Rede von
Margot
Kalinke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Wenn ich mehr als eine halbe Stunde Zeit hätte, wäre es mir ein großes Vergnügen,
9268 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 160. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 16. Dezember 1971
Frau Kalinke
Ihnen den ganzen „Blumenstrauß" der Möglichkeiten darzulegen.
— Ach, lieber Herr Schellenberg, machen wir doch hier keine Schauspiele, sondern sprechen wir sachlich über die Probleme, die wir gemeinsam lösen müssen!
— Herr Professor Schellenberg, ein Mann Ihrer Partei, dessen Sachkenntnis ich hoch einschätze, nämlich der frühere Staatssekretär Dr. Walter Auerbach, hat auf einer Tagung der Gesellschaft für sozialen Fortschritt sehr nüchtern und, wie ich meine, sehr realistisch das beurteilt, „was auf dem Schleichpfad über die Änderung des Ehescheidungsrechts in die Diskussion geraten eist". Ich neige dieser nüchternen Beurteilung weit mehr zu als Ihren Sprüchen, Herr Professor Schellenberg. Einerseits haben Sie gesagt, Sie hätten die Erhöhung der Beiträge für falsch gehalten, andererseits haben Sie mir aber keine Möglichkeit gegeben, Sie zu fragen, ob Sie denn nun für eine Senkung bzw. Aussetzung der schon beschlossenen Beitragserhöhung auf 18 % sind?!
— Aha, das ist also klar, und zwar schon ab 1973 statt ab 1974?!
Mir geht es darum, deutlich zu sagen, was Sie bisher nicht gesagt haben. Den Hausfrauen und allen, die es angeht, muß gesagt werden, daß eine freiwillige Versicherung auf der Basis eines Einkommens von 100 DM mit einem Beitrag von 16, 17 oder 18 DM nicht geschaffen werden kann. Wir sollten erneut darum bemüht bleiben, daß dieser Mindestbeitrag von ei, .em Einkommen von wenigstens 200 oder 300 DM erhoben werden muß, wenn wir verhindern wollen, daß diejenigen, die Sie werben und für die Sie die Rentenversicherung attraktiv machen wollen, auch in Zukunft Renten von 15 oder 20 DM, also neue Mindestrenten, bekommen. Schließlich sollten wir verhindern, daß wegen zusätzlicher Leistungen — ich verweise hier nur auf die Krankenversicherung der Rentner — zwangsläufig neue und schwierige Probleme entstehen, deren Lösung dann auf Kosten der Versichertengemeinschaft finanziert werden muß.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Absicht, mit Ihnen sehr sachlich und sachverständig, aber auch konkret darüber zu sprechen, daß es künftig nach Ihrem Modell keine Staatspension für Hausfrauen geben kann und geben wird und daß Sie und Ihre Regierung nach wie vor den Auftrag haben, der Öffentlichkeit zu sagen, was Ihre Vorschläge kosten und welche Summen dafür aufgebracht werden müssen.
Auch Herr Staatssekretär Ehrenberg, der sich neuerdings als Festredner auf großen Frauentagungen betätigt, muß das tun. Er muß sagen, was es bedeutet,
wenn die Hausfrauen den Wert der Hausfrauentätigkeit auf 1000 DM einschätzen, und er muß ihnen sagen, daß sie dann für ihre Alterssicherung 170 bzw. 180 DM im Monat, nicht im Jahr, und zwar Monat für Monat, mindestens neun Monate wegen der Dreivierteldeckung, nach Ihrem Gesetzentwurf aufbringen müssen und daß sie dann nach 35 bis 40 Jahren eine Rente von 400 bis 450 DM erwarten können. Wie hoch der Kaufwert dieser Rente dann trotz Dynamisierung sein wird, wird sich erweisen. Dies müssen Sie sagen, damit nicht Illusionen und ein Nebel von sozialen Versprechungen verbreitet werden.
Wir gehen natürlich nicht von der Annahme aus, es gebe in Zukunft nur berufstätige Frauen und keine Hausfrauen mehr, die ihren Beruf als Hausfrau und Mutter daheim erfüllen wollen. Wir wollen hier auch nicht unsererseits Illusionen wecken und Dinge versprechen, von denen wir genau wissen, daß sie im Bereich der sozialen Rentenversicherung nur zu realisieren sind, wenn sie allen Versicherten, den Pflichtversicherten genau wie den freiwillig Weiterversicherten, und nicht nur den Versicherungsberechtigten gleichermaßen gewährt werden. Natürlich können wir Ihnen auch nicht abnehmen, daß Sie eine Wohltat für alle Frauen erstmalig einführen, wenn Sie damit in der gesetzlichen Rentenversicherung beginnen und völlig verschweigen, daß die große Zahl der Frauen, die nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sind und es wahrscheinlich auch niemals sein werden, vielleicht auch nicht sein wollen, nach dem bisherigen Text Ihrer Entwürfe von allen diesen Wohltaten nichts mitbekommen werden.
Ich habe anfangs schon gesagt: Das große Problem darf also nicht so gesehen werden, als gebe es eine homogene Klasse von Frauen, die Sie ganz einfach damit erreichen, daß Sie die Rentenversicherungen öffnen. Wer mehr soziale Sicherung für alle Frauen fordert — und wir wollen das —, wer die Diskussion über die Sozialenquete und die Frauenenquete ernst nimmt — und wir tun das — und wer die Anregungen und Gespräche auf dem Juristentag sorgfältig überprüft — und wir haben das getan —, der muß jetzt feststellen, welche sozialen Tatbestände Prioritäten haben. Selbst lautstarke Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Situation der Versorgung oder der Nichtversorgung vieler Frauen eben doch noch dringendere Tatbestände zu geben scheint!
Meinen Freunden in der Christlich Demokratischen Union und in der CSU erscheint besonders wichtig die Frage nach der Versorgung der berufsunfähigen, also der nicht mehr arbeitsfähigen Frauen oder Witwen, der geschiedenen Frauen, der alleingelassenen, auch der ledigen Mütter zu stellen, die hier überhaupt nicht berücksichtigt sind. Ich glaube, daß die Feststellungen von Professor Albers, Kiel, die er schon bei der ersten Anhörung zur Frauenenquete traf, sehr bedeutend sind. Ihm schien die „Hausfrauenrente", die es ohne ausreichende Beitragszahlung nicht geben kann, nicht ganz so wünschenswert zu sein wie etwa eine
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Frau Kalinke
bessere Lösung der Witwenversorgung. Ich halte es in der Tat für eine bessere Lösung, für die älteren Frauen, die Kinder haben und aus wirtschaftlichen Gründen trotzdem arbeiten müssen oder nur teilarbeiten können und die von den Vorteilen dieses Angebots genauso wenig haben werden wie die vielen Selbständigen, die Angehörigen der freien Berufe von dem Angebot in bezug auf das sogenannte Babygeld, mehr zu tun. Auch ich finde die Versprechen alles andere als attraktiv - wenn erst klar werden wird, daß damit zwar ungewöhnliche Hoffnungen bei den Frauen geweckt werden, die ein ganzes arbeitsreiches Leben hinter sich haben, Kinder großgezogen haben, obwohl gerade diese älteren Frauen von den Regierungsvorschlägen nichts erwarten können, weil alle Verbesserungen erst für die Frauen morgen, nämlich nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, gelten werden.
Die Regierung hat also weder von den Erfahrungen, die sie selbst mit ihrem Rentenbericht gegeben hat, noch von den Anregungen, die im Bundesrat gegeben worden sind, Gebrauch gemacht. Meine Freunde meinen mit mir, daß es eben vorrangige Probleme gibt, wie z. B. das Problem der Höhe, aber auch Teilung der Hinterbliebenenrenten zwischen Witwen und früheren Ehefrauen, der Renten für Geschiedenen-Witwen, des Fortfalls und des Wiederauflebens von Renten im Fall der Wiederheirat, der Kumulierung von Renten, das nur lose angesprochen ist, und nicht zuletzt die vielen ernsten Fragen der besonderen Gruppen, der Kriegsopfer, der Vertriebenen, der Fälle von Wiedergutmachung, die auch gerade in bezug auf die Frauenschicksale einer besonderen Berücksichtung bedürfen. Sie alle gehen leer aus! Ich hoffe, daß es uns im Ausschuß gelingen wird, nach Anhörung der Sachverständigen den Entwurf entscheidend zu verbessern. Ich wiederhole: Die Witwenversorgung, die soziale Lage der älteren Frauen — das ist das sozialpolitische Problem Nr. 1. Ich bekenne, daß es für uns in der Sozialpolitik Prioritäten gibt, nämlich da, wie es mein Kollege von der CSU eben gesagt hat, wo eben die Not am größten ist und wo der Gesetzgeber zum schnellen Handeln aufgefordert ist. Das Problem der sogenannten Alten-Last, d. h. der älteren Menschen, die weder von der Öffnung noch vom Babyjahr etwas zu erwarten haben, wird mit allen Ihren Vorschlägen überhaupt nicht berührt und wird damit auch keiner Lösung zugeführt.
Auf Grund von Wunschbildern, die geweckt werden, kann und wird die Hausfrauenrente weder als Wahlgeschenk noch als Geschenk des Wohlfahrtsstaates noch als eine Mütterpension attraktiv sein, wenn Sie nicht offen zugeben — was der stellvertretende Vorsitzende des DGB gesagt und geschrieben hat —, daß das alles „ein Zukunftsmodell" ist.
Wir sind wohl darin einig, daß auch die an dieses Modell geknüpfte Forderung, die Witwenrente entfallen zu lassen, nicht Wirklichkeit werden darf, solange nicht eine andere ausreichende Sicherung vorhanden ist; ebenso darf in der Frage der Neuordnung des Rechts für die geschiedenen Frauen nichts geschehen, solange nicht die soziale Sicherung deutlicher und sehr viel klarer für alle verständlich und gerecht geregelt werden wird. Ich habe den Herrn Staatssekretär gebeten — und ich hoffe, er wird das in Zukunft tun —, endlich das Modell, das der BFA-
Präsident gelegentlich im Fernsehen vorgerechnet hat, bekanntzugeben. Wir haben den Minister für Arbeit mehrfach aufgefordert, das zu tun.
Ich glaube, daß eine Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige wie für Hausfrauen nicht diskutiert werden kann, ohne angesichts der notwendigen Einsicht in die Forderungen des Ortskrankenkassentages oder die Klagen der Ersatzkassen über zunehmende Belastungen auch flankierende Reformkonzeptionen für die Krankenversicherung der Rentner vorzulegen. Leider habe ich davon überhaupt nichts gehört! Es ist nicht erträglich, daß die große Zahl der berufstätigen Frauen in der Solidarhaftung diese wachsende Last auch nach Öffnung der Krankenversicherung und der Rentenversicherung weiter tragen muß. Ich sagte schon, daß viele dieser Leistungen nur einem Teil der Versicherten zugute kommen werden.
Das gilt in besonderer Weise für die neue Ersatzoder Ausfallzeit, die als familienpolitische Leistung erfolgen soll. Wir begrüßen den Ansatzpunkt dazu und halten es für positiv, daß die Untersuchungen und Anregungen, die schon unter der Regie unserer Kollegin im Familienministerium erfolgt sind, nun wenigstens, wenn auch sehr dürftig, als erster Versuch beabsichtigt sind. Aber wir verschweigen nicht, daß es Probleme gibt, die Sie auch gesehen haben, wie sich aus Erläuterungen ergibt, die wir sehr sorgfältig im Ausschuß untersuchen müssen. Wir werden dabei auch die Situation der Hausfrauen ohne Kinder gegenüber den Hausfrauen mit Kindern zu bedenken haben und die Situation der alleinstehenden berufstätigen Frau, deren Beitrags- und Steuerbelastung in ungewöhnlicher Weise zugenommen hat und leider weiter zunehmen wird, berücksichtigen müssen. Darum meine ich, daß Sie auch klarstellen müssen, wie es mit den Leistungen des „Babyjahres" für alle Mütter sein wird und wie Sie sicherstellen wollen, daß nicht nur die sozialversicherten, sondern auch die Frauen der Beamten — bei der Erneuerung des Beamtenrechts wird das eine Rolle spielen —, wie die Selbständigen, die Angehörigen der freien Berufe unter Umständen auch im Steuerrecht eine äquivalente Leistung erhalten. Das „Babyjahr" würde sonst zu einem Ärgernis und nicht zu einer Wohltat, wenn die gleiche Leistung nicht auch im Versorgungsrecht und nicht für alle übrigen Bürger Wirklichkeit würde. In dem Gutachten, das der Wissenschaftliche Beirat des Familienministeriums auch schon unter der Regie der Christlich-Demokratischen Union und nicht erst jetzt vorgelegt hat, ist ein sehr bemerkenswerter Vorschlag gemacht worden, nämlich die Zeiten der Kinderbetreuung ebenso zu behandeln wie Wehrdienstzeiten. Wir sollten uns im Ausschuß sehr ernsthaft darüber unterhalten, ob der Ersatz der Leistungen an die Rentenversicherungsträger nicht nach diesem Modell -
d. h. analog der Erstattung im Falle der Erfüllung der staatsbürgerlichen Wehrdienstpflicht — gehandhabt werden könnte.
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Frau Kalinke
In der Bundesrepublik gibt es 3,9 Millionen Frauen, die mindestens ein Kind unter sechs Jahren haben. Es wird für uns eine wichtige Sache sein, zu klären, wie hier ein fiktiver Betrag, der als Einkommensgrundlage angesehen wird, gefunden werden kann, damit es eben nicht nur 7 oder 10 DM sind, die dann jene, die heute eine Staatspension für Mütter erwarten, monatlich - wirklich bekommen werden, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. Über eine Ersatzleistung an die Sozialversicherungsträger sollte sorgfältig gesprochen und diskutiert, vor allem aber sollten die Versicherten darüber aufgeklärt werden, wer die Kosten tragen wird.
Meine sehr verehrten Herren und Damen, es ist eine sehr tragische Sache, daß wir in dieser Debatte nicht genügend Zeit haben, die ganz wichtige Frage der Neuordnung des Rechts der Geschiedenen und ihrer Versorgung gründlich anzusprechen. Meine Freunde haben hier ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, daß es dann, wenn der Ehemann einen Rentenanspruch aufteilen muß, zu weiteren kleinen und unzureichenden Renten kommen wird. Ich möchte dieser Sorge noch die andere hinzufügen, daß die Mehrzahl der Ehemänner im Scheidungsfalle auch kaum in der Lage ist die Zahlung für die mögliche Nachversicherung zu leisten; denn hier müssen, wie die Regierung selber in ihrer Antwort gesagt hat, 11 000, 22 000 oder 35 000 DM als Summe eingezahlt werden. Wir sollten hier sehr nüchtern, sehr konkret Überlegungen anstellen über das, was möglich und was nicht realistisch ist. Wir sollten aber auch die Problematik der Vorschläge des Bundesjustizministers zur Versorgung der geschiedenen Ehepartner so sachlich beraten, daß sich zeigt, welche Gefahren beim Rentensplitting bestehen; um dann gemeinsam nach Wegen zu suchen, um diese Gefahren zu beseitigen und es zu einer vernünftigen Lösung kommen zu lassen.
Auch hier möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir nicht davon ausgehen, daß alle Ehen in Zukunft geschieden werden oder daß auch nur die Zahl der Scheidungen zunehmen wird. Wir möchten vielmehr hoffen, daß unsere Gesellschaftspolitik so beschaffen sein wird, daß wir mit dazu beitragen können, daß der Schutz von Ehe und Familie anders und besser gewährleistet wird als bisher.
Dazu gab es auch bisher schon in der Familienpolitik eine Fülle von Ansätzen, in der Sozialversicherung, so daß wir den Ausspruch, „es sei ein Novum, erstmals familienpolitische Leistungen in der Sozialversicherung zu haben", nicht unwidersprochen stehenlassen.
Wir haben eine umfassende Leistung der Familienhilfe in der Renten- und Krankenversicherung; wir haben Leistungen der Familienhilfe, die von den Frauen, die gerade berufstätig sind, aufgebracht werden müssen. Hier spreche ich neben den übrigen Fragen — Versorgungsausgleich für Geschiedene, Verbesserung der Witwenleistungen — besonders ein großes Thema an, das wir einmal, nämlich 1957, in diesem Hause beinahe gemeinsam gelöst hätten: den Rechtsanspruch der berufstätigen Frauen, die selbst ein Leben lang Beiträge zahlen, auf eine Hinterbliebenenrente, die natürlich denjenigen, die Jahrzehnte Beiträge zahlten und Hinterbliebene unterhalten, nicht länger versagt werden kann, wenn nun neue Personenkreise in die Solidarhaftung der Versicherung der Arbeitnehmer hineinkommen. Ich hoffe, daß FDP und SPD dann zu ihren alten Anträgen von 1957 stehen werden, und zwar mit den gleichen Begründungen wie damals, und daß wir gemeinsam im Ausschuß auch hier zu besseren Lösungen kommen werden.
— Ich stehe mit Sicherheit dazu, und ich hoffe, Sie auf Grund Ihrer Lebenserfahrung auch!
Die Gründe für das Stückwerk in den Reformplänen der Regierung oder in dem Bündel von fünf Reformpunkten liegen sicher nicht nur in Finanzproblemen. Das Fehlen der für viele Versprechungen notwendigen Mittel im Haushaltsansatz, das wir festgestellt haben, ist sicherlich nicht das einzige, was wir hier als Grund für die Zurückhaltung ansehen müssen. Auch die Kompliziertheit der von Ihnen und uns positiv bewerteten ersten Schritte auf dem Wege zu besseren Lösungen kann nicht verdecken, daß es bei Ihren Prioritäten um ganz handfeste politische, besonders parteipolitische Interessen geht, die sicher jeder politischen Partei, jeder regierenden Partei in allen demokratischen Ländern der Welt nicht unvertraut sind.
Wir sollten aber nicht mit großen und schönen Worten darüber hinwegreden, sondern ehrlich sagen, daß manche Kontroverse im großen Streit um Reformen eben symptomatisch ist für die Schwierigkeit der Situation, für die Schwierigkeiten der Regierung und der Koalitionsparteien, und daß deshalb bei Ihnen die Prioritäten, wie ich fürchte, nicht immer nach Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, sondern nach anderen Gesichtspunkten, oder auch nicht nur nach sozialen Tatbeständen, sondern nach anderen Absichten gesetzt werden. Ich staune manchmal ein wenig über den Mut, den Herr Professor Schellenberg hat, wenn er unterstellt, als könnten wir uns seit seinem Berliner Modell, seit den Auseinandersetzungen um die VAB bis heute nicht sehr gut aller seiner Erklärungen und Aussprüche erinnern. Wir können die Protokolle nachlesen, und seien Sie sicher, daß wir in der Lage sind, auch unsererseits einiges aus dem Zettelkasten herauszuholen. Wir haben das heute morgen nicht getan.
Ich sehe es für die CDU/CSU als positiv an, daß bei Ihnen endlich Einsichten zu wachsen scheinen. Wenn nämlich Herr Schellenberg an dieser Stelle über Nettoentgelt überhaupt schon sprechen kann, während er früher andere Kollegen von uns angriff,
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Frau Kalinke
wenn sie das Wort nur in den Mund nahmen, muß ich das als einen Fortschritt ansehen. Realitäten — die will die Regierung ja — können nur dann richtig gesehen werden, wenn man den Mut hat, von dem zu sprechen, worauf es ankommt, nämlich von der Kaufkraft der Leistungen, von der Sorge um den steigenden Wert der Leistungen auch dann, wenn sich eine schlechte Wirtschaftspolitik, eine gefährliche Finanzpolitik, wenn sich die Schwäche der Regierung, die mit den steigenden Preisen nicht fertig wird, auf dem Rücken der Rentner auswirkt, wie das zur Zeit der Fall ist.