum jeweiligen Schaubild Stellung genommen. Wenn man diesen begleitenden Text liest, kommt man doch zu einem richtigen Urteil. Im übrigen werden Sie mir zugeben, daß es immer sehr schwierig ist, mit statistischem Material in der Öffentlichkeit wirklich aufklärend zu wirken. Das wird oftmals falsch aufgefaßt. Aber wir haben uns große Mühe gegeben, gerade bei dem begleitenden Text, der mit gelesen werden sollte.
Herr Kollege Susset, betrachten Sie als Fragesteller Ihre zweite Frage mit den Auskünften des Herrn Staatssekretärs als beantwortet?
Ich betrachte sie als nicht vollständig beantwortet.
Herr Staatssekretär, wollen Sie noch die zweite Frage beantworten? — Ich rufe also die Frage 77 des Abgeordneten Susset auf:
Ist der Bundesregierung das Zahlenmaterial über Preise, Kosten, Wertschöpfung und Einkommen für das Wirtschaftsjahr 1970/71 bekannt, und warum hat sie, wenn dies zutrifft, es versäumt, dieses Zahlenmaterial in ihrer Broschüre „Landwirtschaft im Umbruch" zu veröffentlichen?
Meine Antwort ist kurz. Das Manuskript für die Broschüre „Landwirtschaft im Umbruch" mußte aus technischen Gründen bereits vor mehreren Monaten abgeschlossen werden. Die bis dahin für das Wirtschaftsjahr 1970/71 vorliegenden Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte und Einkaufspreise für landwirtschaftliche Betriebsmittel wurden bei der Darstellung auf Seite 15, wie ich schon angedeutet habe, einbezogen. Über Kosten, Wertschöpfung und Einkommen waren zu diesem Zeitpunkt für 1970/71 nur Vorschätzungen verfügbar. Da die vorgeschätzten Daten mit relativ großen Unsicherheiten behaftet sind, wurde auf eine Aufnahme in die Broschüre verzichtet. Die endgültigen Ergebnisse liegen auch zur Zeit noch nicht vor. Sie können wie in den Vorjahren erst im Agrarbericht veröffentlicht werden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß die Broschüre „Landwirtschaft im Umbruch", besonders wenn man sie zu den agrarpolitischen Aussagen des Sachverständigengutachtens in Vergleich setzt, doch nur dazu angetan sein kann, hier Verwirrung auszulösen, besonders dann, wenn dabei Daten verwendet wurden, die schon vier Monate alt sind?
Logemann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9287
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich bin nicht Ihrer Auffassung. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl — das zeigen auch die vielen Fragen, die heute dazu gestellt wurden — einige Fragesteller sind ausgefallen; ich hatte sehr viele Fragen dazu vorliegen —, daß diese Broschüre überall auf großes Interesse stößt und daß sie in der Öffentlichkeit allgemein richtig verstanden wird.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß das Interesse, auf das diese Broschüre stößt, unterschiedlicher Natur ist? Ich könnte mir vorstellen, daß die Bundesregierung ein Interesse daran hat, die Dinge möglichst günstig darzustellen. Die Landwirtschaft hat doch ein Anrecht darauf, die Dinge vor der interessierten Öffentlichkeit so dargestellt zu bekommen, daß kein falscher Eindruck entsteht. Sind Sie bereit, hier entgegenzuwirken, damit der falsche Eindruck wieder beseitigt wird?
Ich glaube, daß ein Entgegenwirken nicht notwendig ist. Ich habe die Schrift sehr sorgfältig gelesen und geprüft und habe nicht den Eindruck, daß durch diese Schrift eine falsche Information vermittelt wird. Ich glaube, daß sie der Situation der Landwirtschaft durchaus gerecht wird.
Die Fragen der Herren Abgeordneten Dr. Früh und Schulte werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Als letzte Frage rufe ich noch die des Herrn Abgeordneten Burger auf:
Ist die Bundesregierung bereit, auf Grund der schlechten Einkommenssituation 197G/71 auch im Haushalt 1972 eine zusätzliche Liquiditätshilfe zu gewähren und die Förderung der Grünlandbetriebe so zu gestalten, daß auch in Mittelgebirgslagen bauliche Investitionen für Stallbauten finanziell tragbar gestaltet werden können?
Herr Kollege Burger, ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie bei den Zusatzfragen den Ablauf der Fragestunde berücksichtigen würden.
Herr Burger, die Bundesregierung beabsichtigt nicht, wie auch aus dem Entwurf des Einzelplans 10 für das Rechnungsjahr 1972 hervorgeht, 1972 eine zusätzliche Liquiditätshilfe zu gewähren. Die Einkommenslage der Landwirtschaft wird sich im Wirtschaftsjahr 1971/72 dank der guten Ernten und der wieder steigenden Schweinepreise sowie der für dieses Wirtschaftsjahr vom Ministerrat beschlossenen Preisanhebungen im Vergleich zum Wirtschaftsjahr 1970/71 wieder verbessern. Das einzelbetriebliche Förderungsprogramm trägt heute bereits der besonderen Situation der Grönlandbetriebe durch die Einräumung günstiger Konditionen Rechnung. Weitere Verbesserungen sind im Rahmen der Förderungsgrundsätze nach dem Gesetz über die Gemeinschaftsaufgaben zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes ab 1. Januar 1973 vorgesehen. Darüber hinaus prüft der Bund zur Zeit mit den Ländern, ob über die bisher vorgesehenen Maßnahmen hinaus noch zusätzliche Maßnahmen zugunsten der Grünlandbetriebe erforderlich sind. Ein isoliertes Vorgehen des Bundes in dieser Frage ist nicht mehr möglich, da es sich bei der einzelbetrieblichen Förderung um eine Länderaufgabe handelt. Die Zuständigkeit des Bundes beschränkt sich auf die Planung und Mitfinanzierung.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in Baden-Württemberg sind nach der Herausgabe der neuen Förderrichtlinien nur noch verschwindend wenige Anträge vorgelegt worden. Fürchten Sie nicht ein Ausbluten der Grünlandbetriebe? Diese Betriebe sind ja vor allen Dingen auch für den Umweltschutz besonders wichtig.
Herr Kollege, wir prüfen sehr genau, wie unser einzelbetriebliches Förderungsprogramm sich in den verschiedenen Regionen und den verschiedenen Grünlandgebieten auswirkt. Auch bezüglich der Antragsteller verfolgen wir alles sehr genau. Ich bin nicht der Meinung, daß man davon sprechen kann, dieses Programm werde ein sogenanntes Ausbluten der Grünlandbetriebe nach sich ziehen. Wir haben auch immer wieder erklärt, daß wir bereit sind, dann, wenn wir bei Nachprüfungen Gefahren oder Nachteile feststellen, diese mit den Richtlinien künftig zu vermeiden.
Meine Damen und Herren, die Fragestunde ist damit abgelaufen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir nehmen die unterbrochene Beratung der Punkte 5 und 6 — des Rentenreformgesetzes und des Beiträge-Rückzahlungsgesetzes — wieder auf.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Killat-von Coreth.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, meine sehr geschätzten Damen, meine Herren! Wer die Debatte des heutigen Vormittags verfolgt hat, der konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, daß alle CDU/CSU-Redner hier an der Klagemauer standen
und das bittere Schicksal der Kleinstrentner — auch die anderen Probleme — behandelten. Es wurde gesagt, dadurch, daß wir das Problem bisher nicht gelöst hätten, würden i Million Kleinstrentner zu den Sozialämtern getrieben. Das könnte man ganz
9288 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Killat-von Coreth
einfach damit abtun, daß man darauf hinweist, wer in den letzten 20 Jahren die Geschäfte hier verantwortlich geführt hat. Aber ich glaube, es ist nicht allein das Problem, das die CDU in diesen 20 Jahren zu lösen unterlassen hat. Wenn wir einmal die Situation prüfen, stellen wir fest, daß das Unterbleiben der Festlegung eines Mindestbetrages oder hier eines Mindesteinkommens in der Rentenversicherung von Anfang an der Krebsschaden gewesen ist.
Ich darf Ihnen an Hand einiger weniger Beispiele chronologisch aufzeigen, wie es die rechte Seite in diesem Hause gewesen ist, die in all den vergangenen Jahren auf Anträge unentwegt allergisch reagiert und alle Anträge von seiten der Sozialdemokraten abgelehnt hat. Ich bin in der glücklichen Lage, an Hand unserer Dokumentation darauf hinzuweisen, daß wir beispielsweise bei der Rentenreform einen Antrag gestellt hatten — er war noch von dem Kollegen Frehsee eingebracht worden —, daß ein Mindestbetrag in Höhe von 50 % der allgemeinen Bemessungsgrenze festgelegt werden sollte. Der Einfachheit halber sollte es bei den Umstellrenten ein Betrag von 200 DM als Mindesteinkommen sein. Darauf hat der ehrenwerte Kollege Schüttler seinerzeit in seiner Stellungnahme erklärt:
Es tut mir leid, daß es Personen gegeben hat, die im Leben so wenig verdient haben, daß sie mit den wenigen Beiträgen, die sie auf Grund ihres niedrigen Verdienstes geleistet haben, nicht in eine angemessene Rente hineinwachsen konnten. Aber gerecht ist diese aus den Beiträgen und aus der Versicherungszeit errechnete Rente. Wenn dann ein Bedürfnis vorhanden ist, müssen andere Instanzen eintreten, um den Mann lebensfähig zu machen.
— Ja, auch; unter gewissen Umständen ist die
Fürsorge keine Schande. Die Fürsorge war bisher immer noch ein ausgleichendes Element ...
So Ihre Begründung zur Ablehnung eines Mindesteinkommens 1957!
1959 haben wir erneut einen Antrag gestellt, und zwar Herr Kollege Meyer. Daraufhin hat der Kollege Stingl erklärt:
Sie haben die Frage der Kleinstrenten angeschnitten. Wir wissen, daß es sehr kleine Renten gibt. Wir wissen noch mehr. Wir wissen, daß es in Zukunft sogar noch kleinere Renten geben kann, als sie bisher gezahlt wurden. Aber man kann nicht von einem System, das auf die Höhe des Arbeitseinkommens Bezug nimmt und dieses Arbeitseinkommen in Beziehung zu den damaligen Durchschnittseinkommen setzt, zugunsten von Mindestrenten abgehen ...
Diese Litanei setzt sich fort.
1961 hatte ich das Vergnügen, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Dieser Antrag ist abgelehnt worden, und zwar mit den gleichen Argumenten. Dann hat Ihr Sprecher weiter gesagt:
Meine Herren, wenn Sie so in Ihrem Denken — es war der Punkt „Mindestrente" angesprochen —
umschalten, wenn Sie den Rentnern das geben wollen, was ihnen nach ihrer Bedürftigkeit zusteht, dann läßt sich dieses Denken eben nicht mehr mit dem Prinzip der Beitragsrente vereinbaren, dann müssen Sie die Beträge, die Sie diesen Kleinstrentnern in der Sozialversicherung jetzt gewähren wollen, allen Personen geben, die in derselben Lage sind wie diese Rentner der Sozialversicherung. Darum kommen Sie nicht herum, das ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Damit kommen Sie dann zu dem, was Sie wollen, wir aber nicht wollen: zur allgemeinen Staatsbürgergrundrente ...
Das war der ehrenwerte Kollege Ruf, der hier seinerzeit die Ablehnung so begründete.
1965 der gleiche Versuch, und dann hat der Kollege Ruf noch einmal erklärt, daß wir mit der Härtenovelle einen Teil beseitigt haben, die Sachbezüge und ähnliche Leistungen verbessert haben, und zum Abschluß hat er erklärt:
Wenn die Härtenovelle durchgeführt ist, wird die Forderung nach Wiedereinführung von Mindestrenten verstummen müssen.
— Meine Herren, warum halten Sie sich nicht an das Gebot, das Sie selber aufgestellt haben? Es ist ungerecht, wenn Sie in dieser Art und Weise polemisieren, wie es bisher geschehen ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Geisenhofer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einen Augenblick, wenn ich meinen Satz beendet habe.
Es ist ja auch die sozial-liberale Koalition und die Regierung gewesen, die jetzt unter einem sozialdemokratischen Arbeitsminister ein zweites Rentenreformgesetz einbringt, mit einer umfassenden, vertretbaren, auch finanziell vertretbaren Lösung für die Anhebung solcher Kleinrenten, die tatsächlich auf Grund langjähriger Arbeit, aber zu ungerechten Lohnbedingungen, angehoben werden müssen. Dann können Sie sich doch jetzt nicht hinstellen und sagen, wir seien an all den Versäumnissen schuld, die in diesem Hause bisher von Ihnen zu vertreten waren und bei denen Sie es bis heute versäumt haben, trotz des Vorliegens von Anträgen eine Änderung herbeizuführen. — Bitte schön.
Herr Kollege Killatvon Coreth, es ist ja auch unser Anliegen, eine Anhebung bei den langjährig Versicherungspflichtigen vorzunehmen. Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß die 12 Rentenanpassungsgesetze und die Härtenovelle tatsächlich mehr Kaufkraft ergeben haben, daß sich diese Entwicklung aber bei der 13. und 14. Rentenanpassung dieser Regierung nicht mehr fortgesetzt hat? Hier ist wegen der
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9289
Geisenhofer
großen Inflationsrate mehr Rente eigentlich weniger Kaufkraft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie aufmerksam zugehört hätten, Herr Kollege, als Kollege Schellenberg auf diesen Punkt der Abweichung von Nettoverdiensten und Nettoeinkünften aus der Rente eingegangen ist, hätten Sie diese Frage gar nicht stellen können. Denn in dem Punkt hat sich nichts geändert. Wenn Sie etwas ändern wollen — meinetwegen an der allgemeinen Bemessungsgrundlage oder an den Steigerungsbeträgen der Rentenversicherung —, weil Sie von Anfang an höhere Renten bewirken wollen, auch schon nach kürzerer Versicherungsdauer, dann müssen Sie erstens einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen und zweitens auch die finanzielle Dekkungsgrundlage aufzeigen.
Wir begrüßen den Vorschlag der Bundesregierung, das Problem derjenigen Kleinrentner zu läsen, deren Mindesteinkommen nach einer langen Versicherungszeit — das ist in diesem Hause bisher immer eine Versicherungszeit von 40 bis 50 Jahren gewesen — durch eine Anpassung aufgebessert werden sollte. Dieses Mindesteinkommen soll kein Geschenk sein. Es ist in der Tat so, daß in weiten Bereichen unseres Landes — ob ländliche Region, ob Notstandsgebiete — da noch sehr vieles im argen liegt. Wir haben Tarifverträge mit vier bis sechs Ortsklassenabschlägen gehabt, wir haben generelle Frauenlohnabschläge gehabt. Wenn wir das verändern, um hier die Lohnstruktur aus der Vergangenheit zu korrigieren, dann ist das ein Problem, das wir in angemessener Weise mit unseren 35 Versicherungsjahren und mit einem Mindesteinkommen von 70 % lösen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann? — Ich meine, die Sozialpolitiker haben einen Ruf in diesem Hause zu verteidigen. Ich will niemanden daran hindern — es sind nur noch fünf Wortmeldungen da —, durch weitere Zwischenfragen diesen Ruf in solchen Debatten zu sichern.
Bitte, Herr Kollege!
Herr Abgeordneter Killat, im Beamtenrecht haben wir mit 35 Dienstjahren die Höchstversorgungsstufe. Nun wollen Sie mit Ihrem Vorhaben bei den Arbeitern und Angestellten mit 35 Jahren die niedrigste Stufe einsetzen. Ist das nicht eine gewisse Kränkung des Arbeiters und Angestellten, und führt das wirklich zu dem Ziel, das wir erreichen müssen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Varelmann, ich glaube, Sie verwechseln hier Äpfel mit Birnen oder Eier mit Kartoffeln, oder wie man es nennen will. Wir haben hier den Grundsatz aufgestellt, daß wir für die beschäftigten Arbeiter und Angestellten nach Abschluß eines langen Arbeitslebens — wir haben etwa 40 bis 50 Arbeitsjahre zugrunde gelegt — die Rente in der prozentualen Höhe gewähren, wie wir sie kennen. Das wird beispielsweise auch durch die Zurechnungszeit unterstrichen, also dadurch, daß wir gesagt haben: Demjenigen, der mit dem- 30. Lebensjahr ausscheidet, geben wir bis zum 55. Lebensjahr eine solche Zurechnungszeit, daß er auch noch auf 40 Versicherungsjahre kommt. Jetzt können Sie nicht kommen und das System ändern wollen, indem Sie sagen: Das muß schon nach 35 Versicherungsjahren geschehen. Nach Ihrem Vorschlag muß ja schon eine existenzsichernde Rente nach 25 Jahren gewährt werden. Ich will das einmal ganz primitiv sagen: Wenn Sie statt nach 50 Jahren nach 25 Jahren solche Leistungen erbringen wollen, dann müssen Sie alle Beiträge verdoppeln. Andere Lösungen gibt es nicht.
Auch die anderen Faktoren, ob die allgemeine Bemessungsgrundlage, ob der Steigerungsbetrag mit 1,5 % oder sonstige Kautelen unseres Rechts, sind auf diesem Prinzip aufgebaut.
Ich will abschließend — ich bin durch die Zwischenfragen aufgehalten worden — ...
Herr Kollege, ich gebe Ihnen noch zwei Minuten zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
... noch einmal auf die Sinnwidrigkeit des Vorschlags der CDU eingehen, auch im Hinblick auf die Höhe von nur 85 %. Ich habe Sie schon dazu befragt. Sie sind sich immer noch nicht bewußt, daß 85 % Mindesteinkommen bedeuten, daß man in diesem Jahr mindestens 1030 DM verdient haben muß und im nächsten Jahr mindestens 1100 DM. Das heißt, Sie müssen allen Arbeiterinnen — ich habe die Tabellen da —, in weiten Bereichen auch den weiblichen Angestellten, einer großen Zahl der ungelernten und angelernten Arbeiter, den Gastarbeitern die Renten bei 85 % Mindesteinkommen ab 1. Januar 1972 bis zur Höhe von 1100 DM aufbessern. Sie haben das in Ihrer Begründung eigentlich selbst widerlegt. Dort heißt es, wir müßten mindestens auf einen Satz von 85 % gehen. Dann heißt es aber weiter — ich zitiere —:
Andererseits ist nicht zu verkennen, daß auch
für Vollzeitbeschäftigte eine Art „Mindesteinkommen" von 85 v. H. der Durchschnittsverdienste der abhängig Beschäftigten bei der notwendigen Gehalts- und Lohndifferenzierung
nach Leistungsgesichtspunkten auch in Zukunft
nicht befürwortet und erwartet werden kann.
Sie geben also selbst zu, daß es nicht möglich ist, im freien Erwerbsleben den Rentnern ein Mindesteinkommen in Höhe von 85 % des Durchschnittsverdienstes zu gewähren. Selbst nach den Tarifverträgen liegt es ja für ungelernte Kräfte und Hilfskräfte nur bei 70 bis 75 %. Ich meine, Sie sollten einmal die Grundlagen, von denen Sie ausgehen, überprüfen; denn Sie widersprechen sich ständig in allen Fragen der sozialpolitischen, tarifpolitischen und auch finanziellen Vertretbarkeit.
Ich komme nun zu den drei Punkten, die Sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs aufgeführt
9290 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Killat-von Coreth
haben. Es heißt dort, ausschlaggebend für Ihre Haltung seien:
1. die Höhe der allgemeinen Bemessungsgrundlage ...,
also die künftige Rentenanpassungsdynamik
Was heißt das? Wollen Sie die Dynamik verändern?
Weiter wird angeführt:
2. die voraussichtliche Lohn- und Preisentwicklung der künftigen Jahre
Was heißt das? Wollen Sie Preis- und Lohnindexfaktoren einführen?
Schließlich steht dort:
3. die voraussichtliche Entwicklung der Sozialhilfesätze.
Heißt das, daß auch diese noch in die Rentenformel Eingang finden sollen?
Ich glaube, wenn Sie vor sich selbst ehrlich sind und diesen Gesetzentwurf einmal überprüfen, werden Sie sagen müssen: Dieser Gesetzentwurf ist kein brauchbarer Vorschlag, sondern höchstens eine Kateridee, mit der wir in den Beratungen im Ausschuß nichts anfangen können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kreile.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Rentenreformgesetz ist nicht nur ein Thema der Sozialpolitik und der Sozialpolitiker, ihrer und unserer Wünsche, Vorhaben, Absichten und Ziele, sondern auch ein Thema der Finanzpolitik. Wer allerdings die Finanzpolitik bei Maßnahmen mit eminenter Breitenwirkung und bei inneren Reformen zu Rate zieht, muß wissen und in Kauf nehmen, daß der Rechenstift nicht beliebt ist und daß er den, der ihn benutzt, unbeliebt macht. Meine Damen und Herren, soziale Reformen setzen aber ein buchhalterisches Gewissen voraus. Ich habe den Eindruck, daß dieses Gewissen etwas geschärft werden muß, denn nur, wenn wir unsere finanzpolitischen Möglichkeiten kennen und ihre Grenzen respektieren, haben langfristige Reformen überhaupt eine Chance. Diese Regierung bringt aber sich und damit uns alle um diese Chance, wenn sie ihre Finanzpolitik nach den Grundsätzen der drei asiatischen Affen gestaltet: nichts hören, nämlich die Zahlen nicht hören; die Bilanzen nicht sehen wollen; nichts sagen wollen, nämlich uns allen nichts von den drohenden Defiziten sagen wollen.
Wer so vorgeht, untergräbt bereits zu Beginn die Reform. Jede Rentenreform ist ein großes, zu bedenkendes und, wenn sie gut durchdacht ist, auch finanziell zu bewältigendes Risiko. Meine Damen und Herren, um hier aber miteinander denken zu können, müssen die Auswirkungen auf die öffentliche Haushalte aufgedeckt werden. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Rentenreform werden sie uns aber verschwiegen. Ob das Absicht oder
Unvermögen ist, mag die heutige Debatte ergeben.
Der Rentenvorlage ist umfangreiches Zahlenmaterial beigegeben. In groß aufgemachten Tabellen und Übersichten werden Millionenbeträge bis ins Detail aufgeführt. Die Vorausschätzungen bis 1985 werden zum Teil bis auf Dezimalstellen beziffert. Das erweckt den Anschein von Solidität, der umfassenden, gründlichen Arbeit und Unterrichtung. Aber dort, wo es dann darauf ankommt, finden wir nichts.
Immerhin stößt man noch auf eine globale Angabe von 1,5 Milliarden DM, die als Mehraufwendungen zu Lasten des Bundes bis 1985 bezeichnet wird, nämlich aus der Defizithaftung im Rahmen der knappschaftlichen Rentenversicherung. Doch wird dieser Betrag ganz im Gegensatz zu den ihn umgebenden Rechenwundern nicht aufgeschlüsselt. Man hat diesen Betrag nun mit gutem Grund versteckt: damit nur ja niemand auf den Gedanken kommt, hier nach der mittelfristigen Finanzplanung zu fragen, genau die Frage aufzuwerfen, die ich hier stelle; dann müßten nämlich Deckungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Darüber aber — um es liebenswürdig auszudrücken — mogelt sich die Regierung hinweg, hat sie sich schon im September hinweggemogelt, als die Einbeziehung der Rentenreform beschlossen wurde, obwohl der Regierung, die doch durch ihre vielen Planungsräte bestens darüber informiert ist, was ihr bevorsteht, bekannt war, daß das Rentenreformgesetz kommen würde.
In Wirklichkeit bringt diese Rentenreform den öffentlichen Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden — selbstverständlich nach einer gewissen Anlaufzeit — eine mittelbare Mehrbelastung von jährlich mehr als 1 Milliarde DM. Das ist eine, wie ich hoffe, recht gründlich angestellte und nachstehend belegte Schätzung. Es wäre aber Aufgabe der Regierung gewesen, uns allen hier Berechnungen vorzulegen und nicht darauf zu vertrauen, ein Parlament oder eine Gruppe davon werde das Fehlen dieser eminent wichtigen Berechnungen nicht merken.
Es geht hier um folgende Risiken, welche uns die Regierung weder genannt noch beziffert hat:
1. Die Steuerausfälle durch das vorzeitige Ausscheiden von Arbeitnehmern aus dem Erwerbsleben. Nach den Annahmen der Regierung werden etwa 80% der 63jährigen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Das sind 0,7% der Erwerbstätigen. Der Ausfall von Arbeitskräften kann nicht beliebig durch ausländische Gastarbeiter ausgeglichen werden. Er führt daher zu einem verringerten Wachstum des Sozialprodukts. Bei einem Steueranteil von 22 bis 23 % am Sozialprodukt, das etwa 800 Milliarden DM beträgt, kommen wir damit jährlich zu einem Steuerausfall von 1 Milliarde DM.
2. Weder benannt noch beziffert ist das Risiko der Mehraufwendungen für Zusatzversicherung und Zusatzversorgung der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst. Die Kosten hierfür werden ebenfalls in die Hunderte von Millionen DM jährlich ge-
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Dr. Kreile
hen und Jahr für Jahr durch einen zusätzlichen Jahrgang treppenartig ansteigen.
3. Auch der Aufwand für Wohngeld und Sozialhilfe wird von Jahr zu Jahr mit der Zahl der Rentner größer, weil insbesondere die vorgezogenen Renten wegen entsprechender Verringerung der Versicherungszeiten niedriger ausfallen und die genannten Leistungen zwei Jahre früher anfallen.
4. Das letzte Risiko für die Knappschaft wird in dem Bericht mit 68 Millionen DM beziffert. Für die Folgejahre aber gab es keine Aufschlüsselung — obwohl sie interessant gewesen wäre —, offenbar weil auch hier die Belastungen sprunghaft ansteigen.
Angesichts dieser Auswirkungen halte ich es noch für eine arge Untertreibung meinerseits, wenn ich die unmittelbaren und mittelbaren Kosten für unsere öffentlichen Haushalte unter diesen Umständen nur auf 1 bis 1,2 Milliarden DM jährlich veranschlage.
Als unsolide, ja, fast als opportunistisch muß ich es bezeichnen, daß uns dies alles verheimlicht worden ist und daß niemand in der Bundesregierung auch nur einen kleinen Hinweis auf die Deckungsmöglichkeiten gibt.
Dabei hat die CDU/CSU bereits in ihrer Kleinen Anfrage vom 3. August 1971 nach den mittelbaren Kosten der Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung gefragt. Die Bundesregierung antwortete am 19. August, sie werde die gewünschten Berechnungen im Rahmen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung über die Weiterentwicklung der Rentenversicherung vornehmen. Das ist leider nun hinsichtlich der mittelbaren Auswirkungen nicht geschehen.
Meine Fraktion sah sich deswegen veranlaßt, am 3. Dezember 1971 erneut nach bestimmten finanziellen Auswirkungen des jetzt zur Debatte stehenden Pakets zur Weiterführung des Rentenrechts zu fragen. Ich möchte eindringlich, sehr geehrter Herr Bundesarbeitsminister, an Sie und die Bundesregierung appellieren, die von uns gestellten Fragen präzise und gewissenhaft zu beantworten, weil nur eine genaue Kenntnis auch der mittelbaren Auswirkungen auf die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung, um die es uns allen geht, fördern kann.
Doch nicht nur die Belastungen unserer öffentlichen Haushalte werden verschleiert; auch mit den Finanzierungsbeiträgen aus dem Schatz der Versicherungsanstalten scheint es nicht zum besten zu stehen. Der Sachverständigenrat hat ebenso wie der Sozialbeirat das Rechenwerk des Arbeitsministeriums beanstandet. Wie er ausführt — ich darf das mit Genehmigung des Präsidenten zitieren —, wurde
zu wenig beachtet, daß die Annahmen, die der Berechnung der Bundesregierung zugrunde liegen, zu optimistisch sind. Die Bundesregierung wählt die Endphase einer Hochkonjunktur als Basis und unterstellt, daß die Entwicklung ohne Konjunktureinbruch in eine Phase gleichgewichtigen Wachstums übergeht. Bei diesen Annahmen bleiben die Ausgaben langfristig hinter den
Einnahmen zurück, da die Zuwachsrate der Ausgaben erst mit zeitlicher Verzögerung an die Durchschnittsverdienste angepaßt wird, und dies von dem niedrigeren Ausgangsniveau der Renten aus. Der Einnahmeüberschuß, der dann entsteht, würde jedoch käme es zu einem Konjunktureinbruch — teilweise wieder abgebaut werden.
So weit das Zitat.
Bei langfristigen Berechnungen über die Finanzierung der Rentenversicherung sollten außerdem auch einige Alternativberechnungen vorgenommen werden, die die Möglichkeit einer Erhöhung der Lebenserwartung in den nächsten Jahrzehnten berücksichtigen. Die vorliegenden Berechnungen gehen von einer konstanten Lebenserwartung aus, die nach den letzten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes für 65jährige Männer bei 11,93 Jahren, bei 65jährigen Frauen bei 14,92 Jahren liegt. Die Lebenserwartung Neugeborener liegt bei 67,39 bzw. bei 73,51 Jahren. In anderen Bereichen geht die Bundesregierung aber von anderen Annahmen und anderen Zahlen aus. So nimmt sie in ihrem Gesundheitsbericht vom Dezember 1970 unter Ziffer 434 an, daß die durchschnittliche Lebenserwartung im Laufe der nächsten 20 Jahre auf 85 Jahre ansteigen wird. Gewiß können wir noch nicht zuverlässig aussagen, daß es in den nächsten zwei Jahrzehnten zu einer so durchgreifenden Erhöhung der Lebenserwartung kommt und daß diese Entwicklung auch mit einer nicht mehr zu bewältigenden Mehrbelastung der Einrichtungen der Alterssicherung verbunden sein könnte. Mit der Möglichkeit einer steigenden Belastung müssen wir aber rechnen.
Es wird eines der Hauptprobleme der künftigen Gesellschaftspolitik sein, zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Erwerbsjahrgängen und den Jahrgängen zu kommen, die von der Gemeinschaft zu unterhalten sind. Bei einem begrenzten finanziellen Spielraum für die sozial motivierte Umverteilung unseres Sozialprodukts werden wir uns im Zusammenhang mit der Alterssicherung nicht nur die Frage stellen, sondern sie auch beantworten müssen, wie die Alterssicherung finanziell abgesichert werden kann. Im Vordergrund steht hier ein ausreichender Familienlastenausgleich.
Herr Kollege, ich darf Sie an die interfraktionelle Vereinbarung erinnern. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie allmählich zum Ende kämen.
Darf ich noch drei Minuten weiterreden?
Drei Minuten gehen weit über das hinaus, was ich mir vorgestellt hatte.
Ich meine, wir dürfen nicht nur Baby-Jahre einführen, sondern müssen auch dafür sorgen, daß diese tatsächlich in Anspruch genommen werden. Deswegen drängt sich das Er-
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Dr. Kreile
gebnis auf: Der vorgelegte Gesetzentwurf scheint mir ein Musterbeispiel für eine finanzpolitisch unsolide Gesetzgebungsarbeit zu sein. Haushaltsmehrbelastungen von über 1 Milliarde DM jährlich werden verschwiegen, und dies nur drei Monate, nachdem ein angeblich in sich ausgeglichener Finanzplan beschlossen worden ist.
Die Regierung hat uns hier einiges verschwiegen, weil sie offenbar nicht die Disziplin aufbringt, sich an ihren eigenen Finanzplan zu halten. Diese Gesetzesvorlage legt davon ein beredtes Zeugnis ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Geldner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für uns Freie Demokraten ist die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für die Selbständigen ein entscheidender Bestandteil des Regierungsentwurfs. Die Reformgesetzgebung der CDU/CSU aus dem Jahre 1957 war im Hinblick auf die Selbständigen der mißlungene Versuch, mit der Vorstellungswelt des vorigen Jahrhunderts die Fragen der Altersversorgung der Zukunft zu lösen. Nach dem Willen der CDU/CSU sollten die Selbständigen aus der gesetzlichen Rentenversicherung verschwinden. Durch folgende Methoden wollten Sie dieses Ziel erreichen: erstens die Beseitigung des Rechts auf freiwillige Selbstversicherung, zweitens die Beschränkung des Rechts der freiwilligen Weiterversicherung auf diejenigen Selbständigen, die mindestens 60 Monatsbeiträge aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung aufzuweisen haben,
und drittens, Herr Kollege Ruf, die schlechtere Bewertung, d. h. die Diskriminierung der freiwilligen Beiträge der Selbständigen gegenüber den Pflichtbeiträgen der Unselbständigen bei der Rentenberechnung, z. B. bei der Berücksichtigung der Ausbilbildungszeit als Ausfallzeit. Ganz konkret, meine Damen und Herren, heißt dies, daß diejenigen, die wenigstens das Recht zur freiwilligen Weiterversicherung haben, damit rechnen müssen, daß sie bei gleicher Beitragszahlung wie Pflichtversicherte eine wesentlich niedrigere Rente erhalten.
Diese Nachteile für die Selbständigen kamen durch keinen Zufall zustande. Man muß nur einmal im Protokoll nachlesen, was von seiten der Sprecher der CDU/CSU im Jahre 1957 — und das ohne Widerspruch des sogenannten Mittelstandskreises der Unionsparteien — immer wieder erklärt worden ist. Ich darf hier vielleicht einmal einige Passagen aus dieser Zeit vortragen. Es heißt da unter anderem:
Können Sie es verantworten, daß die negative
Auslese, die bei diesen Gruppen für die Sozialversicherung vorgenommen worden ist, von den Pflichtversicherten finanziert werden soll?
Oder ein anderer Satz:
Warum lehnen wir diese Selbstversicherung ab? Die neue Grundlage der Rentenversicherung verbietet es eigentlich, dem einzelnen die Freiheit zu überlassen, sich in die Versicherung hineinzubegeben oder draußen zu bleiben.
Oder ein drittes Zitat aus dieser Zeit:
Wir möchten eine Versicherung haben, die sich auf die wirklich unselbständigen Arbeitnehmer, Angestellte und Arbeiter, bezieht und es dabei auch beläßt.
Meine Damen und Herren, diese Aussagen — —
Herr Abgeordneter Geldner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ruf?
Ja, bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Geldner, Sie behaupten, Sie würden jetzt die Selbstversicherung, die im Jahre 1957 abgeschafft worden ist, wieder einführen.
Herr Kollege Ruf, Sie kennen genau die Aussagen. Ich habe sie Ihnen eben präzis dargelegt. Sie wissen, welchen Sinneswandel Sie vornehmen mußten, um erst einmal dahin zu kommen, heute unseren Standpunkt, den wir schon damals vertreten haben — und ich werde im Laufe meiner Ausführungen darauf noch zu sprechen kommen — —
Herr Kollege Geldner, Sie haben leider meine Frage nicht beantwortet. Darf ich Sie erneut fragen: sind Sie sich darüber im klaren, daß auch Sie in diesem neuen Rentenreformgesetz zur Offnung der Rentenversicherung die Selbstversicherung der Selbständigen, wie sie vor 1957 möglich war, nicht einführen, sondern daß auch Sie, was wir für richtig und für notwendig halten, einkommensgerechte Beiträge verlangen, also die Wahl der Höhe und der Zahl der Beiträge den Selbständigen nicht überlassen?
Herr Kollege, Sie kennen genau unseren Entwurf zu dieser Frage, und Sie wissen auch, daß im Jahre 1957 die Voraussetzungen ganz anders waren. Wir wollten damals im Grundsatz nicht, daß die Selbständigen ausgeschlossen werden. Aber Sie haben es zu dieser Zeit gewollt, und heute haben Sie einen Sinneswandel vorgenommen, um eine Möglichkeit zu finden, daß man, wenn auch nicht auf der gleichen Basis wie 1957, die Selbständigen wieder irgendwie in die Rentenversicherung einbezieht.
Herr Abgeordneter Geldner, gestatten Sie eine
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Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Dr. Schellenberg?
Können Sie mir bestätigen, daß auch vorher im Rahmen der freiwilligen Versicherung einkommensgerechte Beiträge gezahlt werden mußten?
— Aber einkommensgerecht!
Das ist ein Tatbestand, den der Herr Kollege Schellenberg hier aufgeführt hat.
Diese Aussagen der Vertreter der CDU/CSU — lassen Sie mich das doch noch einmal verdeutlichen — beweisen doch eindeutig, daß Sie diejenigen, die sich früher selbst versichert haben, mehr oder weniger als negative Auslese bezeichnet haben, daß Sie die Freiheit der Entscheidung des einzelnen über den Umfang des Versicherungsschutzes abgelehnt haben. „Umfang des Versicherungsschutzes" bedeutet, wie ich Ihnen gesagt habe, daß diese Gruppe aus dieser Versicherung damals ausgesperrt — wenn Sie so wollen — war. Selbstverständlich hat es vor allem bei späteren Wahlen und vor späteren Wahlen nicht nur an Versprechungen in diese Richtung, nämlich gegenüber dem Mittelstand, gefehlt. Das sind Tatbestände, Herr Kollege Ruf, die wohl im Raume stehen. Aber immer dann, wenn die Union Gelegenheit gehabt hätte, im Bundestag den Beweis dafür zu erbringen oder anzutreten, hat sic das Gegenteil von dem getan, was sie draußen dem Mittelstand versprochen hat. Das ist wiederum der Tatbestand.
— Jawohl, Frau Kollegin Kalinke: Den Beweis können wir Ihnen erbringen!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt ?
Herr Kollege Geldner, würden Sie der Frau Kollegin Kalinke auf Grund ihres Zwischenrufs bestätigen, daß einmal die CDU/ CSU 1956/57 die Selbstversicherung abgeschafft hat und später alle Anträge auf Öffnung für die Selbständigen, die die FDP gestellt hat, abgelehnt hat und erst jetzt mit einem Antrag selbst gekommen ist, nachdem in der Regierungserklärung solches stand?
Herr Kollege Schmidt, den Tatbestand wollte ich eben aufführen! 1957 hat die Union bei den Beratungen der Rentenreform Anträge der damaligen Opposition zugunsten der Selbständigen abgelehnt. 1965 hat sie genauso Anträge der Freien Demokraten zugunsten der Selbständigen abgelehnt wie 1967, nämlich im Rahmen des Finanzänderungsgesetzes. Das sind Tatbestände, die wohl hier stehenbleiben.
— Herr Kollege Ruf, in Anbetracht — —
— Bitte sehr!
Kollege Geldner, sind Sie bereit, zuzugeben, daß wir, die CDU/CSU, mit unserem Antrag nicht die Selbstversicherung, die es früher einmal gegeben hat, wieder einführen, sondern die Versicherungspflicht auf Antrag nach dem Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten?
Herr Kollege Ruf, ich komme in meinen Ausführungen auf die Pflicht oder die Freiwilligkeit noch zu sprechen. Das sind nämlich die Nuancen und die Unterschiede zwischen Ihrem Vorschlag und dem Regierungsvorschlag und dem der Koalitionsparteien.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich diese Fehlentscheidungen der Union zur Rentenreform von 1957 etwas betrachte, nicht nur im Hinblick auf die Selbständigen, so beweist das, daß Sie hier in dieser Frage vielleicht einmal ein etwas nicht gutes Gewissen hatten und deshalb einen eigenen Entwurf zu dieser Frage einbringen.
Es war die jetzige sozial-liberale Koalition, die erstmals in einer Regierungserklärung klipp und klar erklärte, daß sie die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für die Selbständigen beschließen werde. Sie hat dies nicht nur, wie es in der Vergangenheit bei der Union der Fall war, unverbindlich in Versprechungen verklausuliert und vor der Wahl getan, sondern diese Regierung hat heute und an diesem Tag auch mit diesem Gesetz dieses Versprechen wahrgemacht und wird es wahrmachen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der wirtschaftliche Strukturwandel, die Erfahrungen aus einer Inflation und einer Währungsreform lassen für den Selbständigen eine Vorsorge für das Alter im Rahmen privater und gesetzlicher Versicherungseinrichtungen sinnvoll erscheinen, und zwar nicht in direktem Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit, d. h. einer selbständigen Existenz. Die traditionellen und früher typischen Formen der Altersversorgung und Alterssicherung sind doch, wenn ich einige nennen darf, die Vererbung, die Verpachtung, der Verzehr von Vermögenserträgen oder ein angespartes Vermögen. Bei dem schnellen Strukturwandel und bei der schnellen Änderung der Bedürfnisse der Verbraucher ist dies jedoch in der heutigen Zeit keine ausreichende Grundlage mehr. Die Sachverständigenanhörung zur Sozialenquete hat deutlich gemacht, daß diejenigen Selbständigen, die keine berufständischen Versor-
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Geldner
gungswerke haben und auch nicht wie die Handwerker im Rahmen eines eigenen Systems rentenversichert sind, eine Grundsicherung wünschen.
Herr Kollege, auch unter Berücksichtigung der an Sie gestellten Zwischenfragen würde ich es begrüßen, wenn Sie in etwa zwei Minuten zu Ende kämen.
Ja. — Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsparteien haben daher vereinbart, ein Modell der Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung anzubieten, das diesen speziellen Wünschen nach einer Grundsicherung möglichst gerecht wird.
Es wäre hierzu noch eine Anzahl von Anmerkungen zu machen, aber weil die Zeit selbst dann, wenn die Zwischenfragen vom Herrn Präsidenten angerechnet werden, nicht ausreicht, möchte ich zum Schluß kommen und nur noch einige wenige Anmerkungen machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen werden nicht nur mehr Wahlfreiheit bei der Altersvorsorge anbieten; sie werden darüber hinaus — und das ist auch ein entscheidender Faktor — den älteren Selbständigen, die Schwierigkeiten haben, ebenfalls eine konkrete Hilfestellung geben. Im Gegensatz zur CDU/CSU vertrauen wir auf die Vorsorgebereitschaft und vermeiden daher jedes Element eines Zwangs. Wir pressen diejenigen, die eine Vorsorge in der gesetzlichen Rentenversicherung treffen wollen, nicht in eine bestimmte Schablone, sondern geben ihnen die Chance, die Vorsorge zu betreiben, die auch mit den jeweiligen Möglichkeiten in Einklang zu bringen ist.
Lassen Sie mich zum Schluß auf den entscheidenden Unterschied hinweisen. Dies ist der Unterschied zwischen damals und heute, zwischen der absoluten Unionsmehrheit und der sozial-liberalen Koalition: Sie erklären eigentlich, es sei kein Raum für freie Entscheidungen. Wir schaffen diesen Raum für freie Entscheidungen!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bredl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist eine lang gesicherte und gefestigte Erkenntnis aller Beteiligten, insbesondere der Arbeitsmediziner und der Arbeitswissenschaftler, daß die mehr als 50 Jahre alte Altersgrenze nicht mehr den Bedürfnissen und der Situation sowohl der Rentner als auch der Arbeitnehmer im aktiven Erwerbsleben gerecht wird. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt es daher, daß die bisherige starre Altersgrenze endlich durch eine flexible Regelung ersetzt wird. Diese flexible Regelung bringt am Ende des Arbeitslebens eines Arbeitnehmers in erster Linie dem Betreffenden ein erheblich größeres Maß an Gestaltungsfreiheit, dann aber auch eine erhebliche Festigung des Ausmaßes seines Freiheitsraumes schlechthin.
Bei der Verwirklichung der Freiheit der Wahl der Altersgrenze spielt die Herabsetzung des Zeitpunktes des Austritts aus dem Erwerbsleben naturgemäß eine besondere Rolle. Das ist verständlich, wenn man berücksichtigt, daß mit ,der Zunahme der Zahl der Lebensjahre eine Abnahme der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit einhergeht. Diese Tatsache erhält in der modernen Industriegesellschaft deswegen ein besonderes Gewicht, weil Produktionsmethoden und Arbeitssysteme entwickelt worden sind, die vielfach für die älteren Arbeitnehmer zu einem harten Leistungsdruck, zu einem harten Leistungszwang geführt haben. Diesem Zustand sind viele unserer Arbeitnehmer nicht mehr gewachsen. Deshalb spielt die flexible Altersgrenze jene bedeutsame Rolle sowohl bei dem älteren Arbeitnehmer als auch schlechthin in der gesamten öffentlichen Meinung.
Ich persönlich bin der Auffassung, daß es darüber hinaus ganz einfach die Achtung vor dem älteren Menschen, vor dem älteren Arbeitnehmer gebietet, ihm die Wahlfreiheit zu bieten, ob er nach dem 63. Lebensjahr weiterarbeiten will oder nicht. Es ist nämlich ein unwürdiger Zustand in unserer Gesellschaft, wenn viele ältere Arbeitnehmer nach einem langen und entbehrungsreichen Arbeitsleben oftmals vergeblich um eine Rente wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit vor der Verwaltung und vor den Sozialgerichten kämpfen müssen.
In diesem Zusammenhang darf ich nur daran erinnern, welch seltsames Schauspiel geboten wird, wenn der Begutachtungsarzt des Arbeitsamtes erklärt, der Arbeitnehmer sei nicht mehr vermittlungsfähig, und der Begutachtungsarzt der Landesversicherungsanstalt demgegenüber erklärt, dieser selbe Arbeitnehmer sei nicht berufsunfähig. Die eine Seite sagt hü, .die andere Seite sagt hott.
In diesem Zusammenhang möchte ich als sehr begrüßenswert erwähnen, daß die flexible Altersgrenze den vertrauensärztlichen Dienst der Rentenversicherungsträger, die Rentenversicherungsträger selbst, also die Verwaltung, wie auch die deutsche Sozialgerichtsbarkeit ganz erheblich entlasten wird. Die flexible Altersgrenze hat aber auch noch einen weiteren sehr beachtlichen sozialen gesundheitspolitischen Hintergrund. Für die jetzt im letzten Drittel ihres Erwerbslebens stehenden Arbeitnehmer hat nämlich die Einführung der Wahlfreiheit, ab dem 63. Lebensjahr in den Ruhestand zu treten, den Charakter einer Art Wiedergutmachung. Denn diese älteren Arbeitnehmer waren es, die die volle Last des Krieges und vor allen Dingen die Last des Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft zu tragen hatten. Welche Leistungen diese Generation erbracht hat und welchen gesundheitlichen Belastungen sie ausgesetzt war, wird am besten sichtbar, wenn man sich den Lebenslauf der jetzt fast 60jährigen kurz vor Augen führt. Diese Menschen haben zwei Weltkriege mitgemacht, Sie haben zwei Infla-
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Bredl
tionen durchgestanden, sie haben die große Weltwirtschaftskrise hinter sich gebracht und waren einem beispiellosen, ich möchte fast sagen: oft gnadenlosen, harten Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft ausgesetzt.
Diesen Belastungen, diesen Opfern und diesen übermenschlichen Leistungen wird niemand widersprechen. Aber es muß auch anerkannt werden, daß das deutsche Wirtschaftswunder nicht allein einer bestimmten Gruppe in unserem Volk zuzuordnen ist,
sondern daß es das Ergebnis der Arbeit der Gesamtheit unseres Volkes war, Herr Geisenhofer.
Diese Belastungen, diese Opfer und diese übermenschlichen Leistungen haben von dieser wahrhaft gequälten Generation vieles abgefordert; besonders die Gesundheit des einzelnen nahm Schaden. Man sollte eigentlich einmal ernsthaft darüber nachdenken, warum die Frühinvalidität in Deutschland ganz besonders groß ist.
Darüber hinaus wissen wir alle, daß die Leistungskurve des Menschen nicht nur von seinem kalendarischen Alter abhängig ist, sondern je nach seinem individuellen Lebensschicksal, je nach seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Konstitution und den an ihn gestellten Arbeitsanforderungen sehr unterschiedlich verläuft. Dieser Tatsache trägt der Regierungsentwurf Rechnung. Er ersetzt die bisherige starre Altersgrenze durch eine auf die Situation der älteren Arbeitnehmer abgestellte flexible Regelung, die es der Entscheidung des einzelnen überläßt, ob er ganz, ob er teilweise oder ob er überhaupt nicht aus dem Erwerbsleben ausscheiden möchte.
Ich darf hier die Erwartung aussprechen, daß es mit der Einführung der flexiblen Altersgrenze auch gelingen wird, dem sogenannten Pensionstod, der im wesentlichen auf die starre Altersgrenze zurückzuführen ist, wirksamer als bisher vorzubeugen. Die Freiheit, die Arbeitsgrenze zu wählen, wird die Situation der älteren Arbeitnehmer erheblich verbessern. Die flexible Altersgrenze wird den Arbeitsmarkt schlechthin für die älteren Arbeitnehmer strukturell verbessern. Das hat beispielsweise das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Erlangen zutreffend festgestellt.
In diesem Zusammenhang darf ich auch daran erinnern, daß mit der Reform der Betriebsverfassung neue Möglichkeiten zum Schutz der älteren Arbeitnehmer geschaffen sind. Ich erinnere hier nur an das neu in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommene Institut der Personalplanung sowie an die ausdrücklich in das Gesetz aufgenommene Verpflichtung des Betriebsrates, für die Belange der älteren Arbeitnehmer einzutreten und sie zu fördern.
Im übrigen darf ich daran erinnern, daß die sozialpolitische Gesprächsrunde beim Bundesminister für
Arbeit und Sozialordnung sich eingehend auch mit diesem Problem der älteren Arbeitnehmer befaßt hat. Ich darf die Erwartung aussprechen, daß nach Inkrafttreten der Regelung über die flexible Altersgrenze alle Beteiligten die neu geschaffenen Möglichkeiten zum Schutze der älteren Arbeitnehmer voll ausschöpfen. Hier wird sichtbar, daß diese Regierung ein ganzes Bündel von Maßnahmen vorschlägt, um die Sicherheit der älteren Arbeitnehmer zu gewährleisten, ihnen jene Existenzangst zu nehmen, die für sie charakteristisch ist. Vor allem soll damit verhindert werden, daß der ältere Arbeitnehmer mit der Zunahme seiner Berufsjahre eine Abnahme der beruflichen und vor allen Dingen der betrieblichen Arbeitschancen erleben muß.
Herr Kollege, darf ich Sie auf den Ablauf der Redezeit aufmerksam machen.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es, daß bei einem Altersruhegeldbezug vom vollendeten 63. Lebensjahr an die Rente nach den geltenden Berechnungsvorschriften berechnet wird und die sogenannten versicherungsmathematischen Abschläge nicht vorgesehen sind. Diese Abschläge würden bewirken, daß jene Arbeitnehmer, die ein hohes Einkommen erzielt haben und damit die Chance haben, eine relativ hohe Altersrente zu erhalten, im Vorteil wären gegenüber jenen, die ein geringeres Arbeitseinkommen bezogen haben und besonders großen Belastungen im Arbeitsleben ausgesetzt waren.
Der jetzt von den Koalitionsparteien vorgenommene erste Schritt zur Verwirklichung der flexiblen Altersgrenze ist außerordentlich populär. Das weiß auch die Opposition. Der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion hat daher vor einiger Zeit mit viel Pathos erklärt, er sei ein leidenschaftlicher Anhänger der flexiblen Altersgrenze.
— Ich darf hier ganz klar herausstellen, daß es viele Lippenbekenntnisse gibt, und möchte nur kurz Herrn Windelen zitieren, der in einer Bilanz zur Halbzeit der 6. Legislaturperiode folgendes bemerkt hat: „Ich würde sagen, ein großes Reformvorhaben wie etwa die Einführung der flexiblen Altersgrenze, das wäre eine Novellierung, die den Rang einer Reform hätte."
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sind eingeladen, mit uns an diesem Reformwerk mitzuarbeiten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Härzschel.
9296 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir noch ein paar Bemerkungen zu dem BeiträgeRückzahlungsgesetz der Koalitionsfraktionen. Zunächst bin ich dankbar, daß der Kollege Müller schon auf den geschichtlichen Hintergrund hingewiesen hat, damit hier keine Geschichtsklitterung erfolgt. Denn wir legen Wert darauf festzustellen, Herr Kollege Schellenberg, daß Sie dieses Gesetz mitgetragen haben und daß Sie sich nicht von der Verantwortung lossagen können.
Wir begrüßen es, daß uns die SPD mit diesem Gesetzentwurf bestätigt, daß sich die Situation der Rentner in diesem Jahr beträchtlich verschlechtert hat.
Wir sehen aber in diesem Antrag auch einen Erfolg unserer Bemühungen, den Rentnern eine Verbesserung zukommen zu lassen. Leider bietet dieser Vorschlag keine überzeugende und dauerhafte Lösung, sondern er ist eine Verlegenheitslösung. Er ist nur entstanden, weil die Unruhe bei den Rentnern größer geworden ist und Sie eine Beruhigungspille für die Rentner brauchten.
Ich möchte darauf hinweisen, daß mit diesem Entwurf nur die Absicht verfolgt werden kann, den CDU-Entwurf zum 15. Rentenanpassungsgesetz zu unterlaufen.
Sie wollen die Rentner darüber hinwegtäuschen und ihnen einsuggerieren, daß der Kaufkraftverlust damit ausgeglichen sei. So ist das leider nicht mit diesem Gesetzentwurf. Vielmehr ist er aus dem politischen Opportunismus geboren; er bringt keine dauernde Verbesserung des Rentenniveaus.
Außerdem kommt er zu spät.
Wenn Sie die Preisentwicklung hätten korrigieren wollen, hätten Sie das zu Beginn des Jahres machen sollen. Denn in diesem Jahr steht einer Geldentwertungsrate von 6 % eine Rentenerhöhung von 5,5 % gegenüber. Dieses Jahr wäre es also angebracht gewesen, diesen Antrag einzubringen.
Wie wird nun dieser Antrag begründet? Es heißt, man wolle damaliges Unrecht wiedergutmachen.
Ich halte das für ein fadenscheiniges Argument, (Abg. Killat-von Coreth: Aber gut!)
weil Sie dann nämlich die ganze Palette dessen, was
damals im Finanzänderungsgesetz beschlossen worden ist, hätten wieder rückgängig machen müssen und nicht nur diesen einen Punkt.
Die SPD wuß wirklich gefragt werden, wie sie es denn mit den verbliebenen Beschränkungen hält, ob sie bereit ist, diese Beschlüsse zu revidieren.
Denken Sie nur daran, daß die Hinausschiebung des Rentenbeginns eine sehr viel größere Härte für viele Rentner war als dieser Rentnerkrankenversicherungsbeitrag, daß Sie hier überhaupt nichts tun und daß 3 1/2 Millionen Rentner draußen vor der Tür bleiben. Die bekommen nämlich überhaupt nichts, haben aber ebenfalls ihren Beitrag geleistet.
Ich möchte weiter darauf hinweisen, daß auch die Abschmelzung des Steigerungssatzes in der Knappschaftsversicherung erfolgt ist.
Diese Abschmelzung haben Sie auch nicht rückgängig gemacht. Es geht ja darum, daß Sie hier Unrecht wiedergutmachen wollen.
Auch die vier Milliarden DM, die vom Bundeszuschuß einbehalten wurden, sind den Versicherungsträgern nicht wieder zugeflossen.
Im übrigen möchte ich noch auf die erstaunliche Wandlungsfähigkeit der SPD und vor allem von Herrn Professor Schellenberg hinweisen.
Noch vor zwei Monaten hat er erklärt: Meine Fraktion hält Rentenzuschläge, so populär sie sein mögen, für ein bedenkliches Instrument.
Wenn das gestern gegolten hat, müßte es auch heute gelten. — Entschuldigen Sie, das ist im Grunde ein Zuschlag. Sie begründen es ja. Sie sagen, das geschehe, um die Spätfolge der Rezession zu mildern. Wenn man etwas mildern will, muß vorher eine Härte da sein.
— Das ist keine Spätfolge der Rezession, das ist eine Folge der inflationären Politik, die Sie betreiben.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9297
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmidt ?
Herr Kollege Härzschel würden Sie mir bitte bestätigen, daß das, was Sie hier mit „Zuschlag" bezeichnen, in Wirklichkeit die Wiedergutmachung eines von Ihnen sogar mit 4 % und dann durch Vermittlung der SPD auf 2 % herabgesetzten Abschlages der Renten war?
Herr Kollege Schmidt, ich will nur feststellen, daß in Ihrer Begründung etwas anderes steht. Dort sprechen Sie davon, daß Härten gemildert werden sollen. Wenn Sie das wollen, dann ist das ein Zuschlag und nichts anderes.
Bemerkenswert ist auch die Höhe des Betrages. Sie werfen insgesamt 1,3 Milliarden DM aus. Aber diese 1,3 Milliarden DM sind gerade ein Hundertstel der erwarteten Überschüsse.
— Entschuldigen Sie, wenn Sie das Jahresgutachten des Sachverständigenrates — Sie haben es zwar abqualifiziert, aber es steht im Raum — mit berücksichtigen, dann werden Sie feststellen, daß diese erwarteten Überschüsse vorenthaltene Rente sind. Wir sind der Meinung, daß mit unserem Rentenanpassungsgesetz der richtige Weg gegangen worden ist. Das haben uns auch die Sachverständigen indirekt bestätigt.
Noch durchsichtiger wird die Absicht dieses Antrags, wenn man seine Vorlage und den in ihm vorgesehenen Auszahlungstermin betrachtet. Die Ankündigung kurz vor Weihnachten soll für die Rentner ein Weihnachtsgeschenk darstellen. Die Auszahlung ist dann als Osterei gedacht, und so ganz zufällig — das ist aber ganz zufällig — finden im Monat April auch noch die Landtagswahlen in Baden-Württemberg statt.
Da kann man nur sagen: Ihre Moral ist wirklich hervorragend. Sie wollen uns weismachen, seien Grundsätze, die zu diesem Gesetzentwurf geführt haben.
Meine Damen und Herren, wir möchten noch einmal unterstreichen, daß es sich hier um eine einmalige Zahlung handelt, die in keiner Weise das Problem des Rentenniveaus befriedigend löst. Im übrigen ist auch deutlich, daß die Vorlage überhastet und konzeptionslos vorgelegt wurde. Dieses Gesetz ist weder in einer Regierungserklärung noch in einer sonstigen Erklärung hier im Parlament angekündigt worden.
— Was ich eben gesagt habe, Kollege Mischnick, zeigt sich auch darin, daß Sie nicht einmal die Mittel dafür in der mittelfristigen Finanzplanung bereitgestellt haben. Die Knappschaft muß ja jetzt ihr Geld bei der Rentenversicherung borgen. Wenn Sie das im voraus geplant hätten, hätten Sie das sicher im Haushalt mit berücksichtigt. Man sieht daraus, daß Sie alle diese Dinge nur ad hoc in die Debatte werfen.
Herr Abgeordneter Härzschel, der Herr Kollege Geiger bittet, Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage verlängern zu dürfen.
Ich möchte nur noch einmal unterstreichen, daß hier keinerlei Systematik oder Grundsätze festzustellen sind. Dieser Antrag war reiner Opportunismus.
Herr Kollege Härzschel, würden Sie nicht meine Meinung teilen, daß man aus Ihrer Rede auch den Eindruck gewinnen kann, daß es sich nicht um Grundsätze, sondern um allgemeine Darlegungen handelt? Herr Kollege Härzschel, könnten Sie nicht einmal so freundlich sein und uns sagen, wann der lang angekündigte und leidenschaftlich vertretene Gesetzentwurf zur flexiblen Gestaltung der Altersgrenze von der CDU/CSU- Opposition zu erwarten ist?
Herr Kollege Geiger, wir unterhalten uns jetzt über Ihren Initiativgesetzentwurf und nicht über die flexible Altersgrenze. Wenn Sie wollen, daß wir uns darüber unterhalten, können wir das sehr gern. Wir haben erklärt, daß wir die flexible Altersgrenze bejahen, und wir werden unsere Vorstellungen zur rechten Zeit auf den Tisch legen. Das lassen Sie unsere Sorge sein. Darüber können wir uns dann verständigen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird alle Bemühungen unterstützen, die den Rentnern eine Verbesserung ihrer gegenwärtigen Situation bringen, die sich durch die hohen Preissteigerungen in diesem Jahr erneut verschlechtert hat. Wir stellen fest, daß das Gutachten der Sachverständigen unsere Auffassung stützt, daß eine Vorziehung der Rentenanpassung notwendig ist und daß das Rentenniveau erhöht werden muß. Das letzte streiten Sie zwar ab, Herr Professor Schellenberg. Aber das ist einfach nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur der Sachverständigenrat, sondern auch der Sozialbeirat hat in seinem Gutachten das Rentenniveau beanstandet. Ich meine, hier liegt die bessere Alternative vor. Wir werden diese Anträge im Ausschuß mit zur Debatte stellen und können nur hoffen, daß nicht bloßes Wahldenken über vernünftige Vorschläge siegt.
9298 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Vielen Dank für die Unterschreitung der vorgesehenen Redezeit.
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Herr Abgeordneter Koenig das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte kann ich feststellen, daß die Versprechungen, mit denen die CDU/CSU-Opposition über Land geht, was sie alles für den selbständigen Mittelstand zu tun gedenke, wie sehr sie um seine Alterssicherung bemüht sei, im umgekehrten Verhältnis zu den Beiträgen steht, die Sie von der Opposition heute in dieser Debatte zu diesem Thema geliefert haben.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß schon seit längerer Zeit und auch zu dieser Stunde kein einziger Ihrer Mittelstandspolitiker dieser Debatte beiwohnt.
— Ihr Entwurf ist nicht so weitgehend wie der Entwurf der Regierungsvorlage. Es hätte Ihnen, Herr Kollege Müller, durchaus gut angestanden, auch diesen weitergehenden Regierungsentwurf zu würdigen. Trotzdem, Herr Kollege Müller, komme ich Ihnen gern entgegen, indem ich in der Auseinandersetzung um die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige auch die Ausführungen aus der Debatte zur Einbringung Ihres Entwurfs mit werte.
Da kann ich allerdings feststellen, daß sich in diesem Hause ein Wandel vollzogen hat. Während Sie bisher immer nur von Ihrer Leistung in der Vergangenheit redeten, um sich mit Ihrer Rolle als Opposition in der Gegenwart zu entschuldigen, konnte man da Töne hören, denen zu entnehmen war, daß Sie durchaus erkennen, daß es in der Vergangenheit an der Leistung gemangelt hat, eben für die Selbständigen in unserem Land die Rentenversicherung zu öffnen. Herr Kollege Ruf hat hier wörtlich gesagt — bei der Einbringung am 1. Oktober 1971 —:
Wir von der CDU haben uns seinerzeit
— das war 1957 bei der Debatte zur ersten Rentenreform —
mit diesem Zustand, daß die Selbständigen draußen vor der Tür bleiben sollten, nicht abgefunden.
— Ja, aber, Herr Kollege Ruf, was dann alles geschehen ist, wissen wir: es ist gar nichts geschehen. Selbst Ihr Kollege Katzer hat als Arbeitsminister einen Auftrag dieses Hauses im Dezember 1967, eine Ausdehnung der Rentenversicherung auf Selbständige vorzubereiten, nicht ausgeführt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ruf?
Herr Kollege Koenig, haben Sie vergessen, daß wir nach der Rentenreform für die Selbständigen unter anderem die Handwerkerversicherung, die Altershilfe der Landwirte und einige andere Dinge mehr geschaffen haben?
Herr Kollege Ruf, sehen Sie, das bestätigt genau den Verdacht, den ich hier geäußert habe: daß nämlich das Gruppendenken in Ihrer Fraktion immer noch so stark ist, daß Sie sich zu echten gesellschaftspolitischen Entscheidungen nicht durchringen können.
Das zeigt die ganze Entwicklung auch um diesen Gegenstand. Herr Blank hat damals als Arbeitsminister zweimal eine Vorlage für eine Rentenversicherung der Rechtsanwälte eingebracht, wollte aber darüber hinaus keine größere Gruppe berücksichtigen.
— Wir haben allerdings damals, 1957, schon darum gerungen, daß die Rentenversicherung für alle Selbständigen geöffnet wird. Unser Sozialexperte Professor Schellenberg hat das ja am 1. Oktober Ihnen hier in aller Deutlichkeit noch einmal begründet.
Im übrigen möchte ich Ihnen sagen, daß es trotz Ihrer Erkenntnis — was Sie durchaus ehrt —, daß nicht genügend geschehen ist für die Selbständigen, Sie nicht ehrt, wenn Sie aus den Fehlern der Vergangenheit nicht genügend gelernt haben. Deshalb stehen Ihre Vorstellungen in Ihrer Vorlage zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige in krassem Widerspruch erstens einmal zu den gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten unserer Zeit und zweitens zu den finanziellen Möglichkeiten der Rentenversicherung.
Ich darf Ihnen das beweisen. Die grundlegende Fehlkonstruktion der Rentenversicherung ist es, daß sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte die traditionelle Sozialpolitik von einer Wohlfahrtspolitik weiterentwickelte zu einer Arbeitnehmerpolitik und schließlich zu einer Gesellschaftspolitik, die Rentenversicherung sich aber ausschließlich zu einer Arbeitnehmerversicherung entwickelte und die Weiterentwicklung der Sozialpolitik zur Gesellschaftspolitik völlig unberücksichtigt gelassen hat. Alle Vorstöße meiner Fraktion in diesem Hause, diese Weiterentwicklung der Sozialpolitik zur Gesellschaftspolitik auch zu einer Weiterentwicklung der Rentenversicherung zu betreiben, sind an dem Votum der CDU/CSU gescheitert, bis die Sozialdemokraten gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, den Freien Demokraten, jetzt die Öffnung der Rentenversicherung für andere Gesellschaftsgruppen auf die Hörner genommen ha-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9299
Koenig
ben. Deswegen war es auch gar nicht verwunderlich, daß der einzige Kollege hier im Hause, der zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige etwas gesagt hat, der Kollege Geldner von den Freien Demokraten gewesen ist.
Ich erwähne dies nur, um Ihnen noch einmal deutlich zu machen, daß sich an Ihrer prinzipiellen Haltung nichts geändert hat; Sie glauben nämlich weiterhin, wenn Arbeitnehmer und Selbständige in eine Rentengesetzgebung zusammengebracht würden, wären sie auch über einen Kamm zu scheren. Die Aufgabe der Weiterentwicklung der Sozialpolitik zur Gesellschaftspolitik ist somit von Ihnen nur verbal erkannt worden.
Warum ist diese Weiterentwicklung erforderlich, meine Damen und Herren? — Die Selbständigen in unserem Lande müssen sich immer stärker der wachsenden Konkurrenz und den wachsenden Märkten in der Gemeinschaft stellen. Das erfordert größere Finanzierungsanstrengungen. Die Konsequenz davon ist aber auch, daß die Abschreibung der Betriebseinrichtungen immer schneller erfolgt. Das wiederum bedeutet, daß die Renditen aus sogenannten fundierten Vermögen, also aus Einkünften aus Kapital oder aus Kapital und Arbeitskraft, beim selbständigen Mittelstand verdrängt werden durch Einkünfte aus Betriebsrenditen, die in Abhängigkeit zur Umsatzentwicklung und zur Betriebserneuerung stehen.
Was bedeutet dies nun für die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige? — Es bedeutet, daß heute mehr noch als im Jahre 1957 die Freiwilligkeit der Beitragszahlung gefordert werden muß. Der selbständige Mittelstand steht mehr denn je vor der Notwendigkeit, Gewinne aus seiner unternehmerischen Tätigkeit stoßweise und zeitweise in sein Unternehmen zu investieren. Außerdem muß er mehr denn je um seine Alterssicherung besorgt sein, da einmal nicht ausreichend sichergestellt ist, daß ein Unternehmen künftig aus seiner Rendite die Alterssicherung des jetzigen Inhabers gewährleisten lzann, und zum anderen, daß die Kinder des Selbständigen den Betrieb nicht nur übernehmen können, sondern darüber hinaus auch in der Lage sein werden, aus den Einkünften die Eltern mit zu unterhalten.
Hinzu kommt natürlich noch das Problem der wenig verdienenden Selbständigen. 13,5 % von ihnen haben ein Nettoeinkommen von weniger als 600 DM monatlich, 12,3 % ein solches von 600 bis 800 DM. Somit haben 25 % ein Nettoeinkommen von weniger als 800 DM und liegen beim Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer. Aus ihrer beruflichen, risikobereiten Selbständigentätigkeit regelmäßig Pflichtzahlungen zu leisten, kann man den Selbständigen, ohne ihnen Schaden zuzufügen, nicht zumuten. Das würde sie in ihrer unternehmerischen Tätigkeit bremsen und im Endeffekt auch daran hindern, überhaupt die Möglichkeit wahrnehmen zu können, der Rentenversicherung beizutreten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Härzschel?
Herr Kollege, wenn Sie sagen, die Selbständigen brauchten keine regelmäßigen Beiträge zu entrichten, sind Sie dann der Meinung, daß sie eine ausreichende Alterssicherung erreichen, daß Sie also hier nicht den Selbständigen etwas vortäuschen, was am Ende nicht sein wird?
Nein, da bin ich ganz anderer Meinung. Ich glaube, daß Ihre Vorlage hier etwas vortäuscht, weil Sie von so geringen Mindestbeiträgen ausgehen, die unserer Meinung nach niemals zu einem gesicherten Rentenanspruch führen können. Im übrigen bedeutet das nicht, Herr Kollege, daß freiwillige Beitragszahlungen und freiwillige Beitragshöhe dazu führen müssen, daß man sie nicht in der notwendigen Höhe wahrnimmt, sich also nicht so verhält wie Arbeitnehmer, um auch zu Ansprüchen wie Arbeitnehmer zu kommen. Sie unterstellen nämlich den Selbständigen, daß sie zu dumm sind, das zu überlegen und selber diese Entscheidung treffen zu können. Dem muß allerdings hier widersprochen werden.
Es ist bedauerlich, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Sie nicht in der Lage sind, dies aus dem ökonomischen Ansatz heraus zu erkennen. So laden Sie die Selbständigen mit großen Versprechungen durch das Hauptportal der Rentenversicherung ein, um sie denn in der Rentenversicherung selber mit rententechnischen Entschuldigungen in den Schwitzkasten der Pflichtversicherung zu nehmen und sie damit durch die Hintertür wieder hinauszukatapultieren.
Zum zweiten sehen Sie auch die finanziellen Möglichkeiten der Rentenversicherung falsch. Etwa 800 000, maximal 1 Million Selbständige könnten also der Rentenversicherung beitreten. Wenn diese Gruppe der Rentenversicherung beitritt, dann muß dies allerdings unter dem Gesichtspunkt der Solidarität der gesamten Versichertengemeinschaft gegenüber geschehen. Das bedeutet auch, daß man ihnen Leistungen verspricht, die unter dem Zeichen der Solidarität stehen. Beides läßt nun, wie wir zur Kenntnis nehmen konnten, der Entwurf der CDU/CSU, der diesem Hause vorgelegt worden ist, vermissen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas zum Prinzip der Nachentrichtung und der Dreivierteldeckung sagen. Meine Damen und Herren, durch die Nachentrichtung, rückwirkend bis zum Jahre 1956, wird den Selbständigen eine große Chance geboten, Ansprüche auf Grund von Erwerbsunfähigkeit oder Rentenansprüche bereits kurzfristig zu erwerben. Wenn wir dabei allerdings den Vorstellungen der CDU/CSU folgen wollten, daß Beiträge, die im Jahre 1971 gezahlt werden, für das Jahr 1956 bemessen sein sollen, so bedeutete das im Endeffekt eine Kapitalrendite von 40 %. Dies
9300 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Koenig
ist gegenüber der Versichertengemeinschaft insgesamt weder solidarisch, noch kann man eine solche Rendite als finanziell solide bezeichnen. Sie wäre ein unrealistisches Geschenk, das vor allem die jüngere und mittlere Generation der Beitragszahler stark belasten würde. Die Kapitalrendite nach dem Regierungsentwurf wird sich unter Einrechnung von Ausfall- und Ersatzzeiten auf 16 bis maximal 20% belaufen. Niemand kann behaupten, daß dieser Satz zu niedrig sei.
Herr Kollege, ich möchte Sie auch auf den Zeitfaktor aufmerksam machen.
Danke, Herr Präsident. - Daß die Freiwilligkeit der Beitragszahlung — sowohl was die Zahl der jährlichen Beiträge als auch die Beitragshöhe angeht — logischerweise bedeutet, daß derjenige, der einen Rentenanspruch wie ein Arbeitnehmer erwerben will, sich auch bei seinen Beitragszahlungen wie ein Arbeitnehmer zu verhalten hat, möchte ich noch einmal betonen.
Lassen Sie mich nur kurz in Punkten aufzählen, welche Vorteile die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige mit sich bringt.
Erstens: nach fünf Jahren bereits Anspruch auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Zweitens: nach 15 Jahren Versicherungszeit mit 65 Jahren Anspruch auf Altersruhegeld.
Strukturelle Verbesserungen folgender Art werden auch für den Selbständigen Gültigkeit haben:
erstens Einführung der flexiblen Altersgrenze,
zweitens das zusätzliche Baby-Versicherungsjahr für Frauen,
drittens Versorgungsausgleich bei Ehescheidungen,
viertens Hinterbliebenenrente für die Witwen und die Kinder,
fünftens Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit,
sechstens Zuschüsse zu den Beiträgen für die Krankenversicherung, wenn der Selbständige Rente bezieht.
Meine Damen und Herren, zum Schluß folgendes. Die Vorlage der Regierung ist durchkonstruiert und solide finanziert. Der Entwurf der CDU/CSU, der am 1. Oktober dieses Jahres hier eingebracht wurde, kam zu spät, um für die Selbständigen neue Gesichtspunkte zu bringen. Er erfüllt in diesem Hause eine Alibifunktion und soll zeigen, daß die Opposition bereit ist, aus den Fehlern ihrer Vergangenheit zu lernen. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen allerdings noch mehr dazulernen, wenn Sie sich nicht nur aus der Vergangenheit in die Gegenwart vorarbeiten wollen, sondern auch für die Zukunft zu bestehen beabsichtigen. Denn in einer modernen Industriegesellschaft wie der unsrigen darf die soziale Sicherung nicht mehr an Gruppen orientiert sein. Sie muß vielmehr für alle möglich werden, ohne daß die unterschiedlichen Erwerbstätigkeiten über einen Kamm geschoren werden. Dieser gesellschaftspolitischen Forderung wird der Regierungsentwurf voll und ganz gerecht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ruf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht den Zorn der hier noch verbliebenen Kollegen auf mich ziehen und jetzt auf die Ausführungen von Herrn Kollegen Koenig näher eingehen.
Es wurde gesagt, von uns habe sich niemand zu der Frage der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige geäußert; wir seien auf diese Probleme nicht eingegangen. Das stimmt insofern nicht, als der Kollege Müller als unser Hautredner heute vormittag gleich zu Anfang auch die Frage der Öffnung der Rentenversicherung behandelt hat. Außerdem hatten wir ja einen ganzen langen Vormittag zur Verfügung, um den von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige zu erörtern.
Die Debatte haben wir doch hinter uns! Deswegen will ich jetzt auf einiges nicht eingehen, wozu an sich etwas zu bemerken wäre, z. B. auf das, was Sie bezüglich der Beitragsnachentrichtung oder überhaupt bezüglich der Entrichtung von Beiträgen gesagt haben. Da ist in Ihrer Darstellung einiges schiefgelaufen. Das können wir später im Ausschuß behandeln.
Ich hoffe nur, Herr Kollege Schellenberg, daß Ihr Wort, das Sie vorhin als Zwischenruf gemacht haben, keine Gültigkeit haben wird, daß nämlich unser Entwurf mit der heutigen Lesung des Regierungsentwurfs bereits tot sei.
— Nein, nein! Ich will Ihnen etwas sagen. Mir gefällt in der Regierungsvorlage bezüglich der Öffnung der Rentenversicherung einiges sehr gut. Es gibt auch Dinge in unserem Entwurf, die Ihnen, wenn Sie objektiv sind, nicht schlecht gefallen. Ich könnte mir denken, daß es uns allen drei Fraktionen gelingen wird, im Ausschuß die Dinge so zu kombinieren, daß wir eine gute, vernünftige, praktikable Lösung haben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich wird die Koalition bei den eingehenden Ausschußberatungen alle Argumente der Opposition sorgfältig würdigen. Aber eines hat die heutige Debatte ergeben: Nach-
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Dr. Schellenberg
dem klargestellt ist, daß die CDU hinsichtlich des Vorwurfs eines zu niedrigen Rentenniveaus einem Phantom nachgejagt ist,
wird die Weiterberatung ergeben, daß eine sinnvolle Rentengesetzgebung zielbewußt Unrecht beseitigen und zielbewußt denjenigen zugute kommen muß, die jetzt noch von Ungerechtigkeiten betroffen sind. Solche Regelungen werden sinnvoller sein als eine pauschale Anhebung des Rentenniveaus, die Inhalt Ihres 15. Rentenanpassungsgesetzentwurfs ist.
Ich schließe die Aussprache.
Der Entwurf des Rentenreformgesetzes soll nach dem Vorschlag des Ältestenrats an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend —, an den Rechtsausschuß sowie an den Haushaltsausschuß zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Der Entwurf des Beiträge-Rückzahlungsgesetzes soll an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — sowie an den Haushaltsausschuß zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. — Es werden keine anderen Anträge gestellt; es ist so beschlossen.
Als nächsten Tagesordnungspunkt rufe ich auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Haushaltsausschusses betr. zusätzliche Ausgaben für den Ausbau und Neubau von Hochschulen und von Einrichtungen der wissenschaftlichen Forschung und Ausbildung außerhalb der Hochschulen im Haushaltsjahr 1971
— Drucksachen VI/2946, VI/2963 —
Der Herr Berichterstatter wünscht keine zusätzliche Berichterstattung. Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht begehrt. Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Beschlußfassung. Wer dem Antrag des Haushaltsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Ich danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Ich rufe die Punkte 7 und 8 auf:
7. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes
— Drucksachen VI/2899, zu VI/2899 —8. Erste Beratung des von der 'Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Juli 1971 zur Verlängerung des Abkommens vom 21. Mai 1965 über den Handelsverkehr und die technische Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den Mitgliedstaaten einerseits und der Libanesischen Republik andererseits
— Drucksache VI/2913 —
Das Wort wird zu diesen von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfen aus dem Hause nicht begehrt.
Die Überweisungsvorschläge des ÄAltestenrats bitte ich Sie aus der gedruckten Tagesordnung zu entnehmen. Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind folgende Überweisungen beschlossen: Tabaksteueränderungsgesetzentwurf an den Finanzausschuß, Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der Libanesischen Republik an den Ausschuß für Wirtschaft — federführend — sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Auswärtigen Ausschuß.
Ich rufe die Punkte 9 bis 14 auf:
8. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für
eine Richtlinie über die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die selbständigen Tätigkeiten der Arzneimittelherstellung
eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die selbständigen Tätigkeiten der Arzneimittelherstellung
eine Richtlinie über die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs für die selbständigen Tätigkeiten des Großhandels mit Arzneimitteln und der Vermittler in Handel und Industrie auf dem Gebiet der Arzneimittel eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die selbständigen Tätigkeiten
— des Großhandels mit Arzneimitteln
— der Vermittler in Handel und Industrie, die für ihre Tätigkeiten über einen Vorrat an Arzneimitteln verfügen
eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften für die selbständigen Tätigkeiten des Kleinvertriebs von Arzneimitteln
eine Richtlinie für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Apothekers
eine Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die selbständigen Tätigkeiten des Apothekers
— Drucksachen V/4013, VI/2879 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Hammans
9302 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
10. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Entwurf der EG-Kommission' für eine Verordnung des Rates über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 EWG vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
— Drucksachen VI/2530, VI/2894 —
Berichterstatter: Abgeordneter Becker
11. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für
eine Verordnung des Rates über die Festlegung von Höchstgehalten an unerwünschten Stoffen und Erzeugnissen in Futtermitteln
eine Verordnung des Rates über den Verkehr mit Futtermitteln
— Drucksachen VI/1854, VI/2901 — Berichterstatter: Abgeordneter Lemp
12. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für
eine Verordnung des Rates zur Festlegung der Voraussetzungen für die Anwendung der Schutzmaßnahmen auf dem Sektor Milch- und Milcherzeugnisse
eine Verordnung des Rates über die im Falle von Versorgungsschwierigkeiten auf dem Sektor Milch und Milcherzeugnisse anzuwendenden Grundregeln
eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1171/71 durch eine zusätzliche Befreiung von der Verpflichtung, die Nebenerzeugnisse der Weinbereitung zu destillieren
— Drucksachen VI/2605, VI/2606, VI/2902 —
Berichterstatter: Abgeordneter Susset
13. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für
eine Verordnung des Rates über die
Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des
Gemeinschaftszollkontingents für andere Gewebe aus Baumwolle, der Tarifnummer 55.09 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Israel
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Baumwollgarne, nicht in Aufmachungen für den Einzelverkauf, der Tarifnummer 55.05 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Malta
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für synthetische und künstliche Spinnfasern, der Tarifnummer 56.04 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Malta
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Oberbekleidung, der Tarifnummer 60.05 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Malta
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Oberbekleidung, für Männer und Knaben, der Tarifnummer 61.01 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Malta
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für getrocknete Feigen, in unmittelbaren Umschließungen, mit einem Gewicht des Inhalts von 15 kg oder weniger, der Tarifnummer ex 08.03 B des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Spannien
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingens für getrocknete Weintrauben, in unmittelbaren Umschließungen mit einem Gewicht des Inhalts von 15 kg oder weniger, der Tarifnummer 08.04 B I des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Spanien
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für andere Gewebe aus Baumwolle, der Tarifnummer 55.09 des Gemeinsamen Zolltarifs, mit Ursprung in Spanien
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für bestimmte in Spanien raffinierte Erdölerzeugnisse des Kapitels 27 des Gemeinsamen Zolltarifs
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Grège, weder gedreht noch gezwirnt, der Tarifnummer 50.02 des Gemeinsamen Zolltarifs
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9303
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Garne, ganz aus Seide, nicht in Aufmachungen für den Einzelverkauf, der Tarifnummer ex 50.04 des Gemeinsamen Zolltarifs
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung des Gemeinschaftszollkontingents für Garne, ganz aus Schappeseide, nicht in Aufmachungen für den Einzelverkauf, der Tarifnummer ex 50.05 des Gemeinsamen Zolltarifs
eine Verordnung des Rates zur zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für Balsamterpentinöl der Tarifstelle 38.07 A und für Kolophonium der Tarifstelle 38.08 A
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines zusätzlichen Gemeinschaftszollkontingents (für das Jahr 1971) für Zeitungsdruckpapier der Tarifstelle 48.01 A des Gemeinsamen Zolltarifs
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines zusätzlichen Gemeinschaftszollkontingents (für das Jahr 1971) für Ferrosilizium der Tarifstelle 73.02 C des Gemeinsamen Zolltarifs
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines zusätzlichen Gemeinschaftszollkontingents (für das Jahr 1971) für Ferrosiliziummangan der Tarifstelle 73.02 D des Gemeinsamen Zolltarifs
eine Verordnung des Rates über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung eines zusätzlichen Gemeinschaftszollkontingents (für das Jahr 1971) für Ferrochrom, mit einem Gehalt an Kohlenstoff von 0,10 Gewichtshundertteilen oder weniger und an Chrom von mehr als 30 bis 90 Gewichtshundertteilen (hochraffiniertes Ferrochrom), der Tarifstelle ex 73.02 E I des Gemeinsamen Zolltarifs
— Drucksachen VI/2715, VI/2717, VI/2718, VI/2735, VI/2805, VI/2806, VI/2933 —Berichterstatter: Abgeordneter Scheu
14. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für
eine Verordnung des Rates zur Ausdehnung des Anhangs der Verordnung (EWG) Nr. 109/70 des Rates vom 19. Dezember 1969 zur Festlegung einer gemeinsamen Regelung für die Einfuhr aus Staatshandelsländern auf weitere Einfuhren
eine Verordnung des Rates über das Warenverzeichnis für die Statistik des Außenhandels der Gemeinschaft und des Handels zwischen ihren Mitgliedstaaten (NIMEXE)
eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Längenmaße
eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bescheinigungen und Kennzeichnungen für Drahtseile, Ketten, Haken und deren Zubehör
— Drucksachen VI/2393, VI/2519, VI/2570, VI/2572, VI/2934 —
Berichterstatter: Abgeordneter Scheu
Ich frage, ob einer der Herren Berichterstatter das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall. Auch zur Aussprache wird das Wort nicht begehrt. Ich schließe die Beratung.
Ist das Haus einverstanden, daß wir der Einfachheit halber über die Berichte gemeinsam abstimmen? — Ich höre keinen Widerspruch.
Wir kommen zur Abstimmung über die Ausschußanträge auf den Drucksachen VI/2879, 2894, 2901, 2902, 2933 und 2934. Wer zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Enthaltung? — Einstimmige Beschlußfassung.
Ich rufe Punkt 15 der heutigen Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 31 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache VI/2917 —
b) Beratung der Sammelübersicht 32 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
—Drucksache VI/2940 —
Die Frau Kollegin Berger erbittet das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihnen liegen die Sammelübersichten 31 und 32 über die Petitionen vor, die am 2. und 9. Dezember im Petitionsausschuß behandelt worden sind. Mehrere Eingaben betreffen das Verhalten von Kindern im Straßenverkehr. Gestatten Sie mir, auf zwei Petitionen aus diesem Bereich, die den Ausschuß wegen ihrer Bedeutung für jung und alt besonders beschäftigt haben, kurz einzugehen.
Eine Eingabe — lfd. Nr. 70 aus Sammelübersicht 31 — hatte zum Inhalt, der Bundesregierung zu empfehlen, entsprechend der seit einigen Monaten in Österreich geltenden Regelung auch bei uns die Beförderung von Kindern auf den Vordersitzen von Kraftfahrzeugen gesetzlich zu unterbinden.
9304 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Frau Berger
Sie alle kennen das Problem; es war bereits Gegenstand einer Fragestunde. Und wer mit Kindern im Auto fährt, der weiß, welcher Kämpfe es bedarf, um sie dort zu placieren, wohin sie gehören, nämlich auf den Rücksitz.
Zwar haben sowohl das Bundesverkehrsministerium als auch die Automobilverbände die Verkehrsteilnehmer schon mehrfach an ihre persönliche Verantwortung gegenüber mitfahrenden Kindern erinnert und darauf hingewiesen, daß Kinder auf den Vordersitzen von Kraftfahrzeugen besonders gefährdet sind. Wir alle kennen jedoch die Wirkung solcher Appelle: sie klingen gut, aber sie finden kaum ein Echo.
Es ist daher notwendig, durch technische Hilfsmittel gewisse Zwänge auf die Verkehrsteilnehmer auszuüben. Nur dann wird der erforderliche Schutz erreicht werden können. Unsere bisherigen Kenntnisse über solche technischen Möglichkeiten zum Schutz der Kinder reichen jedoch nicht aus.
Der Petitionsausschuß hat es daher ausdrücklich begrüßt, daß der Bundesminister für Verkehr dem Battelle-Institut einen Forschungsauftrag erteilt hat, durch den die bei einem Aufprall entstehenden Beschleunigungen, Beanspruchungen und Bewegungsabläufe, denen Kinder in Kraftfahrzeugen ausgesetzt sind, untersucht werden sollen. Der Ausschuß hofft, daß die Ergebnisse möglichst bald vorgelegt und daß die erforderlichen Konsequenzen daraus gezogen werden. Es wäre übrigens begrüßenswert, wenn wir in dieser Frage zum Wegbereiter für eine einheitliche europäische Lösung werden könnten.
Eine weitere Eingabe — sie ist in Sammelübersicht 32 unter der lfd. Nr. 34 aufgeführt — gilt dem besseren Schutz der Fußgänger auf Gehwegen. Dem Petenten geht es darum, die Straßenverkehrsordnung dahin gehend zu ändern, daß Kinder nur bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr innerhalb geschlossener Ortschaften die Gehwege auch zum Radfahren benutzen dürfen.
Diese Eingabe will vor allen Dingen die Fußgängergruppe besser schützen, die in unserer durchmotorisierten Umwelt leicht unter die Räder des Fortschritts gerät, nämlich die alten Leute. Sie, die oft nicht mehr standfest auf den Beinen sind, werden bisweilen von einzelnen, manchmal von ganzen Gruppen radfahrender Kinder bedrängt, verängstigt, gefährdet, ja sogar verletzt.
Der Ausschuß hat diese Eingabe nach langer Erörterung des Pro und Contra ablehnen müssen, weil beim Abwägen der beiderseitigen Interessen dem Schutz der Kinder vor den tödlichen Gefahren des Straßenverkehrs der Vorrang zu geben war.
Kinder sind, wie wir wissen, im Straßenverkehr besonderen Gefahren ausgesetzt. Wir lesen täglich Presseberichte über Verkehrsunfälle, in denen Kinder die Betroffenen sind. Kindliche Unachtsamkeit, Unerfahrenheit auch, ihre Verspieltheit, das mangelnde Begreifen der technisierten Welt der Erwachsenen sind die Gründe dafür. Die letzten Zahlen aus dem Jahre 1969 — eine neuere Statistik ist mir nicht bekannt — weisen aus, daß 1575 Kinder unter 14 Jahren bei Verkehrsunfällen getötet wurden; 20 013 Kinder wurden schwer verletzt, 25 216 wurden leicht verletzt.
Diese Zahlen klagen an. Wir haben zu fragen, ob unsere Gesellschaft alles, wirklich alles getan hat, um die Opfer geringer zu halten. Wir treiben den Fortschritt extrem hoch, Geschwindigkeiten eingeschlossen. Aber der Grad des Verantwortungsbewußtseins unserer Gesellschaft hält damit nicht Schritt.
Wollte man alle Kinder über sechs Jahren vom Gehweg auf die Straße verweisen, wenn sie sich auf Fahrrädern fortbewegen wollen oder auch fortbewegen müssen, so würde dies bedeuten, sie sozusagen kraft Gesetzes einer erhöhten Lebensgefahr auszusetzen.
Hinzu kommt, daß Kinderfahrräder in der Regel technisch nicht den Vorschriften der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung entsprechen, also z. B. keine ausreichende Beleuchtung oder auch keine sichere Bremsanlage haben. Die Erfahrung zeigt auch, daß Kinder über sechs Jahren im allgemeinen noch keine Verkehrsübersicht besitzen, also gar nicht verkehrstüchtig sind.
Ausschlaggebend war für den Ausschuß letztlich die Erwägung, daß bei einem Zusammenstoß zwischen einem radfahrenden Kind und einem Fußgänger auf dem Gehweg in der überwiegenden Zahl aller Fälle die Folgen weitaus geringer sind als bei einem Zusammenstoß mit einem Kraftfahrzeug auf der Fahrbahn. Dabei sind auch auf Gehwegen die älteren Menschen den radfahrenden Kindern keineswegs schutzlos ausgeliefert, weil die allgemeine Verhaltensregel des § 1 Abs. 2 der StraßenverkehrsOrdnung auch auf den Gehwegen gilt.
Kinder sind auch heute noch vielen Beschränkungen unterworfen. Wir haben zuwenig Spielplätze, zuwenig Kindergärten, zu kleine Wohnungen, zu gefährliche Straßen, risikoreiche Schulwege. Die relativ gefahrlosen Gehwege sollten daher den Kindern weiterhin zur Verfügung stehen.
Eine Gesellschaft, die sich den Vorwurf gefallen lassen muß, sie überlasse die Erziehung ihrer Kinder dem Fernseher, der Straße oder auch dem Zufall, wird ihrer Verantwortung nur gerecht, wenn sie sich diesen Fragen immer wieder stellt und wenn sie nach Antworten sucht, die auch an den berechtigten Interessen der Kinder orientiert sind.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Anträge des Petitionsausschusses, die in den Sammelübersichten 31 und 32 enthalten sind, anzunehmen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971 9305
Ich danke der Frau Berichterstatterin und darf ihr die Glückwünsche des Hauses zu ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause übermitteln.
Meine Damen und Herren, wer den in den Sammelübersichten 31 und 32 enthaltenen Anträgen des Petitionsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Ich danke. Gegenprobe! —
Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Wir stehen am Ende der Plenarsitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 17. Dezember 1971, 9 Uhr — einziger Punkt: Fragestunde — ein.
Die Sitzung ist geschlossen.