Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist in dieser Debatte bereits deutlich geworden, daß es auf zwei wesentliche Grundtatsachen zurückgeht, daß wir überhaupt die Chance haben, über so weitgehende Verbesserungen, wie sie in den vorliegenden Gesetzentwürfen vorgesehen sind, und über die vielfältigen, bezüglich der Kosten noch viel weitergehenden Stellungnahmen des Bundesrates heute hier und in den nächsten Wochen im Ausschuß diskutieren zu können, nämlich auf die Grundtatsache, daß wir uns in einer Stunde der Not in diesem Parlament in allen drei Fraktionen gemeinsam zusammengerauft und Beschlüsse gefaßt haben, die diesen finanziellen Spielraum heute überhaupt ermöglichen: einmal dadurch, daß wir in den leidvollen Stunden ernüchternder Erkenntnis beschlossen haben, ab 1973 den Versicherten eine Beitragserhöhung auf 180/0 zuzumuten, und zum zweiten dadurch, daß wir uns in dieser Stunde der Erkenntnis und der Lohnsituation der Finanzlage der Rentenversicherungsträger dahin gehend entschieden haben, daß das bis dahin gültige Pflichtrücklagesoll von Rentenausgaben von zwölf auf drei Monate reduziert wurde.
Ohne diese beiden Beschlüsse gäbe es kaum finanziellen Spielraum für Verbesserungswünsche, die seit allen Jahren und in allen drei Fraktionen vorhanden waren, die man zwar diskutieren konnte, für die aber kein finanzieller Spielraum vorhanden wäre. Der finanzielle Spielraum ist jetzt gegeben. Wir sollten uns nunmehr, da wir sehen, daß sich die Finanzlage der Rentenversicherungsträger wieder besser darstellt als in den Jahren 1966, 1967 und 1968, auch dahin gehend einigen können, zu versuchen, das Notwendige und finanziell Mögliche in sachlicher Diskussion miteinander auszuhandeln und Gesetz werden zu lassen.
Ich erwähne das vorweg, weil die Finanzlage der Rentenversicherung keineswegs so phantastisch ist, wie das die Zahlenspiele mit 100 und mehr Milliarden DM Reserven, ja sogar mit den 200 Milliarden DM Vermögen — das muß man ja auch immer wieder unterscheiden —, die wir gar nicht haben, sondern vielleicht einmal theoretisch haben könnten, wie das die Riesenzahlen, die gar nicht so groß sind, vermuten lassen. Ich schicke das voraus, um deutlich zu machen: Was wir in der Rentendiskussion brauchen, ist sehr viel Nüchternheit für das, was sozial erstrebenswert und finanziell möglich ist.
Wir brauchen mehr Wahrheit und Klarheit gegenüber den 10 Millionen Rentnern, aber auch gegenüber den 22 Millionen Beitragszahlern. Wir brau-
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chen das Denken und Handeln in gesamtsozialen und gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen, und wir brauchen den Mut — hier braucht ihn insbesondere die CDU/CSU —, von unerfüllbaren Vorstellungen, wie sie den Rentnern von der CDU/CSU seit 1957 bis zur Stunde vorgemacht wurden, abzurücken. Wir brauchen mehr Sachlichkeit in der sozialpolitischen Auseinandersetzung. Wer nämlich aus parteipolitischen Erwägungen fortwährend Gefühle hochputscht, dient weder den Rentnern noch den Beitragszahlern.
Ich bin der Meinung, wir sollten aufhören, irgendwelche Vorstellungen, ob sie verwirklicht worden sind oder nicht in der Vergangenheit, mit Attributen wie „Katzer-Beitrag" oder „Schellenberg-Monat" oder mit ähnlichem zu belegen. Denn als Sozialpolitiker müssen wir uns immer Gedanken machen, was sinnvoll sein könnte. Wenn man einen Gedanken veröffentlicht, kann sich in der Diskussion ergeben, daß er falsch gewesen ist. Aber es ist doch richtig, wenn wir uns Gedanken machen. Es ist auch richtig, daß man, wenn sich solche Gedanken im nachhinein als falsch herausstellen, auch den Mut und die Energie aufbringt, sich von den falschen Vorstellungen zu lösen.
Was wir Freien Demokraten erstreben und was im Vorschlag der Bundesregierung und im Initiativ-entwurf der Koalitionsfraktionen, der hier auf dem Tisch liegt, enthalten ist, ist einmal, daß das allgemeine Zugangsrecht für Selbständige und Hausfrauen eröffnet wird, das die CDU/CSU im Jahre 1957 nach meiner Meinung in totaler Verkennung des sozialpolitisch Erforderlichen mit ihrer absoluten Mehrheit beseitigt hat. Ich nenne hierzu nur das Stichwort „Öffnung der Rentenversicherung".
Nach unserer Meinung wäre eine Sozialpolitik, die die gesetzliche oder die private Vorsorge einseitig bevorzugt oder benachteiligt, falsch. Unser Ziel ist es, mehr Freiheit in der Form der Vorsorge nach beiden Seiten hin zu ermöglichen.
Wir streben die Garantie eines Mindestrenteneinkommens für diejenigen an, die nach dem geltenden Recht von 1957 trotz jahrzehntelanger Berufstätigkeit und Beitragsleistung nur kleine Renten erhalten. Ich nenne hier das Stichwort „Mindestrenten". Leider müssen wir eine solche Regelung einführen, weil sich die Hoffnungen der CDU, daß es im weiteren Verlauf der Rentengesetzgebung des Jahres 1957 keine Kleinstrenten mehr geben würde, nicht erfüllt haben.
Wir streben auch in der Gestaltung des Lebensabends mehr Freiheit für den einzelnen an und mehr finanzielle Anerkennung, wenn er ohne Rentenbezug weiterarbeitet. Ich nenne das Stichwort „flexible Altersgrenze nach unten und oben". Über das letztere wird im Ausschuß noch eingehend zu beraten sein.
Wir meinen, daß wir mehr Rücksicht auf die Kriegsgeneration zu nehmen haben, vor allem auf diejenigen, die bisher von der Anerkennung des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft als Ersatzzeiten mehr oder weniger ausgeschlossen sind, weil sie die Stichtagsvoraussetzungen nicht erfüllen. Hier kommt es darauf an, eine der sozialen Hypotheken des Krieges zu tilgen und den Strukturwandlungen Rechnung zu tragen.
Wir erstreben eine Stärkung der gesellschaftlichen und sozialen Stellung der Frau entsprechend den liberalen Gleichheitsgrundsätzen des Grundgesetzes, der Rechtsprechung der obersten Gerichte und den Empfehlungen der Sozialenquete-Kommission. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Stichworte Baby-Jahr und Rentensplitting analog zum Splitting im Steuerrecht und zum Zugewinn im Familien- und Erbrecht.
Das, meine Damen und Herren, ist der Katalog der Vorschläge, der das geltende Rentenrecht in wesentlichen Teilen reformieren will. Es wird dabei lebensnah gestaltet. Für uns Freie Demokraten versteht es sich von selbst, daß dabei auch die Stellungnahmen des Bundesrates in die Diskussionen des Ausschusses einbezogen werden müssen.
Wir müssen klar erkennen, daß die Reform von 1957 mit sehr viel Ideologie und sehr vielen Grundvorstellungen belastet war, was den praktischen Erfordernissen nicht ausreichend entsprach. Die CDU/CSU hat damals mit ihrer absoluten Mehrheit die Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung für Selbständige beseitigt, auch für Hausfrauen. Diese Fehlentscheidung beruhte auf einer Fehleinschätzung des strukturellen und sozialen Wandels der Gesellschaft. Die sozial-liberale Koalition wird diese Fehlentscheidung korrigieren. Die CDU hat damals behauptet; die Renten würden bei einer langen Versicherungsdauer so hoch, daß kein Sockelbetrag mehr erforderlich sei. Daher könne man bei einer sogenannten beitragsgerechten Rente, von der man damals noch sprach, auf einen solchen Sockelbetrag verzichten. Diese Auffassung hat sich leider als fataler Irrtum erwiesen. Daher müssen wir bestimmte Änderungen zugunsten der Rentner im Rahmen der Mindestrenten schaffen. Kriegsdienst und Gefangenschaft haben nicht nur entscheidenden Einfluß auf den Lebensweg ,des einzelnen Betroffenen ausgeübt, sondern ihre Konsequenzen auch für die Höhe des Rentenanspruches gehabt. Das geltende Recht sieht die Berücksichtigung dieser Zeiten nicht für jeden Versicherten ganz oder teilweise vor. Auch hier müssen wir für die bisher Benachteiligten entscheidende Korrekturen vornehmen. Neben der Korrektur der Entscheidung des Jahres 1957 gilt es, neuen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen.
Zu der Kriegsgeneration noch eines, meine Damen und Herren von [der CDU/CSU. Gerade Sie, Herr Ruf, der Sie so vor mir sitzen, werden sich erinnern, daß wir Freien Demokraten im Jahre 1965 über diese Fragen mit Ihnen sehr gerungen haben, weil wir der Meinung waren, daß jeder, der einen langen Zeitraum der Versichertengemeinschaft angehört, einen Anspruch darauf haben sollte, daß die Wehrdienst- und Kriegsgefangenenzeiten als Ersatzzeiten angerechnet werden. Sie waren damals bei der Stichtagsvoraussetzung nur bereit, von 24 Monaten ,auf 36 Monate zu gehen. Wir freuen uns,
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daß Sie nun bereit sind, von Ihrer damaligen Haltung abzugehen, und stellen damit auch eine heilsame Wirkung fest, die Sie aus der Oppositionsrolle in dieser Frage erhalten haben.
Eine weitere Korrektur sind die flexible Altersgrenze und die Fragen der sozialen und rechtlichen Stellung der Frau in unserer Gesellschaft. Wir haben den Eindruck, daß zu diesen beiden Punkten innerhalb der CDU zwar in etwa ein Klärungsprozeß im Gange ist, aber eine eindeutige Bejahung, in welcher Form dies vorgenommen werden soll, noch nicht ganz deutlich geworden ist. Die Vorschläge der CDU/CSU, über die wir schon bei anderer Gelegenheit sprachen, lassen vermuten, daß es der CDU vordergründig nicht um eine Beseitigung von Härten und eine zeitgemäße Änderung des Systems geht, sondern zunächst ganz prinzipiell um eine allgemeine Anpassung und um eine allgemeine Erhöhung des Rentenniveaus.
Meine Damen und Herren, man kann aus der jeweiligen politischen Einstellung heraus das eine oder andere vertreten. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition: wer so tut, als sei beides in einem sinnvollen und wirksamen Rahmen finanzpolitisch möglich, macht nicht nur den Rentnern und den Beitragszahlern, sondern auch sich selbst etwas vor. Von daher bedauere ich, daß eigentlich so wenig Kollegen der Opposition aus dem Wirtschaftsausschuß und aus dem Finanzausschuß hier sind. Daß die Kollegen aus dem Haushaltsausschuß nicht hier sein können, versteht sich von selbst, da diese schwere Arbeitstage haben.
Aber wer das Rentenniveau wie die CDU anheben will und dann noch alle möglichen Verbesserungen daraufpacken will, schafft das nicht nur, indem er den finanziell möglichen und errechenbaren Spielraum voll ausreizt, sondern riskiert auch, daß er den Grundstein für notwendige Beitragserhöhungen in der Zukunft legt. Dies wollen wir Freie Demokraten nicht, dies wollen auch die Sozialdemokraten nicht. Von daher muß man erkennen, daß es sich bei all den Wünschen, die hier vorgetragen werden und die sogar in dieser Drucksache gesammelt sind — wenn wir hinten die Stellungnahme des Bundesrates nehmen —, nicht da und dort um einige Millionen, sondern um Milliardenbeträge handelt, die zu den Vorschlägen, die die Bundesregierung gemacht hat, zusätzlich hinzukommen würden.
Wer Schwächen und Mängel des heutigen Systems beseitigen will, muß den Mut haben zu sagen, daß in diesem Fall nicht jährlich noch zusätzliche allgemeine Erhöhungen in Milliardenhöhe möglich wären. Wir kämen nämlich, wenn wir all diese Wunschvorstellungen ins Gesetz schrieben, tatsächlich in die Situation, auf die Herr Müller schon hingewiesen hat, nämlich zu einer Konfrontation der Generationen, wenn wir ihnen immer höhere Beiträge abfordern, für die ihnen nach der Rentenformel kein zusätzlicher höherer Rentenanspruch entsteht. Wer allgemeine Anhebungen beschließen will, muß genauso den Mut haben zu sagen, daß für Verbesserungen des Rentensystems mit fühlbaren Leistungsverbesserungen kein entscheidender Raum mehr vorhanden ist.
Er muß auch den Mut haben zu sagen, daß er diese Mängel in die Zukunft weiterschleppen will, oder muß Beitragserhöhungen beschließen.
Die Koalitionsfraktionen sind entschlossen, im Interesse der betroffenen Rentner und der Beitragszahler die Solidität der künftigen finanziellen Entwicklung und die Sicherung der vorhandenen Ansprüche in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Dort, wo sich ein zusätzlicher finanzieller Spielraum zeigt, soll er den Versicherten und den Rentnern und niemand anderem zugute kommen. Wir haben aber nicht die Absicht, nur um uns gegenseitig zu überbieten, uns Entscheidungen abringen oder in Entscheidungen treiben zu lassen, die uns dann wieder in eine Situation führen, wie wir sie 1967 hatten, wo wir zum Nachteil der Rentner die Rentengesetze in vielen Punkten ändern mußten, und zwar nicht nur durch einen Rentnerkrankenversicherungsbeitrag. Ich glaube, das Jahr 1967 sollte uns hier bei den Ausschußberatungen immer mahnend vor Augen stehen.
Es gibt immer viele Konflikte zwischen sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen. Es gibt nicht nur in der Wirtschaftspolitik das magische Dreieck von Geldwertstabilität des wirtschaftlichen Wachstums und der Vollbeschäftigung, es gibt analog dazu auch in der Sozialpolitik dieses magische Dreieck von sozialer Sicherheit, persönlicher Freiheit und Leistungsbereitschaft des einzelnen. In beiden Fällen führt ein Ungleichgewicht der einzelnen Faktoren zu einer einseitigen und schädlichen Entwicklung. Persönliche Freiheit und soziale Sicherheit bergen so lange keinen Widerspruch in sich, als sie nicht als notwendige Übel, sondern als Faktoren gesehen werden, die sich gegenseitig ergänzen.
Oder konkret gesprochen, meine Damen und Herren: wenn das System sozialer Sicherung zu einer so großen zwangsweisen direkten und indirekten Belastung mit Steuern und Sozialabgaben führt, daß kein frei verfügbarer Einkommensanteil mehr bleibt, leidet die Freiheit der Entscheidung des einzelnen Schaden, weil ihm gar kein Entscheidungsraum mehr bleibt.
Ich führe das aus, weil ich manchmal den Eindruck habe, daß wir in dem berechtigten Willen, soziale Härten und Mängel zu beseitigen, diesen Freiheitsraum einschränken könnten, indem wir zwar Beitrags- und Steuererhöhungen nicht sofort beschließen, aber zwangsläufig als spätere Maßnahme aufgrund von Beschlüssen von heute für die nächsten Jahre herbeiführen. Ohne Entscheidungsmöglichkeit gibt es keine Fähigkeit der Entscheidung und ohne diese Fähigkeit keinen mündigen Staatsbürger, den wir — alle drei Fraktionen — bejahen.
Meine Damen und Herren, umgekehrt wäre eine persönliche Freiheit ohne eine Sicherung vor schweren Belastungen aus den Wechselfällen des Lebens keine echte Freiheit, weil jeder dieser Risikofälle zu einer Belastung für den Betroffenen führen könnte, der er allein nicht gewachsen ist. Worum es
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geht, sind nicht Freiheit oder soziale Sicherheit, sondern das richtige Maß von beidem. In einem unlösbaren Zusammenhang mit beiden stehen die Leistungsbereitschaft und der Leistungswille des einzelnen. Sie verkümmern dort, wo sich in den Augen des einzelnen ein entsprechender Einsatz materiell oder ideel nicht mehr lohnt.
Ich erwähne dies deshalb, weil die sozialpolitischen Vorhaben, egal von welcher Seite sie kommen, ihren Preis haben werden, den Preis einer weiteren zusätzlichen Belastung der Einkommen durch die Steigerung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung von 17 auf 18 %, den wir schon vor Jahren beschlossen haben und den wir nicht rückgängig machen wollen. Ein Blick in den Sozialbericht 1971 zeigt aber auch, daß die Belastung der Bruttolohn- und Gehaltssumme mit Abzügen sich ohne Arbeitgeberanteil seit 1950 schrittweise von 12,6 auf 22,6 % im Jahre 1970 erhöht hat. Auch hier handelt es sich nur um einen Schritt neben anderen in anderen Bereichen. Es gibt zweifellos schon heute zahlreiche Fälle, wo sich einzelne Mitbürger fragen: Lohnt es sich noch, dieses oder jenes anzustreben, mehr zu tun, mehr zu arbeiten, wenn vom Mehreinkommen nur noch ein geringer Anteil übrigbleibt? Genau dies ist die Schwelle, wo das Ausmaß der Belastungen zu einer negativen Leistungsbereitschaft umschlagen kann. Diese Schwelle wird selbstverständlich nicht allein durch die Sozialabgaben, sondern genauso durch die Steuersätze bestimmt. Gerade deshalb dürfen wir aber bei keiner wichtigen sozialpolitischen Entscheidung die Wirkungen auf die anderen Bereiche übersehen.
Jede soziale Leistung hat ihren Preis. Daher gebietet es die politische Redlichkeit, diesen Preis zu nennen. 104 Milliarden DM theoretischer, rechnerischer Reserve beflügeln die Phantasie aller Beteiligten. Seit diese Zahl in diesem Frühjahr in die Diskussion eingegangen ist, ist sie in den Köpfen mancher bereits zur Größe von 200 Milliarden DM angewachsen. Auch hier scheint sich zu bewahrheiten, daß der Mensch Wunschträumen lieber nachhängt als der Auseinandersetzung mit Fakten. Die Auseinandersetzung mit Fakten ist mit dieser Frage und bei diesen Gesetzen einfach notwendig. Wir müssen vermeiden, weiteren Fehlentscheidungen und Fehlbeurteilungen zu unterliegen. Dabei müssen wir uns einfach ins Gedächtnis zurückrufen, daß die CDU/ CSU im Jahre 1956 die Vorstellung genährt hat, als sei mit einer geringen Beitragssteigerung eine unverhältnismäßige Erhöhung der Rente zu erreichen. Beides war illusionär. Die Schuld dafür will sie heute mit einer Art Verelendungstheorie vom Rentenniveau der Koalition von SPD und FDP in die Schuhe schieben.
Werfen wir den Blick noch einmal zurück; es ist sicher gut für die Zukunft. In einer Repräsentativumfrage der damaligen Regierung wurden Leute befragt — ich darf wörtlich zitieren —: „Wenn die Rentenneuregelung so durchgeführt wird, wie sie geplant ist, dann würden die laufenden künftigen Renten im Durchschnitt um etwa die Hälfte verbessert. Würden Sie — der Befragte — unter diesen Umständen einer Erhöhung Ihres Sozialversicherungsbeitrages um 1 % Ihres bisherigen Lohnes oder Gehaltes zustimmen, also z. B. bei 350 DM Lohn oder Gehalt 3,50 DM monatlich mehr bezahlen wollen als bisher, oder würden Sie das nicht übernehmen wollen?"
Aber es wurde damals nicht nur eine durchschnittliche Erhöhung der Renten um 50 % versprochen — was falsch war —, sondern den Wählern auch eine Rente in Höhe von 60 % eines vergleichbaren Bruttoeinkommens in Aussicht gestellt, wenn 40 Versicherungsjahre vorlägen. Diese Zielsetzung konnte leider nicht erreicht werden. Heute morgen in der Debatte ist schon angeklungen, daß man sich zufriedengäbe, wenn 50 % erreicht würden. Aber man muß sich ins Gedächtnis zurückrufen, daß diese Zielsetzung mit 60 % in der Diskussion immer wieder eine große Rolle gespielt hat, daß sie aber leider illusionär war und nie eine Chance der Verwirklichung hatte. Die Renten sind nicht um 50 % gestiegen, jedenfalls nicht für einen beträchtlichen Anteil. Im Hinblick auf die Wahl im Jahre 1957 wurden denjenigen Rentnern, die keine Rentenerhöhung erhalten hätten oder wegen der Beseitigung des Sockelbetrages in Zukunft nach der neuen Rentenformel eine noch niedrigere Rente zu erwarten gehabt hätten, ein pauschaler monatlicher Zuschlag von 21 bzw. 14 DM gewährt. Man ging damals von der Meinung aus, in zehn Jahren habe sich dieses Problem geregelt. Es hat sich leider nicht von selbst geregelt. Es blieb nicht bei der angekündigten Beitragserhöhung, weder im ersten Deckungsabschnitt noch im zweiten Deckungsabschnitt. Die Rentenversicherungsbeiträge sind nicht, wie die Meinungsumfrage vermuten ließ, von 11% auf 13 %, sondern gleich auf 14% gestiegen, sie sind in der zweiten Deckungsdekade nicht auf 16 %, sondern auf 18 % gestiegen. Wir haben diese 18 % mitgemacht, und wir stehen dazu, weil wir wissen, daß die Renten ohnehin knapp bemessen sind. Aber man sollte seitens der Opposition nicht so tun, als ob man sich in der Vergangenheit nicht geirrt habe. Sie sind entscheidenden Irrtümern unterlegen, und Sie haben damit bei vielen Menschen in unserer Bevölkerung Erwartungen erweckt, die mitnichten gehalten werden können, auch dann nicht, wenn Sie alleine heute in der Regierung säßen.
Das Leistungsrecht mußte leider im Jahre 1967 eingeschränkt werden. Seien wir ehrlich: das war eigentlich nur in einer Großen Koalition möglich. Denn nur, wenn eine so breite Regierungsmehrheit von 90 % hinter so einschneidenden Eingriffen steht, ist das gegenüber dem Volk überhaupt noch vertretbar, ohne daß die Parteien auf maßlose Stimmenverluste rechnen müssen. Es mußte ein Beschneidungskatalog gemacht werden. Über 100 Änderungen im Sozialversicherungsrecht mußten wir damals hinnehmen. Ich will gar nicht auf einzelne Schwerpunkte eingehen. Denn einige dieser Änderungen haben wir sogar mit vertreten, weil wir uns mitverantwortlich fühlten für die Solidität der Rentenversicherung und für das solidarische Gewissen. Bei einigen allerdings haben wir uns zur
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Wehr gesetzt. Haben Sie deshalb Verständnis, daß wir natürlich gerne bereit waren und erfreut sind, daß in den Gesprächen mit unserem Koalitionspartner erreicht wurde, daß der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag, den wir damals für einen Unfug hielten, nun zurückerstattet wird, sozusagen als Wiedergutmachung einer falschen Einschätzung im Jahre 1967.
Wir Freien Demokraten gehörten leider immer zu denen — jemand mußte diese Rolle übernehmen —, die in den Zeiten, in denen die Finanzsituation der Rentenversicherungen als rosig angesehen wurde, danach verlangten, man möge uns doch Berechnungen vorlegen, wenn andere Steigerungsraten erwartet würden, damit man sähe, welch andere langfristige Tendenzen zu erwarten wären, wenn die Lohnraten weniger wachsen als angenommen. Wir haben aber auch in dem Krisenjahr 1967 nach Berechnungen verlangt, die von einer höheren Lohnsteigerungsrate ausgehen für den Fall, daß höhere Lohnsteigerungsraten zu verzeichnen sein sollten, weil wir in dieser Zeit des Defätismus — so kann man beinahe sagen — bezüglich der Finanzsituation der Rentner der Meinung waren, daß man diese Unglücksstimmung nicht unbedingt noch zusätzlich fördern, sondern gelegentlich auch Zahlen vorlegen sollte, die einen kleinen Silberstreif am Horizont erscheinen lassen.
Ich führe das an, um deutlich zu machen, daß wir auch als Freie Demokraten und als kleine Partei in diesem Parlament unseren Beitrag zu diesen Fragen der Rentenversicherung immer geleistet haben, daß wir hier manchmal einen unterschiedlichen Part in der Fragestellung spielen mußten, aber einen Part, der im Parlament gespielt werden mußte. Wir müssen doch ganz klar erkennen, daß zwischen Ideologie, d. h. Parteiprogrammen, und parlamentarischer Praxis eben oft eine große Lücke klafft. Es muß darauf hingewiesen werden, daß alle Ideologie, alle Zielsetzung gut und richtig sein kann, daß sie aber in der parlamentarischen Wirklichkeit immer in Einklag stehen muß mit dem wirtschaftlich Möglichen, weil nur das wirtschaftlich Mögliche für alle das am Ende Sinnvolle und Richtige sein kann.
Meine Damen und Herren, ich habe darauf hingewiesen, um deutlich zu machen, daß die Verbesserungen, über die wir uns heute hier und in der Zukunft im Ausschuß unterhalten, nur möglich sind durch die eminenten Beitragssteigerungen, die dieses Parlament beschlossen hat.
Für den Beitragszahler von heute ist es nämlich hinsichtlich seiner späteren Rente völlig gleichgültig, ob er von seinem Lohn 11 % — wie bis 1957 — oder 14 % oder — wie in Zukunft — 18 % abgeführt hat. Ich will nur ein einziges Beispiel herausgreifen, nämlich das Beispiel der Beitragsbemessungsgrenze von 2300 DM und eines Beitragssatzes von 18 %. Diese 18 % und die Beitragsbemessungsgrenze von 2300 DM bedeuten für den betroffenen Versicherten, daß für ihn gegenüber dem früheren Beitragssatz von 14 % ein Mehrbetrag von jährlich 1004 DM zu zahlen ist, ohne daß ihm durch diesen nominellen Betrag von 1004 DM ein höherer Rentenanspruch zuwächst. Auch das sollte man der Ehrlichkeit und Redlichkeit wegen einmal klar zum Ausdruck bringen.
Auch mit den höheren Beitragsbelastungen und mit gleichzeitigen Einschränkungen von Leistungen in bestimmten Fällen wäre das Rentenniveau von 60 % in keiner Phase auch nur annähernd erreichbar gewesen. Auch das wollen wir in dieser Stunde festhalten. Wenn die CDU/CSU gegenüber sich selbst ehrlich ist, dann muß sie zugeben, daß selbst die 50%-Grenze nur in einem einzigen Jahr, nämlich im Wahljahr 1957, überschritten worden ist. Jahrelang — und ich gehe nun im Gegensatz zu meinem Kollegen Schellenberg, der die Nettobeträge in den Raum gestellt hat, auf die Bruttobeträge über —, nämlich 1962, 1963, 1964 und 1965, als wir mit Ihnen in der Regierungsverantwortung waren, lagen die Sätze unter 45 %, ohne daß die damaligen, verantwortlichen Arbeitsminister dies öffentlich als einen beklagenswerten Zustand empfunden hätten.
Wenn heute erklärt wird, daß damals aus finanziellen Gründen eine zusätzliche Rentenanpassung nicht möglich gewesen wäre, dann, meine Damen und Herren von der CDU, handelt es sich schlicht um eine elegante Täuschung. Denn die Reserven waren im Prinzip damals genauso vorhanden wie heute. Wir hatten damals nämlich auch 10 und 12 Monatsreserven im Verhältnis zu den 8 und 9 Monatsreserven, die wir jetzt haben. Der Unterschied zu heute besteht darin, daß man heute von einer Reserve ausgeht, die nur noch einem Rentenbedarf von drei Monaten entspricht, während man damals eine Jahresrate für erforderlich hielt.
Meine Damen und Herren, wenn die CDU/CSU ehrlich ist, muß sie zweierlei zugeben. Rente in Höhe von 60 % eines vergleichbaren Bruttoentgeltes wäre nur in einem theoretischen Grenzfall denkbar, auf den ich in einer anderen Rede bereits deutlich hingewiesen habe. Diesen theoretischen Grenzfall wünschen wir lalle nicht, weil er mit einem dreijährigen Stillstand unseres Wachstums verbunden wäre. Das liegt nun einmal in der Rentenformel und in ihren Ergebnissen begründet. Es wäre deshalb ein sachlicher Beitrag in ,der Rentendiskussion, wenn diese Zusammenhänge auch von der CDU/CSU eingestanden würden und wenn sie gleichzeitig bekennen würde, daß für den Rentner etwas ganz anderes entscheidend ist, nämlich die langjährige und langfristige Entwicklung seines Nominal- und Realeinkommens. Allein dies entscheidet über das, was er sich kaufen und zusätzlich kaufen kann.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie ehrlich und offen argumentierten, müßten Sie bei Ihren Vergleichen nicht nur die normalen Rentenanpassungen. in die Berechnungen einbeziehen, sondern weitere 2 % aus dem Wegfall des sogenannten Krankenversicherungsbeitrags der Rentner, d. h. aus der Rentenkürzung aus den Jahren 1968 und 1969 durch die damals von Ihnen geführte Koalition. Den Rentnerhaushalten standen in den Jahren 1970 und 1971 nicht nur die Rentenanpassung von zum einen 6,3 % und zum anderen 5,5 %, sondern auch die zusätzlichen 2 %, die jährlich immerhin ein Volumen von 800 Millionen DM
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ausmachen, zur Verfügung. Sie hatten damals, als wir diese Regelung einführten, Bedenken.
Meine Damen und Herren, einschließlich der Erstattung der in den Jahren 1968 und 1969 einbehaltenen Beiträge ergibt sich für das Jahr 1972 eine Erhöhung von insgesamt 9 %, so daß sich die Behauptung oder zumindest der Eindruck, der erweckt wird, die Situation der Rentner habe sich verschlechtert oder würde sich verschlechtern, als eine Irreführung erweist, denn eine Erhöhung von 9 % bedeutet keine Verschlechterung.
Meine Damen und Herren, diese Koalition macht niemandem ein X für ein U vor.
Sie beschönigt nicht die Dinge, die problematisch sind. Sie macht vielmehr deutlich, wie die Dinge liegen, Sie versucht die Dinge dort ins Lot zu bringen, wo die Opposition versucht, andere für die Nichterfüllung ihrer eigenen unerfüllbaren Versprechungen verantwortlich zu machen.
Eine beliebte Methode in der Argumentation sind die Vergleiche mit der Sozialhilfe. Ich glaube nicht, daß es der CDU/CSU unbekannt ist, daß die Rentenhöhe, isoliert betrachtet, nicht das Geringste über die Lebenssituation des einzelnen Rentners aussagt. Ein Rentnerehepaar, das ausschließlich auf eine Rente in durchschnittlicher Höhe angewiesen ist, befindet sich unter Umständen in einer viel bescheideneren Lebenssituation als ein Rentnerehepaar oder ein einzelner Rentner, die eine kleine Rente beziehen, die für sie aber nur eine Nebeneinnahme ist. Leider steht uns nicht genügend Material über solche Fälle zur Verfügung.
Aber die Tatsache, daß 2% der Empfänger von Altersrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung gleichzeitig Empfänger von Sozialhilfe sind, macht doch jedem, der sich in der Materie auskennt, deutlich, daß das Problem der Kleinstrenten nicht so entscheidend sein kann, wie es gelegentlich von der Opposition in einer parteipolitisch verständlichen, manchmal rührseligen Weise in der Öffentlichkeit dargestellt wird, um Emotionen zu erwekken.
— Herr Kollege Geisenhofer, ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, daß man den zwei Prozent der Rentner, die zum Sozialamt gehen, und dem einen Prozent der Rentner — so viele sind es vielleicht —, die zum Sozialamt gehen könnten, es aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht tun, helfen kann. Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht auch für diesen Kreis ja etwas vor.
Meine Damen und Herren, nun noch einige wenige Worte zu den Zahlen. Der Herr Bundesarbeitsminister hat heute die Zahl von 168 Milliarden DM als mögliches Vermögen der Rentenversicherung genannt.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich muß ein Wort zu Herrn Katzer sagen. Leider muß ich es sagen, ohne daß er da ist. Aber ich benütze die Gelegenheit, ihm auch seitens meiner Fraktion recht gute Besserung zu wünschen; denn trotz mancher Sträuße, die wir miteinander auszufechten haben, sind wir uns mit Herrn Katzer in einem Ziel immer einig, nämlich durch die Diskussion zu versuchen, eine gute, die bestmögliche, aber auch die finanziell tragbare Lösung zu erreichen. Daß es dabei unterschiedliche Standorte gibt, daß es dabei Meinungsverschiedenheiten, Kontrastellungen und unterschiedliche Abstimmungen geben kann, ist klar. Aber in der Grundlage unseres Wollens sind wir uns auch mit Herrn Katzer einig. Nur eines habe ich sehr zu bedauern. Ich habe in einer Debatte im September hier als „freischaffender" Redner aus der Drucksache VI/2040 zitiert, den Betrag von 137 Milliarden DM genannt und dann einen Zwischenruf des Kollegen Franke bekommen: „Es sind mehr!" Dann bin ich dem Fehlschluß unterlegen, ich hätte bei den 137 Milliarden DM die 30 Milliarden DM Pflichtreserve schon abgezogen; deshalb hatte ich dann gesagt: Ach ja, 167 Milliarden DM.
Herr Kollege Katzer hat diese 167 Milliarden DM dann in die öffentliche Diskussion eingeführt und mich sozusagen als Hilfsstufe verwendet, um seine 190 oder 200 Milliarden DM in der Öffentlichkeit glaubwürdiger verkaufen zu können.
Meine Damen und Herren, wer meine weitere Rede nachlas, stellte fest, daß alle anderen Zahlen, die ich genannt hatte, korrekt das wiedergaben, was in der Drucksache VI/2040 bezüglich der 14 bis 15 Monatsreserven enthalten war, und daß sie auch den 168 Milliarden DM, die der Herr Arbeitsminister genannt hat, entsprechen, daß nämlich in diesen Beträgen 50 bis 60 Milliarden DM als Zinsen und Zinseszinsen drinstehen, von denen wir einiges, wenn wir die Gesetze beschlossen haben, wieder werden streichen müssen, so daß sich dann eine neue Rechnung ergibt; denn die Bundesregierung kann ja nur auf Grund der bestehenden Rechtssituation operieren. Auch von daher darf die Zahl der Restreserve von 19 Milliarden DM nach Abzug der Drei-Monats-Pflichtreserve von 29 Milliarden DM — die Restreserve entspricht einem zusätzlichen Spielraum von zwei Monatsausgaben — nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie echt nicht in diesem Umfange im Ausschuß ausgereizt werden könnte. Meine Damen und Herren, ich glaube, das müssen wir in den Ausschußberatungen berücksichtigen. Dort wird man von der Bundesregierung unter Umständen Zwischenzahlenmaterial verlangen müssen; denn ich gehe noch davon aus, daß wir uns alle drei einig sind, daß wir über 18 % Beitrag nicht hinausgehen wollen.