Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste genannten Vorlagen ergänzt werden. — Das Haus ist damit einverstanden. Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen.
Wir beginnen mit der
Fragestunde
— Drucksache VI/ 1i81 —
Zunächst der Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung ist der Herr Parlamentarische Staatssekretär Reischl anwesend.
Frage 26 des Herrn Abgeordneten Dr. Pohle. — Herr Dr. Pohle ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Das gleiche gilt für die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Dr. Pohle.
Frage 28 ist vom Fragesteller zurückgezogen.
Frage 29 des Herrn Abgeordneten von AltenNordheim. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Frage 30 des Herrn Abgeordneten Varelmann:
Welchen Vorteil hätte eine Familie im günstigsten Falle, wenn sie im vollen Umfang den Freibetrag für die Kinder sowohl nach der Einkommensteuer als auch in sonstigen Bereichen ausnutzt, einschließlich der Sparförderung?
Bitte schön, Herr Staatssekretär!
Kinderfreibeträge werden nach dem geltenden Einkommensteuerrecht zuerkannt für das erste Kind in Höhe von 1200 DM, für das zweite Kind in Höhe von 1680 DM und für das dritte sowie weitere Kinder in Höhe von je 1800 DM. Die sich daraus für Steuerbelastete ergebenden Ersparnisse an Einkommensteuer oder Lohnsteuer betragen in der Regel zwischen 19 und 53 % des Abzugsbetrages. Die Steuerersparnis kann geringer sein, wenn sich ein Kinderfreibetrag nur zum Teil auswirkt.
Bei der Vermögensteuer beträgt der Freibetrag für ein Kind stets 20 000 DM. Die daraus resultierende Steuerersparnis macht grundsätzlich 1 % des Freibetrages, also 200 DM, aus. Sie ist geringer, wenn sich der Freibetrag für ein Kind nicht voll auswirkt.
Im Wohnungsbauprämienrecht vermindern sich die zur Erlangung der Höchstprämie von 400 DM erforderlichen Sparleistungen von 1600 DM jährlich auf bis zu 1143 DM jährlich, wenn der Sparer Kinder hat.
Im Sparprämienrecht wächst die Höchstprämie um bis zu 240 DM jährlich und steigt der Prämiensatz bis auf 30 % der Sparleistungen je nach Zahl der Kinder.
Die Sparzulage nach dem Dritten Vermögensbildungsgesetz erhöht sich von 30 auf 40 % der vermögenswirksamen Leistungen, wenn der Arbeitnehmer mehr als zwei Kinder hat.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann.
Herr Staatssekretär, meine Frage war ursprünglich in anderer Richtung gestellt. Ich möchte gern wissen, wieviel D-Mark sich bei der höchsten Steuerquote an Steuervergünstigung ergeben. Im Volk lautet die Antwort: 140 bis 150 DM. Sind damit diese Vergünstigungen nicht viel höher als das Kindergeld?
Das hängt völlig davon ab, in welche Gruppe des Tarifs der Betreffende eingestuft ist. Wenn er z. B. 53% Steuer zahlt, ist die Steuerersparnis für jedes Kind entsprechend hoch. Sie ist dann wesentlich höher, als wenn er am Anfang der Steuertabelle steht. So etwas läßt sich praktisch nur für jeden einzelnen Fall ausrechnen.
Eine zweite Zusatzfrage.
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5270 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Herr Staatssekretär, ich möchte gern die DM-Beträge wissen, die sich im Falle der Höchstbesteuerung aus den Freibeträgen ergeben. Darauf ist meine Frage ausgerichtet. Wenn Sie sie heute nicht beantworten können, sehe ich mich gezwungen, sie in der nächsten Fragestunde zu wiederholen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, die Frage ist offensichtlich auch von meinem Hause so verstanden worden, wie ich sie beantwortet habe. Ich habe sie auch nicht anders verstanden. Aber es ist ganz einfach, nachdem Sie es jetzt auf den 53%igen Satz konkretisieren. Da müssen Sie aber auch noch ein bestimmtes Einkommen dazu nennen, z. B. die erste Zahl, bei der es so viel Prozent sind. Dann kann man es ausrechnen. Dann bin ich gern bereit, Ihnen das schriftlich zu liefern.
Herr Varelmann, Sie hatten mit der ersten Frage nur die Ausgangsfrage wiederholt. Darum haben Sie noch eine Zusatzfrage frei. Bitte schön!
Aus welchen Gründen ist die Bundesregierung bei den Steuervergünstigungen so großzügig und bei den Kindergeldzahlungen so kleinlich?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, nicht die Bundesregierung ist dabei großzügig, sondern der Gesetzgeber, der Bundestag selbst hat diese Steuergesetze so geschaffen, wie sie jetzt sind. Man kann also kaum davon reden, die Bundesregierung sei so großzügig. Im übrigen wird das ganze Problem im Zusammenhang mit der Steuerreform überprüft. Da wird ohnehin die Frage überprüft werden müssen, ob es bei der Zweigleisigkeit von Kindergeld und Steuerfreibetrag bleiben soll oder nicht. Das sind alles Probleme, mit denen man sich bei der Steuerreform auseinandersetzen muß. Die Regierung kann aber in diesem Falle schlecht gemeint sein; denn es war ja der Bundestag, der so großzügig war.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott.
Herr Staatssekretär, liege ich richtig, wenn ich behaupte, daß der 53%ige Ermäßigungssatz für einen Kinderfreibetrag bei einem Einkommen von 220 000 DM pro Jahr in Kraft tritt und daß bei dem Kinderfreibetrag von 1680 DM und einem Spitzenprogressionssatz von 53% das Kindergeld über die Steuer etwa 900 DM, also 75 DM im Monat, ausmacht und daß dieser Betrag etwa in der Höhe liegt, in der im öffentlichen Dienst Kindergeld gezahlt wird?
Das könnte etwa stimmen, Herr Kollege, aber ich kann es beim besten Willen nicht bis ins letzte bestätigen, weil ich es dazu selbst ausrechnen müßte.
Nein, es tut mir leid, Sie haben nur eine Zusatzfrage. Es kommt ja noch eine ähnliche Frage.
Keine weitere Zusatzfrage hierzu.
Ich rufe die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Varelmann auf:
Wie hoch ist die Zahl der Familien, die wegen der Geringfügigkeit des Einkommens den Steuerfreibetrag für Kinder nur begrenzt nutzen können?
Im Kalenderjahr 1970 betrug die Zahl der Fälle, in denen sich ein Kinderfreibetrag bei der Einkommensteuer nicht oder nicht voll auswirkte, 3,1 Millionen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann.
Varelmann' : Herr Staatssekretär, belasten die Steuerfreibeträge zur Einkommensteuer und Lohnsteuer den öffentlichen Haushalt nicht ebenso wie das Kindergeld?
Das ist ganz sicher der Fall, Herr Kollege. Deswegen habe ich auch gesagt, daß im Rahmen der Steuerreform geprüft werden muß, wie das neu geregelt werden soll, wobei es die verschiedensten Lösungsmöglichkeiten gibt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht angebracht, in der Steuer einen festen Freibetrag einzuführen, anstatt sich auf einen Einkommenssatz zu beziehen?
Herr Kollege, ich lege mich jetzt auf nichts fest, weil das eine Frage der Steuerreform ist und wir am Ende des Monats ohnehin den Bericht der Steuerreformkommission erhalten. Wir haben der Kommission versprochen, uns vorher auf nichts festzulegen. Das entspricht einem angemessenen Verhalten dieser Kommission gegenüber.
Deutscher Bundestag —. 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5271
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott? — Das ist nicht der Fall. Keine weitere Zusatzfrage.
Frage 32 des Herrn Abgeordneten Dr. Hauser:
Welche Gründe veranlassen das Bundesfinanzministerium dazu, die Berlinhilfe zu erschweren und bei den Länderfinanzministerien auf Erlasse hinzuwirken, daß Kreditgenossenschaften bei Hingabe von Darlehen zur Förderung von Baumaßnahmen in West-Berlin nach § 17 des Berlinhilfegesetzes von einem Bauherrn und Darlehensnehmer zunächst die Mitgliedschaft fordern müssen, um den ermäßigten Steuersatz nach § 19 Abs. 2 b des Körperschaftsteuergesetzes nicht einzubüßen, da auch Ausnahmeregelungen aus Billigkeitsgründen nicht gewährt werden?
Bitte schön!
Die Frage, ob Kreditgenossenschaften, die nach § 19 Abs. 2 b des Körperschaftsteuergesetzes einen ermäßigten Steuersatz genießen, ohne steuerliche Nachteile Darlehen im Sinne des § 17 des Berlinhilfegesetzes an Nichtmitglieder gewähren können, war am 28. und 29. April 1970 Gegenstand einer gemeinsamen Besprechung des Bundesfinanzministeriums mit den Körperschaftsteuerreferenten der Finanzministerien der Länder. In der Beurteilung der Frage bestand Übereinstimmung. Für den in der Sache gefaßten Beschluß, der sich in den von Ihnen erwähnten Erlassen der Finanzministerien der Länder niedergeschlagen hat, waren folgende Gründe maßgebend:
Nach § 19 Abs. 2 b Körperschaftsteuergesetz beträgt die Körperschaftsteuer bei einer Kreditgenossenschaft, die Kredite ausschließlich an ihre Mitglieder gewährt, 32 v. H. des Einkommens. Gewährt die Kreditgenossenschaft auch Kredite an Nichtmitglieder, so beträgt die Körperschaftsteuer 49 v. H. des Einkommens.
Die Hingabe von Darlehen im Sinne des § 17 des Berlinhilfegesetzes ist ohne Zweifel eine Kreditgewährung. Werden solche Kredite an Darlehnsnehmer gewährt, die nicht Mitglieder der Genossenschaft sind, so führt dies — wie auch in anderen Fällen der Kreditgewährung an Nichtmitglieder — bei der Kreditgenossenschaft zum Verlust des begünstigten Körperschaftsteuersatzes, weil die Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 b Körperschaftsteuergesetz nicht mehr vorliegen. Will eine Kreditgenossenschaft dies vermeiden, so ist sie — wie auch sonst - gehalten, den Darlehnsnehmer zu veranlassen, zunächst die Mitgliedschaft zu erwerben. Es kann darin auch keine unbillige Härte gesehen werden, die eine Ausnahmeregelung nur für Darlehnsgewährungen im Sinne des § 17 des Berlinhilfegesetzes gemäß § 131 Reichsabgabenordnung rechtfertigen würde. Die Steuervergünstigungen des § 17 des Berlinhilfegesetzes bleiben nämlich völlig unberührt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hauser.
Herr Staatssekretär, gleichen diese Berlin-Kredithilfen nicht sonstigen Förderungsmaßnahmen, z. B. solchen aus dem ERP-Fonds, bei dem sogar ein eigener Haftungsanteil der Kredit gewährenden Genossenschaften verlangt wird, ohne aber eine Mitgliedschaft
der Kreditnehmer bei den Genossenschaftsbanken vorauszusetzen, während man bei den BerlinInvestitionen Hürden errichtet und zwangsläufig gar eine Doppelmitgliedschaft fordert, nämlich der entsprechenden Kapitalsammelstelle, an die die Kredite von den Genossenschaften überwiesen werden müssen, und sodann des eigentlichen Kreditnehmers, der dieses Geld zum Hausbau zugeteilt bekommt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, von einer doppelten Mitgliedschaft ist mir nichts bekannt. Ich bin aber gern bereit, Ihnen die etwas komplizierte Frage schriftlich zu beantworten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Entspricht es einer wirksamen Wirtschaftshilfe, die Wirtschaftsgruppen in Westdeutschland, so eben die Kreditgenossenschaften, gern an Berlin geben wollen, wenn man solche Einschränkungen in Auslegung des Gesetzes nachträglich einführt? Kann man nicht doch angesichts der schwierigen Lage in Berlin aus Billigkeitserwägungen zumindest Ausnahmeregelungen zugestehen?
Herr Kollege, ich halte Billigkeitserwägungen hier nicht für angebracht. Hier läßt sich eine Regelung nur durch eine Änderung des Gesetzes finden. Eine Gewährung des ermäßigten Körperschaftsteuersatzes würde gegen ausdrückliche Vorschriften des Körperschaftsteuergesetzes verstoßen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Schmude auf:
Wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß die in den Rechenschaftsberichten der Parteien aufgeführten Spenden bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens der Spender von den zuständigen Finanzämtern berücksichtigt werden?
Bitte schön!
Beiträge und Spenden an politische Parteien im Sinne des § 2 des Parteiengesetzes sind bei natürlichen Personen nach§ 10 b Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes bis zur Höhe von insgesamt 600 DM und im Fall der Zusammenveranlagung von Ehegatten bis zur Höhe von insgesamt 1 200 DM im Kalenderjahr abzugsfähig. Bei Körperschaften sind Spenden an politische Parteien im Sinne des § 2 des Parteiengesetzes nach§ 11 Nr. 5 b des Körperschaftsteuergesetzes bis zur Höhe von 600 DM abzugsfähig.Steuerpflichtige, die die vorbezeichneten Voraussetzungen erfüllen und dies dem Finanzamt gegenüber durch eine Spendenbescheinigung nachweisen, haben einen Rechtsanspruch auf den Spendenabzug
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5272 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischlbei der Ermittlung ihres Einkommens. Es bedarf daher keiner besonderen Maßnahme der Bundesregierung.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Schmude.
In der Befürchtung, Herr Staatssekretär, daß Sie die Frage mißverstanden haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen wollen und vielleicht darauf eingehen wollen, daß es sich bei den im Bundesanzeiger genannten Spenden um weit höhere Beträge handelt, bei denen es nach weit verbreiteter Ansicht naheliegt, daß es sich nur um durchlaufende Gelder handelt, die von den Spendern also nicht als Einkommen versteuert werden. Darauf richtete sich die Frage.
Herr Kollege, das läßt sich in dieser Form nicht sagen. Ich habe die Frage auch nicht so verstanden, daß Sie darauf abzielen. Die von Ihnen genannten Leute können genauso wie jeder andere Ihre Bescheinigung von der Partei kriegen und 600 bzw. 1 200 DM absetzen. Wenn die Spende wesentlich höher ist, nützt es sowieso nichts, weil mehr nicht abgesetzt werden kann.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Gallus auf. — Die Frage wird schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Burger werden vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit beantwortet.
Ich rufe die Frage 37 des Herrn Abgeordneten Strohmayr auf:
Worauf ist der im Jahre 1970 zu verzeichnende Rückgang des Einkommensteueraufkommens zurückzuführen?
Die Einnahmen aus der veranlagten Einkommensteuer betrugen im Jahre 1970 rund 60 Milliarden DM. Damit wurde das Ergebnis des Jahres 1969 um knapp 1 Milliarde DM, also um 5,8 v. H., unterschritten. Verursacht wurde diese Entwicklung durch eine Reihe von Gründen, von denen ich die wichtigsten aufzählen darf:
Erstens. Bei den Arbeiten zur Veranlagung 1968 der Einkommensteuer kam es wegen Überlastung der Steuerverwaltung zu einem zeitlichen Rückstand.
Zweitens. Die Kostenerhöhungen bei den selbständigen Gewerbetreibenden führten dazu, daß in verstärktem Maße Anträge auf Herabsetzung der Vorauszahlungen gestellt wurden.
Drittens. Die teilweise rückwirkende Sonderanpassung der Vorauszahlungen 1969 brachte 1970 geringere Abschlußzahlungen als erwartet.
Viertens, Die verstärkte Erstattung von Lohnsteuer im Einkommenveranlagungsverfahren durch die zunehmende Einkommensteuerpflicht von Arbeitnehmern bedingt ebenfalls eine rückläufige Tendenz bei den Einnahmen aus der veranlagten Einkommensteuer.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, es ist aber auffallend, daß die großen Unternehmungen immer wieder versuchen und es auch zuwege bringen, ihre Vorauszahlungen hintanzuhalten. Ich frage Sie: Wie kommt es, daß die kleineren und mittleren Betriebe sehr stark an der Stange gehalten werden, daß für sie keine Möglichkeiten der Zurückstellung bestehen — höchstens ganz selten — und auf der anderen Seite, wie bereits erwähnt, die Großunternehmungen es mit allen möglichen Winkelzügen verstehen, ihre Einkommensteuererklärungen und -abgaben hintanzuhalten?
Herr Kollege, von einer so allgemeinen Benachteiligung der kleineren und mittleren Betriebe ist mir nichts bekannt. Aber es hängt vielfach auch damit zusammen, wie schwierig die Aufstellung der Steuererklärung im Einzelfall ist. Es wird jedem, auch dem kleinen Betrieb, wenn er solche Schwierigkeiten geltend macht, wenn er geltend macht, daß gewisse Belege noch nicht vorliegen oder er zur Zeit noch nicht in der Lage ist, in der Regel eine Fristverlängerung gewährt. Ich kann nicht glauben, daß es echte Unterschiede zwischen großen und kleinen Betrieben gibt.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Auffassung, daß gerade die Großunternehmungen ein Heer von Steuerberatern und Steuersachverständigen in ihren Betrieben haben, ihre Erklärungen also schnell und pünktlich abgeben könnten, während die kleinen und mittleren Betriebe teilweise auf sich selbst oder auf nur einen Steuerberater angewiesen sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber, Herr Kollege, dafür sind die Steuererklärungen der ganz großen Betriebe auch erheblich komplizierter. Ich glaube nicht, daß die Größe allein ein Kriterium für die unterschiedliche Behandlung sein könnte. Ich sage noch einmal, die Finanzämter sind durch x Erlasse angewiesen, alle gleichzubehandeln, und sie tun das auch. Wenn jemand vernünftige Gründe geltend macht, daß er die Steuererklärung nicht rechtzeitig abliefern kann, sondern erst zwei, drei Monate spä-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5273
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischlter oder auch nach noch längerer Zeit, muß er invöllig gleicher Weise eine Fristverlängerung bekommen. Das liegt dann im Ermessen des Finanzamtes.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß die Länderfinanzverwaltungen die Finanzämter angewiesen haben, bei bestimmten interessanten Steuerpflichtigen die Steuererklärung trotz der sonst bei Klein- und Mittelbetrieben üblichen Verlängerung bevorzugt bereits vor dem Termin einzufordern, damit keine hohen Abschlußzahlungen entstehen?
Ich müßte das feststellen und bin gern bereit, das festzustellen und es Ihnen schriftlich mitzuteilen. Jedenfalls könnte ich mir denken, daß das so angeordnet ist.
Keine weitere Zusatzfrage, Herr Ott. Jeder hat nur eine, wenn er hinterher fragt.
Wir kommen jetzt zur Frage 38 des Herrn Abgeordneten Strohmayr:
Wie hoch ist der Betrag, der durch Steuerflucht im Jahre 1970 ins Ausland verbracht wurde?
Herr Kollege, unter „Steuerflucht" verstehen Sie sicher wie ich die im sogenannten „Oasenbericht" der Bundesrepublik von 1964 dargestellten Erscheinungen. Es geht also um Einkommens- und Vermögensverlagerungen in Niedrigsteuerländer, mit denen man Steuerhinterziehungen tarnen oder Lücken unserer Gesetzgebung ausnutzen will. Beispiele sind die Gründung von Basisgesellschaften in Niedrigsteuerländern und die Auswanderung dorthin oder das Nutzen einblicksicherer Verstecke für hinterzogene Gelder in solchen Ländern. Zu berücksichtigen sind auch die Gewinnverlagerungen zwischen international verflochtenen Unternehmungen.
Über den Umfang dieser Transaktionen können wir mit Sicherheit dies eine sagen: die Steuerausfälle für Bund, Länder und Gemeinden sind, gemessen am Aufkommen unserer Gewinnsteuern, erheblich. Genauere, bezifferte Angaben haben wir nicht, weil die Transaktionen logischerweise hinter vorgehaltener Hand vor sich gehen. Wir kennen Einzelfälle, die Steuerverluste von 100 Millionen DM und mehr gebracht haben.
Auch das Jahr 1970 ist durch hohe Verlagerungen von Basisgesellschaften gekennzeichnet. Es ist z. B. äußerst beunruhigend, daß die für uns erkennbaren Gesellschaftsgründungen durch Deutsche in der Schweiz 1970 wieder um mehr als ein Drittel über denen des Vorjahres lagen. Allein in den uns wohlbekannten Massendomizilen sind nach einem vorläufigen Überblick über 160 Gesellschaften aus deutscher Hand errichtet worden, wobei getarnte Gründungen noch nicht einmal berücksichtigt sind. Diese
Entwicklung entspricht einem langjährigen Trend, kann also nicht als Reaktion auf Ankündigungen des geplanten Gesetzes gegen die Steuerflucht abgetan werden.
Die Bundesregierung zieht aus dieser Entwicklung die Folgerung, daß die Maßnahmen zur Eindämmung der Steuerflucht zu beschleunigen sind.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, dann stimmt also die Zahl von 4 bis 5 Milliarden DM für das Jahr 1970 nicht, die im Raum herumgeistert?
Herr Kollege, ich kann keine Zahlen nennen. Wir können die Fälle gar nicht alle erfassen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, handelt es sich bei den Auslagerungen der Gesellschaften um große Betriebe oder um Mittelbetriebe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das sind meistens Gesellschaften, die als Holding-Gesellschaften aufgezogen sind und lediglich Beteiligungen an anderen Unternehmen im Ausland halten. Von großen Betrieben in diesem Sinne kann also gar keine Rede sein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ott.
Herr Staatssekretär, wie können Sie mir den Widerspruch in Ihrer Antwort erklären, der darin liegt, daß Sie einerseits gesagt haben, Sie verfügten über keinerlei präzise Unterlagen, auf der anderen Seite aber dann doch Zahlen genannt haben?
Ich konnte Zahlen von Gründungen deutscher Gesellschaften in der Schweiz nennen, weil das die Schweizer selbst bekanntgegeben haben. Ich konnte auch gewisse Angaben darüber machen, daß das mehr sind als früher. Wir wissen das eben. Aber um welche Beträge es sich dabei handelt, das läßt sich beim besten Willen nicht feststellen. Dem steht doch das Steuergeheimnis entgegen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Fragen 39 und 40 des Herrn Abgeordneten Dr. Arnold auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Damit sind wir am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen.
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5274 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Vizepräsident Frau FunckeIch danke dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Reischl.Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bayerl zur Verfügung.Die Fragen 19 und 20 des Herrn Abgeordneten Erhard werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 21 der Abgeordneten Frau Geisendörfer auf:Hat die Bundesregierung die in der Fragestunde vom 23. September 1971 zugesagte Prüfung über eine Entschädigung für gesundheitliche und finanzielle Einbußen der Opfer von Verbrechen abgeschlossen?
Frau Präsident, gestatten Sie, daß ich die beiden Fragen des Sachzusammenhangs wegen zusammen beantworte?
Die Fragestellerin ist einverstanden. Ich rufe ferner die Frage 22 auf:
Welche konkreten Ergebnisse haben diese Überlegungen gezeitigt?
Gnädige Frau, es tut mir leid, daß unser Haus die Prüfung des in Rede stehenden und sehr schwierigen Sachgegenstandes noch nicht abschließen konnte. Die zu klärenden Fragen sind vielfältig und kompliziert. Sie reichen in das Strafrecht, das Strafvollzugsrecht, das Strafprozeßrecht, das Sozialversicherungsrecht, das private Versicherungsrecht und in das bürgerliche Schadensersatzrecht hinein. Wir haben rechtsvergleichendes Material über die Erfahrungen anderer Länder angefordert und teilweise erst in den letzten Tagen erhalten. Die Regeln der Fragestunde erlauben es mir nicht, hier im einzelnen auf all die großen Schwierigkeiten einzugehen. Ich bin aber gern bereit, Sie im Laufe der nächsten Zeit über den Fortgang unserer Arbeiten zu unterrichten und Sie auf dem laufenden zu halten.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Geisendörfer.
Herr Staatssekretär, sind Sie aber mit mir der Meinung, daß die Klärung dieser Fragen eilbedürftig und von der Sache her auch sehr wichtig ist?
Selbstverständlich, gnädige Frau. Deshalb habe ich ja im letzten Jahr zu optimistisch vorausgesagt, wir würden bereits im Dezember die Arbeiten abschließen können.
Eine weitere Zusatzfrage.
Haben Sie schon Anhaltspunkte, ob die in der letzten Fragestunde genannte Zahl von 38 000 Betroffenen stimmt?
Diese Zahl konnten wir bislang nicht erhärten.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sie sprachen davon, daß eine Regelung dieser Angelegenheiten jeweils von der Lage des Einzelfalles abhänge. Haben Sie inzwischen schon irgendeine Ubersicht gewonnen, ob nicht eine grundsätzliche Entscheidung über diesen Fragenkomplex möglich und wünschenswert ist?
Die grundsätzliche Entscheidung steht eigentlich im politischen Wollen unseres Hauses schon fest. Wir wollen diesen Sachgegenstand gesetzlich neu regeln. Aber die Schwierigkeiten stecken in der Abgrenzung der vielen Einzelfälle.
Noch eine Zusatzfrage.
Darf ich dann eine Frage aus der letzten Fragestunde wiederholen: Haben Sie mit dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung Kontakt und arbeiten Sie bei der Klärung dieser Fragen mit diesem Ministerium zusammen?
Wir arbeiten selbstverständlich mit diesem Ministerium zusammen. Wir sind aber erst dabei, das Tatsachenmaterial zu erarbeiten und einige Denkmodelle zu erstellen. Ich sage Ihnen noch einmal, ich hoffe, daß wir im Verlaufe der nächsten Monate so weit sein werden, Ihnen eine detailliertere Antwort geben zu können.
Dann darf ich meine Frage zu diesem Zeitpunkt wiederholen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe Frage 23 des Herrn Abgeordneten Seefeld auf:
Teilt die Bundesregierung die vorn Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen geäußerte Meinung, daß zwischen der Abschaffung der kurzfristigen Freiheitsstrafen durcis das im Jahr 1969 verkündete Strafrechtsänderungsgesetz und dem angeblich „spürbaren Sinken der Verkehrsmoral" ein enger Zusammenhang besteht?
Herr Kollege Seefeld die Bundesregierung teilt diese Ansicht nicht. Sie hat die ungünstige Entwicklung des Unfallgeschehens auf unseren Straßen im Jahre 1970 ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit und Sorge beobachtet.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5275
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. BayerlWir sind jedoch der Ansicht, daß sich nicht schon jetzt und wahrscheinlich auch nicht in absehbarer Zeit ein abschließendes Urteil darüber bilden läßt, ob die Zunahme der Straßenverkehrsunfälle, insbesondere der durch Alkohleinfluß bedingten, in engem Zusammenhang mit der am 1. September 1969 im Rahmen der Strafrechtsreform erfolgten Zurückdrängung — nicht aber Abschaffung — der kurzen Freiheitsstrafe steht.Die Beurteilung dieser Frage setzt eine eingehende Untersuchung voraus. Zu solchen Untersuchungen hat Minister Jahn die Wissenschaft gerade erst kürzlich auf dem 9. Deutschen Verkehrsgerichtstag aufgerufen. Nach den bisher vorliegenden kriminologischen Erkenntnissen ist ein solcher Zusammenhang nicht erwiesen. Danach hängt nämlich die optimale Wirkung des Verkehrsstrafrechts nicht primär von der Art und Höhe der Strafe, sondern vorwiegend von einer gleichmäßigen und angemessenen Ahndung ab. Als besonders wirksam haben sich auch das Fahrverbot und die Entziehung der Fahrerlaubnis erwiesen. Die ohnehin begrenzte Wirkung des Strafrechts im Verkehr — es ist dies auch hier kein Allgemeinheilmittel — hängt im übrigen auch von der Intensität der Überwachung ab.In diesem Zusammenhang erscheint ferner erwähnenswert, daß nicht nur die Unfallursache „Alkoholeinfluß" im ersten Halbjahr 1970 um 17,2 % gestiegen ist, sondern daß sich auch solche Verhaltensweisen überproportional negativ entwickelt haben, die ohne Alkoholeinfluß häufig z. B. zu Körperverletzungen und Gefährdungen im Straßenverkehr führen. Hierbei handelt es sich aber um Verkehrsdelikte, die auch schon vor dem Inkrafttreten der Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe ohnehin überwiegend mit Geldstrafen geahndet worden sind.Bei der Beurteilung der Unfallentwicklung wird man schließlich auch die 1970 mit über 9 % besonders starke Zunahme des Kraftfahrzeugbestandes nicht völlig außer acht lassen dürfen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Seefeld.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Stellungnahme entnehmen, daß Sie nicht der Meinung sind, die Verkehrsmoral in Deutschland sei gesunken?
Ja, wir sind nicht dieser Meinung.
Die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind außer der erwähnten Meinung aus dem Lande Nordrhein-Westfalen ähnlich klingende auch aus anderen Bundesländern bekanntgeworden?
Das ist mir nicht bekannt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Varelmann.
Herr Staatssekretär, sind die schweren Lastzüge mit einer besonders hohen Quote an den Unfällen im Straßenverkehr beteiligt?
Auf diese Frage kann ich Ihnen die Antwort nicht geben; das ist mir nicht bekannt. Ich bin aber gerne bereit, mich sachkundig zu machen und Ihnen die Antwort dann schriftlich zu geben.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich rufe Frage 24 des Herrn Abgeordneten Brandt auf:
Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß das Recht der „Pflegekindschaft" insoweit änderungsbedürftig ist, als die leiblichen Eltern das Pflegekind nicht in jedem Falle gegen den Willen des Pflegekindes oder der Pflegepersonen zurückfordern können dürfen?
Frau Präsident, auch diese Frage möchte ich des Sachzusammenhanges wegen zusammen mit der folgenden beantworten.
Ist der Herr Abgeordnete überhaupt im Saal? — Sind Sie damit einverstanden, daß beide Fragen zusammen beantwortet werden? — Dann rufe ich zusätzlich Frage 25 auf:
Gedenkt die Bundesregierung, die Voraussetzungen für das Einschreiten des Vormundschaftsgerichts gemäß § 1666 BGB zu erweitern und zu präzisieren und auch bei der anstehenden Reform der Freiwilligen Gerichtsbarkeit das Gesetz für Jugendwohlfahrt entsprechend zu andern?
Bitte schön!
Herr Kollege Brandt, die leiblichen Eltern können ein Pflegekind bereits nach geltendem Recht nicht in jedem Falle zurückfordern, und zwar gemäß § 1666 BGB dann nicht, wenn sich das Herausgabeverlangen als Mißbrauch des Sorgerechts zum Schaden des Kindes auswirken würde. In besonderen Fällen kann nach § 1747 Abs. 3 BGB sogar die Einwilligung der Eltern in die Adoption des Kindes durch die der Pflegeeltern ersetzt werden. Ich halte die Regelung dennoch für überprüfungs- und überholungsbedürftig. In meinem Hause sind die Vorarbeiten für eine Neuordnung des elterlichen Sorgerechts und eine Neuordnung des Adoptionsrechts aufgenommen worden. Dabei wird nicht zuletzt auch die angeschnittene Frage sorgfältig geprüft werden müssen.Im Rahmen der in Angriff genommenen Reform des elterlichen Sorgerechts wird besonderes Augenmerk dem Schutz der gefährdeten Kinder gewidmet werden müssen. § 1666 BGB wird zu diesem Zweck neu gefaßt werden. Die Voraussetzungen für ein Einschreiten des Vormundschaftsgerichts sollen erleichtert werden. Es ist daran gedacht, das Eingreifen nicht mehr von einem Verschulden der Eltern,
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5276 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bayerlsondern von objektiven Merkmalen abhängig zu machen.Die Neugestaltung des Jugendwohlfahrtsrechts ist Gegenstand eines besonderen Gesetzgebungsvorhabens, für das das Ministerium für Gesundheit, Jugend und Familie zuständig ist.
Keine Zusatzfrage? — Dann sind wir am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Ich danke Herrn Staatssekretär Bayerl.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Logemann. Zunächst die Frage 55 der Abgeordneten Frau Stommel:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der Verteuerung der Trinkmilch entgegenzutreten, die aufgrund der Freigabe des Endpreises für Trinkmilch ab 1. Februar 1971 zu erwarten ist.
Verehrte Frau Stommel, Ihr Kollege Kiechle stellte im November 1970 die Frage, welche konkreten Schritte die Bundesregierung unternehmen werde, um zu verhindern, daß die Unkostensteigerungen in den Molkereien auf die Milcherzeuger abgewälzt werden. ,Sie stellen nunmehr die Frage, was die Bundesregierung zu tun gedenkt, um einer Verteuerung der Trinkmilch entgegenzutreten.
Die Bundesregierung hat nach eingehender Prüfung der Kostensituation 'bei Trinkmilch Kostensteigerungen zwischen 2,5 und 9,5 Pf je Liter in der Molkereistufe festgestellt. Bei der Weiterführung des bisherigen Festpreissystems auf allen Stufen hätte zumindest diese Kostensteigerung in vollem Umfang auf den Verbraucherpreis aufgeschlagen werden müssen. Nach Ansicht der Bundesregierung und — soweit mir bekannt — auch nach Ansicht der Mehrheit Ihrer Fraktion sollten staatliche Eingriffe in die Preisgestaltung auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Deshalb wurde das Festpreissystem aufgegeben und nur auf der Molkereistufe Mindestpreise für lose und abgepackte Trinkmilch festgesetzt. Dabei wurde den von der Molkerei nachgewiesenen Kostenerhöhungen für lose Milch und für die einfachste Verpackungsart Rechnung getragen. Der Verbraucherpreis muß sich wie bei allen anderen Nahrungsmitteln im Wettbewerb frei bilden. Ich erwarte, daß der Wettbewerb zu einer marktgerechten Preisbildung führen wird, womit auch dem Verbraucher gedient ist.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für vertretbar, daß ausgerechnet kinderreiche und einkommnenschwache Familien im Falle einer Milchpreiserhöhung gezwungen sein werden, ihren Milchverbrauch einzuschränken?
L
Frau Kollegin, ich bin nicht der Meinung, daß es so weit kommen wird. Es wird in der Tat so sein, daß sich der Preis für lose Milch nicht erheblich erhöhen wird, so daß auch für kinderreiche Familien noch eine Möglichkeit der Versorgung mit preisgünstiger Milch gegeben sein wird.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Ritz!
Herr Staatssekretär, können Sie eine Aussage der Verbraucherverbände, die ich heute morgen der Presse entnommen habe, bestätigen, nach der gerade bei loser Trinkmilch unter Umständen sogar mit einer Senkung des Trinkmilchpreises zu rechnen ist?
Auch ich habe diese Pressemitteilung gelesen; ich habe sie aber noch nicht nachprüfen können. Ich habe jedoch festgestellt, daß eine Erhöhung des Trinkmilchpreises nicht überall eingetreten ist.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 56 der Abgeordneten Frau Stommel auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den von den Mildipreiserhöhungen betroffenen jungen und kinderreichen Familien eine finanzielle Erleichterung zu schaffen?
Bisher wendet der repräsentative VierPersonen-Arbeitnehmer-Haushalt mit mittlerem Einkommen bei Gesamtausgaben für den privaten Verbrauch in Höhe von 1010 DM für Trinkmilch monatlich 15,24 DM auf. Die durch die neue Preisregelung veranlaßte Erhöhung der Mindestabgabepreise in Molkereien gegenüber den bisherigen Festpreisen um 5 bis 8% würde für diesen Haushalt zu Mehrausgaben in Höhe von rund 1 DM im Monat führen. Inwieweit zusätzliche Kostensteigerungen von Molkereien und Handel, die durch die neue Mindestpreisregelung nicht berücksichtigt worden sind, auf die Verbraucherpreise durchschlagen, läßt sich heute noch nicht abschätzen. Die Bundesregierung ist jedoch der Ansicht, ,daß sich die Mehrbelastung der Verbraucher in tragbaren Grenzen hält.
Im übrigen teile ich die von verschiedenen Seiten, u. a. auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund, vertretenen Auffassung, daß man auch bei Nahrungsmitteln davon ausgehen muß, daß jede Leistung ihren Preis fordert.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Stommel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
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5280 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
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— Ja, ich bin mit Ihnen der Meinung, Herr Kollege Dr. Marx, daß das außerordentlich notwendig ist. Aber ich meine, wenn wir das so erkennen, dann sollten wir uns — trotz der hohen Mittelansätze -nicht scheuen, diese Mittelansätze auch zu bewilligen; denn ich bin mit Ihnen der Auffassung, wenn wir hier künftig nicht eine ganz sorgfältige Informationsarbeit betreiben, dann haben wir unsere eigene Aufgabe verfehlt.
Ich darf dazu aber noch etwas ausführen, damit Sie erkennen, daß sich der Haushaltsausschuß diese Aufgabe nicht leicht gemacht. hat. Wir haben etwas Außergewöhnliches getan, wir haben sogar die Einrichtung von Stellen und einen Mittelansatz von 1 Million DM bei dieser Haushaltsstelle qualifiziert gesperrt, um sehr genau abwägen zu können, ob die Maßnahmen auch in dem vorgesehenen und vorgeplanten Umfange notwendig sind. Wir hoffen, daß uns das Präsidium eine entsprechende Planung in absehrbarer Zeit vorlegen wird.Meine Damen und Herren, von der deutschen Öffentlichkeit wird besonders kritisch die Entwicklung ,der Ausgaben beobachtet, die notwendig sind, um den Abgeordneten und den Fraktionen dieses Hohen Hauses Arbeitsmöglichkeiten zu geben, und wir sollten uns auch nicht scheuen, die Notwendigkeit dieser Ausgaben der deutschen Öffentlichkeit klarzumachen. Wir haben entsprechend den gestiegenen Kosten den Einzelbetrag für die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Damen und Herren Kollegen auf die Höhe von monatlich 1850 DM angehoben. Wir haben das, wie gesagt, wegen der entsprechenden Tariferhöhungen tun müssen. Gleichzeitig haben wir die Zuschüsse an die Fraktionen ganz erheblich erhöht. Ich sage dazu, diese Ausgaben sind erforderlich. Wenn die deutsche Öffentlichkeit vom Parlament verlangt, daß es seiner Kontrollfunktion gerecht wird, muß sie auch einsehen, daß die Fraktionen ohne einen entsprechenden Gesetzgebungshilfsdienst und ohne wissenschaftliche Assistenz einfach nicht auskommen können.
Diese Frage ist in der Vergangenheit sicherlich nicht immer so beurteilt worden. Ich glaube, es ist richtig, was der Kollege Dr. Mommer in der Sitzung am 27. März 1969 vor diesem Hause dazu ausgeführt hat. Der Kollege Dr. Mommer hat damals gesagt, ,der Deutsche Bundestag sei in der Vergangenheit offensichtlich in diesen Fragen immer zu bescheiden gewesen. Ich kann dem nur beipflichten.Meine Damen und Herren! Ein letztes Wort zu einem Titel, der eng mit unserer sachlichen Arbeit der Parlamentsreform verbunden ist; es handelt sich um die Erhöhung des Mittelansatzes zum Titel 526 06. Hier soll eine sorgfältige Prüfung des Raumprogramms für künftige Erweiterungs- und Neubauten des Deutschen Bundestages gesichert werden. Ich glaube, auch das ist notwendig, und wir sollten auch diese Mittel bewilligen.Meine Damen und Herren, ich habe mich bewußt darauf beschränkt, nur einige wenige Erklärungen zu diesem Haushalt abzugeben. Aber ich bin der Meinung, sie waren zur Verdeutlichung notwendig.Frau Präsidentin, da ich gerade noch das Wort habe, darf ich für unsere Fraktion erklären, daß wir dem Einzelplan 02 unsere Zustimmung geben werden.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wird zur allgemeinen Aussprache das Wort gewünscht? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Blumenfeld.Blumenfeld Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte einen besonderen Aspekt unserer Arbeit im Parlament, die der Kollege Rawe eben angesprochen hat, noch einmal in unsere Erinnerung und in die der deutschen Öffentlichkeit rufen.Oft wird über leere Bänke im Plenarsaal geklagt. Ich möchte jetzt hier feststellen, daß 72 Kollegen dieses Hauses fest in der europäischen Arbeit verankert sind und insgesamt während 15 Wochen den Plenarsitzungen fernbleiben müssen, weil sie in den europäischen Gremien arbeiten.Meine Damen und Herren, wir führen diese Arbeit im Europäischen Parlament, in der Beratenden Versammlung des Europarates und in der Westeuropäischen Union kraft Vertrages und kraft Gesetzes aus, und wir tun das mit der uns eigenen Gründlichkeit. Die Abgeordneten, die diese Aufgabe als eine europäische Verpflichtung wahrnehmen, fehlen hier im Hause nicht deswegen, weil sie etwa Zeitung lesen oder draußen Besseres zu tun haben,
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Blumenfeldsondern weil sie in den europäischen Gremien wirken und dort ein Mandat ausüben, das ihnen von diesem Hause übertragen worden ist.Wenn wir unsere Arbeit in Europa glaubwürdig machen wollen, müssen wir den Abgeordneten auch die Möglichkeit geben, diese Aufgabe voll wahrzunehmen, und dazu gehört, daß wir, wenn hier wichtige Abstimmungen anstehen, das Prinzip des Pairing wir haben im Deutschen kein adäquates Wort dafür, und wenn wir keinen passenden Ausdruck haben, bedienen wir uns meistens der englischen Sprache — durchsetzen und durchhalten.
Was bedeutet das Pairing-System? Es bedeutet, daß die Abgeordneten der Fraktionen Vereinbarungen treffen und sich an diese Vereinbarungen halten, damit sie ihre europäische Aufgabe, ihr europäisches Mandat wahrnehmen und das Amt ausüben, das ihnen dieses Haus übertragen hat.Nun gibt es in den Fraktionsgeschäftsführungen natürlich andere Sorgen. Manchmal peitscht die Zuchtrute der Fraktionsgeschäftsführer laut durch den Raum, und es gibt einige, die Meister in der Ausübung dieser Rutenbehandlung sind. Ich halte sehr wenig davon, daß immer wieder versucht wird, den einen oder anderen aus seiner europäischen Arbeit, sei es in den Ausschußberatungen, sei es in den Plenarsitzungen, plötzlich auf Grund eines Kommandos zurückzuholen und hier an der Abstimmung teilnehmen zu lassen. Das geht einmal gut, aber dann nie wieder.Neulich wurden in der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg Mitglieder des britischen Unterhauses zurückgerufen — eben im Stile des Einpeitschens —, weil sie an einer wichtigen Abstimmung im Unterhaus teilnehmen mußten. Das hat bei allen übrigen europäischen Kollegen einen außerordentlich schlechten Eindruck hinterlassen. Wir haren bisher der Auffassung, daß man zumindest im britischen Unterhaus demokratisch verfahre und Absprachen einhalte. Mit einemmal war also alles wie weggeblasen. Viele Kollegen aus dem Unterhaus mußten folgen, weil einige sagten, sie gingen jetzt.Meine Damen und Herren, so geht es nach unserer Auffassung nicht. Wir nehmen diese Aufgaben, wie gesagt, kraft Gesetzes, kraft Vertrages und gemäß Beschluß des Bundestages wahr, und wenn wir vereinbarungsgemäß an den Tagungen der europäischen Gremien, der Nordatlantischen Versammlung oder der IPU teilnehmen, so dient das nicht nur der Selbstdarstellung dieses Hauses, sondern wir vertreten den Bundestag und damit die deutsche Öffentlichkeit in diesen europäischen und internationalen Gremien, und das ist eine wichtige Angelegenheit.
Wenn wir sie ernst nehmen und wenn wir unsere Bereitschaft zur europäischen Arbeit und ich spreche hier auch als Sprecher der deutschen Delegation bei der Beratenden Versammlung des Europarats — wirklich ernst nehmen und in den nationalen Parlamenten nicht nur Lippenbekenntnisse zu der Notwendigkeit ablegen, Europa zu bauen, Europa zu vereinigen und ein größeres Europa sich entwickeln zu sehen, dann müssen wir unsere Präsenz in diesen europäischen Gremien, im Europäischen Parlament und bei den wichtigen Ausschußarbeiten all dieser Versammlungen sicherstellen.Aus diesem Grunde geht mein Appell ganz besonders an die Fraktionsgeschäftsführer, an die Herren Fraktionsvorsitzenden, aber auch an das gesamte Haus, diese Arbeit in unserem wohlverstandenen eigenen Interesse für Europa und für die deutsche Öffentlichkeit zu unterstützen und zu verstärken.
Wird das Wort zur allgemeinen Aussprache noch gewünscht? -
Bitte schön, Herr Abgeordneter Collet.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trotz der Bemerkungen, die Herr Kollege Rawe vorhin zu einer Anzahl von Fortschritten gemacht hat, die wir zu erwarten haben, meine ich, doch sagen zu müssen, daß die Bemühungen um eine Verbesserung der Situation im Parlament nachgelassen haben. Ich will nicht hoffen — ich glaube, wir alle wollen es nicht hoffen —, daß wir, nachdem. das Jahr 1969 als das letzte der 60er Jahre einen guten Abschluß für das Parlament, für sein Wirken nach innen und außen gebracht hat, den nächsten guten Abschluß für das Ende der 70er Jahre, also für 1979, zu verzeichnen haben werden.Es wäre nun schwierig, feststellen zu wollen, wo die Ursache dafür liegt, daß dieser Schwung, den wir 1969 alle gespürt haben, alle mit in Gang gebracht haben, nachgelassen hat. Man kann nicht sagen, es liegt daran, daß der Präsident nicht mehr so aktiv ist. Man kann sicher nicht sagen, es liegt an dem einen oder anderen. Es spielt eine Menge Faktoren eine Rolle. Dies eine mag sicherlich mitspielen: daß wir hier im Parlament andere Mehrheitsverhältnisse zu verzeichnen haben und daß dadurch natürlich jeder stärker engagiert ist und daß auf der anderen Seite sowohl Regierung als auch Opposition viel mehr Vorlagen bringen, als das vorher der Fall war, so daß also nicht mehr genug Zeit für diese Aufgabe da ist.Wir können uns im Interesse der Demokratie aber wohl nicht wünschen, daß wir wieder in die Zwangslage kommen, wie schon einmal — diesmal nur aus diesen Gründen — eine Große Koalition herbeizuführen. Das sollte eine Notlösung sein, denn damals ist ja trotz der Produktivität in vielen Bereichen auch eine APO entstanden.Aber ich meine, daß auch viele Kollegen in dieser Frage nicht mehr in dem Maße engagiert sind wie früher; ich darf den Kollegen Dr. Mommer nennen, der ausgeschieden ist, oder auch die Kollegen Wör-
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Colletner und Dichgans und auf der anderen Seite Apel. Sie alle sind stärker strapaziert im Getriebe des Parlaments, in der Aufgabe der Gesetzgebung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube nicht, daß wir durch das, was wir im Jahre 1969 entschieden und in Gang gesetzt haben, das Verhältnis Bürger/Parlament, also die Wirkung des Parlaments nach außen, schon irgendwie verbessert hätten oder daß wir die Rationalität des Parlaments im Innern schon so wesentlich gebessert hätten, daß wir uns jetzt bis 1979 Zeit nehmen könnten.Bei dieser Gelegenheit darf ich auch darauf hinweisen, daß es interessant wäre, einmal darüber nachzudenken, wie es kommt, daß immer wieder so viele Kollegen plötzlich mit bestimmten Krankheitserscheinungen von uns scheiden. Sicherlich ist das u. a. auch daruf zurückzuführen, daß sie in ständiger Hast leben. Das wird man nur bis zu einem gewissen Grade ändern können. Aber wir sollten uns fragen, ob wir nicht wenigstens dazu beitragen können, daß nicht jeder von uns auch in Zukunft mit einem schlechten Gewissen leben muß. Mir scheint doch, daß jeder ständig die Entscheidung zu treffen hat, welche Arbeit er nicht erledigt, da er immer nur etwas aus der Arbeit herauspicken kann und eigentlich viel mehr erledigen müßte. Darüber hinaus haben wir meines Erachtens immer noch zuwenig nachgedacht.Ich meine darüber hinaus, daß wir uns — seien wir ehrlich — bei der Verabschiedung von Gesetzen nicht nur auf die Experten der Fraktion, sondern bei einem Teil der Gesetze sogar ausschließlich auf die Bürokratie verlassen, daß es bei manchen Gesetzen — besonders, wenn sie umfangreich sind — noch nicht einmal möglich ist, jeden einzelnen Teil im Kabinett zu beraten, so daß auch hier der Bürokratie ein großer Spielraum verbleibt. Ich darf deshalb dringend an uns alle appellieren, daß wir uns dieser Frage in Zukunft — aber nicht erst wieder nach einigen Jahren — stärker annehmen.Ich weiß nicht, ob die sogenannte Hassel-Kommission nicht u. a. auch darunter leidet, daß diejenigen, die in ihr tätig sind, zusätzlich in ihrer Fraktion so viel Verantwortung haben und in solcher Pflicht stehen, daß sie sich der Dinge nicht mehr so annehmen können, wie es vorher geschah, als jede Fraktion - wie in der letzten Legislaturperiode — ein eigenes Reformgremium, eine Kommission, gebildet hatte und diese miteinander in Konkurrenz standen. Es wäre sicherlich zu prüfen, ob das nicht hilfreicher war.Von meinem Vorredner wurde die Frage der Präsenz im Plenum angesprochen. Ich darf doch erwähnen, daß in vielen Fällen, wenn keine Abstimmung ansteht, für die Mehrzahl der Abgeordneten die Alternative lautet: Geh' ich ins Plenum, oder arbeite ich? Mit anderen Worten: Wenn man im Plenum ist, arbeitet man nicht. So ist doch die Alternative, die sich uns hier stellt. Gerade diese Alternative müssen wir jedem Bürger deutlich machen. Ich glaube, hier fehlt noch einiges.Ich darf auch zu kleinen Detailfragen noch etwas bemerken. Ich meine, es ist einfach nicht sinnvoll,daß jeder Abgeordnete fast an jedem Wochenende in seinem Büro in etwa die gleiche Sucharbeit hat, wenn er das greifbar haben will, was er in der bevorstehenden Woche braucht. Es ist auch einfach nicht sinnvoll, daß jeder Abgeordnete prüfen muß: 1st jetzt die Gesetzesvorlage X im Kabinett verabschiedet, befindet sie sich in erster Lesung, ist sie erst in der Fraktion beschlossen worden, oder wie war das? Er kennt den Sachvorgang, aber er weiß nicht genau, wie der Stand der Dinge eigentlich ist. Könnte uns die Verwaltung nicht an jedem Freitag in Form einer Lose-Blatt-Sammlung — jeweils mit vier, fünf Zeilen — über den Stand der Gesetzgebung, nach Ministerien gegliedert, unterrichten, damit man sofort weiß: Das Gesetz X, ein sozialpolitisches Gesetz, ist jetzt in der Ausschußberatung oder ist jetzt in zweiter Lesung beraten worden? Die Sucharbeit, die man braucht, um festzustellen, wo ein Gesetzentwurf gerade beraten wird, muß doch nicht sein. Seien wir doch ehrlich: Manchmal wird man in einer Versammlung gefragt, ob ein Gesetz verabschiedet ist. Dann wird behauptet, es habe in der Zeitung gestanden: das Gesetz ist gestern verabschiedet worden. Dann überlegt man. Der Abgeordnete hat Erfahrung, wie er in einer solchen Versammlung zu reagieren hat. Man liest dann später in der Zeitung nach, und dort steht dann: im Ausschuß oder: im Kabinett. Warum kann uns das nicht in kurzer Form zur Verfügung gestellt werden, so daß wir uns diese Sucharbeit ersparen? Das können wir dann während der Heimfahrt im Zug überprüfen; wir wissen dann, woran wir sind.Ich war sehr dankbar, daß der Herr Präsident einen von mir vor drei Jahren in der Diskussion gemachten Vorschlag hinsichtlich des Vorblatts aufgegriffen und verwirklicht hat. Ich meine aber, es wäre manchmal gut, Herr Präsident, wenn ein nicht dem zuständigen Ausschuß zugeordneter Sachbearbeiter oder Beamter, sondern ein anderer das Vorblatt noch einmal läse, weil der zuständige Sachbearbeiter mitunter betriebsblind ist und dort Formulierungen hineinbringt, die einem nicht dem Ausschuß Angehörenden keine ausreichende Auskunft geben.Ich wollte mit meinem Diskussionsbeitrag heute keine große Debatte entfachen, ich wollte aber dazu beitragen, daß wir das, was wir alle miteinander im Jahre 1969 guten Mutes begonnen haben, in der Zukunft fortsetzen.
Das Wort zur allgemeinen Aussprache wird nicht mehr gewünscht.
Dann gebe ich dem Herrn Abgeordneten Spillecke zur Begründung des Änderungsantrages Umdruck 104 *) das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dem Hohen Hause liegt der Änderungsantrag Umdruck 104 vor, der sich auf Kap. 02 01 Tit. 422 01 bezieht. Der Antrag geht dahin, die Stelle des Direktors beim Deutschen Bundestag in der Besoldungsgruppe B 10, zu belassen.*) Siehe Anlage 2
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SpilleckeSie wissen, daß der Haushaltsausschuß mit Mehrheit beschlossen hat — das ergibt sich aus der Ihnen vorliegenden Drucksache zum Einzelplan 02 —, die Stelle des Direktors beim Deutschen Bundestag von B 10 nach B 11 anzuheben. Meine Damen und Herren, ich möchte mit allem Nachdruck darauf verweisen, daß sich meine Begründung, die ich für die Fraktionen der FDP und der SPD gebe, in keiner Weise gegen die Person des Direktors richtet.
— Natürlich!Wir haben diese Stelle im Rahmen des Zweiten Besoldungsneuregelungsgesetzes 1969 von B 9 nach B 10 angehoben. Damals waren sich sowohl der zuständige Fachausschuß, der Innenausschuß, als auch das ganze Hohe Haus darin einig, daß die so erfolgte Zuweisung nach B 10 richtig, vertretbar und auch in Zukunft beibehalten werden sollte. Ich bin der Auffassung, daß eine Änderung der jetzigen Gegebenheiten, die Höherstufung dieser Stelle nach B 11, nicht ohne Folgen bleiben wird. Es erhebt sich doch intuitiv die Frage, ob man die Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den größten und wichtigsten Ländern der Erde dann weiter so einstufen kann, wie es jetzt der Fall ist. Wenn man weiter in die Dinge hineingeht, wird man sich ferner fragen müssen, ob der Generalinspekteur und die Inspekteure der Bundeswehr in ihrer B-Gruppe nicht auch angehoben werden müssen.
Wir meinen — das sage ich mit allem Nachdruck —, daß Veränderungen in den B-Gruppen, insbesondere aber in den Spitzenpositionen, einer eingehenden Prüfung und Beratung im Innenausschuß des Deutschen Bundestages bedürfen.
Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses herzlich darum bitten, sich doch immer dann, wenn solche wichtigen Entscheidungen anstehen, mit den Kollegen des Innenausschusses ins Benehmen zu setzen, damit wir in einer gemeinsamen Diskussion und Beurteilung aufzeigen können, wo sich unter Umständen eine Problematik auftut, der wir nicht ausweichen können.Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten es wegen der aus einer Anhebung resultierenden Folgen in der Tat bei der Zuweisung der Stelle des Direktors beim Deutschen Bundestag in B 10 belassen. Ich bitte Sie, dem Änderungsantrag Umdruck 104 zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rawe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte diesem Antrag der Koalitionsfraktionen energisch widersprechen. Lassen Sie mich zunächst ein paar Sätze zum Verfahren sagen. Ich finde, es ist völlig neu, daß das Plenum dieses Hohen Hauses sich hier mit Einzelstellenbewertungen befaßt. Ich wundere mich sehr darüber!
Ich darf Sie daran erinnern, daß wir im Haushaltsausschuß gerade diese Frage außerordentlich sorgfältig beraten haben.
— Seit zehn Jahren, Herr Kollege Haase, das ist richtig.Ich darf ferner daran erinnern — das darf auch einmal vor der Öffentlichkeit gesagt werden , daß wir im Verhältnis 26 : 6 : 4 abgestimmt haben, womit wohl deutlich wird, wie breit die Mehrheit hier gestreut war.
Als zweites darf ich Ihnen sagen, daß es sich hier um einen Vorschlag handelt, den das gesamte Präsidium dieses Hohen Hauses dem Haushaltsausschuß unterbreitet hat.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von der FDP: Wollen Sie in dieser Form dem Präsidium, das diesen Vorschlag einstimmig gemacht hat, das Mißtrauen aussprechen? Ich wundere mich sehr!
Lassen Sie mich einiges zur Sache selbst sagen. Ich glaube, die Damen und Herren, die mit mir zusammen dem 5. Deutschen Bundestag angehört haben, werden mir nicht gerade unterstellen, daß ich besonders dazu neige, Stellenbewertungen unnötig hoch und urisachgerecht vorzunehmen. Wie sieht es denn in der Sache aus? Der Bundestagsdirektor ist der einzige Chef einer obersten Bundesbehörde, der nicht nach B 11 eingestuft ist.
Er hat die Arbeit von 1469 Bediensteten zu koordinieren.Lassen Sie mich einige Vergleiche anstellen. Das Bundesministerium für Städtebau und Wohnungswesen hat 327 Bedienstete, einen beamteten Staatssekretär nach B 11 und einen Parlamentarischen Staatssekretär.
Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hat 322 Bedinstete, einen Staatssekretär nach B 11 und einen Parlamentarischen Staatssekretär. lm Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft befinden sich 634 Mitarbeiter, zwei beamtete Staatssekretäre und ein Parlamentarischer Staatssekretär.
Das nur zur Erläuterung.
Als entscheidender Einwand wird vorgebracht, diese Einstufung sei deswegen ungerechtfertigt, weil der Generalinspekteur der Bundeswehr noch nicht
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Rawein B 11 eingestuft ist. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn es der Verteidigungsminister versäumt hat, uns diese richtige Einstufung vornehmen zu lassen, kann man dafür nicht die anderen Verwaltungen verantwortlich machen!
Lieber Herr Hermsdorf, ich bin gern bereit, darauf einzugehen. Überlegen Sie bitte einmal folgendes. Wie ist es denn dazu gekommen, daß der Generalinspekteur der Bundeswehr nur nach B 10 eingestuft ist? Es war doch die berühmte Frage der sogenannten „Civil Control", die bewirkte, daß wir den beamteten Staatssekretär höher einstufen wollten als den eigentlichen obersten Soldaten.Inzwischen haben wir aber auch in diesem Ministerium einen Parlamentarischen Staatssekretär. Ich meine, dann müßten wir eventuell auch die Einstufung der Staatssekretäre, die früher damit begründet wurde, daß sie die obersten Beamten der jeweiligen Ministerien waren, überprüfen; denn die politische Verantwortung ist ihnen vom Parlamentarischen Staatssekretär im wesentlichen abgenommen worden. Jedenfalls habe ich hier in der Fragestunde seit langem keinen beamteten Staatssekretär mehr gesehen.
So viel dazu.Man kann mit uns darüber streiten, ob es richtig ist, den Generalinspekteur auch so einzustufen. Wir können aber die Begründung, die eben gegeben wurde, nicht billigen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dürr?
Aber sehr gern, Frau Präsidentin!
Herr Kollege, teilen Sie meine Meinung, daß die Vergleiche zwischen dem Bundestag und den Ministerien nicht so ganz durchschlagend sind, weil sich der Bundestag von einem Ministerium nicht nur quantitativ, nach der Zahl der Bediensteten, sondern auch qualitativ wesentlich unterscheidet?
Herr Kollege, ich teile diese Ihre Ansicht nicht. Wenn Sie sich einmal selbst vor Augen halten, was Sie alles von den Mitarbeitern dieser Verwaltung verlangen, können Sie eine solche Ansicht nicht vortragen.
Ich bin gern bereit, jetzt noch weitere sachliche Gründe nachzuschieben, die es unbedingt notwendig machen, diese Einstufung so vorzunehmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kliesing?
Sicher, das tue ich gern, Frau Präsidentin.
Herr Kollege, würden Sie mir zugeben, daß in dieser Zwischenfrage des Kollegen von der linken Seite des Hauses noch ein an sich sehr bedauerlicher Rest von Untertanenmentalität zum Vorschein kam?
Herr Kollege Kliesing, ich brauche dieser Frage nichts hinzuzufügen.
Herr Kollege, würden Sie noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Kleinert beantworten?
Frau Präsidentin, wenn Sie die Freundlichkeit haben, mir das nachher nicht auf die Redezeit anzurechnen, selbstverständlich gern.
Herr Kollege, sind Sie nicht der Meinung, daß der qualitative Unterschied, von dem der Kollege Dürr gesprochen hat, schon äußerlich u. a. wesentlich darin zum Ausdruck kommt, daß der Deutsche Bundestag durch seine Abgeordneten im Präsidium, im Ältestenrat und in zahlreichen anderen Funktionen dieses Haus in allererster Linie selbst, und zwar durch Abgeordnete, verwaltet wird und daß deshalb notwendigerweise die Bedeutung der Bürokratie demgegenüber zurücktreten muß?
Herr Kollege, ich kann Ihnen darauf nur antworten, daß wir offensichtlich eine sehr merkwürdige Auffassung von den Aufgaben einer Bundestagsverwaltung haben. Wenn Sie sich einmal die Mühe machten, einen Blick über unsere Grenzen hinweg zu tun, und wenn Sie sich einmal ansähen, wie dort die obersten Chefs der Parlamentsverwaltungen eingestuft sind, dann würden Sie eine solche Bemerkung hier sicherlich nicht machen.
Was ist denn nun die Aufgabe des Direktors dieser Verwaltung? Er hat doch hier nicht nur die rein organisatorische Verwaltung zu leiten, sondern Sie wissen doch ganz genau, daß er nicht nur in dem von Ihnen erwähnten Ältestenrat, sondern darüber hinaus auch hier im Plenum ständig das Präsidium vielfältig zu beraten hat. Ich meine, das ist eine Aufgabe, die sicherlich so schwierig ist wie die eines Staatssekretärs.Aber ich sage es noch einmal: Ziehen Sie einmal den Vergleich mit den, Parlamentsdirektoren der uns benachbarten Länder! Dann werden Sie feststellen, daß dort alle mindestens wie Staatssekretäre, in einigen Ländern, z. B. in den Niederlanden
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5292 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Raweund in Japan, erheblich höher, besoldet werden. Ähnlich ist es in Belgien, in Frankreich und in Großbritannien. Ich will das alles hier gar nicht aufwerfen.Lassen Sie mich nun noch ein Weiteres sagen, meine Damen und Herren. Die Frage, ob wir diese Stelle nach B 11 bewerten oder nicht, ist nicht erst in diesem Jahr neu aufgekommen. Sie wissen doch so gut wie ich, lieber Herr Kollege Hermsdorf, daß die Hebung in früheren Jahren an ganz anderen Gründen gescheitert ist als an einer sachgerechten Bewertung ,dieser Stelle. Das sollten wir, die wir uns schon früher damit befaßt haben, auch einmal ehrlich aussprechen. Deswegen, meine ich, ist diese Höherstufung hier gerechtfertigt.Ich muß aber noch einen Einwand hinzufügen, und diesen Einwand mache ich jetzt sehr, sehr ernst. Ich meine, es ist auch eine Frage der Selbsteinschätzung dieses Parlaments,
ob es seinen ersten Beamten in die Höchststufe aller Beamten einreiht oder nicht; denn ,davon hängt doch auch wesentlich ab, welchen Rang wir uns selbst geben, ob wir also die Exekutive immer noch höher stellen als die Legislative. Ich bin nicht bereit, das zu tun, meine Damen und Herren.
Ich will Ihre Zeit nicht zu sehr strapazieren. Ich habe ausgeführt, daß das Präsidium uns diesen Vorschlag einmütig gemacht hat. Ich will noch einmal auf die Frage des Verfahrens zurückkommen. Herr Kollege Hermsdorf, ich erinnere mich, daß Sie am 27. März 1969 vor diesem Hohen Hause gesagt haben: Ich würde gerade zu Personalfragen keine Anträge ins Plenum bringen, soweit sie dieses Hohe Haus betreffen. Ich kann nur sagen: Sie haben das damals sehr zutreffend damit begründet, daß der Haushaltsausschuß gerade den Einzelplan 02 immer sehr sorgfältig beraten hat, weil er sich in allen diesen Fragen selbst für entsprechend sachverständig hält. Ich darf Sie noch einmal daran erinnern, daß wir das auch in diesem Jahr getan haben, und das Abstimmungsergebnis habe ich Ihnen vorhin deutlich gemacht. Es wäre sicherlich angenehm für mich gewesen, wenn der Präsident dieses Hohen Hauses zu dieser Frage hätte selbst Stellung nehmen können. Aber hier scheint es eine kontroverse Abstimmung zu geben, und ich würde es auch in der Tat bedauern, wenn irgend jemand vom Präsidium in diese Abstimmung hineingezogen würde.Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen. Ich habe vorhin in der Begründung des Einzelplans 02 deutlich gemacht, daß die Verwaltung vieles tut, um auch hier die Dienstposten attraktiv zu machen, damit wir bei der angespannten Personalmarktlage in der Lage sind, immer genügend Mitarbeiter zu bekommen. Ich frage mich: Was nützen all diese Bemühungen, wenn wir in dieser Form, wie das heute geschieht, unsere eigene Verwaltung diskriminieren!
— Ja, meine Damen und Herren, ich muß das indieser Härte sagen. Wir sind uns einig gewesen, zusagen, daß wir den Innenausschuß bitten wollen, die Bediensteten dieses Hauses mit den Bediensteten des Kanzleramtes und mit den Bediensteten des Bundespräsidialamtes gleichzustellen, eine Frage, die im Ältestenrat, Herr Präsident Schmid, schon immer eine große Rolle gespielt hat. Wir waren uns weitgehend einig, indem wir gesagt haben, das solle in dieser Form überprüft werden.
— Doch, wir haben es zur Überprüfung an den Innenausschuß gegeben, Herr Kollege Hermsdorf. Nun frage ich mich allerdings: Was sind wir eigentlich für ein Parlament, wenn wir in der Besoldung für die Beamten dieses Hauses ständig hinter dem zurückbleiben, was wir für die Ministerien zu tun bereit sind?
Ich mache Ihnen einen Kompromißvorschlag, Herr Kollege Hermsdorf. Sie können, wenn Sie darauf beharren wollen, diesen Änderungsantrag in der dritten Lesung noch einmal stellen. Wir hatten sonst die gute Gepflogenheit, alle Anträge, die wir für unser eigenes Haus stellen, interfraktionell abzustimmen. Ich meine, wir haben noch eine Woche Zeit, auch diese Frage interfraktionell zu behandeln. Ich bitte Sie, diesen Antrag wenigstens heute in der zweiten Lesung zurückzuziehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frage der Gestaltung der Besoldungsordnung B ist eine außerordentlich schwierige, komplizierte Angelegenheit. Die interfraktionelle Arbeitsgruppe, die wir auf Ihren Antrag kurz vor Weihnachten eingesetzt haben, war sich deshalb einig darüber, daß sie bei ihren Beratungen die Besoldungsgruppe B ausnehmen wolle. Man war sich auch einig darüber, daß man, wenn der Bundestag heute beschließen sollte, den Direktor nach B 11 einzustufen, dem Rechnung tragen wolle.
Meine Damen und Herren, bei der Besoldungsordnung B geht es um eine Rangordnung, die sehr sorgfältig überlegt sein will. Da geht es z. B. um die Stellung der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe. Da geht es um die Stellung der Präsidenten von Bundesoberbehörden. Es handelt sich um eine Rangordnung, um die man sich seit Jahren bemüht und die wir im Laufe der nächsten Monate im Innenausschuß intensiv überlegen müssen. Das, was der Herr Kollege Rawe hier eben vorgetragen hat, ist eigentlich Ausschußberatung.
— Natürlich. Wir können das fortführen .
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Berger?
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Herr Professor Schäfer, ist Ihnen nicht bekannt, daß die interfraktionelle Arbeitsgruppe einstimmig beschlossen hat, den Direktor des Bundestages nach B 11 zu bringen?
Herr Berger, Sie haben offensichtlich eben nicht zugehört. Ich darf es für Sie wiederholen. Ich sagte: Die interfraktionelle Arbeitsgruppe hat einstimmig beschlossen, die Besoldungsordnung B aus ihren Überlegungen auszuklammern.
— Warten Sie doch! Ich bin noch nicht fertig. — Sie hat ferner für den Fall, daß das Haus heute beschließt, den Direktor in B 11 einzustufen, beschlossen, dem dann Rechnung zu tragen.
- Ja. Ich habe ernste Bedenken — —
— Es bedarf keiner nochmaligen Frage. Aber wenn Sie fragen wollen, bitte!
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Herr Professor Schäfer, ich glaube, der Beschluß der interfraktionellen Arbeitsgruppe zur Erstellung eines Besoldungskonzepts ist Ihnen offenbar doch nicht so recht bekannt.
Ich darf meine Frage wiederholen: Ist Ihnen bekannt, daß einstimmig beschlossen wurde, den Direktor nach B 11 zu bringen?
Es ist mir bekannt, daß das unter der Voraussetzung beschlossen wurde, daß der Bundestag dies heute beschließen würde.
— Nein, nein! Ich glaube, Sie verkennen sowohl die Rechtslage als auch die Situation.
— Nein, jetzt keine Zwischenfragen! Einen Augenblick! — Sehen Sie, unser Antrag verbaut für die Zukunft gar nichts. Nach unserem Antrag soll eine Änderung nach B 10 erfolgen, wobei ich zu beachten bitte, daß die Besoldungsgruppe B 10 für die Verwaltung höher ist als in jedem Ministerium, und wobei ich ferner zu beachten bitte, daß der Direktor dieses Hauses den Präsidenten in Sachentscheidungen nicht so vertreten kann, wie der Staatssekretär seinen Minister vertritt.
Das ist ein wesentlicher Unterschied, den man beachten muß.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, jetzt nicht! Das führt nicht weiter.
Wir wollen diese Frage im Gesamtzusammenhang mit den anderen B-Stellen prüfen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß wir nach einer solchen Prüfung zu dieser Regelung kommen können, wobei ich aber nicht weiß, ob dies der Fall sein wird. Dazu bedarf es bekanntlich einer Ergänzung der Besoldungsordnung. Selbst wenn Sie, meine Damen und Herren, dies heute beschließen sollten, wäre der Vollzug nicht möglich, weil diese Stelle erst nach einer Änderung des Besoldungsgesetzes als B-11-Stelle ausgewiesen werden könnte. Sie zäumen also das Pferd vom Schwanze auf. Es ist immer so gewesen, daß eine solche Frage erst in der Besoldungsordnung geregelt werden mußte. Darum geht es uns.
Das Wort hat der Abgeordnete Althammer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der Verlauf dieser Debatte hat gezeigt, wie unglückselig es war, diese Angelegenheit hier ins Plenum zu bringen.
Ich könnte mir vorstellen, daß auch manche Kollegin und mancher Kollege bei den Koalitionsfraktionen darüber nicht sehr glücklich ist. Vielleicht ergibt sich noch eine Möglichkeit, diese Sache in Ordnung zu bringen, zumal gerade in einem solchen Punkt jeder Abgeordnete auf Grund seiner eigenen Erkenntnisse abstimmen sollte.Aber ich darf vielleicht noch ein paar Anmerkungen machen, weil hier immer wieder die Rede von den anderen Verwaltungen war, wobei darauf hingewiesen wurde, daß die Besoldungsgruppe B 10 auch schon etwas sei. Bitte, halten wir uns doch folgendes vor Augen. Der Deutsche Bundestag ist ein Verfassungsorgan, das mit einer anderen Ministerialverwaltung nicht vergleichbar ist.
Ich glaube, in der Diskussion vorhin ist auch klar geworden, daß der Haushaltsausschuß mit seinem Beschluß nur das vollzogen hat, was auf höherer Ebene zwischen allen Fraktionen vereinbart worden war.
Ich darf darauf hinweisen, daß es sich hierbei nicht nur um eine B-11-Stelle, sondern um ein ganzes Paket handelt, in dem auch noch andere Stellen enthalten sind.
Wir sind deshalb erstaunt darüber, daß man jetzt ganz überraschend von der einvernehmlichen Absprache im Präsidium und in den Fraktionen abgehen will.
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5294 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. AlthammerIch bitte Sie deshalb noch einmal darum, sich zu überlegen, ob der Vorschlag meines Kollegen Rawe, diese Sache bis zur dritten Lesung aufzuschieben, nicht beachtet werden sollte.
Daß das Ganze inkonsequent ist, ergibt sich im übrigen auch daraus, daß alle Fraktionen mit Recht eine Verdoppelung der Ministerialzulage für die Bediensteten dieses Hauses beschlossen haben, eben weil wir hier von einer Sonderstellung ausgehen. Die logische Folge davon wäre, daß man dann auch die Stelle der Verwaltungsspitze des Deutschen Bundestages entsprechend anhebt.Herr Kollege Schäfer, zu Ihren Ausführungen möchte ich sagen, daß wir uns natürlich auch die rechtliche Seite sehr genau überlegt haben, und zwar zusammen mit den für Beamtenfragen zuständigen Herren aus dem Finanzministerium. Rechtlich ist das klar.Wie peinlich solche Vergleiche mit anderen Ministerien sind, Herr Kollege Schäfer, das müssen Sie am besten wissen. Denn es ist bekannt, daß das frühere Bundesratsministerium mit einigen wenigen Bediensteten keinen Staatssekretär hatte und dann diese Staatssekretärsstelle geschaffen wurde, auf die erst Sie gekommen sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hermsdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich nicht zu Wort gemeldet, wenn mich nicht der Kollege Rawe wiederholt angesprochen und zitiert hätte.
Ich stehe auch heute noch zu dem, was ich am 7. März 1969 gesagt habe, daß ich es nicht für gut halte, Personaldebatten in diesem Hause zu führen.
— Augenblick, jetzt kommt der Nachsatz. — Hier gibt es aber einen Punkt, Herr Kollege Rawe, den auch Sie ausgeführt haben und den ich hier dem ganzen Hause einmal zur Kenntnis bringen möchte, weil ich es auf die Dauer für untragbar halte.
Herr Kollege Rawe hat hier mit Recht gesagt, daß, was das Haus angeht, interfraktionelle Vereinbarungen geschaffen werden müßten, um nicht konträr im Hause zum Anliegen des eigenen Hauses debattieren zu müssen.
Dies ist notwendig, und an diesem Prinzip muß festgehalten werden.
Ich halte es aber ebenso für nicht in Ordnung und habe das im Ausschuß bereits gesagt — und der Herr Präsident hat bereits vorher, ehe ich das sagte, einen Brief geschrieben -, daß hier in der Beratung dieses Haushalts die Praxis eingerissen ist — oder einreißen mußte aus der Notlage der Geschäftslage heraus -, daß die Abgeordneten den
Plan dieses Hauses praktisch erst am Tage vor der Verabschiedung erhalten und damit keine Möglichkeit haben, darauf einzuwirken oder sich ein Bild davon zu machen. Dies kann auf die Dauer nicht so bleiben, weil das ein undemokratisches Verfahren wäre. Darüber sind wir uns alle einig.
Nun kommt aber der Punkt: Interfraktionell, Herr Rawe, ist noch am Tage der Beratung gesprochen worden, und Sie müssen zugeben, daß über die Frage der Spitzenstellungen interfraktionell keine Einigung zu erzielen war. Das ist der Kernpunkt. Wie soll dann eine Fraktion, die im interfraktionellen Gespräch nicht durchgekommen ist, ihren Standpunkt darlegen? Der Ausschuß, der unterschiedlich in den Fraktionen abgestimmt hat, kann nicht die Plenarentscheidung der Fraktion vorwegnehmen. Das ist der Punkt, weshalb es heute hier als Antrag vorgebracht werden muß.
Es ist übrigens falsch, Herr Althammer, zu sagen, wir hätten hier die doppelte Ministerialzulage beschlossen. Genau das Gegenteil haben wir gemacht. Es lag ein Antrag in dieser Richtung vor, und den haben wir abgelehnt, weil wir im Prinzip der Meinung waren, daß erörtert werden muß, ob die doppelte Ministerialzulage nicht überhaupt abgeschafft werden sollte. Das war der Kernpunkt, und aus dem Grund haben wir dies nicht beschlossen.
Ich bedauere es, Herr Rawe, daß diese Diskussion hier so ausgeufert ist. Wir hätten es bei dem belassen sollen, was hier von meinem Kollegen Spilleke gesagt worden ist. Nur, daß es so weit gekommen ist, liegt daran, daß es keine interfraktionelle Verständigung gegeben hat. In Zukunft muß dieser Haushalt so früh vorliegen, daß wir zu solchen Debatten, wie wir sie jetzt führen, nicht gezwungen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rawe.
Herr Hermsdorf, ich glaube, ich brauche nicht auszuführen, daß wir es mit Ihnen bedauern, daß es zu dieser Diskussion gekommen ist. Aber wir haben den Antrag nicht gestellt, — damit das völlig klar ist.
— Langsam, wir wollen uns nicht übernehmen. Ich habe hier von einer interfraktionellen Vereinbarung über diese Frage nicht gesprochen, sondern ich habe Ihnen gesagt, daß ein einstimmiger Beschluß des Präsidiums vorliegt, der im Haushaltsausschuß angenommen worden ist. Nichts anderes habe ich hier gesagt.
Ich habe ebenso deutlich ausgeführt, daß wir in der Frage der doppelten Ministerialzulage beschlossen haben, den Innenausschuß zu bitten, die Gleichstellung zu prüfen.
Rawe
Ich glaube, Herr Dr. Schäfer, nicht wir sind Schuld an dieser Diskussion. Lassen Sie uns doch zu der alten guten Gepflogenheit zurückkehren, meine Herren. Wir haben früher alle Beschlüsse, die dieses Hohe Haus betreffen, interfraktionell, gemeinsam gefaßt. Wir haben diese Chance jetzt noch, indem wir uns in dieser Woche über diese Frage einigen. Ich bitte Sie noch einmal ganz herzlich: nehmen Sie heute in dieser Lesung diesen Antrag zurück.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte an sich nicht die Absicht, diese Debatte noch zu verlängern. Ich bin auch der Meinung, daß es unglückselig ist. Aber wenn man das so ausspricht — ich glaube, Kollege Althammer war es , muß man einmal ganz zurückgehen, um festzustellen, wodurch wir in diese Situation gekommen sind.
Gerade Sie, Herr Kollege Althammer, haben Dutzende von Malen in den Monaten der Beratungen im Haushaltsausschuß bei allen Ministerien, wenn solche Versuche unternommen wurden, gesagt: Wir waren uns doch grundsätzlich einig, daß wir im Juni 1970 einen Doppelhaushalt, einen Verwaltungshaushalt 1970/71 beschlossen haben. Das ist nun einmal der generelle Ausgangspunkt, der auch für dieses Haus gelten muß. Ich glaube, wir sollten uns bei den strengen Maßstäben, die sowohl die Regierung als auch der Haushaltsausschuß bei den anderen Ministerien angelegt haben, einig sein, daß wir bei unserem eigenen Haus vorbildlich sein müßten, und zumindest jetzt bei der Fortschreibung des Verwaltungshaushalts 1971 — darum handelt es sich ja - sehr vorsichtig sein.
Ich meine, wir müssen dabei sehen, daß der Ausgangspunkt dieser Beratungen der Versuch der Verwaltung ist, mit diesem Vorschlag den bereits beschlossenen Verwaltungshaushalt 1971 wieder zu ändern. Ich habe von Anfang an — Herr Kollege Rawe wird das bestätigen — in den Berichterstatterbesprechungen zum Ausdruck gebracht, daß ich gegenüber diesem Versuch sehr skeptisch bin, bei diesem Haushalt, der noch dazu praktisch als letzter im Haushaltsausschuß beraten worden ist, von diesen Grundsätzen abzugehen. Wenn man also von „unglückselig" spricht, sollte man diese Ausgangsposition sehen. Ich würde es zumindest für besser gehalten haben, wenn man mit diesem Vorstoß bis zum Verwaltungshaushalt 1972 gewartet hätte.
Im übrigen sollten wir uns hier einer besonders kritischen Sonde bedienen, denn das ist ein Haushalt, zu dem im Gegensatz zu den Einzelplänen der anderen Ministerien das Finanzministerium nicht vorher seine Meinung sagen konnte und nicht gesagt hat.
Der Kollege Althammer hat selber gesagt, es sei nicht vergleichbar. Dann kann man diese Position aber auch nicht mit Staatssekretären vergleichen. Wenn etwas nicht vergleichbar ist, kann man auch keine falschen Vergleiche ziehen, wie das heute immer wieder gemacht wird.
Ich bedauere auch, dem Vorschlag auf Aufschub — nach dem Stand der Diskussion in den letzten Tagen und heute — keine Chance geben können.
Ich bitte Sie also, dem Antrag auf Umdruck 104 zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung.Wer dem Antrag auf Umdruck 104 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Im Präsidium wird die Feststellbarkeit des Ergebnisses bezweifelt. Ich bitte daher, meine Damen und Herren, sich zunächst zu erheben, wer dem Antrag zuzustimmen wünscht.
Danke schön, ich bitte Platz zu nehmen. Gegenprobe! — Meine Damen und Herren, die Schriftführer bezweifeln die Übersichtlichkeit der Abstimmung. Ich bitte, durch Hammelsprung abzustimmen.Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Auszählung bekannt. Mit Ja haben gestimmt 241 Abgeordnete des Hauses, mit Nein 222; enthalten haben sich 3. Damit ist der Änderungsantrag Umdruck 104 angenommen.Weitere Änderungsanträge zum Einzelplan 02 liegen nicht vor. Wird noch das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht gewünscht.Wer dem Einzelplan 02 in der nunmehr vorliegenden Fassung zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist der Einzelplan 02 angenommen.Ich rufe auf:Einzelplan 03 BundesratDrucksache VI/1733 —Berichterstatter Abgeordneter Dr. von NordenskjöldIch frage zunächst den Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Es liegt der Änderungsantrag Umdruck 105 *) vor. Wird zu diesem Änderungsantrag das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Wer dem Änderungsantrag Umdruck 105 zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Gegen-*) Siehe Anlage 3
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5296 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie der Antrag Umdruck 104 angenommen.Das Wort in der allgemeinen Aussprache wird weiter nicht gewünscht.Wer dem Einzelplan 03 in der nunmehr vorliegenden Fassung zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei zwei Stimmenthaltungen ist der Einzelplan 03 angenommen.Ich rufe Punkt XVII/4 der Tagesordnung auf: Einzelplan 04Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des BundeskanzleramtesDrucksache VI/ 1734 —Berichterstatter: Abgeordneter Hörmann , Abgeordneter BaierIch frage zunächst, ob von dem Herrn Berichterstatter das Wort gewünscht wird. — Danke, das Wort wird nicht gewünscht.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort in der allgemeinen Aussprache gewünscht? — Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wörner. Seine Fraktion hat eine Redezeit von 50 Minuten für ihn angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Zeit und unser Grundgesetz bürden jedem Bundeskanzler eine schwere Last auf. Er soll Richtlinien setzen in einer Zeit des Umbruchs, die gebieterisch Wandel fordert. Er soll Maßstäbe finden in einer Zeit, in der alles in Frage gestellt wird.
Wir von der CDU/CSU wissen aus 20jähriger Erfahrung um die. Schwierigkeit einer solchen Aufgabe. Maßstab unserer Beurteilung ist daum nicht das Wünschenswerte, sondern das Notwendige. Niemand erwartet von Ihnen, Herr Bundeskanzler, Wunder, aber was wir und was unser Volk von Ihnen erwarten können und erwarten müssen, ist, daß Sie das Notwendige möglich und das Mögliche wirklich machen.
Das bedeutet in dieser unserer Zeit nichts anderes, als daß erstens eine deutsche Regierung gerade in einer Zeit des Wandels und des Umbruchs nicht nur die Bereitschaft zu eben jenem Wandel, sondern auch ein gewisses Mindestmaß an Stetigkeit und Verläßlichkeit braucht.
Das bedeutet zweitens, daß eine Regierung zwischen den auch wieder gestern in Ihrer Rede angedeuteten unechten Alternativen „politische Stagnation" auf der einen Seite und „unkontrollierter Wandel" auf der anderen Seite einen klaren Standort bezieht und feste Ziele setzt.
Das bedeutet drittens, daß eine deutsche Regierung in einer Zeit utopischer Erwartungen und ideologischer Verklemmungen den Mut zu illusionsloser Wahrhaftigkeit zeigt.
Stetigkeit, Standfestigkeit und Wahrhaftigkeit: das sind die Maßstäbe, an denen Sie und Ihre Regierung sich von uns werden messen lassen müssen. Wahrhaftig aber ist es nicht, meine Damen und Herren, wenn diese Regierung immer noch so tut, als könne sie ihr großangelegtes Reformprogramm durchhalten, obwohl doch jeder in diesem Hause weiß, daß das mit den Mitteln auch Ihrer eigenen mittelfristigen Finanzplanung nicht zu bewältigen ist, Herr Bundeskanzler.
Herr Kollege Dr. Wörner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner?
Bitte schön!
Herr Wörner, würden Sie bitte so freundlich sein und den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, den Sie hier erhoben haben, konkretisieren?
Herr Porzner, ich wäre außerordentlich dankbar, wenn Sie mir die Chance gäben, jetzt noch fünf Minuten fortzufahren. Dann werden Sie diesen Vorwurf begründet sehen.
Ich darf mich jetzt an den Herrn Bundeskanzler wenden. Wir anerkennen, Herr Bundeskanzler, daß Sie gestern einen ersten Anlauf zur Korrektur unternommen haben. Aber Sie sind auf halbem Wege stehengeblieben, denn es geht eben nicht nur darum, Ihre Regierungserklärung, wie Sie gestern sagten, zu konkretisieren und zu präzisieren; es geht darum, Abschied zu nehmen von Illusionen, die Sie geweckt haben,
beispielsweise von der Illusion, die auch gestern wieder in Ihrer Rede anklang, man könne alles auf einmal haben, nämlich große Reformen, mehr Sozialleistungen, mehr Einkommen und dann auch noch stabiles Geld. Das eben geht zusammen nicht!
Und eines, Herr Bundeskanzler, kann man Ihnen ja schlechterdings nicht abnehmen: wenn Sie jene Korrektur begründen mit den Erfahrungen, die Sie in der Zwischenzeit hätten machen müssen.
Ja, Sie waren doch vorher volle drei Jahre mit uns zusammen in der Regierungsverantwortung!
Sie wußten doch, was möglich und was nicht möglich ist. Und hat Sie nicht unser Fraktionsvorsitzender in der Aussprache über die Regierungserklärung gewarnt? Weil das außerordentlich aufschlußreich ist, darf ich es mit Genehmigung des Präsidenten einmal zitieren:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5297
Dr. WörnerEs hätte Ihnen und uns allen besser angestanden, — hat Herr Barzel damals gesagt —nicht einen fröhlichen Einstand zu geben, sondern die Anstrengungen zu fordern, die unser Land machen muß, wenn es modern bleiben will. Wir fragen Sie, auf welche Lagebeurteilung, auf welche Finanzplanung, auf welche Konjunkturverläufe Sie, Herr Bundeskanzler, diese Politik, erst mal einen auszugeben, gründen wollen. Ich fürchte,
diese Politik, die sich zu Beginn so billig macht,wird uns am Schluß allen zu teuer kommen!
Genauso ist es gekommen, meine Damen und Herren.
Darum, Herr Bundeskanzler, ist uns mit einem Offenbarungseid auf Raten nicht gedient.
Sie müssen den Mut finden, unserem Volk, und zwar ein für allemal, reinen Wein einzuschenken und nicht tröpfchenweise die Wahrheit zu verabreichen. Sie müssen zurückfinden von der Politik der leichten Hand und der großen Versprechungen
zu einer soliden Politik maßvoller und verkraftbarer Veränderungen.Jeder sieht doch, wohin diese Politik uns geführt hat, jeder von uns. Nicht Fortschritt, sondern Rückschritt auf vielen Gebieten ist doch die Bilanz Ihrer Regierungstätigkeit.
Die Zeche, meine Damen und Herren, zahlt der kleine Mann.
Herr Müller-Hermann hat das gestern begründet. Das ist die Quittung für eine Politik, die zu vielen zu vieles versprach. Oder um es einmal in den Worten einer Wochenzeitschrift auszudrücken, die Ihnen gewiß nicht ferner steht als uns, nämlich der „Zeit": Das ist die Quittung für eine Politik, die im Übereifer allzu vieles gleichzeitig tun und möglichst niemandem wehtun wollte.
Darum, meine Damen und Herren, gilt es jetzt, Abschied zu nehmen vom Gefälligkeitsdenken. Wer unsere Wirklichkeit verändern will, der kann eben nicht allen zu Gefallen sein.
Das muß ein für allemal hier gesagt werden.
In Ihrer Regierungserklärung steht der schöne Satz
— ja, es steht nicht nur ein schöner Satz darin —:Diese Regierung redet niemandem nach dem Mund.Meine Damen und Herren, die Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus. Diese Regierung — Ihre gestrige Rede hat es noch einmal gezeigt redet zu vielen nach dem Munde.
Wenn Ihr Mut und Ihre Entschlußkraft im Kabinett auch nur einigermaßen mit den Versprechungen Schritt hielten, stünden wir heute besser da.
So wichtig es war, meine Damen und Herren, daß von Reform geredet wurde, und so unerläßlich es war, daß man die Bereitschaft zum Wandel in unserem Volk geweckt hat — und hier bin ich der erste, der Ihnen, der Sozialdemokratie, zugesteht, daß Sie sich hier Verdienste erworben haben —: heute ist das Problem ein ganz anderes. Heute fehlt es nicht mehr an Reformvorschlägen. Denn — auch das sei einmal gesagt diese Regierung dreht ja, möchte ich fast sagen, allzu fleißig an der Gebetsmühle der Reformen. Jeden Tag einen Plan! Man könnte manchmal auch sagen: jeden Tag ein Plänchen! Jeder Minister hat seine Reform. Selbst der „Vorwärts", Ihre Parteizeitung, beginnt bereits, sich darüber in Karikaturen lustig zu machen. Was wird in Ihrer Regierung nicht alles an Reformen verkauft?! Was wir früher als selbstverständliche Verbesserungen in Form kleiner Novellen bezeichnet haben, müssen Sie ja mit Gewalt zur Reform hochstilisieren.
An Vorschlägen fehlt es also bestimmt nicht. An was es aber heute fehlt, ist ein Zweifaches: Es fehlt ein fundiertes Gesamtkonzept dessen, was möglich und auch finanziell verkraftbar ist, und es fehlt zweitens der Mut zur Zurückstellung dessen, was zwar wünschenswert sein mag, gegenwärtig aber eben nicht zu verwirklichen ist. Herr Bundeskanzler, das heißt nichts anderes, als daß der Mut zur unpopulären Entscheidung fehlt. Dieser Mut aber ist für eine Regierung in so schwieriger Zeit dringend erforderlich.
Kolossalgemälde der Reformen haben wir genug. Wir wollen jetzt endlich wissen, wie Sie die Reformen finanzieren wollen und können.Was haben wir denn seither erlebt? Sie haben doch im Grunde genommen nichts anderes getan, als das Wünschenswerte aneinanderzureihen. Das ist nun einmal keine Politik. Es fing damit an, daß Sie uns einen Bildungsplan präsentiert haben, der im Jahre 1980 insgesamt runde 100 Milliarden DM kostet.
Die Länderfinanzminister, darunter Ihre eigenen Parteigenossen, mußten Ihnen vorrechnen, daß, wenn sonst nichts dazukäme ab 1980 jedes Jahr ein Defizit von 40 Milliarden DM zu verzeichnen wäre.
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5298 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. WörnerDas ist genau das Mehrwertsteueraufkommen eines Jahres allein in diesem einen Bereich.Ihr Verkehrsminister legt uns dann einen Verkehrsplan vor, der bis zum Jahre 1985 125 Milliarden DM kosten würde.
Er gibt aber selber zu, daß er für die Finanzierung nur in Höhe von 75 Milliarden DM garantieren könne. Er sagt weiter, er persönlich sei für Steuererhöhungen. Das zwar ein sehr interessanter Vorschlag, aber uns interessiert eben nicht, was Herr Leber privat und als Minister dazu meint. Uns interessiert die Auffassung dieser Regierung, und diese haben wir zu diesem Thema bis heute noch nicht gehört.
Ich nenne ein drittes Kapitel, den Umweltschutz. Nach vorsichtigen Berechnungen ist für den Umweltschutz in fünf Jahren ein Aufwand von 20 Milliarden DM erforderlich.Die Addition der Kosten in diesen drei Bereichen führt doch ganz klar zu der Feststellung, daß das, was Sie uns hier an Gemälden und Plänen an die Wand gezeichnet haben, irreal ist, weil es nicht zu finanzieren ist. Es nützt eben nichts, sich über die Verlegenheit der Gegenwart in eine ferne utopische Zukunft hinwegzuretten.
Es ist doch eine Milchmädchenrechnung — jeder von uns in diesem Hohen Hause hat sie doch schon angestellt; ich bin übrigens überzeugt, auch die Bundesregierung selbst —: In einer solchen Situation gibt es nur drei Möglichkeiten, nämlich entweder den Konsum zu beschneiden oder die Reformpläne zu reduzieren oder die Steuerlastquote zu erhöhen. Da das jeder von uns weiß und da sich dies jeder von uns an den Fingern abzählen kann, frage ich diese Regierung: Warum hat sie nicht den Mut, diese Wahrheit zu sagen und entsprechend zu handeln?Warum, Herr Bundeskanzler, haben Sie in Ihrer gestrigen Rede auch zu diesem Thema nichts als vage Andeutungen parat gehabt? Das ist angesichts einer solch ernsten Situation eben zu wenig. Nicht die Regierung ist die beste, die die unangenehmen Dinge verschweigt, sondern diejenige Regierung ist die beste, die zu gebotener Zeit den Mut zur unpopulären Entscheidung hat.
Wir hören von Ihnen immer, dies und dies und jenes seien Schwerpunkte. Wir wollen von Ihnen jetzt endlich einmal hören, was kein Schwerpunkt ist, was Sie zurückstellen wollen.
— Ich glaube, daß Ihnen das, was Sie hier hören, nicht angenehm ist.
Meine Damen und Herren, man kann doch nicht auf der einen Seite laufend von Prioritäten reden, ohne den Mut zu haben, auf der anderen Seite von Posterioritäten zu reden.
Deshalb fordern wir Sie auf: Legen Sie uns ein realistisches Gesamtkonzept vor! Das erste, was der Reform bedarf, ist Ihr Reformprogramm. Wir müssen endlich von Ihnen wissen, wie die Rangfolge und die Reihenfolge der Aufgaben aussieht.Keiner kann es Ihnen verübeln, wenn Sie uns darstellen, wie eng bemessen der Spielraum zu grundlegenden Veränderungen und zu sensationellen Sprüngen nach vorn ist. Das ist eine Erfahrung, die wir von der CDU/CSU 20 Jahre lang machen mußten. Wir sind darob von Ihnen gescholten worden, und Sie sind in den Wahlkampf gezogen und haben — ich sage Ihnen: bewußt — die Illusion geweckt, als ob man das alles sehr schnell und sehr gründlich ändern könnte.
Jetzt sind Sie der Gefangene Ihrer eigenen Versprechungen, und deswegen kommen Sie nicht mehr von diesen Versprechungen herunter.Wenn wir von der CDU/CSU trotz dieses eng begrenzten Spielraums unser Volk, wie ich glaube, in diesen 20 Jahren einen deutlichen Schritt vorangebracht haben, dann eben deshalb, weil wir den Mut zu zähen, kleinen, gelegentlich sehr unpopulären Schritten hatten und weil wir nur das gemacht haben, was sich finanziell und auch sonst nach den Kräften und Möglichkeiten unseres Volkes durchführen ließ
Darum, Herr Bundeskanzler, kann man Ihnen nur raten, noch etwas bescheidener zu werden. Ich gebe ohne weiteres zu: Hätten Sie sich beschieden, gäbe es durchaus einiges, auf das Sie hinweisen könnten und dem wir ja auch zugestimmt haben, dem wir unsere Unterstützung gegeben haben. Ich denke etwa an die Novellierung der Krankenversicherung, an die Neufassung des Wohngeldgesetzes, an die Dynamisierung der Kriegsopferrenten.Nur, das Schlimme an der Politik der Versprechungen, die Sie jetzt betreiben, ist eben, daß Sie damit nicht nur Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit schaden, sondern daß Sie etwas viel Schlimmeres dabei bewirken: Sie wecken in unserem Volk Ansprüche, die wir nicht zufriedenstellen können. Sie züchten das inflationäre Denken!
Sie verwischen dabei das Bewußtsein für das Mögliche, und Sie geben damit jenen Radikalen Auftrieb, die wir doch alle kennen, die so tun, als genüge es, das System zu ändern, und schon würden Milch und Honig in diesem Lande fließen.
Das ist der Schaden, der dabei für unsere Demokratie entstehen muß.Dr. WörnerStatt diese Ungeduld zu erzeugen, sollten Sie sich besser auf die erreichbaren Ziele konzentrieren. Ich sage Ihnen hier ganz offen: Eine Illusion ist im Jahre 1970 gestorben, und zwar gründlich gestorben, nämlich die Illusion, Sie wären oder würden ein Kanzler der inneren Reformen!
Was ist die Bilanz Ihrer Reformvorhaben? Sie wollten mehr für die Bildung tun, aber mit dem Schulhausbau, mit dem Hochschulausbau ist es eher abwärts als aufwärts gegangen.
Sie wollten mehr für den Straßenbau tun, und dabei wurden weniger Straßen gebaut. Sie wollten mehr Wohnungen bauen, und dabei wurden nachweislich in den ersten drei Quartalen des Jahres 1970 insgesamt ein Viertel weniger Wohnungen als in derselben Zeit des Jahres 1966 gebaut.
Herr Bundeskanzler, Sie versprachen eine Politik der breiten Vermögensbildung. Zur selben Zeit aber hat Ihre inflationäre Wirtschaftspolitik das Vertrauen der Sparer erschüttert,
den Wert des Geldes reduziert und damit die Basis für diese Vermögensbildung entzogen.
Wenn Sie uns gestern sagten: „Wir haben nicht die Absicht, uns zu übernehmen", so sagen wir Ihnen heute: Herr Bundeskanzler, Sie haben sich bereits übernommen, und zwar nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch.
Denn diese Regierung hat Deutschlands Wirklichkeit im letzten Jahr nicht zum Besseren verändert.Es führt kein Weg um die Erkenntnis herum, daß die erste Voraussetzung jeder Reform die Stabilität und die Stetigkeit des Wachstums sind, und gegen diese erste Voraussetzung haben Sie gesündigt. Es gibt immer noch den banalen Satz, daß man die Kuh, die man melken will, eben nicht schlachten kann.
Nun darf ich Sie einmal nach einem einzigen großen Wurf etwa in der Gesellschaftspolitik fragen. Denn vieles, was Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung uns unter dem Namen „Reform" an Konzepten vorgelegt haben, verdient diesen Namen nicht. Es ist eine Binsenweisheit, daß nicht jeder Schritt voran auch ein Fortschritt ist, und es ist eine Binsenweisheit, daß nicht alles, was neu ist, darum besser zu sein braucht. Deswegen fragen wir Sie — und wir fragen auch uns —: Was haben viele Ihrer Gesetzesvorschläge, die Sie uns als Reform präsentieren, überhaupt mit Reform zu tun?Woher nehmen Sie beispielsweise den Mut und den Maßstab, die von Ihnen vorgeschlagene Neuerung des Eherechts als Reform zu bezeichnen? Wir sehen darin nicht Fortschritt, sondern Rückschritt; denn das Leitbild von Familie und Ehe, das dahinter steckt, weist nicht voran, sondern weist zurück.
Wo in aller Welt nehmen Sie die Maßstäbe her, um so anspruchsvoll aufzutreten, die Freigabe der Pornographie als eine Reform uns anzubieten?
Meine Damen und Herren, es gibt eben nicht nur die Freiheit des Menschen — das sei an dieser Stelle gesagt , es gibt auch die Würde des Menschen. Wir meinen, die Würde steht bei diesem Punkt auf dem Spiel. Darum sagen wir nein.
Um noch einmal die Fragwürdigkeit Ihrer Reformkonzepte aufzuzeigen: Was sich in den sozialdemokratisch regierten Bundesländern unter der Flagge sogenannter Reformgesetze im Hochschulbereich präsentiert,
das hat doch auch nichts mit Fortschritt zu tun, sondern das ist doch ein Rückfall in die Zeit des Ständestaates.
Meine Damen und Herren, nach der Meinung der CDU/CSU kann es nur einen Maßstab der Reform geben:
den der Menschenrechte. Fortschritt ist und kann nur dort sein, wo es ein Mehr an Menschenrechten und ein Mehr an Menschenwürde gibt.
Immer dringender, immer bedenklicher und sorgenvoller werden in unsrem Volk auch die Fragen nach den Zielen des Bundeskanzlers und anderer führender Sozialdemokraten auf dem Gebiet der Gesellschaftspolitik. Was will der Bundeskanzler, was wollen andere letzlich auf diesem Gebiet? Stehen sie noch aus Überzeugung auf dem Boden dieser Gesellschaftsordnung und dieser Wirtschaftsordnung?
Herr Bundeskanzler, es ist nicht damit getan, daß Sie sich hier vor den Deutschen Bundestag stellen und ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft ablegen. Wir hätten es gerne gesehen, Sie hätten sich vor die Jungsozialisten gestellt und hätten dieses Bekenntnis dort abgelegt.
Denn dort wird doch im Augenblick dieses Systemin Frage gestellt. Wir haben den Eindruck, daß häufig Karl Schiller bei seinem Kampf um die Markt-
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5300 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. Wörnerwirtschaft allein auf weiter Flur steht in jenen Kreisen.
Was bedeutet es denn, wenn wir aus dem Munde führender Sozialdemokraten hören müssen, daß die Demokratie erst eigentlich durch den Sozialismus verwirklicht werde? Und was heißt es, wenn Herbert Wehner in Bremen vom klassenpolitischen Durchbruch spricht? Dann brauchen Sie sich doch nicht zu wundern, wenn wir zu fragen anfangen.
Man kann der Forderung der Jungsozialisten und ich nehme diese Forderung ernst nach systemüberwindenden Reformen einfach nicht mit dem verlegenen Hinweis begegnen, man habe ja leider einen bremsenden Koalitionspartner, dessentwegen man das noch nicht umsetzen könne.
Meine Damen und Herren, daß wir uns recht verstehen: auch wir halten diese Gesellschaftsordnung, die Ordnung der sozialen Marktwirtschaft, in vielen Punkten für verbesserungswürdig und verbesserungsfähig.
Auch wir von der CDU/CSU wollen diese Gesellschaft im Blick auf mehr Humanität, im Blick auf mehr soziale Gerechtigkeit weiterentwickeln.
Wir wollen — und das haben wir durch unsere Vorschläge hier bewiesen — mehr Vermögensbildungauf breiterer Grundlage. In diesem Hause liegt — —
— Geschrei ist noch nie ein Argument gewesen, Herr Kollege.
- In diesem Hause liegt — auch nach Auffassung von Leuten, die Ihnen sehr nahestehen — der modernste Gesetzentwurf zur Vermögensbildung vor, und das ist der Initiativgesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion.
Wir wünschen, daß Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen; dann können Sie Ihren Mut zur Reform beweisen.
Nur die Grundentscheidungen der sozialen Marktwirtschaft — darum sagen wir das an dieser Stelle — sind für uns nicht anzutasten. Wir wollen eben keine Überwindung dieses Systems, sondern wir wollen eine Verbesserung dieser Ordnung, damit sie stabiler wird, noch stabiler.Unsere Position ist also klar. Die Position der Bundesregierung dagegen darf nicht länger im Zwielicht bleiben. Dieser Staat und diese Gesellschaftsordnung ertragen — gerade angesichts dieser Vorschläge, die uns von der äußersten Linken entgegengebracht werden — kein halbherziges Bekenntnis und kein lauwarmes Einstehen, sondern da muß man mannhaft hingehen und seinen Standpunkt. vertreten,
und zwar gerade angesichts dessen, was Herr Professor Giersch als eine Welle des emotionalen Sozialismus gebrandmarkt hat, die heute in unserem Volk heraufkommt. Hier kann man eben nicht kneifen, hier kann man sich nicht modisch anpassen, und hier kann man sich auch nicht beschwichtigend verbeugen, sondern hier muß man einstehen.
Ich sage Ihnen und sage es an dieser Stelle: auch für uns ist die soziale Marktwirtschaft kein Selbstzweck, kein Tabu. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, soziale Gerechtigkeit, Gemeinwohl und persönliche Freiheit auf einen Nenner zu bringen.
Dieses System hat nur so lange seine Existenzberechtigung, als es den Nachweis führt, besser zu sein als andere Systeme. Dieser Nachweis wird ständig geführt; davon können Sie sich durch einen Blick auf die Ordnungen in der ganzen Welt um uns herum überzeugen. Denn die soziale Marktwirtschaft braucht keinen Vergleich mit irgendeinem anderen System in dieser Welt zu scheuen, auch heute nicht.
Und weil es diese Regierung nicht mehr oft genug sagt, darum sagen wir es an dieser Stelle.
— Herr Fellermaier, Sie sollen es nicht jeden Tag vorbeten, sondern Sie sollen es an der Stelle in Ihrer Partei vertreten, wo es angefochten wird. Darum geht es.
Warum hört man denn von Ihnen so selten, daß die soziale Marktwirtschaft eben immer noch das produktivste und für die Arbeitnehmer ertragreichste System ist? Warum sagt man denn nicht mehr, daß in diesem System die fortschrittlichste soziale Ordnung möglich war?
Warum sagt man nicht mehr, daß die Machtkontrolle in diesem System einfacher und besser gelöst ist als in jeder sozialistischen Ordnung?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5301
Dr. WörnerWarum, meine Damen und Herren, sagt man nicht mehr, daß keine andere Gesellschaftsordnung dem Bürger mehr Unabhängigkeit und mehr freien Bewegungsraum zugesteht? Wenn wir von der CDU/CSU uns damals mit Ludwig Erhard für diese Gesellschaftsordnung entschieden haben,
dann war das nicht in erster Linie eine Entscheidung für dieses System, weil es eben mehr Waschmaschinen, mehr Autos und mehr Kühlschränke produzieren kann, sondern dann war das in erster Linie eine Entscheidung gesellschaftspolitischer Natur. Wir treten für die freiheitliche Gestaltung der gesellschaftlichen und ökonomischen Beziehungen der Menschen ein.
Darum glauben war, daß dieses System auch heute noch das bessere ist, und zwar gegenüber jedem sozialistischen System, sowohl gegenüber dem freiheitlichen als auch gegenüber dem nicht freiheitlichen Sozialismus. Denn — das sage ich hier, weil es draußen diskutiert wird — Sozialismus, auch freiheitlicher Sozialismus, bedeutet im Grunde genommen nur mehr Konzentration der Macht in den Händen weniger Funktionäre und weniger Kontrollmöglichkeiten.
Herr Kollege Wörner, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner zulassen?
Gerne, sobald ich den Gedanken zu Ende geführt habe.
Sozialismus heißt: mehr Abhängigkeit, meine Damen und Herren, mehr Abhängigkeit des einzelnen vom Kollektiv und vom Staat. Das Grundproblem auch des freiheitlichen Sozialismus ist doch, daß er wirtschaftliche und politische Macht in einer Hand vereinigt und damit eben weniger Mitbestimmungs- und Kontrollmöglichkeiten gibt als alle anderen Systeme.
Bitte, Herr Porzner! Ich hoffe, der Herr Präsident wird so freundlich sein, die Zwischenfrage nachher auf meine Zeit anzurechnen.
Herr Kollege, ich werde wie üblich verfahren.
Bitte schön!
Herr Wörner, weil Sie so viel von Freiheit reden: Beziehen Sie jene Quasi-Kooperation der CDU/CSU mit der NPD bei der Wahl des Bundespräsidenten oder bei den Vorgängen vor der Landtagswahl in Niedersachsen
in Ihren Freiheitsbegriff ein?
Herr Kollege Porzner, darauf sage ich Ihnen zweierlei.
Erstens: Das war unter dem Niveau dessen, was in diesem Hause normalerweise üblich ist.
Zweitens — jetzt greife ich einem anderen Punkt vor —:
Diese Regierung hat es geschafft, unser Volk auch in die Gefahr einer inneren Spaltung zu bringen.
Diese Äußerung liegt genau in der Linie derer, die uns in die rechte Ecke stellen wollen.
Aber, Herr Kollege Porzner, dieser Versuch wird Ihnen nicht gelingen, denn diese Partei hat sich bereits zu Europa und gegen einen überspitzten Nationalismus bekannt, als Sie in der Sozialdemokratie noch in Nationalismus machten.
Wir von der CDU/CSU sind und bleiben eine Partei der Mitte, meine Damen und Herren.
Herr Abgeordneter Wörner, würden Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Porzner zulassen?
Bitte schön, Herr Porzner!
Herr Wörner, glauben Sie, daß eine freie Gesellschaft durch einen Bundespräsidenten repräsentiert werden kann, der auf die Stimmen der NPD gewartet und darum gebuhlt hat?
Herr Kollege Porzner, nach dem, was Sie hier angeschnitten haben, kann ich Ihnen darauf keine Antwort mehr geben.
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5302 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Herr Abgeordneter Wörner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sieglerschmidt?
Herr Präsident, nein.
Es ist das Recht des Redners, weitere Fragen abzulehnen.
Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, wir brauchen uns auch nicht zu wundern, wenn bei einer solchen Haltung die Entfremdung eines Teils der jungen Generation zu diesem unserem Staat und unserer Ordnung fortschreitet.
Ich zitiere ein Beispiel, das ich dem „Badischen Tagblatt" vom 15. Januar 1971 entnehme. Da heißt es: Die Abschlußklasse einer Oberschule in Karlsruhe wurde kürzlich zum Thema Landesverteidigung gefragt und zeigte ein überwiegend negatives oder zumindest gestörtes Verhältnis zur Bundeswehr. 24 Karlsruher Schüler wurden befragt. Davon erklärten 7 die Bundesrepublik für nicht verteidigungswert. 2 davon meinten sogar, dieser Staat gehöre beseitigt.
Weitere 3 Schüler sprachen sich gegen die Bundeswehr aus, weil diese in Wirklichkeit gar nicht die Bevölkerung und ihre Freiheit, sondern nur die steigenden Profite des Monopolkapitals verteidigen würde ohne Rücksicht darauf, was bei kriegerischen Handlungen aus den Menschen würde. - Ich glaube nicht, daß dieses Beispiel repräsentativ ist.
— Ja, meine Damen und Herren, warum bringe ich das hier? Weil das eine Tendenz ist, die in unserem Volk langsam um sich greift und die uns doch allen zusammen Sorge machen muß.
Nun mache ich nicht den Versuch, das allein oder überwiegend der Bundesregierung anzulasten.
Dennoch wird man feststellen müssen, meine Damen
und Herren, daß vieles im Verhalten der Bundesregierung diese Haltung eher verstärkt als abbaut.
Meine Damen und Herren, wer immer nur von den Mängeln unserer gesellschaftlichen Ordnung und nie von ihren Vorzügen redet, der braucht sich nicht zu wundern, daß das Engagement für diese Ordnung in unserem Volk abnimmt,
und wer zunehmend der Frage, um die es eigentlich geht, der Frage nach der Rolle und dem Rang des Menschen in diesem System hüben und drüben ausweicht, wer sich nicht mehr traut, Unmenschlichkeit Unmenschlichkeit und Unfreiheit Unfreiheit und
Diktatur Diktatur zu nennen, der braucht sich nicht zu wundern, daß das Bewußtsein für die Überlegenheit unseres Systems schwindet.
Es ist zu begrüßen, wenn eine sachliche Information über Wirtschaft und Gesellschaft in der DDR vorgenommen wird. Aber, meine Damen und Herren. der Faszination und der Ideologie des Marxismus begegnet man nicht mit lendenlahmer Wertneutralität. Das ist es, was gesagt werden muß.
Meine Damen und Herren, diese Regierung hat nach innen einen Kurs nicht mehr der Stetigkeit, sondern des Wankelmuts. Wenn es so weit ist, daß bereits in der „Frankfurter Rundschau"
ein Artikel unter der Überschrift kommt: „Bonn kaschiert seine Ratlosigkeit mit Schaukämpfen", „Ungereimtheiten im Konzept der Koalition", „Führungsprobleme im Hintergrund", wenn bereits einer der treuesten Paladine des Kanzlers, der Publizist Günter Gaus, im „Spiegel" einen Artikel unter der Überschrift bringen kann: „Warten auf einen Kanzler", - meine Damen und Herren, wie weit ist es dann gekommen?
Immerhin, eine Wirkung hat das ja gehabt, denn Gaus rief, und unser Kanzler sprach gestern im Bundestag.
Ich wollte jetzt den Herrn Bundeskanzler, der leider nicht mehr anwesend ist,
fragen, wielange er noch zusehen möchte,
wie sich seine Minister in der Öffentlichkeit streiten: Möller gegen Schiller, Schiller gegen Möller, Leber gegen Schiller und dann zur Abwechslung einmal der Herr Wehner gegen den Herrn Jahn in der Presse.
Ich frage mich, meine Damen und Herren, was ist von der Mannschaft geblieben, die einmal als Mannschaft in den Wahlkampf des Jahres 1969 zog? Doch nichts anderes als - „ein Team" kann man nicht sagen - Einzelkämpfer, von denen sich verschiedene zu häufig im Infight befinden.
Herr Abgeordneter Wörner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schlaga?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5303
Nein. — Es ist doch ein offenes Geheimnis, daß im Kabinett Kiesinger, nein, im Kabinett Brandt
die Linke oft nicht mehr weiß, was die Rechte tut, und das, obwohl der Herr Ehmke behauptet hat, er sei gleichzeitig die Linke und die Rechte des Bundeskanzlers.Meine Damen und Herren, das zeigt eines ganz klar, daß nämlich der Umgang mit Computern und auch ein funktionierender Planungsmechanismus jedenfalls eines nicht zu ersetzen vermag, das ist der Mut zur Entscheidung.
Darum ist es kein Wunder, wenn Zweifel auftauchen
an der Führungsqualität des Kanzlers, und darum braucht es niemanden zu wundern, wenn in diesem Volk das Vertrauen schwindet, wenn an Stelle der Sicherheit Unsicherheit tritt.
Denn die Stimmung draußen, meine Damen und Herrenr, ist in vielem ein Spiegelbild der Führungslosigkeit im Kabinett Brandt/Scheel.
Das Hickhack über die Steuererhöhung muß doch geradezu Verwirrung in diesem Volk stiften. Ich frage mich, an wen der Herr Bundeskanzler gestern die Aufforderung gerichtet hat, das polemische Gerede einzustellen. Ich glaube, diese Aufforderung hätte er doch besser an die Minister seines eigenen Kabinetts gerichtet. Wir haben doch diese Unsicherheit und diese Verwirrung nicht gestiftet.
Wenn man am 15. Januar 1971 von Schiller hört, es werde 1971 keine zusätzlichen Steuerbelastungen geben, wenn einen Tag später der Herr Möller verkündet, der Rückgang der Steuerlastquote sei nicht vertretbar, und wenn schließlich am 18. Januar 1971 eröffnet wird,
das Kabinett habe Übereinstimmung erzielt: wo ist da auch nur ein bescheidener Rest von Führung und Sicherheit im Kurs? Solches Hin und Her muß die Glaubwürdigkeit einer Regierung erschüttern.Das Chaos der Verlautbarungen wird auch noch in einer anderen Frage sehr deutlich, das ist die Frage Berlin. Hier zitiere ich mit Genehmigung des Präsidenten, da ich diese verhängnisvollen Äußerungen nicht alle hintereinanderstellen will, einmal aus einem Kommentar des Senders Freies Berlin vom 6. Januar 1971, wo es heißt:Man kann nur hoffen, daß sich die Regierungsparteien insgesamt in einer besseren Verfassung befinden, als ihre widersprüchlichen Äußerungen über Berlin vermuten lassen; denn sonst wäre die Bundesrepublik übel dran. Seit vielen Monaten schon behelligen führende Köpfe von SPD und FDP die Öffentlichkeit mit einer Fülle schlecht abgestimmter, bisweilen krass gegensätzlicher Berlin-Bemerkungen. Wer heute dies und morgen jenes sagt, darf sich nicht wundern, wenn Zweifel bleiben.So der Kommentar des Senders Freies Berlin. Die Quittung, meine Damen und Herren, haben Sie hier in der Berliner Anzeige: „Das Schicksal unserer Stadt steht auf dem Spiel". Mindestens die Hälfte der Unterzeichner sind Sozialdemokraten.
Manchmal wird man den Verdacht nicht los
— ja! —, daß hier eine Politik betrieben wird, die bewußt die wahren Absichten hinter einer Front nebelhafter Formulierungen verdeckt. Wir müssen uns doch fragen, ob da nicht ein Kurswechsel vorbereitet wird.
Eine besondere Rolle spielt dabei Herbert Wehner.
Auf jeden Fall ist Verwirrung nicht der Boden, auf dem Vertrauen wächst.
Herr Professor Schiller hat einmal zu Recht gesagt 50 % der Konjunkturpolitik seien ein Geschäft mit der Psychologie.
Wie sollen Vertrauen und Ruhe in unsere Wirtschaft einkehren, wenn die finanzpolitischen Absichten auch nach der gestrigen Erklärung des Bundeskanzlers im unklaren bleiben, wenn wir nicht wissen, ob die große Steuerreform so, wie sie vorbereitet wird, der Finanzierung öffentlicher Aufgaben oder einem Eingriff in die Eigentumsstruktur dient? Auch das wollen wir hier und heute von Ihnen wissen, meine Damen und Herren.
Nach seiner gestrigen Erklärung schulden uns der Bundeskanzler und die Regierung hier und heute Klarheit. Um es noch einmal zu sagen: obwohl ich die Verärgerung verstehe, wird von mir nicht angezweifelt, daß diese Regierung und die Regierungsfraktionen, die Regierungskoalition, unzweideutig auf dem Boden der demokratischen Ordnung stehen,
auf dem Boden dessen, was wir gemeinsam aufgebaut haben. Aber, meine Damen und Herren, was wir haben wollen und haben müssen,
das ist Klarheit, und das ist mehr Führung.
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5304 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. WörnerWir wollen einen Kanzler haben, der sich nicht nur der Außenpolitik, sondern auch der Innenpolitik widmet.
Wir wollen einen Kanzler der inneren Reformen haben. Diese Regierung, meine Damen und Herren, bleibt nicht nur hinter ihren selbstgesteckten Maßstäben zurück — —
Herr Wörner, ich darf eine Zwischenfrage an Sie richten: Halten Sie es für zumutbar, hier die Aussprache über den Einzelplan des Herrn Bundeskanzlers fortzusetzen, wenn er es nicht für nötig hält, hier anwesend zu sein, und statt dessen draußen in den Wandelgängen spazieren geht?
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier eines erklären. Ich persönlich möchte meinen, daß sich der Herr Bundeskanzler aus diesem Saal entfernt hat aus Verärgerung über das, was ich gesagt habe. Ich will ihm gerne einräumen, daß er dabei einem Mißverständnis zum Opfer gefallen ist.
Ich will hier, um es noch einmal klar zu sagen, feststellen, daß all die, wie ich meine, berechtigte Kritik, die ich vor allen Dingen an der mangelnden Entschlossenheit und dem mangelnden Führungswillen geübt habe, nicht etwa die Ehrenhaftigkeit oder das Einstehen für die demokratische Ordnung in Frage stellen sollte.
Unser Volk, meine Damen und Herren, hat einen Anspruch darauf, nicht mit Illusionen abgespeist zu werden, sondern Klarheit über seine Lage zu erfahren. Unser Volk hat einen Anspruch darauf, Gewißheit über den Kurs der Regierung zu erhalten, und unser Volk hat einen Anspruch darauf, daß sich der Kanzler seiner Kanzlerschaft auch nach innen annimmt und führt. Jetzt ist die Zeit der Versprechungen um, meine Damen und Herren, wir wollen Taten sehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Schäfer. Seine Fraktion hat für ihn ebenfalls eine Redezeit von 50 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede, die Herr Wörner eben gehalten hat,
ist wohl charakteristisch für den Geisteszustand dieser Fraktion.
Wer hier eine Rede hält und selbst merkt und weiß, daß seine vorformulierten Worte denjenigen, an den sie gerichtet sind, zutiefst verletzen müssen, der wollte verletzen und der ist infam.
Herr Abgeordneter Schäfer, ich rüge den Vorwurf, daß der Herr Abgeordnete Wörner infam sei.
Der Abgeordnete Wörner hat an die Adresse des Herrn Bundeskanzlers — ich nehme seinen eigenen Wortlaut aus dem Protokoll — gesagt: Wer sich nicht mehr traut, Unmenschlichkeit Unmenschlichkeit und Unfreiheit Unfreiheit, Diktatur Diktatur zu nennen, der braucht sich nicht zu wundern, wenn das Bewußtsein für das schwindet, was die Überlegenheit unseres Systems ausmacht.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, wer hat mehr in dieser Bundesrepublik und in Berlin getan, um gegen Unmenschlichkeit zu kämpfen,
und wer hat mehr dafür getan, die Freiheit in diesem Lande zu verteidigen als dieser Mann, der heute unser Bundeskanzler ist?
Im übrigen war außer einigen neu erfundenen, besonders charmanten Formulierungen
von der Rede des Herrn Wörner nichts Neues zu vermelden. Sie wurde schon mehrfach hier gehalten. Wir haben nichts dagegen, daß er sie auch weiterhin hält.
Es ist eigentlich beinahe wortwörtlich die Schlußbilanz, die Sie, Herr Kollege Wörner, vor einem Jahr unter 17 Jahre CDU-Alleinherrschaft und weitere drei Jahre, in denen Sie mitregiert haben, gezogen haben.
Wenn Sie sich über Entwicklungen beklagen, meinen Sie denn, diese Entwicklungen seien in diesen 15 Monaten entstanden? Meinen Sie nicht vielmehr, daß diese Entwicklungen entstanden sind und ihre Ursachen haben in der Zeit, in der Sie die Regierungsverantwortung hier getragen haben?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5305
Dr. Schäfer
Ich freue mich ja, und mit mir freuen sich alleSozialdemokraten und Demokraten
über das enorme Vertrauen, das Sie uns offensichtlich zumessen, daß wir nämlich all das, was Sie in 20 Jahren schlecht gemacht haben, in 15 Monaten gut machen sollen.
— Herr Marx, Wunder dauern ein bißchen länger. Sehen Sie die Bilanz dieser Regierung in der Zeit — — Bitte, Herr Kollege!
Herr Abgeordneter Burgbacher, der Kollege Dr. Schäfer gestattet Ihnen eine Zusatzfrage.
Herr Kollege Schäfer, Sie haben wieder von den 20 Jahren gesprochen. Glauben Sie nicht, daß diese Ihre Regierung von den Zinsen dieser 20 Jahre lebt und im Begriff ist, das Kapital anzugreifen?
Glauben Sie, daß diese Regierung ihre Ostpolitik verantworten könnte, ohne daß in den vergangenen 20 Jahren die feste Verankerung der Bundesrepublik im Westen von uns durchgeführt worden wäre?
Vielen Dank, Herr Kollege Burgbacher. Darf ich Ihnen zum Studium die Regierungserklärung vom Dezember 1966 durch Ihren CDU-Vorsitzenden, Herrn Kiesinger, empfehlen,
der nicht von Zinsen, sondern von einer lange schwelenden Krise sprach, die zu dieser Situation geführt hat, aus der Sie ohne unsere Hilfe gar nicht mehr heraus konnten.
— Entschuldigen Sie, er will dazu eine Frage stellen; ich lehne keine Antwort ab.
Wären Sie bereit, diesen Satz nicht aus dem Zusammenhang zu reißen, sondern ihn ein bißchen im Zusammenhang darzustellen, und meinen Sie nicht, daß es dann ein wenig anders aussieht, als wie Sie hier den Eindruck erwecken?
Herr Kollege, ich meinte, daß es ausreichen würde, Ihre Erinnerung wachzurufen. Aber ich kann auch noch etwas tiefer gehen und aus dem Kopf z. B. zitieren, was
der damalige Bundeskanzler über die Finanzplanung sagte und was dann der damalige Finanzminister Strauß am 31. Juli 1967 in der „Bonner Rundschau" über die CDU-Finanzminister, über seine Vorgänger, geschrieben hat, was sie für eine Finanzwirtschaft getrieben hätten. Über alle diese Dinge können wir heute sprechen. Ich zeige nur die Bilanz,
und die war so, daß nicht Zinsen, sondern Hypotheken da waren, und zwar recht beachtliche.
— Bitte!
Herr Kollege, wäre es nicht aktueller, wenn Sie an Stelle des Finanzministers Strauß aus dem Jahre 1967 den Finanzminister Möller aus dem Jahre 1971 zitierten, der an Ihre Adresse gesagt hat: Wir hatten zuviel Illusionen; wir müssen abbauen und uns an den Realitäten orientieren? Wäre es nicht an der Zeit, daß Sie diesen Gedanken einmal aufnehmen und uns sagen, was das bedeutet?
Herr Kollege Stoltenberg, über diese Frage wird im Verlauf dieser Haushaltsdebatte zu sprechen sein.
Aber daß gerade Sie den Mut haben, sich mit dieser Frage zu Wort zu melden, finde ich besonders bemerkenswert, wenn ich mir vergegenwärtige, was Sie im Frühjahr letzten Jahres hier alles empfehlen zu können geglaubt haben, ohne dafür geradezustehen, und was Sie dann im September hier eingebracht haben. Ich habe die Drucksache hier und kann Ihnen das vorlesen. Was in Ihren Kreisen an Illusionen vorhanden war, das ist doch nun wirklich nicht zu übertreffen.
Meine Damen und Herren, diese Regierung bedarf keiner Laudatio und Verteidigung durch mich;
sie kann und wird sich selbst verteidigen. Diese Regierung
hat in diesem Jahr Leistungen auf den sozialen Sektoren, auf dem gesellschaftspolitischen Sektor vollbracht
wie noch keine Bundesregierung nach einem Jahr Regierung.
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5306 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. Schäfer
— Meine Damen und Herren von der Opposition, die Leistungen dieser Regierung sind Ihnen anscheinend so selbstverständlich, daß Sie sie schon gar nicht mehr wahrnehmen wollen. Ich will Ihnen einmal einige vorlesen: Kriegsopferrenten — gegen Ihren harten Widerstand —,
Krankenversicherungsbeitrag der Rentner wieder beseitigt — da waren Sie bei einigen Dingen noch in ganz schlimmer Richtung: Sie wollten noch die 1,2 Milliarden weiter streichen —, die Verdoppelung der Vermögensbildung — das 312-DM-Gesetz wurde verdoppelt und vollkommen umgestaltet —
— Herr Katzer, ich freue mich; zu Ihnen komme ich nachher, mit Ihnen habe ich heute noch einiges zu bereden —; dann die vermögenswirksamen Leistungen im öffentlichen Dienst — ein kleiner Anfang —, der Arbeitgeberanteil für die Krankenversicherung für alle Angestellten — ein sehr wichtiger Schritt; mit Ihnen war er nicht zu schaffen —
— nein, nein, mit Ihnen war er nicht zu schaffen! —,
die gesetzliche Unfallversicherung für Schüler und Studenten, die 23. Lastenausgleichsnovelle, meine Damen und Herren, mit der Gleichstellung der Flüchtlinge.
Ja, ich zähle nur einmal einiges auf,
z. B. daß der Entwurf des neuen Betriebsverfassungsgesetzes vorliegt, daß wir das Wohngeld verändert haben;
- es war ein katastrophales Erbe,
das wir von Ihnen auf dem Wohnungsbausektor übernommen haben!
Und da kann nur der lachen, der nichts davon weiß, der keine Ahnung hat, meine Damen und Herren.
— Einen Augenblick, meine Damen und Herren! Sie wissen ganz genau, daß Sie die Bewirtschaftung aufgehoben haben,
als auf 100 Wohnungen 103 Wohnungssuchende kamen.
Und Sie wissen ganz genau, daß Sie sich um eineMillion Wohnungen verrechnet haben, ich hoffe,nicht bewußt verrechnet haben, und daß die Mieten dadurch in die Höhe gingen und daß wir dadurch diese Situation bekommen haben.
Bitte schön, eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Schäfer, darf ich Sie vielleicht daran erinnern, wer in den letzten vier Jahren — und nicht nur in den letzten anderthalb Jahren — hier in diesem Lande Wohnungsbauminister war, und darf ich Sie an den Rückgang des sozialen Wohnungsbaus unter diesem Minister — nicht etwa unter einem CDU-Minister -
erinnern?
Sehen Sie, es war also mein Verdacht vorhin doch richtig, daß es Kollegen gibt, die keine Ahnung haben
und die offensichtlich nicht wissen, daß früher die Degression von 700 Millionen in zehn Jahren -jedes Jahr um 70 Millionen — herunter bis zum Schluß auf Null beschlossen wurde. Wir waren 1966 gerade bei Null, und dann haben wir mit dem ersten Konjunkturförderungsprogramm den ersten Anstoß gegeben.
— Ja, was winsen Sie denn ab? Oder gilt das etwa nicht?
— Ja, meine Herren, ist Ihnen das so unangenehm?
— Natürlich ist es Ihnen unangenehm!
— Also ist es Ihnen nicht unangenehm, also wollen Sie offensichtlich die Erhöhung der Mieten auf diese Weise erreicht haben, entweder oder!
Herr Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ott?
Gerne!
Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen unbekannt, daß die Mieterhöhungen von 30 bis 50 DM monatlich daher kommen, daß die Bundesbank auf Grund Ihrer schlechten Wirtschafts- und Finanzpolitik
gezwungen war, Diskontsatz und Zinsen anzuheben? Ist Ihnen das unbekannt?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5307
Herr Kollege, ich muß eigentlich zurückfragen: Wollen Sie bestreiten, daß es einen Lücke-Plan gab, der diese Situation geschaffen hat?
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich fortfahren,
sonst verspäten wir uns.
— Aber er will unbedingt noch etwas fragen.
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?
Ja, aber ich will weiterkommen. Ich habe Ihnen noch einiges zu erzählen, und deshalb bitte ich, diese Fragen auf meine Zeit anzurechnen.
Herr Kollege, bei Ihnen wird wie bei allen anderen Rednern verfahren.
Herr Kollege Schäfer, ist Ihnen nicht bekannt, daß gerade im Jahre 1966 die seit 1950 höchste Zahl von fertiggestellten Wohnungen zu verzeichnen war, nämlich 630 000?
Soll ich Ihnen jetzt eine Erklärung dafür geben, wie sich die Konjunktur von 1964/65 im Jahre 1966 ausgewirkt hat? Das kann ich ja tun.
Ich komme zu dem zurück, was Herr Kollege Wörner hier vorgetragen hat. Wenn die Situation so wäre, wie der Herr Kollege Wörner sie darstellt,
wäre es ja eigentlich eine enorme Chance für die Opposition, sich hier in diesem Hause mit einem Alternativprogramm deutlich zu profilieren,
auf allen Gebieten sehr deutlich zu machen, wie ihre politische Konzeption ist. Aber ich habe — ich mag mich täuschen, und doch glaube ich, ich täusche mich nicht — im Laufe des letzten Jahres hier in diesem Hause nicht eine Debatte erlebt, in der die Opposition bei irgendeinem Gesetz um die Durchsetzung ihrer Konzeption gekämpft hätte.
— Sagen Sie mir einen Gesetzentwurf, um dessen
Durchsetzung Sie hier im Plenum gekämpft hätten!
Sie werden keinen nennen können. Vielleicht das
Landwirtschaftsgesetz; das haben Sie bei uns abgeschrieben und wollten dann anhängen. So war es.
— Ich muß den Gedanken jetzt zu Ende führen.
— Sie dürfen fragen.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Verständnis. Es ist das Recht des Redners, einen Gedanken zu Ende zu führen und dann erst Zwischenfragen zuzulassen.
Was haben Sie denn z. B. auf dem Gebiete der Haushaltspolitik beigetragen? Ich habe vor mir liegen die Drucksache VI/1154 - sie ist jetzt noch nicht einmal alt — vom 22. September. Darin haben Sie noch Vorstellungen zum Eventualhaushalt entwickelt. Sie halten heute nichts mehr davon aufrecht.
Sie haben am 20. Januar hier einen Antrag begründet, Herr Kolleg e Althammer, von dem Sie selber wußten, daß es ein rein propagandistischer Antrag mit keinerlei rechtlichen Möglichkeiten ist.
- Es wird für uns durchaus interessant sein, wenn Sie darauf zurückkommen. — Was haben Sie zur Konjunkturpolitik beigetragen, Herr Stoltenberg? — Inflationsgerede! Was haben Sie an konkreten Vorschlägen gemacht?
— Bitte? — Sie werden es ja nachher vortragen können. Was haben Sie an konkreten Vorschlägen gemacht? — Ich sehe eine Drucksache VI/ 1025 zur Konjunkturpolitik. Ich meine, Sie werden sich nicht sehr gern an sie erinnern und nicht sehr gern auf sie zurückkommen.
— Bitte schön, Herr Althammer!
Herr Kollege Schäfer, ich wollte Sie fragen, ob Ihnen unsere Alternativvorschläge immer nur dann einfallen, wenn es darum geht, was sie gekostet haben.
In der Tat! Bei der Haushaltsdebatte ja.
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5308 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ott?
Bitte schön!
Herr Kollege Schäfer, da Sie vorhin sagten, die CDU/CSU habe für ihre Anträge nicht gekämpft, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen unbekannt, daß die Regierungskoalition am 5. Juni vorigen Jahres. neun Tage vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, im Finanzausschuß unseren Antrag abgelehnt hat, statt der Gewährung des Freibetrages das Kindergeld zu erhöhen, und daß Sie dann am 19. Juni vorigen Jahres, fünf Tage nach den Wahlen, Ihren Antrag selbst zurückgezogen haben?
Herr Kollege, ich freue mich, daß Sie das vortragen. Sie bestätigen damit das, was ich sagte, daß Sie nämlich hier im Plenum des Bundestages in keinem Fall um die Durchsetzung Ihrer Auffassung gekämpft haben.
— Bitte, Herr Leicht!
Herr Kollege Dr. Schäfer, wären Sie so freundlich, nicht zu apodiktisch zu sprechen! Können Sie sich noch daran erinnern, daß für den Gesetzentwurf über die Erhöhung des Altersgeldes für Landwirte hier sehr stark gekämpft worden ist und daß Sie es waren, die den Entwurf abgelehnt haben?
Ich werde das nachprüfen. Aber allein die Tatsache, daß Sie nur einen Gesetzentwurf zu nennen in der Lage sind, reicht, glaube ich, noch nicht aus.
Meine Damen und Herren, die Opposition hat die Rolle, die sie zu spielen hat, noch nicht gelernt. Für die Opposition gilt ungefähr das, was der „Industrie-Kurier" vor einem Jahr geschrieben hat, auch heute:Im Bereich der Sozial- und Gesellschaftspolitik vor allem, soweit sie finanzielle Konsequenzen hat, zeigt sich die CDU/CSU in ihrer Oppositionsrolle noch unsicher. Sie hat die Chance nicht gesehen und ergriffen, als die Partei der wirtschaftlichen Stabilität und finanziellen Solidität ein eigenes Profil und eine echte Alternativhaltung gegenüber der Regierung der Koalition von SPD und FDP zu gewinnen.
Ich werde Ihnen vorzutragen haben, daß es Ihnen offensichtlich auch in Zukunft schwerfällt, es sei denn, Sie schaffen es, aus dieser heterogenen Zusammensetzung eine Fraktion mit einem politischen Programm zu machen.
Denn ein politisches Programm haben Sie jetzt mühsam in Düsseldorf beschlossen. Darauf werde ich aber noch zurückkommen.
— Sie wären froh, wenn Sie schon eine Praxis hätten.Meine Damen und Herren, Herr Strauß ist heute freundlicherweise wieder einmal hier. Das gibt mir Anlaß, hier einmal einige Dinge anzusprechen.
Es ist erstens nicht ohne Interesse, daß die Fragen meines Kollegen Porzner vorhin in dieser Weise gestellt werden mußten und so beantwortet wurden.
Es macht uns Sorge, wenn wir beobachten, daß sich die Herren Kiesinger und Barzel auf dem CSU - Parteitag bemühen, den Beifall einer weit rechts stehenden — ich drück mich sehr höflich aus — CSU zu finden,
und wenn diese weit nach rechts tendierende CSU
— Sie sagen „Rechtskartell; ich habe es noch nicht gesagt
sich mit Leuten wie Herrn Zoglmann befreundet und wenn Gespräche über die Gründung einer Auffangorganisation geführt werden.
— Nein, da hat er diese Ideen nicht gehabt.
Herr Kollege Strauß, Sie wissen sehr genau,
daß Sie eine gefährliche Gratwanderung machen, hart am Rande des Rechtsradikalen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5309
Dr. Schäfer
und daß Sie mit der Position, die Sie hier in diesem Hause und in dieser Unionsfraktion haben — —
— Es freut mich, daß Sie selber einsehen, daß das Quatsch ist, was Sie probieren.
Herr Strauß, dann ist also noch nicht alles verdorben. Wir haben dann noch Hoffnung, daß Sie es auch noch einsehen.
Sie versuchen natürlich, auch auf die CDU Einfluß zu nehmen. Es gab auf dem Parteitag ja eine ganz interessante Kontroverse in dieser Hinsicht. Die „Frankfurter Allgemeine" schreibt: „Die CSU will auf den Parteitag Einfluß nehmen." Ich habe das, was Herr Stücklen sagte, einmal nachgelesen. Er hat es klug ausgedrückt, so daß man es nachher auch anders formulieren kann. Herr Stücklen ist eben ein geschickter Mann.
Herr Strauß, was Sie und Ihre Gruppe aber in letzter Zeit durch die Einbringung von Kleinen Anfragen an Gesinnung dokumentieren, ist erschütternd aufschlußreich.
— Es ist Ihr gutes Recht, Kleine Anfragen einzubringen. Ich will Ihnen gleich einige nennen.
— Warum erregt Sie das so, Herr Wohlrabe? Weil Sie der einzige Rabe sind, der in einer Anfrage von der CSU mit aufgeführt ist?
Anscheinend fühlen Sie sich, was Ihre Kleine Anfrage über Kroaten angeht, doch nicht wohl.
Es ist schon sehr merkwürdig, Herr Strauß. So etwas sollten eine Partei oder eine Fraktion oder Abgeordnete nicht tun: sich ein Stück Papier anjubeln lassen und damit Verdächtigungen aussprechen und in die Welt setzen und so eine Bewegung schaffen - -
- Herr Leicht, Sie werden meine Sorge teilen, wenn Sie es durchlesen. Sie haben es noch nicht gelesen.Natürlich wissen Sie ganz genau, daß die Dinge nicht so sind. Natürlich wissen Sie ganz genau, wie die Antwort der Regierung ausfallen muß. Aber das ist weniger interessant. Das Entscheidende ist, daß Sie auf diese Weise die öffentliche Debatte brunnenvergiftend beeinflussen.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Thadden?
Nein, ich will die Dinge hintereinander aufführen; das ist so interessant.
Meine Damen und Herren von der CDU, vielleicht haben Sie es noch gar nicht gemerkt: Diese Methode, z. B. die Verteilung von parteipolitischer Literatur in Bundesbehörden — —
— Lesen Sie doch einmal nach, wie Sie formulieren! Sie müssen schlicht und einfach die Antwort des Herrn Bundesfinanzministers hinnehmen:
Von dem von zwei Hamburger Historikern zusammengestellten Sammelband habe ich persönlich Exemplare erworben und an Personen verschenkt, von denen ich annahm, daß sie daran Interesse hätten.
Nun lesen Sie einmal Ihre Formulierungen nach, mit denen Sie insgeheim die Meinung in die Öffentlichkeit bringen wollen: diese sozialdemokratischen Minister machen mit Steuergeldern Parteipropaganda. Das steht hier drin.
— Fein, endlich mal was Neues von Herrn Haase! - Herr Strauß, bleiben Sie da, es ist so interessant!
Sib reden z. B. auch von der „Untätigkeit der Frankfurter Polizei". Dabei wissen Sie ganz genau, daß die Bundesregierung gar nicht zuständig ist. Nein, hier kommt es Ihnen darauf an, Unruhe zu stiften und mit Ihrer Methode das Klima zu beeinflussen. Ich möchte Sie ernsthaft warnen, in dieser Richtung fortzufahren!
Herr Kollege, der Herr Abgeordnete Schäfer ist bereit, Ihre Frage zu beantworten.
Herr Kollege Schäfer, nachdem Sie die ganze CSU in die Nähe des Rechtsradikalismus gerückt haben,
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5310 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Freiherr von und zu Guttenbergfrage ich Sie, ob Sie sich damit nicht der Helferschaft gegenüber jenen Gruppen in Bonn schuldig gemacht haben,
die gegen Strauß und mich als „Neonazis" ein sogenanntes „Tribunal" veranstaltet haben, bei welchem KPD-Leute, DKP-Leute, Jusos, SHB und Gewerkschaftler zusammengearbeitet haben.
Wäre es nicht besser, Herr Schäfer, wenn Sie sich bemühten, dafür zu sorgen, daß hier in diesem Hause die demokratische Qualität keines einzigen Abgeordneten angezweifelt wird?
Herr von Guttenberg, genau diese Art zu fragen - - Herr von Guttenberg, hören Sie jetzt bitte zu!
Herr Abgeordneter Arndt, begeben Sie sich bitte auf Ihren Platz!
Herr von Guttenberg, wahrscheinlich ist es Ihnen gar nicht aufgefallen, daß genau diese Art der Fragestellung, die Sie eben benutzt haben, das ist, was uns Sorge macht!
- Herr Strauß bestätigt, daß mein Verdacht begründet ist.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wienand?
Bitte sehr!
Herr Kollege Dr. Schäfer, sind Sie bereit, dem Herrn Kollegen zu Guttenberg zu bestätigen, daß ich bereits in der vorigen Woche dem Fraktionsvorsitzenden der CDU, Herrn Dr. Barzel, eine Darstellung gegeben habe, aus der einwandfrei hervorgeht, daß die Jungsozialisten daran nicht beteiligt waren, sondern einige Namen von Jungsozialisten mißbraucht worden sind?
Herr Kollege Wienand, genau das ist der Punkt hier, und da sind wir uns doch wohl einig. Auf der anderen Seite verstehe ich auch wieder Ihre Sorge.
— Entschuldigen Sie, jetzt rede ich über die CDU, und da habe ich Ihnen einiges zu sagen.
— Das dürfen Sie nachher darstellen.
— Da haben wir keine Sorge. Unsere Jugend macht uns keine Sorge.
— Nein, nein, meine Damen und Herren! Das sage ich als Hochschulprofessor. Die ist lebendig und die wird richtig!
Herr Abgeordneter Dr. Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Schäfer, macht es Ihnen keine Sorge, wenn der Landesvorsitzende der Jungsozialisten und einer der Spitzenkandidaten zur schleswig-holsteinischen Landtagswahl, Herr Kuhlwein, mehrfach erklärt hat, daß ihm Kommunisten auf Grund der gemeinsamen marxistischen Grundlage eindeutig näher stehen als die Junge Union?
Herr Kollege Stoltenberg, ich vermute, daß Sie sich bemühen, richtig zu zitieren. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die gesamte Rede schicken könnten. Denn bekanntlich sind herausgerissene Zitate immer mißverständlich. So war es sicher nicht.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten von Thadden?
Nein, Herr Präsident. Ich muß den nächsten Gedanken ausführen; der ist mir so wichtig.Von besonderem Interesse ist die Stellung der sogenannten Sozialausschüsse in dieser Fraktion. Herr Kollege Katzer, wenn ich mir so vorstelle, wie Sie im Bundestagswahlkampf durch das Land gezogen sind, per „wir" sprachen — und jeder mußte meinen, daß Sie und Ihre Freunde für die CDU sprachen --, und wenn ich mir dann das Ergebnis Ihres Düsseldorfer Parteitags ansehe, dann muß ich sagen: Sie sind in meinen Augen dann ein ehrenwerter Mann, wenn Sie bei der Gelegenheit, die sich hier im Hause ergeben wird, für diese Ihre Auffassung einstehen werden.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5311
Dr. Schäfer
Ich will Ihnen dazu einiges vortragen. Es ist sehr interessant, die Rede des Herrn Dregger nachzulesen. Herr Dregger hat ja einen Antrag gestellt und ihn begründet. Daraus will ich Ihnen wörtlich folgendes vorlesen. Herr Dregger sagte:Hinzu kommt,— neben seinen anderen Argumenten -daß wir damit solchen Personen ein beispielloses Machtkartell in die Hand spielen würden, die sich zum großen Teil als unsere politischen Gegner betrachten.
Es geht ihm also nicht um die Gesellschaftspolitik.Würde die Mehrheit der Gewerkschaftsführer von uns, von der CDU/CSU, gestellt oder stünden sie wenigstens, wie etwa die amerikanischen Gewerkschafter,- ein interessanter Vergleich!fest auf dem Boden der marktwirtschaftlichen Ordnung,— immer schön unterjubeln!dann fiele es vielleicht leichter, sich über die zuvor genannten Bedenken hinwegzusetzen.Und nachher:Wie kommen wir eigentlich dazu, diesen Leuten eine derartige Machtposition zu verschaffen?Meine Damen und Herren, es kommt noch deutlicher. Im „Spiegel" gab es dann ein Interview
von Ihrem Kollegen Blüm. Er sagte wörtlich — ich lese vor —:Dieser Parteitag ist in der Tat den Empfehlungen der Unternehmer gefolgt. Das ist ein Signal. Nun muß sich die CDU, die Volkspartei sein will, mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie sei eine Unternehmerpartei.Er sagt nachher:Das ist ein Mitbestimmungshandel nach der Art türkischer Teppichhändler.
Meine Damen und Herren, das läßt noch hoffen.Aber unser Kollege Rohde hat in einem Artikel die Sache bestens zusammengefaßt, und er macht es dabei folgendermaßen deutlich:
Die Sozialausschüsse der CDU haben auf diesem Parteitag Stunden der Wahrheit erlebt. Sie sind so schwach abgezogen, wie sie gekommen sind. Der Parteitag hat ihre Position nicht verändert, sondern durch die Beschlußfassungen definiert. Die Mehrheitsposition, die die Arbeitnehmer in der industriellen Gesellschaft darstellen, kamauf dem CDU-Parteitag nur in Minderheitsmeinungen zu Wort. Das ist übrigens eine Lehre dafür, was passieren kann, wenn die allgemeinen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, die im Leben der Arbeitnehmer und in ihren Ansprüchen an die Gesellschaft ihren Ausdruck finden, zu einem innerparteilichen Flügel reduziert werden.- Herr Schmücker freut sich. Das ist klar, HerrSchmücker, an Ihrer Stelle würde ich es auch tun.
Dann geht die grundlegende Orientierung an einem der wichtigsten Sachverhalte vorbei, nämlich daß die Industriegesellschaft heute weitgehend eine Arbeitnehmergesellschaft ist.
Herr Abgeordneter Professor Dr. Schäfer, ich wollte Ihnen nur sagen, es liegt noch eine Meldung zu einer Zwischenfrage des Abg. Baier vor.
Ich stimme für die paritätische Mitbestimmung, die unser Parteitag beschlossen hat.
Die erste Zwischenfrage war die des Abg. Baier .
Herr Kollege Dr. Schäfer, darf ich Sie fragen, ob Sie auch über die Politik dieser Regierung sprechen werden, da wir heute nicht über den Haushalt der Opposition, sondern den Haushalt der Regierung zu beschließen haben.
Herr Kollege Baier, da haben Sie mich tatsächlich wieder bestätigt; denn Sie legen nichts vor, keine Ideen, keine Gesetzentwürfe, überhaupt nichts. Mit Ausnahme einer B-11-Stelle haben Sie nichts vorgelegt. Über gar nichts können wir beschließen; das ist das Resultat, das Sie vorzulegen haben.
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht?
Um zur Aussprache über die Regierungspolitik zurückzukehren, erlaube ich mir die Frage: Herr Kollege Schäfer, können Sie uns einen Termin nennen, zu dem die Bundesregierung oder die sozialdemokratische Fraktion das Gesetz
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5312 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Leichtüber die Mitbestimmung diesem Hause vorlegen wird?
Herr Kollege Leicht, jetzt haben Sie sich sehr unpräzise ausgedrückt. Ich will Ihnen nachhelfen, damit es präzise wird. Wir haben ja den Gesetzentwurf über die Mitbestimmung bereits durch das Betriebsverfassungsgesetz.
— Es ist in der Regierungserklärung ganz klar gesagt. Sie haben doch die Hoffnung, wie Herr Wörner sagt, daß wir das alles durchführen. Wir haben nicht nur die Hoffnung, wir haben die Gewißheit, daß wir das tun, was dort steht.
In der Regierungserklärung ist ganz klar gesagt, daß die paritätische Mitbestimmung in dieser Legislaturperiode wohl nicht geregelt wird.
Unser Parteitagsbeschluß und die sozialdemokratische Meinung dazu sind unverändert.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu sagen: Wenn Sie glauben, sich jetzt vielleicht ein Feigenblatt beschaffen zu können,
indem Sie beim Betriebsverfassungsgesetz die eine oder andere Bestimmung propagandistisch in einen von Ihnen gestern nicht geschafften Gesetzentwurf hineinbringen — — Wir wollen es Ihnen nicht schwer machen. Wir werden keine Fristeinreden erheben, so daß Sie das nächste Woche noch behandeln können. Die Chancen sind also immer noch gegeben, daß Sie wenigstens auf diesem Gebiet etwas schaffen. Aber damit schaffen Sie sich kein Feigenblatt.
Es ist offensichtlich geworden, was Kundige schon lange wußten. Dieser Arbeitnehmerflügel innerhalb der CDU, wie er sich zu nennen beliebt, ist nur eine Deklaration, eine kleine Minderheit, die dem Unternehmerflügel die notwendige Mehrheit einbringen soll, ohne eine Gesellschafts- und Sozialpolitik in der notwendigen Prägung zu machen.
Sie waren nicht hilfreich, Herr Barzel. Herr Kiesinger, lesen Sie zur Außenpolitik nach. Ich habe die ganze Rede des Herrn Kiesinger, die er letzte Woche hier gehalten hat, noch einmal gelesen.
— Ich will Ihnen gleich sagen, warum ich sie zweimal gelesen habe. Ich habe sie zweimal gelesen,
weil ich mich ganz genau daran erinnere, daß Herr
Dr. Kiesinger hier aus einer Rede des Herrn Bundeskanzlers aus dem Jahre 1963 zitiert hat. Der Herr Bundeskanzler hat sich dazu bekannt und hat wie ein vernünftiger und ehrlicher Politiker auch gesagt, daß er heute die und die Meinung vertritt. Im Protokoll finde ich davon nichts, daß Herr Kiesinger das gesagt hat. Nun habe ich die Hoffnung, daß er selber merkt, daß das doch kein Beitrag zur Politik ist, sondern daß das eigentlich nur dazu angetan ist, einen amtierenden Bundeskanzler sozusagen unglaubwürdig zu machen, gar nichts anderes.
Lesen Sie nach, was Herr Barzel — ich habe Sie im Fernsehen gesehen — auf Ihrem Parteitag gesagt hat! Es gibt Leute, die Sie einen „Trittbrettfahrer" nennen.
Zu dem, was Sie aus Warschau zurückgebracht und was Sie dazu erklärt haben, gibt es in der Zwischenzeit sehr interessante offizielle Erklärungen.
Es ist ein merkwürdiges Spiel,
das Sie sich auf dem Gebiet der Außenpolitik leisten zu können glauben. Sie sind nicht hilfreich, Sie sind störend.
Nun, was haben Sie eingebracht? Sie haben Gesetzentwürfe abgeschrieben.
Sie haben sie teils direkt abgeschrieben, teils haben Sie sie sich über dunkle Kanäle besorgt und hier eingebracht. Das haben wir doch erlebt, meine Damen und Herren, daß Sie sich sozusagen mit fremden Federn geschmückt haben. Aber die Aufgaben einer Opposition, deren Erfüllung eine funktionsfähige Regierung erwarten kann
und zu denen gehört, daß sie Alternativen vorlegt, daß sie hilfreich ist, haben Sie in diesem Jahr in keinem Punkt erfüllt.
Meine Damen und Herren, entsprechend den interfraktionellen Vereinbarungen im Ältestenrat treten wir in die Mittagspause ein.
Ich unterbreche die Sitzung bis 15 Uhr.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5313
Präsident von HasselWir fahren in der allgemeinen Aussprache zum Einzelplan 04, dem Einzelplan des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes fort. Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sicherlich nicht zum erstenmal in dieser Legislaturperiode hat die Aussprache heute vormittag für manche innerhalb und außerhalb dieses Hauses die, wenn ich es so formulieren darf, Gespenster von Weimar beschworen. Ich glaube, diese Feststellung nötigt zugleich dazu, etwas darüber zu sagen, woran das liegt, daß wir uns in dieser Legislaturperiode zunehmend in einer solchen Situation, in einer solchen Konfrontation, in einer solchen Polarisierung befinden, wie das heute vormittag hier auch zum Ausdruck gekommen und demonstriert worden ist. Ich meine, es liegt schlicht und einfach daran, daß die CDU/CSU immer noch nicht in der Lage ist, ihre Rolle in diesem Staat so zu begreifen, wie sie ist, nämlich als die Rolle einer Partei und nicht einer Staatspartei.
Sie haben sich eben einfach noch nicht damit abgefunden, daß es auch möglich ist, ohne Sie zu regieren, und ich gehe sogar so weit, daß ich manchem von Ihnen dabei subjektiv guten Glauben zubillige,
einfach aus Gründen — warten Sie es erst ganz ab,
Herr Kiep — der Erziehung und der Gewöhnung an
die Macht, was sicherlich dafür sprechen würde, daß
das, was man im Herbst 1969 als Machtwechsel bezeichnet hat und was ein normaler Regierungswechsel war, für diesen Staat besser früher gekommen wäre.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stark?
Herr Kollege Kirst, können Sie diese Konfrontation vielleicht darauf zurückführen, daß der Fraktionsvorsitzende der größten Regierungsfraktion hier von wenigen Monaten gesagt hat: „Ich brauche keine Opposition", daß derselbe Mann uns „Volksverdummer" und „Volksverhetzer" genannt hat, daß dies der Stil auch führender Leute, auch des Bundeskanzlers, in der Art ist, wie sie hier mit der Opposition umgehen?
Ich nehme an, Herr Kollege, daß ich in meinen Ausführungen noch auf Ihre Frage gekommen wäre bzw. auf das, was Sie auf diese Frage geantwortet haben wollen. Ich würde Ihnen empfehlen, dann einmal eine genaue Chronologie der Entwicklung seit dem 28. oder 29. September 1969 aufzustellen.
Dann werden Sie genau wissen, wo Ursache und Wirkung sind.
Das Schlimme ist ja nur, daß Sie diesen notwendigen Prozeß der Bewußtseinsbildung über Ihre Rolle in diesem Staat — hinzu kommt noch einiges an Positionskämpfen um die Führung — auf dem Rücken der Allgemeinheit und des Staates auszutragen versuchen; denn, Herr Kollege, um da an Ihre Frage anzuknüpfen: vor all dem, was Sie hier zu Recht oder zu Unrecht vorzuwerfen haben, hat gestanden, daß Sie, Ihre Partei und Ihnen nahestehende publizistische Kräfte, diese Regierung, noch bevor sie ihren Amtseid geleistet hatte, dem Verdacht ausgesetzt haben, für dieses Land Ausverkauf und Inflation zu bedeuten. Damit hat es doch angefangen! Das wollen wir einmal festhalten.
Das ist nur eine Fleißarbeit, das im einzelnen zu belegen.Ich habe Ihnen schon im Herbst gesagt: Sie können hier und draußen im Lande nicht mit dem Holzhammer und dem Dreschflegel herumgehen, aber selbst immer nur mit Glacéhandschuhen angefaßt werden wollen.
Wenn Sie es mit einem Beispiel nicht begreifen, will ich es mit einem anderen sagen: Man sollte nicht auf der einen Seite mit der Plumpheit eines Elefanten agieren und auf der anderen Seite die Empfindlichkeit einer Primadonna zeigen. Man kann es sogar so ausdrücken — vielleicht liegt das Ihnen am nächsten —: Sie sollten nicht von uns verlangen, daß wir uns an jenes Bibelwort vom Wangenstreich halten.Sicherlich, diese Konfrontation, diese Polarisierung mit all ihren Gefahren, die wir, glaube ich, genauso sehen, wie sie, das möchte ich jedenfalls hoffen, von Ihnen zum Teil gesehen werden — es wäre sicher eine Aufgabe der Besonnenen in allen Parteien und Fraktionen, darüber einmal nachzudenken —, stellt uns vielleicht vor. die nachträgliche Alternative, die aber vorbei ist, ob in der Tat eine solche Konfrontation um den Preis einer unvollendet gebliebenen Demokratie in diesem Staat hätte vermieden werden können. Denn es ist wiederholt gesagt worden, daß diese Demokratie ihre Bewährungsprobe erst abgelegt haben wird, wenn das, was anderswo zur Selbstverständlichkeit einer Demokratie gehört, praktiziert worden ist, nämlich der Regierungswechsel.
Ich persönlich würde es begrüßen, wenn es möglich wäre, hier wieder vom Degen zum Florett zurückzukehren und sozusagen die Auseinandersetzung auf tatsächlich vorhandene sachliche Meinungsunterschiede zu konzentrieren, statt daß wir uns dauernd glob alen Verdächtigungen ausgesetzt sehen.Voraussetzung für einen neuen Beginn wäre aber, daß diese schlimmen Worte, mit denen Sie hier und noch stärker draußen hausieren gehen, die Worte vom Ausverkauf und von der Inflation — gestern
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5314 Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Kirstmachte Herr Stoltenberg wieder den Zwischenruf mit der Inflationspolitik —, vom Tisch kommen.
Meine Damen und Herren, sicherlich legt es die Beratung des Etats eines Bundeskanzlers nahe, eine Bilanz der Regierungspolitik zu ziehen. Aber ich möchte dabei sehr deutlich sagen: Es kann sich im Februar 1971 nur um eine Zwischenbilanz handeln. Denn das ist doch auch einer der Tricks, mit denen Sie hier und im Lande ständig herumarbeiten, daß Sie von dieser Regierung nach 12 oder 15 Monaten die Bilanz verlangen, die vernünftigerweise erst am Ende der Legislaturperiode vorgelegt werden kann.
Sie kommen zum großen Teil doch aus der Wirtschaft. Wer von Ihnen würde denn nach einem Viertel eines Wirtschaftsjahres die Bilanz für das ganze Jahr vorlegen wollen? Für uns ist das Wirtschaftsjahr, wenn Sie so wollen, nun einmal die Legislaturperiode.
Die Bilanz, die wir Ihnen, Herr Wörner, 1973 vorlegen werden — das wissen Sie; deshalb sind Sie so unruhig und so nervös —,
wird sich sehen lassen können. Diese Regierung, diese Koalition wird 1973 ihr Mandat an eine Bevölkerung zurückgeben — und sich um ein neues bewerben; das sage ich, damit Sie aus diesen Formulierungen keine falschen Hoffnungen schöpfen —,
die in größerer innerer und äußerer und sozialer Sicherheit als vorher leben wird. Das ist unsere Überzeugung, dafür arbeiten wir in diesem Haus.
Trotz dieser Einschränkung hinsichtlich der Zwischenbilanz muß ich sagen, meine Damen und Herren, daß sich auch die für diese Regierung zu ziehende Bilanz des Jahres 1970 allein sehen lassen kann. Es ist gesagt worden - ich will es hier im einzelnen nicht wiederholen —, daß noch keine Regierung in ihrem ersten Jahr ein solches Maß an Arbeit und Erfolg aufzuweisen hatte wie diese Regierung.
Selbst der Kollege Wörner hat ja vorhin einige Beispiele dafür genannt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Thadden?
Herr Kollege, würden Sie sich mit mir Sorgen um die größere innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik machen, wenn Sie daran denken, daß ein Mann, dessen Name hauptverantwortlich unter dem Bericht zur Lage der Nation steht, jahrelang führender kommunistischer Parlamentarier in Hessen war und sich später jahrelang drüben aufgehalten hat? Macht Ihnen z. B. so etwas nicht auch Sorge?
Herr Kollege, ich lehne es ab, Fragen dieser Art, persönliche Verunglimpfungen zu beantworten. Ich würde es ja sonst heraufbeschwören, daß von anderen Seiten Fragen über die Vergangenheit anderer in diesem Hause oder sonstwo Agierender gestellt würden.
Das Recht des politischen Irrtums muß ein allseitiges sein, oder man muß es ausschließen.
Ich hatte eben gesagt, daß wir mit der Bilanz des Jahres 1970 zufrieden sein können. Der Kollege Wörner hat vorhin selbst dankenswerterweise einige der verabschiedeten Gesetze genannt.Ich möchte noch etwas anderes sagen und Sie damit vielleicht zum Nachdenken anregen, nicht nur Sie, sondern alle, die nachdenken. Ich habe mir einmal die Frage gestellt, was mir denn persönlich an hervorragenden Leistungen im ersten Regierungsjahr anderer Regierungen in Erinnerung ist. Wenn man diesen Vergleich zieht, dann kann diese Regierung stolz sein. Ein vergleichbares Jahr ist z. B. das Jahr 1950. Woran denke ich und denken vielleicht auch Sie? Das bleibende Ereignis ist der Beginn des Kurses der Wiederaufrüstung und damit — gewollt oder ungewollt — jener Entwicklung in der gesamtdeutschen Frage, vor der wir heute stehen.
1954: die Bereitschaft, das Saargebiet aufzugeben; 1958: die Absicht, Atommacht zu werden — Kollege Strauß ist gerade nicht da -; 1962 betrifft wieder den Kollegen Strauß —: die Spiegel- und StraußAffäre; 1966: der von der CDU selbst inszenierte Zusammenbruch der Regierung Erhard.
Meine Damen und Herren, mit diesen Jahren kann sich das Jahr 1970 dieser Regierung — weiß Gott! — messen.Man muß dabei ja auch nicht so ungeduldig werden, wie Sie es sind. Vieles von dem, was wir uns vorgenommen haben — ich glaube, ich habe es im Herbst schon einmal gesagt —, erfordert ja auch Bestandsaufnahme, und da liegt Ihnen einiges vor: Weißbuch, Bildungsbericht, Verkehrsbericht, Umweltprogramm usw.Hier möchte ich gleich auf ein Argument des Kollegen Wörner eingehen, der es heute morgen so hingestellt hat, als sei diese Regierung drauf und dran, der Bevölkerung weiszumachen, alles, was in diesen Bestandsaufnahmen, in diesen Programmen stehe, könne in den nächsten drei oder vier Jahren verwirklicht werden. Wenn man diese Drucksachen liest, findet man für eine solche Behauptung überhaupt keinen Anhaltspunkt. Es handelt sich eben
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5315
Kirstum Bestandsaufnahmen und zugleich natürlich auch um ein Aufzeigen von Alternativen für dieses Parlament, das ja im übrigen das letzte Wort hat.Die Anträge der Opposition zu diesem Haushalt richten sich insbesondere auf die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung. Ich darf Ihnen sagen, daß wir diese Anträge ablehnen werden.
Wir kennen uns also, Herr Baier. Ich darf Ihnen aber sagen, daß ich diesen Antrag doch zum Anlaß nehmen möchte, auch noch einiges über die Notwendigkeit der Öffentlichkeitsarbeit zu sagen. Wir — jedenfalls die FDP — sind nicht bereit, der Regierung die Möglichkeit der Selbstdarstellung und Selbstverteidigung zu beschneiden — um nichts anderes handelt es sich bei dem Antrag —,
um so weniger auf einem Hintergrund, der doch dadurch gekennzeichnet ist — das sollte vielleicht einmal historisch untersucht werden —, daß noch nie eine Regierung dieses Staates so konzentrischen Angriffen ausgesetzt gewesen ist seitens der Opposition innerhalb und außerhalb dieses Hauses,
die sich von berechtigter sachlicher Kritik und der Darstellung der in einer pluralitstischen Gesellschaft selbstverständlichen Meinungsverschiedenheiten niemand wird die Berechtigung dazu abstreiten, und niemand wird Meinungsverschiedenheiten leugnen wollen — nun steigert von gewollten oder ungewollten Mißverständnissen über Mißtrauen, über Unterstellung, Verleumdung und Verketzerung bis zur Verhetzung. Das ist doch die Tatsache.
Dabei dürfen wir nicht übersehen, daß wir diese Auseinandersetzungen um Dinge führen, die in ihren Zusammenhängen für die große Öffentlichkeit immer komplizierter werden. Unser staatliches und gesellschaftliches Leben wird in seinen Zusammenhängen immer komplizierter, und ich meine, das das uns allen als Agierenden eine erhöhte Verantwortung auferlegt in der Wahl unserer Mittel bei der Auseinandersetzung. Ihre Rede von heute morgen, Herr Wörner, ist eben ein abschreckendes Beispiel der Vereinfachung gewesen.
Wir erwarten von der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung erstens eine sachliche Darstellung der Zusammenhänge
und natürlich der Auffassung der Regierung, zweitens eine Zurückweisung aller falschen Angriffe unddrittens — ich sage das ganz offen — ein gewissesnotwendiges Maß an Selbstdisziplin in den Außerungen; denn — um es so zu formulieren —: wer von Fallenstellern umgeben ist, der sollte sich jeden Schritt überlegen.
So verstanden ist die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung ein Dienst an diesem Staat insgesamt; denn die Demagogie, der wir in den letzten 15 Monaten immer wieder begegnet sind, droht diese Demokratie zu untergraben.
In diesem Zusammenhang ein Wort zum Nachdenken an Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Sie sollten nicht um vielleicht kurzfristiger taktischer Vorteile willen in dieser Form dem Staat, den wir doch gemeinsam tragen, und der Demokratie, die wir gemeinsam bejahen, Schaden zufügen; denn das wird eines Tages auf Sie zurückschlagen.
Wir dürfen dabei als Regierung und Koalition — um das ebenso offen zu sagen — die Wirkung dieses Trommelfeuers nicht unterschätzen.
Ich habe nicht den Eindruck — ich glaube, es war Herr Breidbach, der von Pharisäer sprach —, daß ich irgend etwas Pharisäerhaftes heute oder irgendwann gesagt habe oder hier in Zukunft sagen werde.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer?
Bitte schön!
Herr Kollege Kirst, Sie haben vorhin gesagt, es sei eine schlechte Sache gewesen, daß 1950 der Verteidigungsbeitrag beschlossen worden sei. Halten Sie das nicht für falsch, zumal da Ihre Seite sich jetzt dauernd darauf beruft, daß unsere Ostpolitik durch das NATO-Bündnis gedeckt ist?
Herr Kollege Althammer, ich habe gar nicht davon gesprochen, daß das eine schlechte Sache war. Ich habe einmal aufgeführt, was nach meiner Erinnerung die hervorragenden Ereignisse jeweils erster Regierungsjahre von Ihnen geführter Regierungen gewesen sind. Sie können sich davon im Protokoll genau überzeugen. Ich habe um der Wahrheit willen hinzugefügt, daß damit eine Weichenstellung vollzogen wurde — ich komme auf diesen Punkt gleich noch zurück —, vor deren Ergebnis wir heute stehen.
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5316 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
KirstIch meine also, daß es Aufgabe dieser Informationspolitik ist, wo nötig, in sachlicher Härte zurückzuschlagen und, wo möglich, Mißverständnisse durch geduldige Überzeugungsarbeit auszuräumen. Das allerdings sollten wir auch zu tun versuchen.Ich muß nun, meine Damen und Herren, einiges zu dem sagen, was der Kollege Wörner hier heute morgen von sich gegeben hat. Herr Kollege Wörner, Sie haben, glaube ich, eine Zwischenfrage dahin beantwortet, Sie würden Ihre zunächst sehr pauschalen und globalen Vorwürfe begründen. Ich hatte dazwischengerufen, Sie würden sie behaupten, aber nicht begründen. Ich glaube, wer Sie zu Ende angehört hat, wird meiner Vermutung recht geben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?
Bitte schön!
Herr Kollege Kirst, habe ich Sie recht verstanden?
Wollen Sie mit Ihrer Feststellung der Politik der Partei, der Sie angehören, der Politik, die Sie mit Ministern im Kabinett und durch drei Legislaturperioden hindurch im Parlament mit getragen haben, eine Absage erteilen? Würden Sie das wohl ganz klar machen? Sie sprechen ja als Sprecher der FDP, wenn ich es recht verstehe.
— Nicht so erregen, nicht so erregen!
Verehrte gnädige Frau, ich scheue mich nur nicht, die Konsequenzen hier offen darzulegen, die wir viel früher als Ihre Partei als aus dieser Politik herrührend erkannt haben. Das ist nämlich eine ganz andere Sache.
Und nun bin ich an dem Punkt, bei dem ich auf das von Herrn Wörner Gesagte noch einmal zurückkommen wollte.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?
Vielleicht nach dieser Bemerkung, wenn es dann noch nötig ist.
Bitte sehr!
— Frau Kollegin Kalinke, der Abgeordnete Kirst hat ausdrücklich gesagt: Vielleicht nach der Zwischenbemerkung.
Ja, wenn dann noch der Wunsch besteht!
Was ich sagen wollte — und das trifft ja auch die Frage der Frau Kollegin Kalinke —: Sie haben hier gesprochen, Herr Kollege Wörner, vom Abschied von Illusionen. Und das müssen nun ausgerechnet Sie sagen!
Denn wer hat denn, ,ganz unabhängig davon — diesen Streit wollen wir gar nicht führen —, ob das richtig, notwendig, zwangsläufig oder was immer war, 20 Jahre lang — und wir müssen jetzt mit dieser Illusion fertigwerden — dem deutschen Volk die Illusion vorgemacht, man könne gleichzeitig westliche Integration sowie EWG einerseits und Wiedervereinigung andererseits haben?
Das war eine Politik der Illusion, mit ,der wir heute fertigwerden müssen.
— Das hat mit Vergangenheitsbewältigung gar nichts zu tun.
Sie haben dann natürlich, Herr Kollege Wörner— wie konnte es anders sein —, das Problem der Reformen angesprochen. Ich darf dazu auf einiges verweisen, was ich im September zu diesem Thema gesagt habe und hier nicht wiederholen will. Nur eines möchte ich heute noch einmal deutlich feststellen. Reformen sind nicht nur, nicht immer und nicht überall eine Frage der Finanzen. Ich wiederhole das, unsere Regierungserklärung vom Oktober 1969 enthält eine Fülle von Vorhaben, die wir Reformen nennen und die Reformen sind, die durchgeführt werden und die kein Geld kosten.
— Dieser Vorwurf mußte natürlich kommen; wir werden uns möglicherweise bei der Behandlung des Einzelplans 07 noch über ihn unterhalten.
— Ich würde das in dieser Form nicht als Reform ansehen.
Dies ist ja nur ein kleiner Ausschnitt aus einem viel größeren Gesetzgebungsvorhaben. Aber ich möchte manchmal eigentlich ganz gerne wissen, wie diejenigen, die solche Vorwürfe am lautesten von sich geben, sonst im praktischen Leben zu diesen Dingen stehen.
— Na gut, lieber nicht.Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn. Mittwoch, den 3. Februar 1971 5317KirstWir werden aber auch im finanziellen Bereich das, was in dieser Legislaturperiode an Reformen möglich und nötig ist — wir werden ja im Februar eine fortgeschriebene Finanzplanung bekommen—, durchführen. Aber nicht wir sind diejenigen, die hier immer alles auf einmal wollen. Sehen Sie sich doch einmal die Vorschläge der CDU an, oder hören Sie einmal die Reden der CDU zum Haushaltsplan! Ich sah mich schon im vergangenen Jahr zu der Feststellung veranlaßt, daß die CDU die Theorie der relativen Prioritäten erfunden hat: Priorität hat immer das, wozu gerade der Fachmann spricht. Das führt im Ergebnis dazu, daß Sie überall mehr und — das ist dann Herrn Leichts Geschäft — insgesamt weniger ausgeben wollen.
Herr Kollege Wörner hat gesagt, wir hätten Fortschritt versprochen und Rückschritt gebracht. Diese Behauptung im Detail zu belegen ist er uns schuldig geblieben. Ich will jetzt in diesem Zusammenhang nicht noch einmal auf die wirtschaftspolitischen Fragen eingehen. Herr Kollege Wörner hat aber auch kritisiert, daß die Begehrlichkeiten geweckt werden. Wer hat das denn 20 Jahre lang getan? Das habe ich Ihnen auch schon im vergangenen Jahr gesagt. Wenn man als Abgeordneter die Zuschriften von Verbänden aller Art bekommt — da wird kritisiert, und da wird gefordert, was einfach nicht möglich ist —, kann man sicherlich dieser Regierung nicht den Vorwurf machen, daß hier zuviel verlangt wird. Daß zuviel verlangt wird, kommt ganz woanders her. Sie aber versuchen sich immer dadurch zu salvieren, daß Sie eben entsprechende Anträge stellen, von denen Sie meinen, sie würden hinterher doch nicht angenommen.Es ist von mangelndem Mut zur Unpopularität gesprochen worden. Ich will hier keine außenpolitische Debatte führen, aber wenigstens das Stichwort geben: Die Politik, die wir in diesem Bereich führen, widerspricht dieser Feststellung wohl ganz eklatant.Nun noch eine Nebenbemerkung. Herr Kollege Wörner — das andere ist ja schon durch Zwischenruf abgehandelt worden — hat auch von der Reform des Eherechts gesprochen. Wir wissen, daß hier Entwürfe auf uns zukommen. Aber ich würde bei dieser Gelegenheit ganz gern einmal eines loswerden: Auf diesem Gebiet haben wir ja auch in früheren Zeiten ziemlich abstruse Vorstellungen erlebt. Ich entsinne mich noch, daß Sie — zum erstenmal im Vollgefühl der absoluten Mehrheit — in Ihren Reihen Leute hatten, die die obligatorische Zivilehe wieder abschaffen wollten. Das sollten wir bei dieser Gelegenheit auch nicht ganz vergessen.
Nun hat der Kollege Wörner heute einen gefährlichen Satz gesprochen, der auch zu der bekannten Reaktion geführt hat. Lassen Sie mich dazu einiges sehr deutlich sagen. Er hat gesagt, daß das Bewußtsein — dieser Satz ist noch nicht schlimm, wohl aber das, was er davor sagte — für die Überlegenheit unseres Systems schwindet. Er hat dabei diesemKanzler, dieser Regierung und dieser Koalition zumindest den indirekten Vorwurf gemacht, sie würden nicht mehr Unmenschlichkeit Unmenschlichkeit, Unfreiheit Unfreiheit und Diktatur Diktatur nennen.
Das war der Vorwurf, mit dem Sie auch draußen im Lande auf primitivste Art und Weise hausieren gehen.
Zunächst einmal — um noch zurückzuschalten; das war ein Satz vorher —: Die Überwindung des Systems, in dem wir leben, ist nicht Absicht dieser Regierung. Das können Sie in der Regierungserklärung nachlesen. Die gegenteiligen Behauptungen, die Sie daran knüpfen, werden auch durch ständige Wiederholungen nicht wahrer.
— Wir reden jetzt erst einmal über Ihre Rede.
Ich will Ihnen etwas sagen: Die FDP wird sich nicht übertreffen lassen in der Verteidigung — und dafür gibt es ja wohl Beweise, die manchmal auch Ihnen sehr unangenehm gewesen sind —
von Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie. Aber — das sage ich mit derselben Deutlichkeit — dieses Bewußtsein der Überlegenheit unseres Systems darf nicht nur nach einer Seite hin orientiert sein. Wir — ich glaube, ich kann das für die gesamte Regierungskoalition sagen —
gehören weder zu denen, die links schielen und rechts blind sind, noch zu denen, die rechts schielen und links blind sind.
Meine Damen und Herren, vor einem muß man in diesem Zusammenhang allerdings warnen — ich hoffe, daß wir uns darin einig sind; ich würde das gelegentlich auch von Ihnen gern einmal hören, denn nicht alles, was wir in diesem Zusammenhang in den letzten 20 Jahren erlebt haben, spricht dafür, daß wir uns darin einig sind —: Die Abwesenheit von Kommunismus allein bedeutet weder Menschlichkeit noch Freiheit noch Domokratie. Dazu gehört mehr.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zum Verhältnis der Parteien in dieser Koalition zueinander machen. Gelegentlich — auch heute morgen wieder in einem anderen Zusammenhang — werden hier Versuche gemacht, entweder Mißtrauen zu säen oder den einen als Bremser und den anderen als irgend etwas anderes hinzustellen. Ich glaube, wir
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5318 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Kirstsind uns auf beiden Seiten dieser Koalition einig — das ist die Voraussetzung dieser Koalition —, daß eine Koalition keine Fusion, sondern ein zeitliches Bündnis zweier bestehenbleibender Parteien ist. Man muß sich die unterschiedliche Rolle von Partei und Fraktion vergegenwärtigen. Die Parteien sind das Beständige, um nicht zu sagen, das Ewige einer politischen Gemeinschaft. Die Fraktionen haben in bestimmten Situationen bestimmte Aufgaben für diese Parteien zu erfüllen, sei es in Regierung, sei es in Koalition. Insofern handelt es sich mehr um eine Koalition der Fraktionen. Von daher gesehen ist diese Koalition auch völlig unempfindlich gegen irgendwelche Störungen, die gelegentlich aus dieser oder jener Partei kommen könnten.
Natürlich gefällt uns nicht immer alles, was die Sozialdemokraten in ihrer Partei sagen. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Das ändert nichts an der Harmonie in dieser Koalition. Darüber sind wir uns einig.
Deshalb können Sie auch weder uns noch unseren Anhängern die Koalition mit Ihren ständigen Hinweisen auf die Jungsozialisten verleiden. In dieser Hinsicht brauchen Sie keine Hoffnung zu haben.
All das hindert diese Koalition und die Parteien nicht an selbständiger Arbeit und Entwicklung. Wir werden 1973 mit dem, was wir hier erreicht haben — ich habe vorhin am Anfang meiner Ausführungen davon gesprochen —, und mit unseren Vorstellungen für die Zukunft vor den Wähler treten. So stellt sich das normale Verhältnis von Parteien in einer Demokratie dar.
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch sagen. Unabhängig davon, wie immer sich in ferneren Zeiten die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause gestalten werden: schon nach 15 Monaten gemeinsamer, loyaler, partnerschaftlicher Arbeit sind wir in der Koalition wohl übereinstimmend der Auffassung, daß hier für spätere Zeiten ein Kapital an Vertrauen, Respekt und Achtung geschaffen worden ist, von dem wir noch sehr lange zehren werden,
während — um diesen Unterschied aufzuzeigen -
die Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Ihnen doch das Gefühl aufkommen läßt, aus einer tödlichen Umklammerung entronnen zu sein.
Wir gehen wohl nicht ganz fehl in der Annahme, daß Ihre Gefühle uns gegenüber die eines Jägers gegenüber der entgangenen Beute sind.
Meine Damen und Herren, die Abstimmung über diesen Etat ist eine Abstimmung über die Regierungspolitik. Die FDP hat diese Regierung — nebenbei bemerkt: sonst gäbe es sie ja nicht — nicht zuletzt aus staatspolitischen Gründen gewollt. Sie vertraut dieser Regierung und ihrem Kanzler, und sie stimmt diesem Etat zu.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich mich heute früh habe provozieren lassen. Aber wer dieser Regierung und mir selbst Feigheit in Fragen von Freiheit und Unfreiheit, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Demokratie und Diktatur vorwirft, darf nicht erwarten, daß ich mich hier im einzelnen mit ihm auseinandersetze.
Der Redner der CDU/CSU hat heute früh gesagt, es gehe auch um die Würde des Menschen. — Jawohl, meine Würde verbietet es mir, auf diese Art von Verdächtigungen einzugehen.
Den Hinweis auf illusionslose Wahrhaftigkeit greife ich allerdings gern auf
und empfehle, daß manche Redner der Union diesen Hinweis auf illusionslose Wahrhaftigkeit in ihren Reden zur Außenpolitik auch beherzigen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freihherr von Guttenberg?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herrn von Guttenberg gestatte ich die Zwischenfrage gerne; ansonsten möchte ich im Zusammenhang sprechen.
Herr Bundeskanzler, würden Sie bitte auch ein Wort darüber sagen, daß der Redner Ihrer Partei heute früh mit seinem Vorwurf der Rechtsradikalität der Partei, der ich angehöre, der Würde der Menschen in diesem Hause, die sich zu dieser Partei zählen, und der Würde von 56% der Bewohner eines großen Bundeslandes, die diese Partei gewählt haben, nahegetreten ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrter Herr von Guttenberg, ich bin ganz sicher, daß sich Ihre Äuße-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5319
Bundeskanzler Brandtrung bzw. Ihre Frage nicht auf das stützt, was das Protokoll ausweist.
Herr Kollege Schäfer hat nicht eine Partei in ihrer Gesamtheit qualifiziert,
sondern hat von Erscheinungen gesprochen, die an den Rand des Rechtsradikalismus führen.
Ich möchte noch eine Bemerkung hinzufügen; damit knüpfe ich an heute früh an. Ich bin auch für den Mut zu unpopulären Entscheidungen. Aber damit muß man auch im Kleinen anfangen. Beim Konjunkturzuschlag im letzten Sommer
haben Sie diesen Mut nicht aufgebracht.
Wir haben dafür den Buckel hingehalten — auch in den Betrieben —, und das werden wir wieder und weiter tun, wenn es von der Sache her erforderlich ist.
„Unpopuläre Entscheidungen" — ich sage das im Anschluß an die gestrige Debatte —, wenn man das ernst nimmt, dann darf man auch den Bauern draußen nichts anderes und mehr versprechen, als wofür man hier im Bundestag einzutreten bereit ist.
Im übrigen geht es heute nicht um unsere Diskussion mit jungen Sozialdemokraten oder um die Diskussion unserer Koalitionspartner mit Jungdemokraten, auch nicht um Ihre mit Teilen der Jungen Union oder des RCDS.
Es geht auch nicht um Nachhilfeunterricht in Fragen des Godesberger Programms. Darüber könnte ich mich ohnehin nicht als Bundeskanzler äußern; denn da könnte ich für meine Kollegen aus der FDP nicht mitsprechen.Aber daß meine Partei andere Ziele verfolgt -ausgehend von dem, wie ich weiterhin überzeugt bin, gemeinsamen Boden unseres Grundgesetzes -als die konservative Mehrheit der Union, das ist doch wohl kein Geheimnis. Das weiß doch jeder im Lande.
Und — ohne das zu vertiefen — wir wollen auchnicht nur, daß diese Ordnung stabiler wird, wie eshier gesagt wurde, wir wollen, daß sie gerechter wird,
daß Freiheit, soziale Sicherheit und die Möglichkeit der vollen menschlichen Entfaltung mehr Menschen zugute kommen können, als es heute der Fall ist.
Ich meine übrigens, das deutsche Volk hat weithin genug von rein verbalen Kraftakten
— hören Sie bitte mal genau zu! —, die häufig für nichts anderes dienen oder dienen sollen, als die hohe moralische Gesinnung derjenigen zu dokumentieren, die sie vollführen. Das deutsche Volk, jedenfalls weithin, will eine Politik, die dazu führt, daß mehr Menschlichkeit, mehr Gerechtigkeit und mehr Demokratie in Europa, in der Welt und dort, wo es noch nötig ist, auch in Deutschland verwirklicht wird.
Da streiten wir nun miteinander. Wir bemühen uns — das können Sie uns nicht abstreiten — gemeinsam mit unseren Kollegen von der FDP, eine solche Politik realistisch, d. h. ausgehend von den Verhältnissen, wie sie sind, zu führen, und können uns eben nicht damit begnügen, von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Demokratie nur zu reden.
Meine Damen und Herren, wer ist denn für mehr Demokratie in diesem Lande eingetreten, Sie oder wir?
Das gilt auch für die Einstellung zur Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik.
Nur fügen wir hinzu: Wer diese Ordnung lebendig und leistungsfähig und fortschrittlich erhalten will, der muß sich an das Werk der Reformen machen, der darf das Ziel der sozialen Demokratie nicht aus dem Auge verlieren. Das ist in der Terminologie vieler meiner Parteifreunde — das ist wieder der Unterschied zu der im übrigen gut zusammenarbeitenden Partnerschaft —, das ist in der Vorstellung geschichtlich, geistesgeschichtlich, aber auch aktuell politisch das, was die einen soziale Demokratie und die anderen den demokratischen, freiheitlichen Sozialismus nennen. Wir Sozialdemokraten — wenn ich das in dieser Eigenschaft sagen darf — werden doch diesem Ziel nicht abschwören, nur weil konservative Hitzköpfe darauf bauen, daß es Menschen in
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Bundeskanzler Brandtunserem Lande gibt, die Sozialismus und Kommunismus in einen Topf werfen
und denen außerdem noch von manchen eingeredet wird, unsere Außenpolitik habe gesellschaftspolitische Zusammenhänge oder Konsequenzen. Dieser Unsinn wird keinen Bestand haben.
Auf eine Zwischenfrage von vorhin an Herrn Kirst darf ich eingehen. Herr von Thadden, wenn Sie etwas zu einem Herrn zu sagen hatten, der einer Kommission angehört hat, die die Materialien zum Bericht über die Lage im geteilten Deutschland unterbreitete, dann hätten Sie das erstens machen sollen, als dieser Bericht hier in der letzten Woche zur Debatte stand. Zweitens. Das, was Sie hier unterstellen, sind zwar viele Menschen durch „Schlamm am Sonntag" gewöhnt. Aber ich muß Ihnen jetzt einmal folgendes sagen. Sie meinen Herrn Leo Bauer. Dieser Mann hat in den ersten Jahren nach dem Krieg als Mitglied der Kommunistischen Partei dem Hessischen Landtag angehört. Unterhalten Sie sich übrigens einmal mit den wenigen noch überlebenden CDU-Kollegen aus dem Hessischen Landtag über die Art des Kontakts, die es damals sogar in dieser Richtung gegeben hat. — Dieser Mann hat unter Hitler gesessen, dieser Mann ist unter Stalin zum Tode verurteilt worden und hat fünf Jahre abgesessen, davon drei Jahre in Einzelhaft in Sibirien. Deshalb sage ich zu dieser Zwischenfrage: Niedriger hängen!
Im übrigen geht es hier um etwas anderes. Es geht um diese Regierung, ihr Programm, diesen Haushalt und seine Beratung in diesem Bundestag, in diesem Bundestag mit allen seinen Spannungen und doch auch mit seinen unbestreitbar gemeinsamen Pflichten. Gestern hat es zu meiner großen Befriedigung allgemeine Zustimmung in diesem Hohen Hause gegeben, als gesagt wurde, die große Mehrheit der Bevölkerung wisse, daß wir durch eine Politik, die soziale Sicherheit mehrt, die Modernisierung fördert und dadurch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft steigert, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und zugleich ihre innere Stabilität gewährleisten können. Es hat auch kaum Widerspruch dagegen gegeben, daß das Jahr 1971 die Grundlagen für die Verwirklichung des wirtschaftlichen Gleichgewichts schaffen soll.Auf diesem Hintergrund ist auch der Haushalt 1971 zu sehen. Eine ökonomische Beurteilung des Haushalts kann nicht nur aus einer Addition der einzelnen Posten und ihrer Deckung bestehen. Vielmehr entscheidet die Haushaltsstruktur darüber, ob ein Haushalt langfristig stabilitätsgerecht ist oder nicht, d. h. ob er genügend öffentliche Investitionen zuläßt, um auf die Dauer Wachstum und Vollbeschäftigung sicherzustellen. Der Hundert-MilliardenHaushalt 1971 gewährleistet im Rahmen der Maglichkeiten die Erfüllung der Doppelfunktion des Haushalts, einerseits dem Stabilisierungsauftrag gerecht zu werden und andererseits für einen angemessenen Ausbau der Infrastruktur zu sorgen, um die Finanzierung der inneren Reformen zu ermöglichen. Dieser doppelte Auftrag zwingt dazu, von der ausschließlich an fiskalischen Bedürfnissen orientierten Finanzpolitik zu einer aufgabenorientierten Finanzpolitik überzugehen,
mit deren Hilfe die Ziele der Regierungspolitik in die praktische Arbeit umgesetzt werden können. Ein rein fiskalisch gesehenes, gewissermaßen ideales Haushaltsvolumen nützt uns wenig, wenn damit die Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens nicht gefördert und die Mangelerscheinungen mit dem Blick auf das Jahr 1980 bereits vorprogrammiert werden.Prioritäten, meine Herren! Auch ich weiß, wie schwierig es ist, solche zu setzen. Natürlich hören Sie, wenn ich das, ohne meinen Kabinettskollegen zu nahe zu treten, sagen darf, am Kabinettstisch immer nur von Prioritäten, denn jeder bemüht sich, die besondere Bedeutung seines Aufgabengebiets herauszustellen. Das ist ganz natürlich; sonst käme der einzelne unter den Schlitten. Aber Sie müssen doch zugeben, daß wir im Rahmen der Möglichkeiten die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft um über 40 % gesteigert haben, und zwar in dem, wie ich zugebe, bescheidenen Rahmen, in dem der Bund daran mitwirkt. Wir haben zweitens die Ausgaben für den Wohnungsbau stark und für das Verkehrswesen überdurchschnittlich gesteigert.Inhalt und Ausmaß der Politik sind in unserer Regierungserklärung und in den seitdem unterbreiteten Berichten und Plänen der Bundesregierung dargelegt, in jenen Berichten und Plänen, die im Laufe des Jahres 1970 dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgelegt worden sind. Der Gesundheitsbericht kommt jetzt noch dazu. Wir hatten zwar gesagt, er solle auch noch 1970 kommen; aber das Parlament war so eingedeckt, daß es der Regierung vermutlich nicht böse war, diesen Bericht etwas später zu bekommen. Der Vermögenspolitische Bericht kommt wegen der zugegebenermaßen schwierigen Materie in Laufe des ersten Halbjahres 1971.Nun würde ich nicht, wie das gelegentlich geschieht und wie es anscheinend auch hier geschehen ist, diese Berichte der Bundesregierung abqualifizieren oder gar diskreditieren wollen. Meine Damen und Herren, das, was wir im Jahre 1970 und, wie gesagt, zum Teil hineinwirkend in das Jahr 1971 unternommen haben, bedeutet doch nicht nur, daß man dadurch die eigene Arbeit einer gewissen zusätzlichen Disziplin unterwirft, es bedeutet nicht nur eine zusätzliche Orientierung dieses Hohen Hauses, sondern es bedeutet auch, daß man die jeweils interessierte Öffentlichkeit in die Überlegungen einbezieht, in Überlegungen, die jeweils über ein paar Jahre hinausreichen.Eines allerdings darf uns auch die Opposition nicht unterstellen: daß wir uns vorgenommen oder irgendwo und irgendwann angekündigt hätten, ge-
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Bundeskanzler Brandtwissermaßen eine Totalplanung auf lange Sicht betreiben zu wollen. Wir dürfen doch nicht von einem Extrem ins andere fallen, von der früheren grundsätzlichen Ablehnung jeder Planung zu der Absicht, jetzt, möglichst noch bis hinter das Komma berechnet, von 1970 bis 1980 vorzuplanen. Auf Grund der nach der Regierungsbildung eingeleiteten Maßnahmen war es schon im Finanzplan des Bundes für den Zeitraum von 1970 bis 1974 möglich, Reformprogramm und Finanzplanung eng aufeinander abzustimmen. Wenn die Finanzplanung entsprechend den gesetzlichen Vorschriften im Laufe dieses Sommers fortgeschrieben wird, wird sie wiederum die gleiche Verzahnung mit dem Reformprogramm aufweisen.Ich will hier keine Bilanz ziehen. Das würde aus der Sicht der Regierung eine positive Bilanz werden. Wir werden Gelegenheit haben — ich habe es gestern gesagt, und ich darf es heute unterstreichen —, das bei der Beantwortung der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zum Arbeitsprogramm der Bundesregierung und den innenpolitischen Vorhaben bis 1973 in wenigen Wochen zu tun. Auch die Opposition, meine Damen und Herren, wird sich früher oder später dazu bequemen müssen, zuzugeben, daß getreu der Ankündigung der Regierungserklärung der Inhalt und die Finanzierung der bis zum Ende der 6. Legislaturperiode ins Auge gefaßten inneren Reformen offen dargelegt worden sind.Man hat nun versucht, gestern noch, das zu mißdeuten — um nicht in der modernen Sprache der Politologen „umfunktionieren" zu sagen —, das umzudeuten, was ich rückschauend zur Regierungserklärung vom Oktober 1969 gesagt habe. Ich habe nichts anderes gesagt — und ich wiederhole es —, als daß ich heute manches präziser, konkreter fassen würde. Das heißt, ich möchte und wir werden wegkommen von den vagen allgemeinen Formulierungen, die nicht wir erfunden haben — wir waren gegenüber manchem aus früheren Jahren schon sehr viel konkreter —, wegkommen von jenen allgemeinen Formulierungen, an denen es in Regierungserklärungen früherer Jahre ganz gewiß nicht gefehlt hat,
hin zu möglichst straffen Formulierungen und quantifizierten Feststellungen dort, wo die Dinge quantifizierbar sind. Denn dann wird es — —
— „Warum haben Sie das nicht getan?" Weil es z. B. überhaupt keinen Apparat dafür gab, verehrter Herr Zwischenrufer. Die Voraussetzungen dafür müssen doch erst geschaffen werden. Die Große Koalition hatte erste schwache Schritte in dieser Richtung getan. Dann wird der Streit natürlich noch interessanter. Dann kommt er noch mehr weg vom Iedologischen dort, wo die Ideologie keinen Nutzen hat, und hin zum harten Ringen um quantifizierbare Programme für einen jeweils vorausschaubaren Zeitraum.Aber niemand kann doch bestreiten, daß bereits eine große Zahl von Reformvorhaben auf den Weg gebracht worden ist. Herr Kollege Schäfer, den ich insoweit nicht wiederholen will, hat das heute früh in bezug auf den Sozialbereich, den Bereich der sozialen Sicherheit, doch exemplifiziert. Millionen Menschen draußen im Land wissen, was das bedeutet, was in einem Jahr zu ihren Gunsten in Kraft gesetzt werden konnte.Und natürlich bin ich nicht überheblich genug, um nicht einzugestehen, daß wir hier in vierlei Hinsicht haben anknüpfen müssen und können an das, was vorher war.
Vieles auf diesem Gebiet - geben Sie es mal offenzu — ist teils mit ganz großen Mehrheiten und teils auch durch Initiativen der damaligen Opposition mit auf den Weg gekommen.
Aber streiten wir doch jetzt nicht! Ich sage doch, nicht nur mit dem Blick auf den Kollegen Katzer, den ich im Augenblick nicht sehe: Natürlich haben wir anknüpfen können an vieles, was vorher geleistet worden war.Aber es ist doch auch nicht so, daß wir im Jahre 1970 einfach nur planlos hier Kriegsopferversorgung, dort ein Zweites, dort ein Drittes gemacht hätten, sondern wer sich das anschaut, auch auf Grund des Sozialberichts, der weiß, daß es sich jeweils um ein Stückchen eines Mosaiks handelt und daß wir miteinander daran arbeiten müssen, daß daraus das Gesamtmosaik wird, das von verstärkter sozialer Sicherheit in dieser Bundesrepublik Deutschland handelt.
Im vorigen Jahr hat die Opposition bei gleicher Gelegenheit — es war der 20. Februar 1970 — vorgebracht: Reformen, die diesen Namen verdienten, setzten zweierlei voraus, nämlich erstens Konzeptionen und zweitens den Mut, Prioritäten zu setzen. Die Opposition hat sich damals vor einem Jahr noch stärker als heute in der Aussprache zu meinem Haushalt insbesondere auf die Bildungspolitik berufen. Sie können doch nicht bestreiten, daß wir die erbetenen Konzeptionen unterbreitet haben, und auch nicht, daß wir im Rahmen des uns jetzt Möglichen begonnen haben, Prioritäten zu setzen. Lassen Sie mich, ohne daß das zu breit wird, fünf Beispiele nennen.Sie können doch nicht den Bericht zur Bildungspolitik bagatellisieren, der erstmals eine bis in die achtziger Jahre reichende abgestimmte gesamtstaatliche Zielvorstellung für die Entwicklung des Bildungswesens und der Bildungspolitik auf den Tisch gebracht hat. Das kann doch keiner bestreiten.
Zweitens können Sie doch auch nicht bestreiten, daß die Bundesregierung in Übereinstimmung mit
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Bundeskanzler Brandtden Ländern im Juni 1970 ein Instrument geschaffen hat, das eine langfristige Bildungsplanung im Bundesstaat überhaupt erst möglich macht. Die BundLänder-Kommission für Bildungsplanung wird entsprechend den Vereinbarungen, die ich mit den Länderchefs getroffen habe, noch in diesem Sommer einen langfristigen Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget, das darauf aufbaut, vorlegen, und ich hoffe, daß hieraus ein Musterbeispiel für einen modern verstandenen Föderalismus wird.
Ich sage das auch im Hinblick auf meiner Meinung nach abwegige Befürchtungen oder Äußerungen des Herrn Bayerischen Ministerpräsidenten dieser Tage. Ich bejahe die bundesstaatliche Ordnung aus Überzeugung, weil ich eine moderne föderative Ordnung auch für ein Mittel der Stärkung der Demokratie halte.
Das ist kein Opportunismus, das ist Sache freiheitlich-demokratischer Überzeugung. Das Problem ist doch aber, diese föderative Ordnung funktionsfähiger zu machen — und damit wir uns richtig verstehen, gerade auch die Kollegen aus Bayern —, auch dadurch funktionsfähiger zu machen, daß die Kompetenzverteilungen in beiden Richtungen neu überprüft werden, nicht nur in der Richtung von den Ländern zum Bund, sondern auch in der anderen Richtung.
Drittens. Ungeachtet ihrer begrenzten Kompetenz hat die Bundesregierung mit dem Haushalt 1971 und erst recht mit der mittelfristigen Finanzplanung bis 1974 den Rang unterstrichen, den sie Bildung und Wissenschaft beimißt. Die Bundesregierung setzt diese bis 1974 auf 10 Milliarden DM steigenden Mittel mit besonderem Nachdruck im Hochschulbau ein, um gemeinsam mit den Ländern möglichst bald den Numerus clausus abzubauen.Verehrte Kollegen, nun sagt mancher, der den Bildungsbericht oder andere Ausarbeitungen aus dem Wissenschaftsrat oder von anderer kompetenter Seite nimmt, da stünden für 1980 und 1985 phantastische Bedarfsziffern drin. Übersehen Sie doch bitte zweierlei nicht: Erstens ist es nun einmal notwendig, unser Volk heute nach und nach gedanklich auf das einzustellen, was, wie es so schön heißt, auf uns zukommt. Zweitens dürfen wir die sachliche Debatte, die sich dann daraus ergibt, nicht unnötig dadurch belasten, daß wir unsere Mitbürger erschrecken, indem wir ihnen nicht jenen Optimismus einflößen, zu dem wir doch berechtigt sind, wenn wir an die vor uns liegende Entfaltung unserer volkswirtschaftlichen Möglichkeiten denken.
Man darf nicht so tun, als ob der heutige Kuchen einfach neu aufzuteilen wäre. Das ist schwierig. Zwar muß auch da ein bißchen geschehen, aber das meiste wird sich aus einer gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umorientierung ergeben müssen.Viertens. Einen besonderen Akzent in der mittelfristigen Finanzplanung hat die Ausbildungsförderung erfahren. Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Ausbildungsförderungsgesetzes verabschiedet. Der Bundestag wird sich damit befassen. Außerdem soll durch ein Graduierten-Förderungsgesetz, dessen Entwurf demnächst ebenfalls den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt werden wird, der wissenschaftliche Nachwuchs eine gezielte Förderung erhalten. Auch hierfür stehen Mittel bereit.Fünftens. Für den Hochschulbereich - daß dasSchwierigkeiten bereiten würde, wußte jeder, Herr Leussink so gut wie ich — hat die Bundesregierung ihren Entwurf eines Hochschulrahmengesetzes eingebracht. Das war kein Tag zu früh. Wenn man sich früher auf den Weg begeben hätte, hätten wir manche der Schwierigkeiten, um die wir heute noch ringen müssen — ich sage dazu gleich noch ein Wort —, früher ausgetragen. Das Gesetz will Demokratisierung und Leistungsfähigkeit miteinander verbinden. Es will die Studienreform fördern und eine Lehrkörperstruktur schaffen, die in Forschung und Lehre den Aufgaben einer Gesamthochschule als der uns sinnvoll erscheinenden Alternative zum heutigen System angemessen ist.Meine Damen und Herren, natürlich wissen wir, da gibt es Schwierigkeiten. Die Stellungnahmen des Bundesrats liegen vor. Sicher werden sie auch in der parlamentarischen Beratung dieses Hohen Hauses zu erneuter intensiver Diskussion führen. Dabei müssen Mißverständnisse ausgeräumt werden. Zweifellos sind auch Ergänzungen und Klärungen angebracht. Aber die Verantwortung, die sich aus der dem Bund 1969 erwachsenen Kompetenz zum Erlaß eines Hochschulrahmengesetzes ergibt, nimmt uns niemand ab, weder dem Hohen Hause noch uns als Bundesregierung.Meine Damen und Herren, ich habe diese Punkte genannt, um zu zeigen, daß diejenigen unrecht haben, die sagen, die Konzeptionen würden nicht entwickelt. Die Beispiele mögen zeigen — ich nenne dieses Gebiet für andere mit, beispielhaft; ich sage es noch einmal, nachdem von der sozialen Sicherheit schon die Rede war —, wie die Bundesregierung ihre Politik anlegt. Aber ich füge hinzu, dieser Staat bedarf für alle lebenswichtigen Bereiche — so auch für das Bildungswesen — einer langfristigen Perspektive. Und die Menschen erwarten von uns, daß wir innerhalb dieser Perspektive gezielte Maßnahmen treffen, um die Strukturen nachhaltig zu erneuern, Inhalte mit neuem Leben zu erfüllen und fortlaufend an der Erhöhung der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit zu arbeiten. Das, wovon ich spreche, sind Teilstücke einer großen Reform. Sie zu verwirklichen bedarf es der Unterstützung dieses Hauses und der Menschen im Lande — der Lehrer, der Schüler, der Lehrlinge, der Studenten und der Professoren.Es ist übrigens nicht ganz richtig, nein, es ist überhaupt nicht richtig, in diesem Zusammenhang davon zu sprechen, daß unsere junge Generation generell staatsverdrossen sei. Das ist meinen Beobachtungen nach nicht so.
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Bundeskanzler BrandtDies trifft — und das gilt nicht nur für uns, sondern für fast alle Staaten auf dieser Welt — immer nur für einen kleinen Teil der jungen Menschen zu. Die meisten, zumal die Besseren von diesen, die verdrossen sind, sind es ja außerdem noch deshalb, weil sie sich, wenn auch häufig auf eine Art, die zu verstehen uns Alteren schwer fällt, eine bessere, eine gerechtere Welt wünschen
mit mehr Frieden, mit mehr Gerechtigkeit, mit mehr Fortschritt. Wer dies nicht versteht, wer dem nicht nachgeht, wer sich dabei nicht auch sehr unbequemen Diskussionen stellt, der wird der Aufgabe eines Politikers in dieser Zeit nicht gerecht.
Außerdem habe ich den Eindruck, daß die Unruhe der jungen Generation, von der Sie sprechen, schon einmal stärker war. Dieser Regierung ist es gelungen, was auch immer Sie sonst an ihr auszusetzen haben mögen, manchen, nicht nur Jüngeren, sondern auch manchen sonst aus den geistigen Schichten unseres Volkes stärker an den demokratischen Staat heranzuführen und in seine Arbeit einzubeziehen.
Ich habe von der Bildung gesprochen. Nehmen Sie die Reformen im Bereich der Bundeswehr. Heute mittag hätte ich, wenn mich nicht diese Debatte davon abgehalten hätte, den Bericht der Wehrstrukturkommission entgegennehmen sollen; Herr Kollege Scheel hat es in meiner Vertretung getan. Nehmen Sie das Städtebauförderungsgesetz, nehmen Sie das Betriebsverfassungsgesetz, über das wir demnächst miteinander zu reden haben werden, nehmen Sie unser Sofortprogramm und die noch in den nächsten Monaten zu unterbreitenden langfristigen Planungen zum besseren Umweltschutz sowie eine Anzahl weiterer Maßnahmen zur gesundheitlichen Sicherung. Es ist in Wirklichkeit viel mehr sowohl geleistet als auch auf den Weg gebracht worden, als es viele unserer eigenen Freunde für möglich gehalten haben. So sieht es aus.
Dabei erstaunt mich — ich sage es noch einmal — immer wieder, daß die Kollegen der Opposition neuerdings nach mehr Planung rufen. Planung war für viele von Ihnen jahrelang ein Schreckgespenst. Es ist gut, daß wir uns insoweit näherkommen.
Aber wer viele Jahre hindurch notwendige Vorhaben versäumt hat, wer im Grunde seines Herzens gar nicht planen wollte, sondern auch jetzt noch am liebsten alles mehr oder weniger dem freien Spiel der Kräfte überlassen möchte, der kann jetzt nicht dem gegenüber, wovon ich spreche, als Ankläger und Richter zu gleicher Zeit auftreten wollen.
Zunächst gilt es, erst einmal zu begreifen, daß es in der Reformpolitik doch überhaupt nicht um irgendein allumfassendes Patentrezept geht. Dasist doch Quatsch. Es geht um viele kleine, mittlere oder große gesellschaftliche Regelungen, die über die Lebenschancen, den Freiheitsspielraum und die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen, über Einkommen und Einkommensverteilung entscheiden.
Was in unserem Lande produziert und was verbraucht wird, wieviel Mitspracherecht und wieviel Freiheit der einzelne hat, ob er in Sicherheit oder in Angst vor der Zukunft lebt, das wird nicht von einem Patentrezept, sondern von einer Fülle von Maßnahmen beeinflußt. Die Gesellschaft verändern heißt also in sachlicher und zeitlicher Abstimmung bestehende Einzelregelungen ändern; denn nur dadurch kann die Lage der Menschen verbessert werden. Arbeit an den inneren Reformen ist in hohem Maße Arbeit am Detail.Aber nun sage ich auch noch einmal — weil es hier eine notwendige Verklammerung zwischen der gestrigen Debatte und der heutigen gibt —; in der Industriegesellschaft ist Stabilität nur im Wandel und ist Sicherheit nur in der Dynamik zu gewinnen und zu erhalten.
Deshalb gibt es gesellschaftliche Stabilität nur durch Reform. Wer nicht positiv verändert, verschlechtert objektiv die Lage der Menschen. Das ist der Punkt, an dem sich die Geister weithin scheiden; das ist der Unterschied zwischen dem, worum wir uns bemühen, und jenen in Ihren Reihen, die in überwiegend konservativem Denken beharren.
— Das ist kein Schimpfwort, sondern eine ehrenwerte politische Richtung
und ein notwendiges Gegengewicht in manchen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen.Die von mir geführte Bundesregierung hat ihre Arbeit unter die Leitlinie des Reformierens in dem soeben beschriebenen Sinne gestellt. Wir wissen heute noch besser als im Oktober 1969, wie notwendig und wie richtig das ist. Wir nehmen, uns nicht mehr vor, als wir bei solider Finanzierung leisten können.
Daß die Verwirklichung dieser Reformen im Einklang mit unseren volkswirtschaftlichen und finanzpolitischen Möglichkeiten stehen muß, das ist nun wirklich eine Selbstverständlichkeit, und daraus folgt, daß es innerhalb eines Reformprogramms auch immer wieder Veränderungen, gegebenenfalls auch immer wieder einmal Abstriche
geben kann oder sogar geben muß. Schwerpunktbildung kann doch nicht heißen — auch nicht für
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Bundeskanzler Brandtdiejenigen, die so sehr nach Prioritäten rufen —, daß nun auf einmal auf allen anderen Gebieten nichts mehr geschehen darf. Reformpolitik hat, richtig verstanden, nur dann ihren Sinn, wenn man sozusagen auf breiter Front vorrückt, wobei das Tempo in dem einen oder anderen Bereich verschieden sein kann, aber kein Bereich völlig ausgespart bleiben darf. Das ist der Kurs, dem wir folgen. Was dazu hier vor einem Jahr — jedenfalls rhetorisch durchaus eindrucksvoll — dargelegt wurde, ist weithin durch die Tatsachen widerlegt. Was heute — alles andere als eindrucksvoll — gegen uns ins Feld geführt wurde, kann uns nur dazu veranlassen, unsere Politik mit Energie fortzuführen.
Wir fahren in der allgemeinen Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies war wieder eine Intervention des Bundeskanzlers voller großer Worte, voller vieler Absichten, ohne konkrete Mitteilungen, ohne Antworten auf die Fragen des Kollegen Wörner.
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich diese Stunde in der Debatte ausgesucht und haben angekündigt — das ehrt Sie , Sie würden Abstriche von Ihrem Programm vornehmen. Dieses Haus hat einen Anspruch, zu wissen, welche und wo, und nicht nur die vielen neuen Ankündigungen von heute wieder einfach hintereinander zu hören. Wir wollen endlich hören: was ist erstens, was ist zweitens, was ist drittens? Und wo wollen Sie was konkret abstreichen?
Mit dieser Rede, Herr Bundeskanzler, können Sie von den Tatsachen nicht ablenken. Die außenpolitischen Tatsachen haben wir in der vergangenen Woche hier erörtert; ich will sie nicht wiederholen,
— es sei denn, daß es gewünscht wird, Herr Mattick!
Aber ich dachte eigentlich, Herr Mattick, daß es im Interesse der zugespitzten Lage in und um Berlin heute vielleicht besser wäre, diese Frage trotz des sonstigen Ganges dieser Debatte draußen zu halten. Aber Sie können sie gerne haben! Wir können gerne erneut auch darüber sprechen, meine Damen und Herren,
über die Politik geplatzter Erwartungen und nicht eingetretener Versprechungen dieser Regierung auch auf außenpolitischem Gebiet, wenn Sie dies wünschen.
Aber die Fakten, Herr Bundeskanzler, an denen Sie doch nicht vorbeikönnen, besagen, daß wir im Jahre 1970 die höchsten Preissteigerungen seit der Korea-Krise hatten.
— Da lachen Sie, meine Damen und Herren? Das ist sehr interessant. Lachen links bei den Sozialdemokraten, wenn die Opposition die höchsten Preissteigerungen für das Jahr 1970 feststellt!
Tun Sie was dagegen, und lachen Sie nicht darüber! Das ist die Aufgabe der Regierung.
Wir haben im Jahre 1970 — und das bei einer Regierung, die über Reformen zu sprechen die Absicht hat — festgestellt, daß die Preise für Wohngebäude um 16% — um 16%, Herr Wischnewski! — gestiegen sind und daß die Anzahl der fertiggestellten Wohnungen um 9 v. H. zurückgegangen ist.
Das ist nicht Fortschritt, sondern Rückschritt, und das ist nicht Reform, Herr Bundeskanzler, sondern das Gegenteil davon.
Wir halten fest, daß nach einer Untersuchung des Ihnen sicher sehr vertrauten Berliner Instituts für Wirtschaftsforschung die Bundesrepublik von allen Industrieländern mit plus 12,5 % die nach Großbritannien höchste Steigerung der Lohnstückkosten aufweist, — und dies wird uns im Jahre 1971 ökonomisch und hinsichtlich der Arbeitsplätze noch große Sorgen machen. Davon hätten Sie hier heute sprechen sollen, und Sie hätten sagen sollen, wie Sie dies zu ändern gedenken, Herr Bundeskanzler.
Wir haben, meine Damen und Herren, den Notruf der Gemeinden, der Kreise und der Städte über ihre Finanzlage gehört.
Wir haben aus dem Munde des Bundesfinanzministers gehört, wie sich die Steuermindereinnahmen verteilen. Wir hätten gerne gehört, wie es damit konkret sein soll.Herr Bundeskanzler, Ihre Rede hat sich an den Fakten vorbei orientiert. Sie hat gezeigt, daß Sie keine dieser Fragen, die jetzt wirklich aktuell und brennend sind, mit der Ehre Ihrer besonderen Aufmerksamkeit auszeichnen. Dies, glaube ich, spricht für sich selbst.Ich möchte einen anderen Punkt aufnehmen, Herr Bundeskanzler. Sie haben sich — ich glaube, Sie haben sich an das erinnert, was wir in der vergangenen Woche gesagt haben — erneut verwahrt gegen Verwischungen nach links außen. Ich habe dafür Verständnis, und ich sehe den Kampf, in dem
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Dr. BarzelSie sich befinden, in dem sich die Mehrheit Ihrer Parteifreunde befindet, den Kampf gegen links außen und gegen die Jungsozialisten.
Da soll man sich nicht einmischen. Ich will deshalb hier auch nicht, Herr Bundeskanzler, mit den üblichen Zitaten bis zur „Frankfurter Rundschau" kommen, wo Sie selbst sagen, man könne diesen Beschluß Ihres Parteirats in Sachen Kommunismus doch noch revidieren, und natürlich könne man in Studentengremien oder in den Betrieben auch mit Kommunisten zusammenarbeiten. Herr Bundeskanzler, das sind Ihre Sorgen. Nur nehmen Sie eines zur Kenntnis: wir verstehen es, wenn Sie kämpfen gegen links außen — soweit Sie dies tun —, aber, bitte, Herr Bundeskanzler, bremsen Sie dann alle die Kollegen — ich weiß in der Fraktion bei Ihnen den einen oder anderen, und ich schließe Sie selbst davon auch nicht aus —, die den begreiflichen Arger über das miserable Wahlergebnis für die Koalition in Bayern nun zum Anlaß nehmen, die dort seit Jahren siegreiche Partei, die hier mit uns eine Fraktion bildet, zu verteufeln. Das, meine Damen und Herren, sollten Sie unterlassen.
Ich verstehe den anderen Arger, nachdem wir im Wort unserer Wahlaussage zur Mitbestimmung geblieben sind. Wir haben im Wahlkampf den Arbeitnehmern nicht die paritätische Mitbestimmung versprochen wie Sie und hinterher eine Koalition gemacht und gesagt: Was kümmert uns das Wort vonvor der Wahl!
Das haben wir nicht gemacht. Wir haben gesagt: Wir werden Biedenkopf abwarten, und wir haben jetzt einen Parteitagsbeschluß. Sie werden sehen, meine Damen und Herren, daß dieses Haus eine einheitliche Vorlage bekommen wird, nicht nur zur Betriebsverfassung, auch zu dem anderen Teil der Mitbestimmung. Sie werden dann darzutun haben, warum Sie auf der linken Seite des Hauses den Mund vollnehmen, aber dann in der Vorlage hinter unseren Vorschlägen zurückzubleiben die Absicht haben.
Das werden Sie darzutun haben - wie auf demGebiete der Eigentumspolitik. Hören Sie doch auf, draußen durchs Land zu reisen und in diesem Punkte — es gibt viele andere Punkte der Kritik — Kritik zu üben! Kommen Sie her! Stellen Sie Ihre Stimmen zur Verfügung! Stellen Sie sich mindestens zur Verfügung für die Diskussion eines Weges, der besser ist als der unseres Vorschlags zum Beteiligungslohn! Wir sind doch dazu bereit. Aber Besseres haben Sie nicht vorgeschlagen. Dann laufen Sie aber nicht durchs Land, und kritisieren Sie nicht die Eigentumsverteilung in diesem Lande! Herr Bundeskanzler, dazu hätten wir gerne ein Wort von Ihnen in dieser Debatte gehört.
Was die dritte Priorität, die der Bildung, betrifft, so haben Sie gesehen: Unser Hochschulgesetzentwurf liegt vor. Sie haben sich den guten Argumenten der Opposition nicht versagen können.
— Unseren Antrag, Herr Schäfer, auf Verfassungsergänzung hinsichtlich der Ausdehnung der Bundeskompetenz haben Sie in der ersten Lesung abgelehnt und haben dann in den Ausschüssen einräumen müssen, daß es anders nicht geht, daß unsere Vorlage richtig und nötig war. So haben Sie, meine Damen und Herren, in vielen Bereichen — und das ist richtig so — uns die geistige Führung überlassen.
— Das können Sie z. B. auf dem Gebiete der Bildungspolitik nicht bestreiten.
Herr Abgeordneter Dr. Barzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling?
Herr Präsident, ich möchte gern in Ruhe die paar Worte sagen, die zu sagen ich die Absicht hatte.
Ich möchte in aller Ruhe zum Stil des Herrn Bundeskanzlers
ein Wort sagen. Sehen Sie einmal, Herr Kollege Mattick, es war ein Zufall, daß einer meiner Kollegen kam, der während des Anfangs der Debatte die Fotokopie einer Zeitungsannonce fand, für die sicher der Herr Bundeskanzler — wegen der Bombastik dieser Anzeige — nicht selber die Verantwortung trägt. Es handelt sich um eine Annonce in der Zeitschrift der IG Metall. Es fing mit dem Satz an: „Nie hatte Deutschland einen solchen Bundeskanzler."
Dann ging er hinaus und war beleidigt. Man hat recht gehabt mit dieser Anzeige: So etwas gab es noch nicht! Das Ertragen der Meinung anderer und das Argumentieren ist nicht dieses Bundeskanzlers stärkste Seite. Das haben wir nun oft genug gesehen.
Ich werde auf den Vorwurf gegen meinen Kollegen Wörner noch zurückkommen.
Immerhin, Herr Bundeskanzler, eines wollen wir Ihnen einräumen. Der in der vergangenen Woche erstattet Bericht zur Lage der Nation war nüchterner, wenngleich er zum Teil die Tatsachen verschwieg, auf die wir großen Wert legen. Heute haben wir nun gehört, daß Sie von den großen Reformen auf dem Wege zu einem „Mosaik" seien. Auch diese Aussage ist wahrscheinlich ein Stück nüchterner. Aber wenn wir doch endlich die Bestandteile dieses Mosaiks kennenlernen dürften, dieses Haus wissen könnte, wo Sie nun welche Abstriche machen und welche Prioritäten Sie setzen wollen, wäre diese Haushaltsdebatte für uns alle sinnvoll.
Dr. Barzel
Nun hat der Bundeskanzler ausgerechnet dem Kollegen Wörner vorgeworfen, er habe das böse Wort „Feigheit" gebraucht. Herr Bundeskanzler, dieses Wort ist Ihnen so nicht gesagt worden. Das Wort ist nicht gefallen. Sie müssen sich aber schon sagen lassen — auch wenn Sie es nicht wollen, werden wir es tun, weil dies die Pflicht der Opposition und die prinzipielle Meinung der CDU/CSU ist, die immerhin für 20 Jahre Reform und Aufbau in diesem Lande steht — —
— Haben Sie in Ihrem Programm vielleicht irgendwelche Punkte von dem Rang der sozialen Marktwirtschaft, der dynamischen Rente, des Familienheims und ähnlichem? Meine Damen und Herren, das haben Sie doch gar nicht zu bieten!
Herr Bundeskanzler, ich wiederhole: Wenn in Ihrer Rede zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland und in den Materialien nicht deutlich und unmißverständlich davon die Rede ist, daß den Menschen im anderen Teil Deutschlands und uns allen gegen unseren Willen die Menschenrechte vorenthalten werden, wenn in den Jubiläumsansprachen zum 100. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches — ich habe das „Bulletin" hier — das Wort von der erzwungenen Spaltung ebensowenig vorkommt wie das Wort der Versagung der Menschenrechte, dann muß Herr Wörner diesen Satz sagen, den er hier gesagt hat.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie sich über schwindendes Vertrauen oder schwindende Glaubwürdigkeit beklagen, dann fragen Sie sich zunächst einmal selbst, wie Sie gegenüber jemandem reagieren würden, der in einen Wahlkampf mit der Plattform, wie sie der Bundestag beschloß, geht: Keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates!, der dann nach den Wahlen sagt: Das drüben ist natürlich ein Staat; es gibt zwei deutsche Staaten!; der uns auf unsere dreimalige Frage nach dem Warum keine Antwort gibt, bis wir von ihm vor einem Jahr in der Debatte eine Antwort mit der Bemerkung, inzwischen hätten Wahlen stattgefunden, bekamen, wobei der Zusatz gemacht wurde, eine völkerrechtliche Anerkennung komme nicht in Frage, und der dann bei der zweiten Begegnung mit Herrn Stoph sagt, auch die völkerrechtliche Anerkennung wolle er nicht ausschließen. Herr Bundeskanzler: An was soll sich jemand eigentlich orientieren, der die Absicht hat, sich nach Ihren Worten zu richten?
Meine Damen und Herren, was den Haushalt betrifft, so möchte ich nur ein Wort an die Adresse des Kollegen Schäfer richten.
Ich möchte in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß es
diese Fraktion war, die jetzt in der Opposition ist,
die die Regierung von dieser Stelle gezwungen hat, alle ausgabewirksamen Anträge zurückzunehmen oder zurückzustellen — das ist am 2. Dezember 1969 hier passiert, und der Bundeskanzler hat dem dann zugestimmt; Herr Kollege Möller ist mein Zeuge — und daß alle unsere Anträge, die bis zu dieser Stunde dem Hause vorgelegen haben, unter dem Vorbehalt des Angebotes einer gemeinsamen Verständigung über das stehen, was finanzpolitisch möglich ist. Das, Herr Schäfer, scheint an Ihnen vorbeigegangen zu sein.
Bezüglich Ihrer Rede, Herr Kollege Schäfer, darf ich dem Hause mitteilen — das werden Sie mir sicherlich erlauben -, daß ich Ihnen über Mittag — da die Arbeit der Bundestagsfraktion der CDU/CSU in den letzten Monaten offensichtlich an Ihnen völlig vorübergegangen ist
— den Rechenschaftsbericht zugeleitet habe, den meine Fraktion gerade auf dem Parteitag der CDU vorgelegt hat. Jetzt haben Sie eine sachliche Unterlage und ein hervorragendes Stichwortverzeichnis für bessere Reden in diesem Hause, möglicherweise für klügere Vorlesungen dort, wo Sie tätig sind, Herr Kollege Schäfer.
Wir hielten es für nötig, das sofort mit wenigen Sätzen auf die Intervention des Bundeskanzlers zu sagen. Andere Kollegen der Fraktion werden die Debatte fortsetzen.
Herr Bundeskanzler, dieses Haus ist durch Ihre Intervention in keiner Weise besser über das informiert worden, was Sie im Jahre 1971 vorhaben. Es ist mehr vernebelt und verschleiert. Neue Absichten sind verkündet worden. Konkrete Maßnahmen und konkrete Antworten auf die Fragen, die uns und die Menschen draußen drücken, haben Sie wieder nicht gegeben.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist keineswegs meine Absicht, eine — wenn ich so sagen darf — vorbereitete Rede zu halten. Ich hatte für einen Augenblick den Eindruck, Herrn Dr. Barzels Rede solle diese Debatte vielleicht wieder auf den Einzelplan 04 lenken. Aber ich habe am Schluß gemerkt, daß ich das falsch verstanden habe.Mir ist klar, daß Sie tasten, abtasten; ich meine nicht aus Unsicherheit, sondern um herauszufinden, wie Sie mit Ihrem innerpolitischen Gegner — das sind wir: die Koalition der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten — fertig werden. Sie haben das erste Jahr hinter sich gebracht. Da hatten Sie
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5327
Wehner- um ein Wort es heute besonders aufmerksamen Herrn Dr. Heck zu gebrauchen; der muß ja für die nächsten Runden wieder Stichworte geben Hoffnungen für Möglichkeiten gehalten. Das kann jedem passieren. Das ist ganz menschlich.
Aber bei Ihnen wurde das zu einer Linie. Dann wird es natürlich fatal, Hoffnungen für Möglichkeiten zu halten, und zwar nicht nur in bezug auf das Schicksal der Regierung, über deren Budget hier geredet wird. Darüber hinaus haben Sie natürlich auch -und das erschwert wieder unsere Lage, weil Sie das auf uns abladen — innerparteilich, sagen wir besser: innerunionlich Hoffnungen und Möglichkeiten, die miteinander verwechselt werden. Das ist klar.
Nun stehen wir im zweiten Jahr. Es ist klar, daß einiges anders werden muß, sowohl bei Ihnen als auch bei uns. Das, was bei uns anders werden muß, hat der Bundeskanzler dankenswerterweise angedeutet.
Wir erwarten noch rationellere Darlegung unserer Politik und noch festeres Durchsetzen dessen, wozu wir — beide Fraktionen — entschlossen sind, die Regierung zu unterstützen, und das, ohne uns von Ihnen über Gebühr irritieren zu lassen.
Aber wir werden es mit dem zu tun bekommen, was wir heute hier als eine Art Auftakt — das ist aber nicht ganz neu; das ist auch schon wieder Aufguß — erleben: Dramatisierung und Konfrontation. Ich bin gespannt, wie wir stehen werden und wie Sie die Sache weiterentwickeln werden, wenn es sich um den nächsten Bundeshaushalt handelt.Sie schießen sich dabei auf den Bundeskanzler ein. Dies ist besonders schlimm - es ist sehr schwer für mich, das so zu sagen, weil ich weiß, daß Sie das lediglich negativ ausnützen —, weil das Sie selbst an Situationen wieder erinnern wird und in Situationen zurückführen wird, in denen in den 50er Jahren, vielleicht manchmal zu pauschal von uns beantwortet, doch mit Recht die Praxis des Rufmordes Ihnen zugeschrieben werden mußte. Das war schlimm. Und heute schießen Sie sich auf den Bundeskanzler ein.
Ich bedaure sehr, daß der Bundeskanzler, wie es heute morgen geschehen ist, das nicht kalt an sich ablaufen läßt und Ihnen zurückgibt, wie Sie es verdienen.
Aber der Bundeskanzler ist genauso ein Individuum wie jeder andere hier im Saal auch.
— Was wollen Sie denn? Ich weiß doch Ihre Fähigkeit, als Chor aufzutreten. Die brauchen Sie nicht heute erneut unter Beweis zu stellen.
Wir werden diesen Bundeskanzler, so wie er ist, verteidigen, koste es, was es wolle.
Herr Dr. Barzel hat einige der Punkte wieder aufgegriffen, die der Herr stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Herr Wörner, nun schon in einem zweiten Anlauf heute hier dargelegt hat. Ich habe meinen Kollegen gesagt: das wird er noch einige Jahre so machen können, er muß dann natürlich einiges modifizieren. Denn die Rede habe ich schon einmal gehört. Es geht mir da wie bei Tucholsky mit dem Lungenhaschee: Hatte ich das schon gegessen, oder soll ich das erst noch essen?
So ging es mir bei dieser Rede. Sie können auch die Debatte von gestern doch nicht heute in nuce wiederholen. Das will keiner.Nun haben Sie, Herr Dr. Barzel, Ihr Verständnis für unsere Sorgen nach Linksaußen ausgedrückt. Ich benütze die Gelegenheit — das trifft sich gerade so gut, hätte mein alter früherer König gesagt, mit der Hundeausstellung —, auf etwas zurückzukommen, was heute morgen hier Ihr Vorredner für die Fraktion im Zusammenhang mit einem mir schon wiederholt zu Ohren gekommenen Ausdruck von dem „klassenpolitischen Durchbruch" zu machen versucht hat. Bei mir zu Hause, in meiner Heimat, die nicht mehr meine sein kann, ist das früher genannt worden: „Dreck unter den Lehm mischen". Das haben Sie auch versucht. Da war es also das Wort vom „klassen-politischen Durchbruch". Ich will hier mit Ihnen nicht über Soziologie reden, weil ich da natürlich kein Fachmann bin und viele von Ihnen auch nicht, und es wäre langweilig, täte man so, als wäre man es.
Ich habe in meiner Diskussionsrede, die in einer Bandaufnahme vorliegt, auf der Bremer Konferenz der Jungsozialisten folgendes gesagt. Zweimal kam da der Ausdruck „klassenpolitisch" vor. Herr Heck, Sie werden das zu würdigen wissen und werden die nächste Formel, die dann gegen mich geschleudert werden kann, bei dieser Gelegenheit versuchen zu schmieden oder zu gießen, je nachdem. Ich habe dort folgendes gesagt: Ich warnte davor, daß man in der innenpolitischen Auseinandersetzung in unserer Bundesrepublik den innenpolitischen Gegner einfach generalisierend als das Schlimmste, was man sich vielleicht denken kann, darstellt und schließlich vielleicht sogar sieht. Ich habe gesagt: die Sozialdemokratische Partei hört überhaupt nicht auf, Sozialdemokratische Partei zu sein. Das muß ich auch Ihnen hier sagen. Denn natürlich sind wir nicht eine Partei mit „C", wenn wir Ihnen das „C" auch, soweit
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5328 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Wehneres einen Anspruch erhebt, streitig machen, weil wir nicht gewollt hatten, daß es in die politische Arena hineingezogen wird. Wir sind Sozialdemokraten.
Im übrigen habe ich damals gesagt: die Sozialdemokratische Partei respektiert, daß es außer ihr andere demokratische Parteien gibt. Und ich bitte euch — das habe ich denen gesagt — um eines.
- Passen Sie doch auf! Sonst entgeht Ihnen, der Sie so klug sind, sogar noch die Pointe, Herr. Was könnten Sie vielleicht daraus machen bei Ihrer Superklugheit, Herr Wohlrabe!
Ich muß mich wiederholen. Ich habe den jungsozialistischen Delegierten gesagt: Ich bitte euch um eines, ja, ich warne manche sogar: Laßt euch nicht durch noch so berechtigten Zorn über Auswüchse — und nicht nur Auswüchse, sondern auch innere Fäulnis — bei anderen demokratischen Parteien, die nach dem Kriege entstanden sind — damals war es die Konjunktur -, hinreißen.
Besser das als faschistische Parteien, sagte ich und wer das erlebt hat, wird diese meine Meinung teilen. — Da haben Sie meine Meinung über die anderen demokratischen Parteien, die in der Sozialdemokratischen Partei vorherrschende Meinung — vorherrschend, nicht weil sie die meine ist, sondern weil ich die vorherrschende Meinung in dieser Frage teile —; und dann hören Sie bitte auf mit Ihren Konstruktionen.Jetzt zum klassenpolitischen Durchbruch.
— Das können Sie haben, wenn Sie so mildtätig sind; vielleicht wegen Ihres C oder weil Sie glauben, Sie können hier noch etwas Besonderes haben. Meine Erklärung, Helmut Schmidt betreffend, liefere ich Ihnen gratis ins Haus, mit Rückporto, damit Sie mir dann Ihre Meinung dazu sagen können.
Wir sind doch hier nicht in einem Zirkus.
Hier ringen wir um das Budget; und Sie glauben, Sie können auf uns herum — irgend etwas machen.
— Ich meine das nicht im Sinne des Junggesellen, der heute morgen gesprochen hat.Nun zu „Klassenpolitik". Ich habe denen, mit denen ich diskutierte, erklärt: Entscheidend ist, daß wir das, was klassenpolitisch ist, auch im Bewußtsein breiter Schichten mit dem zu identifizieren verstehen, was sozialer Ausbau der Demokratie, nämlich des konkreten Staates Bundesrepublik Deutschland, mit dem wir es zu tun haben, ist und was das zugleich — weil ich Innen- und Außenpolitik nicht trennen wollte — für die Rolle bedeutet, die dieser Staat in dem riesigen Unterfangen spielen kann, das noch Jahrzehnte dauern wird: Organisierung des Friedens. — Ich werbe doch nicht um Ihr Verständnis für die Position der Sozialdemokraten. Ich wollte sie Ihnen nur erklären, damit Sie nicht auf Pappkameraden schlagen. Sie sollen auf uns schlagen; das ist die politische Auseinandersetzung. Sie sollen es aber um der Sache willen tun und nicht, weil Sie sich etwas aufgebaut haben, das so nicht stimmt.
Jetzt zitiere ich noch einmal. Ich habe es für eine wichtige Sache gehalten, daß die Sozialdemokratische Partei bei ihrer Wiederbegründung durch Kurt Schumacher gesagt hat, daß jeder in dieser Partei das gleiche und volle Recht zur geistigen Behauptung seiner Persönlichkeit habe, ob er nun seine Zugehörigkeit zu dieser Partei ableite aus — wie er sagte marxistischer Wirtschaftsanalyse oder aus philosophischen und ethischen Postulaten oder aus dem Geist der Bergpredigt. Dann habe ich hinzugefügt: Das ist etwas, was wir halten müssen, das ist etwas, das auch anderen hilft, bestimmte Schreckbilder, bestimmte Zerrbilder abzubauen, die über diese Partei in einem Jahrhundert verbreitet worden sind, die man mehr als die Hälfte eines Jahrhunderts zu einem Staat im Staate verbannt hatte.Ich habe dann gesagt — und nun entschuldigen Sie; das habe ich in einer Diskussion mit den Jungsozialisten gesagt -: Daß manche von den Spießern, an erster Stelle FJS, der große Vorsitzende der CSU,
gehöhnt haben, was das eigentlich für eine Partei sei, die in hundert Jahren ihres Bestehens nur 4 1/2 Jahre Regierung geführt habe. Das ist doch bezeichnend für die Schwierigkeit dieses klassenpolitischen Durchbruchs der auf Gleichberechtigung angewiesenen Menschen zur Gestaltung des Gemeinwesens in einem so entwickelten, kapitalistisch beeinflußten Land. Aber das ist eben unsere Aufgabe.
— Ja, sicher. Entschuldigen Sie einmal, das darf man wohl nicht mehr sagen! Hier geht es doch nicht um Kapitalismus oder Sozialismus an sich usw., hier geht es um Bezeichnungen, die wissenschaftliche Qualität haben, und es geht darum, daß wir nicht über abstrakte, sondern über konkrete Verhältnisse reden.
Und hier haben wir es mit der BundesrepublikDeutschland zu tun, in der es Elemente, Bestand-teile, Ingredienzien solcher, jener und anderer Art
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5329
Wehnergibt, gemischtwirtschaftliche und viele andere. Lassen Sie uns darüber reden, lassen Sie uns darüber streiten, wo es notwendig ist, aber machen Sie es sich bitte nicht zu billig, indem Sie sagen: das alles ist Sozialismus.Das Recht auf Sozialismus läßt sich auch in der Bundesrepublik und im zerrissenen Deutschland derjenige Teil nicht nehmen, der darunter versteht, daß aus der Gleichheit der Rechte auch eine Gleichheit der Chancen werden sollte. Dabei wird der Streit über Sozialismus genauso hart und facettiert sein wie der über Kapitalismus oder andere Dinge, die dazwischenliegen mögen. Wir haben es hier mit dem sozialen Ausbau der demokratischen Ordnung unseres konkreten Staates zu tun, den wir behaupten, den wir verteidigen, den wir wie unseren Augapfel hüten, nämlich als die, nach allem was geschehen ist, bestmögliche Chance, aus gleichen Rechten für die arbeitenden Schichten, die wir nicht abbauen lassen wollen, zu gleichen Chancen für jede Frau und jeden Mann zu kommen, gleichgültig, wo sie geboren sind, wohin es sie vertrieben oder wohin es sie verschlagen hat. Dafür wollen wir kämpfen.
Herr Dr. Barzel, ich verstehe natürlich, daß Sie die Gelegenheit nutzen — das Ergebnis werden wir in der nächsten Woche sehen —, um morgen und auch Anfang nächster Woche mit Ihrer Fraktion, was das Betriebsverfassungsgesetz betrifft, klarzukommen. Es hat sich herumgesprochen, daß es gestern nicht ganz so glatt ging. Das gibt es manchmal bei Fraktionen. Solche Sachen sind Schwergeburten, und sie kommen manchmal auch nur stückweise heraus.
Ich darf Sie aber, wenn es Sie interessiert, auf folgendes hinweisen. In der vorigen Regierung haben zwar die beiden Partner, die die damalige Regierungserklärung entworfen und vertreten haben, erklärt, sie würden ein Mitbestimmungssicherungsgesetz gegen die Aushöhlung der Mitbestimmung dort, wo sie gesetzlich statuiert ist, einbringen; dennoch hat das Kabinett ein solches Gesetz nicht verabschiedet. Wir haben damals nicht gejammert, wir haben auch nicht gehöhnt. Wir mußten Kärrnerarbeit machen, nachdem uns die Herren von der C-Union gesagt hatten, es müsse dann eben von der Fraktion der SPD eingebracht werden. Daraufhin haben wir es so gemacht. Das war Handarbeit.
— Ja, ja, ich weiß noch, wie das war. Wir haben es damals mit knapper Mehrheit, obwohl Sie so stark waren, durchbekommen.
Im übrigen werden wir sehen, wieweit Sie in der nächsten Zeit „biedenkopfen" können und „biedenkopfen" wollen. Versuchen Sie das einmal ein bißchen!
Wir haben nichts zu verbergen. Sie haben in der vorigen Legislaturperiode in bezug auf die Mitbestimmung nichts mitmachen wollen. Unsere Entwürfe zur Unternehmensverfassung, unser Entwurf zur Mitbestimmung, für ein neues Betriebsverfassungs-, ein neues Personalvertretungsgesetz — —
— Ich bitte Sie! Ich verstehe, daß Sie heute ran wollen und mit den Hufen trappeln.
Ich rede von den Entwürfen, und ich schicke sie Ihnen zu.
— Sie haben mehrere Hufe; Sie sind also nicht derjenige, der nur einen Huf hat. Das wollte ich Ihnen nicht unterstellen.
Ich schicke Sie Ihnen gerne zu. Ich habe noch Hefte, in denen alle diese Entwürfe drinstehen.
— Das war 1968, das wissen Sie doch. Damals haben Sie das in den Ausschüssen unter Ihren Gesäßen liegen lassen.
Sie haben kein Wort darüber verloren. Tun Sie aber heute nicht so, als könnten Sie vor Kraft nicht laufen!
Meine Damen und Herren, ich will hier nur noch eine Bemerkung machen, die ich auch an Sie, Herr Dr. Barzel, richte. Sie können doch kein Interesse daran haben — in Wirklichkeit haben Sie auch gar kein Interesse daran —, die bestehenden und kontrovers tätigen demokratischen Parteien und Fraktionen am Grundgesetz zu teilen. Ich unterstelle Ihnen das nicht. Ich sage: Sie können und Sie werden kein Interesse daran haben.
Aber die Pointe Ihrer Rede läuft daraus hinaus. Sie werden — ich kenne Sie; auch Sie sind, wenn es darauf ankommt, nachdenklich in bezug auf manches, was Sie selber gesagt haben — nachgucken, und wir werden nachgucken. Das wird zwar die sachlichen Gegensätze nicht vermindern, aber es wird Sie sicherer machen vor den Schwierigkeiten — am Ende ist es immer eine Schwierigkeit —, Hoffnungen für Möglichkeiten zu halten.Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
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5330 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, wir erleben erstmals beim Haushalt des Bundeskanzlers einen totalen Angriff der Opposition mit Platzpatronen und Schrot,
das letzte nämlich wegen der Streuung.
Meine Damen und Herren, ich hatte gar nicht die Absicht, in diese Debatte einzugreifen. Aber als ich heute morgen den etwas überzogenen selbstsicheren Angriff des Kollegen Wörner erlebte, habe ich mir überlegt, ob Herr Wörner eigentlich weiß oder wenigstens gelegentlich daran denkt, daß diese seine große CDU/CSU-Fraktion einmal im. Besitz der absoluten Mehrheit war und was sie damals im Besitz der absoluten Mehrheit an Reformen angekündigt und nicht durchgeführt hat, teilweise bis zum heutigen Tage nicht durchgeführt hat.
Wer so selbstsicher und so ein bißchen mit dem Schwung der Überheblichkeit argumentiert, wie das heute hier von der Opposition geschehen ist, dem muß man einfach empfehlen, sich die Regierungserklärung aus dem Jahre 1957 wieder einmal vorzunehmen, damit ihm dann vielleicht auch die Erkenntnis kommt, daß das Regieren ein schwieriges Geschäft ist und daß es sicherlich bei einer Partei, die im Besitz der absoluten Mehrheit war, noch nie eine Regierung gegeben hat, die so viel an Reformen angekündigt und so wenig davon in die Tat umgesetzt hat wie gerade diese überhebliche und sich selbstsicher gebende CDU/CSU.
Meine Damen und Herren, was sich hier vollzieht, ist eine Dramatisierung und der Versuch einer totalen Konfrontation, auch der Versuch, das menschliche Klima zu verschlechtern. Nichts kann dieser Demokratie schädlicher sein, als wenn diese Bemühungen seitens der CDU/CSU fortgesetzt werden.
Herr Barzel hat hier von 20 Jahren Reformpolitik der CDU gesprochen. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich die Regierungserklärung vom 29. Oktober 1957 wieder einmal vornehmen, dann werden Sie feststellen, daß Sie von den angekündigten 8 Reformen damals keine einzige allein verwirklicht haben. Die meisten haben Sie mit Hilfe des Koalitionspartners FDP und später des Koalitionspartners SPD in der Großen Koalition verwirklicht. Man muß das einmal vor Ihre Augen stellen, meine Damen und Herren, um Sie ein bißchen von dem hohen Podest herunterzuziehen, auf den Sie sich gelegentlich stellen wollen.
Die Steuerreform war damals angekündigt worden, eine echte Steuerreform. Wir werden glücklich sein, wenn wir sie 1973 verabschieden können. Da wurden Hoffnungen geweckt, die bis heute nicht erfüllt sind, und nun sagen Sie, diese Bundesregierung habe Hoffnungen erweckt, die nach 15 Monaten noch nicht erfüllt seien! Das ist doch ein wesentlicher Unterschied. Die Finanzreform haben Sie damals angekündigt. Im Jahre 1969 haben Sie sie mit der Hilfe der SPD endlich verwirklichen können, und leider nur als Reförmchen, so daß die Gemeinden heute schon wieder klagen. Die Krankenversicherungsreform ist unter den Tisch gefallen. Die Unfallversicherungsreform haben Sie im Jahre 1962 mit uns gemacht. Der Abschluß der Großen Strafrechtsreform ist bis heute nicht verwirklicht. Die Strafrechtsreform wurde im Jahr 1969 mit Hilfe des Koalitionspartners SPD verabschiedet. Die Aktienrechtsreform und die Urheberrechtsreform wurden 1957 als Aufgabe für die nächsten vier Jahre Ihrer absoluten Mehrheit angekündigt und mit Hilfe der Großen Koalition dann endlich 1969 verwirklicht.
Meine Damen und Herren, Sie werden fragen: Was soll diese Rückblende? Die Rückblende soll deutlich machen, daß es zum Bewußtsein der CDU/ CSU gehören sollte, sich einmal zu vergegenwärtigen, was sie alles angekündigt hat und, allein in der Regierung sitzend, nicht in die Tat umzusetzen bereit gewesen ist. Wenn Sie da die Regierungserklärung dieses Bundeskanzlers nehmen, meine Damen und Herren, müssen Sie feststellen, daß nach 15 Monaten schon vieles verwirklicht, noch mehr eingeleitet ist und daß gute Hoffnung besteht, daß am Ende, wenn nach vier Jahren Bilanz gemacht wird, die Bilanz der Koalition dieser beiden Parteien eine positivere sein wird als zu der Zeit, als Sie allein zu regieren imstande waren.
Meine Damen und Herren, mit dieser Rückblende möchte ich auch versuchen, bei der CDU/CSU ein bißchen das Gefühl zu wecken, daß man nicht so lautstark, so rücksichtslos und verletzend angesichts der eigenen Taten und der eigenen Unterlassungen argumentieren sollte, Unterlassungen, deren man sich immer bewußt sein sollte.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß Sie meine Rede heute zum Anlaß nehmen, sich einmal die Regierungserklärungen des Jahres 1957 vorzunehmen, urn sich anzusehen, was da noch anderes, was nicht als Reform angekündigt war, der Verwirklichung harrt, obwohl Sie die Regierungspolitik von 1957 bis 1969 — zwölf Jahre — verantwortlich geführt haben.
Nur teilweise mit der FDP, mein sehr verehrter Herr.
Eines aber bewundere ich an Ihnen von der CDU/ CSU: mit welch großartiger Rhetorik Sie heute diesen Bundeskanzler hauen oder zu hauen versuchen, und zwar zu dem einzigen und alleinigen Zweck, von der Tatsache abzulenken, daß Sie bis heute noch nicht in der Lage sind, diesem Bundeskanzler einen eigenen Kanzlerkandidaten entgegenzusetzen. Das ist der Beweis, wie unfähig Sie sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Leisler Kiep. Die Fraktion des Abgeordneten hat 30 Minuten Redezeit beantragt.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5331
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Befürchtungen, die heute morgen schon einen gewissen Höhepunkt erreicht haben, sind durch die Intervention von Herrn Wehner in keiner Weise beseitigt worden.
Wir waren uns schon vor dieser Debatte darüber klar, daß Sie, Herr Bundeskanzler, und insbesondere auch Herr Wehner und auch viele der Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei nicht mehr bereit sind, Kritik an dem Ort und zu dem Zeitpunkt anzuhören, wo sie hingehört.
Die Personifizierung des Herrn Bundeskanzlers und Ihrer Fraktion von der SPD mit diesem Staat und Ihr Glaube, allein im Besitz aller Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu sein, hat ein unerträgliches Maß erreicht.
Die Ereignisse von heute morgen, Herr Bundeskanzler, haben Ihnen nach unserer Meinung ein schlechtes Zeugnis über Ihr Demokratieverständnis und Ihre Bereitschaft zur Kritik ausgestellt. Von der Frage des Respekts vor diesem Haus wollen wir überhaupt nicht reden.
Es wäre ja auch ein Gedanke gewesen, daß entweder Herr Professor Schäfer oder Herr Wehner heute nachmittag diese Gelegenheit ihrer Reden benutzt hätten, um ein Stückchen davon wieder gutzumachen. Davon war aber nichts zu hören.
Herr Wehner hat in einem Moment der Selbsterkenntnis von einem Zirkus gesprochen, und in der Tat, was er uns eben in diesen Minuten geboten hat, erinnerte verzweifelt an Aufführungen, die man im allgemeinen sonst in der Manege zu sehen pflegt.
Ich werde auf das Verhältnis bzw. auf die Einschätzung, die die Sozialdemokratische Partei für die Opposition in diesem Parlament hat, noch im einzelnen zu sprechen kommen.
Aber ich möchte bei Herrn Wehner doch gleich immerhin etwas anerkennen. Er hat in seiner Bremer Rede von der CDU und anderen demokratischen Parteien gesprochen und sich zu dem geradezu sensationellen Bekenntnis hinreißen lassen, daß man diese Parteien, auch wenn sie wurmstichig seien, eben doch tolerieren müsse. Das ist in der Tat das Weitestgehende, was wir von Herrn Wehner zum Thema CDU bisher gehört haben.
Herr Wehner, der leider nicht da ist, hat sich dann nach bewährter Manier — Herr Professor Schäfer hat heute morgen dasselbe versucht — mit den
Problemen der CDU/CSU befaßt, anstatt etwas für seine Regierung und seinen Kanzler zu sagen,
der es, glaube ich, nötig hätte.
Er hat davon gesprochen, daß die CDU eine ganz schwere Geburt vor sich habe.
In der Tat wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie zur Kenntnis nähmen, daß innerhalb der ChristlichDemokratischen Union, die eine Volkspartei ist,
Probleme wie das Problem der Mitbestimmung Gegenstand langer Diskussionen sind, daß um diese Lösungen gerungen wird und daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD, in Kürze immerhin Gelegenheit haben werden, sich mit unserem Gesetzentwurf auseinanderzusetzen.
In unserer Fraktion geht es - ich bedaure, daß
Herr Wehner nicht da ist — vielleicht etwas anders zu als bei Ihnen. Wir haben nämlich, meine Herren, keinen Onkel Herbert, der uns bei Widerworten ins Kreuz tritt, sondern bei uns werden die Probleme ausdiskutiert.
Wenn Herr Wehner davon spricht, daß der Bundeskanzler heute morgen das alles an sich hätte herunterlaufen lassen sollen, dann kann ich ihm in diesem Punkt nur zustimmen; denn das, was wir heute morgen hier erlebt haben, hat es in der Geschichte des Deutschen Bundestages noch nicht gegeben.
Ohne dieses Thema hier noch vertiefen zu wollen, möchte ich Sie, meine Herren von der SPD, daran erinnern, daß es einmal einen Bundeskanzler Konrad Adenauer gab, der auf dieser Bank saß und dem von dem Führer der damaligen Opposition das Wort vom „Kanzler der Alliierten" zugerufen wurde. Ich darf Sie, Herr Wehner, daran erinnern, daß Sie es waren, der einem Bundeskanzler, der auch auf dieser Bank war, zurief, er sollte seine Hosen herunterlassen und als Konkursverwalter abtreten und den Offenbarungseid leisten.
Keiner dieser beiden Bundeskanzler hat das Plenum, den Deutschen Bundestag verlassen, sondern sie haben weiter an der Sitzung teilgenommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Leisler Kiep, wären Sie bereit, dem Hause in Erinnerung zu rufen, daß jenem Zwischenruf, den Sie soeben
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5332 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. Arndt
zitiert haben, der Ausspruch jenes Mannes Dr. Konrad Adenauer vorausging, die Sozialdemokratie sei die „Partei der Demontagen"?
Verehrter Herr Arndt, ich darf, wenn Sie diese Diskussion vertiefen wollen, daran erinnern, daß der Auszug des Herrn Bundeskanzlers
— Sie fragen danach, dann muß ich darauf antworten — heute auf eine Bemerkung des Kollegen Wörner zurückzuführen war — Herr Dr. Barzel hat schon davon gesprochen —, in der er nichts anderes, gesagt hat, als daß der Bundeskanzler und die Bundesregierung zur Erhaltung einer bestimmten Atmosphäre bereit sind, Dinge nicht mehr beim Namen zu nennen. Die Äußerung, die hier gemacht wurde, kann ich leider, nachdem Sie mich gefragt haben, von dieser Stelle aus nur wiederholen, und ich werde noch im einzelnen darauf zu sprechen kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte das, was heute morgen über die inneren Angelegenheiten in der Bundesrepublik gesagt wurde und worauf der Herr Bundeskanzler heute nachmittag auch teilweise geantwortet hat, mit einigen Bemerkungen zur Deutschland- und zur Außenpolitik ergänzen, und ich möchte im Unterschied zu dem, was mein Kollege Wörner heute morgen über die Reformen, die nicht stattgefunden haben, gesagt hat, darauf hinweisen, daß die Fakten und die Tatbestände, von denen wir in der Deutschland- und Außenpolitik zu sprechen haben, sich meist dadurch von anderen Dingen unterscheiden, daß sie irreversibel sind, daß gewisse Tatbestände geschaffen werden, die sich auch bei einer Änderung der Politik, ja selbst bei einer Änderung der Regierung nicht mehr rückgängig machen lassen. Deshalb kommt dieser Diskussion meiner Meinung nach eine besondere Bedeutung zu.Der Bundeskanzler hat im Bericht zur Lage der Nation davon gesprochen, er und die Bundesregierung wollten nicht stille Teilhaber der Friedenspolitik sein. Herr Bundeskanzler, niemand in diesem Hause kann Ihnen — im Gegensatz zum innenpolitischen Bereich — im deutschland- und außenpolitischen Bereich ein starkes politisches Engagement und große aktive Tätigkeit absprechen. Sie sind nicht in der Gefahr, als stiller Teilhaber dieser Politik bezeichnet zu werden, sondern Sie sind — um in der Terminologie zu bleiben — hier persönlich haftender Gesellschafter dieser Politik, und mit Ihnen haftet die Bundesrepublik für den Ausgang dieser Politik.Sie haben heute und früher davon gesprochen, daß die Politik die Menschen zum Mittelpunkt hat, daß die Politik für die Menschen gemacht wird, daß Entspannungspolitik für die Menschen gemacht wird und nur dann einen Sinn haben kann, wenn, wie Sie sich ausdrückten, für die Menschen etwas dabei herauskommt. Und zu einer Zeit, als die Union zusammen mit der SPD die Regierung bildete und als Sie,Herr Bundeskanzler, der Außenminister dieser Regierung waren, haben Sie im Jahre 1967 in einer viel beachteten Rede in Genf davon gesprochen, daß Entspannungspolitik keine Kapitulation ist, keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern der Versuch, zunehmend Gebiete gemeinsamen Interesses und der Zusammenarbeit zu finden. Mit diesem Satz und mit dieser Definition der Entspannungspolitik können wir uns auf jeden Fall heute noch identifizieren.Sie haben den Bundeskanzlern Adenauer und Erhard und der CDU im allgemeinen vorgeworfen, sie hingen an juristischem Formelkram, wo es doch um die Menschen gehe. Ich glaube, daß dieser Vorwurf unberechtigt ist. Gerade Adenauer hat immer wieder betont, wie sehr gerade die Deutschlandpolitik für ihn eine Frage sei, mit der das Schicksal der Menschen gebessert werden müßte ohne Rücksicht auf Formeln und ohne Rücksicht auf juristischen Kram. Heute haben wir den Eindruck, daß Sie, Herr Bundeskanzler, durch die Errichtung des Primats der Ratifizierung der Verträge einen Kurs steuern, der genau in die Richtung läuft, die Sie uns fälschlicherweise in früheren Jahren vorgeworfen haben. Die Fortschritte für die Menschen sind in den Hintergrund getreten, und die Frage der Ratifizierung von Verträgen, die ja ohne Verbesserungen für die Menschen leere Formeln bleiben, sind in den Hintergrund getreten.Das wird auch ganz deutlich, wenn wir uns das Material zur Lage der Nation im einzelnen ansehen. Wir haben bei allem Respekt vor Ihrem Engagement in dieser Politik den Eindruck, daß Sie sich bemühen um die Erreichung von Milieuzielen, um die Erreichung von Zielen, bei denen Fortschritt nicht meßbar ist, in denen hauptsächlich atmosphärische Verbesserungen eine Rolle spielen. Wir merken zu unserem Schrecken — ich darf das so deutlich sagen —, daß z. B. in der Berlin-Frage die Dinge nicht mehr beim Namen genannt werden, und wir erleben, daß Sie, Herr Bundeskanzler, wenige Tage nach der Beendigung einer Teilblockade es für richtig halten, dem Emissär der Regierung in Ost-Berlin die Genehmigung zu geben,
erstmalig mit dem Flugzeug nach Bonn zu kommen, um hier die Verhandlungen fortzuführen.
Bei dieser Sachlage dürfen Sie sich nicht wundern, wenn die Opposition mit Recht die Frage stellt: Hat dieser Bundeskanzler und hat diese Bundesregierung tatsächlich noch den Blick für die Wirklichkeit? Sieht sie noch die Dinge, wie sie sind? Je mehr Sie, Herr Bundeskanzler, von den Realitäten sprechen, von denen Sie ausgingen, um so größer wird unser Zweifel, ob Sie diese Realitäten wirklich noch sehen.
Herr Bundeskanzler, Sie vertrauen darauf, daß sich zeigen wird, daß guter Wille, Opferbereitschaft und gerechtes Urteil Ihrer Politik in der Welt letztten Endes zum Erfolg verhelfen werden. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß ohne moralische Qualität Politik auf die Dauer sicherlich keinen Erfolg haben
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5333
Kiepkann. Ich meine aber auch, daß Moral nicht alleiniges Kriterium, nicht alleiniger Maßstab für den Erfolg einer Politik sein kann. Aus dieser moralischen Komponente in Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, ergibt sich konsequenter- und schrecklicherweise, daß Sie jeden, der diese Politik kritisch beleuchtet, wie es die Pflicht der Opposition ist, in das Lager derjenigen stecken, die im Grunde schlechten und bösen Willens sind und die sich gegen die gute Sache stellen.Herr Bundeskanzler, Ihre Politik wird in einem ganz erheblichen Umfang vom — erlauben Sie mir diese Bemerkung — Wunschdenken getragen. Sie sind mit vielen Illusionen — Sie haben selber davon gesprochen — an die Regierungserklärung im Oktober 1969 herangegangen. Heute haben Sie Ihre Bereitschaft zu einer gewissen Teilrevision im Bereich der Reformen angekündigt. Aber, Herr Bundeskanzler, in der Außen- und Deutschlandpolitik erleben wir kein Anzeichen einer nüchternen und realistischeren Betrachtungsweise. Im politischen Bereich erinnern Sie mich, Herr Bundeskanzler, an das, was man in einem anderen Bereich in der angelsächsischen Welt einen „do-gooder" nennt, einen Mann, der von der festen Überzeugung ausgeht, daß er durch das Erklären von guten Absichten und das Tun von guten Werken seine Umwelt, sein Gegenüber und seine Verhandlungspartner in seinem Sinne verändern kann. Ich glaube, daß diese Illusion, die auch in der Formel „Wandel durch Annäherung" ganz deutlich zum Ausdruck kommt, Sie nach wie vor bei Ihren außen- und deutschlandpolitischen Unternehmungen in einem starken Umfang leitet.Im Rahmen dieses Wunschdenkens, Herr Bundeskanzler, läuft auch die Diskussion — sie klang heute morgen einmal kurz an — von der Nivellierung, wie ich es nennen möchte, der Gleichmacherei. Um die Atmosphäre zu erhalten, um die Diskussion mit der anderen Seite scheinbar zu erleichtern, wird davon ausgegangen, daß viele Dinge, die total ungleich sind, vergleichbar seien,
daß die NATO im Grunde mit dem Warschauer Pakt, Comecon im Grunde mit der EWG vergleichbar sei.
Ich erinnere in ,diesem Zusammenhang an die erschreckende Äußerung des Kollegen Wienand in einer Debatte der vorigen Woche. Auch meine Zwischenfrage hat es damals nicht ermöglicht, diese Aussage des Kollegen Wienand zu klären. Er war im Sinne dieser Nivellierung bereits so weit gekommen, daß er davon sprach: im Grunde wäre die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auch dann gefährdet, wenn der Warschauer Pakt aufgelöst würde.
Ich meine, Herr Bundeskanzler, daß hier eine Verwirrung herrscht, die selbstverständlich auch dazu führt, daß sich in der Frage des Vergleichs derGesellschaftsordnungen Irrtümer einschleichen, wobei der Eindruck entstehen kann, daß eben diese Gesellschaftsordnung hier im Grunde doch verbesserungsbedürftig sei und die andere drüben — die sich vor allem durch totale Unfreiheit auszeichnet — eben doch nicht so schlimm sei, wie es dargestellt werde.
Herr Bundeskanzler, diese Politik des Wunschdenkens und diese Politik mit der starken moralischen Komponente, von der ich sprach, hat auch in der Diktion dieser Ihrer Regierung ihren Niederschlag gefunden. Wir hören ständig von der „Friedenspolitik"; das Wort „Frieden" und die Worte „Friedenspolitik, Friedensordnung" beherrschen das Vokabular dieser Regierung. Das steigerte sich bis dahin — um es einmal deutlich vor Augen zu führen —, daß der Bundeskanzler am 5. Januar im Bulletin der Regierung über das Jahr 1970 sagte: Es war für uns ein Jahr des Friedens, und dabei hat unsere Bundesrepublik in der Welt neues Ansehen gewonnen. — Herr Bundeskanzler, mit dieser Aussage stellen Sie die Gegner, die Kritiker Ihrer Politik zu allem Überfluß auch noch in das Lager derjenigen, die im Grunde mit dem Frieden nicht auf bestem Fuße stehen. Ich meine, daß gerade derartige Einlassungen und Aussagen zu der Polarisierung, die Sie so oft beklagen, sehr viel mehr beitragen als Äußerungen, die von seiten der Opposition kommen.
Herr Bundeskanzler, Sie und insbesondere auch der Vorsitzende der SPD-Fraktion sprechen außer- I dem in jüngster Zeit immer stärker von der „Politik ohne Alternative". Das heißt, entweder führt diese Politik zum Erfolg, oder das Desaster tritt unvermeidlich ein.
Herbert Wehner hat es so gesagt: Wenn durch deutsche Ablehnung die Verträge scheitern sollten, wäre das für die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik ein Desaster. — Diese Aussage und die dahinterstehende Politik des „Entweder-Oder", des „Alles oder Nichts" führen in eine Sackgasse, in die Ausweglosigkeit, und stärken nach meiner Überzeugung höchstens die Position der anderen Seite, der Verhandlungspartner, von denen Sie Konzessionen erwarten, deren Eintreten diese Politik erst zur Entspannungspolitik macht.
Aber, meine Damen und Herren, was ist denn eigentlich Opposition in Ihren Augen?
Als ich die Diskussion heute verfolgte, habe ich den Eindruck gewonnen, als sei Opposition im Grunde genommen eine außerordentlich lästige, unnütze Geschichte, die der Regierung ständig in den Arm fällt, und als bestehe die gesamte Opposition von CDU und CSU im Grunde nicht aus wirklichen, echten Demokraten, sondern aus einer Art von Demokraten auf Bewährung. Und die können dann
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5334 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Kiepihren Entwicklungsprozeß zu richtigen Demokraten am besten dadurch dokumentieren, daß sie der Regierung zustimmen.
Jede Ablehnung führt sofort dazu, daß Sie — Herr Wehner, Sie haben es vorhin ja auch wieder sehr deutlich gesagt — die gesamte Opposition in eine Ecke stellen wollen, in der Sie uns nur zu gerne wirklich hätten, in der wir aber glücklicherweise nicht sind. Sie, Herr Wehner, stellen sich die CDU/ CSU-Opposition wie so eine Art parlamentarischen Volkssturm vor,
den Sie zu Notzeiten aufbieten möchten
und der dann richtig abzustimmen hat, weil es dann nämlich um Sein oder Nichtsein der Demokratie geht. So, Herr Wehner, geht die Sache nun wirklich nicht!
Die Christlich-Demokratische Union hat, glaube ich, in den vergangenen Jahren den Beweis dafür geliefert, wo sie steht, was sie kann und welchen Beitrag zum Aufbau der Demokratie sie in diesem Lande geleistet hat.
Auch die Frage von Herrn Porzner an Herrn Wörner heute morgen fand ich in dieser Diskussion außerordentlich bedauerlich. Denn dieser Versuch, meine Damen und Herren von der SPD, die CDU/ CSU bei Bedarf in die rechte Ecke zu drücken, hat selbstverständlich gar keine Wirkung hier im Hause und auch gar keine Wirkung draußen, sondern führt nur dazu, daß Sie selber mit solchen Äußerungen und mit solchen Auftritten wie heute morgen — wenn ich das so sagen darf — die parlamentarische Demokratie in Deutschland, an der Ihnen genausoviel liegt wie uns, in Gefahr bringen. Sie können diesen Monopolanspruch nicht aufrechterhalten. Sie, meine Damen und Herren, haben nämlich an die Stelle des alten Alleinvertretungsanspruchs aus der Deutschland-Politik, den Sie abgeschafft haben, einen neuen gesetzt: den Alleinvertretungsanspruch der Sozialdemokratischen Partei für Frieden, Demokratie, Fortschritt und Menschlichkeit. Das haben Sie allein für sich in Anspruch genommen, und alle anderen, die auf diesem Gebiet tätig werden wollen, werden von Ihnen abqualifiziert, als seien sie keine Demokraten.
Wie sind denn die Wirkungen dieser Politik auf die Bevölkerung? Herr Bundeskanzler, Sie haben mit der Deutschland- und Ostpolitik in der Bevölkerung Hoffnungen erweckt, die zur Zeit unerfüllbar sind. Die Folge sind Frustration, Hoffnungslosigkeit und nicht zuletzt auch Radikalismus.
Zweitens. Sie beklagen gelegentlich die Polarisierung in Deutschland und tun selber alles dazu, um die Meinungen in diesem Hause und draußen zu polarisieren.Ich darf Ihnen noch ein Drittes sagen: Sie gefährden durch diese Politik der Illusionen auf dem Gebiete der Deutschland-, der Außen- und der Innenpolitik die Bereitschaft breiter Kreise der Bevölkerung, in Zukunft Reformen zu unterstützen und durchzuführen. Sie belasten die Reformfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland,
indem Sie ständig Dinge in Aussicht stellen, die nicht realisierbar sind.
Die Resignation, die an die Stelle dieser erweckten Hoffnungen tritt, ist für die Demokratie, auf die Dauer gesehen, mehr als gefährlich.
Ich darf noch zwei Punkte anführen, wenn Sie gestatten.Die Reaktion, die die Deutschland- und die Außenpolitik des Herrn Bundeskanzlers im Ausland hervorrufen, war schon Gegenstand der Debatte in der vergangenen Woche. Lassen Sie mich nur noch eines hier hinzufügen: das Lob, das diese Bundesregierung zweifellos aus dem Ausland bekommt — man kann es in allen Zeitungen lesen — wird von dieser Regierung als Erfolgsbestätigung zur Kenntnis genommen und hier im Parlament und draußen verwendet. Ich möchte die Regierung daran erinnern, daß ein großer Teil dieses Lobes, das hier verteilt wird, mehr moralisches Lob ist als Erfolgsbestätigung und daß die Kritik an dieser Politik, Herr Bundeskanzler, deshalb nach wie vor — hinter vorgehaltener Hand — stattfindet und uns nur bruchstückhaft zur Kenntnis kommt. Die Gefahr, daß hier auf die Dauer eine gewisse Isolierung eintritt, ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen. Der Kollege Birrenbach hat in der vergangenen Woche hierzu einige, wie ich meine, sehr klare und deutliche Ausführungen gemacht.
Mir scheint, Herr Bundeskanzler, daß diese ausländischen „Persil-Scheine” nicht geeignet sind, in der Diskussion im Bundestag und draußen die Ostpolitik und die Deutschland-Politik, die diese Bundesregierung betreibt, besser darzustellen, als die Wirklichkeit ist.
Schließlich sollten wir bei der Reaktion des Auslandes auch nicht vergessen, daß selbstverständlich keiner deutscher sein wird als die Deutschen
und daß wir eine ganze Reihe von Fragen und Belangen haben, Herr Wehner, die nicht vertreten werden, wenn wir sie nicht selbst vertreten. Sie werden bestimmt nicht von anderen vertreten, auch von unseren Verbündeten nicht.
Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5335KiepNach meiner Überzeugung ist Gemeinsamkeit in den wichtigen deutschen und außenpolitischen Fragen, auch wenn Sie, Herr Wehner, auf diese Gemeinsamkeit keinen Wert legen, eine Lebensfrage. Das gilt in ganz besonderer Weise für das BerlinProblem. Wir sind uns darüber klar, daß ein Fehlschlag Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, nicht einen Fehlschlag für die Politik der SPD, sondern einen Fehlschlag für die Bundesrepublik Deutschland bedeutet.
Wir von der Opposition haben unsere Alternativen,
unsere Warnungen und unsere Mahnungen
vor der Unterzeichnung der Verträge dargelegt. Letzten Endes sind ja wohl auch die drei Jahre gemeinsamer Außenpolitik ein Stück dieser Alternative, die die CDU/CSU bietet. Sie haben es für richtig gehalten, die Verträge zu unterzeichnen. Wir stehen in der Phase zwischen der Unterzeichnung und der Einleitung des Ratifikationsverfahrens. Wir werden in der Verfolgung unserer Pflicht, alles zu tun, um von diesen Verträgen ausgehenden Schaden abzuwenden, nicht nachlassen. Wenn der Bundeskanzler bereit wäre — ähnlich wie er es heute im Hinblick auf die Innen- und Wirtschaftspolitik andeutete —, auf den Boden der Realitäten, der Tatsachen und der Wirklichkeit des Jahres 1971 zurückzukehren, so wäre das der erste Schritt auf dem Wege zur Rückkehr zu einer Gemeinsamkeit in den Schicksalsfragen der Bundesrepublik.
Das Wort hat der Abgeordnete Wohlrabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Einzelplan 04 gehört auch der Etat des Bundesbevollmächtigten für Berlin.
— Heute war er auch nicht da.
Ich möchte die Gelegenheit dieser Debatte benutzen, einiges zu diesem Thema zu sagen und auch eine Aufforderung von hier aus an den Bundesbevollmächtigten richten, die übrigens nicht nur von Freunden aus meiner Partei, sondern auch von Kollegen anderer Parteien getragen wird.In der vorigen Etatdebatte hat Herr Bundesminister Ehmke zu meinen Vorhaltungen, daß der Bevollmächtigte der Bundesrepublik Deutschland für Berlin seinen Amtssitz nicht mehr in Berlin habe, Stellung genommen. Er hat unter anderem ausgeführt, daß es in der Zusammenarbeit zwischen dem Bund und dem Senat von Berlin nie ein besseres Verhältnis gegeben habe. Ich möchte das Wort „nie" hier besonders unterstreichen. Das vergangene Jahr hat doch zumindest gezeigt, daß im Hinblick auf dieses Wort „nie" starke Zweifel am Platze sind. Ich will mich aber zu dieser rein formellen Seite der Aussage und auch zur Zusammenarbeit zwischen derBundesregierung und dem Senat von Berlin hier nicht näher äußern. Diese Zusammenarbeit soll jetzt nicht zur Debatte stehen.Viel wichtiger scheint mir das Vertrauen der Berliner Bevölkerung in diese Bundesregierung zu sein. Bei der außergewöhnlichen Lage Berlins — insbesondere unter den psychologischen Gegebenheiten, denen besondere Beachtung geschenkt werden muß — müssen wir unser Augenmerk immer wieder darauf richten, wie die Politik der Bundesregierung in Berlin, bei den Berliner Bürgern ankommt bzw. ob sie glaubwürdig erscheint.
Meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung läßt sich heute ohne Zweifel feststellen, daß das Vertrauen der Berliner in die Deutschland- und Berlin-Politik der derzeitigen Bundesregierung gelitten hat.
- Jeder, der eine andere Auffassung hat, kann sie nachher hier vortragen. Ich bin gern bereit, mit ihm darüber zu diskutieren.Wenn der Bevollmächtigte des Bundes für Berlin ständig seinen Amtssitz in Berlin gehabt hätte, hätten zumindest vermeidbare oder korrigierbare Koordinationsfehler ausgeräumt werden können.
Im übrigen hat Herr Bundesminister Ehmke zur Rechtfertigung der Verlegung des ständigen Amtssitzes des Bundesbevollmächtigten für Berlin nach Bonn ausgeführt — ich zitiere wörtlich —:Wenn jemand mehr Aufgaben übernimmt als sein Vorgänger gehabt hat, spricht das ja wohl nicht gegen ihn.Dieser Satz aus dem Munde von Herrn Bundesminister Ehmke mag im allgemeinen zutreffen. In diesem speziellen Fall zeigt die vorliegende Erfahrung des vergangenen Jahres jedoch, daß er unzutreffend ist. Denn Mehrarbeit in diesem wichtigen Amt setzt ja zumindest voraus, daß dabei die ursprünglichen Aufgaben eines Bundesbevollmächtigten in Berlin durch die in Bonn übernommenen Aufgaben nicht vernachlässigt werden.Wir vertreten die Auffassung — ich glaube, das ist auch in der internationalen und deutschen Öffentlichkeit feststellbar —, daß sich die Situation in Berlin gerade im Zeichen der Entspannungspolitik der SPD/FDP-Koalition nicht gebessert, wohl aber — und wer sieht nicht die letzten Tage? — in besonderer Weise verschärft hat.
Ich will das jetzt niemandem anlasten. Ich will daran nur folgende Überlegung knüpfen. In einer Situation, in der der bestehende Status quo in Berlin von der Sowjetunion und dem SED-Regime erneut stark in Frage gestellt wird, in der schwierige Viermächteverhandlungen in Berlin stattfinden und eine zumindest innenpolitische Sorge Berlins heute wieder deutlicher sichtbar wird, als das in der Vergangenheit der Fall war, wäre eine besonders sorgfältige Koordinierung der Berlin-Politik durch ein volles
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5336 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
WohlrabeEngagement des Bundesbevollmächtigten in Berlin gut und tunlich gewesen. Das ist versäumt worden. Mehr noch: Die offizielle Berlinpolitik dieser Bundesregierung ist sogar ins Zwielicht geraten. Man denke dabei nur an die widersprüchlichen Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Wehner und des Regierenden Bürgermeisters Schütz auf der einen Seite und der Herren Scheel und Genscher auf der anderen Seite. Wir kennen diese Presseveröffentlichungen. Das alles hat Berlin sicherlich nicht genützt.
Damit ist in wenigen Worten die spürbare Sorge Berlins umschrieben. Diese spürbare Sorge wird von der Berliner Bevölkerung heute mehr empfunden. Das ist allein schon durch das stärkere Diskussionsengagement der Berliner feststellbar. Aus dieser Sorge heraus ist in Berlin am letzten Wochenende in allen großen Zeitungen jener Aufruf erschienen — und zwar unter Mitwirkung aller Parteien, auch der Sozialdemokratischen Partei —, den der Kollege Wörner heute morgen schon in seiner Rede erwähnt hat.Der veröffentlichte Aufruf des Demokratischen Klubs in Berlin — einer überparteilichen Organisation, wie ich anmerken darf ist nach unserer Auffassung eine gute Sache. Besonders gut daran ist, daß die eben schon von meinem Vorredner skizzierte Gemeinsamkeit gerade in Fragen der BerlinPolitik durch das Engagement führender Vertreter der demokratischen Parteien erneut sichtbar wird.Der Aufruf — ich brauche ihn nicht zu verlesen; er ist sicherlich vielen bereits bekannt, und Hunderte von Zustimmungserklärungen zu diesem Aufruf gehen zur Zeit in Berlin ein — steht unter dem Motto:Das Schicksal unserer Stadt steht auf dem Spiel. Deshalb wenden wir Bürger aus allen Schichten dieser Stadt' uns mit unseren Sorgen und Forderungen an die Öffentlichkeit. Wir sagen in fünf Punkten, was wir unter einer befriedigenden Berlin-Regelung verstehen.Der Aufruf ist unterschrieben von Vertretern dieses Hauses, beider großen Parteien, aber auch — ich glaube, die deutsche Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf, das zu wissen — von Wilhelm von Ackern, dem Vorsitzenden des Kurt-Schumacher-Kreises, von Horst Bowitz , Bezirksbürgermeister von Berlin-Wedding, von Professor Friedensburg, dem ehemaligen und letzten Bürgermeister von Groß-Berlin, von Hermann Kreutzer, Ministerialdirektor im Bundeshaus in Berlin, dem Vertreter von Egon Bahr, von Helmut Kronsbein, dem Trainervon Hertha BSC - für Berliner Lokalkolorit sicherlich eine sehr wichtige Persönlichkeit , und auchvon Ernst Scharnowski, dem ehemaligen DGB-Vorsitzenden, sowie von Otto Wenzel, dem Initiator, einem SPD-Volksbildungsstadtrat und Vorsitzenden des Demokratischen Klubs.Meine Damen und Herren, ich nenne das alles hier, um daran die Frage und Bitte zu knüpfen, ob nicht diese Bundesregierung und der Bundeskanzler selbst, aber vielleicht auch der Bundesbevollmächtigte für Berlin, hier einmal in kurzen Worten erklären wollen, wie sie zu diesem Aufruf stehen und ob sie bereit sind, dieses gemeinsame Engagement von Demokraten in Berlin zu unterstützen. Darüber würden wir uns in Berlin besonders freuen. Das ist die Bitte, die heute an dieser Stelle ausgesprochen wird, verbunden mit dem Bedauern, daß der Bevollmächtigte für Berlin nicht unter diesem Aufruf steht. Wir hätten uns gewünscht, er hätte zu den Unterzeichnern gehört. Ich glaube, sein Berlin-Engagement wäre dann noch viel sichtbarer geworden, als es zur Zeit ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie einige kurze Bemerkungen zu dem letzten Diskussionsbeitrag. Ich habe mit Erstaunen vernommen, das das Vertrauen der Berliner in die Politik der Regierung gesunken ist. Das Infas-Institut stellt fest, daß 88 % der Berliner mit dieser Tätigkeit einverstanden sind.
Inwiefern da das Vertrauen gesunken ist, ist mir nicht ganz klar. — Bitte!
Herr Kollege, erinnern Sie sich, daß das Infas-Institut im vergangenen Juni hervorragende Ergebnisse für die Sozialdemokratische Partei in Nordrhein-Westfalen voraussagte, die dann durch die Wahlen eindeutig widerlegt wurden?
Es ist durchaus möglich, daß sich die Institute irren. Wenn aber im Interesse einer überparteilichen Sorge für Berlin so etwas festgestellt wird, scheint mir das überzeugender zu sein. Es steht Ihnen frei, ein Gegengutachten zu erbringen. Dann kommen Sie vielleicht auf 81 %.
— Genau das, Herr Kollege. Wir sollten uns daran erinnern, daß in Berlin Wahlen stattfinden. Ich hatte heute, als ich hörte, was hier erzählt wird, manchmal das Gefühl, daß auch in Schleswig-Holstein Wahlen stattfinden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß der Hauptsitz oder überhaupt die Anwesenheit nicht maßgebend ist für die Sorge, die jemand um Berlin hegt. Ich kenne Egon Bahr, den jetzigen Bevollmächtigten für Berlin, gut genug. Ich weiß, daß er nicht in Berlin sitzen muß, um für Berlin zu sorgen, sondern daß dies auch in Moskau, in Warschau oder wo immer geschieht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5337
Bitte, Herr Kollege!
Herr Kollege Borm, sind Sie nicht auch mit mir der Auffassung, daß es für Berlin wichtiger ist, wenn der engste Berater des Bundeskanzlers hier die Interessen Berlins in Berlin und für Berlin vertritt als z. B., Herr Barzel, ein ehemaliger, abgelegter Pressechef, der zwar seinen Sitz in Berlin hatte, aber sich dort jahrelang nur versteckte?
Ich bin mit Ihnen der Meinung, Herr Kollege, daß man gerade diese Dinge nicht zu einer Polemik machen sollte. Ich glaube vielmehr, wir sollten nicht über den Wohnsitz reden, sondern wir sollten kritisieren, wenn etwas unterlassen worden ist. Und das soll erstbewiesen werden.
— Kommen Sie bitte hierher; das ist viel besser. Auf Zwischenrufe so zu antworten führt uns nicht weiter.
Natürlich ist in Berlin die Politik in Bewegung geraten. Daß das die Menschen zum Nachdenken veranlaßt, ist auch nur natürlich. Aber ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ob Sie etwa die Sicherheit Berlins dadurch fördern, daß Sie gar nichts tun. Wir tun wenigstens etwas.
Jetzt möchte ich Ihnen etwas zum Aufruf des Demokratischen Klubs sagen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Borm, würden Sie so freundlich sein, da Sie gerade das Wort haben, dem Hause auch Ihre Meinung über diesen Aufruf mitzuteilen und vielleicht zu sagen, ob Sie ihn unterschreiben würden?
Sie beschleunigen die Dinge nicht, Herr Kollege, wenn Sie das fragen, was ich gerade in einem Satz angefangen habe. — Ich kann Ihnen nur sagen, mit so einem Aufruf ist das eine sehr eigenartige Sache. Eines allerdings gestehe ich Ihnen zu. Sie sind in Berlin sehr wohl darin geübt, alles das, was für die Stadt gut ist, in hervorragende Aufrufe hineinzubringen. Aber das nachher nur in Ihre Scheuer einzufahren, das gelingt Ihnen nicht.
- Herr Kollege Wohlrabe, über die Gemeinsamkeit mit Ihrer Politik habe ich vor einigen Tagen gesprochen. Das möchte ich nicht noch einmal sagen. Ich möchte Sie bitten, bei diesen Dingen um Berlin, die viel zu ernst sind, nicht zu versuchen, alles nur in die Tasche einer einzigen Partei hineinzumogeln, nämlich der Ihren. Wir lassen uns von niemandem
in der Sorge um diese Stadt übertreffen. Das nehmen Sie bitte zur Kenntnis.
Das Wort hat der Abgeordnete Baier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der politischen Debatte dieses Tages lassen Sie mich auch zum Haushalt des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes einiges sagen. Denn nicht nur die Politik des Bundeskanzlers, auch das Amt mit Bundesminister Professor Ehmke an der Spitze bedarf dieser kritischen Durchleuchtung.
Für die Führung des Bundeskanzleramtes wurden und werden die gleichen anspruchsvollen Thesen in die Welt gesetzt wie für die Politik dieser Regierung insgesamt. Hier wie dort aber besteht zwischen Anspruch und Realität eine erstaunliche Diskrepanz.
Wie sagte doch Professor Ehmke, der sich selbst zum Trainer der Bundesregierung ernannte?: —„Kinder, ihr kriegt eine Regierung, die habt ihr gar nicht verdient."
— Wahrhaftig, das ist goldrichtig, Herr Professor Ehmke. Herr Professor Ehmke, der Mann, der mit KIS und ORAKEL regiert. KIS: Kanzlerinformationssystem, ORAKEL: Organisierte repräsentative Artikulation kritischer Entwicklungslücken.
Dieser Mann versprach: Durch das neue System der Frühkoordinierung haben wir z. B. zum erstenmal wirklich einen Überblick über die Vorhaben der verschiedenen Ressorts.
Herr Minister Ehmke, nicht nur bei uns, auch in der Öffentlichkeit und auch innerhalb der Regierung, z. B., wie man lesen konnte, bei den Ministern Schmidt, Leber und Möller, scheinen ernsthafte Bedenken und Skepsis gegen diese rotierenden Aktivitäten zu bestehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Es besteht der Hang, alle einfachen Vorgänge und Zusammenhänge mit diesem kybernetischen Kauderwelsch zu belegen." — In diesem Falle stimme ich mit Herrn Minister Schmidt durchaus überein. In dem Bundeskanzleramt ist in der Tat eine Planungs- und Forschungseuphorie ausgebrochen, die sich auch am Haushalt ablesen läßt. Über 130 neue Planstellen wurden innerhalb von zwei Jahren geschaffen.
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5338 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
BaierDas bedeutet, daß sich der Personalbestand des Bundeskanzleramtes gegenüber 1969 um 50 % erhöht hat. 1970 wurden Beträge für Honorare, für Mitarbeiter Kosten von Gutachtern für eine Systemanalyse — in Höhe von 2,4 Millionen DM bewilligt. Für 1971 sind 2,6 Millionen DM vorgesehen.Der Personalrat des Bundeskanzleramtes hat dazu Mitte Oktober lapidar festgestellt, daß sich durch die fieberhafte Umorganisation dieser Behörde mit ständig neuen Denkmodellen und stetem Anschwellen der Planstellen im Vergleich zur Vergangenheit nichts gebessert habe. Das Rotationssystem mit Personalaustausch — eine Neuerfindung zwischen den Bundesministerien und dem Kanzleramt kann diesem Bericht zufolge einen Vorwand dafür liefern, mit sachfremden Erwägungen mißliebige Amtsangehörige loszuwerden und hinsichtlich der Zukunft jedes einzelnen eine Atmosphäre völliger Ungewißheit zu schaffen, die das Betriebsklima vergiftet. Wörtlich heißt es in diesem Bericht des eigenen Personalrats:Ein Rotationssystem ohne feste Terminierungen erzeugt dann das gleiche Gefühl wie im Mittelalter die ständige Drohung mit Hölle und Fegefeuer, also genau das Gegenteil dessen, was heute mit einem modernen Führungsstil angestrebt wird.
Ich habe hier den Personalrat des Bundeskanzleramtes wörtlich zitiert, meine verehrten Herren von der SPD.
Angesichts dieser verwirrenden Darstellungen frage ich Sie, Herr Bundesminister: Wo sind die Inhalte Ihres Planungssystems im Bundeskanzleramt? Wo sind die Ergebnisse, und ist es richtig, daß es sich bei dieser Planung gar nicht um eine Aufgabenplanung, sondern um eine bloße Ablaufplanung für das Regierungsprogramm, also nicht um eine Entscheidungsvorbereitung oder Entscheidungshilfe im Sinne einer langfristigen Vorsorge für die Zukunft, was wir bitter notwendig hätten, handelt? Welche tatsächlichen Ergebnisse hat die groß angekündigte neue Aufgabenplanung des Bundeskanzleramtes trotz größten Einsatzes von Fachkräften und Geldmitteln erbracht? — Herr Minister Ehmke, Betrieb ist noch keine Politik!Soweit der Blick reicht, ist kein Ergebnis und keine Reform zu sehen, so daß man sich die Frage vorlegen muß, ob nicht in dieser Regierung, abgesehen von der falschen Konzeption, auch manche Leute auf den falschen Plätzen sitzen.Herr Bundeskanzler, haben Sie nicht das Gefühl, daß Ihr Amtschef Ihnen an Stelle eines Aufgabenplanungssystems ein Potemkinsches Planungsdorf errichtet hat? Ist das nun die Modernisierung des Bundeskanzleramtes, die in der Regierungserklärung angekündigt worden ist? Wenn ja, so hat der Chef dieses Amtes zumindest eine staatsmännische Leistung vollbracht: er hat das Bundeskanzleramt, was vorher nicht üblich war, nicht nur zum Objekt seiner Imagepflege, sondern auch seiner Propaganda gemacht.
Nehmen wir ein Detail, die Handhabung der Dienstaufsicht von Bundesminister Professor Ehmke über den Bundesnachrichtendienst. Ich habe Herrn Professor Ehmke im vorigen Jahr an dieser Stelle davor gewarnt, dieses so diffizile Instrument unter dem Motto zu verunsichern - wie er sagte —: „Früher hat der Bundesnachrichtendienst das Bundeskanzleramt kontrolliert, jetzt kontrolliert das Bundeskanzleramt den Bundesnachrichtendienst."
Wir wollen dem Dienst eine Chance geben und den neuen Männern auch. Ja, aber, Professor Ehmke, was ist im Dienst besser geworden? Seit Ihrer Übernahme der Dienstaufsicht und Ihren radikalen, unter parteipolitischen Gesichtspunkten vorgenommenen Personalbesetzungen ist beim Bundesnachrichtendienst eine erhebliche Unruhe eingetreten, die bis heute nicht beseitigt werden konnte.
— Sehr richtig.Ich kritisiere, Herr Professor Ehmke, daß Sie das parlamentarische Vertrauensmännergremium für die Nachrichtendienste viel zu selten einberufen, und ich bin besorgt, Herr Professor Ehmke, über Ihre Tendenz, gegen den Widerstand führender Männer des Bundesnachrichtendienstes diesen Dienst bei zunehmender Spionagetätigkeit immer transparenter zu machen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie es für sinnvoll und effezient halten, wenn mehr und mehr Details über Personen und Aktionen des BND an die Öffentlichkeit gelangen, und ich möchte Sie fragen, ob es zweckmäßig ist, wenn eine Zeitschrift demnächst in einer .Artikelserie Details aus Vergangenheit und Gegenwart des Bundesnachrichtendienstes preisgibt.
Wenn offensichtlich mit Ihnen befreundete Journalisten mehr Kenntnis über den Bundesnachrichtendienst haben als das zur Kontrolle berufene parlamentarische Vertrauensmännergremium, meine Damen und Herren, dann ist das eine üble Sache.
Dies ist ein gefährlicher Weg für den BND und unseren Staat. Er kann eines Tages zu einer zweiten„Spiegel"-Affaire noch größeren Ausmaßes werden.
— Na, warten Sie mal ab! Vielleicht vergeht Ihnen dann eines Tages das Lachen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch kurz die Anträge begründen, die wir eingebracht haben.
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Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5339
BaierZum Antrag Umdruck 107 *) betreffend, Honorare, Gutachten, Forschungsaufträge und Durchführung einer Systemanalyse, beziehe ich mich auf das, was ich zu den Planungs- und Forschungsvorhaben eben bereits kritisch festgestellt habe. Bei den vorgenommenen massiven Personalvermehrungen und der Einrichtung einer großzügigen Planungsabteilung ist es nicht vertretbar, weitere 1,6 Millionen DM zusätzlich dafür auszugeben. Deshalb beantragen wir eine Kürzung um die Hälfte.Für die Durchführung einer wissenschaftlichen Systemanalyse „zur Verbesserung des Informationsflusses", wie Sie, Herr Professor Ehmke, sagen, fordern Sie für 1971 einen höheren Betrag als im Vorjahr, nämlich 1 000 000 DM. Wie ich nun in Erfahrung brachte, haben Sie jedoch den Vertrag mit der Studiengruppe für Systemforschung bereits Ende 1970 gekündigt. Was soll nun mit diesem Geld geschehen, wenn Sie lediglich zwei oder drei Fachkräfte dieser Studiengruppe im Honorarverhältnis beschäftigen? Dieser Ansatz im Haushalt verstößt gegen die Haushaltswahrheit. Deshalb beantragen wir diesen Titel zu streichen.Mit dem Antrag Umdruck 108 stellt die CDU/CSU den Antrag, die Verfügungsmittel des Bundeskanzlers für außergewöhnlichen Aufwand um den Betrag von 100 000 DM auf 190 000 DM zu kürzen. Dies entspricht immer noch einer Erhöhung um 20 000 DM gegenüber 1969. Wir meinen, dies sollte genügen.Ebenso wollen wir den Geheimtitel des Bundeskanzlers zu allgemeinen Zwecken um 100 000 DM wiederum auf 250 000 DM zurückgeführt wissen.Herr Bundesminister Professor Ehmke, Sie erhalten laut Haushaltsvoranschlag für außergewöhnlichen Aufwand 50 000 DM. Bei aller Würdigung Ihrer Betriebsamkeit ist dies zuviel des Guten. Mit welcher Begründung benötigen Sie einen höheren Betrag als Ihre Ministerkollegen? Der Innenminister erhält 30 000 DM, der Justizminister 30 000 DM, der Wirtschaftsminister 30 000 DM, der Ernährungsminister und der Finanzminister begnügen sich mit 20 000 DM.
— Herr Kollege, ich hoffe, daß der persönliche Bedarf nicht das Ausmaß des vergangenen Jahres erreicht, denn durch die Schenkung meines Kollegen Höcherl, die bekannte Lederhose, dürfte eine längere Lebensdauer erreicht werden.Der Verfügungsbetrag eines Fachministers in einem großen Ressort müßte auch für Sie ausreichen. Daher beantragen wir die Herabsetzung Ihres Verfügungsfonds von 50 000 auf ebenfalls 30 000 DM.Zum Schluß der Umdruck 109: Neubau des Bundeskanzleramtes. Auch für dieses Projekt gilt in Stil und Methode das, was ich eingangs bereits kritisiert habe. Im Haushalt des Bundeskanzlers ist hierfür ein Geldansatz von 3 Millionen und eine Verpflichtungsermächtigung für 97 Millionen DM ausgebracht. Die CDU/CSU-Fraktion beantragt, hier aus haushaltsrechtlichen und städtebaulichen Gründen im Haushalt 1971 einen Leertitel einzusetzen. Ich*) Siehe Anlage 4darf das kurz begründen. Das Expertenkolloquium „Arbeitskreis Bundesbauten Bonn" hat in den Empfehlungen zur Integration der Bundesbauten in die Stadt Bonn festgestellt, daß gegen die Ausschreibung eines Ideenwettbewerbs für das Bundeskanzleramt ohne gleichzeitigen Ideenwettbewerb für die städtebauliche Gestaltung von Bundesdistrikt und Regierungsbereich erhebliche Bedenken geltend gemacht werden. Der Rat der Stadt Bonn hat zwar inzwischen dem Entwurf eines Vertrages zugestimmt, aber mit dem Bebauungsplan ist vor Ende dieses Jahres nicht zu rechnen. Daher können auch die Baupläne nicht vor Ende dieses Jahres vorgelegt werden. Nach § 24 der Bundeshaushaltsordnung dürfen Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen für Baumaßnahmen erst beantragt werden, wenn Pläne, Kostenberechnungen und Erläuterungen vorliegen. Dies ist die Voraussetzung für die Veranschlagung der Mittel. Wenn Sie Voraussetzungen geschaffen haben, kann es unverzüglich in einem Nachtragshaushalt geschehen.Ich möchte zusammenfassend betonen, daß die CDU/CSU keinesfalls gegen den Neubau eines Bundeskanzleramtes, aber für eine saubere haushaltsrechtliche und baurechtliche Regelung ist. Was hier praktiziert wird, meine Damen und Herren, verstößt eindeutig gegen die Bundeshaushaltsordnung und erinnert an die Vorgänge um den Bau des Kanzler-Swimming-pools, wofür im Vorjahr ohne Bewilligung und am Parlament vorbei außerplanmäßig vom Finanzminister ein Betrag von 60 000 DM bewilligt wurde. Gegen solche Praktiken wollen wir uns wenden. Deshalb bitten wir Sie, dem Leertitel, wie wir ihn vorgesehen haben und der keinerlei Schaden bringt, zuzustimmen.Lassen Sie mich damit schließen: Arbeit und Leistung sind die Grundlagen für die im Kanzleramt notwendige Effektivität. Sie selbst, Herr Minister, haben diesen Anspruch hier vor einem Jahr gestellt. Wir meinen, daß es für Sie Zeit ist, damit zu beginnen, und zwar mit politischem Gewinn und nicht nur mit erhöhter Rechnungslegung. Ich sehe auch heute wenig Ansätze zu rationeller Politik. Was hier geschieht, hat nichts mit Solidität zu tun. Deshalb werden wir diesen Haushalt ablehnen.
Das Wort hat der Bundesminister Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich kurz zu einigen Fragen, die Herr Kollege Baier aufgeworfen hat, antworten.Zunächst zur Frage des Verfügungstitels. Es ist eine berechtigte Frage. Aber die Antwort ergibt sich daraus — was im Haushaltsausschuß in beiden Jahren eingehend diskutiert worden ist —, daß das Kanzleramt, was Besucher und Empfänge usw. betrifft, natürlich stärker belastet ist als die einzelnen Ressorts.Lassen Sie mich auch hier etwas zu der von Ihnen durch Zurufe angeschnittenen persönlichen Geschichte sagen, die mir immerhin ein Geschenk
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5340 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Bundesminister Dr. Ehmkemeines Freundes Hermann Höcherl eingetragen hat. Die Sache war juristisch in Ordnung, politisch aber ganz sicher nicht. Ich sage Ihnen nur eines: wenn ich mich dazu im einzelnen nicht geäußert habe, dann deshalb, weil ich von dem Grundsatz ausgehe, den ich hier schon einmal in einer Debatte vertreten habe, daß nämlich ein Minister zu seinen Beamten zu stehen hat, gleich, ob es gut oder ob es falsch geht. Wenn die Beamten es gut machen, erbt er den Lohn, und wenn es schlecht geht, hat er dafür den Kopf hinzuhalten und kann nicht seine Beamten — leger gesprochen — „in die Pfanne hauen". Insofern unterscheide ich mich von den Praktiken mancher Kollegen der CDU/CSU, als sie Häuser geführt haben.
Dann zu den Anträgen zur Änderung der Wissenschaftsmittel. Da ist es bei der Systemanalyse zunächst so, wie wir es im Haushaltsausschuß im einzelnen dargelegt haben, Herr Kollege Baier. Bei der Systemanalyse handelt es sich ja um eine Sachaufgabe. Der Globalvertrag ist gelöst worden. Das hat der Planungschef eingehend dargestellt. Dafür haben wir aber Aufträge für bestimmte Projekte gegeben und in bezug auf die Reorganisation des Kanzleramts eine neue Gruppe eingeschaltet. Die Mittel sind also schon notwendig.Im übrigen finde ich es recht amüsant für die Gesamtdebatte, daß Sie wieder sehr widersprüchlich sind. Auf der einen Seite sagen Sie: Es wird gar nichts gemacht, wir sehen nichts. Auf der anderen Seite wollen Sie dem Kanzleramt die Mittel zum weiteren Aufbau eines effektiven Planungsverfahrens nehmen. Wenn Sie sagen, Sie sähen keine Reformen und keine Fortschritte, dann kann das zwei Grande haben: entweder sind die Reformen und die Fortschritte nicht da, oder Sie können oder wollen nicht sehen. Mir scheint das letztere der Fall zu sein.Ich muß auch noch auf die allgemeine Debatte zurückkommen, Herr Kollege Baier. Ich möchte nicht wiederholen, was ich hier schon im vergangenen Jahr zu den Problemen des Kanzleramts gesagt habe. Sie haben dieselben Argumente gebracht wie im letzten Jahr. Ich bin der Meinung, sie sind in diesem Jahr nicht richtiger geworden. Ich will darum nicht im einzelnen darauf eingehen.Herrn Kollegen Wörner kann ich sagen, daß ich der Meinung bin, daß sich die Bundesregierung für seine Rede von heute morgen bei ihm bedanken sollte. Sie haben ihn ja als Repräsentanten der CDU/CSU hier sprechen lassen. Ich fand seine Rede durchaus repräsentativ für den Zustand Ihrer Parteien.
Herr Kollege Barzel, da ich alles genau lese, was Sie sagen, habe ich natürlich auch Ihre Düsseldorfer Parteirede gelesen und dort den Satz gefunden: Wer die geistige Führung gewinnt, der wird die politische Führung dazugewinnen. — Ich glaube, das ist richtig. Das ist ja der Vorgang, der zur Bildung der SPD/FDP-Regierung im Herbst 1969 geführt hat.
Aber wenn ich die Frage der geistigen Führung nach der Qualität Ihrer repräsentativen Rede von heute morgen beurteile, dann bin ich der Meinung, daß sich die deutsche Öffentlichkeit in Ruhe darauf einrichten kann, in den siebziger Jahren weiter von der sozial-liberalen Koalition geführt zu werden.
Lassen Sie mich jetzt, Herr Kollege Baier, noch zu einem Thema kommen, wo ich sagen muß, daß ich zum erstenmal mit Ihnen sehr grundsätzlich nicht übereinstimme. Das ist die Frage des BND. Wenn ich auf diese Frage antworten würde, müßte ich hier natürlich darlegen, in welchem Zustand ich den Dienst vorgefunden habe. Einige Herren von Ihnen wissen sehr gut, wie der Zustand dieses Dienstes war und was es in dem Dienst gab, als diese Regierung antrat.
- Herr Barzel, wenn Sie das dazwischenrufen, dann, glaube ich, wissen Sie nichts davon.
Wenn das Parlament, um diesen Dienst und damitdie Sicherheit dieses Landes zu schützen, ein Vertrauensmännergremium einsetzt, in dem solche Fragen erörtert werden können, dann hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie dort fragen und ich dort antworte und nicht hier, wo Sie wissen, daß ich aus Gründen der Sicherheit nicht antworten kann. Nun gibt es auch noch Stimmungsmache gegen den Dienst, der es nach der Situation, in die er gebracht worden war, schwer genug hat.
Wollen Sie die Zwischenfrage noch beantworten, Herr Minister? -
Sie haben das Wort.
Herr Baier, ich bitte um Entschuldigung, ich hatte es nicht gesehen.
Herr Bundesminister Ehmke, ich kritisierte, daß Sie das Vertrauensmännergremium des Parlaments
nicht häufig genug einberufen, und weil Sie das nicht tun, habe ich an einigen bestimmten Punkten Feststellungen getroffen. Ich darf Sie fragen, ob Sie uns durch eine häufigere Einberufung des parlamentarischen Vertrauensmännergremiums die Möglichkeit geben werden, all die Fragen zu diskutieren, um die es hier geht. Dann haben wir es nicht nötig, das hier zu tun.
Herr Kollege Baier, ich bin sehr erstaunt
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5341
Bundesminister Dr. Ehmkeüber Ihre Unwissenheit in diesen Dingen. Aber ich gebe zu, daß Sie neu im Gremium sind. Daher sind Ihnen vielleicht zwei Dinge nicht bekannt, nämlich erstens, daß ein Teil der Fragen, die Sie angeschnitten haben, demnächst — was wir inzwischen gemacht haben — behandelt werden soll, und zweitens, daß eine der wesentlichen Änderungen unter dieser Regierung die Vereinbarung ist, daß jede der Fraktionen die Einladung des Gremiums verlangen kann. Das ist neu unter dieser Regierung. Wenn Sie also das Gefühl haben, es handelt sich um Dinge, die nicht in der Routinesitzung besprochen werden können, steht es Ihnen ohne weiteres zu, sich mit Ihren Kollegen abzustimmen und einen Antrag zu stellen. Dann sucht man einen Termin. Es liegt also nicht an uns. Aber ich gebe zu, vielleicht kennen Sie diese Vereinbarung noch nicht, weil Sie ganz neu im Gremium sind.
Weitere Zwischenfrage.
Herr Bundesminister Ehmke, entspricht es den Tatsachen, daß Sie im Jahre 1970 das parlamentarische Vertrauensmännergremium lediglich zweimal einberufen haben, und entspricht es den Tatsachen, daß ich in der Sitzung im Dezember gefordert habe, daß wir alsbald wieder zusammentreten?
Das ist richtig. Aber zum Teil ergab sich durch die personelle Änderung, daß wir noch einmal erzählen mußten, was wir vorher schon erzählt hatten.
Im übrigen, wenn ich den Kollegen Barzel einen Moment stören darf, wird er Ihnen gern bestätigen, da Herr Köppler nicht da ist, daß die lange Frist zwischen den Sitzungen dadurch hervorgerufen wurde, daß die CDU — Herr Stücklen wird mir das auch bestätigen - zweimal um Vertagung gebeten hat, bis zu Frage der Nachfolge geklärt war. Das ist die Erklärung dafür, daß längere Zeit keine Sitzung stattgefunden hatte.
Im übrigen sage ich noch einmal, diese Regierung hat im Gegensatz zu früheren Regierungen mit den Fraktionen vereinbart, daß jeder den Antrag auf Einberufung stellen kann, und dann wird die Regierung das Vertrauensmännergremium einberufen.
Ich bitte noch einmal aus Gründen der Staatssicherheit, die nicht in dieser allgemeinen Polemik und Stimmungsmache unter den Schlitten kommen darf, darum, den Dienst aus diesen öffentlichen Erörterungen herauszuhalten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hörmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe im Gegensatzzu meinem Kollegen Baier nicht vor, die Gespräche und die Begründungen aus dem Haushaltsausschuß im Plenum zu wiederholen, soweit es die Anträge zum Bundeskanzleramt betrifft. Die Koalitionsfraktionen werden die von Ihnen gestellten Änderungsanträge jedenfalls ablehnen. Es sind dieselben wie im vergangenen Jahr mit Ausnahme des einen zum Bundeskanzleramtsneubau; aber darauf komme ich noch zu sprechen.
— Herr Kollege Baier, wir haben doch die haushaltsrechtliche Frage im Haushaltsausschuß eingehend von allen Seiten beleuchtet und ganz klar festgestellt, daß § 24 Abs. 3 der Bundeshaushaltsordnung so angewendet werden kann, daß die Möglichkeit des Einsatzes von 3 Millionen DM für den Kanzleramtsneubau zweckmäßig erscheint. Es wäre doch ein Witz, diesen Betrag zu streichen und einen Leertitel einzusetzen, wenn wir alle miteinander genau wissen, daß im Jahre 1971 Ausgaben zur Vorbereitung des Neubaus des Bundeskanzleramtes entstehen werden. Es müssen Bodenproben gemacht werden, und es müssen neue Straßenführungen angelegt werden, damit überhaupt gebaut werden kann. Und dafür fallen Mittel an. Das haben wir doch alles hundertmal besprochen. Ich muß mich etwas wundern, daß Sie das hier noch einmal aufwärmen.Jedes Jahr bei den Haushaltsberatungen werden von der Opposition die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und auch die Verfügungsmittel angegriffen, und es werden Kürzungsanträge gestellt. Wir sollten das einmal etwas kritisch betrachten, weil es zum Teil sehr polemisch und zum Teil sachlich unrichtig gemacht wird, wie schon die Einzelberatungen im Haushaltsausschuß gezeigt haben. Ganz besonders bemerkenswert ist, daß die Opposition sehr schnell ihre eigene Praxis der Form und Art ihrer Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere aber die Höhe der jeweiligen Mittelansätze, aus der Zeit ihrer Regierungstätigkeit völlig aus dem Gedächtnis verdrängt hat. Ich darf für unsere Fraktion erklären, daß wir die demokratische und objektive Form der neuen Öffentlichkeitsarbeit dieser Bundesregierung begrüßen und unterstützen.
Der Bürger wird informiert. Er wird über Gesetze und Möglichkeiten in Kenntnis gesetzt und über Planungen und Vorhaben der Bundesregierung objektiv und durchschaubar unterrichtet, was übrigens ohne Schwierigkeiten zu beweisen ist.Sehen wir uns einmal den früher berühmten Tit. 300, jetzt Titel 531 01, den sogenannten Geheimtitel zur Verfügung des Bundeskanzlers an.
1965 hatte er einen Ansatz von 13 Millionen DM; heute, 1971, hat er einen Ansatz von 6 Millionen DM.
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5342 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Hörmann
— Das Geld ist zum Teil gekürzt, zum Teil in den anderen Titeln „Öffentlichkeitsarbeit Inland", der öffentlich ausliegt, umverlagert worden. Es ist also einiges, was früher geheim war, öffentlich gemacht worden. Das steht jetzt zur Information zur Verfügung.Nehmen wir den Titel „Öffentlichkeitsarbeit Inland". Der Ansatz betrug 1965 5 Millionen DM; heute, 1971, beträgt er 9,5 Millionen DM. Hier sehen Sie die Verlagerung. Beide zusammen machten 1965 18 Millionen DM aus; heute, 1971, sind es 15,5 Millionen DM. Hier liegt also eine Kürzung und nicht eine Anhebung der Mittel insgesamt vor. Trotzdem ist die Informationsarbeit und die Unterrichtung besser geworden. Sie ist offener, wesentlich informativer geworden. Eine geheime Wahlkampffinanzierung über den „Geheimtitel" findet nicht mehr statt.
Die Geschichten aus Ihrer Zeit kennen sie ja sehr genau.
Ein zweites Beispiel. Untersuchen wir einmal den Gesamtansatz aller Einzelpläne, weil zur Zeit alle Häuser in der Frage der Öffentlichkeitsarbeit angegriffen werden. Es ist sehr interessant, einmal festzustellen, wie sich die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit in allen Einzelplänen entwickelt haben. Da wurden 1950 mit 450 000 DM begonnen. Ich gebe zu, das war der Anfang; da gab es einen Aufbau, der notwendig war. 1960 betrug der Ansatz insgesamt 52 Millionen DM. Er hat sich bis zum Jahre 1971 auf heute 102 Millionen DM erhöht. Darin sind 2 Millionen DM für den Bundestag enthalten; das hat es früher überhaupt nicht gegeben.Aber dieser Ansatz von 100 Millionen DM macht genau 1 Promille des gesamten Haushaltsansatzes von 100 Milliarden DM aus. Bei den früheren Bundesregierungen waren die Ansätze für die Öffentlichkeitsarbeit im Verhältnis zum Gesamthaushalt wesentlich höher. Auch das sollte man hier einmal berücksichtigen.Nun werden die Mittel zur Unterrichtung der Öffentlichkeit angesichts der angelaufenen und noch vor uns stehenden Reformprogramme der Regierung von mir als bescheiden angesehen, ganz besonders im Verhältnis zu den Aufwendungen der Wirtschaft. Im Hinblick auf die genannten Tatsachen kann wohl nicht behauptet werden, daß die im Entwurf des Haushalts 1971 für die Öffentlichkeitsarbeit vorgesehenen Mittel übersteigert sind. Wenn die Opposition die Kürzung dieser Mittel empfiehlt, so zeigt sie, daß sie eine sachliche Information der Bevölkerung über Reformaufgaben nicht für notwendig hält. Wir bejahen jedoch die Reformvorhaben der Bundesregierung und sind deshalb bereit, auch die zur Unterrichtung der Bevölkerung nötigen Mittel zu gewähren.
Das ist die Begründung, warum wir Ihre einzelnen Änderungsanträge ablehnen.
— Das kann ich Ihnen aus dem Stegreif jetzt nicht beantworten, Herr Baier. Aber wir werden uns im Ausschuß sicher darüber unterhalten und das eingehend nachprüfen. Heute werden wir abstimmen, und wir werden den Etat so verabschieden, wie es die Koalitionsparteien im Haushaltsausschuß schon getan haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Reddemann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich danke der Koalition für die Begrüßung. Der im Grundgesetz nicht vorgesehene Herr „Bundespremierminister" hat soeben noch einmal seine Hosen in diese Debatte eingeführt. Lassen Sie mich das — ich hoffe, zum endgültig letzten Male — sagen: die Hosen des Herrn von Bredow sind in die Literatur eingegangen; die Hosen des Herrn Ehmke kommen höchstens in ein Handbuch mit dem Titel „Was demokratische Politiker nicht tun sollten".
Mehr möchte ich im Augenblick zu diesem Thema nicht sagen, denn ich habe ja die Aufgabe, etwas zur Öffentlichkeitsarbeit dieser Bundesregierung zu erklären. Ich darf mich dabei auf den Herrn Kollegen Raffert beziehen, der am 3. Juni des vergangenen Jahres in der 55. Sitzung dazu einen Grundsatz aufgestellt hat. Die Regierung, so sagte der Herr Kollege damals, werde „die Öffentlichkeitsarbeit benutzen als einen Beitrag zur Demokratie durch Information".
— Ich freue mich, Herr Kollege Raffert, über diesen Zwischenruf. — Und unter dem Beifall der SPD versicherte dann der Kollege Raffert, das sei nicht nur seine Meinung, das sei auch die Meinung der Bundesregierung und die Meinung der Bundesregierung und die Meinung der Koalition.Angesichts dieses Tatbestandes werden selbst Sie, meine Damen und meine empfindlichen Herren von der Koalition, es nicht als Böswilligkeit eines Oppositionellen ansehen oder gar als einen „Anschlag" auf diese Regierung — wie der Herr Bundeskanzler in seiner eindrucksvollen Schlichtheit kritische Bemerkungen zu nennen pflegt —, wenn ich die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung an dem von der Koalition selbst gestrickten Maßstab „Demokratie durch Information" messe.
Dabei muß ich mich beinahe automatisch mit demnominellen Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung befassen, der nach
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5343
Reddemanneigenem Eingeständnis ja zur Verschönerung der Regierungswahrheit da ist und der nach Aussagen des auch Nachrichten verbreitenden Magazins „Der Spiegel" Herrn Oswalt Kolle für ein gutes Beispiel hält.
Wie Herr Ahlers nämlich die Methode „Demokratie durch Information" begreift und praktiziert, hat er am 15. Oktober in der ansonsten seriösen Wochenzeitung „Christ und Welt" dargelegt. Einem nach 12 Monaten SPD-FDP-Koalition nicht mehr ganz überraschten Leserkreis versicherte er dort, die Opposition könne ein Mehr an Information nur dann erwarten, wenn sie sich mit der Regierungspolitik sachlich und nicht polemisch auseinandersetze. Und was sachlich und was polemisch ist, bestimmt in diesem Hause im Augenblick bekanntlich die Bundesregierung.
Ich will allerdings Herrn Ahlers nicht über Gebühr schelten, denn das, was er da geschrieben hat, war ja kein Original. Er hat wiederholt lediglich auf elegantere Art das, was der Gewährsmann des Herrn Bundeskanzlers für dessen fahrlässigen Bielefelder Umgang mit der Wahrheit — übrigens auch ein Stück Öffentlichkeitsarbeit, Herr Bundeskanzler —, nämlich Herr Wischnewski, am 3. August 1970 bereits gesagt hatte. In seiner bekannten liebenswürdigen Art formulierte Herr Wischnewski damals die Aufforderung an die Bundesregierung, die Informationen nicht nur gegenüber der so wenig ehrerbietigen Opposition einzuschränken, sondern ebenfalls gegenüber solchen unbotmäßigen Presseorganen, die nach der Meinung der Stimme seines Herrn Parteivorsitzenden „die Chance, die Arbeit der Bundesregierung zu erschweren, vor das nationale Interesse gestellt haben".
Daß die Herren Brandt und Wehner, die 1963 die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie scharfmacherisch als nationalen Verrat qualifizierten, jetzt den Umfang und den Rahmen der „nationalen Interessen" abzustecken hätten, verstand Herr Wischnewski selbstverständlich auch in diesem Falle wieder am Rande.
Konfrontieren wir nun die längst in die Praxis umgesetzten restriktiven Informationstheorien des Ersten Sekretärs beim Parteivorstand der SPD
und des Staatssekretärs im Bundespresseamt mit dem „Demokratie durch Information"-Postulat des Herrn Kollegen Raffert, dann bleibt doch nur die Feststellung, daß die Bundesregierung die Information als Beitrag zur Demokratie nicht genutzt hat und daß sie dadurch, daß sie die Information noch restriktiver handhaben will, dann eben nach eigenem Verständnis ein Weniger und nicht ein Mehr an Demokratie einführen muß.
Das würde ja unsere Anträge durchaus noch unterstützen, Herr Kollege Althammer.
Verehrter Herr Kollege, ich komme nicht aus dem Rheinland; ich bin kein Experte für Karneval. Wenn Sie meinen, das sei eine Karnevalsrede, dann kann das nach den Ausführungen des Herrn Wehner unter Umständen sogar noch etwas Positives für mich sein.
Statt einer gesunden Informationspolitik erleben wir im Augenblick Taten, die ich ganz schlicht als die zeitgemäße Fortsetzung der Handlungen des im Jahre 1848 davongejagten Fürsten Metternich bezeichnen kann. So werden Journalisten, die man nicht in den Dienst der Wahrheitsverschönerung stellen kann, Informationen nicht nur im Bundespresseamt, sondern in nahezu allen Ministerien vorenthalten.
So wird Druck auf nonkonformistische Journalisten ausgeübt, denen ein SPD-Parteibeschluß kein Dogma ist.Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, ich erinnere an die Pressionsversuche der Koalition im Falle des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle, und ich verweise auf die Methoden des Rundfunkreferenten der SPD, der in konzertierter Aktion mit Vertretern der Bundesregierung versucht hat, Einfluß auf Nachrichtensendungen der Rundfunk- und Fernsehanstalten auszuüben.
Herr Berkhan - um ein besonders markantes Beispiel zu nennen —, als Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium offenbar auch dazu prädestiniert, die Bundesregierung gegenüber kritischen Bemerkungen zu verteidigen, hat im ZDF nun lange genug versucht, den unbequemen Herrn Löwenthal abzuschießen.Ich darf ein Zitat aus der „Kölnischen Rundschau" vom 21. Oktober 1970 bringen. Dort referiert das Blatt ich zitiere —:In bislang sämtlichen Sitzungen des Ausschusses für Politik und Zeitgeschehen des ZDF versuchten dessen sozialdemokratische Mitglieder, dem Moderator am Zeuge zu flicken.Und selbst der „Kölner Stadtanzeiger;, dessen Verhältnis zu dieser Regierung doch wohl eher dem Verhältnis des „Moniteur" zu dem Herrn Napoleon gleicht,
selbst diese Zeitung mußte am selben Tage konstatieren, wir wären am Ende, wenn es der Regierung gestattet werde, sich selbst und der Öffentlichkeit die Kritiker zu verordnen.
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Hörmann
- Ich habe den Fall Löwenthal — ich danke Ihnen für den Zuruf — besonders aufmerksam verfolgt, weil ich wissen wollte, wie weit es die Spitzen dieser Koalition gegen diesen ebenso freiheitlich engagierten wie sachkundig-kritischen Hitler-Gegner treiben wollten.
Ich habe dabei erschreckt den Grad feststellen müssen, mit dem die fatalen Aussagen von SPD-Honoratioren in ihrer gespreizten Würde — die es ja angeblich nicht geben sollte — von notorischen Gegnern Andersdenkender in mehreren Organen aufgenommen und vergröbert wurden.Ich darf Ihnen dazu ein Zitat bringen. So schrieb die Zeitung „Metall" - das Blatt der gleichnamigen Industriegewerkschaft — am 5. Januar 1971 wörtlich:Kaum erscheint das Biedermanngesicht des Moderators am Bildschirm, gleich den bei ersten, betulichen Worten und öligen Gesten weiß der erfahrene Zuschauer: Jetzt kann ein neues, unappetitliches Verfälschungskunststück mit gezinkten Karten kommen. Gibt dem Tatsachenjongleur jemand entschieden Kontra, dann schaut er dumm aus der Wäsche, macht faule Drehs und spielt das harmlose Würstchen.
Meine Damen und Herren, diese haßtriefenden Sätze mit Begriffen aus dem „Wörterbuch des Unmenschen" hätte nicht nur im roten „Metall", sondern ebensogut im „Schwarzen Korps" stehen können.
Das Stichwort dazu kam von der Bundesregierung.
— Herr Kollege Mattick, wir können uns auch so unterhalten. Ich weiß, Sie machen gern Zwischenrufe.Den permanenten Versuchen, Andersdenkende abzuqualifizieren, stehen Regierungsmethoden gegenüber, die eigene Mannschaft zu Heroen zu erklären. Ausführungen dazu kann ich mir weitestgehend sparen. Wer die Heldenlegende, die die Bundesregierung über den Verteidigungsminister verbreitet, gelesen hat,
bekommt 518 Jahre nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken den Beweis, wie wenig der Byzantinismus ausgestorben ist.
Ich möchte mir dazu trotzdem eine Bemerkung erlauben. Ich bin der Bundesregierung für die Herausgabe dieser Broschüre an sich dankbar, denn es gibt in der Bundesrepublik keine bessere und keine aktuellere Illustration, wenn man einem Menschen den Begriff des Personenkults klarmachen will.
Herr Bundeskanzler, heute morgen ist bereits die Anzeige aus dem Blatt der IG-Metall, dem „Gewerkschaftler", zitiert worden. Dort fand ich den hymnischen Satz über Sie: „Kein Kanzler stand jemals dem einzelnen Bürger menschlich näher als er."
Verehrter Herr Bundeskanzler, ich bin kein Freund Ihrer Politik; das ist ja wohl nichts Neues. Als ich aber das gelesen habe, war ich versucht, Sie öffentlich vor Ihren Freunden in Schutz zu nehmen, denn so schlecht ist Ihre Politik auch wieder nicht, daß man sie und vor allem Ihre Person auf diese Weise der Volksbelustigung aussetzt.
Aber diese Anzeige ist ja nicht der erste Versuch propagandistischen Überschwangs dieser Art.
Ich erinnere daran, daß man den Text des Moskauer Vertrages kombiniert mit einer Comic-Strip-Serie verteilt hat. In dieser Serie ist die Reise von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und von Herrn Bundesaußenminister Scheel nach der Art der Abenteuer von Fix und Foxi dargestellt worden.
Welchen Eindruck ,das in der Öffentlichkeit, außerhalb der Fraktion der SPD, hinterlassen hat, können Sie im Grunde genommen bei jedem Pädagogen und bei jedem Soziologen nachlesen. Diese Art der Propaganda wird normalerweise mit dem Begriff „Infantilismus" umschrieben.
Meine Damen und meine Herren, wir wären schlecht beraten, wollten wir alle diese Dinge auf Herrn Ahlers, der ja nun wirklich sein gerütteltes Maß an Ärger durch Herbert Wehners Freund Werner Müller hat, schieben.
Die Schuld und Verantwortung für die Fehler dieser Informationspolitik trägt nun einmal — Herr Bundeskanzler, entschuldigen Sie, wenn ich Sie wiederum zitiere; ich weiß, Sie sind für Kritik nicht besonders empfänglich — der verantwortliche Minister, und das ist eindeutig der Bundeskanzler. Herr Bundeskanzler, ich habe Sie bei der Etatberatung des Jahres 1970 vor der sich abzeichnenden Fehlentwicklung auf dem Informationssektor gewarnt. Aber Sie wollten offenbar lieber fühlen als hören. So haben Sie trotz der Warnung weiter auf Herrn Henri Nannen gehört, den Mann, der Hitler immerhin schon einmal als Jubelperser gedient hat, wie ich Ihnen damals bereits sagte.
Im Rahmen Ihres Verständnisses von Demokratie ernannten Sie, ohne auch nur andere Journalisten zu fragen, diesen Mann zum Repräsentanten ,des deutschen Journalismus bei der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages.
Hörmann
Ich frage Sie, ob Sie mir ein paar ernsthafte Journalisten nennen können, die ausgerechnet von Herrn Nannen vertreten sein möchten.
— Ihre Rufe in allen Ehren — —
— Verehrter Herr Kollege Wehner, wenn Sie sagen, daß Sie meine Ehre nicht haben wollen — —
Herr Abgeordneter, kommen Sie zum Schluß.
Sie gestatten, daß ich zum Schluß komme.
Kommen Sie zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme gern zum Schluß. Ich habe festgestellt, daß ich offenbar in ein Wespennest gestochen habe.
Genau das war an sich meine Absicht.
Herr Wehner, wenn Sie sagen, meine Ehre interessiere Sie nicht — —
— Jawohl, Herr Wehner!
Kommen Sie zum Schluß!
Herr Präsident, ich komme gern zum Schluß. Ich werde nur leider durch
die Erklärungen der SPD-Fraktion daran gehindert.
Lassen Sie mich in aller Ruhe nur eines zum Schluß sagen.
An der Spitze dieser Bundesregierung und an der Spitze der Koalition stehen Journalisten und Fachleute, die genau wissen, um was es sich handelt, wenn sie Öffentlichkeitsarbeit treiben. Ich kann in diesem Falle nur Herrn Conrad Ahlers zitieren, daß man eben eine schlechte Politik auch nicht mit einer guten Öffentlichkeitsarbeit verbessern kann. Dem habe ich nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen.
ist mit Bielefeld? Sie haben eine ganze
Menge auf dem Kerbholz! — Anhaltende
große Unruhe.)
Das Wort hat der Staatssekretär Berkhan.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Reddemann hat es für notwendig gefunden, mich in diese Diskussion einzubeziehen. Der Ordnung halber will ich .Ihnen kundtun, was der Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Fernsehrats, Herrn Wülfing — beide Herren sind sicherlich nicht der Sozialdemokratischen Partei zuzurechnen —, nach einer langen Diskussion im Ausschuß für Politik und Zeitgeschehen der Öffentlichkeit erklärte. Ich zitiere:Die nach der Pressekonferenz zu der Sitzung des Fernsehrates des Zweiten Deutschen Fernsehens am 16. Oktober 1970 in Kiel in einzelnen Zeitungen wiedergegebene Äußerung des Stellvertretenen Vorsitzenden des Fernsehrates, Dr. Friedrich Zimmermann, zu der in der Sitzung geführten Diskussion über das „ZDF-Magazin" und die dadurch ausgelösten Verlautbarungen verschiedener Stellen und Pressekommentare veranlassen den Vorsitzenden des Fernsehrates, Dr. Walter Wülfing, und den Intendanten des Zweiten Deutschen Fernsehens, Professor Dr. Karl Holzamer, zu der folgenden gemeinsamen Klarstellung:1. Staatssekretär Berkhan hat in der Sitzungsdiskussion keinen Antrag gestellt oder in Aus-
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5346 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Parlamentarischer Staatssekretär Berkhansieht gestellt, das „ZDF-Magazin" einzustellen. Dr. Zimmermann hat dies als Sprecher des Fernsehrates in der Pressekonferenz auch nicht erklärt.2. Die in der Diskussion im Fernsehrat zu dem Thema getroffenen Meinungsäußerungen stellten in keinem einzelnen Falle irgendeinen Angriff gegen die Pressefreiheit dar.3. Der Grundtenor der gesamten Diskussion zu dem Thema ging allein um die Frage der Ausgewogenheit des Programms in bezug auf eine einzelne Sendereihe.Ich könnte hier abbrechen, aber ich will das Zitat vollständig bringen. Es heißt weiter:Staatssekretär Berkhan ist als Mitglied des Fernsehrates einer der laut Staatsvertrag für das ZDF von der Bundesregierung entsandten Vertreter, nicht Vertreter seiner Partei. Seine Äußerungen im Fernsehrat sind nicht als Erklärungen für seine Partei zu werten. Überdies sind die Mitglieder in den Organen des ZDF gemäß Staatsvertrag in diesem Amt an keine Weisungen gebunden.Herr Reddemann, ich glaube, die Erklärung von Herrn Professor Holzamer und Dr. Walter Wülfing qualifizieren Sie vor dem ganzen Hause.
Herr Abgeordneter Haase, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß leider noch einmal auf das Geld zu sprechen kommen, und ich hoffe, daß die Beschäftigung mit diesem Thema Ihre Gemüter wieder etwas beruhigen wird.Die beiden im Haushalt des Presseamtes ausgewiesenen Kapitel für Öffentlichkeitsarbeit erfahren von 1970 auf 1971 nur eine relativ bescheidene Erhöhung auf 16,6 Millionen DM. Aber allein die Betrachtung dieser Summe rechtfertigt nicht die Behauptung von den nur geringen Mitteln, die der Bundesregierung angeblich für ihre Öffentlichkeitsarbeit im Inland zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang müssen natürlich auch jene Gelder berücksichtigt werden, die den einzelnen Fachressorts für Informationszwecke zur Verfügung stehen und die wohl in enger Verbindung mit dem Presseamt möglichst werbewirksam verausgabt werden. Insgesamt kann die deutsche Regierung der Kollege Hörmann hat dankenswerterweise bereits darauf hingewiesen wohl über einen Betrag von etwa 100 Millionen DM für Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit im Jahre 1971 verfügen, eine sehr respektable Summe, meine Damen und Herren, das wird jeder zugeben müssen. Angesichts dieser 100 Millionen DM erscheint auch die so oft vorgetragene Behauptung unzutreffend, der zufolge der Werbeaufwand der Regierung im Verhältnis zu dem der gewerblichen Wirtschaft nur bescheiden sei.Von besonderer Bedeutung aber wird dieser Betrag, wenn er nicht in erster Linie nach dem Willendes Gesetzgebers zum Zwecke der Information über Ziele und Arbeit der Regierung, sondern im Rahmen des politischen Tageskampfes zur parteipolitischen Werbung bzw. zu Zwecken der Regierungspropaganda verausgabt wird. Es liegt auf der Hand, daß im Falle einer nicht sachgerechten Nutzung eines Propagandafonds solchen Umfangs die sowieso bescheideneren Chancen der Opposition in der politischen Auseinandersetzung in schier unerträglicher Weise zugunsten der Regierung verändert werden.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, daß sich niemand etwa gegen eine möglichst umfassende Unterrichtung der Öffentlichkeit wendet. Kein Mensch bestreitet der deutschen Regierung das Recht, beispielsweise Inhalt und Notwendigkeit angestrebter Reformen zu verdeutlichen oder den Nachweis über verausgabte Steuermittel zu führen.Leider hat sich allerdings im letzten Jahre die Tendenz verstärkt, statt sachgerechte Informationen zu verbreiten, propagandistische Aktionen in Szene zu setzen bis hin zu unverhüllter parteipolitischer Werbung oder gar bewußter Irreführung unserer Bevölkerung.
Ich möchte hier einige Beispiele anführen. Das typische Beispiel bewußter Täuschung zwecks Ablenkung von Fehlleistungen bzw. vom Fehlverhalten der Bundesregierung waren Inserate, die in der Tagespresse mit dem Ziel lanciert wurden, die anhaltende inflationistische Entwicklung in der Bundesrepublik zu verschleiern. Angesichts des stattfindenden Preisauftriebs und des offenkundigen Unvermögens dieser Regierung, wirtschaftliche Stabilität in unserem Lande zu bewirken, hat man sich nun, allerdings schweren Herzens, entschlossen, von der propagandistischen Behandlung dieses Themas abzusehen. Denn Versprechungen hinsichtlich der baldigen Erlangung von Preisstabilität nimmt dieser Regierung niemand mehr ab. Sie bewirken höchstens noch Hohngelächter von der Etsch bis an den Belt.
Um so eifriger bemüht sich nun unsere Regierung auf anderen Sektoren, ihr ramponiertes Ansehen propagandistisch ein wenig aufzuputzen. Leider muß ich mich auch hier aus Zeitgründen auf die Darstellung weniger, aber dafür um so charakteristischerer Volksaufklärungsinitiativen beschränken.Da sind einmal 15 Informationsschriften mit einer Druckauflage von 5,5 Millionen, die in den Monaten August bis Oktober 1970 mit Schwerpunkt in Bayern und Hessen zur Verbreitung kamen.
Herr Kollege Kiep, gerechterweise möchte ich darauf hinweisen, daß diese Erzeugnisse des Presseamts nicht durchweg parteipolitischen Werbecharakter trugen; das wollen wir berücksichtigen. Aber jedermann weiß natürlich, daß während des heißen Wahlkampfes in beiden bezeichneten Bundesländern wurde ja im Herbst gewählt -auch relativ neutral abgefaßte Informationsschriften
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5347
Haase
gute Werbedienste leisteten. Rechtzeitig zu den Landtagswahlen in Hessen und Bayern sah man sich in der glücklichen Lage, auch noch die Zeitungsbeilage „Aufbruch in die 70er Jahre" mit etwa 13 Millionen Stück nutzen zu können, dem wankelmütig gewordenen deutschen Bürger neues Vertrauen in seine sozial-liberalen Vormänner zu vermitteln. Auch fünf Zeitungsanzeigen zum Gesamtpreis von 1,7 Millionen DM richtete die Bundesregierung zeitgerecht in den Monaten September und Oktober an die Öffentlichkeit und versuchte mit ihnen, ihr Licht über den Scheffel zu stellen. Da über die vorher bezeichneten Aktionen bereits in mehreren Fragestunden hier diskutiert wurde, möchte ich von weiteren Ausführungen dazu absehen.Ich komme jedoch nicht umhin, in diesem Zusammenhang ein Inserat Ihrer besonderen Aufmerksamkeit zu empfehlen. Es handelt sich um jenes, in dem unsere Regierung Fragen der Verbrechensbekämpfung behandelt.
Diese Anzeige ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Unter dem Motto — nun hören Sie gut zu —„Dem Verbrechen keine Chance"
warben Sie im Oktober 1970 für den Ausbau der bundeskriminalpolizeilichen Einrichtungen in einem Stil, der vielleicht meinen konservativen Vorstellungen etwa entsprochen hätte, aber doch nicht den Ihren, meine Damen und Herren, nicht Ihren Vorstellungen, mit denen Sie hier in diesem Hause angetreten sind. Sie schreiben: „Wir werden sie jagen". So steht es dort im Inserat der SozialLiberalen: „Wir werden sie jagen, unerbittlich, Tag und Nacht, über alle Landesgrenzen hinweg sollen sie gejagt werden,
die Mörder, die Diebe, die Sittenstrolche und Autoknacker, die Betrüger, Erpresser, die Rauschgifthändler, die Bombenleger und die Terroristen."Meine Damen und Herren, diese recht forsche Kampfansage an die kriminellen Volksgenossen in unserem Lande, bei der man auch ein klein wenig emotionen Vorschub leistet, paßt eigentlich gar nicht so sehr in Ihre Bemühungen, das Strafrecht noch weiter zu liberalisieren und den Strafvollzug angenehmer zu gestalten.
Der hier zutage getretene Widerspruch ist aber leicht aufzuklären. Durch Meinungsumfragen war ihnen im Detail bekanntgeworden, daß die besorgniserregende Zunahme der Kriminalität, insbesondere der Gewaltverbrechen und der Rauschgiftdelikte, und die demgegenüber absinkende Zahl der aufgeklärten Straftaten eine wachsende Unruhe in der Bevölkerung verursachten. Dieses Wissen um Wünsche und Ängste unserer Bürger veranlaßte Sie, wohl wissend, daß man mit einer gnadenlosen Kampfansage an die Verbrecher Wählerstimmen erlangen kann, zu einer Anzeigeninitiative, die zumindest in ihrer Tendenz in krassem Gegensatz zu Ihren sonstigen rechtspolitischen Vorstellungen und Vorhaben steht. Anscheinend werden von einigen Verantwortlichen im Regierungslager die Resultate der Meinungsumfragen sehr stark überbewertet.
Dazu haben Sie nun noch die Absicht - und das ist sehr interessant —, den Titel im Haushalt des Presseamts „Erforschung der öffentlichen Meinung durch demoskopische Umfragen" von 370 000 DM auf 900 000 DM im Jahre 1971 zu erhöhen, um im Rahmen eines sogenannten Early Warning System eine bessere Einschätzbarkeit der Entwicklung gesellschaftlicher Krisenherde zu erlangen.
Meine Damen und Herren, unsere Regierung strebt, wie sie selbst sagt, eine fortlaufende „Röntgenkontrolle der Volksseele" an, um die Einstellung und Erwartungshaltung der Bevölkerung zu allgemeinen und speziellen Fragen der politischen Entwicklung erfassen zu können.Nun, ich fürchte, die Resultate, die Ihnen in diesem Zusammenhang bekanntwerden, werden Sie höchstens veranlassen, in einer Weise zu argumentieren, daß unseren Bürgern nach dem Motto: „Was darf's denn sein?" die Ohren jucken, statt daß Sie den Interessen des Landes entsprechende sachgerechte Lösungen empfehlen und anstreben. Das bisherige Verhalten der Bundesregierung gibt mir auch auf diesem Gebiet Anlaß zu berechtigter Skepsis.Aus der eindrucksvollen Liste regierungsamtlicher Propaganda nur noch zwei erwähnenswerte Meisterstücke. Meine Damen und Herren, da haben Sie für viel Geld einen Bildband aufgekauft, der sich mit unserem Bundeskanzler befaßt und der unter dem Leitwort „Anatomie einer Veränderung" steht. Jenen Bildband verschickten Sie im November 1970 ohne jedes Anschreiben, aber unter Hinweis auf die Absendung durch das Presseamt, und ohne daß die Zusendung dieses teuren Werkes vom Empfänger gewünscht wurde, unaufgefordert an Offiziere der deutschen Streitkräfte, an deren Dienstanschrift.Inwieweit diese Aktion mit den Vorschriften einer sparsamen Mittelverwendung in Einklang gebracht werden kann, darüber mag der Rechnungshof befinden. Ob das Einschleusen in die Bundeswehr gegen das Verbot der Parteienwerbung bei den Streitkräften verstößt, kann ich hier nicht untersuchen. Vielleicht nimmt sich das Zweite Deutsche Fernsehen einmal dieses Falles an.
Es hat ja in diesem Zusammenhang schon mehrere sehr verdienstvolle Untersuchungen angestellt.
Meine Damen und Herren, zu guter Letzt muß ich Sie noch mit einem politischen Bilderbuch behelligen, das unserem Verteidigungsminister Schmidt
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5348 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Haase
gewidmet ist - unser Kollege Reddemann hat es dankenswerterweise schon apostrophiert —
und mit dem — es sei geklagt — unverhüllt und frech sowohl Regierungswerbung als auch Parteipropaganda stramm vereint betrieben werden. Auf 40 Seiten stellt sich unser derzeitiger Bundesminister der Verteidigung nach dem Motto eines bekannten amerikanischen Faustkämpfers: „Ich bin der Größte" in allen Lebenslagen
und für alle Stände und Umstände dem staunenden Publikum vor.
Auf der ersten Seite unser Minister bei der Vereidigung. Es folgt ein Gespräch mit ihm. Dann sieht man ihn im Lagezimmer seines Hauses inmitten seiner Generale. Die Termine werden aufgeführt, Bilder mit seinem Fraktionsvorsitzenden, Bilder mit dem Bundeskanzler folgen,
und auch der „rote Jochen" ist hier als trauter Begleiter zu sehen.
Es folgen Fotos von Truppenbesuchen und unser Minister bei seiner Fraktion.Nun kommt eine Seite, die hat mich tief gerührt und die mag ich. Da sehe ich unseren Minister im „Kieler Anzug" — wir haben vielleicht alle einmal so ausgesehen —,
in der Schulzeit, daheim, und dann, meine Damen und Herren, folgt ein Bild vom Offizier Helmut Schmidt im Kriege. — Herr Verteidigungsminister, ich weiß nicht, ob Sie anwesend sind: Ich habe mir immer einen solchen Kompaniechef gewünscht; Sie sahen gut aus, für Sie hätte man durchs Feuer gehen können.
Meine Damen und Herren, er sah nicht nur gut aus, sondern er vermittelte auch den Eindruck, seinem Engagement für das Land in der rechten Art und Weise nachzukommen. Das würde ich besonders an ihm geschätzt haben.Dann ein Bildchen: ach, wen sehe ich da? Unseren Wirtschaftsminister, Herrn Kollegen Schiller,
allerdings noch nicht im Maßanzug; aber in der damaligen Zeit sind wir vielleicht alle in zerknitterten Hosen herumgelaufen.Nun kommen — das versöhnt mich allerdings — die vier Vorgänger. Doch wer erscheint dann wieder? Der Verteidigungsminister in Großaufnahme.
— Ich bin gleich am Ende; trösten Sie sich! — Nun folgt Herr Schmidt mit Herrn Barzel — die Darstellung ist sehr fair; das will ich Ihnen gern bescheinigen —, sodann unser Minister mit unserem verehrten Bundespräsidenten zusammen, sein Wirken in der Hamburger Sturmflut, was sehr anerkennenswert war — das soll gar kein Scherz sein —, dann mit den Gewerkschaftsvorsitzenden und endlich der Minister beim Segeln.
Herr Abgeordneter, kommen Sie zum Schluß!
Herr Präsident, ich begründe, wenn Sie es mir gestatten, die Änderungsanträge gleich mit. Das ist aus Gründen der zeitlichen Ökonomie —
Es ist für Sie keine Verlängerung der Redezeit beantragt worden.
Gut. — Dann Helmut Schmidt international und auf der letzten Seite der Minister mit dem Dummen, der alles zahlt, mit dem deutschen Steuerzahler zusammen.
Nun, die Frage, ob hier nicht dem Personenkult ein wenig zuviel geopfert worden ist, ist schon erörtert worden. Vielleicht ist es auch ein Opus, das in den eigenen Reihen ein wenig beim Plazierungswettbewerb herangezogen werden soll. Denn man zierte sich nicht einmal, die Prognose der englischen Zeitung „Sunday Express" aus dem Jahre 1965 gebührend herauszustellen, daß der deutsche Bundeskanzler im Jahre 1975 Hemut Schmidt heißen werde.
— Nein, Herr Kollege! Wenn diese Schrift vom SPD-Kreisverband im Bundestagswahlkreis 18, Hamburg-Bergedorf, herausgegeben worden wäre, hätte niemand etwas dagegen einzuwenden gehabt. Aber vom Presseamt herausgegeben und vom Bund finanziert?
Herr Abgeordneter Haase, zum zweitenmal: Kommen Sie bitte zum Schluß!
Herr Präsident, dann muß ich mir leider erlauben, Sie nachher zur Begründung der Anträge noch einmal zu bemühen.
Das Wort hat der Abgeordnete Raffert.
Obwohl, Herr Präsident, meine Damen und Herren, der letzte Redner der Kollege Haase gewesen ist, muß ich mich doch zunächst dem Herrn Reddemann zuwenden. Da ist ihm heute doch
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Rafferttatsächlich das Kunststück gelungen, noch „eindrucksvoller" als Lothar Haase zu referieren.
Herr Reddemann, wenn ich Sie fragen würde, ob Sie sich zu Ihren Ausführungen über Herrn Löwenthal vielleicht durch ein Autogramm verpflichtet gefühlt haben, das Ihnen Herr Löwenthal auf Ihrem Parteitag gegeben hat,
wenn ich das täte, wäre das wahrscheinlich ein schlechter Witz. Deswegen tue ich das nicht.
Wenn ich Herrn Barzel fragen würde, ob er sich durch seinen Händedruck, mit dem er sich bei Ihnen für Ihre Rede bedankt hat, mit Ihnen identifiziert, wäre das schon eine ernster zu nehmende Frage.
Das muß er sich wirklich überlegen, ob er das tun kann. Aber das ist seine Sache.
Aber wenn Sie hier unterstellen
— das lag in der Formulierung drin; jeder merkt doch, was Herr Reddemann hier gewollt hat, darüber ist kein Zweifel , der Bundeskanzler sei dem Chefredakteur einer deutschen Illustrierten in besonderer Weise zu irgend etwas oder durch irgend etwas zu Gegendiensten verpflichtet, dann fehlt mir für die Qualifizierung dieser Unterstellung ein parlamentarischer Ausdruck.
Ich bitte dafür um Verzeihung.
Ich bin sicher, daß die Kollegen von „Metall", der Redaktion, Ihnen die Antwort darauf nicht schuldig bleiben werden, in welche Nähe Sie sie hier gerückt haben.
Eines aber ist völlig klar: „Metall" ist ganz gewiß kein Organ der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, und wir wünschen uns das auch gar nicht. Wir wünschen uns weiter auch aus solchen Organen Kritik an unserer Arbeit. Das können wir nämlich aushalten und vertragen.
— Das sind keine Fragen des Glaubens, sondern hier wird über Tatsachen gesprochen.Nun hat Herr Reddemann mir das Vergnügen gemacht, aus meiner Rede zum letzten Haushalt zu zitieren. Das ist eine gute Sache. Journalisten und auch Politiker sehen sich immer gern zitiert. Ichwill Sie nun aber im ganzen daran erinnern, was wir damals als Ziele der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung dem Hause genannt haben, und wir wollen einmal überprüfen, ob diese Ziele erreicht worden sind oder nicht. Damals haben wir gesagt:Erstens. Im Jahre 1970 wird uns der Durchbruch in der Öffentlichkeitsarbeit von der Propaganda zur Information gelingen.Zweitens. Wir haben gesagt, wir wüßten, daß Politik nur dann effektiv würde, wenn die von ihr Betroffenen ihre Auswirkungen wirklich erkennen und beurteilen lernen. Dies wollten wir mit unserer Öffentlichkeitsarbeit erleichtern.Drittens haben wir gesagt, die Öffentlichkeitsarbeit muß beitragen, mehr Verständnis für Politik zu gewinnen, mehr Erkenntnisse zu vermitteln und damit in mehr Bürgern als bisher den Willen zum Mitdenken,
zum Mitentscheiden, zum Mithandeln zu wecken und zu stützen, Herr Stücklen. Das haben wir damals gesagt. Durch unsere Öffentlichkeitsarbeit sollten die politischen Vorgänge transparenter und einsichtiger gemacht werden.Wir haben damals weiter gesagt — ich lege besonderen Wert darauf, das hier vor Ihnen noch einmal deutlich zu machen —, es gebe nunmehr in der Öffentlichkeitsarbeit und deren Finanzierung durch die Bundesregierung keine dunklen Ecken mehr, keine dunklen Finanzierungsmöglichkeiten und keine Manipulationsinstrumente.Das waren ein paar kühne Behauptungen. In diesen Behauptungen lag wie bei allem, was bei der Öffentlichkeitsarbeit ins Blickfeld kommt, ein großer Teil schon feststehender Wahrheit, ein großer Teil an sicher Vorausschaubarem und vieles, was mit einiger Aussicht auf Erfolg zu erhoffen war.Wir müssen also heute — auch nach dem, was hier von Ihnen vorgetragen worden ist — fragen, ob das so gekommen ist, wie wir das damals in diesen vier Punkten festgehalten haben. Ich antworte Ihnen mit einem uneingeschränkten Ja.Ich beginne mit dem Nachweis bei Punkt 4. Sie haben hier eine ganze Reihe von Zahlen genannt, Auflagenhöhen, Stückpreise und was weiß ich. Das hätten Sie nie machen können
— Sie haben Auflagen genannt, Herr Haase hat davon gesprochen: soundso viel ist daunddahin gegangen —, wenn nicht diese Bundesregierung- -
— Das hat Herr Haase gesagt. Ich meine natürlich jetzt Sie alle zusammen als Opposition. Ich kann nicht immer nur über Herrn Reddemann sprechen, dann das ist die Sache nicht wert. Ich muß Sie ja zusammen betrachten.Sie hätten diese Zahlen nicht nennen können, wenn wir Ihnen nicht heute und wenn Ihnen die
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RaffertRegierung nicht bisher ganz präzise auf Ihre Anfragen zu diesen Dingen geantwortet hätte,
und Sie haben zahllose Fragen gestellt. Sie haben am 3. November eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet; sie ist am 17. November beantwortet worden. Das ist völlig in Ordnung und richtig, das ist aber völlig anders als bei früheren Regierungen. Ich erinnere mich noch als Journalist, viele von Ihnen erinnern sich als Mitglieder dieses Hauses, wie frühere Bundeskanzler, Adenauer und Erhard, solche Dinge erledigten. Die verwiesen schlicht auf die Geheimhaltungswürdigkeit des Titels 300, des Reptilienfonds, und damit war das erledigt. Wir sagen Ihnen heute ganz genau: Was ist gedruckt, für welchen Preis, wo ist es hingegangen?
— Herr Althammer, einer der Kontrolleure dieses von Ihnen als geheim bezeichneten Titels ist der Herr Haase. Sie können sicher sein, daß der da sehr genau aufpaßt. Wir haben das alles ganz schön aufgeblättert, und wir haben diesen Titel jetzt auch um 1 Million DM gekürzt und diese Summe auf andere Titel umgeleitet.Zum Punkt 3: politische Vorgänge transparenter machen. Dazu brauche ich nur wenig zu sagen, weil schon im Laufe der heutigen Debatte klar geworden ist, welche Bedeutung die Vorlage der Berichte der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik, zur Sozialpolitik, zur Bildungspolitik, zur Verkehrspolitik für das Transparentermachen unserer Tätigkeiten hat. Die hohen Auflagen, in denen diese Berichte gedruckt werden mußten, rechtfertigen den hier unternommenen Versuch, Informationsarbeit zu einem Instrument der Demokratisierung in unserem Lande zu machen. Genau das haben wir damit gewollt.Zum zweiten Punkt — der Bürger müsse wissen, was ihn betrifft, damit er aus der Arbeit des Gesetzgebers für ihn und um ihn auch für sich etwas machen kann, damit er besser verstehen kann, was ihn angeht — könnte ich Ihnen eine ganze Reihe von soliden Beispielen für die Anstrengungen der Bundesregierung in der Öffentlichkeitsarbeit nennen. Niemand von Ihnen wird bezweifeln können, daß die Mietsrechtsfibel, daß die Wohngeldfibel sachbezogene Informationen enthalten. Das haben auch die Bürger verstanden. Diese Fibeln sind in Auflagen von 1 Million, von 11/2 Millionen Stück erschienen, sie werden den Bürgern in neuen Auflagen ins Haus gehen, wenn diese sie anfordern.
— Das ist keine Sache der Öffentlichkeitsarbeit, sondern mehr eine der nachzuholenden Aufklärung gewesen. Das ist nicht die Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit und auch keine Aufgabe des Amtes Ahlers.Meine Damen und Herren, auch hier sind wir also unserem Versprechen nachgekommen, das wir Ihnen zum Haushalt 1970 gegeben haben: Öffentlichkeitsarbeit als Verbreitung der Wahrheit. Conrad Ahlers hat einmal gesagt darauf hat Herr Reddemann angespielt —, es handle sich um „die Wahrheit in verschönerter Form". Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn diese Form so beschaffen ist, daß der einzelne dann auch Freude daran hat, diese Wahrheiten entgegenzunehmen. Es ist selbstverständlich Aufgabe der Öffentlichkeit, so zu verfahren.Damit kann ich auf die Hauptfrage zurückkommen: Ist es uns gelungen, von der Propaganda zur Information durchzustoßen? Nach dem, was ich Ihnen vortragen durfte, kann ich sagen, daß uns dies nach meiner Überzeugung in ganz klarer Weise gelungen ist.
Meine Damen und Herren, die Geschäftslage ist folgendermaßen.
Wortmeldungen zur allgemeinen Aussprache liegen nicht mehr vor. Begründet worden sind die Anträge Umdrucke 107, 108 und 109. — Herr Kollege Haase, Sie haben vorhin die Redezeit mehr als ausgenutzt. Trotzdem gebe ich Ihnen noch einmal drei Minuten für beide Begründungen. Ich darf Sie bitten, damit einverstanden zu sein, daß wir uns darauf beschränken; sonst würde ich Ihnen das Wort nicht mehr erteilen können. Sie haben das Wort zu den Anträgen Umdrucke 110 und 111.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeit ist natürlich sehr knapp. — Zu dem Bildband, den wir vorhin behandelten, sei nur gefragt, wohin denn die 100 000 Bände kommen sollen; denn eine Verteilung an die Soldaten, meine Damen und Herren, würde doch die parteipolitische Neutralität der Truppe aufs schwerste beeinträchtigen.Bei der letzten Beratung dieser Titel im Hohen Hause vor etwa Dreivierteljahren sah ich mich veranlaßt auszuführen, es stehe zu befürchten, daß angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen eine Sturzflut von Propaganda über dieses Land hereinbrechen werde, lediglich dazu geeignet, von den Fehlleistungen unserer Regierung abzulenken. Nun, die tatsächlich eingetretene Entwicklung hat meine allerschlimmsten Befürchtungen bestätigt. In den kommenden Wochen stehen wiederum Landtagswahlen bevor. Wir werden, wenn die dargestellte Entwicklung anhält, Sie, meine Damen und Herren, vor dem Parlament und damit vor der deutschen Öffentlichkeit zur Verantwortung ziehen.Der Herr Bundeskanzler ist in diesem Hause bei Beginn seiner Arbeit mit hohem Anspruch angetreten. Er hat ausgeführt:Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde. Wir suchen keine Bewunderer, wir brauchen Menschen, die kritisch mitwirken, mitdenken und mitverantworten.Meine Damen und Herren, für den Fall, daß Siejemals ernstlich den kritischen Bürger gewollt haben, müssen Sie sich sagen lassen: Mit Volksaufklä-
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Haase
rung und Propaganda bewirken Sie die Bildung kritischen Bürgersinns niemals.
Mit diesen Ausführungen begründe ich gleichzeitig die Kürzungsanträge Umdrucke 110 und 111 der Fraktion der CDU/CSU. Ich bitte, der Kürzung bei Tit. 531 03 auf 9,6 Millionen DM zuzustimmen.
— Ach, Herr Wehner, lassen Sie mich doch die Zahlen vortragen. Von Zahlen verstehen Sie nichts, Herr Wehner. Sie verzögern nur den Betrieb.
Bei Tit. 526 04 beantragen wir, den Ansatz auf 400 000 DM zu kürzen.Ich bitte das Hohe Haus, unseren Kürzungsanträgen die Zustimmung nicht verweigern zu wollen.
Meine Damen und Herren, die beiden Anträge sind begründet worden. Das Wort wird nicht mehr begehrt. Dann schließe ich die Aussprache über Einzelplan 04.
Wir kommen zur Abstimmung.
— Wir haben noch ein langes Programm vor uns, und wir erleichtern uns alle die Arbeit, wenn wir versuchen, jetzt zügig zur Abstimmung zu kommen. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 107 *). Wer diesem Umdruck seine Zustimmung gibt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt worden.
Ich rufe auf den Umdruck 108 **), Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU. Wer dem Antrag seine Zustimmung gibt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit dem gleichen Verhältnis abgelehnt.
Ich rufe auf den Umdruck 109 ***) — Antrag der Fraktion der CDU/CSU. Wer diesem Umdruck 109 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ebenfalls abgelehnt.
Ich rufe auf den Umdruck 110 ****) — Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie die übrigen Anträge abgelehnt.
Schließlich der Änderungsantrag auf Umdruck 111 *****). Wer ihm zustimmt, den bitte ich um das
*) Siehe Anlage 4
**) Siehe Anlage 5 ***) Siehe Anlage 6
****)Siehe Anlage 7
*****) Siehe Anlage 8
Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit dem gleichen Verhältnis abgelehnt.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den Einzelplan 04, Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Wer diesem Einzelplan zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. —Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? —Der Einzelplan ist mit dem gleichen Verhältnis angenommen, wie vorher die Änderungsanträge abgelehnt worden sind.
Ich rufe nunmehr auf:
Einzelplan 05
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts
— Drucksache 11/ 1735 —Berichterstatter: Abgeordneter Hermsdorf
Ich danke dem Herrn Berichterstatter für den Bericht. Wünschen die Berichterstatter eine mündliche Ergänzung ihres Berichts? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne dann die allgemeine Aussprache und erteile das Wort Herrn Picard von der Fraktion der CDU/CSU. Es sind 15 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schwerwiegenden Bedenken und die grundsätzlich unterschiedliche Auffassung meiner Fraktion zur Gesamtaußenpolitik dieser Regierung sind in den jüngsten Tagen so deutlich dargelegt worden, daß es sich erübrigt, als Begründung zur Ablehnung des Einzelplans 05 noch einmal im Detail darauf zurückzukommen.Meine Damen und Herren, wenn es schon nicht gelingt, eine vom gesamten Parlament gemeinsam getragene Außenpolitik, die wir für notwendig und förderlich hielten, durchzuführen, so sind wir doch der Auffassung, daß wir wenigstens die auswärtige Kulturpolitik ohne parteipolitische Auseinandersetzungen in diesem Parlament mit einer gemeinsamen Auffassung tragen sollten. Das ist bisher so geschehen. Wir wünschen das auch in Zukunft fortzusetzen.Lassen Sie mich nun einige wenige Bemerkungen zu Fragen der auswärtigen Kulturpolitik machen. Der Herr Bundesaußenminister hat sich im Bulletin vom 27. Januar zu Fragen der auswärtigen Kulturpolitik geäußert und dabei festgestellt, daß das, was inzwischen in Grundzügen als Leitsätze für die auswärtige Kulturpolitik vorliege, nur durchgeführt werden könne, wenn zusätzliche Mittel für Stellen und Institutionen genehmigt würden. Auch wir sind der Auffassung, daß zusätzliche Mittel notwendig seien. Wenn der Bundesaußenminister im Bulletin dieses Jahres zum Ausdruck bringt, daß die Bundesregierung der auswärtigen Kulturpolitik eine besondere Aufmerksamkeit widme, dann muß man sich fragen, warum es diese Bundesregierung nicht vermocht hat, die Etatansätze für auswärtige Kulturpolitik in einem solchen Maße vorzulegen, daß man nicht einen Rückschritt, sondern einen Fortschritt in der auswärtigen Kulturpolitik hätte verzeichnen können. Es blieb dem Haushaltsausschuß
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Picardüberlassen, die Ansätze für die auswärtige Kulturpolitik etwas — ich möchte meinen: spürbar — zu erhöhen, und so scheint es mir, daß das Parlament der auswärtigen Kulturpolitik mehr Bedeutung beimißt als das verantwortliche Ministerium, wobei wir aber Verständnis dafür haben, Herr Außenminister, daß Sie an Kabinettsbeschlüsse gebunden waren und einen strengen Zuchtmeister in der Person des Herrn Finanzministers neben oder vor sich sitzen hatten.Lassen Sie mich dennoch hierzu eine Bemerkung machen. Diese Regierung hat eine mittelfristige Finanzplanung vorgelegt, in der Steigerungssätze für die auswärtige Kulturpolitik zwischen 5 und 6 % für die nächsten Jahre vorgesehen sind. Diese Steigerungssätze erlauben uns nicht, das, was gegenwärtig getan wird, beizubehalten. Sie bedeuten nicht nur eine Stagnation; sie bedeuten in concreto einen Rückschritt.
Wir meinen, daß dieses Parlament insgesamt gut beraten wäre, wenn es die Regierung beauftragte, die Ansätze in der mittelfristigen Finanzplanung zu erhöhen.Eine zweite Bemerkung. Als diese Bundesregierung mit ihrer Arbeit begann, war es der Parlamentarische Staatssekretär Da h r e n d o r f, der sich besonders um die auswärtige Kulturpolitik kümmerte. Er hat ein Konzept entworfen und mit diesem Konzept sehr viel Neues an Ideen gebracht. Ich will es verkürzt darstellen: auswärtige Kulturpolitik gleich Gesellschaftspolitik. So sah das jedenfalls in der deutschen Öffentlichkeit aus. Dann verließ er Bonn und ging nach Brüssel. Die Kulturabteilung des Auswärtigen Amts blieb sich selbst überlassen. Erst jetzt ist mit den vorgelegten Leitsätzen diese Unsicherheit und Unruhe in der Abteilung des Hauses etwas im Abklingen.Ich meine, daß es zwingend notwendig ist, beschleunigt zu einer umfassenden Darstellung der Ziele der auswärtigen Kulturpolitik zu kommen, zu einer Darstellung, die von allen in diesem Hause gemeinsam getragen werden sollte.Lassen Sie mich einige wohlwollend kritische Bemerkungen hinzufügen.Wir sehen ein Problem in der mangelnden Koordinierung und Abgrenzung zwischen den verschiedenen Ressorts. Auswärtige Kulturpolitik kann nur 'dann effektiv, erfolgreich, gut und richtig sein, wenn die Führung in einem, nämlich im verantwortlichen Hause liegt. Die Führung der auswärtigen Kulturpolitik muß im Auswärtigen Amt liegen. Auch die Haushaltsberatungen haben ganz deutlich ergeben, daß es unterschiedliche Auffassungen, unterschiedliche Aktivitäten und unterschiedliche Zielrichtungen zwischen Auswärtigem Amt, Wissenschaftsministerium, Entwicklungshilfeministerium und dem Bundespresseamt gibt. Auswärtige Kulturpolitik hat sicher auch etwas mit Information zu tun. Was aber das Bundespresseamt entweder unterstützend oder begleitend oder auch konterkarierend im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik tut, entspricht nicht immer dem — so scheint es uns —, was im Hause selbst als auswärtige Kulturpolitik gewünscht wird.Ein weiteres Problem sehen wir in der nicht hinreichend gesicherten Abgrenzung und Koordinierung zwischen den Mittlerorganisationen. Das ist zwar ein altes Thema, aber deshalb, weil man eigentlich .Jahr für Jahr dasselbe sagen müßte, ist eine solche Bemerkung nicht unbedingt falsch. Wir meinen, daß es allerhöchste Zeit sei, mit den Mittlerorganisationen zu einem rascheren Fortschritt bei dem Bemühen um hinreichende Abgrenzung und Koordinierung zu kommen.Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung zur Einstellung der deutschen Öffentlichkeit zur auswärtigen Kulturpolitik machen. Ich komme auf die Bemerkung des Herrn Ministers zurück, der meinte, daß die Bundesregierung diesem Bereich eine besondere Aufmerksamkeit widmet. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß die Bundesregierung etwas verspätet darauf gekommen ist, daß die deutsche Öffentlichkeit der auswärtigen Kulturpolitik im vergangenen Jahr eine viel höhere Aufmerksamkeit gewidmet hat, als Regierung und Parlament es getan haben. Es würde vielleicht auch diesem Hause guttun, wenn wir in nicht allzu ferner Zukunft einmal eine Debatte über auswärtige Kulturpolitik insgesamt führen könnten.
Ich erinnere hier an Artikel in der „Zeit" : „Das Bonner Aschenputtel" — gemeint: die auswärtige Kulturpolitik — vom 9. Oktober 1970; „Kultur als Getümmel", Beilage in der „FAZ" vom 31. Oktober 1970; „Auswärtige Kulturpolitik auf Sparflamme" im „Rheinischen Merkur" vom 27. Februar 1970. Wenn man sich etwas Mühe macht, findet man eine Vielzahl solcher Veröffentlichungen, die sehr deutlich die Notwendigkeit einer besseren, effektiveren auswärtigen Kulturpolitik herausstellen.Nun kann man sich streiten, was darunter zu verstehen sei. Eine Frage ist die folgende. Inwieweit ist die deutsche Sprache Ziel oder tragendes Fundament des Bemühens in der auswärtigen Kulturpolitik? Wir sind der Auffassung, daß deutsche Sprache nicht um ihrer selbst willen überall in der Welt verbreitet werden sollte, meinen aber, es sei ein aussichtsloses Unterfangen, ohne die Vermittlung der deutschen Sprache hinreichend deutsche Kultur, gegenwärtige deutsche gesellschaftliche Verhältnisse und deutsche Wirtschaft in der Welt verbreiten zu wollen.
Ein sehr ernstes Problem scheint mir bei den Auslandsschulen vorzuliegen. Es liegt wohl darin, daß wir eine Vielzahl von deutschen Auslandsschulen übernommen haben, die eine lange Tradition haben, aber in der heutigen Zeit daraufhin überprüft werden müssen, ob sie im Dienste und im Interesse der auswärtigen Kulturpolitik das leisten, was man von ihnen erwarten muß, nämlich eine sehr enge Kommunikation zwischen uns und dem jeweiligen Gastland sowie umgekehrt. Es gibt hier vom Präsidenten des Amtes in Köln stammende Vorstellungen, die,
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Picardso scheint es mir, hier eigentlich eine Entscheidung ermöglichen. Diese Entscheidung wird hart sein, aber sie muß getroffen werden. Sie muß deshalb getroffen werden, weil es eine Utopie wäre, zu meinen, wir könnten all das, was wir bisher im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik an Institutionen und Aktivitäten haben, beibehalten und in den nächsten Jahren eine hinreichende Aufstockung vornehmen. Wir sind wohl vielmehr gezwungen, nach einer gewissen Überprüfung eine Umschichtung vorzunehmen.Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung zum Thema „Erfolgskontrolle" machen. Meines Wissens gibt es bis jetzt eine einzige umfassende Erfolgskontrolle, nämlich eine über die Bemühungen der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik im Iran durchgeführte, die zu eigentlich nicht nur interessanten, sondern ernüchternden Ergebnissen geführt hat, in diesem speziellen Fall zu dem, daß wir in einem Land, mit dem wir traditionell gute Beziehungen hatten und vielleicht immer noch haben, an Ansehen, an Wertschätzung in einem erstaunlich hohen Maße verloren haben, daß dort die erste Position, die ursprünglich die Bundesrepublik innehatte, längst eingenommen worden ist von Frankreich, England, Amerika oder fallweise anderen Ländern. Damit geht — und das muß man ganz deutlich sehen - einiges verloren, denn wir sind ja ein Land, das zwar — so möchte ich einmal sagen — wertfrei, ohne direkte Zweckbestimmung und Zielrichtung auswärtige Kulturpolitik betreibt, das aber doch darauf angewiesen ist — auch um seiner Wirtschaftsbeziehungen willen —, überall in der Welt ein möglichst hohes Maß an Sympathie entweder aufrechtzuerhalten oder zu gewinnen.Wenn wir, meine Damen und Herren, auswärtige Kulturpolitik — und ich glaube, hier sind wir uns alle einig — als eine hervorragende Möglichkeit, die deutsche Außenpolitik als Friedenspolitik darzustellen, betrachten, dann, meine ich, sollten wir heute, nachdem wir im vergangenen Jahr bei den Haushaltsberatungen zu diesem Thema überhaupt nicht gesprochen und auch das ganze Jahr über auswärtige Kulturpolitik nicht berührt haben, darin übereinstimmen, daß wir in Zukunft endlich das erreichen, was mein Kollege Dr. Martin vor zwei oder drei Jahren einmal als noch nicht erreicht bezeichnet hat: den Durchbruch in diesem Parlament und in dieser Regierung für die auswärtige Kulturpolitik. Wir müssen finanziell so viel tun, daß wir mit gutem Gewissen sagen können: Die Möglichkeiten, die uns die Einrichtungen draußen bieten, haben wir genutzt.
Das Wort hat der Abgeordnete Kern.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme mit Ihnen, Herr Kollege Picard, überein, daß das Feld der kulturellen Außenpolitik ein Feld ist, auf dem wir im wesentlichen übereinstimmen sollten und auf dem wir in früheren Debatten auch Übereinstimmung erzielt haben.Sie haben hier angesprochen, daß der Haushaltsausschuß über die im Haushaltsentwurf veranschlagten Mittel hinausgegangen ist. Ich begrüße das ebenfalls und finde darin ein Zeichen, daß die auswärtige Kulturpolitik hier im Parlament tatsächlich höher bewertet wird.Sie haben etwas kritisch gesagt, daß sich die Regierung und alle Fraktionen zu Beginn dieser Legislaturperiode darin einig gewesen seien, daß die auswärtige Kulturpolitik neu konzipiert werden müsse. Dann habe aber Herr Dahrendorf das Feld verlassen, sei nach Brüssel gegangen, und die Kulturabteilung sei sich selbst überlassen geblieben. Ich glaube, das kann man so nicht sagen; denn bereits im Dezember 1970 hat ja die Kulturabteilung die von Ihnen zitierten Leitsätze für die auswärtige Kulturpolitik vorgelegt und damit bewiesen, daß das, was mit den Dahrendorf-Thesen angestoßen worden ist, weiter verarbeitet worden ist und hier zu einem Ergebnis I geführt hat - sicher nicht zu einem endgültigen Ergebnis, sondern zu einem vorläufigen Ergebnis, das allerdings die kritischen Fragen, die Sie gestellt haben, auch berücksichtigt.So ist sehr kritisch in diesen Leitsätzen vermerkt, daß die Frage der Zusammenarbeit besser gelöst werden muß, als das bisher der Fall gewesen ist, die Frage der Zusammenarbeit der beteiligten Bundesministerien und der elf Länder, aber auch die Frage der Zusammenarbeit zwischen den Mittlerorganisationen und der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts. Sie stimmen also auch hier, wenn ich Sie richtig verstanden habe, überein mit dem, was — durchaus selbstkritisch — in diesen Leitsätzen gesagt worden ist.Doch nun zurück zu dem gemeinsamen Ausgangspunkt aller Fraktionen! Er war ja initiiert von Ihrer Fraktion. Sie haben eine Enquete-Kommission für auswärtige Kulturpolitik beantragt. Ich muß jetzt an die Adresse Ihrer Fraktion die Frage richten: Wo ist denn eigentlich Ihre Initiative geblieben? Wir von den Koalitionsfraktionen haben diese Initiative Ihrer Fraktion unterstützt. Wir haben in den Beratungen der beiden Ausschüsse dafür gesorgt, daß die Abstimmung über die Einsetzung der Enquete-Kommission für auswärtige Kulturpolitik bereits am 18. März 1970 hier im Plenum erfolgen konnte. Bis zum heutigen Tag aber ist diese Enquete-Kommission für auswärtige Kulturpolitik nicht konstituiert worden, und zwar, wie ich mir habe sagen lassen, deswegen nicht, weil gerade Ihre Fraktion die bereits benannten Mitglieder für diese Enquete-Kommission wieder zurückgezogen hat. Hier stimmt doch etwas nicht überein, wenn Sie einerseits auf unsere gemeinsamen Bemühungen am Anfang hinweisen und andererseits in der Praxis eben nicht dafür sorgen, daß es zu dieser Enquete-Kommission kommt. Denn es war doch gerade die Aufgabenstellung für diese Enquete-Kommission, daß hier die Neukonzeption der auswärtigen Kulturpolitik von uns gemeinsam und mit Sachverständigen, die angehört werden sollten und die auch selbst Mitglieder dieser Enquete-Kommission sein sollten, erarbeitet werden sollte. Was das Auswärtige Amt getan hat, ist aus den vorläufigen Leitsätzen ersichtlich. Der Beitrag des Parlaments kann sichtbar werden, wenn Sie,
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Kernmeine Damen und Herren von der Opposition, sich dazu entschließen, endlich Ihre Mitglieder für die Enquete-Kommission „Auswärtige Kulturpolitik" zu benennen, so daß die Kommission tatsächlich konstituiert werden kann. Ich möchte Sie sehr darum bitten, dies bald zu tun.Was Sie hier über ein Land — der Name des Landes wurde nicht genannt — gesagt haben, aus dem wir allmählich zurückgedrängt werden, veranlaßt mich, noch auf den einzigen Beitrag einzugehen, den die Opposition in den letzten Monaten zur auswärtigen Kulturpolitik geleistet hat. Ich meine die Anfrage, ob in diesem Lande 30 deutsche Auslandsschulen geschlossen würden, weil die Bundesregierung kein Geld mehr gebe. Diese Anfrage war insofern ein Musterbeispiel für schlechte Politik, als sie von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. In diesem Lande gibt es nicht 30, sondern nur zehn deutsche Auslandsschulen. Darüber hinaus hat der Aufhänger, den Sie benutzt haben, auch nicht funktioniert. Sie haben in dieser Anfrage unterstellt, die Bundesregierung habe die Mittel für diese Schule gestrichen. Ihnen war nicht bekannt, daß die Schule nicht geschlossen worden ist, sondern lediglich ihren Unterricht eingestellt hat, weil die Kosten für einen neu zu beschaffenden Schülerbus zu hoch gewesen sind.Das Entscheidende aber ist — und das mache ich Ihnen zum Vorwurf , daß durch Ihre Anfrage erreicht worden ist, daß in diesem Land in den Schulen eine große Unruhe entstanden ist. Viele Eltern überlegten sich, ob sie ihre Kinder bei den deutschen Auslandsschulen abmelden. Einige haben das sogar getan; sie haben sich gesagt: Es kommt ja offensichtlich doch kein Geld mehr aus der Bundesrepublik, also schicken wir unsere Kinder gleich auf eine Regierungsschule. Dann können sie dort ihren Schulabschluß machen.Das ist ein schlechtes Beispiel. Sie haben damit erreicht, daß die auswärtige Kulturpolitik gemindert wird. Zum Schluß möchte ich die Opposition noch einmal darum bitten, endlich dafür zu sorgen, daß die Enquete-Kommission für auswärtige Kulturpolitik konstituiert werden kann.
Das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist immer erfreulich, wenn ein Teil der Politik zur Debatte steht, wo es ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit nicht nur geben kann, sondern schon gibt. Hier haben wir es mit einem solchen Teil zu tun, wo es Gemeinsamkeiten gibt, ja, wo das Parlament die Regierung, wie ich eben aus dem Munde von Herrn Picard gehört habe, noch übertreffen möchte. Natürlich wird der Ressortminister sich in dieser Hinsicht vom Parlament gerne drängen lassen. Aber Sie wissen — Sie haben es soeben gesagt, Herr Picard —, daß die Regierung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln rechnen muß. Hier liegt die Grenze des Möglichen.Das Interesse des Parlaments an diesem Teil der Politik ist aber, wie ich meine, im Interesse der Sache zu begrüßen. Die auswärtige Kulturpolitik ist ja ein Teil der Politik, der normalerweise in der Öffentlichkeit nicht so häufig beleuchtet wird wie die anderen Teile der Politik. Es wäre vielleicht besser, wenn wir etwas mehr über Kulturpolitik sprächen. Ich muß allerdings sagen, daß sich die deutsche Presse dem Thema der Kulturpolitik in den letzten Wochen und Monaten in sehr positiv-kritischer Weise gewidmet hat und insoweit auch, meine ich, die Anstrengungen von Regierung und Parlament unterstützt hat.Herr Picard, ich möchte ein Wort von Ihnen aufgreifen. Sie haben gesagt, die auswärtige Kulturpolitik könne ein wesentliches Element der Friedenspolitik sein. Ich meine, sie ist ein wesentliches Element der Friedenspolitik. Wenn es überhaupt einen Teil der Politik gibt, der langfristig als wichtige Basis der Friedenspolitik genannt werden muß, so ist es die auswärtige Kulturpolitik. Sie ist in diesem Sinne auch ein Teil unserer Außenpolitik.Natürlich habe ich sehr wohl die Kritik gehört. Die Regierung stimmt mit der Kritik der Opposition und der übrigen Fraktionen überein. Es ist nicht alles so, wie wir es möchten. Aber das kann auch nicht sein. Die Kulturpolitik hat wenn Sie sie einmal über lange Strecken nach diesem Kriege verfolgen — einen mühsamen, aber immerhin unaufhaltsamen Aufschwung als Teil unserer Außenpolitik genommen und ist heute schon ein Faktor, der recht beachtlich. ist.Wir haben der Kulturpolitik durch die Leitsätze für die auswärtige Kulturpolitik, die den interessierten Kollegen in diesem Hause zugegangen sind, in jüngster Zeit neue Akzente gegeben. Die Leitsätze stülpen nicht etwa das auf den Kopf, was wir in der Vergangenheit gemacht haben. Sie setzen neue Akzente und fassen den Begriff der auswärtigen Kulturpolitik weiter, als das in der Vergangenheit der Fall war, bzw. — um es anders auszudrücken — sie vermeiden es, die Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation in der auswärtigen Kulturpolitik sozusagen zur Grundlage unserer Politik zu machen; sie umfassen Kultur und Zivilisation. Sie haben eine breitere Grundlage. Es sind gesellschaftspolitische und soziale Fragen einbezogen. Mit anderen Worten: Die auswärtige Kulturpolitik soll gegenwartsbezogener sein, als sie es über weite Strecken in der Vergangenheit gewesen ist, ohne daß wir deswegen die Kulturwerte vernachlässigen wollen, die man als gültige Werte in der politischen Begegnung mit dem Ausland natürlich geradezu mit Stolz vertreten kann.Dabei ist zu sagen, daß in diesen Leitsätzen ein weiterer Gedanke zum Ausdruck kommt: Kulturpolitik soll nicht etwa die Selbstdarstellung eines Landes sein, sondern ihr Wert liegt in der Tat eher in der Begegnung der verschiedenen Kulturbereiche. In diesem Zusammenhang komme ich auch auf die Frage der Sprache zurück. Herr Picard, insoweit die Sprache bei der Begegnung der Kulturbereiche als ein Mittler von Werten auftritt, ist sie ganz unerläßlich. In manchen Bereichen der Kulturpolitik ist
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Bundesminister Scheelsie ein wertvolles Element der kulturpolitischen Begegnung. Aber die Sprache als solche ist nicht das Ziel unserer Kulturpolitik, d. h. die Vermittlung der deutschen Sprache kann nicht das Ziel der Kulturpolitik sein.Wir haben — wenn ich das kurz erwähnen darf— Hand in Hand mit den Leitsätzen für die Kulturpolitik auch organisatorische und personelle Verbesserungen einführen können, so daß wir jetzt zumindest einmal Kulturreferenten, die ins Ausland gehen, für eine gewisse Zeit auf ihre besondere Aufgabe vorbereiten können. Das war früher nicht möglich. Die unzureichende Zahl der Stellenpläne im Auswärtigen Amt hatte uns daran gehindert.Die Frage der Kompetenzabgrenzung ist natürlich- wie in allen anderen Bereichen auch — ungewöhnlich schwierig. Es gibt eine Anzahl von Kollegen — ich sehe sie hier sitzen —, die sich — jeder unter seinem Aspekt - mit ausländischen Kulturfragen befassen. Es ist notwendig, die verschiedenen Vorhaben der Regierung an einer Stelle zu koordinieren und die Projekte entsprechend den außenpolitischen Bedürfnissen zusammenzufassen. Das macht das Auswärtige Amt. Ich will mich hier nicht über die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen beschweren. Ich hoffe, daß die Zusammenarbeit sich zunehmend und laufend weiter verbessert.Ich komme zu den Trägerorganisationen. Es gibt eine Vielzahl von Trägerorganisationen. Vor wenigen Tagen fand die Sitzung des kulturpolitischen Beirates des Auswärtigen Amtes statt. Ich glaube, dort sind manche Anregungen gegeben worden, wie wir in der Zukunft die Zusammenarbeit mit den Trägerorganisationen zum Nutzen der auswärtigen Kulturpolitik intensivieren können.Unsere Planung ist heute besser möglich. Wir haben zwei weitere Regionalplanungsreferate neben das bestehende setzen können, so daß wir hier etwas planmäßiger vorgehen können, als das in der Vergangenheit in dem Aufbau der auswärtigen Kulturpolitik häufig der Fall gewesen ist.Schließlich darf ich erwähnen, daß wir, wie Sie wissen, meine verehrten Kollegen, wie diejenigen, die sich dafür interessieren, wissen, Professor Peiser den Auftrag gegeben haben, einen Gesamtplan zur auswärtigen Kulturpolitik zu erarbeiten. Er hat das getan, der Plan ist jetzt in diesen Tagen fertig. Er hat auf dieser von mir schon erwähnten Sitzung des Kulturpolitischen Beirates einiges daraus vorgetragen. Ich muß sagen, alle Teilnehmer an dieser Sitzung waren fasziniert von der Gesamtschau, die er angestellt hat sowohl über die Ziele, die die Kulturpolitik haben muß, als über die Organisationsformen und die Möglichkeiten einer pluralistischen Gesellschaft, viele an der auswärtigen Kulturpolitik zu beteiligen. Wir werden in Kürze Gelegenheit haben, über diese seine Arbeit zu sprechen.Jetzt kommen die Kosten der Kulturpolitik Natürlich sind wir froh, wenn wir diese Titel weiter ausdehnen können. Wir haben das allerdings getan, muß ich der Ordnung halber sagen. Ich habe gerade einmal ausgerechnet: von 1970 auf 1971 ist derHaushalt um 8 % erweitert worden, von 1969 auf 1970 um 9 %.
— Ich verlasse mich natürlich auf meine Beamten besonders gerne, die mir das errechnet haben.
— Natürlich, ich wollte hieran anschließen. Wir haben das Volumen um 9 und jetzt um 8 % erhöht. Diese reine Haushaltssteigerung besagt selbstverständlich nichts über die Kosten der damit möglichen kulturpolitischen Maßnahmen. Wir wissen, daß sie Geld kosten und daß die Preise für diese Maßnahmen ebenfalls von Jahr zu Jahr steigen und in manchen Bereichen über das Maß der Haushaltsausweitung hinaus gestiegen sind. Das ist es, was beide Herren, die hier dazu gesprochen haben, als ein besonders bedenkliches Element gerade im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik mit Recht erwähnt haben. Wir werden in der mittelfristigen Finanzplanung der Zukunft darauf zu achten haben.Im übrigen - wenn ich das abschließend sagendarf, meine verehrten Kollegen — wird hoffentlich die von Herrn Kern soeben erwähnte EnqueteKommission bald zusammentreten können. Dann werden sich die Herren des Parlaments mit all diesen Fragen eingehend befassen. Ich hoffe, daß aus dieser Kommission der Bundesregierung Anregungen zuwachsen, die wir bei der Planung für das nächste Jahr, auch bei der Haushaltsplanung für das nächste Jahr verwenden können.
Das Wort hat der Berichterstatter dieses Einzelplans, Herr Hermsdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte mir nur noch ein paar Bemerkungen als Berichterstatter erlauben, insbesondere deshalb, weil die Kollegen dieses Hohen Hauses bei der Beratung des Einzelplans 05 stets auf höhere Mittel in puncto Kulturpolitik gedrängt haben. Zur Ehre aller Kollegen aller Fraktionen im Haushaltsausschuß muß ich hier sagen: dies war der einzige Haushalt, dessen Volumen der Haushaltsausschuß erhöht hat, ohne dafür Deckung im eigenen Haus zu suchen. Diese Erhöhung wurde ausschließlich bei der Kulturpolitik vorgenommen. Wir haben diesen Haushalt um 4,4 Millionen DM erhöht, und es geschah etwas, was ich in diesem Hause noch nicht erlebt habe: Der Kollege Dr. Martin meinte, das sei so gut, daß er diesmal keine Rede zu halten brauche.
Ich hoffe, daß das auch auf die Kulturpolitiker im allgemeinen abfärbt.Als Berichterstatter möchte ich nur hinzufügen, daß wir die Darlegungen des Auswärtigen Amtes bei der Berichterstattung hinsichtlich der neuen
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Hermsdorf
Konzeption in der Kulturpolitik mit großem Interesse entgegengenommen haben ebenso wie das, was soeben der Herr Bundesaußenminister gesagt hat. Herr Außenminister, wir, Herr Kollege Picard und ich, haben als Berichterstatter von unseren Kollegen Prügel bezogen, aber wir haben heute abend durch Ihre Ausführungen gemerkt, daß sich das gelohnt hat. Wir bedanken uns.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Martin.
Meine Damen und Herren, ich habe Herrn Hermsdorf zugesagt, nicht unbedingt über Finanzen zu reden. Aber es gibt noch viele Dinge, die man behandeln kann, die der Außenminister angeschnitten hat.
— Für die Einschätzung, die Sie mir geben, bin ich sehr dankbar.Meine Damen und Herren, ich bin für die Auslassungen des Ministers dankbar, weil sie doch seit langer Zeit eigentlich die erste Einlassung zur auswärtigen Kulturpolitik sind, wenn ich einen Artikel im „Bulletin" nicht einbeziehe. Es ist an sich bestürzend, wenn man in den Leitsätzen liest, das sei einer der Pfeiler der Außenpolitik, der Außenminister dann aber so wenig Zeit findet, um sich dazu einmal grundlegend zu äußern.Das gleiche gilt für das, was Herr Picard angeschnitten hat. Herr Dahrendorf führte sich hier mit brillanten Thesen ein und empfahl sich dann nach Brüssel. Das sind Dinge, die wir hinzunehmen haben.
— Wegen der Ostpolitik empfahl er sich nach Brüssel, man weiß das.
Herr Minister, ich möchte zu Ihren Ausführungen sagen, man muß damit doch etwas auf die Finanzen zurückkommen. Es ist gar keine Frage, daß das, was hier vorliegt, bestenfalls eine Erhaltungsdiät ist und nicht mehr. Diese Finanzen erlauben keine Strategie der Außenpolitik und sind auch keine Grundlage für Ihre Leitsätze. Ich glaube, es ist notwendig, daß Sie sich bei den Finanzberatungen selber einschalten oder sich mindestens durch Ihren Staatssekretär vertreten lassen, um dieser Sache Gewicht zu geben. Denn offensichtlich liegen Sie mit dieser Zuwachsrate von 8 % meine Zahlen lauten übrigens 5 %;, das müßte nachgeprüft werden — unter der allgemeinen Zuwachsrate und degradieren damit die auswärtige Kulturpolitik ganz deutlich.
Erstens zu den Leitsätzen! Meine Damen und Herren, der Minister hat hier gesagt, darin sei ein neuer Kulturbegriff enthalten. Wer die Leitsätze der CDU/CSU von 1969 durchliest, sieht, daß das alles schon alter Stoff ist, daß wir das schon seit langem sagen. Wir begrüßen es, daß es jetzt da ist. Der grundsätzliche Fehler dieser Leitsätze ist, daß ihnen keine empirischen Untersuchungen vorausgegangen sind. Das sind Ritte in das ideologische Gelände, aber keine Bestandsaufnahme, keine wirkliche, kritische Stellungnahme zu dem, was seit 20 Jahren gewachsen ist.Das zweite. Sie sind mit dem Ausdruck „internationale Gesellschaftspolitik" angetreten und sagen jetzt „zwischenstaatliche Politik". Sie sagen, daß Sie im Verhältnis zu Ostdeutschland keine Konfrontation, sondern den Wettbewerb wollen. Meine Damen und Herren, wir müssen uns in diesem Hause ganz klar machen, daß da etwas an der Wirklichkeit vorbeigeredet wird.
Das, was wir in Guinea erlebt haben, zeigt etwas ganz anderes und deutet auf die Notwendigkeit hin, daß man sich durch den Begriff „internationale Gesellschaftspolitik" nicht der Tatsache entziehen kann, daß sich diese Nation national und international auch in der Kulturpolitik selbst behaupten muß.
Der Ausdruck „internationale Gesellschaftspolitik" ist auch deshalb so verheerend — ich will das hier sagen —, weil er den Kommunisten aller osteuropäischen Länder und der Sowjetunion den billigen Vorwand gibt, zu sagen, daß unsere Kulturpolitik eine Einmischung in ihre gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Wer die Presse des Ostens kennt, weiß, daß diese Kulturpolitik, diese Leitsätze bereits dieser Aussage erlegen sind. Sie haben Gelegenheit gegeben, diese Aussagen drüben zu machen.Drittens. Diese Leitsätze sind Leitsätze des Auswärtigen Amts. Sie sind nicht mit den anderen Ressorts abgestimmt; gerade das, was Sie hier verlangen, Koordinierung, hat nicht stattgefunden; sie sind nicht abgestimmt mit dem, was Sie jetzt Mittlerorganisationen" nennen, und sie sind nicht abgestimmt mit den Leuten, die vor Ort sind.Ein klassisches Beispiel für die fehlende Koordination ist die Reise von Minister Leussink nach Moskau. Weder der Ausschuß noch die anderen Ministerien noch die eigene Fraktion waren darüber unterrichtet, was in der Sache eigentlich abläuft. Die Koordination darf also nicht nur proklamiert, sondern sie muß auch durchgeführt werden.Dann, Herr Minister, sollten Sie heute noch zu folgendem Stellung nehmen. Sie haben in den „Leitsätzen" gesagt: „Wir brauchen eine Erneuerung der Ostpolitik."
- Augenblick, Herr Raffert! Ich darf das kurz zuEnde führen. — Jedermann ist dafür; aber die Fakten, die sie in anderthalb Jahren geschaffen haben,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5357
Dr. Martinzeigen uns, daß die Verbindungen zu Osteuropa, die unter der Führung von Minister Schröder geknüpft worden sind, Zug um Zug abgebaut werden. Die Reaktion der osteuropäischen Länder war eine gegenreaktion
und eine Abschnürung der menschlichen Verbindungen zur Bundesrepublik Deutschland. Das muß man deutlich sehen, und das kritisieren wir.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Raffert?
Ja, selbstverständlich!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Dr. Martin, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage: Hätte die Enquete-Kommission schon bestanden, wäre sie der richtige Adressat des Ministeriums vor der Herausgabe der „Leitsätze" gewesen. Da sie aber nicht bestand, hatte das Ministerium keinen Adressaten.
Herr Raffert, die Situation ist etwas anders. Die Verzögerung bei der Bildung der Enquete-Kommission ist dadurch entstanden, daß Sie Ihre Leute nicht benannt haben, wie jedermann weiß. Bis zum Dezember war das einfach nicht möglich.
Das zweite ist, daß die Berufung der Kommission
ich will hier einmal Tacheles reden — deshalb verzögert worden ist, weil Herr Dahrendorf den Auftrag hatte, uns vor der Bildung der Kommission etwas zu präsentieren, um dem Parlament zuvorzukommen.
Nachdem er sich nach Brüssel empfohlen hatte, blieb der Regierung nichts anderes übrig, als sozusagen im Schnellverfahren, im Wege der Sturzgeburt, etwas zu produzieren, das wir jetzt als „Leitsätze" vor uns haben.
Das ist doch der wirkliche Tatbestand. Die Regierung sagt: Das Konzept werden wir nachliefern.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Raffert?
Gern!
Herr Dr. Martin, ist es nicht vielmehr so, daß Sie Ihre Mitglieder der Kommission zurückgezogen haben, damit die andere von Ihrer Partei als wichtiger angesehene Kommission zuerst gebildet werden konnte, weil Sie darin den Vorsitz haben wollten?
So ist es.
- Das ist gar nicht bizarr, sondern das liegt einfach
daran, daß die SPD den gewichtigeren Ausschuß für
sich haben wollte, und darum ist gekämpft worden.
— Doch, selbstverständlich!
— Nein, das stimmt nicht. Aber wir sollten das Thema abschließen.
Gestatten Sie eine letzte Zwischenfrage des Abgeordneten Kern?
Ja.
Herr Kollege Martin, ist es nicht so daß die Bildung der Enquete-Kommission für auswärtige Kulturpolitik am 18. März beschlossen worden ist, während die Bildung der anderen, der zweiten Enquete-Kommission erst am 10. Oktober beschlossen wurde, so daß es eigentlich klar sein dürfte, welches die erste und welches die zweite Enquete-Kommission ist?
Herr Kern, meine Antwort darauf ist: Ich werde dabei helfen, daß sie möglichst bald gebildet wird. Ich hoffe, das wird in vier Wochen der Fall sein.
Verzeihung, Herr Kollege! Ich darf zu einem Komplex nur zwei Zwischenfragen zulassen. Ich glaube auch, daß der Sachverhalt jetzt klar ist.
Herr Minister, ich möchte gern noch folgendes sagen. Es ist mir aufgefallen, daß Sie in Ihrer Intervention überhaupt kein Wort für die deutschen Schulen im Ausland gefunden haben. Das mag ein Zufall sein. Ich unterstelle Ihnen hier keine Absicht.Meine Fraktion ist jedoch der Meinung, daß die deutschen Schulen eine kapitale Angelegenheit sind. Wir würden einer Reduktion nicht zustimmen, wohl aber einer grundlegenden Reform. Das, was wir brauchen, ist die soziale Öffnung unserer Schulen vor allen Dingen in Südamerika, um mit den Kreisen, die zukunftsträchtig sind, in Verbindung zu kommen,
Meine Damen und Herren, ich würde gern noch eine Anregung geben. Kulturpolitik im Ausland kann sich auch im Inland abspielen. Es gibt hier in unserem Land 90 000 Schüler, die Kinder von Gastarbeitern sind. Hier haben wir eine besonders
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5358 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. Martingute Möglichkeit, Einfluß zu nehmen und sie mit uns bekannt zu machen.
Tatsache aber ist, daß die meisten dieser Kinder, vor allen Dingen die jugoslawischen Kinder, überhaupt nicht eingeschult werden. Ich würde es für ein dringendes Anliegen halten, daß sich die Bundesregierung mit den Ländern ins Benehmen setzt, um diesen Skandal zu beseitigen.
Ich komme noch einmal auf Herrn Hermsdorf zurück. Herr Hermsdorf, was Sie gesagt haben, war ein Lob für das Parlament. Die Regierung blieb in ihrer Vorlage weit hinter dem zurück, was notwendig war und was ihren eigenen hoch gesteckten Zielen entsprach. Es war das Parlament, die Zusammenarbeit von Parlamentariern, die es ermöglicht hat, wenigstens die Erhaltungsdiät sicherzustellen.
Das Wort hat der Abgeordneter Moersch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Martin hat in einigen Punkten Dinge gesagt, die es offensichtlich gar nicht gegeben hat. Sie wissen also mehr als das, was vorgefallen war — das ist eine erstaunliche Meditationsgabe, die Sie hier entwickeln —, z. B. über die mangelnde Abstimmung von Auslandsreisen und Ähnlichem.Aber ich möchte doch ein paar Dinge, die Sie hier vorgetragen haben, ein bißchen korrigieren. Sie haben den Eindruck erweckt, als ob wir sozusagen auf einem Begriff herumritten, den Sie für gefährlich halten, internationale oder zwischenstaatliche Gesellschaftspolitik. Herr Dr. Martin, in den Leitsätzen, die hier vorgelegt worden sind, ist ganz deutlich zum Ausdruck gekommen, was hier gemeint ist. Ich wundere mich darüber, daß Sie das jetzt aufgreifen, nachdem sich Herr Picard offensichtlich mit diesen Leitsätzen einverstanden erklärt hat. Ich bin also nicht ganz sicher, was nun eigentlich die Meinung der Opposition zu diesem Punkte ist. Ich fürchte fast, Herr Dr. Martin, Sie sind ein bißchen vorgeprägt durch eine Debatte, die vor einem Jahr hier in diesem Hause stattgefunden hat, die Sie mit Professor Dahrendorf geführt haben.
— Nein, dasselbe ist es eben nicht, sondern das war der Anfang einer Überlegung, und Sie haben damals in vager Form Ihre Begriffsdefinition gegeben. Sie haben mit Herrn Dahrendorf darüber dann auch diskutiert, wie ich weiß. Ich meine, wenn Sie schon das Urheberrecht in Anspruch nehmen, was in der Politik ohnedies eine fragwürdige Angelegenheit ist, wie Sie wissen werden, dann müssen Sie uns freundlicherweise einmal erklären, wie Sie eigentlich zu der Idee der Enquete-Kommission gekommen sind. Ich hatte den Eindruck, daß Sie darauf nach einem Gespräch mit Herrn Professor Dahrendorf im Auswärtigen Amt gekommen sind, der Ihnen etwa erklärt hat, was man alles untersuchen müßte.
— Das ist falsch? Na gut; ich hatte den Eindruck. Dann ist das ein zufälliges Zusammentreffen gewesen.
— Nein, Herr Heck, auf diese Weise klärt man Mißverständnisse auf. Ich wußte gar nicht, daß Sie für auswärtige Kulturpolitik zuständig sind. Ich dachte immer, Sie seien vor allen Dingen für inländische Kulturpolitik da. — Da muß sozusagen der Geistesblitz gleichzeitig eingeschlagen haben, weil es um ein und dieselbe Sache ging.Aber es ist eben nicht richtig, wenn Sie sagen, daß das gar nicht empirisch untersucht worden sei, was hier niedergeschrieben worden ist. Ich weiß nicht, was dann in der ganzen Zeit anderes gemacht worden sein soll als eine empirische Erhebung darüber. Ich glaube, alles, was in den Leitsätzen steht, ist auf Grund praktischer Erfahrungen entwickelt worden. Sie mögen anderer Meinung sein. Ich hätte dann nur gern Ihre Vorstellungen dazu gehört. Die habe ich nicht vernommen. Ich habe nur vernommen, daß Sie der Meinung waren, das sei ein Ritt in ideologisches Gelände. Das haben Sie vorhin gesagt. Da hätte ich nun gern mal gehört, was hier ideologisches Gelände sein soll, wenn von unserer Seite aus nichts anderes als die Festellung getroffen wird, daß man künftig nicht nur ein Deutschlandbild vermitteln sollte, sondern daß man in Form des Gebens und Nehmens, in Form des Austauschs stärker zueinanderkommen sollte.
- Herr Dr. Martin, es war eben nicht in allen Köpfen so. Es gab ganz andere Formen der Darstellung. Es gab eine andere Art von kulturpolitischer Praxis, die man allmählich verändert hat. Sie wissen, daß der Schwerpunkt in den 50er Jahren anders lag. Darüber haben wir in diesem Hause schon gründlich debattiert, daß man eine klare Weisung für diejenigen geben mußte, die draußen tätig sind. Es kann nicht so sein, daß man umstürzend Neues bringen mußte. Es war zunächst einmal zu definieren, wo die Interessen dieses Landes auf diesem Gebiet im Jahre 1970 oder 1971 im Gegensatz zu den Interessen des Jahres 1949 oder 1950 oder 1951 liegen. Da waren die Interessen völlig anders, da galt es, ein verzerrtes Deutschland-Bild zu entzerren. Jetzt geht es doch darum, dieses Land zu öffnen, den Dialog mit vielen anderen möglich zu machen.Ich meine, Sie haben sich bei Ihrem Beitrag in einem Punkte nun Ihrerseits auf ein ziemlich schlüpfriges Gelände begeben, und das ist der Hinweis auf Guinea gewesen. Wenn etwas nicht in diesen Zusammenhang gehört, dann ist es genau das Beispiel Guinea.
Da gehört es ganz bestimmt nicht hin. Ich weiß nicht, was Sie eigentlich am Ende noch alles mit Guinea beweisen wollen. Ich sage Ihnen jedenfalls, hätten wir nicht in unseren auswärtigen Beziehungen jahre-
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Moerschlang unter einer selbst auferlegten Verkrampfunggelitten, wäre möglicherweise eine solche Sache nichtin der Weise entstanden, wie sie nun entstanden ist.
Daß man Bildungshilfe hier einfach mit auswärtiger Kulturpolitik und auswärtigen Kulturbeziehungen in einen Topf wirft, ist meiner Ansicht nach nicht korrekt. Ich weiß auch nicht, wo Sie den Widerspruch abgelesen haben, den Sie hier dargestellt haben. Es ist klargeworden — und das ist gerade das, was wir tun —, daß wir uns für einen Wettbewerb in der ganzen Welt rüsten müssen, daß wir das, was wir von uns aus beizutragen haben, im Wettbewerb mit anderen gesellschaftspolitischen Vorstellungen tun werden und auch tun wollen, daß wir es aber eben nicht dazu kommen lassen wollen, das in einer sehr einseitigen Konfrontation zu tun.Ich will es an einem praktischen Beispiel erläutern, an einer Konfrontation, wie wir sie früher gehabt haben. Da gab es in einem gar nicht so weit entfernten Lande die Frage, vor die sich der Leiter des Goethe-Instituts gestellt sah, ob er gleichzeitig mit einer Veranstaltung, die von der kommunistischen Partei dort für einen Professor aus der DDR inszeniert war, eine Veranstaltung bei sich ansetzen solle, um gewissermaßen dem anderen, der deutsch spricht, das Publikum wegzunehmen. Das war die Art, wie man es früher gemacht hat. Das war die Art, die ich nicht für sinnvoll halte.Ich glaube, es wäre sehr viel besser und ist auch besser, wenn es jetzt anders gemacht wird, daß man nämlich den dortigen Zuhörern den Vergleich ermöglicht, daß der eine aus der DDR seine Vorstellungen vortragen kann und das gleiche Publikum am anderen Abend die Gelegenheit hat, einmal zu hören, wie ein Ordinarius aus der Bundesrepublik Deutschland dieselben Fragen sieht. Ich glaube, daß man dann zu einer korrekten Information und Meinungsbildung über unser Land kommt und daß sich dieses Land nicht vor einem solchen Wettbewerb, nicht vor einer solchen vergleichenden Information zu scheuen hat. Ich glaube, das ist die neue Praxis, die wir — hoffentlich gemeinsam — anstreben. Wenn Sie anderer Meinung sein sollten, wäre dieser Punkt interessant, dann müßte er aufgeklärt werden; denn möglicherweise liegen hier Differenzen. Man sollte Gemeinsamkeiten nicht um jeden Preis beschwören, wenn sie im Kern der Sache nicht vorhanden sind. Jedenfalls hat sich in unserer Auffassung etwas geändert. Wir sind im Grunde genommen selbstbewußter geworden. Ich meine, es kann nicht schlecht sein, wenn wir selbstbewußter werden,
wenn wir uns in diesen Fragen nicht nur nicht vor dem Wettbewerb scheuen, sondern auch nicht vor der offenen Darlegung unserer Überlegungen, unserer Überzeugungen, unserer Argumente.
Das soll der Sinn dieser Leitsätze für die auswärtigeKulturpolitik sein, die wir nun einmal zum Gebrauch derjenigen, die draußen im Ausland diesePolitik zu vertreten haben, herausgegeben haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Martin?
Herr Staatssekretär, würden Sie die Freundlichkeit haben, auf meine eigentliche Frage einzugehen, die dahin ging, daß der Versuch des Wettbewerbs mit dem Osten in jedem konkreten Fall in eine negative Konfrontation umgeschlagen ist, und zwar negativer, als wir sie je zuvor gehabt haben.
Nein, das ist eine Behauptung, Herr Dr. Martin, die durch gar nichts zu beweisen ist. Ich kann Ihnen dieses Vorurteil nicht bestätigen, es tut mir leid. Es ist eine völlig andere Situation eingetreten. Es gibt sicherlich Fälle, wo Schwierigkeiten aufgetreten sind — das ist gar keine Frage —, aber es gibt auch 10, 20, 30 andere Fälle, wo genau das eingetreten ist, was ich vorhin geschildert habe. Doch davon redet man nicht, weil es nicht zum Arger und nicht zum Knall kommt. Es ist sicherlich richtig, daß sehr viele Mitarbeiter draußen, auch von den Mittlerorganisationen, in einer Zeit ausgebildet und erzogen worden sind, wo sozusagen die Schwarzweißmalerei zur Grundlage unserer auswärtigen Beziehungen gemacht worden ist, daß sie oft noch gar nicht in der Lage sind, das umzusetzen, was wir uns heute vorstellen. Das ist auch ein Prozeß, der seine Zeit braucht. Aber zu behaupten, daß etwas, wenn es nicht von Anfang an so funktioniert, wie man sich das vorstellt, deswegen schon schlecht sei, ist falsch. Ich meine, wir müssen auch unsere draußen kulturpolitisch Tätigen einmal an diese neue Problematik heranführen. Wir müssen ihnen — das hat Minister Scheel vorhin gesagt — etwa durch eine zusätzliche Ausbildung, durch Seminare und ähnliches, was wir hier veranstalten, die Chance geben, sich in diesen Gedankengang hineinzuversetzen, der der neueren Vorstellung von auswärtigen Kulturbeziehungen zugrunde liegt. Wir müssen sie daran gewöhnen, daß sie nicht mehr in erster Linie die Aufgabe haben, sozusagen Verzerrungen im Deutschlandbild entgegenzutreten. 25 oder 26 Jahre nach Ende des Krieges geht es nicht mehr darum, allein mit den Lasten der Vergangenheit fertigzuwerden und die ganzen auswärtigen Beziehungen sozusagen immer noch auf dem Gegenbild Hitler zu sehen. Es geht darum, einmal zu zeigen, was ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat, was eine freiheitliche Grundordnung für die einzelnen Menschen zu leisten in der Lage ist, und zwar ohne den Anspruch, irgendwo Missionar für die Welt zu werden, sondern nur mit dem Bestreben, zu geben und zu nehmen, zu vergleichen, festzustellen, was bei uns gut ist und was bei anderen gut ist. Daß wir dazu vor allem im Innern leistungsfähige kulturelle Einrichtungen brauchen, daß wir eine Wissenschaft brauchen, die Weltgeltung hat, versteht sich eigentlich von selbst.
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5360 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
MoerschNun zum letzten, zu den Haushaltsmitteln. Es ist keine Frage, daß wir hier in der Zukunft nach Vorliegen auch Ihres Berichts neue Überlegungen anstellen müssen. Aber eines möchte ich doch hinzufügen. In der mittelfristigen Finanzplanung der Regierung, der Sie angehört haben, waren die Steigerungsraten nicht ganz so groß, wie sie jetzt tatsächlich sind. Das wollen wir dabei nicht ganz vergessen. Wir meinen, daß wir in der Zukunft, wenn das Konzept klar ist — und es ist jetzt einigermaßen klar — und wenn wir wissen, wo die Schwerpunkte gebildet werden müssen mit besseren Begründungen, auch was die finanzielle Ausstattung betrifft, an dieses Haus herantreten können als bisher. Wenn man das Gießkannensystem abschafft, wird man durch Schwerpunkte auch zu besseren Argumenten kommen.
Meine Damen und Herren, bevor wir fortfahren, eine kurze Bemerkung zur Geschäftslage. Wir haben aus Einzelplan 05 die auswärtige Kulturpolitik behandelt. Dazu ist die letzte Wortmeldung erfüllt worden. Wir kommen jetzt zu dem zweiten Thema: Europa. Dazu liegen zwei Wortmeldungen vor. Ich habe die Hoffnung, daß wir diesen Einzelplan heute abschließen können und außerdem insgesamt fünf weitere Einzelpläne behandeln können, die keiner Debatte bedürfen, mit einer Ausnahme, wo es vielleicht ein paar Minuten dauert. Wir werden sonst mit Sicherheit bis Freitag abend nicht fertig.
Ich darf noch ein Wort der Anerkennung sagen. Wir haben soeben sechs Redner mit einer Redezeit von nur 50 Minuten gehabt. Sie alle haben die Redezeit unterschritten. Ich hoffe, daß das ein Beispiel für die anderen ist.
Das Wort hat nunmehr Herr Professor Hallstein. Angemeldet sind 25 Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Krankheit unserer Welt, ihre Teilung und den Mangel an einem stabilen Gleichgewicht, zu heilen erfordert. eine Bemühung nach allen Seiten. Das heißt für die deutsche Außenpolitik, daß Ost- und Westpolitik voneinander nicht getrennt werden können. Wir sind darin einig, so groß die Differenzen über die konkreten Konsequenzen aus dieser Wahrheit auch sein mögen.Die Ostpolitik hat in der außenpolitischen Debatte der letzten Woche aus sehr triftigen Gründen ganz im Vordergrund gestanden. Wenn ich zu dieser Haushaltsdebatte einige europapolitische Bemerkungen beisteuere, so sind sie also zugleich als ein Beitrag zur Befriedigung eines Nachholbedarfs gedacht. Sie sind bloß ein Beitrag; natürlich kann ich schon aus Zeitgründen nicht vollständig sein. Ich muß auswählen. Ich greife einige aktuelle Themen heraus, die mir praktisch oder prinzipiell für eine politische Auswertung besonders ergiebig zu sein scheinen.Meine Damen und Herren, die Wirkungen der Konferenz von Den Haag, die das bestimmende Ereignis für die Europapolitik unserer Tage sind, haben sich bisher als verschiedene, voneinander relativ unabhängige Einzelaktionen dargestellt. Ich nenne die wichtigsten: Finanzautonomie der Gemeinschaft, Haushaltskontrolle des Europäischen Parlaments, Wirtschafts- und Währungsunion und die Versuche, sich der politischen Union zu nähern.Nach einem Jahr ist, wie ich glaube, das Bild wesentlich verändert. Die wechselseitige Bedingtheit der verschiedenen Entwicklungslinien ist evident geworden, mehr noch, sie scheinen eine Tendenz zu haben, sich zu verbinden. Das ist die grundsätzliche Thematik unserer Europapolitik für die nächsten Jahre. Nämlich: in all den Einzelfragen sind Fristen eingeleitet oder im Begriff, eingeleitet zu werden, die etwa gleichzeitig, nämlich 1973, auslaufen werden. Bei der Verabschiedung der Finanzordnung der Gemeinschaft hat es die Kommission übernommen, spätestens zwei Jahre nach Inkrafttreten neue Vorschläge zum künftigen Status des Europäischen Parlaments vorzulegen. Was die Wirtschafts- und Währungsunion anlangt, so ist zu sagen, daß, wie auch immer die noch international kontroversen Fragen entschieden werden, doch wohl als sicher davon ausgegangen werden kann, daß die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Ende 1973 auslaufen wird. Die gegenwärtige Konsultationsprozedur schließlich, die von manchen als eine echte Vorstufe der politischen Union empfunden wird, wurde eingeführt, indem zugleich angekündigt wurde, daß die beteiligten Regierungen nach zwei Jahren einen zweiten Gesamtbericht vorlegen würden, um weitere Fortschritte zu sichern.Das fordert also eine Zusammenfassung der Lagebeurteilung heraus, d. h. eine Betrachtung, die nicht nur die Einzelaktionen und Einzelphänomene addiert, sondern die dem Gemeinsamen in diesen Teilentwicklungen nachgeht. Eine solche Lagebeurteilung muß drei Dimensionen angehen: die materielle, stoffliche, die institutionelle, organisatorische und die zeitliche.Ehe ich das tue, bitte ich aber eine kleine Vorbemerkung machen zu dürfen, die vielleicht der eine oder andere als die bloße Behandlung einer Stilfrage betrachten wird; ich messe ihr eine größere Bedeutung bei. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie für die Psychologie der internationalen Verhandlungen und auch in der Diskussion dieser Dinge im nationalen Bereich eine große Rolle spielt. Was ich sagen will, ist kurz eine eindringliche Warnung vor Verbalismus in der europäischen Diskussion.
Ich will versuchen, diese Warnung an einem einzigen, aber eindrücklichen und sehr bekannten Beispiel zu veranschaulichen. Der Präsident der Französischen Republik hat in der Pressekonferenz, in der er sein Konzept der Endgestalt des politisch vereinigten Europa präsentierte, gesagt, es gehe darum, „mit Taten voranzukommen und nicht mit Worten". Wir brauchen nicht lange zu suchen, um zu finden, was hinter dieser so selbstverständlichen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971 5361
Dr. HallsteinAufforderung steht. Es ist die alte Kontroverse um die „Supranationalität" der europäischen Integration. Diese Kontroverse, meine Damen und Herren, hat uns in der europäischen Arbeit mehr geschadet, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Tatsächlich ist dieses Wort ein schlechter Ausdruck für eine richtige Sache; aber es ist unmöglich, vor allem in Frankreichder Terminus ist eine französische Erfindung das Wort aus der Debatte wieder zum Verschwinden zu bringen. Das Wort ist schlecht, weil es negativ ist. Supranational sagt: „anders als national", und nahe dabei liegt: „antinational". Was kann man Falscheres sagen über die Gestaltungsprinzipien der europäischen Integration, die doch nichts anderes wollen, als die Staaten zusammenführen, nicht etwa ihre staatliche Existenz gefährden? Es ist sehr schwer, das französischen Hörern deutlich zu machen, weil sie einfach keine bündische oder bundesstaatliche Erfahrung haben. Für sie gilt immer noch die alte Vorstellung der französischen Revolution: es gibt nur das Indnviduum und d e n Staat, einen Staat darüber. Eine Abstufung mehrerer Staatsgewalten ist offensichtlich gegen die cartesianische Logik.Nun, ist das so gefährlich? Natürlich hat das Wort „supranational" seinen Nutzen, indem es darauf hinweist, daß die Zeit gekommen ist, in der die Staaten mit ihren eigenen Mitteln, auf sich allein gestellt, nicht mehr auskommen und in der man sich also zusammenfinden muß auf einer höheren, auf einer gemeinsamen Ebene. Das Unglück ist nur, daß solche Worte - denn das Gesagte gilt nicht nur für11 das Wort „supranational" — eine geradezu magische Tendenz haben, sich mit Emotionen aufzuladen. Dadurch werden dann rein emotionale, irrationale Wertungen mit einem rational scheinenden Begriffsmantel umgeben. Das Wort „supranational" ist aber kein Wertbegriff, und es ist kein Argument. Es sagt nichts Absolutes aus. Supranationalität ist keine Religion. Eine Lösung ist noch nicht deshalb gut, weil sie supranational ist.Die Folgerung aus dieser Einsicht ist einfach, obwohl es schwer fällt, sie durchzusetzen: man sollte vermeiden, solche Begriffe so zu verwenden, als ob sie Argumente wären, und man sollte es auch unterlassen, dem Gesprächspartner zu unterstellen, daß er von solchen Dogmatismen geleitet wird.Meine Damen und Herren, ich würde diese Vorbemerkung nicht gemacht haben, wenn sie nicht bei der Erörterung einer der anstehenden materiellen Fragen, und zwar einer bedeutenden, wieder eine Rolle spielte. Ich meine die Entscheidung über die als Werner-Plan bekannten Vorschläge einer von den Regierungen eingesetzten Kommission zur Herbeiführung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Damit trete ich in die materielle Problematik ein.Die Kontroverse, die um die volle Anwendung des Werner-Plans, die volle Akzeptation des Wernerschen Programms geführt wird, wird oft als Streit um Supranationalität dargestellt. Worum es in Wahrheit geht, ist aber nicht dieses Dogma. Es ist die französische Presse, die sich mit einer großen Klarheit - es ist erfreulich, das festzustellen — gegen diese Dogmatisierung der Diskussion gewandt hat, und zwar bei der Kommentierung des letzten deutsch-französischen Konsultationsgesprächs. Am konkretesten ist der „Figaro", wenn er sagt, worum es gehe, sei dies: Die Franzosen, die seit 1945 zehn Abwertungen erlebt haben, während die Deutschen in dieser Zeit zwei Aufwertungen hatten, wollen in der ersten Phase des Werner-Plans als Hauptinstitution einen Ausgleichsfonds, um anfällige Währungen durch die starken Währungen unterstützen lassen zu können, und sie erscheinen daher als einer der Hauptnutznießer. Die Deutschen sind zu diesem „Opfer" bereit, aber unter Bedingungen, und ihre Hauptbedingung ist, daß man ohne großen Verzug in die zweite Phase übergeht, die nach dem Werner-Plan die volle Koordination der Wirtschaftspolitik der Sechs vorsieht und auch eine Mitsprache der Organe der Gemeinschaft. Denn die Deutschen wollen unter keinen Umständen eine Inflationsgemeinschaft. Hierauf replizieren die Franzosen, daß sie eine gemeinschaftliche Kontrolle befürchten, die bis zu einer Haushaltskontrolle geht. Soweit die Darstellung des „Figaro".Das entscheidende Problem ist nach dieser, wie ich glaube zutreffenden Darstellung der unauflösliche Zusammenhang zwischen wirtschaftspolitischer und währungspolitischer Integration. Das ist mehr als Parallelität, das ist eine wechselseitige Bedingtheit. Und deshalb — deshalb, nicht aus einer Vorliebe für supranationale Institutionen — sieht der Werner-Plan vor, daß der Gleichschritt in beiden Materien, der Wirtschafts- und der Währungspolitik, von Anfang an festgelegt wird. Er fixiert die einzelnen Stufen nach Inhalt und nach Terminen; er ist also ein Stufenplan,
und zwar im richtigen, im einzigen Sinn des Wortes.Gibt es einen Kompromiß in der so gestellten Frage? Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat hier in der vorigen Woche einen solchen skizziert, wenn auch mit einem nicht übersehbaren Widerstreben, für das wir großes Verständnis haben. Er erwägt einen kombinierten Mechanismus, die Verbindung einer Vorsichts- und einer Verfallsklausel. Ein Land, das aus einem Tatbestand nicht die notwendigen wirtschaftspolitischen Folgerungen zieht, soll demnach von der gemeinschaftlichen Währungshilfe ausgeschlossen werden. Außerdem sollen sämtliche währungspolitischen Maßnahmen von Anfang an befristet werden, und zwar auf denselben Endtermin. Wenn man sich bis zu diesem Endtermin nicht über gemeinsame Wirtschaftpolitik verständigt hat, sollen die währungspolitischen Maßnahmen und Einrichtungen automatisch außer Kraft treten.Der Unterschied dieses Kompromisses zum originalen Werner-Plan besteht also darin, daß das, was bei Werner präventiv — durch die vorherige Fixierung der Mechanismen und der Verfahren — gesichert wird, hier repressiv in Ordnung gebracht werden soll. Ich möchte dazu sagen, daß das sicher das strikte Minimum des zu Fordernden ist, aber es ist doch keine gute Lösung. Es kann uns auch nicht gleichgültig sein, daß sich ein Mann von der
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5362 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Dr. Hallsteinungewöhnlichen — auch europäischen — Autorität des italienischen Ministerpräsidenten Colombo nicht bereit gefunden hat, dem zu folgen.Der Nachteil des Kompromisses ist offenkundig. Der Ausschluß eines Landes aus einer schon in Kraft befindlichen gemeinschaftlichen Lösung ist immer heikel, weil er nach Strafe schmeckt. Er ist doppelt heikel, wenn der Grund dafür nicht in mangelndem gutem Willen, sondern in Unvermögen liegt, was der Fall sein kann. Und er ist dreifach heikel, weil wir die allgemeinen politischen Bedingungen — nicht nur die europapolitischen, auch die weltpolitischen — nicht überschauen können, die im Augenblick der Entscheidung vorliegen und die die Entscheidungsmarge praktisch ganz außerordentlich beschränken können.So viel zum Wirtschaftlichen. Seit Den Haag ist aber nun als Gegenstand unserer praktischen europäischen Tagesarbeit die Bemühung um die sogenannte politische Union hinzugetreten, d. h. materiell um die Einbeziehung der Außen- und Verteidigungspolitik und institutionell um den Ausbau der unterenwickelten Organisationen der Gemeinschaftsinstanzen, vor allem natürlich des Europäischen Parlaments.Wir sind damit schon bei der institutionellen Problematik. Dazu möchte ich drei Bemerkungen machen: eine, die sich auf die Konsultationsprozedur bezieht, mit der die im Haag beschlossenen Fortschritte zur politischen Union eingeleitet werden sollen, eine zweite, die die Organisation der europapolitischen Arbeit im Auswärtigen Amt betrifft, und eine dritte zu den bedeutsamen Ausführungen, die der Präsident der Französischen Republik in seiner Pressekonferenz vor dem letzten deutsch-französischen Konsultationsgespräch über die endgültige Verfassung gemacht hat, die nach seiner Auffassung der politischen Einheit Europas ihre Gestalt geben soll.Erstens zur Konsultationsprozedur. Ich bedauere, hier sagen zu müssen, Herr Bundesminister, daß die Aussagen, die die Bundesregierung dazu in der außenpolitischen Debatte der vorigen Woche gemacht hat, mich in keinem Punkte veranlassen können, von dem abzuweichen, was ich hierzu im Sommer vorigen Jahres von dieser Stelle aus ausgeführt habe. Noch einmal muß ich sagen, daß unser Urteil nicht durch noch so wortreiche methodologische Plädoyers bestimmt werden kann, sondern ausschließlich durch das, was bei dem gewählten Verfahren herauskommt
an Einheit politischen Handelns in den materiellen außenpolitischen Fragen, die sich für Europa stellen. Aber eben darüber hören wir nichts.
— Ich habe gelesen, was hier gesagt worden ist. — Die Antworten sind zum großen Teil Gemeinplätze, vage oder ganz inhaltslos.
Zweitens die Organisation der europäischen Arbeit im Auswärtigen Amt. Wenn es richtig ist, daß sich die zerstreuten Einzelaktionen immer stärker zu dichten Strängen der Entwicklungslinien verbinden, muß doch ihre Entsprechung auch, meine ich, im Organisatorischen der inneren Arbeit des Amtes zu finden sein. Das Gegenteil ist der Fall. Im Auswärtigen Amt sind, vom Legationsrat bis hinauf zum Staatssekretär — einschließlich der Staatssekretäre —, die beiden Bereiche völlig getrennt: hier wirtschaftliche Integration, durch die Verträge gesichert, dort politische Zusammenarbeit, wie der verschämte Ausdruck lautet für das, was uns dann doch wieder als Einleitung einer politischen Union angepriesen wird. Das heißt doch, in einer Sache die Unterschiede organisieren, in der die Gemeinsamkeit organisiert werden müßte.Ich will nicht sagen, daß damit gleich Brandmauern innerhalb des Ministeriums zwischen diesen Bereichen aufgerichtet werden, aber ohnedies ist doch die Entstehung von zwei Typen von Diplomatie, von zwei Typen von Diplomaten durch das Aufkommen der multilateralen Organisationsdiplomatie neben dem klassischen, bilateralen Typus ein Problem, das nicht nur unsere auswärtige Verwaltung stark belastet. Man potenziert, glaube ich, dieses Problem, wenn man jene Unterscheidung noch einmal gewaltsam dort einführt, wo es sich der Sache nach doch auch um multinationale Organisationsdiplomatie desselben Stiles handelt wie bei der Integration. Statt dafür zu sorgen, daß an allen Stellen, wo Europa-Politik konzipiert wird, die Gesamtproblematik mit einem Blick umfaßt wird, hat man sich mit einer auffälligen Sorgfalt darum bemüht, die Wirtschaftspolitik auf der einen Seite und das sogenannte rein Politische auf der anderen Seite auseinanderzuhalten. Ich glaube, es wäre eine gute Regel gewesen, die organisatorische Verteilung zwischen diesen beiden Bereichen frühestens unterhalb des Ministerialdirigenten beginnen zu lassennoch besser: sie erst unter dem Referatsleiter zuzulassen.Drittes Problem: die Vorstellungen des französischen Staatspräsidenten von der endgültigen europäischen Verfassung. Ihre Elemente sind bekannt. Es ist erstens eine Regierung - bei Pompidou -ich zitiere — eine Regierung, „deren Entscheidungen für sämtliche Mitgliedstaaten bindend sind". Für die Bildung dieser Regierung schlägt er vor — ausgehend von dem Gedanken, daß die Regierung das eigentliche konstitutive Element der internationalen Politik bleiben müsse —, daß man zunächst in den Mitgliedstaaten Europaminister einsetzt. Diese Europaminister sollen aber dann mit der Zeit aus ihren Regierungen ausscheiden und sich als europäische Regierung etablieren.Zweitens ist auch nach dem Pompidou-Plan ein Parlament erforderlich, und zwar ein „wirkliches europäisches Parlament", wie er sagt. Präzise Vorstellungen hält er freilich noch für verfrüht, ja, er tut sie als nutzlose Spekulationen ab.Der dritte Bereich ist die administrative Seite, die Verwaltung, deren Aufgabe die Vorbereitung und Durchführung der Entscheidungen der Regierungen
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Dr. Hallsteinist. Hierzu wird gesagt, es sei „sicher" — ich zitiere —, daß diese administrative Seite nicht nur durch die nationalen Regierungen betreut werden dürfe, sondern daß dazu spezielle Organe notwendig seien, die dem Ministerrat verantwortlich seien, und zwar nur ihm. Es ist also an eine europäische Verwaltung gedacht.Das Ganze — das ist das vierte Element seiner Darstellung —
wird „confédération" genannt. Man muß sich aber hüten, das Wort mit unserem Terminus „Konföderation" gleichzusetzen. Dieser deutsche Terminus hat sich bekanntlich in der völkerrechtlichen und staatsrechtlichen deutschen Entwicklung des 19. Jahrhunderts aus der theoretischen Behandlung des Übergangs vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich entwickelt. In der deutschen Doktrin hat diese Unterscheidung eine sehr präzise Bedeutung gewonnen, nämlich als Element des Begriffspaares „Staatenbund/Konföderation" auf der einen Seite und „Bundesstaat/Föderation" auf der anderen.
Auch die französische Terminologie kennt die beiden Begriffe, aber sie unterscheidet sie nicht entfernt mit derselben Schärfe, ja, zum Teil werden die beiden Termini geradezu synonym verwendet, allenfalls mit einem unbestimmten Unterton, daß „Konföderation" einen lockereren Zusammenschluß bezeichnet. Es ist z. B. symptomatisch, daß in dem europapolitischen Denken des Generals de Gaulle in den vierziger Jahren — etwa von 1942 bis 1948 -die „fédération" eine durchaus positive Rolle gespielt hat. Es ist auch nicht uninteressant, daß die schweizerischen Eidgenossen ihre Verfassung ganz unbefangen die föderale Verfassung der Helvetischen Konföderation nennen.
Es lohnt sich also nicht, die Begriffe „Föderation" oder „Konföderation" zum Gegenstand einer Kontroverse zu machen.
Meine Damen und Herren, es ist nicht meine Absicht, zu diesem Konzept des Präsidenten Pompidou im Detail Stellung zu nehmen. Jetzt ist auch nicht die passende Gelegenheit dazu. Aber zum Ganzen möchte ich abschließend doch noch folgendes anmerken.
Verzeihung, ich habe zwar dezent, aber unüberhörbar zweimal geklingelt. Seit einer halben Minute ist Ihre Redezeit abgelaufen. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Ich werde mich beeilen und kurz zusammenfassen.
Drei Dinge scheinen mir für die Gesamtbewertung wesentlich zu sein.
Zum einen hat zum ersten Mal eine Regierung durch den Mund ihres obersten Repräsentanten eine Konzeption für die Endlösung der europäischen Einheit entwickelt, zwar als Hypothese und auch nur in den Umrissen, aber doch mit einer genügenden Bestimmtheit und Deutlichkeit, um sie als Modell der Endphase der europäischen Einheit vorzustellen. Jedenfalls hat Pompidou seine Hypothese als eine Möglichkeit anerkannt, und wir haben kein Recht, den Autor nicht beim Wort zu nehmen.
Dieses Modell ist — das ist meine zweite Bemerkung — von der französischen Regierung vorgelegt worden. Das ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil eine bestimmte Phase der französischen Europapolitik zu einer Verlangsamung des europäischen Prozesses geführt hat, sondern auch deshalb, weil die französische Regierung nun einmal den Titel des großen Initiators hält und damit auch eine besondere Verantwortung in der europäischen Integration trägt. Darum werden Robert Schuman und Jean Monnet immer unvergessen bleiben.
Diese vorgeschlagene Endlösung ist schließlich — das ist vielleicht das Interessanteste — organisch aus der Gemeinschaft heraus entwickelt worden. Sie ist nicht etwa neben ihr aus getrennten Bauelementen, wie das die Versuche des Konsultationsmechanismus tun, zusammengesetzt worden. Das ist ein höchst interessanter und bemerkenswerter Unterschied.
Wir wünschen — das darf ich zusammenfassend sagen — in europäischen Dingen eine Politik, die mehr als Routine ist. Wir wünschen eine den Einzelaktionen übergeordnete europäische Gesamtstrategie der Bundesregierung mit einer unzweideutigen und präzisen Zielansprache, mit einheitlichen Kriterien für die Bewertung der Instrumente. Wir wünschen eine Politik, die die Teilaspekte mehr und mehr in einer geschlossenen Gesamtkonzeption aufgehen läßt.
Wenn der Vorsitzende der Fraktion der CDU/ CSU immer wieder einen Stufenplan für die Politische Union gefordert hat, so hat er dabei nicht nur die bisher nicht vertraglich gesicherte nichtwirtschaftliche Integration — also die Gebiete Außen-und Verteidigungspolitik — im Auge gehabt, sondern er hat das Ganze gemeint. Wir glauben, daß die Zeit für ein solches umfassendes Programm reif ist. Die Bundesregierung läßt das leider vermissen.
Das Wort hat der Abgeordnete Behrendt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, zu dieser Vorlesung keinen Kommentar. Ich kann meine Wortmeldung zurückziehen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
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5364 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte auf das, was Herr Professor Hallstein gesagt hat, nur mit wenigen Worten antworten, weil der größte Teil des Problems, das hier diskutiert worden ist, in den verschiedenen außenpolitischen Debatten in aller Breite erörtert wurde. Auf diese Debatten kann ich verweisen, nicht zuletzt auf die Debatte, die wir in der vorigen Woche zu diesen Fragen geführt haben.
Herr Professor Hallstein, ich hatte den Eindruck, daß Sie in Ihren Darlegungen wieder einmal zu stark auf das Institutionelle beim Wachsen Europas abgehoben haben und zuwenig über die politischen Ziele und Aufgaben des Tages in der europäischen Politik gesprochen haben. Sie haben mit Recht vor Verbalismus gewarnt. Wir sind uns völlig einig: Wir wollen keine Diskussion über Supranationalität führen, sonder wir wollen auf dem Weg zu einem einigen Europa einen praktischen Schritt weiterkommen.
Das gilt auch für unsere Arbeit an der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Hier gibt gibt es überhaupt keinen Streit über Supranationalität oder nicht Supranationalität, sondern wir sind im Augenblick dabei, eine Möglichkeit zu finden, die Einstimmigkeit über das Vorgehen in diesem Bereich zu erzielen, die nun einmal erforderlich ist, wenn wir überhaupt einen Schrit tun wollen.
Wir haben uns mit den Partnern darüber geeinigt, daß eine Parallelität, die Sie noch etwas anBereichert wissen wollten, Grundlage der weiteren Entwicklung ist. Wir wollen eine effektive Parallelität, eine Parallelität, die in jedem Augenblick der Entwicklung auch die gegenseitige Wirkung von Wirtschafts- auf Währungspolitik und von Währungs- auf Wirtschaftspolitik ausübt. Wir sind uns alle einig — Frankreich eingeschlossen —, daß das ein Stufenplan sein wird. Nur, wie viele Stufen es werden, wird man ja im Laufe der Entwicklung erleben.
Wir sind uns auch einig, daß das in zehn Jahren abgeschlossen werden muß. Wir sind uns einig darüber, daß die Stufen nacheinander eingeschaltet werden müssen, so wie bei einer Mondfahrt, und daß man zwischendurch sogar Abreden treffen muß, wann die nächste Stufe geschaltet werden muß. Darüber besteht Einigkeit. Ich meine, dem können wir mit einem gewissen Vertrauen entgegensehen.
Die Frage ist doch hier nur die: Wollen wir die Wirtschafts- und Währungsunion in einem Stufenplan und in einem Ablauf mit allen unseren Partnern verabreden, der den ersten Schritt möglich macht, oder wollen wir über den Streit über jede einzelne Etappe und ihre präzisen Darstellunge überhaupt den ersten Schritt blockieren? Das ist die Frage, meine Damen und Herren. Wir haben uns dazu entschieden, dieses etappenweise Vorgehen mit unseren Partnern zu verabreden, aber dabei sehr wohl auf das Ziel zu achten.
Sie haben gesagt, daß die politische Zusammenarbeit bisher noch zu nichts geführt habe, und Sie
fragen, was dabei herauskommt. Wir werden — so hoffe ich zuversichtlich — in den nächsten Wochen die ersten politischen Ergebnisse mitteilen können, die bei der politischen Konsultation herauskommen. Aber wir haben bisher ja erst eine einzige Konsultation dieser Art gehabt und auf dieser Konsultation die Aufträge an die gemeinschaftlichen Gremien aufgeteilt. In diesen Tagen und Wochen sitzen die Sachverständigen der verschiedenen Ministerien zusammen, um in Fragen, zu denen sie uns Arbeitsunterlagen vorbereiten sollen, zu Rande zu kommen. Wir werden bei der nächsten Konsultationssitzung z. B. über die bedeutende Frage, wie sich Europa zu dem Mittelmeerproblem und zu dem Problem Vorderer Orient einstellt, eine Antwort geben müssen. Aber das wird ja auch hier im Parlament vorgetragen werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hallstein?
Bitte sehr!
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, im Auswärtigen Ausschuß über den materiellen Gehalt der Besprechungen nähere Auskunft zu geben?
Ja, ich bin sehr gern bereit, über den augenblicklichen Stand etwas zu sagen. Das ist praktisch die Zusammenarbeit der verantwortlichen Beamten auf der C Dirigentenebene zu bestimmten Problemen. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit wird dem sogenannten Politischen Komitee zugeleitet und dann in die Konsultation einfließen. Ich bin in der Lage, zwischendurch dazu etwas zu sagen.Ich darf jetzt aber zu der Frage der Organisation der Europapolitik im Auswärtigen Amt kommen, weil Sie, so glaube ich, Herr Professor Hallstein, die Organisationsstruktur des Amtes hier völlig mißverstehen.
Erstens einmal hat es im Auswärtigen Amt bisher niemals eine Zusammenfassung der wirtschaftspolitischen und politischen Referate gegeben, die sich mit der EWG befassen. Sie waren getrennt in den Abteilungen III und I. Zum ersten Mal sind heute alle wirtschaftspolitisch orientierten und politisch orientierten Referate, die sich mit der Integration der EWG befassen, in einer Abteilung zusammengefügt und unterstehen im übrigen einem Staatssekretär, der deswegen der Europa-Staatssekretär ist.
Dennoch wird die politische Zusammenarbeit Europas in der Politischen Abteilung verantwortlich geführt, bei der notwendigen Information nach der anderen Seite. Warum? Hier handelt es sich zunächst einmal um Zusammenarbeit in außenpolitischen Fragen. Das sind keine Fragen, die die Partner der Gemeinschaft untereinander als Probleme zu bewältigen hätten, sondern es sind außenpolitische
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Bundesminister ScheelFragen denen wir gemeinsam gegenüberstehen. Das heißt, es sind Fragen etwa von der Art: Wie verhält sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bei einem Problem, das in Lateinamerika auftaucht? Wie verhält sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bei einem Problem, das im Nahen Osten auftaucht? Es liegt auf der Hand, daß diese Fragen von den verantwortlichen Beamten bearbeitet werden müssen, die die Politik behandeln und die die Entscheidungsvorbereitungen diesen Räumen und diesen außenpolitischen Fragen gegenüber treffen, so daß in diesem Stadium der Entwicklung geradezu widersinnig wäre, wenn wir eine andere Organisation hätten.Ich will auf die sachlichen Probleme jetzt nicht im einzelnen eingehen. Ich darf Ihnen, Herr Professor Hallstein, am Schluß nur versichern, daß Sie nicht glauben dürfen, daß die Bundesregierung etwa in der Europapolitik einer Art wertfreien Pragmatismus folgen würde. Wir haben hier mehrfach die Zusammenhänge in der Europapolitik und die Zusammenhänge der Europapolitik mit anderen außenpolitischen Bereichen dargestellt. Wir haben vor allen Dingen das Ziel sehr fest umrissen, das wir mit der europäischen Integrationspolitik erreichen wollen. Dieses fest umrissene Ziel ist die Einigung Europas, ist die politische Einigung Europas. Das heißt, unsere Politik basiert darauf, daß wir pragmatisch vorgehen, einen Schritt nach dem anderen auf ein Ziel tun wollen, das fest umrissen ist und das wir im Auge haben.
Meine Damen und Herren, es liegt noch eine Wortmeldung vor. Für drei Minuten hat noch einmal Herr Blumenfeld das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es ein bißchen bedauert, daß, wenn der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland zu seinem Haushalt ein Schlußwort spricht, eigentlich kaum jemand, weder bei den Koalitionsfraktionen, noch bei der Opposition, richtig zuhört.
Ist das, Herr Außenminister, ein Ergebnis Ihrer Tätigkeit, oder ist das ein Ergebnis der Substanz dessen, was Sie uns hier am Schluß Ihrer Betrachtungen vorgelegt haben?
Ich habe nur einige wenige Fragen an Sie zu richten, Herr Außenminister. Sie waren in den letzten eineinhalb Tagen, wenn ich richtig unterrichtet bin, in Brüssel und haben dort gemeinsam mit den anderen fünf Ländern, wie wir hören, sehr schwierige, wenn auch nicht ganz erfolglose Verhandlungen mit dem britischen Europaminister Rippon über den britischen Beitritt gepflogen. Sie fliegen morgen nach London, um sich mit der englischen Regierung über die Fragen des Beitritts zu unterhalten. Herr Kollege Scheel, ich glaube,
ich sage Ihnen nichts Neues — oder ich hoffe, Ihnen nichts Neues zu sagen —: wenn die entscheidende Frage des britischen Beitritts heute hier im Hause von Ihnen hätte angesprochen werden müssen, dann brauchten wir uns, wenn der britische Beitritt nicht bis zum Juli mit Hilfe der deutschen Regierung vollzogen werden kann, im Prinzip nicht über Wirtschafts- und Währungsunion und über sonstige pragmatische Zielvorstellungen oder über eine Schritt-für-Schritt-Europapolitik zu unterhalten. Darüber sollten wir uns doch hier im Hause klar sein. Hierüber etwas gehört zu haben, Herr Kollege Scheel, wäre in dieser späten Stunde wert gewesen, Ihnen zuzuhören.
Das Wort hat der Bunaußenminister.
Herr Präsident, ich möchte nur Herrn Kollegen Blumenfeld eine Antwort geben. Ich habe darüber vor einer Woche hier gesprochen, und zwar in vollem Umfang.
Ich kann heute nur das wiederholen, was ich vor einer Woche als das Ziel unserer Bemühungen genannt habe. Daß die Bemühungen noch nicht zum vollen Erfolg geführt haben, wissen Sie, denn wir haben ja den Beitritt Großbritanniens noch nicht beschließen können. Wir sind weiter dabei, uns genau in dem Sinne, den Sie — ich glaube, mit uns gemeinsam — zur Grundlage dieser Politik machen wollen, Mühe zu geben. Wann die entscheidenden Fragen geklärt werden können, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Aber ich habe vorige Woche hier erklärt — ich wiederhole es —, daß ich nicht pessimistisch bin, daß es nicht gelingen sollte, in diesem Jahr das Problem zu regeln, so daß Großbritannien tatsächlich am 1. Januar 1973 dem Gemeinsamen Markt beitreten könnte. Es sind noch große Hindernisse zu überwinden. Wir geben uns die größte Mühe. Aber das kann die Bundesrepublik naturgemäß nicht allein machen, sondern dazu brauchen wir zunächst einmal alle Partner in der EWG. Darüber hinaus brauchen wir den britischen Partner zu einer gemeinsamen Lösung.
Bis dahin können wir nur hoffen, daß die Vorschläge, die erarbeitet worden sind, uns zu einem vernünftigen Kompromiß befähigen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung.Ich rufe zunächst den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 112 *) auf. Soll dieser Antrag noch begründet werden? — Er wird nicht begründet.*) Siehe Anlage 9
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5366 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Februar 1971
Präsident von HasselWer dem Antrag auf Umdruck 112 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wir kommen dann zur Abstimmung über den Einzelplan 05 — Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts —.Wer diesem Einzelplan seine Zustimmung gibt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Der Einzelplan 05 ist angenommen.Ich mache nunmehr zur Geschäftsordnung auf folgendes aufmerksam. Ich werde noch einige Einzelpläne aufrufen, die ohne Diskussion verabschiedet werden können. Ich muß mich dabei insofern korrigieren, als ich jetzt nicht den Einzelplan 32 aufrufe, weil dazu ein Änderungsantrag vorliegt und dieser erst noch im Zusammenhang mit anderen Einzelplänen behandelt werden muß.Ich rufe auf:Einzelplan 19Bundesverfassungsgericht— Drucksache VI/1746 —Berichterstatter: Abgeordneter PicardDie Vorschläge des Berichterstatters dazu liegen vor. Wünscht der Herr Berichterstatter noch eine Ergänzung? — Das ist nicht der Fall. Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Eine Aussprache ist nicht erforderlich; Wortmeldungen liegen nicht vor.Wer dem Einzelplan 19 — Bundesverfassungsgericht — zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Einzelplan 19 ist einstimmig beschlossen.Ich rufe auf:Einzelplan 20Bundesrechnungshof— Drucksache VI/ 1747 —Berichterstatter: Abgeordneter Lemper Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Wünscht dieser noch das Wort? — Das ist nicht der Fall. Zur Aussprache liegt keine Wortmeldung vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 20 — Bundesrechnungshof —.Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Einzelplan 20 ist einstimmig beschlossen.Ich rufe nunmehr auf:Einzelplan 33 Versorgung— Drucksache VI/1753 —Berichterstatter: Abgeordneter Schröder
Ich danke dem Berichterstatter. Wünschen Sie noch das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung.Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? - Der Einzelplan 33 ist einstimmig angenommen.Ich rufe auf:Einzelplan 35Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte— Drucksache VI/1754 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. BußmannIch danke dem Berichterstatter. Er wünscht das Wort nicht. Wir kommen zur Abstimmung.Wer dem Einzelplan 35 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Einzelplan 35 ist einstimmig angenommen.Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, daß wir morgen früh um 9 Uhr mit der zweiten Lesung fortfahren, und zwar mit der Beratung des Einzelplan 06 — Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern —.Ich schließe die heutige Sitzung und berufe die nächste Sitzung auf morgen früh, 9 Uhr, ein.