Gesamtes Protokol
Bitte nehmen Sie Platz . Zunächst einmal wünsche ich
Ihnen allen einen wunderschönen guten Morgen . Die Sit-
zung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung mache ich darauf auf-
merksam, dass die für heute verlangte Aktuelle Stunde
zum Thema „Aufklärung der Umstände der Verhaftung
und des Todes im Fall Jaber Albakr“ nicht stattfindet.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat ihren Antrag
zurückgezogen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Fort-
entwicklung der parlamentarischen Kont-
rolle der Nachrichtendienste des Bundes
Drucksache 18/9040
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Dr . André Hahn, Frank Tempel, Ulla
Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Frakti-
on DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die parlamentarische Kontrolle nach-
richtendienstlicher Tätigkeit des Bundes
Drucksache 18/6640
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
Drucksache 18/10069
b) – Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr . André
Hahn, Frank Tempel, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Parlamentarische Kontrolle der nachrich-
tendienstlichen Tätigkeit des Bundes ver-
bessern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Chris-
tian Ströbele, Dr . Konstantin von Notz, Irene
Mihalic, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine wirksamere Kontrolle der Nach-
richtendienste
Drucksachen 18/6645, 18/8163, 18/10069
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe kei-
nen Widerspruch . Dann gehe ich davon aus, dass das so
beschlossen ist .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Clemens Binninger von der CDU/CSU-Fraktion . – Bitte
schön .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Das Parlamentarische Kontrollgremium ist einesder wenigen Gremien, die ausdrücklich in unserer Ver-fassung genannt sind . Die Mitglieder dieses Gremiumshaben eine besondere Stellung, weil sie, anders als dieMitglieder in Fachausschüssen, nicht von ihren Fraktio-nen benannt und dorthin entsandt werden, sondern vomParlament in geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit ge-wählt werden . Das zeigt deutlich, dass dieses Gremiumdie Kontrolle der Nachrichtendienste ausübt anstelle desParlamentes . Wir vertreten das ganze Parlament: nichtParteipolitik, nicht in erster Linie Fraktionsinteressen,sondern die Interessen des Parlamentes .Dieses Gremium, das es schon lange gibt und das sehrlange nur im Geheimen getagt hat – vielleicht sogar et-was über Gebühr –, hatte 2009 eine größere Reform er-fahren und hat eine Reihe von Befugnissen bekommen .Das Parlamentarische Kontrollgremium darf die Nach-richtendienste aufsuchen, Mitarbeiter befragen, sich Ak-ten herausgeben lassen und von der Regierung Informa-tionen verlangen .Aber in der Praxis war es schon so – als ehemaligesMitglied und jetzt Vorsitzender dieses Gremiums muss
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ich das auch selbstkritisch sagen –: Wir hatten die Instru-mente, aber wir hatten eigentlich nicht das Personal undschon gar nicht die Zeit, sie entsprechend anzuwenden .Wenn man aber eine wichtige Aufgabe erledigen will,muss man ihr auch im gebotenen Umfang nachkommenkönnen .Vielen von uns ist es bei manchen Themen, die dieNachrichtendienste betreffen, so gegangen, dass wir inunseren Gremiensitzungen – ich will es einmal so sa-gen – der Presseberichterstattung etwas hinterhergehinktsind . Bei dem einen oder anderen Thema haben wir unsvielleicht auch angesehen und gefragt: Was steckt dahin-ter?Das hat auch dazu geführt, dass manche Kritik, dieman an den Nachrichtendiensten üben kann, und man-cher Fehler in der Vergangenheit eine Art Skandalmelo-die erfahren haben, was vielleicht gar nicht notwendiggewesen wäre, hätte vorher ein Gremium sagen können:Diesen Fall kennen wir . Wir haben ihn untersucht . Wirhaben kontrolliert . Es mag Kritik geben, aber es ist keinGrund zur Skandalisierung .Deshalb war unsere Überlegung: Wie können wir dieArbeit dieses Gremiums – nicht zuletzt auch als Reakti-on auf die ganze Thematik im Zusammenhang mit NSA,Snowden, den Erkenntnissen des Untersuchungsaus-schusses, aber auch unseren eigenen Erkenntnissen, weilwir eine Taskforce eingesetzt und das untersucht haben –leistungsstärker machen und verbessern und die Kontrol-le dauerhaft auf ein seriöses hohes Niveau heben?Wir sind nicht – das sage ich als Vorsitzender immerwieder – der Durchlauferhitzer für Skandale . Wir sindnicht dazu da, Parteipolitik zu machen . Wir sind nichtdazu da, etwas hochzublasen, damit andere sich profilie-ren können .
Wir kontrollieren seriös und kompetent . Damit leistenwir in zweierlei Hinsicht einen Beitrag . Ich bin sehr da-für – wir werden das nachher mit Blick auf den anderenGesetzentwurf auch noch zu besprechen haben –: Wirbrauchen leistungsfähige und starke Nachrichtendienste .Wir brauchen aber auch Nachrichtendienste, die konse-quent kontrolliert werden – im Rahmen der Dienst- undFachaufsicht durch die Exekutive, aber auch durch dasParlament .Ich will mich vor die Nachrichtendienste stellen kön-nen . Das tue ich auch . Das kann ich aber nur, wenn ichweiß, dass ich sie gut, umfassend und seriös kontrolliere .
Deshalb beheben wir mit diesem Gesetzentwurf eineReihe von Mängeln, die wir festgestellt haben .Punkt eins: mehr Personal. Wir schaffen einen Ar-beitsstab mit einem Ständigen Bevollmächtigten an derSpitze . Das ist nicht – das sage ich deutlich – der Nach-richtendienstbeauftragte des Parlaments – das sind wir,die neun gewählten Parlamentarier –, das ist vielmehr un-ser Arbeitsstab . Der Bevollmächtigte ist der Chef diesesArbeitsstabes . Er arbeitet in unserem Auftrag dauerhaftan dieser Aufgabe und berichtet ausschließlich uns . Da-mit wird eine wichtige Lücke geschlossen .Wir fügen öffentliche Elemente ein. Manches bei denDiensten ist zu Unrecht, wie ich finde, in einer Grauzone.Die Dienste können sich mehr öffnen. Wir leisten dazueinen Beitrag – unsere Sitzungen sind grundsätzlich ge-heim; daran wird sich nichts ändern –: Einmal im Jahrwird es eine öffentliche Anhörung mit den Präsidentender Nachrichtendienste wie in den USA geben . Dasist für beide Seiten eine Chance, ihre Arbeit darzustel-len . Dadurch tragen wir zur Akzeptanz unserer Arbeit,aber auch der Arbeit der Dienste bei . Damit tun wir denDiensten – das glaube ich schon – einen großen Gefallen .
Wir führen eine Regelung ein, nach der Mitarbeiteruns, das PKGr, mit Informationen über Missstände ver-sorgen können. Wir schützen diese – der Begriff gefälltmir zwar nicht – Whistleblower . Wir können sie abernicht beliebig schützen . Wir sagen: Wer uns Missständemitzuteilen hat, wird geschützt . Sein Name wird nichtan die Exekutive gegeben . Solange wir ihn nicht für dieAufklärung brauchen, bleibt der Name bei uns .
Aber ich habe schon die Erwartung, dass, wer Miss-stände anprangert und weiß, dass er geschützt wird, sei-nen Namen nennt . Für anonyme Mitteilungen ist diesesGremium nicht zuständig . Deshalb haben wir eine guteRegelung gefunden: Schutz der Hinweisgeber bei kla-rer Benennung und Schutz des Namens, solange wir ihnnicht unbedingt weitergeben müssen .
Ich komme zu meinem letzten Punkt; das wurde häu-fig kritisiert. Kollege Ströbele wird es gleich in seinerRede auch wieder sagen: Er wird unvollständig infor-miert. – Er findet oft drastischere Worte, die meistensetwas übertrieben sein mögen .
Wir hatten in der Vergangenheit das Grundproblem:Welche Fälle von besonderer Bedeutung teilt uns dieBundesregierung mit? Der Streit war immer der gleiche .Es hieß: Das kommt darauf an .
Deshalb haben wir im Gesetzentwurf eine Regelungvorgesehen, in der wir definieren, was Fälle von beson-derer Bedeutung sind . Diese muss uns die Regierungmitteilen . Damit haben wir Rechtssicherheit und Klarheitauf beiden Seiten . Damit ist die Zeit der Ausreden vorbei .Deshalb kommen wir damit auch in dieser Hinsicht aufein neues Informations- und ein neues Qualitätsniveauder Kontrolle .Ich kann in Summe sagen: mehr Personal für die Auf-gabe, mehr Öffentlichkeitselemente, klare Definitionen,Clemens Binninger
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Schutz von Hinweisgebern . Wir stärken dieses Gremium .Es ist das Gremium des ganzen Parlaments . Das solltenwir nie vergessen . Es leistet einen wichtigen Beitrag .Ich hoffe sehr, dass die Zustimmung zu diesem gutenGesetzentwurf breit ausfällt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Nächster Redner ist der Kollege
Dr . André Hahn, Fraktion Die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DasBeste am Gesetzentwurf der Koalition ist der Titel: Ge-setz zur weiteren Fortentwicklung der parlamentarischenKontrolle der Nachrichtendienste des Bundes . Die istauch dringend nötig . Der Inhalt des Gesetzes erfüllt denAnspruch einer effektiveren und vor allem einer besserenKontrolle jedoch definitiv nicht.
Ich habe schon in der ersten Lesung darauf hingewiesen,dass in diesem Gesetzentwurf wichtige Punkte fehlen .Andere sollen zwar Eingang finden, werden jedoch nurhalbherzig geregelt . In einer ganz zentralen Frage wirddas Parlamentarische Kontrollgremium eher geschwächtals gestärkt . Ich komme im Einzelnen noch darauf zu-rück .Ich muss leider feststellen, dass sich die Koalitionauch in den Ausschussberatungen wieder einmal völligberatungsresistent gezeigt hat . Bis auf eine klitzeklei-ne Ergänzung gab es nicht eine einzige substanzielleÄnderung am ursprünglichen Gesetzentwurf . Das wäreaber mit Blick auf den nächsten Tagesordnungspunktdringend erforderlich gewesen . Wer der Massenüberwa-chung durch den BND Tür und Tor öffnen,
den Auslandsgeheimdienst auch im Inland einsetzen unddas Ausspähen unter Freunden nun ganz offiziell erlau-ben will, müsste wenigstens die parlamentarische Kon-trolle stärken . Doch genau das passiert nicht .
Deshalb werden und können wir dem vorliegenden Ge-setzentwurf nicht zustimmen .
Eigentlich wollte ich die Koalition zumindest in ei-nem Punkt loben
– ich hätte es gern getan –, weil, wie von uns seit langemgefordert, den PKGr-Mitgliedern endlich erlaubt wer-den sollte, zumindest den eigenen Fraktionsvorsitzendenüber wichtige Themen aus dem Gremium zu informie-ren . So stand es ursprünglich in einer von netzpolitik .orggeleakten Arbeitsfassung der Koalition . Im Gesetzent-wurf findet sich darüber kein Wort mehr.Dass sich Mitarbeiter der Dienste künftig – HerrBinninger hat darauf hingewiesen – bei Missständenoder Problemen zunächst auch ohne Unterrichtung ihrerVorgesetzten an das PKGr wenden können, klingt ver-nünftig .
Wenn deren Namen im Zweifel auf Verlangen der Bun-desregierung aber dann doch wieder bekannt gegebenwerden sollen, ist das mit Sicherheit kein wirksamerWhistleblower-Schutz .
Dass das PKGr von ihm in Auftrag gegebene Sachver-ständigengutachten künftig an andere Gremien des Bun-destages und an Untersuchungsausschüsse der Landtageweitergeben kann, ist eigentlich selbstverständlich . Hierwird eine bislang vorhandene Regelungslücke geschlos-sen .Völlig in die falsche Richtung geht die geplante Schaf-fung eines Ständigen Bevollmächtigten des PKGr . DieseStelle samt Stellvertreter kostet Millionen und bringt we-nig bis gar nichts .
Vielmehr besteht die ernste Gefahr, dass besonderssensible Vorgänge oder Akten künftig allein dem Be-vollmächtigten vorgelegt werden und nicht mehr dengewählten Abgeordneten; ich erinnere an den Sonder-beauftragten Graulich und die NSA-Selektoren . Damitwürde die parlamentarische Kontrolle nicht unterstützt,sondern letztlich ausgehebelt . Auf den Mitarbeiterstabdes sogenannten Bevollmächtigten wird die Oppositionkeinerlei Einfluss haben.
Ich finde es im Übrigen ziemlich perfide, dass, bevor dasGesetz überhaupt beschlossen worden ist, die personelleBesetzung für das noch gar nicht existierende Amt in derKoalition schon ausgedealt wurde . So viel zum Respektgegenüber dem Parlament .
Dass in der Union allen Ernstes erwogen worden ist, denderzeitigen Vizechef des BND zum neuen Geheimdienst-kontrolleur umzufunktionieren, setzt dem Ganzen nochdie Krone auf .
Clemens Binninger
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Wer so agiert, braucht sich über Politikverdrossenheitwahrlich nicht zu wundern .
Schließlich fehlen im Entwurf der Koalition wichtigePunkte, so eine Stellvertreterregelung für die Mitgliederdes PKGr, die Schaffung der Möglichkeit zur Einsichtin die elektronischen Daten und Netzwerke der Diens-te – genauso wie sie die Kollegen in den Niederlandenoder in Norwegen haben – sowie die Anfertigung einesTonbandmitschnitts der gesamten Sitzung des PKGr, umspäter bei Bedarf die Richtigkeit und Vollständigkeit derAngaben von Bundesregierung bzw . Geheimdienstenprüfen zu können .
Nach dem Willen von CDU/CSU und SPD gibt es trotzerdrückender Übermacht im Parlament auch keinerleiStärkung der Minderheitenrechte im Kontrollgremium .Der künftige Ständige Bevollmächtigte kommt wohl ausdem Bundesinnenministerium . Wer glaubt denn ernst-haft, dass der im Zweifel seinen jetzigen Chef in Schwie-rigkeiten bringen wird, wenn es um den Verfassungs-schutz geht?Ich habe bereits in der ersten Lesung BND-PräsidentKahl hier zitiert, der bei seiner Amtseinführung erklärte:Geheimer Nachrichtendienst und vollständige Transpa-renz schließen sich aus . – Ja, das ist wohl so, und genaudaraus resultiert unsere grundsätzliche Skepsis gegen-über Geheimdiensten . Solange es für deren Überwindungaber keine realistische Mehrheit hier im Parlament gibt,müssen wir sie wenigstens halbwegs vernünftig kontrol-lieren . Der Gesetzentwurf der Koalition leistet dazu kei-nen Beitrag . Der Entwurf der Linken gibt die eindeutigbesseren Antworten, selbst wenn die Mehrheit ihn heutewieder ablehnen wird .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kol-
legin Dr . Eva Högl das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Einen schönen guten Morgen! Wir beratenheute Morgen hier zu bester Parlamentszeit zwei wesent-liche und sehr wichtige Reformen . Zunächst debattie-ren wir über neue und bessere Rechtsgrundlagen für dieparlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste undüber eine Reform unserer parlamentarischen Kontrol-le und dann gleich im Anschluss über neue und bessereRechtsgrundlagen für den Bundesnachrichtendienst . Wirwissen alle: Das sind zwei wirklich wichtige Reformen;sie resultieren aus der Kritik, die wir hier im DeutschenBundestag in zwei wichtigen Untersuchungsausschüs-sen, dem NSU-Untersuchungsausschuss der letzten Le-gislaturperiode und dem NSA-Untersuchungsausschussdieser Legislaturperiode, herausgearbeitet haben .Wir haben gerade in dieser Woche hier im DeutschenBundestag in den Ausschüssen, insbesondere im Rechts-und im Innenausschuss, wieder einmal viel Anlass zurKritik an den Sicherheitsbehörden gehabt, in diesem Fallan den Behörden, insbesondere Polizei und Strafvollzug,in Sachsen . Dort sind Fehler gemacht worden .Aber ich möchte dies zum Anlass nehmen, hier miteinem ganz eindeutigen Lob zu beginnen, nämlich ei-nem ganz eindeutigen Lob für die Arbeit unserer Sicher-heitsbehörden; denn wir reden immer viel über Kritik,wenn Fehler gemacht worden sind, aber wir vergessenganz häufig, zu sagen, wie ordentlich an vielen Stellenin unserem Land, in Bund und Ländern, gearbeitet wird .Herzlichen Dank dafür .
Auch der Fall in Sachsen gibt nicht nur Anlass zurKritik, sondern wir müssen ganz deutlich sagen: Dortkonnte ein Anschlag verhindert werden . Das ist das ganzEntscheidende, bei aller Dramatik des weiteren Verlaufsdes Falls . Natürlich hätte der Suizid verhindert werdenmüssen . Aber dieser Fall zeigt, dass gerade unsere Nach-richtendienste – und darüber sprechen wir hier heuteMorgen – ganz hervorragend gearbeitet haben .
Die Kooperation mit den ausländischen Diensten hatfunktioniert . Das zeigt noch einmal, wie wichtig dieserAustausch ist . Die Weitergabe der Informationen zwi-schen den ausländischen Diensten, Bund und Land hatfunktioniert, die Verarbeitung der Informationen und dieKonkretisierung der Informationen haben funktioniertund letztendlich auch die Zusammenarbeit mit der Poli-zei . Das sind ganz wichtige Erkenntnisse . Deswegen wares mir wichtig, das heute Morgen hier einmal zu betonen .Unsere Nachrichtendienste haben alle eine wirklichwichtige Aufgabe bei der Gewährleistung unserer Si-cherheit und beim Schutz von Demokratie und Rechts-staat . Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe hierim Deutschen Bundestag, die Nachrichtendienste ganzausdrücklich zu stärken, sie mit Personal und Technik zuunterstützen und gute Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Wiederum zeigt ein aktueller Fall, nämlich der Fallder „Reichsbürger“ nicht nur in Bayern, sondern auch inanderen Teilen unseres Landes, wie wichtig es ist, dassdie Nachrichtendienste nahe an den Themen, an den Per-sonen, an den Strukturen und an den Organisationen sind,
wenn sie ihrer Aufgabe nachkommen wollen, unsereFreiheit und unsere Sicherheit zu schützen und gegen dievorzugehen, die diese Freiheit und Sicherheit bedrohen .Dr. André Hahn
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Unsere Nachrichtendienste dürfen nichts aus demAuge verlieren, müssen alle Entwicklungen gut im Blickhaben, und deshalb brauchen sie an der Stelle unsere Un-terstützung . Dafür sind – das sind die zwei entscheiden-den Stichworte bei unserer Reform – Vertrauen und Kon-trolle notwendig . Die Nachrichtendienste haben durchdie Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse viel an An-sehen und Vertrauen verloren . Wir wollen mit dieser Re-form an diesen beiden Stellen deutlich machen, dass eswichtig ist, über eine wirksame, systematische und struk-turelle Kontrolle dieses Vertrauen wiederherzustellen .Denn wir mussten feststellen, dass die Kontrolle bis-her nicht funktioniert hat, weder in den Nachrichten-diensten selbst noch in den zuständigen Ministerien oderim Kanzleramt . Auch unsere parlamentarische Kontrol-le hier und im Parlamentarischen Kontrollgremium warbisher unzureichend, weil wir keine ausreichenden Mög-lichkeiten hatten, sie gut auszuüben .Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, auch in Richtung der Nachrich-tendienste und aller Beschäftigten dort: Kontrolle schafftVertrauen. Kontrolle ist kein Angriff auf die Nachrich-tendienste, sondern Kontrolle stärkt sie und schafft dieGrundlagen, damit sie auf der Basis von Vertrauen, daswir ihnen geben, gut und noch besser arbeiten können .
Deswegen sind zwei Dinge so wichtig, die wir aufden Weg bringen . Das ist auch schon erwähnt worden,deswegen kann ich es kurz machen . Der Ständige Be-vollmächtigte ist eine ganz zentrale Forderung schonaus Zeiten des NSU-Untersuchungsausschusses . Er wirddas PKGr gut unterstützen . Die Opposition ist selbstver-ständlich daran beteiligt, lieber Herr Hahn .
Denn der Ständige Bevollmächtigte wird auf Vorschlagdes PKGr ernannt . Und ich gehe davon aus, dass dieOpposition auch weiterhin im PKGr vertreten sein wird .Deswegen ist die Opposition auch an dieser Entschei-dung beteiligt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der neu zu schaffen-de Stab – das ist ganz wichtig – wird die Arbeit des Par-lamentarischen Kontrollgremiums stützen . Er arbeitet füralle Abgeordneten, die im PKGr sitzen – und damit auchfür die Oppositionsabgeordneten . Dieser Stab ist für alleBundestagsabgeordneten zuständig .
Deswegen werbe ich um Zustimmung zu dieser wich-tigen Reform . Man kann es immer noch besser machen;aber das ist ein ganz entscheidender Schritt hin zu einerbesseren Arbeitsfähigkeit . Es ist eine Chance für dieStärkung der Nachrichtendienste. Ich hoffe, dass hier imBundestag, aber auch in den Nachrichtendiensten ver-standen wird, wie wir diese Reform gemeint haben .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Christian Ströbele spricht jetzt für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Koalition wird heute dafür sorgen, dass eine realeChance verpasst wird, den größten deutschen Geheim-dienst unter demokratische Kontrolle zu bringen undendlich an die Leine zu legen .
Anstatt ein Gesetz zu machen, durch das die Tätigkeitdes Bundesnachrichtendienstes verfassungskonformgestaltet wird, geben Sie dem Bundesnachrichtendienstjetzt die Erlaubnis, die illegale Praxis, die dort seit mehrals 15 Jahren betrieben wird, fortzusetzen .
Statt das Parlamentarische Kontrollgremium und sei-ne Arbeit wirkungsvoller zu gestalten, schaffen Sie jetztzu den vier Institutionen der Kontrolle, die wir bereits ha-ben, zwei zusätzliche . Dadurch wird die Kontrolle nichtbesser, sondern sie wird noch mehr zersplittert sein .
Als dienstältestes Mitglied des ParlamentarischenKontrollgremiums sage ich auch einmal etwas Positives:Die Arbeit des PKGr hat sich in dieser Legislaturperiodesubstanziell verbessert .
Wir haben nicht nur sieben AGs zu sieben Themen ge-gründet, sondern wir haben auch eine Taskforce einge-setzt und Sachverständigte beauftragt . Das ist gut undrichtig und war auch – das muss ich sagen – sehr ertrag-reich . Der Fehler ist, dass von dieser Tätigkeit und dem,was wir da an teilweise Skandalösem herausbekommenhaben, leider nichts an die Öffentlichkeit gegeben wer-den darf .
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das nichtwirksam ist, liegt doch an etwas ganz anderem . Wir brau-chen doch nicht zwei weitere Gremien, um den Fehlerzu beheben . Der Fehler ist nämlich der, dass von derBundesregierung und den Diensten nicht vollständig undnicht wahrheitsgemäß berichtet wird . Wir sind aber da-rauf angewiesen, dass das, was von dort kommt, tatsäch-lich stimmt . Und das ist in der Vergangenheit nicht derFall gewesen .Dr. Eva Högl
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Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele nennen: Ich lese,dass bei „Eikonal“
in die Akten geschrieben worden ist: Das größte Risikobesteht darin, dass das Parlamentarische Kontrollgremi-um oder die G-10-Kommission von dem, was wir hiermachen, erfahren . Das ist das größte Risiko, und dasmuss vermieden werden . – Diejenigen, die das geschrie-ben haben, sind nicht etwa rausgeschmissen worden,sondern sie sind immer noch da . Und die Leitung desDienstes hat sich danach gerichtet . Das ist skandalös!
Beim Studium der Akten sehe ich die Bilder aus demSommer 2013 – Juni, Juli, August, September – vor mir,als die Bundesregierung und die Dienste dort berichtethaben und diese Herren wie Unschuldslämmer aus demTal der Ahnungslosen dasaßen und mit großen Augensagten: Wir wissen überhaupt nicht, wovon die Rede ist .Prism, Tempora? Nie gehört . Ob es den Snowden undseine Dokumente überhaupt gibt, wissen wir gar nicht .Es gibt ja nur Kopien davon .
Und von den Telefonnummern, die da genannt werden,fehlen ja die letzten Ziffern. – In Wahrheit war es so, dassdas alles stimmte .
Was viel schlimmer ist: Dieselben Herren haben, wennsie nicht berichtet haben, in den Diensten gesessen unddie Dateien gesäubert von den illegalen Selektoren, dieda drin waren,
weil sie sahen: Das wird jetzt möglicherweise ans Lichtkommen . Sie haben die Mittel ihrer Rechtsbrüche besei-tigt .
Das ist die Unwahrheit gegenüber den Kontrollgremien .Solange Sie da nicht mehr tun, wird sich nichts ändern .
Deshalb: Legen Sie Ihren Vorschlag beiseite . Derbringt keine substanzielle Änderung . Schreiben Sie indas Gesetz etwas Selbstverständliches hinein, nämlichdass die Bundesregierung und die Dienste wahrheitsge-mäß berichten müssen und dass es, wenn sie dies nichttun, Sanktionen zur Folge hat . Dann muss beispielsweiseein Disziplinarverfahren eingeleitet werden, oder die Ab-geordneten können mit solchen Skandalen an die Öffent-lichkeit gehen . Nur so erreichen Sie, dass in Zukunft diebessere Arbeit tatsächlich auch wirkungsvoll ist .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt
Stephan Mayer das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir haben – dieser fes-ten Überzeugung bin ich – eine gute parlamentarischeKontrolle unserer Nachrichtendienste . Sehr geehrterHerr Kollege Ströbele, ich erkenne es durchaus an, dassSie zugestehen, dass sich die Arbeit des PKGr in dieserLegislaturperiode substanziell verbessert hat . Aber ausmeiner Sicht gilt für das Parlamentarische Kontrollgre-mium dasselbe wie für viele andere Lebensbereiche: Wasgut ist, kann immer noch verbessert werden . Ich bin auchder festen Überzeugung: Mit dem heute vorliegendenGesetzentwurf verbessern wir qualitativ die Arbeit desParlamentarischen Kontrollgremiums enorm . Wir stär-ken damit aber auch die Nachrichtendienste insgesamt .Eine optimierte parlamentarische Kontrolle unsererNachrichtendienste in einer freiheitlich-demokratischenGrundordnung stärkt auch die Legitimität unserer Nach-richtendienste . Deswegen ist es auch im Interesse derNachrichtendienste, dass wir die Qualität der Kontrolledeutlich verbessern .Das Herzstück dieses Gesetzentwurfes ist der Ständi-ge Bevollmächtigte mit seinem Arbeitsstab. Wir schaffeninsgesamt zwölf zusätzliche Stellen in der Bundestags-verwaltung . Der Ständige Bevollmächtigte wird aberkein Geheimdienstbeauftragter des Bundestages sein .Er wird kein freies Radikal sein, das im luftleeren Raumschwirrt, sondern er wird dem Parlamentarischen Kon-trollgremium gegenüber klar weisungsgebunden sein .Das ist aus meiner Sicht ein sehr wesentlicher und guterSchritt nach vorne .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dasbehaupten nicht nur wir von der Koalition, sondern dasbehaupten auch die Sachverständigen, die in der Anhö-rung am 26 . September dieses Jahres befragt wurden .Der ehemalige BND-Präsident Schindler hat den heutezur Disposition stehenden Gesetzentwurf ausdrücklichund wortwörtlich als „Meilenstein“ tituliert, und er hatdie Funktion dieses neuen Ständigen Bevollmächtigtenwortwörtlich als ein „vielversprechendes Modul“ gelobt .
Hans-Christian Ströbele
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Also: Auch die Sachverständigen haben sich durchwegpositiv über diesen vorliegenden Gesetzentwurf geäu-ßert .Meines Erachtens, meine sehr verehrten Kollegin-nen und Kollegen, ist es auch ein erheblicher Schrittnach vorne, dass wir jetzt endlich auch die besonderenVorkommnisse, die uns die Bundesregierung im Parla-mentarischen Kontrollgremium zu berichten hat, genauspezifizieren, um, Herr Kollege Ströbele, dem Problementgegenzuwirken, dass es letzten Endes im Ermessender Bundesregierung liegt, was sie uns mitteilt oder wassie uns nicht mitteilt .
Jetzt wird genau aufgeführt, was ein besonders erwäh-nens- und berichtenswerter Vorgang ist . Das ist dann derFall, wenn ein Vorgang in der öffentlichen Debatte eineRolle spielt, wenn er Gegenstand der öffentlichen Be-richterstattung sein wird, wenn er das Lagebild über dieinnere und äußere Sicherheit verändert oder wenn es einVorgang ist, der auf die Aufgabenerfüllung der Nachrich-tendienste besonderen Einfluss haben wird. Des Weiterenbin ich der festen Überzeugung, dass es ein qualitativerSchritt nach vorne ist, dass wir das ParlamentarischeKontrollgremium endlich genauso behandeln wie alleanderen Parlamentsausschüsse . Wir werden in Zukunftzu Beginn der Legislaturperiode einen Vorsitzenden fürdie gesamte Dauer der Legislaturperiode wählen . Ich binder Meinung, dass es nicht sehr zielführend war, dasswir den Vorsitz und den stellvertretenden Vorsitz jährlichgewechselt haben . Auch hier ist ein bemerkenswerterSchritt nach vorne zu verzeichnen .
Herr Kollege Mayer gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
Selbstverständlich, sehr gerne .
Bitte schön, Herr Kollege Ströbele .
Danke, Herr Kollege Mayer . – Geben Sie mir recht,
dass die bisherige Regelung, die vorsieht, dass alternie-
rend von der Koalition und dann von der Opposition die
Vorsitzenden gestellt werden, eine sehr viel demokrati-
schere Regelung ist, die auch die legitimen Rechte der
Opposition viel mehr wahrt,
als die neue Regelung, nach der ein Vorsitzender für vier
Jahre bestimmt wird, wobei aber ein Vertreter der Oppo-
sition – das ergeben die Zahlen – niemals Vorsitzender
werden kann?
Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, ich sehe in kei-ner Weise die bisherige Regelung, die 23 Parlamentsaus-schüsse betrifft, als undemokratisch an.
Es wird im Vorfeld festgelegt, welcher Parlamentsaus-schuss von welcher Fraktion mit dem Vorsitz belegt wird .Im Gesetz ist doch überhaupt nicht festgeschrieben, HerrKollege Ströbele, dass der Vorsitz im ParlamentarischenKontrollgremium von einer Regierungsfraktion gestelltwerden muss .
Es kann durchaus sein, dass Sie, Herr Kollege Ströbele,möglicherweise in der nächsten Legislaturperiode Vorsit-zender des PKGr werden .
Das ist durch dieses neue Gesetz nicht ausgeschlossen .
Ich hoffe, dass Sie diese Möglichkeit, die durchaus imRaum steht – ich wünsche Ihnen auch, dass Sie demnächsten Parlament wieder angehören –, nicht als unde-mokratisch bezeichnen .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirbringen jetzt noch einen Änderungsantrag dergestalt ein,dass wir auch dem Vertrauensgremium im Haushalts-ausschuss die Möglichkeit eröffnen, auf den StändigenBevollmächtigten zuzugreifen im Benehmen mit demParlamentarischen Kontrollgremium .Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, esist aber auch festzustellen – das zeigt auch die heutigeDebatte –, dass die Opposition dieser qualitativen Ver-besserung der parlamentarischen Kontrolle genau gegen-teilig gegenübersteht . Herr Kollege Dr . Hahn, Sie habenseitens der Linken einen Gesetzentwurf und einen Antrageingebracht, die sich mit der parlamentarischen Kontrol-le beschäftigen . Was Sie nur verschweigen – hier bitte ichSie um mehr Ehrlichkeit –: Sagen Sie doch bitte ganz of-fen, dass Sie die Nachrichtendienste abschaffen wollen.
Das wäre Ehrlichkeit . Wenn die Punkte, die in IhremAntrag stehen, umgesetzt würden, würden Sie die Arbeitder drei Nachrichtendienste auf Bundesebene aushöhlen .Das wäre aus meiner Sicht ein erhebliches Sicherheits-Stephan Mayer
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defizit und ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die Bun-desrepublik Deutschland angesichts der jetzigen Bedro-hungssituation .
Ich möchte, meine Kolleginnen und Kollegen, nurzwei Punkte herausgreifen . Zum einen fordern Sie sei-tens der Linken, dass die Nachrichtendienste kategorischauf den Einsatz von V-Leuten verzichten . Sagen Sie esbitte ganz offen: Sie wollen unsere Nachrichtendienstedarauf reduzieren,
dass sie nur noch Zeitungslektüre betreiben dürfen, dasssie Zeitungsartikel lesen, ausschneiden und abheften dür-fen .
Mehr sollen unsere Nachrichtendienste, wenn es nachden Linken geht, nicht mehr machen dürfen . Das ist ausmeiner Sicht eine erhebliche Erschwernis . Wir werdendiesem Antrag deutlich entgegentreten .Ein zweiter Punkt, der meines Erachtens dem Fassden Boden ausschlägt: Sie fordern als Fraktion Die Lin-ke, dass es in das Ermessen des einzelnen Bundestagsab-geordneten gestellt wird, „nach gewissenhafter Prüfungder Sach- und Rechtslage“ – das schreiben Sie in IhremAntrag –, ob ein Staatsgeheimnis öffentlich gemachtwird . Also, Sie würden jedem Bundestagsabgeordnetenzubilligen, dass er selber entscheidet, ob er ein Staats-geheimnis veröffentlichen darf. Gerade in der jetzigenBedrohungssituation wäre das eine Versündigung an derSicherheitslage in Deutschland .
Wir sind in einer erheblichen Anspannung . Unsere Si-cherheitsbehörden stehen vor einer enormen Herausfor-derung .Es ist derzeit ohnehin schon schwer genug, andereNachrichtendienste, auch solche, mit denen wir im Aus-tausch stehen, immer wieder dazu zu bringen, mit unskonstruktiv und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten,weil leider Gottes immer wieder Dinge die Öffentlichkeiterreichen, die dort nicht hingehören . Das ist eine Gefahrfür die Sicherheit in unserem Lande . Ich sage zum Ab-schluss noch einmal ganz deutlich und ganz bewusst: DieLinken sind insoweit aus meiner Sicht auch ein Sicher-heitsrisiko für unser Land .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege André Hahn .
Frau Präsidentin! Ich kann nicht jeden Unfug richtig-
stellen, den Kollege Mayer eben erzählt hat . Deshalb will
ich mich auf zwei Punkte beschränken .
Erstens . Herr Mayer, Sie haben darauf hingewiesen,
dass unser Gesetzentwurf vorsieht, dass man bestimmte
Dinge an die Öffentlichkeit bringen kann. Ja, wir haben
das klar definiert, und zwar für den Fall, dass gegen die
Verfassung, das Grundgesetz, verstoßen wird; dann muss
es die Möglichkeit geben, das offenzulegen.
Da dürfen die Geheimdienste nicht im luftleeren Raum
arbeiten .
Zweitens . Finden Sie es im Ernst sinnvoll und demo-
kratisch, dass das Parlamentarische Kontrollgremium der
Opposition eine Erlaubnis erteilen muss, wenn sie die
Regierung kritisieren will?
Die gegenwärtige Regelung lautet, dass es eines Zwei-
drittelmehrheitsbeschlusses bedarf, bevor öffentliche
Stellungnahmen abgegeben werden können . Das heißt,
wenn der Kollege Ströbele oder ich die Regierung kriti-
sieren will, dann müssen Sie vorher zustimmen, dass es
diese öffentliche Stellungnahme gibt. Das hat mit demo-
kratischen Verfahren wahrlich nichts zu tun .
Vielen Dank . – Herr Kollege Mayer zur Erwiderung .
Herzlichen Dank für diese Kurzintervention, sehr ge-ehrter Herr Kollege Hahn . Sie gibt mir die Gelegenheit,wirklich deutlich zu machen, dass Sie für die Arbeit vonNachrichtendiensten einfach überhaupt nichts übrig-haben und dass Sie auch das Erfordernis einer qualita-tiv hochwertigen parlamentarischen Kontrolle unsererNachrichtendienste immer noch nicht verstanden haben .Wir, die neun Mitglieder im Parlamentarischen Kon-trollgremium, tagen geheim . Was wir erfahren, hat in derÖffentlichkeit grundsätzlich nichts verloren.
Wenn wir uns dann doch darauf verständigen – das hatdas PKGr in den letzten Jahren so häufig wie noch niezuvor gemacht –,
eine öffentliche Erklärung abzugeben, dann kann diesdoch nicht in das Ermessen jedes Einzelnen der neunMitglieder gestellt werden; vielmehr bedarf es natürlicheiner qualitativen Mehrheit, wenn wir uns als Gremiumin toto zu Wort melden .Stephan Mayer
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Natürlich bleibt es jedem einzelnen Mitglied unbe-nommen, ein Sondervotum abzugeben .
Ich erkenne an der in dieser Legislaturperiode geübtenPraxis – wir haben sie substanziiert noch nie so gut voll-zogen wie in dieser Legislaturperiode; da bin ich voll-kommen der Meinung des Kollegen Ströbele – überhauptnichts Undemokratisches .
Um noch einmal auf Ihren ersten Punkt, Herr Hahn,einzugehen: Sie schreiben unter Punkt III Ziffer 7 IhresAntrags ganz klar, dass die Bundesregierung aufgefordertwird, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der es ermöglicht,dass einzelne Mitglieder des Bundestages Staatsgeheim-nisse öffentlich bekannt machen.
Sie können es doch nicht in das Ermessen von jedem vonuns 630 Abgeordneten stellen, ob er gerade einmal derMeinung ist, dass ein Staatsgeheimnis die Öffentlichkeiterreichen soll . Das halte ich wirklich, mit Verlaub, fürhanebüchen, für hoch riskant und für vollkommen un-tragbar .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Uli Grötsch,
SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, in der letzten Kurzintervention wurde ein Di-lemma deutlich, das wir als Mitglieder des Parlamenta-rischen Kontrollgremiums oftmals haben, nämlich dassin der Öffentlichkeit keiner darüber reden oder berichtenkann, wie wirklich gehandelt wird und wie gut wir dortim Grunde zusammenarbeiten .
Von daher halte ich es für schwierig, sich hier vorne hin-zustellen, Kollege Dr . Hahn, und zu behaupten, dass wirIhnen im PKGr erlauben müssten, dass Sie die Bundesre-gierung kritisieren . Das wäre ja noch schöner . Das wollteich an dieser Stelle nur einmal richtigstellen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut meinem Ka-lender hatten wir im Jahr 2016 bisher 8 Sitzungen desParlamentarischen Kontrollgremiums . Im Vergleich dazuhatten wir 15 reguläre Sitzungen des Innenausschusses,3 Sondersitzungen und unzählige Sachverständigenanhö-rungen . Wäre es ein normales Jahr gewesen, hätten diese8 Sitzungen vielleicht sogar gereicht, um die parlamenta-rische Kontrolle der Nachrichtendienste sicherzustellen .2016 war bisher aber leider kein normales Jahr; es istvielmehr ein sehr ereignisreiches Jahr gewesen, auch fürdie Nachrichtendienste . Ich erinnere in diesem Zusam-menhang an die Anschläge in Würzburg und Ansbachoder an die vereitelten Anschläge wie zuletzt in Sachsen .Wir haben es mit internationalem Terrorismus zutun, der unsere Nachrichtendienste rund um die Uhr inSchach hält . Da die Bundesregierung gesetzlich ver-pflichtet ist, das Kontrollgremium über Vorgänge beson-derer Bedeutung zu unterrichten – und wir fordern diesesRecht natürlich auch ein –, bleibt aufgrund der Vielzahlvon Ereignissen, die in diese Kategorie fallen, kaum Zeit,um im PKGr andere Themen zu besprechen .Unter parlamentarischer Kontrolle verstehe ich, dassdie Vorgänge in den Behörden unter die Lupe genommenwerden, und zwar nicht nur dann, wenn die Medien einenSkandal aufdecken .
Ziel muss doch sein, dass es gar nicht erst zu Skandalenkommt,
weil die Dienste innerhalb des gesetzlichen Rahmens ar-beiten, den wir dem BND noch heute – das betrifft dennächsten Tagesordnungspunkt – geben werden .Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz erwähnen, dasswir auch dahin gehend unsere Hausaufgaben mehr alsgemacht haben und nun endlich eine klare Rechtsgrund-lage zur Fernmeldeaufklärung geschaffen haben. MeinKollege Burkhard Lischka hat das in der ersten Lesungdes Gesetzentwurfs herausgestellt: Es handelt sich umnichts weniger als um ein weltweit einmaliges Gesetz .
Was ich jedoch sehr bedauere, ist, dass wir unserenVorschlag, das neue unabhängige Gremium vom PKGrzu berufen und auch die Geschäftsstelle im Bundestaganzusiedeln, nicht durchsetzen konnten . Wir hätten dasfür die Unabhängigkeit der Kontrolle als sinnvoll erach-tet .
Aber zurück zum Thema . In den letzten Monaten undJahren reagieren wir in den Sitzungen des PKGr viel zuoft auf Medienberichte und Meldungen . Eine Fortent-wicklung der parlamentarischen Kontrolle ist dringenderforderlich, und deshalb begrüße ich ausdrücklich denGesetzentwurf, um den es hier heute geht . Damit greifenwir übrigens auch eine Empfehlung des NSU-Untersu-chungsausschusses der 17 . Wahlperiode auf .Stephan Mayer
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Die wohl wichtigste und gleichzeitig zielführendsteÄnderung ist, dass wir das Amt eines Ständigen Bevoll-mächtigten des Kontrollgremiums schaffen, also einerPerson, die als verlängerter Arm des PKGr dessen Be-fugnisse wahrnimmt und gemeinsam mit einem spürbaraufgestockten Mitarbeiterstab – auch das ist ein sehrwichtiger Punkt – eine kontinuierliche, systematischeund strukturelle Kontrolle durchführt .
Wir wollen damit vor allem auch einen breiten Blick aufdas nachrichtendienstliche Alltagsgeschäft richten . Künf-tig müssen also alle Bereiche der Dienste damit rechnen,jederzeit Gegenstand einer Kontrolle durch das PKGroder durch den Ständigen Bevollmächtigten zu werden .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, kei-nesfalls wird die Einführung des Ständigen Bevollmäch-tigten dazu führen, dass allein ihm exklusiv der Zugangzu Informationen oder Akten gewährt wird . Der StändigeBevollmächtigte ist kein Beauftragter der Bundesregie-rung . Alle Akten, die er einsieht, kann natürlich auchdas Gremium einsehen . Ich sehe durch den StändigenBevollmächtigten viel mehr eine große Entlastung undeinen deutlichen Gewinn an Effizienz; denn es liegt dochan uns, welche Konsequenzen und Rückschlüsse wir ausseinem Bericht ziehen . Sie können doch trotzdem weiter-hin Kontrollbesuche bei den Diensten durchführen undBerichte anfordern . Wenn Sie den Eindruck haben, derStändige Bevollmächtigte habe nicht sorgfältig gearbei-tet, dann hindert Sie niemand daran, nachzuhaken .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, ich binfroh, dass wir uns sozusagen in letzter Minute noch da-rauf einigen konnten, dass auch das Vertrauensgremiumim Benehmen mit dem PKGr Aufträge an den StändigenBevollmächtigten erteilen kann . Wir hätten uns zwarvorstellen können, dass das Vertrauensgremium auch beider Auswahl des Bevollmächtigten stärker eingebundenwird, aber das wird vielleicht die nächste Baustelle .
Es wurde eben auch schon gesagt: Eine weitere, nochvor wenigen Jahren undenkbare Neuerung sind die jähr-lichen öffentlichen Anhörungen der Präsidenten derDienste .
Hiermit haben die Parlamente in den USA und in Groß-britannien ganz hervorragende Erfahrungen gemacht .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bräuchte vielmehr Redezeit, um all die positiven Aspekte dieses Ge-setzes vortragen zu können .
Lassen Sie mich sagen: In diesem Gesetz geht es nichtum Fraktionsinteressen, sondern es geht um die Interes-sen und um die Stärkung des ganzen Parlaments .
Frau Präsidentin, Sie werden wohl auch heute nichtso gnädig sein, mir mehr Redezeit zu geben, deshalbkomme ich zum Ende . Ich bitte Sie alle um Zustimmung .Stehen Sie nach der dritten Lesung doch einfach alle auf
und setzen Sie mit uns zum Quantensprung in der parla-mentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste an!Vielen Dank .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Armin Schuster,
CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich finde es beeindruckend – das ist auch, denke ich,wichtig für die Zuhörer und Zuschauer –, wie oft heu-te Morgen die Leistungen der Nachrichtendienste gelobtwurden . Es ist natürlich angesichts der tadellosen Leis-tungen im Fall Albakr leicht, das einmal aussprechen zukönnen .Leider können wir es sehr oft nicht aussprechen, abergehen Sie bitte davon aus: Das ist nicht einmalig, so et-was passiert sehr oft, und solche Leistungen erwarten wirvon Nachrichtendiensten . Leistungsfähig, selbstbewusstmodern, solche Mitarbeiter, hochmoderne Ausstattungund eine angemessene rechtliche Möglichkeit, zu arbei-ten, dafür steht die Union bei den Nachrichtendiensten .Darin investieren wir – gleich in das Gesetz, anschlie-ßend in die Haushalte . Wir wollen genauso gut arbei-tende Dienste, wie wir sie jetzt im Fall Chemnitz erlebthaben . Deswegen, glaube ich, muss man auch einmalein Plädoyer halten und sich nicht nur, Herr Dr . Hahn,abends genüsslich unter die Schutzdecke unserer Sicher-heitsbehörden legen
und morgens deren Abschaffung fordern, wenn nichtspassiert ist . Das geht einfach nicht, das ist nicht unserePolitik .
Uli Grötsch
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Blauäugig sind wir deswegen nicht . Da wir motivierteDienste wollen, wissen wir, dass diese auch über das Zielhinausschießen .
Das ist in jedem Gewerbe so, auch bei denen . Deshalbpassen wir auf .Eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle hat-ten wir nicht wirklich, wenn wir ehrlich sind . Bei neunAbgeordneten in einem Kontrollgremium und Tausen-den von nachrichtendienstlichen Mitarbeitern habe ichmich immer gefühlt wie Sisyphos, der versucht, denStein aufwärts zu rollen: Es war schwer möglich . Lie-ber Herr Dr . Hahn, lieber Herr Grötsch, wir haben mitHerrn Ströbele zusammen in einer Taskforce erlebt –BND-Selektoren –, wie es eigentlich gehen müsste . Dashat mir sehr viel Motivation gegeben, um genau das zuverstetigen . Das tun wir heute mit dem Gesetzentwurf .Eigentlich richten wir jetzt eine Dauertaskforce ein mitder Manpower, die wir brauchen . Ich denke, besser kannman die Empfehlungen aus dem NSU-Untersuchungs-ausschuss nach mehr parlamentarischer Kontrolle nichtumsetzen, als wir es heute tun .Was wollen wir? Wir wollen eine deutlich höhereTransparenz; die öffentliche Anhörung wurde schon ge-nannt . Wir wollen natürlich überwachen, ob die Regelnund Vorschriften eingehalten werden, aber viel wichtigerist mir: Der Ständige Bevollmächtige und seine Mitar-beiter haben die Chance, konstruktiv zu begleiten . Waskönnen, was dürfen und was sollen unsere Dienste leis-ten? Diese Frage für das Parlamentarische Kontrollgre-mium ständig mit zu beurteilen, halte ich für wichtig .Deshalb zitiere ich auch noch einmal den Ex-PräsidentenSchindler – wenn er es sagt, hat es wirklich Gewicht –:ein Meilenstein der parlamentarischen Kontrolle, einevielversprechende Lösung, die Vertrauen schaffen wird.Mehr Lob und Referenz kann man für einen Gesetz-entwurf eigentlich kaum bekommen . Dass der Vorsit-zende endlich nicht mehr wechselt, ist ein Segen, meineDamen und Herren . Ich habe mich gefühlt wie bei „Farmder Tiere“: Jeder möchte einmal Vorsitzender werden . Sokann man doch nicht arbeiten, Entschuldigung!
Jetzt haben wir einen Vorsitzenden, der den Ladenführt . Das ist so etwa die Welt, die ich kenne, und dakenne ich mich bestens aus, und sie hat sich auch überJahrzehnte bewährt; glauben Sie es mir . Herr Hahn, Siemüssen einfach lernen, wie so etwas geht . Dass wir dasnoch mit dem Vertrauensgremium verzahnen, finde ichsehr gut .Die Kritikpunkte: Nein, der Ständige Beauftragte istkeine Solonummer .
Er ist ein Erfüllungsgehilfe, von mir aus eine verlängerteWerkbank . Aber wir führen ihn, wir geben ihm Anwei-sungen, wir kontrollieren ihn . Wenn Sie das auch nichtkönnen, Herr Dr . Hahn, wenn Sie mit Mitarbeitern nichtumgehen können, dann kann Ihnen aber wirklich keinerhelfen . Seien Sie ehrlich: Wir haben in der Taskforce,Herr Ströbele, beste Erfahrungen mit hervorragendenMitarbeitern gemacht,
die wir heute schon im PKGr haben . Ich habe da aller-dings nicht wie Sie nach dem Parteibuch gefragt .
Das ist mir auch völlig wurscht . Die haben hervorragendgearbeitet . Wissen Sie was? Ich glaube, wenn wir derenpolitische Präferenzen einmal abfragen würden, würdenalle genannt, die hier vertreten sind . Trotzdem haben sieuns klasse zugearbeitet . Das Lob muss einmal sein . Ichhabe überhaupt keine Bedenken, dass die nächsten zwölfdas nicht auch können, und das Parteibuch interessiertmich bei denen auch nicht .
Eine Whistleblower-Regelung ist im Gesetzentwurfenthalten . Sie ist vielleicht nicht so, wie Sie sie habenwollen, aber wir machen die Dinge balanciert und schlauund nicht parteipolitisch motiviert .Die Journalisten haben uns für den Ergebnisberichtunserer Taskforce über den grünen Klee gelobt, HerrStröbele. Es stimmt nicht, dass wir die Öffentlichkeitnicht informieren .
Chapeau, hieß es, so konsequent, so dezidiert und soschonungslos habe noch nie ein PKGr die aktuelle Re-gierung betrachtet, analysiert und auch kritisiert . Also,besser kann man es wirklich nicht machen .
Genau diese Lösung verstetigen wir jetzt in einem Ge-setz . „Hut ab“, „Epochale Schwelle überschritten“,„Neues Niveau“, –
Aber Sie denken an den Schluss, Herr Schuster?
– durchgehend positiv sind die Zitate der Sachverstän-digen aus der öffentlichen Anhörung.Zu den Änderungsanträgen – das ist mein letzterSatz – sagte Professor Dr. Amadeus Wolff, der auch keinArmin Schuster
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unkritischer Zeitgenosse als Sachverständiger ist: Keinerder vorliegenden Änderungsvorschläge reicht irgend-wie an den Entwurf heran, der hier vorgelegt wurde . –Deswegen gehe ich gar nicht weiter darauf ein; StephanMayer hat das schon prima gemacht . Das, was Sie vorge-legt haben, ist einfach nichts wert .
Es tut mir leid . Stehen Sie bitte – Uli Grötsch hat es rich-tig gesagt – bei Ja und nicht bei Nein auf, Herr Dr . vonNotz .Danke schön .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung der parla-
mentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bun-
des .
Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor .1)
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10069, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
auf Drucksache 18/9040 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen . Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Opposition angenommen .
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in der
dritten Beratung angenommen .
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Änderung des Gesetzes über die parlamen-
tarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des
Bundes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10069
die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 18/6640 . Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt . Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung .
1) Anlage 2
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Innenausschusses auf Drucksache 18/10069
fort .
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/6645 mit dem Titel
„Parlamentarische Kontrolle der nachrichtendienstlichen
Tätigkeit des Bundes verbessern“ . Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .
Unter Buchstabe d empfiehlt der Innenausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/8163 mit dem Titel „Für
eine wirksamere Kontrolle der Nachrichtendienste“ . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen .
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Ausland-Aus-
land-Fernmeldeaufklärung des Bundes-
nachrichtendienstes
Drucksache 18/9041
– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmelde-
aufklärung des Bundesnachrichtendienstes
Drucksachen 18/9529, 18/9854, 18/9879,
Nr. 5
Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-
ausschusses
Drucksache 18/10068
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Debatte 38 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, da gibt
es keinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir befassen uns heute mit einem Gesetz, das nicht häu-fig Gegenstand der Beratungen im Plenum ist und dessenAusführung sich meist im Verborgenen vollzieht . Unddoch ist es ein Gesetz, das für unsere Gesellschaft vongroßer Bedeutung ist .Mit dem BND-Gesetz treffen wir als Parlament eineEntscheidung darüber, wie weit wir als Gesellschaft ge-hen wollen, um uns zu schützen, welche Befugnisse wirunseren Nachrichtendiensten einräumen, um uns unserefreiheitliche Lebensart und unsere freiheitlich-demokra-Armin Schuster
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tische Grundordnung zu bewahren und zu verteidigen .Das BND-Gesetz ist also ein Gradmesser dafür, wo wirals Gesellschaft die angemessene Balance zwischen Frei-heit und Sicherheit sehen .Freiheit und Sicherheit – so häufig es gesagt wird, sorichtig ist es –, das sind keine Gegensätze, sondern siebedingen einander . Ohne Freiheit gibt es keine Sicher-heit; ohne Sicherheit kann sich Freiheit nicht entfalten .
Deshalb geht es gerade nicht darum, pauschal das einegegen das andere auszuspielen, wie der eine oder ande-re Kollege es gerne tut . Nein, es geht darum, eine klu-ge, eine differenzierte Abwägung zu treffen. Wenn wirheute in diesem Hohen Hause ein Gesetz zur Änderungdes BND-Gesetzes beschließen wollen, dann bezweckenwir damit genau das: Wir treffen eine kluge Abwägung.Wir halten die Befugnisse der Behörden im Einklang mitden Grundrechten unserer Bürger . Und wir stärken damitFreiheit und Sicherheit in Deutschland .
Zugleich ziehen wir die Konsequenzen aus mittler-weile drei Jahren NSA-Untersuchungsausschuss . Wiralle haben bei unserer Arbeit festgestellt, dass es in derVergangenheit im BND Missstände gab und dass deshalban einigen Stellen Verbesserungsbedarf bestand . Von da-her werden wir mit dem Gesetz ganz bewusst zum Bei-spiel den Schutz von EU-Bürgern stärken; denn für unsist klar: Die Verteidigung unserer Freiheit ist heutzuta-ge keine rein nationale Angelegenheit mehr, sondern damüssen wir als Europäische Union, als westliche Werte-gemeinschaft zusammenstehen .Wir leben heute in einem geeinten Europa, in einemEuropa ohne Schlagbäume . In einem solchen geeintenmodernen Europa müssen auch die Sicherheitsbehördenüber die Grenzen hinweg zusammenarbeiten .
Wenn die Belgier, die Polen, die Spanier oder wirDeutschen eine Information über einen Terroristen, übereinen bevorstehenden Anschlag haben, dann müssen die-se Informationen geteilt werden, und zwar nicht mit denMitteln des 20 . Jahrhunderts, nicht per Brief mit Stempelund Unterschrift, sondern mit den Mitteln des 21 . Jahr-hunderts: über Glasfaser, in einer gemeinsamen Daten-bank . So sieht moderne internationale Zusammenarbeitim 21 . Jahrhundert aus .
In einer Welt, in der Krisen und Konflikte in fernenRegionen sich immer unmittelbarer auf unser Leben inEuropa und in Deutschland auswirken, muss der BNDin der Lage sein, mit modernsten Mitteln Informationenzu sammeln, damit wir eben nicht von anderen Ländernabhängig sind, sondern damit wir als BundesrepublikDeutschland ein breites und fundiertes Bild von dem ha-ben, was in der Welt geschieht .
Hierzu gehört für uns ganz klar die Ausland-Aus-land-Fernmeldeaufklärung; denn al-Qaida und der ISkommunizieren heute nicht mehr per Postkutsche undBrieftaube . Deshalb ist es wichtig, dass der BND dortaufklärt, wo die Informationen liegen, und das sind nuneinmal im 21 . Jahrhundert die weltweiten Datenströme,das ist nun einmal die internationale Kommunikation .Gerade in den vergangenen Tagen haben uns dieseAufklärung und der Austausch von Informationen mitunseren internationalen Partnern vor einem schreckli-chen Angriff bewahrt; denn der syrische Terrorist ausChemnitz wurde nicht durch schöne Sonntagsreden ge-fasst, sondern weil unsere amerikanischen Freunde unsgeholfen haben . Auch das darf und muss man in diesemHohen Hause einmal sagen .
Ja, man kann der Meinung sein, dass das Grundgesetzdas Telefonat eines Syrers im Irak mit einem Afghanenin Pakistan im selben Maße schützt wie ein Ortsgesprächin Berlin .
Dieser Meinung sind wir aber eben nicht . Diese Mei-nung ist weltfremd und vor allem meilenweit von dementfernt, was sich der Verfassungsgeber mit dem Fern-meldegeheimnis gedacht hat . Sie wissen auch ganz ge-nau, dass das Bundesverfassungsgericht 1999 in seinerEntscheidung über die strategische Fernmeldeaufklärungdes BND diese Ausland-Ausland-Fälle bewusst ausge-spart hat .Der wesentliche Punkt ist doch, dass die wichtige Ar-beit des BND auf eine noch bessere rechtliche Grundla-ge gestellt werden muss, und genau das tun wir mit demvorliegenden Gesetzentwurf . Das tun wir auch und nichtzuletzt für die Mitarbeiter des BND und unserer Sicher-heitsbehörden, die nämlich Rechtssicherheit bei ihrerwichtigen Tätigkeit benötigen, die sie Tag für Tag fürunser Land ausüben . Anders als es die Opposition unsgerne glauben machen will, sind es nämlich keine fins-teren James-Bond-Bösewichter, die jeden Morgen mitdem Ziel aufstehen, Grundrechte zu verletzen und einenÜberwachungsstaat zu errichten,
sondern ganz normale Männer und Frauen mit Familien,Hobbys und Kindern . Sie leisten eine hervorragende Ar-Nina Warken
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beit unter schwierigen Bedingungen, damit Sie und wiralle so leben können, wie wir es tun,
nämlich in einem friedlichen und sicheren Land in Einig-keit und Recht und Freiheit .Sie, liebe Kollegen von der Opposition, nutzen dieseswichtige Thema zur Selbstvermarktung und zum Kla-mauk .
Wir als Koalition wollen aber einen starken BND undhandlungsfähige Sicherheitsbehörden . Deshalb tun wir,was nötig ist, und stärken mit unserem Gesetz Sicherheitund Freiheit in Deutschland .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Martina Renner,
Die Linke, das Wort .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Da-men und Herren! Vor allem auch: Liebe Bürgerrechtsen-gagierte, die Sie draußen vor der Tür gerade protestieren!Ich weiß noch genau, welches Bild der BND zu Beginnder Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses zeichnenwollte: Man hätte nicht so genau gewusst, was der großeBruder NSA in Deutschland und Europa treibt . Der klei-ne Bruder BND würde sich hingegen immer an Rechtund Gesetz halten, nie die eigenen Bürger ausspähenund schon gar nicht Spionage aufgrund von Wirtschafts-oder Machtinteressen durchführen . Inzwischen ist klar:Der kleine Bruder Bundesnachrichtendienst wusste ge-nau Bescheid . Er hat dem US-Geheimdienst die Türengeöffnet, damit dieser an den Internetverkehr in Europagelangen konnte . Er hat das Parlament, manchmal auchdas Bundeskanzleramt und fast immer die betroffenenUnternehmen getäuscht . Er tat dies absichtsvoll und imvollen Bewusstsein der Illegalität . – Ich weiß, wovon ichrede . Das ist das Ergebnis von zweieinhalb Jahren harterAufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss .
Für diese Praxis des Bundesnachrichtendienstes wurdeein perfides System aus Abschirmen, Legendieren undNicht-Dokumentieren installiert . Vielleicht gab es diesesSystem im Bundesnachrichtendienst schon immer . Trick-sen, Tarnen, Täuschen – so lässt sich das Credo des BNDzusammenfassen .Nun hat man den kleinen Bruder erwischt, angescho-ben durch Edward Snowden, dokumentiert in den unzäh-ligen Protokollen des Untersuchungsausschusses, in derKlage der G-10-Kommission, in der Klage des Internet-knotenbetreibers DE-CIX und in den Beanstandungender Datenschutzbeauftragten . Und was passiert jetzt?Nichts! Keine Reue, kein Umsteuern, kein Zur-Rechen-schaft-Ziehen der Verantwortlichen!
Stattdessen wird die Rechtslage nach den Wünschen desGeheimdienstes angepasst,
und das bedeutet anlasslose Massenüberwachung .
Sehr geehrte Damen und Herren, der Bundesnachrich-tendienst will nicht mehr der kleine Bruder der NSA sein .Nein, der Gesetzentwurf der Großen Koalition macht ihnnun zum Zwilling .
– Eineiig . – Ihnen ist das auch bewusst . Die Sachverstän-digen haben es Ihnen gesagt . Sie kennen die politischenwie juristischen Argumente . Allein, es stört Sie wenig .„Sollen sie doch klagen“, haben Sie im Innenausschussgesagt, „die Bürgerinnen und Bürger, die Provider, dieOpposition!“ . Sie werden heute sagen: Wir haben le-diglich unterschiedliche Rechtsauffassungen, was denSchutz der Privatsphäre von Menschen, auch denen ohnedeutschen Pass, angeht .
Wir hingegen sagen: Bürger- und Menschenrechte sindunteilbar .
Wir sagen: Dieses Gesetz ist ein Geschenk für den BND,weil er jetzt auch in Deutschland legal ans Kabel darf,und zwar auch dann, wenn es keinen konkreten Verdachtgibt . Nun braucht der Bundesnachrichtendienst nicht län-ger gewöhnliche deutsche Staatsbürger zu Funktionsträ-gern umzudefinieren, um sie bespitzeln zu können. Jetztdarf er es – ganz legal . Nun braucht der BND nicht mehrSatellitendaten für außerirdisch zu erklären, um sie abzu-fangen . Er darf es jetzt einfach – ganz legal .Die anlasslose und umfassende politische Spionagegegen Hilfsorganisationen, Presse, Regierungen in eu-ropäischen Ländern und Bürgerinnen und Bürger wirddurch dieses Gesetz ermöglicht . Es ist nicht so, dassdies nur die ungeliebte Opposition sagt . Unterschiedli-che Nichtregierungsorganisationen wie Reporter ohneGrenzen, Amnesty International und die drei Sonderbe-richterstatter der Vereinten Nationen haben Ihren Gesetz-entwurf gerügt . Die bisherige Praxis, die nun legalisiertwerden soll, wurde von anerkannten Juristen und nichtNina Warken
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zuletzt von Deutschlands oberster Datenschützerin im-mer wieder als schlichtweg illegal angeprangert . Wie re-agieren Sie darauf? Sie belohnen den Geheimdienst mitmehr Befugnissen für Massenüberwachungen .Nun werden Sie mir vermutlich erklären, dass eintoller Filter den sogenannten deutschen Kommunikati-onsverkehr automatisch aussortieren wird . Aber das istAugenwischerei; Sie wissen es . Lesen Sie die Gutachten!Wenn nur 5 Prozent durchrutschen, bleiben – am Beispielvon diesem Jahr – am Schluss 34 Millionen GigabyteDaten, die auch deutsche Staatsbürger und Staatsbürge-rinnen betreffen können.
Sie haben vorhin gesagt – Sie wiederholen das sehrgerne –, wir kritisierten diesen Gesetzentwurf nur, weilwir Geheimdienste abschaffen wollten. Ich sage Ihnen:Die Dienste haben sich selbst ins Unrecht gesetzt .
Sie sind eine Gefahr für die Demokratie . Der Bundes-nachrichtendienst hat sich Jahrzehnte nicht an Recht undGesetz gehalten . Im Falle des NSU-Komplexes hat derDienst selbst den Terror erst ermöglicht . Sie wissen, wasSie heute beschließen. Sie schaffen das Fernmeldege-heimnis in Artikel 10 des Grundgesetzes faktisch ab .
Sie täuschen wissentlich die Öffentlichkeit, so wie derBND jahrelang wissentlich das Parlament getäuscht hat .
Frau Kollegin Renner, denken Sie an die Redezeit?
Nur noch zwei Sätze, dann bin ich fertig . – Sie nennen
es Reform, wir nennen es die Legalisierung massenhaf-
ter Grundrechtsverletzungen . Sie machen das Parlament
zum Erfüllungsgehilfen der Geheimdienste . Das halte ich
einer Demokratie und eines Rechtstaats für unwürdig .
Danke schön .
Das Wort hat jetzt Christian Flisek, SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Große Koalition hat einen gut ausverhandelten, de-taillierten Koalitionsvertrag . Dieser Koalitionsvertragwar der bisherige Fahrplan für fast alle Gesetzesvorha-ben dieser Regierung . Er wird es mit Sicherheit auchnoch bis zum Ende der Legislaturperiode bleiben .
Gleichwohl beraten wir mit dem heute im Entwurf vor-liegenden BND-Reformgesetz ein Vorhaben, das sichso nicht in diesem Koalitionsvertrag findet. Das hatgute Gründe; denn den Urknall für diese Reform findenwir in der Arbeit des 1 . Untersuchungsausschusses der18 . Wahlperiode, des sogenannten NSA-Untersuchungs-ausschusses, des Deutschen Bundestages .
– Ein bisschen, ja . Wir reden jetzt über die BND-Reform,Herr Kollege Binninger . Ich denke, wir sind uns einig,dass die wesentliche Arbeit im NSA-Untersuchungsaus-schuss geleistet wurde .
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, in diesem Ausschuss – das ist bereits erwähntworden – wurden in über zweieinhalbjähriger Arbeit alljene Erkenntnisse zutage gefördert, die wir heute zu einerumfassenden Reform des Rechts des Bundesnachrichten-dienstes verdichten . Zur Wahrheit gehört auch, dass unsdiese Erkenntnisse im Untersuchungsausschuss wedervom Bundesnachrichtendienst noch vom Bundeskanz-leramt auf dem Silbertablett serviert wurden .
Wir mussten sie uns in über 115 Sitzungen mit über100 Zeugen und mit über 2 000 zum Teil schwer lesba-ren Akten mühsam erarbeiten . Ich möchte aber betonen,dass mit diesem Untersuchungsausschuss der DeutscheBundestag bisher weltweit das einzige Parlament ist, dassich nach den Veröffentlichungen von Edward Snowdenso gründlich und so intensiv mit dieser Thematik befassthat .
Die Defizite innerhalb des Bundesnachrichtendiens-tes, die der Untersuchungsausschuss aufgedeckt hat,waren und sind massiv . Da geht es etwa um die Aus-land-Ausland-Verkehre – das ist angesprochen worden;das findet sich auch im Titel dieses Gesetzes wieder –;das sind beispielsweise E-Mails, die ihren Ursprung imAusland haben, bei denen also der Absender im Auslandist, mit einem Empfänger im Ausland . Bei der strategischwichtigen Überwachung solcher Verkehre agierte derBundesnachrichtendienst bisher in einer Dunkelkammer .Das setzte sich fort in einer völlig unzureichendenKontrolle dieses immer wichtiger werdenden Tätig-keitsbereichs durch das Bundeskanzleramt . Wir habenerst gestern einen Referatsleiter als Zeugen im Unter-Martina Renner
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suchungsausschuss gehört, dessen Aufgabe es war, dieAbteilung TA zu kontrollieren, wenn man so will, dieAufsicht auszuüben .
Zwischen 2013 und 2015 – ich sage es Ihnen – fand sichda zum Thema Selektoren relativ wenig .Innerhalb des Bundesnachrichtendienstes entwickel-ten sich über Jahre hinweg auch völlig abstruse Rechtsin-terpretationen . Die berühmteste ist die Weltraumtheorie,die auch durch die Medien geisterte . Ich glaube, das alleswaren Interpretationen des geltenden Rechts mit einemeinzigen Ziel, sich nämlich des Ballasts des deutschenRechts zu entledigen .Wir haben eklatante organisatorische Missstände inder Abteilung Technische Aufklärung festgestellt . Wirhaben bis tief in diese Legislaturperiode hinein eine In-formationspolitik des Bundeskanzleramts gehabt, zu derman in Bezug auf die Aufarbeitung dieser Missstände sa-gen kann: Das war alles andere als proaktiv .Meine Damen und Herren, ich denke, dass die sozi-aldemokratische Fraktion die einzige Fraktion in diesemHause war, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt die richti-gen Schlüsse aus dieser unerträglichen Situation gezogenhat .
Wir haben im Sommer 2015 ein Eckpunktepapier aufden Tisch gelegt, in dem nicht nur die damals bekanntenMängel klar benannt worden sind; wir haben auch kon-krete Lösungsvorschläge vorgelegt .
Wir hätten uns gewünscht, dass die anderen sich mit Vor-schlägen beteiligen; aber da gab es nichts,
obwohl die Erkenntnisse auf dem Tisch lagen . Man warunisono die Meinung: Lassen Sie uns doch abwarten, bisder Untersuchungsausschuss seinen Abschlussberichtvorlegt! – Für uns war klar: Der Abschlussbericht wirdmit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Ende der Legis-laturperiode zusammenfallen . Ob dann irgendeine Emp-fehlung in der nächsten Legislaturperiode aufgegriffenwird, das steht in den Sternen . – Deswegen haben wir ge-sagt: Wir gehen bereits, wenn die Erkenntnisse auf demTisch liegen, mit einem Eckpunktepapier an die Öffent-lichkeit . Ich sage heute sehr deutlich: Dieses Eckpunkte-papier war die Blaupause für die aktuelle Reform .Meine Damen und Herren, für uns war völlig klar,dass ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar ist, insbe-sondere nicht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterdes Bundesnachrichtendienstes; denn bei aller Kritik:In Zeiten zunehmender terroristischer Bedrohungslagenbrauchen wir einen effizient arbeitenden Auslandsnach-richtendienst. Effizient arbeiten kann ein Auslandsnach-richtendienst nur dann, wenn er auf dem Boden rechts-staatlich abgesicherter Legitimität arbeitet . Hierfür legenwir heute die Grundlagen .
Ich möchte einige Punkte ausdrücklich erwähnen:Jede Datenerfassung muss in Zukunft dem Auftragsprofilder Bundesregierung für den BND entsprechen . Wir le-gen heute Standards für den Schutz von EU-Bürgern undEU-Institutionen fest und stellen diese insoweit Deut-schen gleich . Ich möchte das deswegen betonen, weildas europaweit, weltweit einmalig ist . Wir haben nachSnowden eine tolle Debatte in Deutschland erlebt . Siewar ein Stück weit heuchlerisch; denn wir haben festge-stellt, dass wir zum Teil ebenso wie alle anderen Dienstedieser Welt allenfalls die eigenen Bürger schützen, dasses aber keine Standards für Ausländer gibt . Diese Situ-ation entschärfen wir mit der Verabschiedung des heutevorliegenden Gesetzentwurfs zumindest für EU-Bürge-rinnen und -Bürger . Ich glaube, das ist ein riesengroßerSchritt .Wir verbieten ausdrücklich Wirtschaftsspionage .Wirtschaftsspionage wird verboten . Ich glaube, das istfür ein Land wie Deutschland existenziell .Kooperationsvereinbarungen mit anderen Dienstenmüssen in Zukunft dem PKGr vorgelegt werden . Auchhier haben wir eine Dunkelkammer gehabt . Da wird inZukunft erheblich mehr Licht reinkommen . Das PKGrwird in Zukunft in Bezug auf alle Kooperationen infor-miert werden .Ich wurde in den letzten Wochen oft gefragt: Kannman einen Geheimdienst überhaupt kontrollieren? Passtein Nachrichtendienst überhaupt in eine parlamentari-sche Demokratie?
Ich sage: Ja, nämlich dann, wenn wir sicherstellen, dasser rechtsstaatlich legitimiert ist . Für eine rechtsstaatlicheLegitimation müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:Es darf keinen einzigen Tätigkeitsbereich des Dienstesgeben, der nicht durch klare Rechtsgrundlagen bestimmtist, und es darf keinen Tätigkeitsbereich geben, der nichteiner starken parlamentarischen Kontrolle unterliegt .
Für diese beiden Voraussetzungen schaffen wir mit die-sem Gesetz die Grundlagen . Ich denke, da kann man beieiniger Kritik im Detail durchaus sagen: Das ist ein mu-tiger Schritt nach vorne . Herr Ströbele, auch Sie müssensagen, dass zu Beginn dieser Legislaturperiode wahr-scheinlich keiner darauf gewettet hätte, dass uns das ge-lingt .Herzlichen Dank .
Christian Flisek
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 2016 19629
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Vielen Dank . – Nächster Redner ist Dr . Konstantin
von Notz, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungs-
gerichts Papier, die OSZE-Beauftragte für die Freiheit
der Medien, die deutschen Presseverbände – Presserat,
Verbände der Journalisten, Zeitungsverleger, Verdi, ARD
und ZDF –, der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen
Bundestages, die drei zuständigen UN-Sonderberichter-
statter, Amnesty International, Reporter ohne Grenzen,
verschiedenste namhafte Verfassungsrechtler, vor allen
Dingen die, die in unserer Anhörung waren – all diese
Fachleute sagen: Das Gesetz, dessen Entwurf Sie heute
hier vorlegen, ist verfassungswidrig . Verfassungswidrig!
Herr Kollege von Notz, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Binninger?
Herr Binninger, Sie reden gleich; aber bitte . Ja .
Herr Kollege, ich weiß, dass ich gleich selber spreche .
Das ist gut, dass Sie das wissen .
Sie beklagen sich immer, dass Sie zu wenig Redezeit
haben; jetzt haben Sie etwas mehr .
Danke .
Da dieser Punkt nicht Teil meiner Rede ist, Sie ihn
aber gerade angesprochen haben, möchte ich etwas zu
den Sachverständigen sagen, die angeblich alle so har-
sche Kritik geübt haben .
Es stimmt, es gab in Teilen Kritik, auch deutliche .
Ja .
Aber man darf in der Öffentlichkeit nicht das Bild er-
zeugen, das Sie gerade erzeugt haben .
Ich will Ihnen ein paar Formulierungen von verschie-
denen Sachverständigen zu diesem Gesetzentwurf aus
der Anhörung bzw . den Gutachten vorhalten und Sie fra-
gen, wie Sie die bewerten . – Der Sachverständige Bäcker
sagte: Unabhängig vom Inhalt eine bemerkenswerte
Leistung, dass der Bundestag das unternimmt .
Dann der Sachverständige Wetzling: Ein Reformpaket,
das dem BND Rechtssicherheit gibt . – Der Sachverstän-
dige Wolff: Hut ab! Da können die anderen Länder sich
eine Scheibe abschneiden . Das ist erst einmal nachzuma-
chen . – Und der Sachverständige Graulich: Dieser Ge-
setzentwurf führt das BND-Gesetz – –
– Es scheint ja schlimm zu sein, wenn man die Fakten
vorgehalten bekommt .
Jetzt seien Sie mal nicht so empfindlich, Herr
Binninger .
Es scheint wirklich schlimm zu sein, wenn man dieFakten vorgehalten bekommt .Das letzte Zitat, vom Sachverständigen Graulich, zudiesem Gesetzentwurf – Sie haben eben andere zitiert –:Dieser Gesetzentwurf führt das BND-Gesetz „insge-samt auf ein bislang nicht vorhanden gewesenes Niveauvon systematischer Klarheit sowie Regelungsdichte imEinzelfall“ . – Das waren die Positionen . Ich würde Siebitten, diese Positionen, auch wenn Sie sie nicht mögen,zumindest nicht ganz auszublenden .
Zunächst einmal, Herr Binninger: Ihre Empfindlich-keit scheint sehr hoch zu sein, wenn Sie es bei einerRedezeitverteilung von 80 : 20 nicht aushalten, dass dieOpposition eine Minute Ihren großartigen Gesetzentwurfkritisiert .
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 201619630
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– Bleiben Sie ruhig stehen, Herr Binninger!
– Nein . Seien Sie geduldig!Natürlich haben Sie Sachverständige benannt, die Ih-ren Gesetzentwurf nicht nur in Bausch und Bogen verur-teilt haben . Nicht nur!
Herr Graulich hat Ihnen ja schon Gefälligkeitsgutachtenzu den NSA-Selektoren geschrieben .
Aber der Kollege Bäcker, den Sie angesprochen haben,hat Ihnen klipp und klar gesagt – so wie alle anderen,die ich eben zitiert habe, wie der ehemalige Präsidentdes Bundesverfassungsgerichts Papier –: Der von Ihnenvorgelegte Gesetzentwurf ist verfassungswidrig . – Darankommen Sie nicht vorbei . Das ist bitter . Nehmen Sie eshin!Sie reden von großartigen Blaupausen wie vorhin derKollege Flisek . Frau Warken erklärt das zu einem euro-päischen Projekt . Das zeigt, wie grotesk die Selbstwahr-nehmung der Großen Koalition inzwischen ist, meineDamen und Herren .
Vor mehr als drei Jahren veröffentlichte EdwardSnowden Unterlagen zum globalen System der anlass-losen Massenüberwachung . Im Bundestagswahlkampfkamen bald unangenehme Fragen auf: Was weiß dieBundesregierung davon? Sind deutsche Dienste in die-ses System involviert? Werden Bürger und Unterneh-men ausreichend geschützt? – Diese Fragen kamen demBundeskanzleramt sehr ungelegen, weil ja Bundestags-wahlkampf war, und die Antworten von Frau Merkel undHerrn Pofalla lauteten: Das ist ja alles ungeheuerlich .Davon wissen wir gar nichts . Ausspähen unter Freunden,das geht gar nicht . Sollte etwas davon stimmen, dann ha-ben wir damit nichts zu tun . Deutsche Bürger und Unter-nehmen werden geschützt . Niemand muss sich sorgen,und falls doch: Wir verhandeln – das versprechen wir –ein No-Spy-Abkommen .
Nach drei Jahren Untersuchungsausschuss wissenwir: All das entsprach nicht der Wahrheit .
Die deutschen Geheimdienste sind zentraler und wich-tiger Akteur in der Überwachungsmaschinerie der Five-Eyes-Staaten . Die von ihnen eingesetzten Systeme undProgramme sind identisch mit denen der USA, wie sichaus den Snowden-Unterlagen ergibt . Anlasslos und mas-senhaft werden auch vom Bundesnachrichtendienst glo-bal Daten erfasst . Diese Daten werden mit Millionen vonSelektoren gerastert, und 90 Prozent dieser Selektorenhaben rein gar nichts mit Terrorismus zu tun .Durch den weitreichenden Datenaustausch unterein-ander läuft die Kontrolle leer . Ausspähen unter Freunden,das geht volle Kanne . Das ist die Wahrheit beim BND .
Das Ganze ist auch noch Baustein eines Drohnenkrieges,an dem Deutschland über diesen Datenaustausch betei-ligt ist .
All das wurde an den Kontrollgremien vorbei organisiert .Sie wurden belogen und hinter die Fichte geführt . So ha-ben Sie die digitale Welt zum grundrechtsfreien Raumerklärt . Dieser Zustand, an dem die deutschen Dienstebeteiligt sind, dauert bis heute an . Das ist inakzeptabel,meine Damen und Herren .
Obwohl wir das alles wissen, zeigen Sie bis heute mitdem Finger in Richtung USA und legen den Entwurfeines Gesetzes vor, das die Probleme verschärft: Er istvoller unklarer Rechtsbegriffe. Sie geben darin die Be-schränkung der Fernmeldeüberwachung auf und trauensich nicht, Artikel 10 auch nur anzusprechen . Aufgrundder mangelhaften und völlig disfunktionalen Filter, diewir haben, verletzen Sie seit über zehn Jahren die Grund-rechte von Millionen von Deutschen, und zwar täglich .Auch daran ändern Sie nichts .
Es stimmt: Wir brauchen effiziente, gute und moder-ne Geheimdienste, und gerade der Auslandsnachrichten-dienst muss funktionieren . Aber er muss vor allen Din-gen rechtsstaatlich sein .
Die Grund- und Menschenrechte unserer Verfassung sindkein Störfaktor beim Kampf gegen den Terrorismus, son-dern die Grundlage dafür .
Neben all dem Streit, der in dieses Haus und zu je-der guten Demokratie gehört, ist es etwas irritierend,wie verbohrt Ihre Selbstwahrnehmung ist . Die AnhörungDr. Konstantin von Notz
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 2016 19631
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zu diesem Gesetzentwurf war für Sie ein Desaster, HerrBinninger .
Sie ignorieren, dass Ihnen die zuständige Kontrollbehör-de, die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und dieInformationsfreiheit, ein verheerendes Zeugnis für denBundesnachrichtendienst ausgestellt hat . Alles ist klippund klar verfassungswidrig . Diese Praxis wollen Sie hierlegalisieren . Das ist inakzeptabel . Sie werden beklagt:von der unbequemen Opposition, aber auch von derG-10-Kommission . Seit neuestem werden Sie vom größ-ten Internetknotenpunkt, dem DE-CIX, beklagt, gestütztauf ein Gutachten von Herrn Professor Papier .Drei Jahre nach Snowden haben wir ein handfes-tes Legitimationsproblem . Das desaströse Ansehen desBND kann man eben nicht bei den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern abladen . Die Verantwortung trägt die Po-litik . Deswegen wäre es Aufgabe dieses Parlaments, zuzeigen, dass wir aus der Vergangenheit lernen und dieseFehler korrigieren . Dazu leisten Sie keinen Beitrag . Ichprophezeie Ihnen: Dieses Gesetz wird vor dem EuGHund vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern . Des-wegen ist heute ein schlechter Tag für die Arbeit derGeheimdienste, für den Deutschen Bundestag sowie fürunseren Rechtsstaat und die Demokratie . Das ist sehr be-dauerlich .Ganz herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Der Kollege Clemens Binninger hat
jetzt Gelegenheit, seine Ansichten dazu darzulegen . Aber
ich darf ihn bitten, das im Rahmen der vorgegeben Re-
dezeit zu tun .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege von Notz, ich hätte mir gewünscht, dasswir bei einer so wichtigen Debatte über die Regelung ei-ner schwierigen Materie, bei der es keine einfachen undschnellen Antworten gibt,
einen politischen Streit in der Sache hätten führen kön-nen . Stattdessen gab es eine Aneinanderreihung vonPolemik und selektiver Wahrnehmung . Das trägt nichtsdazu bei, aber auch gar nichts .
Es stimmt: Vor drei Jahren hat dieses Thema durch dieEnthüllungen von Snowden Bedeutung gewonnen .
Dann kam die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschus-ses, in dem Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionenbewundernswerte Arbeit leisten . Dann kam die Arbeitder Taskforce des Parlamentarischen Kontrollgremiums,die die Selektorenpraxis des BND untersucht hat .
Dann konnte und musste man kritisieren, weil vielesnicht in Ordnung war . Man durfte, wenn man wollte,„Skandal“ schreien . Das bleibt jedem selbst überlassen .
Ich bin da immer etwas differenzierter. Aber kritisierenmusste man .Drei Jahre danach wäre es jedoch angebracht, sichnicht mehr krampfhaft an den Sommer 2013 zu erinnernund nicht dauernd zurückzublicken, sondern zu fragen:Wohin führt der Weg jetzt? Was tun wir, damit sich dieseDinge nicht wiederholen? Wie schaffen wir einen gutenRechtsrahmen für den BND? – Das wäre der Schwer-punkt einer guten Debatte .
– Ganz ruhig .Ich benenne die Kritikpunkte:
eine unzureichende Kontrolle durch das Kanzleramt inder Vergangenheit – das haben wir auch als PKGr ge-sagt –,
fehlende Richtlinien und Anweisungen für die Umset-zung der technischen Aufklärung und eine Rechtsgrund-lage, Herr Kollege von Notz, die fast nichts verboten hat,weil sie generalklauselartig war und es deshalb immerAuslegungssache war . Das war der Grund .
Die Mitarbeiter haben sich nicht per se rechtswidrig ver-halten . Sie waren in der ganz unglücklichen Situation,dass es nur einen Paragrafen gab, nach dem Motto: Wennes euch hilft, dürft ihr alles . – So kann man das zusam-menfassen . Das hat sie in diese Problemlage gebracht .Dr. Konstantin von Notz
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Das korrigieren wir, indem wir eine präzise Rechtsgrund-lage geben .
Der vierte Kritikpunkt ist eine unzureichende parlamen-tarische Kontrolle . Dazu haben wir unter dem ersten TOPeinen Beschluss gefasst und etwas geändert .Wir reformieren das BND-Gesetz . Ich habe vorhinaus gutem Grund die Sachverständigen genannt . Ja,sie haben auch Kritik geübt, vor allen Dingen an zweiPunkten: zum einen am unabhängigen Gremium, das dieSelektorenpraxis überprüfen soll . Alle haben gesagt: Ver-fassungsrechtlich ist das unproblematisch . Man kann esaber so oder anders sehen .
Einige Sachverständige fragten auch: Warum zitieren Sienicht Artikel 10?
Aber nennen Sie mir bitte, bevor Sie hier ein Szenariomalen, das den Eindruck erweckt, dass in diesem Landalles drunter und drüber geht – das Gegenteil ist derFall –, ein Parlament auf der Welt, das sich so intensivmit solchen Vorgängen befasst!
Nennen Sie mir eine Regierung auf dieser Welt, die einGesetz für ihren Nachrichtendienst vorgelegt hat!
Nennen Sie mir ein Parlament, das genauso die Konse-quenzen gezogen hätte wie wir! Nennen Sie es! Es gibtkeines . Dann haben wir, glaube ich, einen guten Job ge-macht .
Herr Kollege von Notz – über diese sehr anspruchs-volle Rechtsfrage würde ich gerne eine Diskussion füh-ren –, gilt Artikel 10 – unser Fernmeldegeheimnis – auchin einer Krisenregion wie Rakka, wo der IS herrscht? Da-rum geht es doch .
Bei der Auslandsüberwachung geht es darum, dass derBND – eine andere Chance hat er nicht – Datenströmezwischen zwei ausländischen Gesprächspartnern imAusland bzw . in einer Krisenregion analysieren könnenmuss . Wie wollen wir denn Terrorverdächtige entdecken,wenn nicht so? Deshalb brauchen wir die in Rede stehen-de Maßnahme .
Herr Kollege Binninger, gestatten Sie jetzt eine Frage
des Kollegen von Notz?
Alles andere hätte mich überrascht . Ich gestatte sie
natürlich .
Das ist dann die Verlängerung Ihrer Redezeit .
Unsere Absprache wird jetzt offenkundig, Herr Kolle-
ge Binninger .
Irgendwann kommt’s raus .
Ich tue Ihnen den Gefallen . – Sie haben von Rakka ge-
redet . Der Kollege Flisek hat vorhin meiner Ansicht nach
unzutreffend gesagt, die Europäer wären nun geschützt.
Ist es denn so, dass europäische Selektoren nicht mehr
gesteuert werden können? Schließen Sie das aus? Es gab
kein einziges europäisches Land, das nicht betroffen war.
Sagen Sie, dass das in Zukunft nicht mehr der Fall ist?
Geht Ausspähen unter Freunden nicht mehr, oder geht es
doch durch dieses Gesetz unter bestimmten Vorausset-
zungen? Dann bekennen Sie sich auch dazu, und reden
Sie nicht von Rakka .
Herr Kollege von Notz, natürlich geht es im Schwer-punkt um Krisenregionen wie Rakka, wo der IS sein Ter-rorregime etabliert hat .
Clemens Binninger
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Wir schließen im Gesetz aus, dass europäische Bürgerdavon betroffen sind, es sei denn, es handelt sich um Ter-rorverdächtige . Wir garantieren doch keine Immunität .
Viele Terrorverdächtige kommen doch aus Europa .5 000 IS-Kämpfer stammen aus Europa . Diese wollenSie als Grüne doch nicht ernsthaft schützen . Oder mussich Sie anders verstehen?
Herr Kollege von Notz, Sie können von mir aus auchsitzen bleiben, obwohl ich die Beantwortung Ihrer Fragenoch nicht beendet habe . Ich sage es trotzdem .
Herr von Notz, wenn Herr Binninger noch auf Ihre
Frage antwortet, bitte ich Sie, aufzustehen .
Noch einen Satz . Wir schützen EU-Bürger und EU-In-
stitutionen, wenn es um die strategische Fernmeldeauf-
klärung geht . Wenn sich aber EU-Bürger oder jemand
anders dem Verdacht der Proliferation oder des internati-
onalen Terrors aussetzen,
dann schützen wir sie nicht . Es wäre doch verrückt, zu
sagen: Ein belgischer Terrorverdächtiger ist geschützt,
nur weil er EU-Bürger ist .
Wir haben hier eine klare und gute Differenzierung gefun-
den . Wenn es Bezüge zum Aufgabenfeld des BND gibt,
kann es im Interesse unserer Sicherheit keinen Schutz
geben . Wenn das aber nicht der Fall ist, sind EU-Bürger
geschützt . Das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne .
– Über Terror zu reden, ist sicherlich nicht unseriös, Herr
Kollege von Notz .
Analog zum Kollegen Schuster, der vorhin einen flot-
ten Spruch gemacht hat: Einerseits hätten Sie von den
Grünen gerne leistungsfähige Nachrichtendienste .
Andererseits müssen Sie bei Ihrer Community Radau
machen und sagen: Das alles ist ganz schlimm . – Den
Nutzen aus der Arbeit der Nachrichtendienste hätten Sie
schon gerne . Sie trauen sich nur nicht, das so richtig zu
sagen . Was Sie da machen, ist für mich Heldentum nach
Ladenschluss .
Sie behaupten, dass wir nun Dinge erlauben, die vor-
her verboten waren . Das stimmt einfach nicht .
Ich kann nur jedem empfehlen, insbesondere Ihnen, Frau
Renner: Legen Sie die beiden Gesetzentwürfe nebenei-
nander . Schauen Sie, was zuvor geregelt war . Zuvor gab
es nur einen Paragrafen, eine Generalklausel . Schauen
Sie, was wir nun regeln . Wir regeln nun die Anordnungs-
wege im BND und im Kanzleramt . Es gibt ein Richtergre-
mium, das die Selektoren prüft. Wir haben klare Definiti-
onen, mit denen wir Aktivitäten wie Wirtschaftsspionage
ausschließen . EU-Bürger werden geschützt, und wir ha-
ben einen Paragrafen für den Kernbereichsschutz .
Man kann dann immer noch sagen: Politisch gefällt
mir das nicht . – Einverstanden, dafür sind wir unter-
schiedliche Parteien . Aber zu sagen, jetzt wird erlaubt,
was vorher verboten war, ist Unfug und unseriös . Ich bit-
te Sie wirklich, das zu lassen .
Vielen Dank . Das war jetzt vorbildlich . – Für die
SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher
das Wort .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!In dieser Auseinandersetzung um die Nachrichtendiens-te geht es im Kern um drei Fragen . Die erste: Brauchenwir Nachrichtendienste? Da sagen wir von den Koaliti-onsfraktionen uneingeschränkt Ja . Angesichts von mehrals 1 000 Toten in den letzten Jahren durch Anschläge inDeutschland und Europa, angesichts der weiterhin hohenBedrohungslage durch den internationalen Terrorismus,zunehmender Cyberattacken, international organisierterKriminalität und nicht zuletzt zum Schutz unserer Sol-datinnen und Soldaten im Ausland können wir auf dieErkenntnisse der Nachrichtendienste nicht verzichten .Die zweite Frage ist: Was dürfen diese Dienste? Imdemokratischen Rechtsstaat gilt auch für die Dienste dasPrinzip: Maßnahmen müssen erforderlich, verhältnismä-ßig und geeignet sein . Dieses Prinzip setzen wir jetzt fürdie strategische Fernmeldeaufklärung um . Für die unver-zichtbare Zusammenarbeit mit anderen Diensten schaf-fen wir klare Voraussetzungen .Die dritte Frage: Wer kontrolliert, und ist diese Kon-trolle effektiv? Auch darüber haben wir vorhin schon dis-kutiert. Wir schaffen einen ständigen Bevollmächtigtenmit einem Arbeitsstab, der die Mitglieder des Parlamen-Clemens Binninger
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 201619634
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tarischen Kontrollgremiums bei ihren Kontrollaufgabenunterstützt .Mit beiden Gesetzen, die wir heute beschließen, zie-hen wir die Konsequenzen aus den durch den NSA-Un-tersuchungsausschuss, aber auch durch die PKGr-eige-nen Untersuchungen aufgedeckten Fehlentwicklungender letzten Jahre. Wir schaffen mit dem Gesetz zur Aus-land-Ausland-Fernmeldeaufklärung klare Regelungenfür den Bundesnachrichtendienst . Wir verbieten Wirt-schaftsspionage, wir schützen alle EU-Bürger und -In-stitutionen, wir schaffen die Voraussetzung für effektiveKontrolle und definieren die Verantwortlichkeiten. Damitsind wir Vorreiter . Kein anderes Land in Europa, ja welt-weit, hat bisher solche gesetzlichen Regelungen für seineDienste .Was die Verfassungsmäßigkeit anbetrifft, die von Ih-nen, Herr von Notz, und einigen Organisationen ange-zweifelt wird – Sie haben sie alle genannt –,
so sehen wir dem gelassen entgegen . Die Verfassungs-mäßigkeit stellen nicht die Grünen oder die Linken fest,sondern das Bundesverfassungsgericht .
Das Bundesverfassungsgericht wird darüber entscheidenmüssen, wie weit das Grundgesetz und damit auch Arti-kel 10, das Fernmeldegeheimnis, geht .Wenn man die Notwendigkeit von Nachrichtendiens-ten bejaht, dann muss man auch dafür sorgen, dass siepersonell, technisch und finanziell so ausgestattet sind,dass sie ihren Beitrag zur Sicherheit der deutschen Bür-gerinnen und Bürger im In- und Ausland leisten können .Auch dafür sorgt die Koalition im Haushalt 2017 .Mit den Gesetzen zur Fortentwicklung der parlamen-tarischen Kontrolle und der Fernmeldeaufklärung desBND schaffen wir mehr Rechtssicherheit, mehr demo-kratische Kontrolle und für die Zukunft weniger Anlasszu Skandalisierungen . Ich bitte Sie um Zustimmung .Danke schön .
Vielen Dank . – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist jetzt die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/
CSU-Fraktion .
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrteFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heu-te wollen wir aus der Aufklärungsarbeit im NSA-Un-tersuchungsausschuss und auch im ParlamentarischenKontrollgremium unsere Konsequenzen ziehen und dieweitreichendste Reform des BND-Gesetzes seit Jahr-zehnten beschließen . Mit den heute verabschiedeten Ge-setzen stärken wir die parlamentarische Kontrolle, wirverbessern die Regierungsaufsicht, und wir sorgen fürmehr Rechtssicherheit für den BND; denn Rechtssicher-heit und Kontrolle schaffen auch Vertrauen.Nachdem ich vorhin wieder einmal vernommen habe,dass man von einem desaströsen Ansehen des BND ge-sprochen hat, möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich be-danke mich heute ganz herzlich bei allen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern unserer Nachrichtendienste, auchdes BND, für ihre Arbeit und möchte es nicht zulassen,dass sie unter einen permanenten Generalverdacht ge-stellt werden .
Die parlamentarische Kontrolle unserer drei Nach-richtendienste haben wir bereits mit der vorhin beschlos-senen Reform des PKGr-Gesetzes massiv gestärkt . Dienun vorliegende Reform des BND-Gesetzes stellt dieÜberwachung von Ausländern im Ausland von Deutsch-land aus auf eine völlig neue Rechtsgrundlage; denn derBND agierte hier bisher in einer rechtlichen Grauzone .Wir haben das immer wieder gehört, als wir im NSA-Un-tersuchungsausschuss sowohl Rechtsexperten als auchverantwortliche Mitarbeiter in den Behörden – auch ver-antwortliche Juristen dort – angehört haben .Wenn wir feststellen, dass Rechtsunsicherheit besteht,ist es Aufgabe der Politik, Rechtssicherheit zu schaffen.Das tun wir mit diesem Gesetz . Wir sind das einzigeLand, das Konsequenzen aus den Skandalen zieht, dieauch durch die Enthüllungen von Edward Snowden auf-gedeckt wurden . Auch das will ich an dieser Stelle sagen:Kein anderes Land hat bisher diesen Rechtsbereich gere-gelt und sich an solche Regelungen herangetraut .Die Auslandsaufklärung ist für den BND unverzicht-bar, um Terrorismus, organisierte Kriminalität und dieVerbreitung von Massenvernichtungswaffen effektiv be-kämpfen zu können . Auch die Zusammenarbeit mit an-deren Nachrichtendiensten ist unerlässlich . Dazu werdenwir heute ebenfalls Regelungen verabschieden . Wir ha-ben gerade in diesen Tagen sowie in den letzten Wochenund Monaten erlebt, wie wichtig die Zusammenarbeitmit anderen Nachrichtendiensten ist und dass leistungs-fähige Nachrichtendienste in Deutschland und Europaunverzichtbar sind .Wer Sicherheit anders gewährleisten will, der muss sa-gen, wie das in der Praxis zuverlässig funktionieren soll .Aus unserer Sicht kann man Freiheit und Sicherheit nurmit leistungsfähigen Nachrichtendiensten gewährleisten .
Diese Reform legitimiert keine möglichen Rechtsver-stöße in der Vergangenheit, sondern sie schafft für dieZukunft klare Regelungen . Das stärkt das Vertrauen indie Arbeit des BND, und es gibt auch den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern Rechtssicherheit . Der Gesetzgeberist gehalten, so zu formulieren, dass wir den wehrhaftenRechtsstaat sichern und hier auch ein ausgewogenes Ver-hältnis ausbalancieren .Wir schaffen ein neues unabhängiges Gremium, daskünftig die Anordnungen kontrolliert. Wir schaffen einneues schlankes Anordnungsverfahren, das für klare Ver-Gabriele Fograscher
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 2016 19635
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antwortlichkeiten zwischen dem Kanzleramt und demBND sorgt und auch die Regierungsaufsicht verbessert .Wir formulieren die Kooperation mit fremden Dienstenerstmals aus und stellen sie auf eine Rechtsgrundlage .Wir regeln die in diesem Zusammenhang bestehendeautomatisierte Datenübermittlung, die gemeinsame Da-tenerhebung . Wir ziehen neue Grenzen für den Einsatzvon Suchbegriffen – auch im Rahmen der europäischenKooperation – ein . Wir legen erstmals Speicherfristensowohl für die Anordnung als auch für die Daten, die er-hoben werden, fest .Das alles, meine sehr geehrten Damen und Herren, istwichtig, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in derZukunft klare Handlungsanweisungen zu geben, wie wirals Gesetzgeber uns das vorstellen .Ja, Herr Kollege Notz, Artikel 10 des Grundgesetzes –da geht es um das Fernmeldegeheimnis – wollen wirnicht im BND-Gesetz verankern .
Dazu mag man unterschiedlicher Rechtsauffassung sein,aber für uns gilt der Geltungsbereich unseres Grundge-setzes nicht universell, sondern er gilt auf Deutschlandbezogen – auf unser Staatsgebiet, auf die Deutschen unddie Staatsgewalt .Mit dem neuen § 6 des BND-Gesetzes wird eine ganzklare Zuständigkeit für das Verbot der ÜberwachungDeutscher aufgenommen, es wird eine klare Regelungim Verhältnis zu den europäischen Mitbürgerinnen undMitbürgern aufgenommen, und es wird eine deutlicheAbgrenzung dieses Gesetzes zum Artikel 10-Gesetz vor-genommen . Das ist der richtige Weg . Man kann der Auf-fassung sein, es anders haben zu wollen; aber dass wirdas regeln, ist der richtige Weg .Ich sehe hier – auch weil wir es gut begründen – kei-ne Verfassungswidrigkeit . Wenn mir zehn Juristen sa-gen würden, dass sie das für verfassungswidrig halten,würden wir, glaube ich, auch andere finden, die sagenwürden: Genau das ist verfassungsgemäß, weil es nichtwillkürlich erfolgt, sondern gut begründet ist .Wenn ich an die letzten drei Jahre zurückdenke: Wieoft haben Sie schon „Verfassungswidrig!“ geschrien?Bis jetzt ist keine einzige Ihrer Klagen, die im Zuge desNSA-Skandals erhoben worden ist, durchgegangen . Siealle sind abgewiesen worden, und ich sehe auch heutediesem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit ganz gelassenentgegen .Ich bitte Sie, auch dem BND-Gesetz – dem anderenGesetz haben wir schon zugestimmt – zuzustimmen . Ichglaube, es ist eine gute Reform, es ist eine wichtige Re-form .Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetz-entwurf zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung desBundesnachrichtendienstes .Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31unserer Geschäftsordnung vor .1)Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10068, denGesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPDauf Drucksache 18/9041 anzunehmen . Ich bitte dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koa-litionsfraktionen bei Ablehnung der Opposition und zweiGegenstimmen aus der SPD angenommen .Dritte Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen-verhältnis angenommen .Abstimmung über die Beschlussempfehlung des In-nenausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesre-gierung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung desBundesnachrichtendienstes . Der Innenausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/10068, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksachen 18/9529 und 18/9854 für erle-digt zu erklären . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damitist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Zusatz-punkte 10 a und 10 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierungdes Übergangs vom Erwerbsleben in denRuhestand und zur Stärkung von Präven-tion und Rehabilitation im Erwerbsleben
Drucksache 18/9787Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Drucksache 18/10065
Drucksache 18/10066b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W .Birkwald, Sabine Zimmermann ,1) Anlage 3Andrea Lindholz
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 201619636
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Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEStatt Rente erst ab 67 – AltersgerechteÜbergänge in die Rente für alle Versicher-ten erleichtern– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusKurth, Brigitte Pothmer, Beate Müller-Gemmeke, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFlexible und sichere Rentenübergänge er-möglichen– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusKurth, Britta Haßelmann, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKommunales Ehrenamt stärken – Anrech-nung von Aufwandsentschädigungen aufdie Rente neu ordnenDrucksachen 18/3312, 18/5212, 18/5213,18/10065Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre hierkeinen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Ich darf Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen, und bittediejenigen Kollegen, die jetzt andere Aufgaben haben,den Plenarsaal zu verlassen und ihre Gespräche außer-halb des Plenarsaals fortzusetzen .Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr . Martin Rosemann, SPD-Fraktion . – Bitte schön .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schonbemerkenswert: Nahezu überall, wo man hinkommt undüber das Gesetz zu flexiblen Übergängen diskutiert, sinddie Rückmeldungen positiv . Das gilt vor allem für dieVerbesserungen bei Prävention und Rehabilitation . DerErste Direktor der Rentenversicherung Baden-Württem-berg, Andreas Schwarz, hat in einem Interview mit denStuttgarter Nachrichten Folgendes gesagt – ich zitiere –:Sehr positiv ist auch, dass mit dem Gesetz auch Prä-ventions- und Rehaleistungen verbessert werden,damit die Menschen auch in die Lage versetzt wer-den, länger zu arbeiten . Sehr positiv sehe ich auchden berufsbezogenen Gesundheitscheck mit 45 .Es wird nicht mehr nur gewartet, bis jemand einenRehaantrag stellt, sondern die Rentenversicherungkann auf Leute zugehen, die eine Reha brauchen,sich aber nicht selbst melden .
Auch bei der Anhörung des Ausschusses für Arbeitund Soziales am Montag dieser Woche waren die Rück-meldungen vieler Sachverständiger positiv .Ich darf Christof Lawall von DEGEMED zitieren:Das ist intelligente Sozialpolitik, die jetzt auf dendemografischen Wandel reagiert und die richtigenAkzente setzt und den Rentenversicherungsträgernauch die Möglichkeit gibt, offensiv mit diesem The-ma umzugehen .Alwin Baumann vom „Bündnis Kinder- und Ju-gendreha“ sagte:Ich kann Ihnen letztendlich sagen, ich bewerte die-se Änderung als wirklich historisch – nämlich, dassKinder und Jugendliche Erwachsenen gleichgestelltwerden, dass wir eine Pflichtleistung haben, dasswir die Möglichkeit der Nachsorge haben usw .
Tatsächlich, meine Damen und Herren, Präventionund Nachsorge werden Pflichtleistungen. Das bedeutet,dass wir eine Förder- und Unterstützungskette von derPrävention bis zur Nachsorge bekommen . Wir stärkenKinder- und Jugendrehabilitation, die auch Pflichtleis-tungen im SGB VI, also für die Rentenversicherung,werden. Wir schaffen durch den berufsbezogenen Ge-sundheitsscheck einen neuen niedrigschwelligen undindividuellen Zugang zu Rehabilitation und Prävention .Das ergänzt die Zugangswege über den Betrieb . So un-terstützen wir die Menschen, gesund und fit die Regelal-tersgrenze zu erreichen .Meine Damen und Herren, neben der Stärkung vonPrävention und Reha machen wir verschiedene flexi-ble Ausstiegswege attraktiver . Durch die sogenannteOpt-in-Regelung können in Zukunft auch bei Bezugeiner Vollrente auch oberhalb der Regelaltersgrenze zu-sätzliche Rentenanwartschaften erworben werden . Vorder Regelaltersgrenze machen wir die Teilrente attrakti-ver und flexibler. Statt bisher in drei starren Stufen istdie Teilrente in Zukunft stufenlos wählbar . Für den Ein-zelnen ist es viel leichter, sich in Zukunft den eigenenHinzuverdienst auszurechnen . Auch hierfür gibt es posi-tive Rückmeldungen aus der Expertenwelt . Ich darf nocheinmal Herrn Schwarz in besagtem Interview zitieren . Ersagt:Bisher war kaum vermittelbar, wie viel monatlichhinzuverdient werden durfte, da es individuel-le Grenzen gab . Jetzt gibt es einen Jahresbetrag –6 300 Euro –, den man anrechnungsfrei hinzuver-dienen darf . Wer mehr verdient, muss 40 Prozentvom Mehrverdienst abgeben . Das ist einfach, trans-parent und flexibel.Recht hat der Mann .
Es gibt in Zukunft einen doppelten Vorteil: Wer alsTeilrentner mehr hinzuverdient, hat unter dem Strichmehr in der Tasche und später mehr Rente, weil er mehrRentenanwartschaften erwirbt und dann noch wenigerAbschläge hat .Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Natürlich ist klar: In der Umsetzung dieses Gesetzesmuss sich manches noch zurechtrütteln . Wir setzen mitdem Gesetz wichtige Impulse . Die Politik hat geliefert .Aber diese Impulse müssen jetzt auch aufgegriffen wer-den, indem die Möglichkeiten des neuen Reharechts vonallen relevanten Akteuren genutzt werden, indem innova-tive Modelle für einen besseren und niedrigschwelligenZugang erprobt werden, indem Strategien für eine abho-lende und aufsuchende Reha entwickelt und umgesetztwerden und indem auch über die Möglichkeiten infor-miert wird, die dieses neue Gesetz bietet .Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein wich-tiger Beitrag dazu, unseren Sozialstaat zu einem stärkervorsorgenden Sozialstaat weiterzuentwickeln und ange-sichts von demografischen Veränderungen und immerrasanter werdenden Veränderungen in der Arbeitsweltden Sozialstaat besser an individuelle Erwerbsbiografi-en anzupassen und gleichzeitig die Beschäftigten schonwährend des Arbeitslebens zu unterstützen . Wir wissenaus vielen Umfragen, den meisten Leuten in Deutschlandgeht es nach eigener Aussage gut, aber sie haben Angstvor der Zukunft, auch vor Veränderungen in der Arbeits-welt . Wir können diese Veränderungen nicht verhindern,aber wir können sie gestalten, und vor allem können wirdie Leute bei der Bewältigung dieser Veränderungen un-terstützen .
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, zum Schluss will ich allen Beteiligten meinenDank sagen: dem Ministerium, aber auch den Kollegin-nen und Kollegen des Koalitionspartners für die kolle-giale und an der Sache ausgerichtete Zusammenarbeit .Ich glaube, wir haben mit dem Gesetz zu flexiblen Über-gängen sehr viel mehr hinbekommen, als uns die meistenSkeptiker zugetraut haben .
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
der Kollege Matthias W . Birkwald .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Ihr Flexi-Rentengesetz, liebe Koalition, bietetkeine Lösungen für Menschen, die von ihrer Arbeit krankwerden, die unter zu viel Arbeit leiden, die im Niedrig-lohnsektor zu wenig Rentenansprüche erwerben oder dieim Alter erwerbslos werden .Herr Kollege Linnemann, die Linke hat nichts dage-gen, wenn jemand länger arbeiten kann und will, und dieLinke hat auch nichts dagegen, wenn sich manche Men-schen dadurch mehr Rente erarbeiten .
Aber die Linke kämpft ganz entschieden dagegen, dassdie Menschen länger arbeiten müssen,
und die Menschen müssen heute länger arbeiten, weilSPD, Grüne und Union das Rentenniveau abgesenkt ha-ben, weil Union und SPD diese unsägliche Rente erst ab67 eingeführt haben und weil sie Möglichkeiten des früh-zeitigen Ausstiegs, zum Beispiel die Rente für Frauen ab60, ebenso abgeschafft haben wie die geförderte Alters-teilzeit . Das, meine Damen und Herren, ist der falscheWeg .
Viele Menschen können gar nicht länger arbeiten:nicht bis 63, nicht bis 65 oder 67 und schon gar nichtbis 69, 70, 73 oder 85 – um einmal all diese Wahnsinns-vorschläge aus der Union und dem Arbeitgeberlager dervergangenen Wochen zu nennen . Metallarbeiter müssenzum Beispiel durchschnittlich im Alter von 60 Jahren ausihrem Beruf aussteigen und Gebäudereinigerinnen sogarschon im Alter von 59 Jahren und 11 Monaten . Die kön-nen dann nicht mehr . Diese Beschäftigten, liebe Koaliti-on, lassen Sie komplett im Regen stehen . Für solche hartarbeitenden Frauen und Männer sollten Sie gute Alters-übergänge finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit dem Jahr 2000haben Sie das Rentenniveau bereits um gut 9 Prozentgekürzt, und Sie werden es bis 2030 noch einmal um7,5 Prozent kürzen . Das heißt, die Rente folgt immer we-niger den Löhnen . Doch damit nicht genug: Erstens . DieRente erst ab 67 wird im Jahr 2031 für eine dann 63-Jäh-rige eine drastische Rentenkürzung von 14,4 Prozent be-deuten . Zweitens . Die Erwerbsminderungsrenten werdenschon heute im Schnitt um 85 Euro gekürzt .Ich fordere Sie auf: Streichen Sie die systemwidrigenAbschläge bei der Erwerbsminderungsrente, und berech-nen Sie die Rente so, als wenn die Menschen bis 65 Jahredurchgehalten hätten .
Das würde kranken Menschen den flexiblen Übergang inden Ruhestand sehr viel leichter machen .Weil Sie so nett lächeln, verehrte Frau MinisterinNahles: Genau das tun Sie nicht . Ihr Flexi-Rentengesetzatmet den Geist des Arbeitens bis zum Umfallen .
– Sinngemäß habe ich gerade Leni Breymaier, die desi-gnierte Landesvorsitzende der SPD in Baden-Württem-berg, zitiert; das sei nur nebenbei bemerkt . – Darum wer-den wir ihm auch nicht zustimmen .
Im Einzelnen:Erstens . Wer neben einer vorgezogenen Altersrente ab63 Jahren bis zu 6 300 Euro im Jahr hinzuverdient, musskünftig Beiträge in die Rentenkasse einzahlen . Damit er-Dr. Martin Rosemann
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höht sich dann seine oder ihre Rente, und das ist – Ach-tung, ich lobe die Regierung – gut .
Allerdings kann man mit ungefähr 5 Euro Rente mehr imMonat Altersarmut nicht bekämpfen . Darauf wies übri-gens, liebe Union, die Sachverständige der Caritas in derAnhörung hin .Zweitens . Als Rentnerin oder Rentner kann man schonheute nach Erreichen der Regelaltersgrenze weiterarbei-ten – ohne jede Hinzuverdienstgrenze . Künftig darf mannach Ihrem Gesetz als arbeitender Regelaltersrentnerauch in die Rentenkasse einzahlen und sich so die eigeneRente erhöhen; das hat Kollege Rosemann vorgetragen .Auch das ist gut . Aber ist es auch notwendig? Wer heuteals Rentner nach der Regelaltersgrenze unbegrenzt dazu-verdienen darf, zahlt weder Arbeitslosen- noch Renten-versicherungsbeiträge . Sie oder er hat also deutlich mehrNetto in der Tasche .Noch attraktiver: Wer bereits heute nach geltendemRecht erst ein Jahr oder später nach seiner oder ihrer Re-gelaltersgrenze in die Rente geht, erhält später eine umfast 9 Prozent höhere Rente . Also, aus 1 000 Euro Rentewerden dann 1 090 Euro Rente – nach nur einem Jahr .Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht bekannt,aber es ist attraktiv genug . Mehr Anreize zum Arbeitenbis zum Umfallen, Herr Kollege Linnemann, braucht esnun wirklich nicht .
Drittens . Richtig zweischneidig wird es bei Reha undPrävention . Prävention und Nachsorge werden jetzt mitder traditionellen Rehabilitation gleichgestellt . Schön,nur: Das nötige Geld dafür geben Sie der Rentenversi-cherung nicht . Ich sage: Jede und jeder Kranke, die oderder eine Rehamaßnahme braucht, muss sie auch erhalten .Darum fordere ich Sie auf: Schaffen Sie den Rehadeckelab, und sorgen Sie dafür, dass genug Geld in den Re-hatopf fließt.
Herr Lawall von der Deutschen Gesellschaft für Me-dizinische Rehabilitation hat in der Anhörung gewarnt:Prävention und Nachsorge drohen wegen der begrenztenfinanziellen Mittel gegen andere Leistungen ausgespieltzu werden . Dazu, meine Damen und Herren, darf es nichtkommen .
Viertens . Sie wollen die Rentenauskunft verbessern .Das ist gut, aber mehr Informationen helfen niemandem,wenn sie nicht verstanden werden . Darum fordere ich Sieauf: Sorgen Sie für Renteninformationen und Rentenaus-künfte in verständlicher Sprache .
Fünftens . Die Beschäftigten sollen künftig ab 50 Jah-ren die Möglichkeit haben, zusätzlich und freiwillig Ren-tenbeiträge einzuzahlen . Warum erst ab 50? Und warumnur zum Rückkauf der Abschläge? Freiwillige Zusatz-beiträge sind eine großartige Alternative zur geflopptenRiester-Rente . Ich fordere Sie auf: Seien Sie nicht hasen-füßig, und sorgen Sie dafür, dass auch jüngere Menschenfreiwillige Zusatzbeiträge auf ihr persönliches Renten-konto einzahlen können .
Sechstens. Sie schaffen bei arbeitenden Rentnerinnenund Rentnern den Arbeitgeberbeitrag für die Arbeitslo-senversicherung ab . Damit wird die Beschäftigung vonRentnerinnen und Rentnern billiger für die Unterneh-men . Hören Sie auf, Ältere gegen Jüngere auszuspielen,und verzichten Sie darauf, den isolierten Arbeitgeberbei-trag zu streichen .
Siebtens . Die Rentenversicherung und der DGB haltenIhre Neuregelung der Teilrente für misslungen . Ich haltesie für katastrophal . Die sogenannte Spitzabrechung istextrem kompliziert . Das wird niemand verstehen .
Das wird zu großem Unmut bei den Teilrentnerinnen undTeilrentnern führen . Viele von ihnen werden nämlich re-gelmäßig Rente zurückzahlen müssen; denn ihre Renten-bescheide werden Jahr für Jahr wieder aufgehoben unddie Rente neu berechnet werden müssen . Irre!Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein gu-tes Gesetz . Die Linke hingegen hat einen guten Antragvorgelegt .
Wir fordern: Alle Versicherten sollen wieder ab 65 ohneAbschläge in Rente gehen dürfen .
Nach 40 Beitragsjahren, also nach 40 Jahren Arbeit undKindererziehung, muss man schon ab 60 abschlagsfrei inRente gehen können .
Dann hätten wir altersgerechte Übergänge in die Rente .Herzlichen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Carsten
Linnemann .
Herzlichen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wir haben uns fast exakt vor drei Wo-chen hier getroffen und den vorliegenden Gesetzentwurfins parlamentarische Verfahren eingebracht . Vor einigenTagen fand eine entsprechende Sachverständigenanhö-Matthias W. Birkwald
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rung statt . Herr Rosemann hat sich eben auf die ThemenPrävention und Rehabilitation bezogen .
Ich möchte Zitate aus der Anhörung wiedergeben, diesich auf das Thema längeres Arbeiten beziehen und diebelegen, dass es attraktiv ist, im Renteneintrittsalter zuarbeiten . Die Deutsche Rentenversicherung sagt: Wirwerden mit dem neuen Gesetz „sicherlich einen Anreizbekommen, jenseits der Regelaltersgrenze länger zu ar-beiten“ . Die BDA, die Bundesvereinigung DeutscherArbeitgeberverbände, sagt: „Auf jeden Fall hat diesesGesetz Potenzial, das Denken der Menschen und einlängeres Arbeiten zu fördern .“ Der ZDH, der Zentralver-band des Deutschen Handwerks, hat über die neue Teil-rente gesagt, dass die neue Teilrentenregelung auf jedenFall besser sei als die alte . Die Caritas hat die Präventiongelobt . Kerstin Griese – sie ist keine Sachverständige,sondern die Ausschussvorsitzende – hat zum Schluss ge-sagt: So viel Lob haben wir selten gehört .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Birkwald, ichwill gar nicht verhehlen, dass es in der Anhörung auchKritik gab, zum Beispiel in Bezug auf die eben genann-te Spitzabrechung . Aber ich muss sagen: Ich habe selteneine Anhörung erlebt, die so positiv war, auch was dieZielsetzung angeht – das müssen auch Sie zugeben; Siesind ja auch schon ein paar Jahre im Parlament –, unddeshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir heu-te ein Gesetz beschließen werden, das gut ist für unserLand . Es ist richtig, dass wir dies tun werden .
Herr Kollege Linnemann, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Birkwald?
Zum Schluss, nicht während der Rede; nein, danke .Herr Birkwald hat eben gesprochen . Herr Birkwald, ichsage sofort noch etwas zu Ihrer Rede, dann können Sieim Anschluss gern erwidern .Natürlich wird dieses Gesetz – das muss man frankund frei zugeben – keine Wunder bewirken . Natürlich istes ein erster Schritt hin zu einem Paradigmenwechsel .Alter neu denken – ich denke, es muss das Ziel sein, dassdie Menschen die Freiheit haben, selbst zu entscheiden,wann Schluss ist und wann nicht . Dafür haben wir dreiDinge umgesetzt .Erstens den arbeitsrechtlichen Teil: dass es in Zukunfterlaubt ist, befristete Verträge im Rentenalter zu verab-schieden . Das gilt schon seit einiger Zeit, und es gehörtauch zur Flexirente .Zweitens – Herr Rosemann hat es angesprochen –,dass diejenigen, die länger arbeiten, ihre Rente durch diezusätzliche Arbeit erhöhen können; dafür arbeiten sie ja .Im Moment geht das noch nicht . Die meisten Menschenwollen Rente beziehen und zusätzlich arbeiten . Im Mo-ment zahlen die Arbeitgeber Beiträge, die kommen ineinen großen Topf und sind weg . In Zukunft gibt es zu-sätzliche Rentenerhöhungen für zusätzliche Arbeit .Drittens . Die Deutsche Rentenversicherung wird neuund besser über die Möglichkeiten des längeren Arbei-tens informieren . Im Moment ist es leider noch so – esändert sich gerade –, dass die Rentenversicherung so tut,als ob es gar keine Alternative gebe als die des Renten-eintritts, und das wird sich jetzt ändern .Herr Birkwald, wenn Sie sagen, der Geist der Flexi-rente sei Arbeiten bis zum Umfallen, so muss ich schlichtsagen, dass das erstens falsch ist, und zweitens irritiert esmich, weil ich Ihnen nicht zugetraut hätte, dass Sie diesesGesetz überhaupt so falsch verstehen können .
Denn bei diesem Gesetz geht es darum, erstens die Men-schen in die Lage zu versetzen, durch präventive Maß-nahmen überhaupt länger arbeiten zu können, und zwei-tens das längere Arbeiten attraktiver zu machen .Die Menschen – damit muss endlich Schluss sein –dürfen nicht den Eindruck haben, dass wir ihnen einre-den, dass es alle nur deshalb machen, um mehr Geld zuverdienen . Ja, diese wird es geben, aber es geht im Kernbeim längeren Arbeiten um Wertschätzung, um sozialeTeilhabe . Man will nicht zum alten Eisen gehören . Manwill keine Vollbremsung in der Rente, und nicht von hun-dert auf null .
Diesen Geist müssen wir leben und nicht den Geist derLinken, dass es hier um Zwangsarbeit geht, sondern esgeht um freiwillige Arbeit im höheren Alter .
Deshalb muss sich die Rentenpolitik der Zukunft anzwei Polen orientieren: erstens für diejenigen da sein, dienicht länger arbeiten können, aus psychischen, körperli-chen oder welchen Gründen auch immer, zweitens Anrei-ze zum längeren Arbeiten setzen, damit wir irgendwanneinmal dorthin kommen – weil wir länger leben –, dieLebensarbeitszeit an die Lebenserwartung zu koppeln .Die Rentenbezugsdauer beträgt heute 20 Jahre, 1960 be-trug sie 10 Jahre und 1965 15 Jahre . Heute leben wir20 Jahre länger .Eine Gruppe habe ich jetzt nicht angesprochen, dievon diesem Gesetz auch überhaupt nicht tangiert wird:Das sind beispielsweise die 50- bis 60-Jährigen, die un-verschuldet in die Arbeitslosigkeit schlittern . Hier habenwir offenkundig ein Problem, und dazu gibt es auch vonmeiner Seite einen Appell an die Wirtschaft, hier ganzklare Signale zu setzen, dass man den Menschen zwi-schen 50 und 60 Jahren, die unverschuldet in die Arbeits-losigkeit geraten sind, eine Chance gibt . Viele wissennicht, dass es beispielsweise eine sogenannte 52er-Regelgibt: dass jene, die mit 52 Jahren in die ArbeitslosigkeitDr. Carsten Linnemann
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gehen, auf fünf Jahre befristete Arbeitsverträge mit denArbeitgebern abschließen können .
Die Flexirente ist eine Brücke in die Zukunft der Renten-politik, und ich möchte mich sowohl bei unserer Fraktionals auch beim Koalitionspartner bedanken . Gerade aufder Zielgeraden war die Abstimmung konstruktiv . Ichmöchte mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternder Fraktionen bedanken; ich denke dabei an ThomasRogowski und andere .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Nun hat der Kollege Birkwald die Gelegenheit zu ei-
ner Kurzintervention .
Vielen Dank, Herr Präsident . Vielen Dank, HerrDr . Linnemann . Drei Minuten laut Geschäftsordnung .Herr Dr . Linnemann, ich zitiere aus der neutralen Zu-sammenfassung des Bundestagspressedienstes hib: „Ex-pertenurteil zur geplanten Flexi-Rente“: Die Regelungenzu Reha und Prävention seien „überwiegend wohlwol-lend“ . Das haben Sie gesagt . Ich zitiere weiter: . . . gab es jedoch auch Zweifel, ob durch die geplan-ten Neuregelungen die verfolgten Ziele, die Alters-armut zu verringern und den Fachkräftemangel ein-zudämmen, erreicht werden können . . . .Im Gegensatz zur BDA kritisierte EckehardLinnemann vom Deutschen Gewerkschaftsbund
mangelnde Angebote für jene, die aus ge-
sundheitlichen Gründen oder weil sie keinen Ar-beitsplatz haben, nicht bis 65 oder 67 arbeiten könn-ten . . . .Eine mangelnde Information der Beschäftigten überjetzt schon vorhandene Möglichkeiten, nach Errei-chen der Regelalterszeit weiterzuarbeiten . . ., kon-statierte auch der Einzelsachverständige ProfessorEckart Bomsdorf .Der Sachverständige der Deutschen Rentenversiche-rung Bund sagte, die künftigen Regelungen seien „kom-plexer als bisher“ . Dann wird die Spitzabrechnung – daskann ich Ihnen gleich noch einmal vortragen – zitiert .Skeptisch zeigte sich der DRV-Vertreter, ob damitAltersarmut verhindert werden kann . Um diesesZiel zu erreichen, brauche es andere Instrumente,sagte Birgit Fix vom Deutschen Caritasverband .Aus der Sicht von Heinz Landwehr von der StiftungWarentest wird alles zu einer „Verschlechterung der Situ-ation von Teilrentnern führen“ .Die problematische Fachkräftesituation kann ausSicht der Einzelsachverständigen Jutta Schmitz„nur in sehr kleinem Umfang“ durch die Erwerbs-beteiligung von Rentnern gelöst werden .
Christof Lawall sagte, die „gut durchdachten Änderun-gen dürften aber schlussendlich nicht an der Finanzie-rung scheitern“ .Ich halte fest: Erstens . Hier zu behaupten, in dieserAnhörung sei dieses Gesetz nur über den grünen Klee ge-lobt worden, ist hanebüchener Unsinn . Es gab Lob, undes gab auch sehr viel Kritik .Zweitens . Ich will Ihnen kurz vortragen, damit allehier das einmal mitbekommen, was der Experte derDeutschen Rentenversicherung gesagt hat:
Es wird ein entsprechender Bescheid erstellt . Am01 .07 . des Folgejahres werden wir dann prüfen, obdie Prognose des Zusatzeinkommens übereinstim-mend mit dem war, was er tatsächlich verdient hat .
– Ja, das wollt ihr nicht hören .
Wenn wir feststellen, dass er zu viel verdient hat,also die Rente eigentlich niedriger hätte sein müs-sen, heben wir den Bescheid auf und fordern dasGeld zurück . . . . Wir haben durch die Spitzabrech-nung sozusagen in jedem Jahr die Aufhebung deralten Bescheide und eine Erstellung neuer Beschei-de vor uns .Ich kann mir gut vorstellen, wie Rentnerinnen und Rent-ner darauf reagieren .Zum Arbeiten bis zum Umfallen, Kollege Linnemann:Leni Breymaier, . . .– designierte Landesvorsitzende der SPD in Baden-Würt-temberg –kämpft gegen die Rente mit 67 .– So steht es hier wieder falsch .Arbeiten bis zum Umfallen? Ein Unding, . . . DieGewerkschafterin ist dabei, neue Landesvorsitzen-de der SPD in Baden-Württemberg zu werden, undkämpft für einen frühen Renteneintritt . „Auch imAlter gibt es ein Recht auf Faulheit und ein ange-messenes Auskommen“, . . .
Letzte Bemerkung – meine drei Minuten laufen ab –:Was Reha angeht, hat sich gestern die designierte Vorsit-zende der Deutschen Rentenversicherung geäußert .Dr. Carsten Linnemann
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Herr Kollege Birkwald, Sie haben zunächst völlig
richtig auf die drei Minuten für eine Zwischeninterven-
tion Bezug genommen . Diese drei Minuten sind bereits
abgelaufen .
Ich bin gleich beim letzten Satz, Herr Präsident . Ich
bin sofort fertig . Darf ich den Satz zu Ende führen?
Den Satz dürfen Sie noch zu Ende sprechen .
Sie hat gestern mitgeteilt, dass die Zahl der Anträge
für Rehamaßnahmen deutlich zurückgegangen ist, auch
bei Krebsbehandlungen, „obwohl die Entwicklung bei
den Erkrankungen entgegengesetzt verlaufe“ .
Zu tun gibt es genug . Handeln Sie!
Danke .
Herr Kollege Dr . Linnemann, Sie haben jetzt die Gele-
genheit, darauf zu erwidern .
Herzlichen Dank . – Herr Birkwald, ich kenne in un-
serer Fraktion und auch, wenn ich das sagen darf, in der
Fraktion der Kollegen niemanden, der gesagt hat, dass
wir mit diesem Gesetz Altersarmut verhindern . Darum
geht es überhaupt nicht . Altersarmut verhindern wir, in-
dem wir zum Beispiel die betriebliche Altersvorsorge –
Frau Nahles und Herr Schäuble bringen dies jetzt auf den
Weg – verbessern, indem wir Zuschläge für Geringver-
diener geben . Das sind Konzepte . Die Flexirente hat da-
mit nichts zu tun . Verunsichern Sie nicht die Menschen .
Das betrifft auch einen weiteren Punkt. Auch das
sollten Sie eigentlich wissen, Herr Birkwald . Es irritiert
mich, dass Sie das so darstellen . Die Schreiben der Deut-
schen Rentenversicherung werden nicht vom Deutschen
Bundestag beschlossen und erst recht nicht formuliert .
Die Schreiben kommen von der Selbstverwaltung . Da
sitzen Arbeitnehmer und Arbeitgeber . Glauben Sie mir,
dass wir mit denen gesprochen haben . Das ist übrigens
der Grund, warum die Formulierungen bereits vor zwei
Jahren geändert wurden . Früher bekam derjenige, der 55
wurde, einen Brief, und in diesem Brief stand: Du musst
jetzt Altersrente beantragen . Heute steht in diesem Brief:
Du kannst Altersrente beantragen, du kannst aber auch,
wenn du willst, länger arbeiten und bekommst zusätzli-
che Zuschläge .
Das muss doch entscheidend sein .
Herr Birkwald, wer etwas will, findet Wege. Wer et-
was nicht will, findet Argumente. Das ist die Flexirente.
Nächster Redner ist jetzt der Kollege Markus Kurth
für Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen ins-besondere von der Koalition! Es schien Ihnen ja eine be-sondere Erwähnung wert gewesen zu sein, dass die An-hörung so viel Lob für Ihren Gesetzentwurf gebracht hat .
Sie haben gesagt, Herr Linnemann und Frau Griese, sel-ten habe es so viel Lob gegeben . Im Umkehrschluss zeigtdas, welche Qualität im Allgemeinen die Gesetze haben,die wir im Ausschuss über uns ergehen lassen müssen .
Neben den Ausführungen zu den tauglichen Sachenim Bereich Prävention und Reha gab es sehr wohl eineMenge Kritik, die gerade der Kollege Birkwald, wennauch etwas länglich, dargestellt hat . Die BDA sagt zudem Flexi-Rentengesetz, das habe Potenzial . Ich bitteSie: Das heißt so viel wie: Wir wissen noch nicht, was daherauskommt, aber schaden tut es uns auch nicht . Schau-en wir mal. – Nichts anderes an Qualität, finde ich, hatdiese Stellungnahme .Bevor wir immer wieder auf diesen Einzelpunkten he-rumreiten, sollte man sich den heutigen Vormittag einmalinsgesamt ansehen . Wir beraten heute ja nicht nur überdas Flexi-Rentengesetz, sondern wir werden heute densozial- und arbeitsmarktpolitischen Vormittag im Deut-schen Bundestag haben .
Wir haben nachher noch ein Gesetz zur Arbeitnehmer-überlassung, also zur Regelung von Leiharbeit und Werk-verträgen, und wir werden heute Mittag noch ein Gesetzzur Ermittlung des Regelbedarfs, zur Bestimmung desExistenzminimums haben .
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Alle drei Gesetzesvorhaben, das jetzige und die ange-sprochenen, behandeln ja durchaus wichtige Punkte . Wirwollen ja, dass angesichts des steigenden Rentenein-trittsalters, angesichts der steigenden Lebenserwartunglängeres Arbeiten, gesundes Arbeiten möglich ist . Auchwir Grüne wollen, dass der Missbrauch von Leiharbeitverhindert wird . Und wir wollen ein menschenwürdigesExistenzminimum . Es sind also alles drei wichtige zu re-gelnde Bereiche . Aber in allen drei Bereichen lässt sichein Muster erkennen, nämlich dass die Große Koalitionsich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, in derSache so gut wie überhaupt nicht vorwärtskommt odersogar wie beim Leiharbeitsgesetz Rückschritte in Kaufnimmt und sogar jahrelangen Expertenrat wie bei derSicherung des Existenzminimums einfach in den Windschlägt .
Das ist das Muster der Großen Koalition, das ich sofürchterlich finde.
Damit schüren Sie – Herr Rosemann, hören Sie malzu, auch wenn es Ihnen nicht gefällt – in der Tat einegewisse Politikverdrossenheit und Verzweiflung bei denLeuten . Sie hängen ganz groß Ihre Titel raus: „Flexi-Ren-tengesetz“, „Wir regeln jetzt die Werkverträge“, aber inder Substanz passiert nichts .
Der entscheidende Punkt beim Flexi-Rentengesetzwäre, dass wir schauen, was mit denjenigen Leuten ist –ich sage es zum x-ten Male von hier aus –, die aus ge-sundheitlichen Gründen zwar nicht die Erwerbsminde-rungsrente beantragen können, aber einen abgefederten,zeitlich reduzierten Übergang in den Ruhestand brau-chen . Wir Grüne haben vorgeschlagen – das wird ja heutemit abgestimmt –: zum einen eine Teilrente ab 60, zumZweiten, dass wir einen früheren Rückkauf von Abschlä-gen auch vor dem 50 . Lebensjahr ermöglichen, und zumDritten, dass wir für die Gruppe der gesundheitlich be-sonders beeinträchtigten Beschäftigten nach Wegen su-chen, wie die Abschläge ausgeglichen werden können . –Wenn man das zusammen mit den zugegebenermaßenkorrekten Regelungen zu Prävention und Rehabilitationmacht, dann kann man eine größere Akzeptanz für länge-res Arbeiten bei den Beschäftigten erzeugen, bzw . dannerfahren diese, dass es reale Möglichkeiten gibt, faktischlänger zu arbeiten . Dann ist diese ganze Diskussion we-niger angstbesetzt .
Stattdessen merkt man diesem Gesetzentwurf an, dasser Resultat eines doppelten Koppelgeschäftes ist, zumeinen zur Gesichtswahrung des Wirtschaftsflügels derUnion, die mit der Rente mit 63 ja so unglücklich warund eigentlich im Sinn hatte, dass man jenseits der Re-gelaltersgrenze länger arbeiten sollte . Dazu macht dieserGesetzentwurf ja faktisch gar nichts . Da haben Sie esschon einmal billig verkauft . Und der zweite Teil ist dasArbeitnehmerüberlassungsgesetz, worüber wir hier in et-was mehr als einer Stunde beraten werden . Da haben Sieeinen Deal gemacht: Gibst du mir das, gebe ich dir das .
Und beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz kommtauch nichts raus . Übrigens: Die Anhörung – das kannich Ihnen sagen – war wesentlich verheerender als diezum Flexi-Rentengesetz . Meine Kollegin Beate Müller-Gemmeke wird nachher mit Ihnen noch hart ins Gerichtgehen . Ich kann allen nur empfehlen, sich das anzuhörenund anzusehen .
Ich möchte, wie gesagt, nicht in Abrede stellen, dassSie im Bereich Rehabilitation einiges tun . Beim gesam-ten Komplex Teilrente versagen Sie aber nicht nur mitBlick auf die Beschäftigten, die gesundheitlich beein-trächtigt sind . Eindeutig und im Grunde für Sie nieder-schmetternd, wie ich fand, war auch die Kritik an denAnrechnungsregelungen bei der Teilrente . Unser Sach-verständiger – das können Sie ja nicht ignorieren – hatgesagt, dass es Einkommensbereiche gibt, in denen sichdie Leute mit ihrer Regelung sogar schlechterstellen alsheute .
Der andere Punkt, den Matthias Birkwald hier ja auchschon genannt hat, ist, dass man jedes Jahr wieder sehrkompliziert neu berechnen muss und dass es im Ender-gebnis womöglich immer wieder Rückforderungen derRentenversicherungen an die Teilrentner gibt .
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rosemann?
Nein, danke, das möchte ich jetzt nicht . – Ich pro-gnostiziere, dass wir in zwei Jahren sehen werden, dasses kaum mehr Teilrentnerinnen und Teilrentner als heutegibt .Auch hier haben die Grünen sehr gute Vorschlägegemacht und gesagt: Die Summe aus Zuverdienst undTeilrente soll das frühere Gehalt nicht übersteigen . – Daswäre einfach gewesen; das kann sich jeder einfach aus-rechnen . Das ist zugänglich und niedrigschwellig . Die-sem Punkt hätten Sie eigentlich folgen müssen .Ich hoffe, wir haben in nicht allzu ferner Zukunft dieGelegenheit, die guten Ideen, die wir haben, auch Gesetzwerden zu lassen .Markus Kurth
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Danke schön .
Vielen Dank . – Der Kollege Dr . Rosemann hat jetzt
die Gelegenheit zu einer Kurzintervention .
Lieber Herr Kollege Kurth, ich finde es bemerkens-
wert, dass Sie keine Zwischenfrage zugelassen haben,
aber ich kann mir gut erklären, warum nicht . Sie haben
hier nämlich eine Rede gehalten, bei der es gar nicht um
das Flexi-Rentengesetz ging. Das zeigt, dass Sie offen-
sichtlich Schwierigkeiten hatten, Ihre sieben Minuten
Redezeit mit einer Kritik an dem Gesetzentwurf zu fül-
len .
Sie haben hier ein bisschen über die Anrechnungs-
regelungen bei Teilrenten gesprochen . Ich will Ihnen
einmal sagen: Die Sachverständige Dr . Schubert vom
Zentralverband des Deutschen Handwerks hat zur neuen
Anrechnungsregelung Folgendes gesagt:
Die Stufenlosigkeit der neuen Teilrente ist sehr viel
besser als die aktuelle Herangehensweise mit ein
Drittel, ein Halb und zwei Drittel Teilrente .
Das sagen die Sachverständigen, die sich mit der Praxis
in der Welt offensichtlich sehr viel besser auskennen als
Sie .
Ich will Ihnen auch noch einmal sagen: Selbst bei
Ihrem eigenen Sachverständigen haben Sie ein wenig
Probleme gehabt, herauszukitzeln, was die Kritik ei-
gentlich ist . Ihr eigener Sachverständiger hat von einer
Schlechterstellung nur in ganz wenigen extremen Fällen
gesprochen – übrigens, es gibt einen Bestandsschutz –, in
denen die Betroffenen sehr hohe Renten haben und bis-
her im Bereich der Hinzuverdienstspitzen verdienen . Er
hat wörtlich gesagt:
Im Ergebnis kann man sagen, dass dies vor allem
Versicherte betreffen wird, die eine überdurch-
schnittlich hohe Rente haben und die dann sehr eng
an den jetzigen Hinzuverdienst grenzend verdienen .
Das sind nur sehr wenige Fälle .
Insofern kann ich sagen: Die wenige Kritik, die Sie
hier vorgetragen haben, löst sich bei Lichte betrachtet
doch deutlich auf .
Herr Kollege Kurth, ich vermute, Sie wollen darauf
erwidern .
Mit Ihrer Genehmigung würde ich das gerne tun,
ja . – Herr Rosemann, Sie haben kritisiert, dass ich nicht
genug zur Flexirente gesprochen habe . Ich glaube, dass
es wichtig ist, hier in diesem Hause auch einmal nicht
nur Spiegelstriche zu referieren und aus Protokollen der
Anhörungen zu zitieren, sondern eine politische Debatte
zu führen, und zwar über, wie gesagt, alle drei Gesetzent-
würfe, die wir hier heute beraten, um das zu sezieren, was
dieses Land gefangen hält, nämlich den Blockadezustand
in der Großen Koalition und die Immobilität, die Sie in
der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nicht nur mit diesem
Gesetzentwurf, sondern insgesamt aufweisen . Das ist der
entscheidende Punkt .
Ich streite ja gar nicht ab, dass die jetzt vorgeschlage-
nen Zuverdienstregelungen natürlich besser sind als das,
was wir mit dem Dreistufenmodell jetzt haben .
– Ja, aber das Bessere ist der Feind des Guten, und das
Gute wäre der Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen
gewesen, den ich eben genannt habe, dass man nämlich
sagt: Die Summe aus Zuverdienst und Teilrente soll das
Frühere nicht übersteigen . Das wäre in der Tat noch bes-
ser gewesen; das habe ich hier auch gesagt .
Im Übrigen halte ich es für sinnvoll, dann, wenn man
schon zu großen Etiketten und Schildern wie Flexirente
greift, etwas in der Substanz zu liefern und nicht nur in-
krementale Veränderungen vorzunehmen .
Danke .
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Schmidt für
die SPD .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber HerrBirkwald, eigentlich bin ich von Ihnen eher seriöse Bei-träge gewohnt . Aber eines möchte ich als Allererstes klar-stellen: Frau Breymaier hat sich in ihrer Aussage nichtauf unser Flexi-Rentengesetz bezogen, sondern auf dieunsägliche Debatte der Verlängerung der Arbeitszeit über70 Jahre hinaus . Das möchte ich erst einmal festhalten .
Dinge aus dem Kontext zu reißen, ist an sich nicht IhreArt und kommt bei Ihnen normalerweise nicht vor .Zweitens . Ja, Sie haben recht: Dieses Gesetz löst nichtalle sozialen Probleme dieser Welt; das ist wahr . Wir ha-ben mit diesem Gesetz nicht vorgehabt, alles in einemAufwasch zu erledigen, wir haben nicht vorgehabt, alleFragen, die auf der Straße liegen, mit diesem Gesetz zubeantworten . Das ist richtig . Aber es stimmt eben nicht,dass die Schicksale der Menschen, die Sie uns geschil-dert haben, von diesem Gesetz nicht beeinflusst würden.Markus Kurth
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Ihre Ansicht scheint es zu sein, dass man so lange ar-beitet, bis die Gesundheit kaputt ist . Dann geht man inRente, egal, wann das ist . Unsere Sicht der Dinge ist: Wirwollen den Menschen darin unterstützen, gesund arbei-ten zu können, um möglichst lange im Erwerbsleben zubleiben und hinterher eine gute Rente zu bekommen . Dasist ein entscheidender Unterschied .
Mal ehrlich, da haben wir verdammt viel erreicht, mehrals das, was Sie als Opposition erwartet haben; das merktman an der heutigen Debatte .Zwei Punkte möchte ich ganz besonders hervorheben .Der erste Punkt ist die Kinder- und Jugendreha . HerrRosemann hat es schon gesagt: Das, was wir dort erreichthaben, hat der Sachverständige Herr Baumann, 33 Jahrein der Kinder- und Jugendreha tätig, als „wirklich histo-risch“ bezeichnet .
Aber nicht nur das hat er festgestellt . Wenn wir Ge-sundheit schützen möchten, statt Krankheit behandelnzu wollen, dann müssen wir damit früh anfangen . Wennwir Menschen starkmachen wollen, dann müssen wir beiden Kindern anfangen . Knapp 40 Prozent der Fälle vonErwerbsminderung bei Krankheit entspringt psychischenProblemen . Gerade in diesem Bereich ist die Kinder- undJugendreha besonders stark. Das ist eine Pflichtleistung.Es gibt die Möglichkeit zur Nachsorge . Die Reha darfambulant erbracht werden . Eine Begleitperson oder dieFamilie können mitkommen . Das ist ein richtig toller Er-folg
unter dem Gesichtspunkt, dass diese Menschen zukünftigbessere Voraussetzungen haben, gesund am Arbeitslebenteilzunehmen . Aber es ist eben vor allem auch ein tol-ler Erfolg unter dem Gesichtspunkt, dass diesen jungenMenschen gut und früh geholfen wird, ein selbstständi-ges und hoffentlich auch glückliches Leben zu führen.Der zweite Punkt, den ich herausheben möchte, istdie – so steht es im Gesetz – „freiwillige, individuelle,berufsbezogene Gesundheitsvorsorge“ . Wir nennen dasden Ü45-Check-up . Wir haben zunächst, auch wenn dieSachverständigen von der Idee so überzeugt waren, dasssie diesen Check-up gleich flächendeckend einführenwollten, Modellversuche verankert, weil dies wirklichein großes Projekt, ein Paradigmenwechsel ist .Wir kümmern uns eben nicht erst dann, wenn das Kindschon in den Brunnen gefallen ist, wenn also die Gesund-heit bereits geschädigt ist und das Arbeiten schwer odergar nicht mehr möglich ist . Das tun wir auch . Aber wirwollen möglichst verhindern, dass es so weit kommt,dass die Arbeit krankmacht, dass man EM-Rente bean-tragen muss, dass man Gefahr läuft, im Alter arm zu sein .
Deswegen stellen wir die Weichen schon für Menschenmit 45 Jahren neu .So viel positive Rückmeldung zu einem Gesetz – dassage ich noch einmal, Herr Kurth – haben wir selten ge-habt .
Vielleicht liegt es auch daran, dass es ein Fraktionsge-setz ist . Es lohnt sich aber auch, sich Zeit zu nehmen undausreichend lange zu beraten . Das haben wir getan . Wirhaben gerade im Bereich Prävention, Reha, Gesundheits-schutz mit diesem Gesetz einen wichtigen und großenersten Schritt getan . Ich verspreche aber, das Thema wirduns weiter begleiten .Glückauf!
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU .
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Der Kollege Kurth hatvorhin eine politische Bewertung verlangt. Ich finde, diepolitische Bewertung ist: Wir verabschieden heute einGesetz, bei dem – das gibt es selten – alle gewinnen . Esist ein Gewinnergesetz, und zwar für jeden in unserer Ge-sellschaft, vor allen Dingen für die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer .
Es war vielleicht früher etwas anders, aber heute istdie überwiegende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer nicht an starren Grenzen und Regeln inter-essiert, sondern daran, das eigene Leben und damit auchdas eigene Arbeitsleben selber zu regeln, also die Fragen,wann man aufhört, zu arbeiten, und ob man sein Arbeits-leben vielleicht langsam ausklingen lässt, selber zu be-antworten . Die Möglichkeit einer solchen Entscheidungin individueller Freiheit setzen wir heute in gesetzgebe-rischer Form um . Deswegen ist es ein großer Gewinn fürdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unseremLand, was wir an Flexibilisierung ins Rentenrecht neuhineinschreiben .
Es ist für mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen,schon bezeichnend, dass die Linke im Ausschuss mitNein gestimmt hat .
Dagmar Schmidt
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– Doch!
– Ihr habt euch auch enthalten .
Die Linke jedenfalls kritisiert dieses Gesetz sehr und willmit Enthaltung stimmen, weil sie nach alter DDR-Manier
lieber alles haarklein vorschreibt, anstatt individuelleFreiheit zu gewähren . Das ist der Punkt .
Ich mache Ihnen das an einem Beispiel deutlich .Der Daimler-Konzern fährt schon heute ein Senior-Ex-perts-Programm . Ein mittlerweile 70-jähriger Rentner,ehemaliger Facharbeiter, hat sich bereit erklärt, nocheinmal einzusteigen, und zwar für die Integration vonFlüchtlingen in die Ausbildungsgänge . Er macht dasnicht, weil er muss, sondern weil er Spaß und Freude da-ran hat, sich in der Flüchtlingsintegration noch einmalberuflich zu engagieren. Ich finde, es ist eine Unver-schämtheit, in einem solchen Fall von „Arbeiten bis zumUmfallen“ zu reden, wie es die Linke tut . Das ist eineBeleidigung für diesen Arbeitnehmer .
Der Daimler-Konzern muss in seinem Flyer, in demer über dieses Senior-Experts-Programm informiert – ichzeige ihn: er sieht so aus –, natürlich darauf hinweisen,dass derjenige, der zwischen 63 und 65 alt ist und in einesolche Sache einsteigen will, maximal 450 Euro hinzu-verdienen kann, weil ansonsten das Fallbeil der Renten-kürzung zum Tragen kommt . Da der Daimler-Konzernnicht ganz unvermögend ist, kann er in dem Fall sogaraushelfen, indem er einen pauschalen Rentenausfallzu-schuss gewährt; das kann nicht jeder .Meine sehr geehrten Damen und Herren, ab morgenkönnen solche Broschüren geändert werden . Wir schaf-fen das Fallbeil der automatischen Rentenkürzung ab .
Das ist ein großartiger Erfolg für die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in unserem Land .
Es ist schon dargestellt worden: Man kann auf jedenFall nach dem 63 . Lebensjahr 6 300 Euro im Jahr ohneAnrechnung hinzuverdienen . Von dem Hinzuverdienst,der darüber hinausgeht, kann man 60 Prozent behalten;40 Prozent werden auf die Rente angerechnet . So kannman das individuell gestalten .Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich finde esungeheuerlich, dass die Oppositionsfraktionen mit demSchreckwort „Spitzabrechnung“ den Leuten jetzt vordieser Regelung Angst machen .
Entschuldigung, wenn ich als Arbeitnehmer eine Teilren-te beziehe und weiß, dass ich Geld hinzuverdienen kann,dann interessiert mich sehr wohl, was exakt dabei heraus-kommt, und zwar möglichst für jedes Jahr . Was wir ma-chen, ist: Wir sorgen dafür, dass der Arbeitnehmer, der soetwas macht, also Teilrente bezieht und Teilzeit arbeitet,exakt weiß, was nach einem Jahr dabei herauskommt .Das ist Transparenz, die notwendig ist, die auch richtigist und die ich nicht als „Spitzabrechnung“ diffamierenwürde .
Die Redner der Koalitionsfraktionen sind zum Teilauf einen Vorschlag aus der Anhörung eingegangen, mitdem wir uns über Monate auseinandergesetzt haben, undhaben gefordert, das anders zu regeln . Ich will Ihnen ein-mal sagen, was die andere Regelung, die Alternative, be-deuten würde . Dann würde es die Spitzabrechnung nichtgeben, und es würde nach Renteneintritt 26 Jahre dauern,bis das ausgeglichen ist, was eventuell zu viel oder zuwenig verdient worden ist . Meine sehr geehrten Damenund Herren, derjenige, der sich exakt an die Regeln ge-halten hat und bei dem nichts auszugleichen ist, wird sichherzlich dafür bedanken, dass es Kollegen gibt, die einbisschen getrickst haben – in Anführungsstrichen – unddas über 26 Jahre ausgeglichen bekommen . Entschuldi-gung, aber die Kampagne der Bild-Zeitung gegen einesolche Regelung möchte ich nicht erleben . Was wir ma-chen, ist gerecht, ist transparent, ist das, was, wie ichglaube, die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer haben wollen . Die Alternative ist schlichtweg einUngetüm . Deswegen haben wir sie abgelehnt .
Entschuldigung, Herr Kurth, ich verstehe auch dieWelt der Grünen nicht mehr . Gerade Ihr Parteiprogrammist doch geprägt von der Forderung nach mehr individu-eller Freiheit und mehr Gestaltungsmöglichkeiten .
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Dass die Grünen einen Gesetzentwurf, der genau das er-möglicht, ablehnen, verstehe ich nicht . Das ist im Grun-de genommen ein Attentat auf euer eigenes Parteipro-gramm, Entschuldigung .
Es ist doch so – das ist in Ihrer Rede deutlich geworden;auch der Kollege Rosemann hat das angesprochen –, dassSie verzweifelt nach einem Haar in der Suppe suchen,das dort aber gar nicht zu finden ist, um nachher mit Ent-haltung stimmen zu können .
Ich finde, es ist beschämend, dass die Grünen sich nichteinmal dazu durchringen können, zu sagen, dass wir ge-nau das machen, was Grundtenor des Parteiprogrammsder Grünen ist .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn manden Übergang aus dem Arbeitsleben in die Rente flexi-bel gestalten möchte und die Möglichkeit schaffen will,dass man sich auch nach Eintritt in die Rente entschei-den kann, vielleicht noch einmal für ein paar Monate insErwerbsleben einzutreten, um zum Beispiel wie der vonmir erwähnte Daimler-Mitarbeiter bei der Flüchtlings-integration zu helfen, dann kommt es natürlich im We-sentlichen darauf an, dass man gesund ist und Spaß ander Arbeit hat . Deswegen – das möchte ich noch einmalbetonen – stärken wir mit diesem Gesetz die Präventionund die Rehabilitation . Wir erlauben der Rentenversiche-rung, früher und stärker im Bereich der Prävention tätigzu werden .Außerdem wenden wir uns der zukünftigen Arbeit-nehmerschaft zu, also den jungen Menschen, die die Zu-kunft unseres Landes sind, indem wir die Kinder- und Ju-gendreha zu einer Pflichtleistung machen. Ich darf Ihnensagen: Ich persönlich war als kleines Kind gesundheitlichschwächlich, habe sieben Lungenentzündungen gehabt .Man hat mich zu einer Kinderkur nach Bad Dürrheim imSchwarzwald geschickt . Ich muss sagen: Seither habe ichnie mehr eine Lungenentzündung gehabt und bin bis zumheutigen Tage ein relativ gesunder Mensch . Das zeigt,Kinder- und Jugendreha ist manchmal notwendig undwichtig, um jemanden für die Zukunft, für sein Arbeits-leben gesundheitlich zu stärken und zu schützen . Dasswir der Kinder- und Jugendreha im vorliegenden Ge-setzentwurf diesen Stellenwert geben, ist ein großartigerFortschritt, der jeden zur Zustimmung veranlassen sollte .Vielen Dank .
Der Kollege Ralf Kapschack spricht jetzt für die SPD .
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Markus Kurth hatzu Recht gefordert, dass wir eine politische Diskussionführen und keine Spiegelstrichdiskussion . Damit bin ichsehr einverstanden; aber das Leben ist konkret, und des-halb muss man auch über Spiegelstriche reden .
Auch wenn die Opposition es anders sieht: Wir un-ternehmen heute einen großen Schritt – einen großenSchritt, damit Frauen und Männer besser selbst bestim-men können, wie sie in Rente gehen und wann sie in Ren-te gehen . Das Hauptproblem ist ja nach wie vor nicht,dass es rechtliche Hindernisse gibt, wenn Menschen län-ger als bis zum 65 . Lebensjahr arbeiten wollen,
sondern das Hauptproblem ist, dass nach wie vor viele,zu viele vor dem gesetzlichen Rentenalter aus dem Berufausscheiden oder nur mit ganz großer Mühe bis zum letz-ten Tag durchhalten .
Wir brauchen flexible Lösungen für individuelle Le-benssituationen. Dieses Gesetz schafft Voraussetzungendafür . Es ist ein Riesenschritt in die richtige Richtung;denn zum ersten Mal werden Prävention und Rente wirk-lich zusammengedacht .
Dabei ist die Erkenntnis, dass, wer gesund ist, länger ar-beiten kann, doch gar nicht so originell .Dies ist ein gutes Gesetz; aber es bleibt noch einigeszu tun . Wir hätten gerne die Idee des Arbeitssicherungs-geldes bereits jetzt umgesetzt – Arbeitssicherungsgeld,um den Arbeitsplatz und die Arbeitsfähigkeit zu erhaltenund um Arbeitslosigkeit zu vermeiden . Wer gesundheitli-che Beeinträchtigungen hat, könnte in Teilzeit gehen stattin Arbeitslosigkeit . Die entstehenden Lohneinbußen sol-len durch das Arbeitssicherungsgeld ausgeglichen wer-den. Auch hier gilt: Es ist besser, Arbeit zu finanzierenals Arbeitslosigkeit .
Immerhin haben wir uns darauf verständigt, dass daskonkrete Konzept zur Umsetzung eines Arbeitssiche-rungsgeldes jetzt geprüft wird .Peter Weiß
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Noch eines, um es deutlich zu sagen: Wir halten esnach wie vor für sinnvoll, über eine Teilrente bereits ab60 nachzudenken . Eine Teilrente ab 60 könnte aus unse-rer Sicht einen noch besseren Beitrag dazu leisten, dieunterschiedliche Belastung von älteren Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern und die unterschiedlichen Be-dingungen in den Betrieben unter einen Hut zu bringen .Teilrente ab 60 ist eben kein Programm zum Ausstieg ausdem Berufsleben . Ganz im Gegenteil: Sie könnte eineAntwort auf die Frage sein, wie Menschen länger in denBetrieben beschäftigt bleiben können .
Wenn man die zeitlichen Spielräume vergrößert, vergrö-ßert man auch die Chance, dass Männer und Frauen ihreArbeitszeit und ihre Arbeitsbelastung so anpassen kön-nen, dass sie die Regelaltersgrenze erreichen . Geradeweil landauf und landab über Fachkräftemangel geklagtwird, wundere ich mich schon über den heftigen Wider-stand bei Teilen unseres Koalitionspartners .Unter dem Strich ist es ein guter Gesetzentwurf . Trotz-dem heißt es: Weitermachen!Vielen Dank .
Zum Abschluss dieser Beratungen hat die Kollegin
Dr . Astrid Freudenstein für die CDU/CSU das Wort .
Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Ein Thema, das alle westlichen Indus-trienationen gleichermaßen beschäftigt, dreht sich umdie Frage, wie wir damit umgehen, dass wir alle immerälter werden, dass immer mehr Leben jenseits der Regel-altersgrenze bleibt und dass es immer weniger Junge undimmer mehr Alte gibt . Daran ist nicht diese Regierungschuld und auch nicht die vorherige; das sind europawei-te Phänomene . Wir hatten nie den Anspruch, mit diesemeinen Flexi-Rentengesetz all diese Probleme zu lösen .Wir drehen an einer Stellschraube, und an dieser Stellewird unser Rentensystem auch tatsächlich besser .
Wir müssen darauf reagieren, dass immer mehr Men-schen länger arbeitsfähig und auch länger arbeitswilligsind . Wir müssen darauf reagieren, dass immer mehrMenschen sich mit 65 oder 67 noch zu jung fühlen, umin den Ruhestand zu gehen .
Wir müssen auch darauf reagieren, dass es Unternehmenmitunter schwer haben, genug geeigneten Nachwuchs zufinden.Wir haben in dieser Großen Koalition schon einigesunternommen . Mit einem Rentenpaket zu Beginn derLegislaturperiode haben wir bereits Verbesserungenfür Millionen Versicherte erreicht . Herr Kollege Kurth,Immobilität bzw . Unbeweglichkeit in der Rentenpolitikkann man dieser Großen Koalition weiß Gott nicht vor-werfen .
Ich darf Sie daran erinnern: Wir haben eine bessereAbsicherung für Erwerbsgeminderte und eine Anhebungdes Rehabudgets, angepasst an die demografische Ent-wicklung, erreicht, und wir haben mit der sogenanntenabschlagsfreien Rente mit 63 für eine bessere Anerken-nung der Leistungen derjenigen gesorgt, die durch ihresehr langen Beitragszeiten einen großen Anteil daran ha-ben, dass die Rentenversicherung solide dasteht . Und wirhaben – auch dies ist ein Verdienst dieser Koalition – mitder Mütterrente eine Gerechtigkeitslücke bei der Aner-kennung von Erziehungszeiten geschlossen . Die Leis-tung von Frauen, die Kinder großgezogen haben, wirdseitdem besser anerkannt . Gerade diese Frauen hatten esdurch unterbrochene Erwerbsbiografien schwer, zu einerauskömmlichen Rente zu kommen .All diese Verbesserungen haben unser Rentensystemschon gerechter gemacht . Jetzt folgt also die Flexiren-te . Wir machen die Teilrenten viel einfacher und anwen-dungsfreundlicher . Die Teilrente und der Hinzuverdienstwerden flexibel und individuell miteinander kombinier-bar . Der Hinzuverdienst wird in einer Jahresbetrachtungstufenlos bei der Rente berücksichtigt, auch bei der we-gen verminderter Erwerbsfähigkeit . Damit machen wirdieses Modell deutlich interessanter und vergrößern dieWahlfreiheit und damit die Freiheit des Einzelnen . Wirgeben individuell dem Versicherten mehr Freiheit . Dage-gen kann man eigentlich nichts haben .Darüber hinaus möchten wir auch die Wahlfreiheit de-rer vergrößern, die bereits in Rente sind, sowohl bei dervorgezogenen Altersrente als auch nach der Regelalters-grenze . Das bedeutet zum einen: Wer eine vorgezogenevolle Rente bezieht und weiterarbeitet, erhöht dabei auchkünftig seinen Rentenanspruch . Zum anderen bedeutetdas, dass wir nun ermöglichen, auch nach Erreichen derRegelaltersgrenze auf die Versicherungsfreiheit zu ver-zichten . Wir setzen also starke Impulse, weiterzuarbei-ten . Denn nur dann, wenn sich das Weiterarbeiten lohnt,wird es auch eine echte Option .Als Kulturpolitikerin, die ich auch bin, freue ich michübrigens darüber, dass diejenigen, die über die Künst-lersozialversicherung versichert sind, auch künftig dieMöglichkeit haben, nach der Regelaltersgrenze weitereEntgeltpunkte zu sammeln . Das kann dem einen oder an-deren weiterhelfen; denn in diesen Branchen fallen dieRenten ohnehin nicht besonders üppig aus .Sie sehen: Wir stellen im vorliegenden Gesetzentwurfden einzelnen Versicherten noch mehr in den MittelpunktRalf Kapschack
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als bisher . Er bekommt mehr Flexibilität und mehr Frei-heit bei der Planung seines Ruhestands bzw . beim Planenseines Übergangs in den Ruhestand .
Das hilft allen, auch denen, die in Zeiten des hohen Fach-kräftebedarfs vielleicht gerade die älteren Arbeitnehmerbrauchen, um das Unternehmen am Laufen zu halten .Meine Damen, meine Herren, schon jetzt ist jedersiebte Rentner in Deutschland erwerbstätig – aus unter-schiedlichen Gründen . Manche arbeiten auch wirklichdeswegen, weil sie noch arbeiten wollen . Mit der Flexi-rente können Rentner erwerbstätig bleiben, freiwilligBeiträge einzahlen und mehr Rente beziehen . Arbeitge-ber müssen für ihren Flexirentner keine Beiträge mehr indie Arbeitslosenversicherung zahlen .Das heißt: Die Flexirente macht unser Rentensystemmoderner, individueller, generationengerechter . Sie hilftden Arbeitgebern, sie hilft den Arbeitnehmern, sie hilftden Alten, und sie hilft den Jungen . Deshalb ist das Ge-setz, das wir heute verabschieden werden, ein gutes Ge-setz .Herzlichen Dank .
Damit schließe ich die Aussprache .Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den vonden Fraktionen von CDU/CSU und SPD eingebrachtenGesetzentwurf zur Flexibilisierung des Übergangs vomErwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung vonPrävention und Rehabilitation im Erwerbsleben .Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 18/10065, den Gesetzentwurf der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9787 anzuneh-men . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen .Wir kommen jetzt zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist damit angenommen mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen .
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 10 b . Wir setzendabei die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungendes Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksa-che 18/10065 fort .Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 18/3312 mit dem Titel„Statt Rente erst ab 67 – Altersgerechte Übergänge in dieRente für alle Versicherten erleichtern“ . Wer für dieseBeschlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitteich um ein Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit an-genommen mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke .Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 18/5212
mit dem Titel „Flexible und sichere Rentenübergänge er-möglichen“ .
Wer für diese Beschlussempfehlung des Ausschussesstimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/DieGrünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke .Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 18/5213 mit dem Titel „Kommunales Ehrenamtstärken – Anrechnung von Aufwandsentschädigungenauf die Rente neu ordnen“ . Wer für die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses stimmt, den bitte ich um einHandzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Die Beschlussempfehlung ist damit angenommenmit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen dieStimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung derFraktion Die Linke . Damit können wir diesen Tagesord-nungspunkt verlassen .Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenKlaus Ernst, Matthias W . Birkwald, SusannaKarawanskij, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEManagergehälter beschränkenDrucksache 18/9838Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Federführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – WiderspruchDr. Astrid Freudenstein
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ist nicht erkennbar . Dann ist diese Redezeit so beschlos-sen .Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Katja Kipping für die Fraktion DieLinke das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lin-ke möchte Ihnen heute einen Vorschlag unterbreiten:Zukünftig sollen die Gesamtbezüge einer Führungskraftnicht mehr als das 20-Fache der untersten Gehaltsgruppeim gleichen Unternehmen betragen dürfen . Kurzum: Wirwollen Managerbezüge begrenzen . Wir wollen eine Ver-gütungsobergrenze .
Wenn also ein Manager mit 1 Million Euro am Endedes Jahres nach Hause gehen will, dann muss die Rei-nigungskraft oder der Pförtner in diesem Unternehmenwenigstens ein Zwanzigstel davon bekommen, sprich50 000 Euro . Schließlich sind es die Beschäftigten, diedie Gewinne miterwirtschaften . Ich meine: Wer die un-teren und mittleren Gehaltsgruppen nicht ordentlichbezahlen kann, der hat auch keine Millionenvergütungverdient .
Um eines klarzustellen: Es geht uns nicht um einenEinheitslohn; es soll natürlich eine Staffelung der Gehäl-ter geben . Wer mehr Risiko in Kauf nimmt, kann auchmit einer höheren Vergütung rechnen . Jedoch müssenEinsatz und Entlohnung noch irgendwie in einem Ver-hältnis stehen . Das Verhältnis ist doch hierzulande kom-plett aus den Fugen geraten .
Die Vorstände der DAX-Unternehmen verdienen 57-malso viel wie ein einzelner Beschäftigter mit durchschnittli-chem Einkommen . Natürlich verdienen sie nicht so viel,sondern sie bekommen nur so viel .
Das kann man doch nicht mehr mit Leistung erklären .Schauen wir uns einmal ganz konkret die Gesund-heitsbranche an . Der Vorstand eines privaten Kranken-auskonzerns erhält im Jahr 4,4 Millionen Euro . Das istmehr als das 200-Fache dessen, was ein Krankenpflegerbekommt, wenn er denn Tariflohn bekommt. Die Frageist doch: Leistet ein einzelnes Vorstandsmitglied tatsäch-lich mehr als das 200-Fache eines Krankenpflegers odereiner Krankenschwester, der bzw . die Nachtschichtenmacht und auch am Wochenende im Einsatz ist?Es kann ja sein, dass Ihnen diese Fragen unbequemsind . Aber die Politik muss sich diesen Fragen stellen .
Denn immer mehr Menschen in diesem Land haben dasGefühl, dass die Mitte und die oberen Führungsetagenmit zweierlei Maß gemessen werden . Menschen, die we-nig bis nichts haben, werden schon bei kleinsten Fehlernzur Kasse gebeten oder sind im Fall einer Pechsträhneganz schnell von Armut bedroht . Einem Hartz-IV-Bezie-henden, der seine Betriebskostenrückzahlung nur einigeMonate zu spät meldet, droht schnell ein Bußgeld . EinemKleinstunternehmer droht im Fall einer Auftragslücke –vielleicht witterungsbedingt – sehr schnell die Insolvenz,ohne dass der Staat einspringt . Aber in den oberen Füh-rungsetagen gelten offensichtlich andere Regeln. Da gibtes extrem hohe Vergütungen, ohne dass man persönlichVerantwortung übernehmen muss für die Fehler, die manmit verursacht .Schauen wir uns nur einmal die Investmentbanker an .Auch die BaFin, die Finanzaufsichtsbehörde, hat bereitsdie hohen Boni bei Investmentbankern kritisiert, und daszu Recht .
Nehmen wir nur einmal die Deutsche Bank . Die musssich nicht nur wegen mutmaßlicher Beteiligung an ver-schiedenen kriminellen Machenschaften wie Steuerbe-trug oder Geldwäsche vor Gerichten verantworten, siebefindet sich auch tief im Minus. Und es wird schon da-rüber spekuliert, ob nun wieder der Staat aushelfen muss .Dabei hatte diese Bank in den vergangenen Jahren Ge-winne . Aber was ist mit diesen Gewinnen passiert? Diesind vorrangig in Form von Boni an Investmentbankerausgeschüttet worden . Ich meine, es ist nicht hinnehm-bar, dass diejenigen, die die größten Schäden anrichten,die höchsten Vergütungen bekommen, aber für die Fol-gen der Schäden allein die Beschäftigten oder die öffent-liche Hand aufkommen müssen .
Meine Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen denVorschlag einer Vergütungsobergrenze auch vor demHintergrund einer großen Einkommensungleichheit hier-zulande . Auf der einen Seite gibt es extreme Armut undauf der anderen Seite extremen Reichtum .
Einst glaubten viele an den Fahrstuhleffekt des Kapitalis-mus, wonach alle Schichten in der Gesellschaft als Ganzekontinuierlich nach oben befördert werden, es also nachund nach allen besser geht .
Inzwischen – das zeigen verschiedene Studien wie derWSI-Verteilungsbericht – fährt der Fahrstuhl für die Mit-te eher nach unten als nach oben . Für die Mittelschich-ten ist es inzwischen wahrscheinlicher, abzusteigen alsaufzusteigen . Viele befürchten, dass es ihren Kindernschlechter geht .Ich finde, meine Kollegen von der SPD, da gibt esüberhaupt nichts zu lachen . Das ist ein ernstes Problem .Dem müssen wir uns stellen .
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Wenn dieses Land für immer mehr Menschen zu einerAbstiegsgesellschaft wird, dann dürfen wir uns damitnicht zufriedengeben . Die gute Nachricht ist: Es gibtAlternativen zu dieser Entwicklung . Mehr Einkommens-gerechtigkeit ist möglich . Die Vergütungsobergrenze, diewir als Linke hier vorschlagen, ist ein Instrument dafür .
Ja, wir als Linke sagen auch: Was dieses Land braucht,ist ein grundlegender Kurswechsel . Armut beseitigen, dieMitte besserstellen, Reichtum begrenzen – das ist dasGebot der Stunde . Dafür kämpfen wir als Linke mit allerEntschiedenheit .Vielen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Professor
Dr . Heribert Hirte .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kipping, ich dachte eigentlich, wir reden hier überIhren Antrag . Ich habe ihn mir angesehen . Aber das,was Sie gesagt haben, hatte mit dem Antrag nur sehrwenig zu tun . Das beginnt damit, dass ich beim bestenWillen nicht erkennen kann, wie das, was in der Be-gründung des Antrags steht – ich habe ihn vorsorglichmitgebracht –, mit dem, was Sie daraus schlussfolgernwollen, zusammenhängt . Was Sie hier erzählt haben, istallgemeines Blabla .
– Nein, es ist allgemeines Blabla gewesen . – Das ist ei-gentlich kein Ansatz für eine Diskussion . Ich will des-halb jetzt über Ihren Antrag reden .
– Ja, Sie können gespannt sein .Fangen wir einmal hinten an . Da gibt es vier Zeilen, indenen steht, was Sie eigentlich wollen . Sie fordern, „diegesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen“. Da fra-ge ich mich: Warum legen Sie hier keinen Gesetzentwurfvor?
Das wäre doch dann die Aufgabe von Ihnen . Bringen Sieeinmal das, was Sie wollen, in Worte, und dann könnenwir darüber richtig beraten .
– Schön, wunderbar . Das ist der nächste Punkt . Hier heißtes zu dem, was Sie wollen:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf,
die gesetzlichen Voraussetzungen … zu schaffen …Ich hatte eigentlich gedacht, wir als Parlament machtendie Gesetze . In Ihrer Vorstellung ist das die Bundesre-gierung .
Das ist doch altes DDR-Sprech, das ist doch vorbei . Gottsei Dank ist es vorbei .
Dann gehen Sie weiter und fordern „das Zwanzigfa-che“ . Das haben Sie eben dargestellt . Ich habe mich ge-fragt: Warum nicht das Zehnfache? Sie haben wenigstensnicht gesagt, Manager sollten dasselbe wie die untersteLohngruppe erhalten . Okay, dasselbe wollen Sie alsonicht, aber warum nicht das Zweifache, das Dreifacheoder das Vierfache? Alles das begründen Sie nicht .
– Ich komme jetzt gleich zu den Dingen, die Sie eigent-lich hätten vorstellen können, die Sie aber nicht vorge-stellt haben .Jetzt gehen wir einmal in die Begründung Ihres An-trags rein . Da geht es um alles Mögliche, aber nicht umdas, was die Schlussfolgerung ist . Es geht nämlich ei-gentlich nur um Volkswagen . In der Tat, die Lage beiVolkswagen ist nicht gut; denn neben den eigentlichenAbgasskandal, über den wir in den verschiedensten Aus-schüssen immer wieder geredet haben und bei dem wirim Augenblick noch nicht einmal genau sagen können,wo die Verantwortlichkeiten liegen, ist inzwischen auchdie Frage getreten, ob die entsprechenden Informationenrechtzeitig in den Kapitalmarkt gegeben wurden . DieFehler aus beiden Verhaltensweisen führen zu Risikenfür Volkswagen in Milliardenhöhe . Da stimme ich Ih-nen, was den Ausgangspunkt anbelangt, zu . Es stellt sichnatürlich die Frage, welche Auswirkungen das auf dieVorstandsvergütungen hat . Man muss sich also fragen:Ist die Vorstandsvergütung – das schreiben Sie selbst inIhrem Antrag – dann auch noch angemessen?Es ist nur so: Um dem entgegenzusteuern, haben wirschon in der letzten Legislaturperiode mit dem Gesetzzur Angemessenheit der Vorstandsvergütung im Jahr2009 Abhilfe geschaffen. Ich kann dazu aus Ihrem An-trag zitieren:Ziel des Gesetzentwurfs ist es, die Anreize in derVergütungsstruktur für Vorstandsmitglieder in Rich-tung einer nachhaltigen und auf Langfristigkeitausgerichteten Unternehmensführung zu stärken .Zugleich sollen die Verantwortlichkeit des Auf-Katja Kipping
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sichtsrats für die Ausgestaltung der Vorstandsver-gütung gestärkt und konkretisiert werden sowiedie Transparenz der Vorstandsvergütung verbessertwerden .Genau das haben wir gemacht . Und jetzt betone ich:Bei der Festlegung der Vergütung ist dem seither auchbei negativen Entwicklungen Rechnung zu tragen . Es istdarauf zu achten, dass die Vergütung des Vorstands dementspricht . Das, was Sie wollen, steht heute schon im Ge-setz . Wenn aber das Gesetz – ein gutes Gesetz – nichtbeachtet wurde, dann ist es an den bei VW Verantwortli-chen und nicht an uns, das durchzusetzen .Diese Verantwortung liegt beim Gesamtaufsichtsrat,beim Plenum des Aufsichtsrats von Volkswagen . Dashaben wir 2009 auch so klargestellt: Handelt der Auf-sichtsrat nicht, stehen den Aktionären alle möglichenRechtsbehelfe zur Verfügung, um ein Nichthandeln einerKontrolle zuzuführen . Da gilt es also, abzuwarten . Undes gibt da, anders als Sie sagen, kein Grund für ein Ein-schreiten des Gesetzgebers .Dass das Gesetz greift, schreiben Sie selbst in IhremAntrag . Wir haben damals ein Vergütungsvotum bzw .eine Mitsprachemöglichkeit der Aktionäre in der Haupt-versammlung eingeführt . Sie schreiben in Ihrem Antrag:Die Kritik an Vorstandsvergütungen wurde jüngstzwar selbst von Aktionären der tief im Minus be-findlichen und wegen krimineller Handlungen vonGerichtsprozessen überzogenen Deutschen Bankgestützt, indem sie– die Aktionäre –das neue Vergütungssystem für den Vorstand abge-lehnt haben .Das ist genau das, was wir wollten, als wir diese Re-gelung eingeführt haben, und was sich jetzt durchsetzt .Wunderbar! Aber Sie kritisieren, dass es nicht da sei . Siesollten sich einmal das Gesetz ansehen .Wir haben mit dem Gesetz im Übrigen auch den hof-fentlich nicht eintretenden Fall im Auge, dass sich dieLage einer Aktiengesellschaft wirtschaftlich verschlech-tert. Dafür haben wir Vorsorge getroffen. Dann nämlichsoll der Aufsichtsrat eine einseitige Entscheidung überdie Kürzung der Vorstandsbezüge treffen. Auch hier ha-ben wir eine klare Regel, die von uns geschaffen wurdeund mit der das von Ihnen geschilderte Problem schonseit Langem gelöst werden kann .Wenn wir jetzt aber einmal unterstellen, dass die Re-geln nicht funktionieren, dann müssen wir über neueReformen nachdenken . Dazu zitiere ich einmal aus demKoalitionsvertrag:Um Transparenz bei der Feststellung von Mana-gergehältern herzustellen, wird über die Vorstands-vergütung künftig die Hauptversammlung auf Vor-schlag des Aufsichtsrates entscheiden .Jetzt schaue ich noch einmal in Ihren Antrag . Da kriti-sieren Sie nämlich – das ist der Satz, der sich an das, wasich eben vorgelesen habe, anschließt – Folgendes:Der Vorstand ist an solche Stimmungsäußerungen– der Aktionäre –jedoch rechtlich nicht gebunden .Genau das wollen wir einführen . Ich schaue zu denVertretern des Justizministeriums hinüber . Die werdenuns mit Sicherheit bald einen entsprechenden Gesetzes-vorschlag vorlegen, damit wir genau das beschließenkönnen, dass nämlich die Aktionäre als die eigentlichenVerantwortlichen bzw . Inhaber der Gesellschaft auchüber die Zahlung der Vorstandsvergütungen zu entschei-den haben .
Deshalb bin ich gespannt, ob und wann das kommt . Wirwerden reagieren, wenn es da Defizite gibt.Wenn Sie dann in Ihrem Antrag weiter schreiben, dassdie unvorstellbar hohen Zahlungen von den Aktionärennicht grundsätzlich infrage gestellt wurden, ist das na-türlich widersprüchlich . Denn natürlich dürfen die Akti-onäre mit ihrem Geld machen, was sie wollen . Allerdingsgeht das nur – und das ist das kleine Körnchen Wahrheitin Ihrem Antrag –, solange es nicht zulasten Dritter geht,zu denen die Gläubiger und auch die Arbeitnehmer ge-hören . Dann müsste der Fall eingetreten sein, dass dieFirma kurz vor der Pleite steht . An diesem Punkt stehenwir aber nicht . Natürlich muss man über die Frage nach-denken, ob eine Aktionärsmehrheit allein ein solchesVergütungsvotum abgeben kann oder ob wir da nichtvielleicht auch noch in irgendeiner Weise die Minderheitmiteinbeziehen müssen .Ich komme noch einmal auf Ihren Antrag zurück . Siehaben ja mittelbar gesagt, dass Sie in Wirklichkeit etwasganz anderes erreichen wollen . Sie wollen indirekt diegeringste Lohnstufe nach oben hinziehen, um sozusagendie Spreizung aufzuheben . Aber nicht einmal das würdefunktionieren; denn die einfache Reaktion wäre, andereKonzernstrukturen zu schaffen und die Arbeitnehmeranschließend in unterschiedlichen Gesellschaften auszu-gliedern . Das bedeutet zusammengefasst: Nicht einmalIhre eigene Klientel würde von diesem Antrag profitie-ren . Auf gut Deutsch: Ein untauglicher Versuch!
Insofern ist eines klar: Wir werden Ihren Antrag ab-lehnen und wollen einmal sehen, wie die Diskussion wei-tergeht .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Dr . ThomasGambke für Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuschauer auf den Rängen und außer-Dr. Heribert Hirte
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halb des Plenarsaals! Das Thema der hohen Managerge-hälter treibt uns um – gar keine Frage . Wenn man sicheinzelne Medienberichte – leider gibt es nicht so vie-le – oder die Studie der Hans-Böckler-Stiftung über dasAnwachsen der Managergehälter im Vergleich zu dendurchschnittlichen Löhnen ansieht, dann muss man sa-gen: Das ist ein Thema, das man auf keinen Fall nur aufVolkswagen oder andere Unternehmen begrenzen darf,und schon gar nicht auf Fälle, wo es möglicherweisesogar um strafrechtlich relevante Bezüge geht, die manprüfen muss .Richtig ist, dass wir gerade im Bankenbereich vieleHinweise darauf haben, dass die dort gezahlten Gehälterund vor allem die Boni in keinem Verhältnis zur erbrach-ten Leistung stehen, wobei diese Bewertung ja immersehr schwierig ist . Der liebe Gott hat uns nicht gesagt, obdas Verhältnis 1 : 20, 1 : 40 oder 1 : 50 sein soll .
Ich habe 25 Jahre in einem Unternehmen gearbeitet, indem dieses Verhältnis vom Stifter des Unternehmensauf 1 : 10 begrenzt war – übrigens ein sehr erfolgreichesUnternehmen . Das ist mit Sicherheit nicht die Messlatte .Aber falsch ist es, dass der Gesetzgeber so etwas vor-schreibt .
Mich hat ein bisschen schockiert, dass Sie so lapidarsagten: Es müssen gesetzliche Rahmen für Gehälter ge-schaffen werden. – Bei uns herrscht doch Vertragsfrei-heit . Ich brauche das alles gar nicht auseinanderzukla-müsern . Den Ansatz, den Sie gewählt haben, kann maneigentlich nicht diskutieren .
Wir sollten aber darüber reden, was man machenkann . Wir Grüne haben den Vorschlag gemacht, ob sehrhohe Boni bzw . Gehälter vom Gesetzgeber eigentlich imSinne eines vernünftigen Aufwands anerkannt werdensollten . Der Gesetzgeber schaut sich zum Beispiel sehrgenau an, ob über Verrechnungspreise Unternehmens-gewinne von Deutschland in Niedrigsteuerländer verla-gert werden, und greift ein . Das ist zum Beispiel dannder Fall, wenn über eine sogenannte Lizenzbox Gewin-ne in andere Länder verschoben werden . Da müssen wirsteuerlich eingreifen . Insofern ist der Vorschlag, den wirgemacht haben, dass man Managerboni und -gehälter nurbis zu einer bestimmten Grenze steuerlich geltend ma-chen kann, eine Möglichkeit, wie der Gesetzgeber ein-greifen kann . Ich glaube, wir sollten uns diesem Themanoch einmal sehr genau widmen .
Ein anderer Punkt betrifft die Familienunternehmen.Da schaue ich in die Richtung der Union und frage mich,warum von Ihnen kein Impuls kommt; denn wir reden javom sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft .
Von Ihnen wird immer das Hohelied der Familienunter-nehmer gesungen . Mit Recht! Denn der Familienunter-nehmer schaut eben nicht auf das kurzfristige, sondernauf das langfristige Ergebnis . Es wird in diesem Zusam-menhang immer die nächste Generation zitiert . Boni ori-entieren sich aber nur an einer relativ kurzfristigen Ent-wicklung .
Wieder ein Beispiel aus meiner Vergangenheit: Wenn dasJahresergebnis gut war, habe ich als Manager ein gutesGehalt bekommen, und wenn es schlecht war, war esnicht so gut . Das ist in Ordnung . Aber es wurde nichtgefragt: Wie nachhaltig waren denn die Entscheidungen,die ich in diesem Jahr getroffen habe?Wie sieht das denn heute zehn Jahre nach dem Aus-scheiden aus? Ich bin sehr froh, dass ich wahrscheinlichimmer noch meine Boni verdienen würde, weil es demUnternehmen sehr gut geht . Das ist doch die entschei-dende Frage . Man könnte beispielsweise Boni im Sinneeiner Einbettung in eine betriebliche Rente für einen lan-gen Zeitraum wirksam werden lassen und auch mit demErfolg des Unternehmens atmen lassen . Das wäre eineSache, die wir uns vornehmen sollten .
Lassen Sie mich aber noch einmal ganz deutlich da-rauf hinweisen: Die Frage „Ist die Verteilung von Gehäl-tern, von Einkünften vernünftig und richtig?“ ist nichtdurch Begrenzungen, sondern am besten dadurch zubeantworten, dass wir Chancengleichheit und Bildungfördern, dass wir aktiv dazu beitragen, dass es nicht nuroben Begrenzungen gibt, sondern dass auch unten dieMöglichkeit besteht, gutes Geld zu verdienen .Wir sind hier in Deutschland an einer entscheidendenSchwelle . Wir müssen uns nämlich fragen, ob der Weg indie Konsumgesellschaft, den zum Teil die Engländer undAmerikaner gegangen sind, richtig ist . Wir in Deutsch-land sind die Macher geblieben, die Facharbeiter, die gu-tes Geld verdienen . In dieser Richtung sollten wir weitergehen . Das sage ich in Ihre Richtung: Die Kluft zwischenniedrigen und hohen Gehältern, die Sie beschreiben, darfnicht ausschließlich dadurch begrenzt werden, dass wirbei den Managergehältern hinsehen, sondern vor allenDingen dadurch, dass wir bei den Facharbeiterlöhnenhinsehen .Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber,dafür zu sorgen – ich sage es noch einmal –, Chancen-gleichheit und Bildung zu fördern . Dann sind wir auf ei-nem richtigen Weg und brauchen uns hoffentlich nichtmehr über eine nicht durchsetzbare gesetzliche Begren-zung von Managergehältern zu unterhalten .Vielen Dank .
Der Kollege Christian Petry spricht jetzt für die SPD .
Dr. Thomas Gambke
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Linken mit dem Titel „Mana-
gergehälter beschränken“ ist ein interessanter Antrag .
Bei mir kommt er auch gut an; denn ich könnte mit einer
Beschränkung leben . Die Frage ist nur: Wie beschrän-
ken wir es, wie machen wir es? Eine Gesellschaft muss
sich mit diesen Dingen beschäftigen und darf nicht aus-
einanderdividiert werden . Wir müssen darüber reden, ob
es noch geht, dass das 200- bis 300-Fache an Gehältern
gezahlt wird . Ufert hier etwas aus? Darin liegt sozialer
Brennstoff.
Wenn man sieht, dass die Durchschnittszahlen der
Managergehälter gegenüber dem durchschnittlichen
Verdienst der Beschäftigten von dem 42-Fachen im Jahr
2005 – die Hans-Böckler-Stiftung hat dies ja festgestellt –
auf das 62- bis 80-Fache in der heutigen Zeit gestiegen
sind, dann weiß man, dass die Kluft weiter wächst . Auch
hier ist die Frage erlaubt: Was können wir tun?
Wir haben bereits 2013 einen Vorschlag gemacht .
Lothar Binding hat ihn damals hier vorgetragen . Ich kann
das nicht so gut wie Lothar Binding; denn er hat damals
eine Grafik dabeigehabt und hat den Vorschlag anhand
dieser Grafik erläutert.
Wie können wir zu dem Ziel kommen? Was ist der
Unterschied zu dem Antrag? Einfach in das Gesetz „20-
fach“ zu schreiben – Professor Hirte hat es gesagt –, ist
ein bisschen schwierig . Ich halte von einer solchen Fest-
legung nicht sehr viel . Aber die Verantwortlichkeiten
sollten dort, wo sie sind, auch an Kriterien festgemacht
werden .
Ein Kriterium, das wir damals eingebracht haben, war
ein steuerliches Kriterium; das wollten wir zusätzlich
noch bearbeiten . Es ging um die steuerliche Abzugsfä-
higkeit der Managergehälter; denn sie sind Einkünfte aus
nichtselbstständiger Tätigkeit im Sinne des Einkommen-
steuerrechts . Wir haben damals vorgeschlagen, Bezüge
in Höhe von über 500 000 Euro pro Jahr nur noch hälftig
als Betriebsausgabe einer Aktiengesellschaft abziehbar
zu machen . Es ist nicht einsehbar, dass unsere Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler mit diesem Betriebsausgaben-
abzug diese Gehälter mitfinanzieren. Das ist ein Punkt,
über den wir in den Beratungen ernsthaft diskutieren
müssen; wir müssen auch darüber reden, ob wir in dieser
Art und Weise vorangehen können .
Auch über die Frage „Wer entscheidet darüber, und
was steht im Koalitionsvertrag?“ diskutieren wir . Ich
glaube, dass diese Entscheidung bei den Aufsichtsräten,
die bisher nach § 87 des Aktiengesetzes die Zuständigkeit
haben, gut aufgehoben ist, auch mit den entsprechenden
Erweiterungen, wie sie von Professor Hirte schon ange-
sprochen worden sind .
Die Frage ist aber: Woran orientieren wir die Höhe
von Managergehältern? Immer ausschließlich an Umsät-
zen, an Gewinnen, an Aktienkurssteigerungen? Könnten
nicht auch Bildung, Beschäftigung, Ausbildung, Karrie-
remöglichkeiten der Beschäftigten, Durchlässigkeit der
Hierarchien, gewünschte Strukturen ein Maßstab dafür
sein, wie man das Gehalt eines Managers festlegt? Wäre
das nicht sehr sinnvoll? Können wir hier etwas tun, auch
im rechtlichen Rahmen? Ich denke, auch diese Fragen
sollten wir uns stellen und ernsthaft diskutieren .
Ich war vor vier Wochen im Baskenland und habe dort
die Firma Mondragón besucht . Das ist die größte Produk-
tivgenossenschaft der Welt . Sie hat 74 000 Beschäftigte .
80 Prozent davon sind Mitglieder der Genossenschaft .
Sie wählen die Mitglieder der verschiedenen Vorstands-
hierarchien in entsprechenden Versammlungen . Die Ge-
nossenschaftsmitglieder haben sich selbst, was die Höhe
der Managergehälter angeht, für einen Schlüssel von
1 : 8 entschieden .
Es handelt sich um eines der wenigen Unternehmen in
Spanien, das bisher halbwegs gut durch die Krise gekom-
men ist und das sehr stabil ist . Dieses genossenschaft-
liche Modell, das sich auch um die Höhe der Gehälter
kümmert – wie gesagt, es wurde, was die Höhe der Ma-
nagergehälter angeht, ein Schlüssel von 1 : 8 festgelegt –,
hat sich bewährt . Diese Genossenschaft hat mittlerweile
101 Firmen; auch in Deutschland ist man tätig . Diese Fir-
men sind stabil am Markt .
Die Genossenschaft wurde im Übrigen von einem ka-
tholischen Pfarrer gegründet – zugrunde lag also keine
sozialistische Idee –, der gesagt hat: Die Menschen hel-
fen sich gegenseitig selbst, und sie legen auch ihr sozial-
verträgliches Gefüge fest . – Ich glaube, auch diese Bei-
spiele sollte man berücksichtigen, wenn es darum geht,
im Hinblick auf die Höhe der Managergehälter einen
gangbaren Weg zu beschreiten .
Ich finde, dass Ihr Antrag auf jeden Fall ein wichtiger
Anstoß ist, worüber wir hier in unseren Gremien bera-
ten . Managergehälter sind ein Dauerthema im Deutschen
Bundestag . Wir brauchen für das soziale Klima, für die
soziale Gerechtigkeit ein Lohngefüge, das von der Be-
völkerung akzeptiert wird .
In diesem Sinne freue ich mich auf die anstehende
Diskussion und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit .
Glück auf!
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Volker
Ullrich .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Diskussion um Managergehälter muss komple-xer geführt werden, weil es den Manager so nicht gibt,wie Sie, Frau Kipping, es uns hier haben vermuten las-sen . Es gibt Mitglieder des Vorstands von börsennotier-ten Unternehmen . Es gibt Geschäftsführer von GmbHs .Es gibt Vorstände von Genossenschaften . Es gibt diezweite oder dritte Führungsebene in Unternehmen . Die
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Frage der Führungsverantwortung in Unternehmen istviel komplexer als das, was Sie uns hier haben glaubenlassen .In der Tat steht die Frage der Vorstandsvergütung ineinem Spannungsverhältnis zwischen der Vertragsfrei-heit und dem Recht auf Eigentum der Unternehmer ei-nerseits und der sozialen Bindung und Verantwortung derFührungsebene andererseits .Wir dürfen auch ein Phänomen nicht außer Acht las-sen, für das erst letzte Woche der Nobelpreis für Wirt-schaftswissenschaften verliehen wurde: dass die Ma-nagementvergütung in der Tat Regeln braucht, damitkeine Situation entsteht, in der ein Geschäftsführer oderein Vorstand zu sehr risikogeneigten Geschäften greift,einfach deswegen, weil er schlichtweg nicht haftet . Dasist der Sachverhalt, über den wir sprechen .Der Gesetzgeber in Deutschland hat darauf schon re-agiert: Seit mehr als sieben Jahren ist § 87 des Aktienge-setzes in Kraft .
Frau Kipping, ich darf Ihnen einfach noch einmal etwasvorlesen, weil Sie offensichtlich in Unkenntnis dieses Pa-ragrafen argumentieren – ich zitiere –:Der Aufsichtsrat hat bei der Festsetzung der Ge-samtbezüge des einzelnen Vorstandsmitglieds . . .dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenenVerhältnis zu den Aufgaben und Leistungen desVorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaftstehen und die übliche Vergütung nicht ohne beson-dere Gründe übersteigen .
Die Vergütungsstruktur ist bei börsennotierten Ge-sellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensent-wicklung auszurichten .In § 87 Absatz 2 Aktiengesetz ist klar geregelt, waspassiert, wenn sich die Verhältnisse der Gesellschaft ver-schlechtern . Daher ist festzustellen: Wenn Sie die jetzigeRechtslage kennen,
aber trotzdem so einen Antrag basteln, dann fällt das aufSie zurück . Wenn Sie die Rechtslage nicht kennen undeinen solchen Antrag vorlegen, dann ist das schlichtwegPopulismus und, ich meine, sogar ein ziemlich plumperobendrein .
Ich will nicht verhehlen, dass es auch in DeutschlandBeispiele für Managervergütungen gibt, die weder etwasmit dem Leistungsgedanken noch mit sozialer Markt-wirtschaft zu tun haben . Das muss und das kann bereitsnach geltendem Recht bearbeitet werden . Wenn Sie alsMitglied eines Aufsichtsrates eine zu hohe Vorstandsver-gütung festlegen, dann sehen Sie sich unter Umständenden Vorwürfen der Untreue ausgesetzt .
Unser Recht ist in diesem Bereich schon scharf genug .Wir brauchen deshalb keine undifferenzierten Regelun-gen, die weit hinter dem zurückbleiben, was im Aktien-recht bereits seit Jahren anerkannt ist .Ich möchte kurz auf das eingehen, was Frau Kippingeben gesagt hat . Sie schlagen vor, dass die Vergütungeines Managers nicht das 20-Fache eines durchschnitt-lichen sozialversicherungspflichtigen Lohns übersteigendarf .
Ich stelle zunächst einmal fest: Das wird in keiner Weiseden praktischen Verhältnissen gerecht; denn Sie stülpenOrganisationen irgendwelche Zahlen über, ohne zu be-achten: Wie ist die Struktur im Unternehmen? WelcheMitarbeiter mit welchen Qualifikationen sind beschäf-tigt? Hat ein Unternehmen neben den Arbeitnehmern ausakademischen, technischen Berufen sehr viele Arbeit-nehmer aus niedrigen Lohngruppen, dann werden Siedem Unternehmer durch eine Festlegung auf das 20-Fa-che nicht gerecht .Sie machen sogar Folgendes: Sie vergrößern den An-reiz für das Management, gerade die unteren Lohngrup-pen auszulagern, outzusourcen oder in andere Gesell-schaften zu verschieben, sodass die Gefahr besteht, dassdie Mitarbeiter am Ende sogar viel weniger verdienen .
Wenn Ihnen daran gelegen ist, dass Menschen in denunteren Lohngruppen ihr Gehalt halten oder sogar mehrverdienen, dann können Sie das übrigens beweisen, in-dem Sie unserem Gesetz zur Arbeitnehmerüberlassungzustimmen .
Frau Kipping, auch das ist ein Gesetz, mit dem die Uniondeutlich macht, dass uns viel an Menschen mit niedrigenund mittleren Einkommen gelegen ist . Ich bitte Sie, daszur Kenntnis zu nehmen .
Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ja .
Herr Kollege Ullrich, danke, dass Sie die Frage zulas-sen . – Sie haben eben davon gesprochen, dass es heuteschon möglich sei, einen Aufsichtsrat anzugehen, weil erDr. Volker Ullrich
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zu hohe Vorstandsvergütungen zugelassen hat . Erstens .Ist Ihnen irgendein Fall bekannt, der belegt, dass dasschon einmal stattgefunden hat?Zweitens . Sie haben gesagt, das 20-Fache sei falsch .Wir haben gerade gehört, es gibt erfolgreiche Unterneh-men, die sogar nur das Achtfache zahlen . Sind Sie bereit,zur Kenntnis zu nehmen, dass das Verhältnis zwischenden untersten Einkommen und den höchsten Einkom-men im selben Unternehmen immer größer wird undeine immer größere Diskrepanz entsteht? Sind Sie bereit,zur Kenntnis zu nehmen, dass sich dieses Verhältnis of-fensichtlich trotz der Gesetze, die Sie ansprechen – Siewerfen der Kollegin Kipping vor, sie hätte diese nichtgelesen –, weiter vergrößert? Oder muss ich aufgrundIhrer Ausführungen annehmen, dass Sie es völlig in Ord-nung finden, dass ein Sparkassendirektor inzwischen dasMehrfache unserer Bundeskanzlerin verdient?
Sind Sie weiterhin bereit, zur Kenntnis zu nehmen –das konnte ich Ihren Ausführungen nicht entnehmen imGegensatz zu dem, was wir vorher gehört haben –, dassdas überhaupt ein Problem darstellt? Denn die Bürge-rinnen und Bürger und die von Frau Kipping erwähnteKrankenpflegerin fragen sich irgendwann, was ihre Ar-beit eigentlich noch wert ist im Verhältnis zu demjenigen,der in der Chefetage eines Unternehmens sitzt .
Natürlich verrichtet er seine Tätigkeit, aber im Verhältniszum Lohn desjenigen, der die Arbeit wirklich erbringt,wird er unverhältnismäßig entlohnt .
Sind Sie bereit, überhaupt das Problem zu erkennen?Denn was Sie hier machen, ist ja, so zu tun, als sei eigent-lich alles in Ordnung . Für Sie ist die Rechtslage in Ord-nung; aber die Praxis zur Kenntnis zu nehmen, verwei-gern Sie sich . Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntniszu nehmen, wie die Probleme sind, oder sehen Sie dasgar nicht als Problem?
Herr Kollege Ernst, ich bin bereit, zur Kenntnis zunehmen, dass Sie nicht gewillt sind, sich wirklich mitdem Thema auseinanderzusetzen,
sondern dass Sie schlichtweg in einer Abfolge von Sug-gestivfragen alles vermischen: die gesamtwirtschaftlicheLohnentwicklung, die Frage der Lohnspreizung in einerGesellschaft, die Frage der Durchsetzung der angemesse-nen Vorstandsvergütung .Es gab natürlich in den letzten Jahren genügend Fäl-le, in denen wegen Untreue und wegen überhöhter Ge-schäftsführerbezüge gegen einige GmbH-Gesellschaftersowie gegen Aufsichtsratsmitglieder ermittelt worden ist,
weil nämlich das Interesse des Unternehmens an einerrisikogeeigneten Vergütung ein schützenswertes Interes-se ist . Ich möchte Ihnen nur deutlich machen, dass Siedurch Ihre Vorschläge nicht die Menschen schützen, dieSie hier vorgeben zu schützen,
nämlich den Arbeiter, den Handwerker, die Kranken-schwester, sondern dass Sie eine Debatte um Exzesseführen, die man mit dem geltenden Recht bereits in denGriff bekommen kann. Aber durch die Debatte, die Sieführen, hat keine einzige Krankenschwester 1 Euro mehrim Geldbeutel .Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass gerade dieLohnentwicklung der letzten Jahre unter dieser Bundes-regierung stark angestiegen ist, dass es den Menschen inDeutschland insgesamt gut geht und dass diese Bundes-regierung eine Mindestlohnregelung geschaffen hat. Diesalles sind Fortschritte für die Arbeitnehmer, die mit Ihnennicht möglich gewesen wären .
Um noch auf einen letzten Punkt hinzuweisen: Siekritisieren in Ihrem Antrag auch die zu hohen Boni unddie Gehaltsstrukturen bei den deutschen Großbanken . Ja,daran ist vielleicht ein Körnchen Wahrheit; aber ich bitteSie, zur Kenntnis zu nehmen, dass auch hier mittlerwei-le eine gesetzgeberische Aktivität entfaltet wird, die Sieüberhaupt nicht ansprechen, weil Sie möglicherweise garkeine Kenntnis davon genommen haben .
Es gibt einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zurNeuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanz-marktstabilisierung . Damit werden EU-Richtlinien um-gesetzt und in nationales Recht übertragen . Mit dieserNeuregelung wird der Kreis der regulierten Banken inBezug auf die Boni von etwa 50 auf 3 000 Institute er-höht, und gleichzeitig wird die Frage, wie Boni gestaltetwerden und wie sie ausgezahlt werden dürfen, wesentlichstärker reguliert . So dürfen zukünftig nur noch 60 Pro-zent der Boni direkt ausbezahlt werden, bei mindestens50 Prozent der Boni brauchen Sie eine Nachhaltigkeits-komponente . Das Verhältnis von fester und variabler Ver-gütung darf nur noch 1 : 1 betragen . Das ist ein klarerund deutlicher Schritt, auch die Vergütung in Bankenrisikoadäquat anzupassen, und es ist ein Schritt, der vielweiter geht als das, was Sie sich jemals hätten vorstel-len können . Aber es ist natürlich wohlfeil, hier groß zureden, ohne Kenntnis von den Aktivitäten zu haben, dieKlaus Ernst
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bereits geschehen sind . Das ist weder diesem Haus nochden Menschen gegenüber ehrlich .
Wir setzen, meine Damen und Herren, auf eine an-gemessene und klare Regulierung der Vorstandsbezüge .Wir setzen aber auch darauf, dass sich insgesamt dasGehaltsniveau der Menschen in diesem Land – das guteNiveau, das wir haben – weiter verbessert, dass insbe-sondere durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung dieMenschen in den Unternehmen deutlich mehr verdienen;denn nur durch eine gute gesamtwirtschaftliche Entwick-lung werden wir auch weiterhin am Wohlstand teilneh-men können .Vielen Dank .
Zum Abschluss der Aussprache hat der Kollege Klaus
Barthel für die SPD das Wort .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glau-be schon, dass es ein Problem ist, wie es Frau Kippingdargestellt hat, und teilweise auch ein Skandal ist, wiesich die Managergehälter und die anderen Einkommenauseinanderentwickelt haben .
In der Tat: 2005 bis 2014 ist dieser Faktor, der eine Re-lation zwischen den durchschnittlichen Löhnen und denManagervergütungen ausdrückt, bei den DAX-30-Unter-nehmen von dem 42-Fachen auf das 57-Fache angestie-gen . 2015 war die Tendenz weiter steigend . Leider ist esnach der Finanzkrise, nach all dem Desaster, so weiter-gegangen .Ich will auch daran erinnern, dass in den Hochzeitendes demokratischen Sozialismus, 1987, also zu Zeitenvon Helmut Kohl, dieser Faktor bei 14 lag .
Das heißt, es gibt eine Vervierfachung des Abstands zwi-schen dem Einkommen des Managements und dem derArbeitnehmer .
In der Tat führt diese Spaltung zu moralischen undgesellschaftlichen Problemen . Ein großer Teil der Be-völkerung sagt, egal ob Allensbach oder die Fried-rich-Ebert-Stiftung die Befragung macht, dass die sozi-ale Ungleichheit zu groß ist . Es lähmt die Motivation zurArbeit . Das beschäftigt uns auch bei der Rentendiskussi-on: Die einen sinken immer mehr in Richtung Grundsi-cherung ab, und andere gehen mit dem goldenen Hand-schlag, gehen mit Millionen aus einem Unternehmenheraus . Es ist auch ein ökonomisches Problem, weil dieUngleichheit das Wachstum bremst und weil durch dieseArt der Vergütung in den Unternehmen Fehlanreize ent-stehen . Wir haben eine Investitionsblockade . Sie hat un-ter anderem etwas damit zu tun, dass Manger womöglichlieber entscheiden, sofort einen Gewinn einzustreichenals zu investieren . Wichtige Zukunftsentwicklungen sindverschlafen worden . Ich verweise nur auf die Energie-wende, den Umbau der Mobilitätsindustrie usw .Rechtfertigungen dafür fehlen . Auch der Leistungsbe-zug fehlt . Das ist dargestellt worden; das will ich nichtweiter vertiefen . Man kann es auch nicht damit rechtferti-gen, dass wir im internationalen Vergleich noch ein biss-chen hinten liegen und die Managergehälter in den USAund in Großbritannien das 365-Fache betragen . Dort ar-beitet ein Manager nicht eine Woche, um so viel Geld zuverdienen wie ein Arbeitnehmer im ganzen Jahr, sonderneinen Tag . Das kann es alles nicht sein .Auch mit der Verantwortung ist es nicht so weit her .Das sehen wir, wenn wir uns jetzt einmal die Bilanz derFinanzkrise anschauen . Welcher Manager ist denn ent-sprechend seiner großen Verantwortung wirklich heran-gezogen worden für den Mist, den er gebaut hat? Es gibtkaum Verurteilungen, und keiner sitzt im Gefängnis . Allesind gut abgesichert . Bei anderen Betrugs- und Eigen-tumsdelikten, die es bei uns gibt, sieht die Situation ganzanders aus . Egal ob bei VW oder den Banken oder einemMittelständler, wenn die Probleme das Unternehmen er-reichen, dann sind die Manager, die die Probleme zu ver-antworten haben, längst weg . – Das ist das eine .Jetzt stellt sich die Frage – sie richtet sich an dieLinksfraktion –: Was ist zu tun? Was kann man machen?Erstens . Es stimmt nicht, dass unser Gesetz zur An-gemessenheit der Vorstandsvergütungen von 2009 völligwirkungslos war .
Denn seit dieses Gesetz wirkt, seit 2011, ist dieser Faktor,den ich genannt habe, tatsächlich zurückgegangen, undzwar von einem Höhepunkt von 62 auf jetzt wieder 57 .Das heißt, wir sollten uns als Gesetzgeber nicht kleinermachen, als wir sind, und nicht immer so tun, als wärealles, was wir hier machen, für die Katz . – Das ist dasErste .
Zweitens . Wenn Sie in Ihrem Antrag von Skandalensprechen – am Anfang schreiben Sie ja, dass es um Skan-dale, kriminelle Machenschaften und organisierten Be-trug geht –, wenn Sie das zum Ausgangspunkt machen,dann muss ich sagen: Das ist ein Fall für die Staatsan-waltschaft, für die Gerichte und für den Justizvollzug undbetrifft nicht die Frage von Managervergütungen. Dassollte man sauber trennen .
Drittens . Es gibt erhebliche Unterschiede zwischenden Betrieben und Unternehmen, sogar zwischen denDAX-30-Unternehmen . Den höchsten Faktor gibt es jetztmit 141 bei VW . Es gibt auch Konzerne im DAX, die denFaktor 17 haben . Daran sieht man, dass das nicht allesüber einen Kamm zu scheren ist, sondern dass das vonUnternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ist . Es istDr. Volker Ullrich
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eine Frage der Transparenz im Unternehmen und eineFrage der Mitbestimmung .
Es hängt auch nicht nur von der Entscheidung der Voll-versammlung ab, sondern eben auch von der Mitbestim-mung im Aufsichtsrat .Viertens . Das richtet sich jetzt an den Kollegen KlausErnst, weil wir als Gewerkschafter immer schauen müs-sen, welche Gesetze wo wirksam werden . Wir greifenhier in die Vertragsfreiheit ein . Das ist äußerst proble-matisch . Die Frage ist dann immer: Wie sieht so etwasaus? Bemessungsgrundlage? Lohn? Lohn wo? Lohn inBangladesch von irgendeinem Konzern – hier könnte eszum Beispiel das 20-Fache sein – oder Lohn einer en-gen Führung einer Aktiengesellschaft mit 100 GmbHs,wo sowieso nur Spitzeneinkommen gezahlt werden? Dasheißt, hier haben wir ein praktisches Problem . Das istdargestellt worden .Es gibt eine Menge Umgehungsmöglichkeiten . DieKreativität, irgendwelchen Managern irgendetwas außerGeld zukommen zu lassen, ist grenzenlos . Die Frage amEnde ist: Wer soll das alles kontrollieren? Diese ganzkonkreten Fragen sollte man sich bitte stellen, wenn manhier solche Anträge stellt .Statt Symbolpolitik schlagen wir insbesondere vor –Kollege Petry hat es genannt –, erstens die steuerlichenMöglichkeiten zu nutzen, also die Absetzbarkeit steuer-lich zu begrenzen . Wir wollen keinen Milliardär in denGolfstaaten oder die Familie Quandt daran hindern, ihrMilliardenvermögen mit Spitzenmanagern zu teilen, abersie sollen es nicht steuerlich absetzen können .Das Zweite ist die Anhebung des Spitzensteuersatzes .
Ich finde, darüber muss man auch reden. Wenn man15 Millionen Euro im Jahr bekommt und die Hälfte da-von an Steuern zahlen muss, dann hat man 7,5 Millionenund ist immer noch nicht arm . Da ist also Luft nach oben .
Schließlich, weil wegen des letzten Tagesordnungs-punktes auch die Sozialpolitikerinnen und Sozialpoliti-ker hier sind: bitte einkommensbezogene Heranziehungder Managervergütungen im Rahmen der Bürgerversi-cherung zur gesetzlichen Krankenversicherung
und im Rahmen der Erwerbstätigenversicherung auchzur Rentenversicherung .
Dann haben alle etwas davon, und dann können wir unssolche Anträge sparen .
Damit schließe ich die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/9838 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen . Die Federführung istjedoch strittig . Die Fraktionen von CDU/CSU und SPDwünschen die Federführung beim Ausschuss für Rechtund Verbraucherschutz . Die Fraktion Die Linke wünschtdie Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft undEnergie .Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beimWirtschaftsausschuss . Wer für diesen Überweisungsvor-schlag stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gibt es keine . DerÜberweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FraktionenDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt .Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag derFraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, näm-lich die Federführung beim Ausschuss für Recht undVerbraucherschutz anzusiedeln . Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Da-mit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen mitden Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-men der Fraktion Die Linke und vom Bündnis 90/DieGrünen .Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 11 a und 11 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetzes und anderer GesetzeDrucksache 18/9232Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/10064b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,Jutta Krellmann, Matthias W . Birkwald, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN-KEEtablierung von Leiharbeit und Miss-brauch von Werkverträgen verhindern– zu dem Antrag der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Corinna Rüffer, KatjaKeul, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMissbrauch von Leiharbeit und Werkver-trägen verhindernDrucksachen 18/9664, 18/7370, 18/10064Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruchdagegen erhebt sich nicht . Dann ist das so beschlossen .Klaus Barthel
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Ich eröffne die Aussprache und erteile zuerst das Wortder Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Krammefür die Bundesregierung .
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sie alle kennen die jahrelangen Debatten umdie Leiharbeit: Stammbelegschaften, die sich durch Leih-arbeitnehmer unter Druck gesehen haben, Leiharbeitneh-mer, die sich ausgenutzt gefühlt haben, aber auch Be-triebsräte und Gewerkschaften, die der Auffassung sind,dass sie nicht hinreichend Rechte haben .Meine Damen und Herren, wir stärken die Rechte derStammbelegschaften . Wir stärken die Rechte der Leihar-beitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer . Und wir schaf-fen mehr Handlungsoptionen für die Gewerkschaftenund Betriebsräte .
Lassen Sie mich das anhand einiger Beispiele verdeut-lichen:Erstens . Die Arbeitnehmerüberlassung muss künf-tig durch die Verleiher und Entleiher immer offengelegtwerden . Es ist künftig also nicht mehr möglich, die Ar-beitnehmerüberlassung als Werkvertrag zu tarnen, umden Beschränkungen bei der Leiharbeit zu entgehen undes, falls das Ganze auffliegt, als Leiharbeit abzuwickeln.Zweitens . Wir verbessern die Informationsrechte derBetriebsräte . Betriebsräte haben künftig ein Recht aufInformation darüber, in welchem zeitlichen Umfang, anwelchem Ort und mit welchen Aufgaben Fremdpersonalin ihrem Betrieb eingesetzt wird . Außerdem hat der Be-triebsrat das Recht, die Vorlage der dem Einsatz zugrun-deliegenden Verträge zu verlangen . Diese Informations-rechte stärken den Betriebsrat in seinem Wächteramt .Drittens . Erstmals seit dem Inkrafttreten des Bürgerli-chen Gesetzbuches vor über einhundert Jahren definierenwir den Begriff „Arbeitsverhältnis“, und wir definieren,was ein Arbeitsvertrag ist . Wir haben es endlich ge-schafft, diese Gesetzeslücke zu schließen und damit mehrRechtssicherheit zu schaffen.
Viertens . Unser Gesetzentwurf setzt neue Leitplankenbei der Bezahlung und bei der Überlassungshöchstdau-er von Leiharbeitnehmern . Der Grundsatz „Equal Pay“greift regelmäßig nach neun Monaten . Die Höchstüber-lassungsdauer ist jenseits von Möglichkeiten der Tarif-vertragsparteien der Entleiherbranche auf 18 Monatefestgelegt .Fünftens . Wir sichern die Möglichkeit, faire Tarif-vertragsverhandlungen zu führen, indem wir den miss-bräuchlichen Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen undLeiharbeitnehmern als Streikbrecher verhindern .
Bereits jetzt gibt es bekanntermaßen ein Leistungs-verweigerungsrecht für Leiharbeitnehmer im Falle einesStreikes im Einsatzbetrieb. Wir haben es aber zu häufigerlebt, dass Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerin-nen in diesem Fall unter Druck gesetzt und gezwungenwerden, den Streik von Kollegen zu unterlaufen . Mit die-sem Gesetzentwurf ergänzen wir das Leistungsverweige-rungsrecht für Leiharbeitnehmer durch das gesetzlicheVerbot, Leiharbeitskräfte als Streikbrecher tätig werdenzu lassen .
Sechstens . Dieser Punkt, bei dem es um die Unterneh-mensmitbestimmung geht, ist mir persönlich sehr wich-tig, weil damit etwas für die Landschaft der Betriebe indiesem Land getan wird: Durch die Berücksichtigungder Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer beiden Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmungwerden zahlreiche Unternehmen in die drittelparitätischeoder sogar in die paritätische Mitbestimmung hineinrut-schen . Das bedeutet, dass es dadurch tatsächlich Mitbe-stimmung in diesen Unternehmen geben wird .Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Siemich abschließend Folgendes sagen: Ich bin der festenÜberzeugung, dass das Gesetz wirken wird, und zwardeshalb, weil wir scharfe Sanktionen für diejenigen vor-gesehen haben, die sich nicht an die neuen Regeln haltenwollen .Dafür haben wir Ordnungswidrigkeiten mit Geld-bußen eingeführt: Bei einer verdeckten Arbeitnehmer-überlassung und bei einem Verstoß gegen die Überlas-sungshöchstdauer beträgt die Geldbuße jeweils bis zu30 000 Euro . Bei einem Einsatz der Leiharbeitskräfte alsStreikbrecher beträgt die Geldbuße bis zu 500 000 Euro .Vor allen Dingen haben wir aber geregelt, dass bei be-stimmten Verstößen kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältniszwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher entsteht . Dasist bisher schon der Fall, wenn der Verleiher keine Ver-leiherlaubnis hat .
Künftig gilt das auch, wenn die Arbeitnehmerüberlas-sung nicht offengelegt wird oder wenn die Überlassungs-höchstdauer überschritten wird .Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus mei-ner Sicht handelt es sich hier um einen ausgewogenenGesetzentwurf, mit dem wir nach meiner Überzeugungetwas tun, um mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zuschaffen. Wir bekämpfen damit den Missbrauch vonVizepräsident Johannes Singhammer
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Leiharbeit und Werkverträgen und stärken die Sozial-partnerschaft in diesem Land .
Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu diesem Ge-setzentwurf und bedanke mich herzlich für die Aufmerk-samkeit .
Der Kollege Klaus Ernst spricht jetzt für die Fraktion
Die Linke .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Frau Kramme, das war wieder eine Rede nach demMotto: Dem Unterbewusstsein ist es egal, wer einem aufdie Schulter klopft . – Dass Sie sich bei diesem Gesetz-entwurf selber loben, wundert mich allerdings wirklich .Die Zuschauer, die hier sitzen, sind durch den Vorder-eingang in dieses Parlamentsgebäude hereingegangen,nicht wie wir, die wir wie die Maulwürfe unterirdisch he-reinkommen . Wenn man vorne hereinkommt, dann liestman: „Dem deutschen Volke“ . Das deutet darauf hin,dass nicht nur diese Halle dem deutschen Volk gehört,sondern dass hier auch Gesetze gemacht werden sollen,die im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-ger sind . Das ist der Sinn dieses Spruches .
Meine Damen und Herren, jetzt fragen wir einmal:Liegt die Lage in diesem Lande denn im Sinne des Ge-meinwohls? Bei der Leiharbeit liegt das mittlere Einkom-men bei 1 700 Euro, bei Menschen mit einem normalenJob sind es 2 960 Euro . Ist das im Sinne des Gemein-wohls? Das sind 1 260 Euro weniger . Wir wissen, dassLeiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer bei der-selben Tätigkeit deutlich schlechter entlohnt werden unddass sie unter deutlich schlechteren Bedingungen arbei-ten . Das alles ist bekannt .Was ändert nun dieses Gesetz daran? Wir stellen unsdie Frage, ob dieses Gesetz im Interesse des Gemein-wohls ist oder ob sich bei dieser Gesetzgebung offen-sichtlich andere Interessen durchgesetzt haben . Sie vonder SPD haben einmal gesagt: Gleicher Lohn bei gleicherArbeit . Sie waren ja mal auf dem richtigen Weg; in IhremWahlprogramm steht ja das Ziel „Gleicher Lohn bei glei-cher Arbeit“ . Das ist eine sinnvolle Lösung . Sie schlagenhier aber einen Gesetzentwurf vor, in dem gleicher Lohnbei gleicher Arbeit erst nach neun Monaten Ausleihzeitim selben Betrieb erfolgen soll . Das hat doch nichts mitgleichem Lohn bei gleicher Arbeit zu tun . Sie wissendoch, dass nur 25 Prozent der Beschäftigten überhauptneun Monate oder länger in einem Betrieb beschäftigtsind . Das ist Etikettenschwindel, was Sie hier betreiben,meine Damen und Herren .
Ich habe vorhin das Wahlprogramm der SPD erwähnt .Ich weiß, ihr wolltet eine andere Lösung . Ich weiß, dasses die CDU/CSU-Fraktion ist, die das nicht will, weildiese Fraktion sich eben nicht am Gemeinwohl, sondernam Interesse der Leiharbeitsfirmen orientiert. Das ist dasProblem in diesem Lande, meine Damen und Herren .
Jetzt wollen wir uns das einmal im Detail ansehen .Erster Punkt . Wem nützt es denn, dass Leiharbeit indiesem Land überhaupt akzeptiert wird? Wo ist der Un-terschied zu einer normalen Beschäftigung? Wenn einUnternehmer jemanden beschäftigt, dann muss der Be-schäftige für den einen Unternehmer eine Leistung er-bringen . Dieser Arbeitgeber will an ihm verdienen . Beider Leiharbeit haben wir das Problem, dass am selbenBeschäftigten zwei verdienen wollen: derjenige, der ihnverleiht, und derjenige, für den er arbeitet . Deshalb istdie Forderung der Linken schon richtig, einmal darübernachzudenken, ob dieses System einen Sinn hat und obes überhaupt im Gemeinwohlinteresse liegt .
Zweiter Punkt . Denken wir einmal darüber nach:Wem nützt es denn, dass bis zu neun Monate lang keingleicher Lohn bei gleicher Arbeit gezahlt wird? Das nütztnatürlich den Leiharbeitsunternehmen . Es nützt auch denUnternehmen, bei denen die Leiharbeiter beschäftigtwerden, weil die Unternehmen ihnen natürlich geringereLöhne als demjenigen zu zahlen haben, der in dem Be-trieb normalerweise vollzeitbeschäftigt wird . Das ist derZusammenhang . Diesen wollen Sie mit Ihrem Gesetzent-wurf nicht ändern .Im Übrigen: Leiharbeit könnte vielleicht durch eineBegrenzung funktionieren . Man könnte zum Beispiel an-führen, dass Vollzeitarbeit nicht durch Leiharbeit ersetztwerden darf. Auch da treffen Sie keine Regelung, weilSie eine Höchstüberlassungsdauer von bis zu 18 Mona-ten zulassen, aber nicht bezogen auf den einzelnen Ar-beitsplatz, sondern bezogen auf den einzelnen Beschäf-tigten . Das bedeutet: Derselbe Arbeitsplatz kann immerwieder mit einem Leiharbeiter besetzt werden . Wemnützt das? Ist das im Interesse des Gemeinwohls? Nein,das ist nur im Interesse der Verleihfirmen und derer, diesolche Arbeitnehmer beschäftigen . Mit Gemeinwohl hatdas nichts zu tun, meine Damen und Herren .
Wenn es darum geht, flexibel zu sein, dann verwei-se ich auf die Rechtslage in diesem Lande . Sie könnenParl. Staatssekretärin Anette Kramme
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befristet Beschäftigte nahezu ohne Einschränkungen ineinem Betrieb beschäftigen, wenn es dafür einen sach-lichen Grund gibt . Eine Auftragsspitze wäre ein sach-licher Grund . Sie könnten diese Spitzen mit befristeterBeschäftigung ausgleichen . Nein, das machen Sie nicht,weil dann nämlich gleicher Lohn bei gleicher Arbeit ge-zahlt werden müsste . Alle Beschäftigten im Betrieb wür-den nach demselben Tarif arbeiten und dieselben Löhneerhalten . Das wollen Sie nicht . Sie machen ein Gesetz imInteresse der Leiharbeitsunternehmen und im Interesseder Unternehmen, die Leiharbeiter beschäftigen .Letzter Punkt . Schauen wir uns VW an . Es gab eineDebatte darüber, dass VW die Leiharbeiter nicht über-nehmen, sondern rausschmeißen will . Man weiß, wemdas dient . Das ist kein Gesetz im Sinne des deutschenVolkes . Das ist ein Gesetz im Sinne der Leiharbeitsun-ternehmen .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Karl
Schiewerling .
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, Herr Prä-sident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, dass wir die missbräuchlichen Entwicklungenim Bereich von Leiharbeit und Werkverträgen angehenwollen . Das machen wir mit diesem Gesetz . Dieses Ge-setz ebnet neue Wege . Ich halte das für richtig . Allerdingsfangen wir damit nicht erst an; wir haben bereits in derletzten Koalition unter den damaligen Bedingungen eineganze Menge organisiert . Wir setzen das fort . Wir wollenfaire Bedingungen – daran arbeiten wir –, aber wir wol-len auch die Chancen nutzen, die die Leiharbeit bietet .Lieber Herr Kollege Ernst, ich finde es schon abenteu-erlich, wie Sie „Gemeinwohl“ definieren. Für uns heißtGemeinwohl, dass wir Menschen, die sonst keine Per-spektive haben, in Beschäftigung bringen . Für uns heißtGemeinwohl, dass wir den Menschen, die Hilfe brau-chen, Hilfe geben . Für uns heißt Gemeinwohl nicht unbe-dingt, ein starres System zu schaffen, in dem sich keinermehr bewegen kann und in dem die Wirtschaft hinterherkeine Luft mehr bekommt .
Meine Damen und Herren, das Arbeitnehmerüberlas-sungsgesetz, das wir hier verändern, richtigerweise ver-ändern, ist ein Schutzgesetz, es muss aber auch Chanceneröffnen, dass Menschen über diesen Weg in Beschäfti-gung kommen . Dass Sie das hier ständig so darstellen,als sei das alles Ausbeutung, dazu muss ich sagen: Das istpurer Unfug . Viele der Menschen, die jetzt in Leiharbeittätig sind, wären sonst möglicherweise nicht erwerbs-tätig, weil nämlich keineswegs gesichert wäre, dass sieüber andere Wege im Arbeitsmarkt untergekommen wä-ren .
Diese Fragen sind hinten und vorn nicht geklärt . Dies sodarzustellen, wie Sie es getan haben, halte ich für grund-falsch .Meine Damen und Herren, wir wollen die Chancenfür die Menschen nutzen . Wir wollen mit der Reform desArbeitnehmerüberlassungsgesetzes gleichzeitig Dinge inOrdnung bringen . Frau Kramme hat das eingangs darge-stellt . Das kann ich nur unterstreichen und sagen, dassdas auch unsere Ziele sind . Unser Ziel ist allerdings auch,dass wir an bestimmte Dinge mit Augenmaß herangehen .Die Frage, wie und wann Sanktionen greifen, haben wirim Ausschuss noch einmal vernünftig geklärt .
Ich will nur sagen, dass von allen Menschen, die inZeitarbeit tätig sind, 98 Prozent unter einem Tarifvertragarbeiten, 90 Prozent in Vollzeit arbeiten, 70 Prozent ausder Arbeitslosigkeit kommen und 29 Prozent keinen Be-rufsabschluss haben . Ich sage Ihnen: Für diese Menschenbrauchen wir auch weiter den Weg über die Zeitarbeit inBeschäftigung .
Wir werden erleben, dass wir dieses Instrument auch inZukunft benötigen, wenn uns zum Beispiel die Aufgabegestellt ist, viele Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt unter-zubringen . Ich möchte gern, dass wir dieses Instrumentdafür nutzen können .Viele Betriebe halten sich daran, haben eigene Dingeentwickelt und eigene Schwerpunkte gebildet . In meinemWahlkreis zahlt zum Beispiel die Firma Schmitz Cargo-bull 2 000 Beschäftigten, knapp 560 Leiharbeitnehmern,Zeitarbeitnehmern, bereits ab dem ersten Tag Equal Pay .
Warum hat die Firma das so gemacht? Nicht deshalb,weil sie Auftragsspitzen auffangen will, sondern deshalb,weil sie aus den Erfahrungen mit der Finanzkrise 2008gelernt hat, dass die gesamte Firma in Gefahr ist, wennsie die Flexibilität für die Beschäftigten nicht hat . DieBedingungen, die für die Menschen gelten, die dort alsLeiharbeitnehmer tätig sind, sind fair und tarifvertraglichabgesichert . Das wird mitgetragen . Der Betriebsrat – mitdem habe ich mich heute Morgen noch einmal ausführ-lich unterhalten – hat diese Dinge ausdrücklich mitge-tragen .
Klaus Ernst
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Auch wir haben Verleiharbeitsfirmen, die entsprechen-de klare Regelungen haben . Ich glaube, dass das, wasdort tarifvertraglich geregelt ist, vernünftig angepackt ist .Meine Damen und Herren, Inhalt des Gesetzentwurfesist: nach 9 Monaten Einsatzdauer Equal Pay; Überlas-sungshöchstdauer von 18 Monaten . In Fortführung an-derer Gesetze, die wir in dieser Legislatur miteinanderbeschlossen haben, machen wir auch hier etwas, woraufwir als Koalition großen Wert legen: Wir stärken die Ta-rifautonomie . Wir lassen nämlich Ausnahmen nur zu, so-fern tarifvertragliche Vereinbarungen dies ermöglichen .Ich halte das für einen richtigen Schritt, weil wir auf die-sem Wege den Arbeitgebern sagen, dass es sich lohnt, imArbeitgeberverband zu sein und über Tarifverträge dieBedingungen am Arbeitsmarkt gemeinsam mit den Ge-werkschaften ordentlich und vernünftig auszuhandeln .Deswegen halte ich diesen Schritt auch für richtig .
Noch ein Punkt lag uns sehr am Herzen . Wir alle ken-nen die Fälle: Einsatzbetriebe schließen einen Werkver-trag, und erst wenn die Finanzkontrolle Schwarzarbeitkommt, fällt ihnen ein, dass das eine Arbeitnehmerüber-lassung sein könnte . – Diesen Spurwechsel wollen wirnicht . Es muss klar sein, was Werkvertrag, was Zeitarbeitund Leiharbeit ist, schon alleine, um die Arbeitnehmer zuschützen . Mit diesem Gesetz führen wir dies ein .
Viele haben übrigens die Sorge, sie könnten plötzlichunter die Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungs-gesetzes fallen . Wir haben im Ausschuss noch einmaldeutlich erklärt und dargelegt, dass zum Beispiel alle,die Beratungsdienstleistungen erbringen oder Implemen-tierungen von neuen Projekten in einem Betrieb vorneh-men, nicht darunterfallen, sondern für sie weiterhin diewerkvertragliche Regelung gilt . Das ist vernünftig undklug . Wir sollten an dieser Stelle auch sagen: Ja, wir wol-len, dass faire Bedingungen am Arbeitsmarkt herrschen;wir wollen aber auch das Kind nicht mit dem Bade aus-schütten, sondern Beschäftigung ermöglichen . Ja, wir alsCDU/CSU-Fraktion wollen vor allen Dingen mit diesemGesetzentwurf, den wir gemeinsam mit unserem Koali-tionspartner, der SPD, auf den Weg gebracht haben undheute beschließen, Menschen Wege in Beschäftigungeröffnen und damit eine Grundlage für eine gute wirt-schaftliche Entwicklung schaffen. Ich bin sicher, dass wirmit diesem Gesetz gemeinsam einen wichtigen Schrittnach vorne gehen .
Als Nächstes spricht die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Bis zur ersten Lesung hat es ja extremlange gedauert, und jetzt muss wieder alles ganz schnellgehen . Am Montag erst war die Anhörung der Sachver-ständigen – da gab es viel Kritik, und zwar von allenSeiten; jetzt gibt es auch noch Kritik vom Wissenschaft-lichen Dienst –, und doch landete der Gesetzentwurf indieser Woche überraschend im Ausschuss, und schonheute finden die zweite und die dritte Lesung statt. Wassoll eigentlich die Eile? Wenn so viel Kritik kommt, dannsollten Sie, die Regierungsfraktionen, einfach einmal in-nehalten und die Kritikpunkte ernsthaft prüfen .
An einer Stelle haben Sie immerhin mit einem Ände-rungsantrag auf die Kritik reagiert . Dabei geht es um denMissbrauch von Werkverträgen . Das vorgesehene Wider-spruchsrecht für Arbeitgeber in der ursprünglichen Formwäre für die Beschäftigten von Werkvertragsfirmen ex-trem fatal gewesen . So wäre ein neuer Anreiz für Betrie-be entstanden, die bewusst verdeckte Leiharbeit einset-zen . So wäre auch ein neuer Schutz der Unternehmen vorRechtsfolgen entstanden . Deshalb gab es hierzu richtigheftige Kritik . Auch meine Kleine Anfrage hat gezeigt,dass die Rechtsauffassung der Bundesregierung sichnicht wirklich mit dem deckt, was tatsächlich im Gesetz-entwurf steht . Mit einem Änderungsantrag wurde jetztdiese strittige Frage eindeutig geklärt: Bei Scheinwerk-verträgen entsteht trotz Verzichtserklärung ein Arbeits-verhältnis mit dem Entleiher . Das ist gut so . Das habenwir auch so gefordert . Deshalb war der Änderungsantragrichtig und wichtig .
So, das war das Lob . Jetzt habe ich nur noch Kritik . ImGesetz fehlen weiterhin eindeutige Kriterien, um Leih-arbeit und Werkverträge abzugrenzen, und zwar im Ar-beitnehmerüberlassungsgesetz . Wir fordern ein Zustim-mungsverweigerungsrecht für Betriebsräte . Wir wollenein Verbandsklagerecht . Es wäre auch ganz wichtig, dasseine Beweislastumkehr eingeführt wird; die stand schoneinmal im Gesetzentwurf, ist dann aber wieder heraus-verhandelt worden . – Das alles sind wirksame Maßnah-men, um den Missbrauch von Werkverträgen tatsächlichzu verhindern; aber nichts davon steht im Gesetzentwurf .Daher wird er seiner eigenen Zielsetzung nicht gerecht .
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, wirklich dringendnotwendig ist eine echte Reform der Leiharbeit . Dashaben die Fakten in der Stellungnahme des WSI nocheinmal deutlich gemacht: Durch Leiharbeit entsteht „einerhöhtes Armutsrisiko, während des Erwerbslebens, aberauch im Rentenalter“ . Leiharbeitskräfte haben deutlichschlechtere Arbeitsbedingungen, sie sind häufiger krank,und es gibt auch mehr Arbeitsunfälle . Sie werden schnel-ler arbeitslos. Der Brückeneffekt hingegen ist mit 7 bis14 Prozent gering .Die Leiharbeitskräfte fühlen sich zu Recht benach-teiligt und ähnlich wie die Arbeitslosen nur schlecht indie Gesellschaft integriert . Der Handlungsbedarf ist alsogroß . Eine Mogelpackung wie der vorliegende Gesetz-Karl Schiewerling
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entwurf wird aber wenig daran ändern . Das kritisierenwir scharf .
Frau Ministerin, Sie versprechen Equal Pay; dochgleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt es frühestens nachneun Monaten . Das war übrigens immer die Position derFDP . Es ist bekannt, dass drei Viertel der Leiharbeitsver-hältnisse höchstens neun Monate dauern . Zudem sindauch Rotationslösungen möglich . Das hat der Wissen-schaftliche Dienst auch bestätigt .Der Gesetzentwurf ist ein reiner Etikettenschwindel .Denn von diesem Equal Pay wird kaum jemand profi-tieren .
Frau Ministerin, Sie versprechen auch, dass die Be-triebe zukünftig Leiharbeit nur vorübergehend, also zeit-lich begrenzt, bei Auftragsspitzen einsetzen können . DieHöchstüberlassungsdauer ist aber nicht an den Arbeits-platz, sondern an die Leiharbeitskraft gebunden . Das kri-tisiert auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundesta-ges . Ich zitiere:Im Ergebnis wird es nach dem Gesetzentwurf mög-lich bleiben, Arbeitsplätze langfristig mit Leihar-beitnehmern zu besetzen, sofern diese spätestensnach 18 Monaten ausgetauscht werden . … Insoweitsind ähnliche „Rotationslösungen“ wie beim Equal-Pay-Anspruch denkbar …Auch die Höchstüberlassungsdauer geht also an derZielsetzung vorbei . Leiharbeit ist für die Betriebe zu-künftig nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaftmöglich . So wird der Missbrauch nicht verhindert, son-dern gesetzlich legitimiert, und das geht gar nicht .
Ich möchte einen weiteren Aspekt nochmals anspre-chen; denn hier hat mich vor allem die Begründung ge-ärgert. Auch nicht tariflich gebundene Betriebe könnendurch Bezugnahme von Equal Pay abweichen und so vonden Tarifverträgen profitieren. Wir haben in unserer Klei-nen Anfrage nachgefragt und die Begründung zur Ant-wort bekommen, dass so Tarifverträge flächendeckenderangewendet werden . Ich weiß gar nicht, ob ich diese Ant-wort als unwissend, dreist oder auch zynisch bezeichnensoll . So werden gerade nicht die Sozialpartner gestärktund schon gar nicht die Leiharbeitskräfte . Denn bei derLeiharbeit gilt doch per Gesetz der Tarifvorrang . OhneBezugnahme müssten sich die Leiharbeitsfirmen organi-sieren und auch Tarifverträge abschließen . Sonst würdezum Vorteil der Leiharbeitskräfte Equal Pay ab dem ers-ten Tag gelten . Die geplante Regelung und diese Begrün-dung sind unsäglich und nicht akzeptabel .
Sehr geehrte Regierungsfraktionen, ich sage es im-mer wieder: Wir Grünen haben für die Leiharbeit eineeinfache und zugleich effektive Lösung. Leiharbeit musssich für die Unternehmen lohnen – das ist klar –, aber siemuss sich auch für die Leiharbeitskräfte auszahlen . Des-halb fordern wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit ab demersten Tag und einen Flexibilitätsbonus von 10 Prozent .Über den Preis macht Leiharbeit dann betriebswirtschaft-lich auch nur vorübergehend Sinn, und zwar ohne bü-rokratische Höchstüberlassungsdauer . Diese Regelungensind eindeutig, zielführend und vor allem gerecht .
Der Gesetzentwurf verspricht viel, aber Anspruch undWirklichkeit gehen weit auseinander . Professor Sell hatdie Kritik in seiner Stellungnahme gut auf den Punkt ge-bracht . Ich zitiere nochmals:Arbeitgeber können damit Aufgaben und Arbeitsbe-reiche dauerhaft von niedrig entlohnten Leiharbei-tern bearbeiten lassen, und die Risiken des flexib-len Arbeitsmarktes tragen allein die Beschäftigten,nicht die Arbeitgeber .Damit hat er recht .An dieser Stelle ist der kleinste gemeinsame Nennerder Großen Koalition besonders klein . Im Mittelpunktstehen hier vor allem die Interessen der Wirtschaft undeben nicht die Menschen . Das Gesetz wird die Situationder Leiharbeitskräfte nicht verbessern, sondern eher ver-schlechtern . Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab .Vielen Dank .
Waltraud Wolff hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Für die SPDkann ich sagen: Wir arbeiten nicht erst seit letzter Wochean dem Thema, sondern wir haben schon in der letztenLegislaturperiode einen Antrag dazu eingebracht, FrauMüller-Gemmeke .Aber, meine Damen und Herren, wenn wir oder Siezu Hause von Leiharbeit oder Werkverträgen reden, danndenkt niemand zuerst an gute Arbeitsbedingungen; mandenkt vielmehr an Lohndumping; man denkt daran, dassMenschen als Streikbrecher eingesetzt werden usw .Genau weil das so ist, haben wir gesagt: Wir wollendie Leiharbeit heute wieder auf ihre Kernfunktion hinorientieren .
Das ist richtig, und das ist wichtig . Das ist ein Anfang .Beate Müller-Gemmeke
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Meine Damen und Herren, das ist mir ganz besonderswichtig im Hinblick auf die neuen Bundesländer, weildas ein wichtiges Signal für die Tarifbindung darstellt .
Für uns ist ganz klar: Soziale Marktwirtschaft gibt esnur mit starken Sozialpartnern . Soziale Marktwirtschaftläuft in die falsche Richtung, wenn immer mehr Unter-nehmen die Arbeitgeberverbände verlassen; das ist inmeinem Bundesland Sachsen-Anhalt Tatsache . Sie set-zen auf unsichere Arbeitsverhältnisse . Deshalb setzenwir ein klares Signal . Wir setzen auch Grenzen, nämlichbei der Höchstüberlassungsdauer und auch beim Lohn:gleicher Lohn für gleiche Arbeit .Herr Ernst, ich möchte ein Beispiel nennen . Ich warunlängst in Thüringen bei Kali und Salz . Es gibt auch an-dere Beispiele für Leiharbeitsfirmen; ich nenne die Firmajetzt einfach, weil das ein gutes Beispiel war: Technicum .Diese Firma arbeitet für Kali und Salz im VerbundwerkWerra . Sie hat den Tarifvertrag von Kali und Salz für ihreMitarbeiter übernommen . Da sage ich: Weiter so! WennLeiharbeitsfirmen so arbeiten, ist es etwas Gutes.
Meine Damen und Herren, wir begegnen dem Miss-brauch von Leiharbeit und Werkverträgen genau auf die-se Weise . Wir sagen aber auch, dass Betriebe und Ge-werkschaften bei ihren Verhandlungen den Spielraumbekommen sollen, damit sie abweichen können . DieIG Metall zum Beispiel hat explizit darum gebeten .Wir sagen: Hoffentlich schafft das Anreize, dass Ar-beitgeber wieder in den Arbeitgeberverband und an denVerhandlungstisch zurückkehren . Das stärkt die Tarifbin-dung .
„Spielraum schaffen“ heißt aber auch, dass die Situati-on der Hälfte der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeit-nehmer verbessert werden kann, nämlich die Situationderjenigen, die weniger als neun Monate im Leihbetriebarbeiten . Auch darüber kann am Verhandlungstisch ge-sprochen werden, an dem nun auch die Betriebsrätegestärkt sitzen, weil sie besser über die Zahlen undAufgaben des Fremdpersonals auf dem FirmengeländeBescheid wissen .Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer – dashat auch die Staatssekretärin vorhin gesagt – werden inZukunft mitgezählt, wenn es darum geht, freigestellteBetriebsräte zu wählen und Aufsichtsratsposten zu beset-zen .
Auch das, meine Damen und Herren, stärkt die Positi-on von Beschäftigten .Ich weiß – mir geht es auch so –, dass dieser Gesetz-entwurf nicht das Nonplusultra ist . Wir haben auch kla-rere Regeln erwartet . Dennoch ist der Gesetzentwurf zudieser Zeit richtig . Wir kommen dem Ziel, Leiharbeitund Werkverträge zu bekämpfen, ein Stück näher . Wirals SPD bleiben jedenfalls dran .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ich habe meinen Sprechzettel schon zusammengefal-
tet .
Wunderbar .
Ich will nur sagen, dass für die SPD das Thema so
wichtig ist, dass wir es auf jeden Fall nicht aus den Au-
gen verlieren .
Vielen Dank .
Ich bitte noch einmal, etwas mehr auf die Uhr zu ach-
ten . Zeitlich liegen wir schon eine halbe Stunde zurück .
Es wäre nicht so gut, wenn ich zum Schluss mit meinen
Kolleginnen hier oben und den Redenden allein wäre,
weil alle anderen schon auf dem Weg in ihren Wahlkreis
sind . Daher bitte ich, das auch ein wenig zu berücksich-
tigen .
Frau Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bundesregierung peitscht dieses Gesetzmit einem Affenzahn durch den Bundestag,
als ginge es um die Agenda 2010; das hatten wir dochschon einmal . Seit es Leiharbeit und Werkverträge gibt,gibt es zwei Klassen von Belegschaften in den Betrieben .Trotzdem unternimmt die Bundesregierung nichts, undbei Werkverträgen und Leiharbeit bleibt praktisch allesbeim Alten . Das ist absoluter Beschiss an den Beschäf-tigten .
Im Supermarkt sehen wir das Zweiklassensystem di-rekt . Die Stammbelegschaft trägt weiße Kittel, Werkver-Waltraud Wolff
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tragsbeschäftigte tragen schwarze T-Shirts . Alle machendie gleiche Arbeit . Die Beschäftigten in Weiß haben gere-gelte Arbeitszeiten und einen Tariflohn. Ihre Kolleginnenund Kollegen in Schwarz können oft nur davon träumen .Aber anstatt diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zubeseitigen, passiert nichts . Selbst zu einer Umkehr derBeweislast zugunsten der betroffenen Beschäftigten sindSie nicht bereit. Sollte sich ein Betroffener doch einmalvor Gericht trauen, hat er vermutlich keine Chance . Erkann nicht wirklich nachweisen, dass es sich um einenScheinwerkvertrag handelt . Die dafür notwendigen Do-kumente hat in der Regel nur der Arbeitgeber . Damit istklar: Beschäftigte, die über Scheinwerkverträge ausge-beutet werden, bekommen von der Bundesregierung kei-ne Hilfe . Aber auch legale Werkverträge werden genutzt,um ganze Produktionslinien auszulagern . Ziel dabei ist,Lohnkosten zu sparen und Belegschaften zu spalten .Die beste Möglichkeit, gegen Missbrauch von Werk-verträgen vorzugehen, ist die Stärkung der zwingendenMitbestimmung . Informationsrechte der Betriebsrätesind keinen Pfifferling wert, wenn diese nichts tun kön-nen, um Ungerechtigkeiten zu beenden .
Damit fallen Sie den Betriebsräten in den Rücken .Ich selbst bin seit 44 Jahren Mitglied der Gewerk-schaft . Wenn ich von Ihnen höre, dass „die Gewerk-schaften“ das eingefordert haben, dann schwillt mir derKamm . Sich bei den Gewerkschaftsvorsitzenden imMinisterium für Arbeit und Soziales die Zustimmungzu holen, bedeutet nicht, dass gleichzeitig alle Gewerk-schaftsmitglieder diese Positionen mittragen . Hören Sieauf, ständig Millionen Beschäftigte für Ihre Interessenzu vereinnahmen! Die Beschlusslage auf den Gewerk-schaftstagen zu Leiharbeit und Werkverträgen ist ganzklar: Gleiches Geld für gleiche Arbeit ab dem ersten Tag!Und: Stopp des Missbrauchs von Werkverträgen durchStärkung der Mitbestimmung!Frau Wolff, Sie haben gesagt, es handele sich um eineStärkung der Tarifverträge . Ich habe gelernt, dass Tarif-verträge dazu da sind, bessere Regelungen zu schaffen,keine schlechteren. Was nun passiert, schafft schlechte-re Bedingungen für die Beschäftigten . In meiner Regiongibt es Tarifverträge, die gleiches Geld für gleiche Arbeitvorsehen . Das ist also möglich . Ich kenne das aus eige-ner Erfahrung . Aber das, was hier passiert, ist das genaueGegenteil . Das wird sich gegen die Gewerkschaften wen-den . Sie vertreten als Bundesregierung und Große Koa-lition nicht meine Interessen als Gewerkschafterin . Sievertreten nicht die Interessen vieler Beschäftigter undBetriebsräte, erst recht nicht die Interessen aller Beschäf-tigten .
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen .
Ich habe gehofft, dass Sie mir zusätzliche Zeit geben,
wenn ich schon keine Frage stellen kann . Aber ich habe
auch nur noch einen Satz zu sagen .
Die Linke lehnt diesen Gesetzentwurf ab, weil er kei-
ne Verbesserung für die Betroffenen, sondern eine Ver-
schlechterung darstellt .
Als nächster Redner hat Wilfried Oellers von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den Ge-setzentwurf zu den Werkverträgen und der Zeitarbeit . ImKoalitionsvertrag haben wir seinerzeit vereinbart, demMissbrauch von Werkverträgen und Zeitarbeit entgegen-zuwirken . Dabei bestand die Besonderheit der Gesetzes-initiative darin, dass auf der einen Seite dem Missbrauchentgegengewirkt werden sollte und auf der anderen Sei-te die Werkverträge und die Zeitarbeit als Flexibilisie-rungsinstrument in handhabbarer Weise erhalten bleibensollten, da sie in der heutigen Arbeitswelt und für unsereWirtschaft einfach unverzichtbar sind .Anzuerkennen ist, dass gerade die Zeitarbeitsbranchebzw . die Tarifpartner in den letzten Jahren viele Maßnah-men umgesetzt haben, um diesen Bereich zu regeln undMissbrauch entgegenzuwirken .Zudem weise ich auch an dieser Stelle ausdrücklichauf die positiven Aspekte der Zeitarbeit hin: Brücken-funktion für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt,
der hohe Klebeeffekt hin zur festen Anstellung beimEntleiher, auch Fahrdienste für Mitarbeiter gerade inländlichen Bereichen mit ungünstigen Verbindungen imöffentlichen Nahverkehr, Qualifizierung der Mitarbeiterdurch die Zeitarbeitsunternehmen . Kleine Unternehmenohne Personalabteilung bedienen sich der Zeitarbeitsun-ternehmen im Wege des Personalrecruitings, und jungeMenschen und Absolventen finden über Zeitarbeitsun-ternehmen zum Teil schneller eine feste Anstellung beiUnternehmen .
Zeitarbeitsunternehmen können in diesen Fällen pass-genaue Lösungen bieten . Das hilft nicht nur den Unter-nehmen, sondern allen voran den Menschen, in Arbeit zukommen. Diese positiven Effekte der Zeitarbeit wurdenmir im Rahmen meiner Sommertour durch meinen Wahl-kreis häufig bestätigt.Neben all den positiven Auswirkungen verkenne ichselbstverständlich nicht, dass es an der einen oder ande-ren Stelle auch Missbrauch gibt . Diesem werden wir mitdiesem Gesetz weiter entgegenwirken . Neben den bereitsgenannten Regelungen möchte ich ergänzend Folgendeserwähnen: Als Jurist sei es mir erlaubt, zunächst auf dieRegelung des § 611a BGB hinzuweisen, die im parla-Jutta Krellmann
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mentarischen Verfahren überarbeitet wurde und nun inder Systematik des BGB hilft, den Arbeitsvertrag vomWerkvertrag besser abzugrenzen .Im Betriebsverfassungsgesetz haben wir die Informa-tionsrechte des Betriebsrates konkretisiert . Nach § 80Absatz 2 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz hat der Un-ternehmer dem Betriebsrat den Vertrag vorzulegen, dener mit dem Werkunternehmen bzw . mit dem Zeitarbeits-unternehmen geschlossen hat . Nicht gemeint sind damitjedoch die Arbeitsverträge, die der Werkunternehmerwiederum mit seinen Mitarbeitern geschlossen hat .Nun zu den Regelungen in der Zeitarbeit . Equal Paynach 9 Monaten und eine Höchstüberlassungsdauer von18 Monaten gepaart mit einer tariflichen Öffnungsklauseleröffnen Möglichkeiten, branchenspezifische Regelun-gen zu treffen, und stärken die Tarifautonomie.
Eine wichtige Rechtsklarstellung wurde in die Pro-tokollerklärung des Ausschusses dahin gehend aufge-nommen, dass Beratungsunternehmen und Unternehmenim Bereich der IT, die zum Beispiel bei Optimierungs-,Entwicklungs- und IT-Einführungsprojekten eingesetztwerden, nicht unter die Arbeitnehmerüberlassung des§ 1 AÜG fallen . Gleiches gilt auch klarstellend für dieDRK-Schwesternschaft .Das aufgenommene Streikbrecherverbot ist so gestal-tet, dass Zeitarbeitnehmer, die vor Beginn eines Streiksbereits in dem bestreikten Entleiherunternehmen arbei-ten, weiter ihre Tätigkeit verrichten dürfen, wenn sie eswollen, und in Betriebsteilen, die nicht bestreikt werden,auch weiter neue Zeitarbeitnehmer eingesetzt werdendürfen . Vorausgesetzt ist allerdings stets, dass sie nichtdie Arbeitsleistung der streikenden Mitarbeiter überneh-men .Die Sanktionen haben unter anderem mit dem Ent-zug der Verleiherlaubnis ein sehr scharfes Schwert . ImRahmen der Protokollerklärung wurde auch hier klar-stellend darauf hingewiesen, dass ein erstmaliger odergeringfügiger Verstoß nicht zum Entzug der Verleiher-laubnis führt . Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes erstzum 1 . April nächsten Jahres wird allen Beteiligten dieGelegenheit gegeben, sich auf das Gesetz einzustellen .Es wäre sicherlich nicht angemessen gewesen, wenn wiruns hier im Parlament zwei Jahre Zeit nehmen, um dasGesetz zu verabschieden, und das Gesetz dann einen Mo-nat später vollständig umgesetzt werden muss .Neben vielen Klarstellungen ist es mir ein besonderesAnliegen, darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich des Wi-derrufsrechts nach § 9 AÜG im parlamentarischen Ver-fahren noch ein weiteres Verfahren gesetzlich geregeltwerden konnte, mit dem dem Missbrauch von vorzeitigabgegebenen Blankoerklärungen entgegengewirkt wer-den kann . Somit konnte im parlamentarischen Verfahrenmehr Rechtsklarheit erreicht werden, eine Schutzrege-lung gegen Missbrauch aufgenommen werden, der Über-gang in das neue Gesetz praxisfreundlicher und § 611aBGB rechtssystematisch korrekt gestaltet werden .Mit der gesetzlich aufgenommenen Evaluation für dasJahr 2020 macht der Gesetzgeber deutlich, dass er dieEntwicklung des Gesetzes aufmerksam beobachten under gegebenenfalls korrigierend eingreifen wird . Es ist inmeinen Augen nun geboten, die Wirkung des Gesetzeszunächst einmal abzuwarten, anstatt die Zeitarbeit unddie Werkverträge stets an den Pranger zu stellen . Es soll-te nach den langen und intensiven Diskussionen, die wirgeführt haben, nun einmal auch Ruhe im Rahmen dieserThematik eintreten können .
Abschließend bedanke ich mich ausdrücklich bei Mi-nisterin Nahles, bei der Staatssekretärin Kramme, bei denMitarbeitern des BMAS – namentlich darf ich hier FrauLoskamp erwähnen – sowie bei unseren Kolleginnen undKollegen des Koalitionspartners für die konstruktivenGespräche .Herzlichen Dank .
Markus Paschke hat als nächster Redner für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bevor ich in das Inhaltliche einsteige, Folgendes: Kolle-gin Krellmann, ich hatte bei Ihrem Beitrag den Eindruck,dass Sie hier – nach dem Motto, dass es gute und schlech-te Gewerkschafter gibt – versuchen, die Gewerkschaftenso ein bisschen zu spalten. Ich finde, dass das nicht soist . Die Gewerkschaften sind die einzige Kraft, die aus-schließlich die Arbeitnehmerinteressen vertritt . Und Siewissen genauso wie ich, dass die Absenkung des Stan-dards durch Scheingewerkschaften und Gefälligkeitsta-rifverträge verursacht wurde – und nicht durch die Ge-werkschaften, die jetzt versuchen, da eine Besserung fürdie Arbeitnehmer zu erreichen .
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wirMissbrauch bekämpfen wollen . Und das ist uns mit die-sem Gesetz auch ein richtig gutes Stück weit gelungen .Wir sind Realisten: Es wird immer jemanden geben, dersich um Gesetze und Regeln nicht schert . Aber um diesePappenheimer haben wir uns besonders gekümmert, unddas ist auch gut so . Wenn zukünftig gegen Arbeitnehmer-schutzrechte, die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetzverankert sind, verstoßen wird, wird es nicht mehr nureinen Klaps auf die Finger geben, sondern es werden or-dentliche Sanktionen verhängt . Das ist, glaube ich, das,was dieses Gesetz so wertvoll macht .Es gibt hohe Geldstrafen von 30 000 Euro bis zu500 000 Euro . Weiterhin ist es möglich, bei härteren bzw .nachhaltigen Verstößen die Überlassungserlaubnis zuentziehen . Bei Überschreitung der Höchstüberlassungs-dauer, bei Scheinwerkverträgen oder unerlaubter Über-Wilfried Oellers
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lassung kommt zukünftig ein Arbeitsverhältnis mit demEinsatzbetrieb zustande . Das ist doch die ganz entschei-dende Frage .
In diesem Zusammenhang gibt es für die Arbeitneh-mer ein Widerspruchsrecht . Es ist auch ganz klug, daszu machen . Denn es gibt doch den einen oder anderenFall, wo ein Arbeitnehmer gar nicht in einen Einsatzbe-trieb wechseln möchte . Das kann der Fall sein, wenn erweiß, dass dieser Betrieb kurz vor der Insolvenz steht,oder wenn sich der Chef dieses Betriebes nicht besonderswertschätzend gegenüber seinen Mitarbeitern verhält .Dieses Widerspruchsrecht wurde im Vorfeld häufigkritisiert . Es wurde befürchtet, dass das ein Einfallstorist, um neue Umgehungstatbestände zum Beispiel durchBlankowidersprüche zu schaffen.
– Nein, Jutta, überhaupt nicht . – Wir wissen auch, dasses Urkundenfälschung ist – das ist heute schon verbo-ten –, jemanden zu nötigen, etwas blanko zu unterschrei-ben . Aber wir wissen auch, dass diejenigen, die gegenGesetze verstoßen bzw . sie umgehen wollen, sich darumnicht scheren . Deswegen haben wir deutlich gemacht,dass Widersprüche nur gegenüber der Bundesagenturfür Arbeit abgegeben werden können . Das ist auch gutso; denn dann sind Blankowidersprüche ausgeschlos-sen . Weiterhin ist wichtig, dass die Aufsichtsbehördezukünftig immer gleich Kenntnis von solchen Verstößenbekommt . Das ist, glaube ich, ein ganz deutliches Signaldahin gehend, dass wir es ernst meinen, den Missbrauchzu bekämpfen .
Last, but not least haben wir in das Gesetz eine Über-prüfungsklausel hineingeschrieben . Das heißt, dass wirdarauf schauen werden, ob die Regeln, die wir jetzt auf-gestellt haben, wieder missbraucht werden . Wir werdendas überprüfen . Und wenn das der Fall ist, werden wirnachsteuern und das verschärfen . Das ist, glaube ich, derrichtige Ansatzpunkt .
Damit, Herr Kollege, müssen Sie auch zum Schluss
kommen .
Ich komme zum Schluss . – Das gibt den Tarifpartei-
en die Chance, zu beweisen, dass sie sich an die Regeln
halten . Wenn das der Fall ist, dann ist es gut . Wenn nicht,
werden wir da wieder herangehen .
Ich danke allen Beteiligten – insbesondere denen aus
dem Ministerium –, die sich an der Erstellung des Ent-
wurfs beteiligt haben, und wünsche uns ein schönes Wo-
chenende .
Danke schön .
Als letzter Redner in der Debatte hat Tobias Zech das
Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennman den Kollegen der Opposition zuhört, könnte manglauben, wir sprechen hier über moderne Sklaverei .
Wenn ich über Zeitarbeit und Werkverträge nachdenke,dann denke ich an Flexibilität und an Wettbewerbsfähig-keit und nicht per se an Lohndumping und das Ausneh-men von Arbeitnehmern .
Ich denke daran, dass wir mit der Zeitarbeitsbranche eineBranche haben, die sich in den letzten 14 Jahren von ei-ner arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zu einer Branchemit fast 1 Million Mitarbeiter emanzipiert hat, von denen82 Prozent ein unbefristetes Arbeitsverhältnis haben und98 Prozent unter einen Tarifvertrag fallen .
Darauf kann man stolz sein .
Dass Sie hier versuchen, Zeitarbeit per se schlechtzu-reden, lassen wir nicht zu . Zeitarbeit ist eine Stütze derdeutschen Wirtschaft .
Deswegen brauchen wir ein aktuelles und zukunftsge-richtetes Gesetz . Das hat die Koalition aus SPD, CDUund CSU heute vorgelegt .
Viel mehr noch: Zeitarbeit schafft auch Jobs. 70 Pro-zent aller Mitarbeiter in der Zeitarbeit waren vorher ar-beitslos,
Markus Paschke
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20 Prozent davon länger als ein Jahr .
Das heißt: Wir haben mit der Zeitarbeit ein Tool, umMenschen wieder in Arbeit zu bringen, um Menschenwieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren .Stichwort „Werkverträge“ . Das, was wir bei der erstenLesung im Ausschuss mit Ihnen zum Thema Werkver-träge diskutiert haben, hatte, entschuldigen Sie, mit derRealität nichts zu tun . Werkverträge sind kein Instrumentfür Lohndumping .
Werkverträge sind die Grundlage der deutschen Wirt-schaft . Jeder Handwerker, jeder Dienstleister lebt vonWerkverträgen .
Sie reden die per se schlecht . Das entspricht nicht dem,was wir uns für Deutschland wünschen . Das hat nichtsmit der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes zu tun . Dasschafft keine Arbeitsplätze. Das ist Überregulierung. WasSie hier fordern, schafft Arbeitslosigkeit. Das werden wirnicht zulassen .
Wir dürfen und müssen Zeitarbeit und Werkverträgeneinen Rahmen setzen . Das haben wir getan, und zwarmit straffen Sanktionen, mit dem Entzug der vorläufigenÜberlassungserlaubnis, mit der klaren Aussage, was einWerkvertrag und was Zeitarbeit ist .Aber eines sage ich Ihnen auch: Die Entscheidung„Make or Buy“ ist eine unternehmerische Entscheidung .Da gehört sie auch hin . Wer die Verantwortung trägt,muss auch die Entscheidungskompetenz haben . Auchdem werden wir mit diesem Gesetz gerecht .Ziel des Gesetzes ist es, so viel Sicherheit wie nötig,aber vor allem auch so viel Flexibilität wie möglich zuschaffen. Wir wollen gute sozialversicherungspflichtigeArbeitsplätze erhalten und deren Zahl weiter ausbauen .Das ist das Ziel, und das sollte uns hier allen in diesemHaus ins Stammbuch geschrieben werden .Die CSU hat sich, glaube ich, wie keine andere Parteiin diesem Parlament immer wieder für eine Verbesserungund für eine Optimierung der ersten Gesetzesentwürfeeingesetzt . Wir haben um bessere Lösungen gerungen .Ich kann nur sagen: Das ist uns auch gelungen . Ich darfdaran erinnern, dass im ersten Entwurf die OT-Betrie-be überhaupt nicht erfasst waren . Diese haben wir jetzteinbezogen . Somit fällt der Mittelstand auch unter dasGesetz . Wir haben die im ersten Entwurf vorgesehenenRegelungen zum Streikrecht der Realität angepasst . Wirhaben diese unsägliche Positivliste aus dem ersten Ent-wurf komplett gestrichen und stattdessen eine vernünf-tige Definition des Arbeitnehmerbegriffs sowie eine pra-xistaugliche Übergangsregelung festgeschrieben .Wie jedes Gesetz ist auch dieses Gesetz ein Kompro-miss, ein Ringen von unterschiedlichen Auffassungen.Ich bin mit der Equal-Pay-Definition nicht ganz zufrie-den . Dagegen sind andere Kollegen wahrscheinlich mitder Widerspruchsregelung nicht ganz zufrieden .
In drei Jahren schauen wir uns das Ganze noch einmalan in der Evaluation . Bis dahin geben wir dem Gesetzdie Möglichkeit, zu wirken . Ich denke, die Koalition hatheute ein gutes Gesetz vorgelegt . Das Gesetz ist zeitge-mäß . Es hilft, Arbeitsplätze in der Zukunft zu sichern .Deutschland muss wettbewerbsfähig bleiben . Deutsch-land muss fit für die Zukunft bleiben.
Dazu gehört auch der Arbeitsmarkt . Ich kann Ihnen nurdie Zustimmung empfehlen .Herzlichen Dank .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache .Wir kommen zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än-derung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und an-derer Gesetze . Der Ausschuss für Arbeit und Sozialesempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 18/10064, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 18/9232 in der Ausschuss-fassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,um das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiterBeratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-men der Opposition angenommen worden .Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben . –Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit istder Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen derKoalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-men worden .
Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales aufDrucksache 18/10064 fort . Unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 18/9664 mit dem Titel „Etablierung von Leiharbeitund Missbrauch von Werkverträgen verhindern“ . WerTobias Zech
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stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieBeschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitiongegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommenworden .Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 18/7370 mit dem Titel „Missbrauch von Leiharbeitund Werkverträgen verhindern“ . Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthältsich jemand? – Dann ist diese Beschlussempfehlung mitden Stimmen der Koalition und den Stimmen der Frak-tion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/DieGrünen angenommen worden .Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermitt-lung von Regelbedarfen sowie zur Änderungdes Zweiten und des Zwölften Buches Sozial-gesetzbuchDrucksache 18/9984Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des AsylbewerberleistungsgesetzesDrucksache 18/9985Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieParlamentarische Staatssekretärin Lösekrug-Möller fürdie Bundesregierung das Wort .
G
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Alle fünf Jahre legt
das Statistische Bundesamt neue Daten über das Ausga-
beverhalten in Deutschland vor, die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe . Auf dieser Grundlage müssen
die Leistungssätze sowohl im Sozialgesetzbuch II und
im Sozialgesetzbuch XII als auch im Asylbewerberleis-
tungsgesetz angepasst werden .
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung der
Regelbedarfe und mit dem Entwurf eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes
setzen wir diesen gesetzlichen Auftrag um . Für viele
Menschen bringen die Anpassungen Verbesserungen mit
sich . Nach dem Entwurf für ein Regelbedarfs-Ermitt-
lungsgesetz steigen die Regelbedarfe für Alleinstehende
zum 1 . Januar 2017 um 5 Euro auf 409 Euro .
Von den neuen Regelsätzen werden Kinder der Regel-
bedarfsstufe 5 besonders profitieren. Das sind Kinder im
Alter von 6 bis 13 Jahren . Sie erhalten künftig in jedem
Monat 21 Euro mehr . Dort, wo die Regelbedarfe nach
der EVS 2013 geringer wären als bislang – nämlich bei
Kindern bis zum Alter von 5 Jahren – stellen wir sicher,
dass die Leistungen nicht sinken .
Weiterhin regelt der Gesetzentwurf nunmehr endgül-
tig, dass volljährige Menschen mit Behinderungen im
Haushalt der Eltern, Freunde oder Verwandten künftig
dauerhaft die höhere Regelbedarfsstufe 1 erhalten . Dane-
ben können künftig volljährige Personen, die zum Haus-
halt gehören, auch dann pauschalierte Unterkunftskosten
geltend machen, wenn sie nicht verpflichtet sind, Unter-
kunfts- und Heizkosten zu tragen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Asylbewerber-
leistungsgesetz sinken durch die notwendigen Anpassun-
gen aufgrund von Besonderheiten unter dem Strich die
in Geld ausbezahlten Leistungssätze . Ich will dafür ein
Beispiel geben . Zukünftig wird insbesondere auch der
Bedarf für Strom – wie heute schon der für Hausrat – aus
dem Leistungssatz ausgegliedert, weil auch der Strom in
der Regel als Sachleistung erbracht wird . Im Ergebnis
sinken deshalb die Leistungssätze für den notwendigen
Bedarf .
Wir regeln auch die Bedarfsstufen im Asylbewerber-
leistungsgesetz neu . Es wird eine neue niedrigere Be-
darfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte in Sam-
melunterkünften festgelegt .
Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Wohnraum
gemeinschaftlich genutzt wird und bestimmte Kosten,
etwa für Mediennutzung, aufgeteilt werden . Zugleich
stärken wir mit einem neuen Freibetrag für Einnahmen
aus ehrenamtlicher Tätigkeit das Engagement der Flücht-
linge und damit ihre Integration . Damit die höheren Re-
gelbedarfe im SGB II und im SGB XII sowie die ver-
änderten Bedarfsstufen im Asylbewerberleistungsgesetz
zum 1. Januar 2017 in Kraft treten können, hoffen wir auf
eine gute und zügige Beratung .
Vielen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Katja Kipping für dieFraktion Die Linke .
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-raten hier über die Neuberechnung der Hartz-IV-Regel-sätze . Davon sind nicht nur Langzeiterwerbslose betrof-fen, sondern eben auch arme Rentner, Alleinerziehende,die aufstocken müssen, oder Asylbewerber . Kurzum:8,5 Millionen Menschen sind von diesen Gesetzen direktbetroffen. Ich finde, das, was Sie als Regierung hier vor-gelegt haben, geht nicht .
Es geht bei den Regelsätzen doch nicht um ein Almo-sen, das die Regierung den armen Menschen in diesemLand großzügig zugesteht . Wir reden hier über das sozio-kulturelle Existenzminimum . Ich weiß, „soziokulturellesExistenzminimum“ ist ein etwas sperriger Begriff. Ge-meint ist: Wir reden hier über ein Grundrecht, nämlichdas Recht, nicht nur materiell zu überleben, sondern auchein Mindestmaß an kultureller Teilhabe in diesem Landzu erhalten . Die vorgesehenen Regelsätze werden diesemAnspruch nicht gerecht . Ich sage es ganz klar: Mit diesenRegelsätzen leistet Schwarz-Rot Beihilfe zur Verarmungganzer Bevölkerungsschichten . Da machen wir, die Lin-ke, nicht mit .
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, wie die Re-gelsätze berechnet werden sollen . Diese Regierung hatsich für das Statistikmodell entschieden . Das heißt, ver-schiedene Haushalte müssen über drei Monate hinweg ineinem Haushaltsbuch all ihre Ausgaben festhalten . Vondiesen Haushalten nimmt man dann die untersten 15 Pro-zent der Einkommenshierarchie; den entsprechendenPersonenkreis nennt man dann Referenzgruppe .Da haben wir bereits das erste Problem . Wir wisseninzwischen dank einer Berechnung von Irene Becker,dass das durchschnittliche Einkommen dieser Gruppebei 764 Euro im Monat liegt . Das heißt, wir leiten vonden Ausgaben, die wirklich arme Menschen haben, dieBerechnung der Hartz-IV-Regelsätze ab . Kurzum: Wirbefinden uns in diesem Land in einer Verarmungsspirale.Doch wir als Linke wollen heraus aus der Verarmungs-spirale .
Aber es geht weiter mit dem Kleinrechnen . Sie kom-men dann noch mit Abschlägen. In der Öffentlichkeitwird immer nur von Abschlägen für Alkohol und Ziga-retten gesprochen . Was im Hause Andrea Nahles immergern verschwiegen wird, ist ja, dass Sie auch Ausgabenfür Gartenarbeiten als nicht regelsatzrelevant einstufen .Im Klartext heißt das: Erwerbslosen gestehen Sie nichtdas Recht zu, in einem Nachbarschaftsgarten oder ineinem Schrebergartenverein aktiv zu sein oder auf demBalkon Tomaten zu züchten .
Außerdem legen Sie fest: Ausgaben für Beherbergungsind nicht regelsatzrelevant . Wir sind uns doch einig,dass es bei dieser Gruppe eh nicht um Menschen geht, diesich irgendeinen Wellnessurlaub in einem Viersterneho-tel leisten können . Wir reden hier aber darüber, dass mansich mit seinem Kind auch dann, wenn man in Hartz IVist, vielleicht eine Woche auf einem Zeltplatz leistenkann. Ich finde, das ist das Mindeste, und es macht michwütend, dass Sie das den Leuten nicht zugestehen .
Bewirtungskosten gelten bei Ihnen als nicht regelsatz-relevant . Wir reden hier doch nicht über Essen in einemSternerestaurant . Worüber reden wir? Wir reden darüber,dass sich auch Erwerbslose, die in einem Verein aktivsind, bei einem Treffen in der Vereinskneipe eine Tas-se Kaffee leisten können. Sollen diese Menschen dennimmer ihren Instantkaffee und eine Thermoskanne mitheißem Wasser mitbringen, um dazuzugehören? WennErwerbslose ihr Kind von der Kita abholen, an einer Eis-diele vorbeigehen und alle anderen Kinder eine KugelEis bekommen, sollen sie dafür dann kein Geld haben,weil Sie als Ministerin sagen: „Es tut uns leid; Sie sind inHartz IV; die Ausgaben dafür sind Bewirtungskosten undgelten daher als nicht regelsatzrelevant“?
Oder nehmen wir die Kosten für Haustiere . Wenn es nachdieser Regierung geht, wenn es nach Schwarz-Rot geht,dann sind die Kosten für Haustiere nicht regelsatzrele-vant . Wer also in Hartz IV fällt, der muss seinen Hundwomöglich im Tierheim abgeben oder aber er muss sichdas Geld für Hundefutter im wahrsten Sinne des Wortesvom Munde absparen .Kurzum: Was Sie hier machen, ist eine große Bevor-mundung über materielle Not . Wissen Sie: Selbst nachdieser fragwürdigen Statistikmethode müssten die Regel-sätze bei mindestens 560 Euro liegen, wenn man alleinauf die bevormundenden Abschläge verzichtet .
Ich sage eines in aller Deutlichkeit: Was diese Gesell-schaft braucht, ist eine grundlegende Alternative zumHartz-IV-System . Deswegen streiten wir als Linke füreine sanktionsfreie, individuelle Mindestsicherung inHöhe von 1 050 Euro .
Um es zusammenzufassen: Andrea Nahles rechnet dieRegelsätze nach Gutdünken klein . Als die SPD noch inder Opposition war, haben Sie all diese Tricks, als IhreVorgängerin Ursula von der Leyen sie angewandt hat,noch heftigst als Kleinrechnerei kritisiert .
Das kann ich nachweisen . Es gibt entsprechende Zei-tungsartikel, mir liegen Ihre Anträge und Redebeiträgevor. Heute wenden Sie die Tricks selber an. Ich finde,das ist schäbig . Das ist übler vorauseilender Gehorsamgegenüber der schwarzen Null von Herrn Schäuble .
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Ich komme zum Schluss . Wir als Linke werden unsnicht damit abfinden. Wir werden keine Ruhe geben, bisin diesem Land alle Menschen frei von Armut sind . Ja,Freiheit von Armut und Sanktionsfreiheit, das ist dasZiel, für das wir mit aller Entschiedenheit kämpfen .
Nun geht es bei diesem Tagesordnungspunkt auchum Änderungen im Asylbewerberleistungsgesetz . Dazukann ich aus Zeitgründen nichts mehr sagen . Ich will nurdarauf hinweisen: Dieser Gesetzentwurf bringt etwasSchlimmes zum Ausdruck . Was Sie hier machen, das isteine migrationspolitische Relativierung der Menschen-würde, und das werden wir als Linke heftigst kritisieren .Vielen Dank .
Jana Schimke hat als nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder inunserem Land kann darauf vertrauen, bei Hilfebedürftig-keit durch den Staat und durch die Gemeinschaft unter-stützt zu werden . Das ist das Selbstverständnis und dieGrundlage unseres Sozialstaates . Das Prinzip „Hilfe zurSelbsthilfe“ leitet unsere Institutionen bei der sozialenUnterstützung und Integration der Menschen in den Ar-beitsmarkt . Doch auch in Zeiten einer guten Konjunktur,eines prosperierenden Arbeitsmarktes und eines stabilenHaushaltes gibt es Menschen, die auf Unterstützung an-gewiesen sind . Deshalb sind wir dazu angehalten, in al-ler Regelmäßigkeit die Standards der sozialen Sicherungin Deutschland zu überprüfen . Anlass dazu gibt uns dieneue Einkommens- und Verbraucherstichprobe
als wichtige amtliche Statistik über die Lebensverhältnis-se privater Haushalte in Deutschland .In unserer heutigen Debatte betrifft dies Menschen,die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, soge-nannte Langzeitarbeitslose, und nach dem Sozialge-setzbuch XII beziehen . Darunter fallen unter anderemRentner, die Grundsicherung beziehen, erwerbsgemin-derte Menschen oder auch Personen in stationären Ein-richtungen . Wir diskutieren zudem über Menschen, diedurch Leistungen gemäß Asylbewerberleistungsgesetzunterstützt werden .Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass auch Bedürfti-ge in unserem Land von der guten gesamtwirtschaftlichenund arbeitsmarktpolitischen Lage profitieren. Deshalbwerden ab kommendem Jahr die Regelsätze im SGB IIund im SGB XII um durchschnittlich 5 Euro erhöht . FürKinder im Alter von 7 bis 14 Jahren werden wir die Re-gelsätze um 21 Euro anheben . Unser Ziel ist und bleibt,Kinder aus bedürftigen Familien zielgerichtet und durcheine chancengerechte Politik zu unterstützen; denn zu oftüberträgt sich die Bedürftigkeit in Familien auf spätereGenerationen . Das wollen und das müssen wir ändern .Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung für denWeg in Arbeit und aus Hartz IV . Hier unterstützen unsereBehörden, zum Beispiel mit den Jugendberufsagenturen .Dabei muss man ganz nüchtern sagen – gestatten Sie mirdiese Bemerkung am Rande meiner Ausführungen –,dass auch die Arbeit unserer Arbeitsvermittler in denAgenturen vor Ort immer mehr der Arbeit von Sozial-arbeitern gleicht . Deshalb sind an dieser Stelle vor allenDingen die Eltern gefragt . Sie tragen die Verantwortungdafür, staatliche Angebote für ihre Kinder in Anspruchzu nehmen .Meine Damen und Herren, auch die Regelsätze nachdem Asylbewerberleistungsgesetz sind Gegenstand desvorliegenden Gesetzentwurfes . Man kann sicher sagen,dass wir in diesem und im letzten Jahr eine Vielzahl not-wendiger Regelungen im Bereich der Asylpolitik auf denWeg gebracht haben . Das Ergebnis ist, dass wir heute dasschärfste Asylrecht haben, das wir in der BundesrepublikDeutschland je hatten .
Die Verfahren wurden beschleunigt und vereinfacht undFehlanreize beseitigt . Seitdem erhalten Asylbewerbervorrangig Sach- statt Geldleistungen .Das berücksichtigen wir jetzt auch bei der Berech-nung der Regelbedarfe . Wir werden die Regelsätze beimsogenannten notwendigen Bedarf – was ist das? das istder Bedarf für Nahrung, für Kleidung, für die Unterkunft,für die Gesundheitspflege oder auch für Haushaltspro-dukte – ab 2017 um durchschnittlich 17 Euro reduzie-ren . Denn gerade in den Sammelunterkünften – in ihnenleben nun einmal Menschen, die Leistungen nach demAsylbewerberleistungsgesetz beziehen –
werden nicht alle notwendigen Leistungen von den Be-wohnern selbst erbracht .
Dazu zählen zum Beispiel die Kosten für das Wohnen,für Strom oder auch die Wohnungsinstandsetzung .
Mit der Reduzierung des Regelsatzes beim notwen-digen Bedarf schaffen wir somit Klarheit und auch mehrGerechtigkeit im Sinne aller, die in Deutschland auf staat-liche Hilfen angewiesen sind . Wohlgemerkt ist dies auchein ganz konkretes Beispiel dafür, wie wir Fehlanreize inder bisherigen Asylpolitik reduzieren und abbauen .
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Meine Damen und Herren, ich möchte eindringlichdavor warnen, die soeben erläuterten Anpassungen undKürzungen zu kritisieren . Sozialpolitik ist immer etwas,was sich eine Gesellschaft leisten muss und sich auchleisten können muss .
Ich denke hier gerade an jene Menschen, die sie mit ih-ren Steuern und mit ihrem Einkommen ermöglichen . Diegroße Solidarität gegenüber Hilfebedürftigen, aber auchdie sozialen Standards, die wir uns geben, sind eine Be-sonderheit unserer Gesellschaft .
Deshalb sollten wir alles dafür tun, dass es diese Solida-rität auch morgen noch gibt .
Meine Damen und Herren, wir regeln im Gesetzent-wurf aber nicht nur die Anpassung der jeweiligen Re-gelbedarfe . Vorgesehen ist auch eine Neuabgrenzungbei den Regelbedarfsstufen . So richtet sich der Umfangsozialer Unterstützung in Deutschland danach, wie vielHilfe man tatsächlich benötigt . Besteht eine Ehe odereine Lebensgemeinschaft oder gibt es andere Ressour-cen, auf die man selbst zurückgreifen kann, ist der Be-darf an staatlicher Hilfe entsprechend geringer . So habenMenschen mit Behinderung, die bei ihrer Familie oder ineiner Einrichtung leben, bisher einen geringeren Regel-satz erhalten als Alleinlebende . Das Bundessozialgerichthat uns beauftragt, das zu ändern .
Ich halte das für richtig . Denn Menschen mit Behinde-rung haben oft nicht die Wahl zwischen einem Leben inder Gemeinschaft oder als Alleinlebende .
Sie sind ein Leben lang auf die Hilfe anderer angewiesen .Strittig stellen möchte ich jedoch die Frage, ob Perso-nen, die zwar nicht liiert sind, aber in einer Wohngemein-schaft leben, künftig wie Alleinlebende behandelt wer-den sollten . Konkret hätte dies zur Folge, dass Ehepaareund Lebenspartnerschaften einen geringeren Regelsatzerhalten und damit benachteiligt würden .
Jeder von uns weiß, dass das Leben in der Gemein-schaft – und zwar unabhängig davon, ob man verheiratetoder Single ist – immer Einsparungen mit sich bringt .
Denken Sie an die geteilten Kosten für Strom und Kom-munikation oder an die Möbel und Geräte in Küche undBad . Wir sollten deshalb davon absehen, eine Regelungzu treffen, die in der Sozialgesetzgebung eine Privilegie-rung von Alleinstehenden in einer Wohngemeinschaftgegenüber Lebenspartnerschaften bedeutet . Auch daswerden wir in den anstehenden Beratungen thematisie-ren .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn hat für die FraktionBündnis 90/Die Grünen als nächster Redner das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Schimke, Sie haben die Kürzungen im Asylbewer-berleistungsgesetz eben mit dem Abbau von Fehlanrei-zen begründet . Das möchte ich im Protokoll deutlichvermerkt haben .
Wenn das die Begründung ist, dann ist die Änderung ver-fassungswidrig .
Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht,dass die Festlegung der Höhe der Regelsätze nicht vonmigrationspolitischen Überlegungen geleitet sein darf .Denn es handelt sich hier um ein Grundrecht: um einGrundrecht auf Existenzsicherung und ein Grundrechtauf soziale und kulturelle Teilhabe .
Es ist das Ziel der Grundsicherung, soziale und kulturelleTeilhabe zu ermöglichen .Vielleicht noch eine Vorbemerkung, weil sowohl KatjaKipping als auch Jana Schimke sich so ausgedrückt ha-ben, als wären Hartz-IV-Empfänger überwiegend Lang-zeitarbeitslose . Dem ist nicht so . Nur eine Minderheit derHartz-IV-Beziehenden sind Langzeitarbeitslose . Es gibtsogar mehr Erwerbstätige als Langzeitarbeitslose, dieHartz IV beziehen . Diese Gruppe ist deutlich größer alsdie Gruppe der Langzeitarbeitslosen . Insgesamt beziehenJana Schimke
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fast 8 Millionen Menschen Grundsicherungsleistungen .Darum geht es heute .
Ich habe gesagt: Ziel muss es sein, soziale und kul-turelle Teilhabe zu ermöglichen . Die Bundesregierungmacht genau das Gegenteil . Vielleicht kurz für die Zu-schauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen und dieje-nigen, die sich die Debatte später ansehen: Die Idee desStatistikmodells, das hier angewandt wird, ist eigentlichrelativ einfach . Man betrachtet die Ausgaben einer Grup-pe von Menschen, die etwas mehr als Grundsicherunghaben, also gerade so im untersten Teil der Einkommens-verteilung liegen, die keine Grundsicherung beziehen .Anhand ihrer Ausgaben soll der neue Regelsatz berech-net werden . Das ist die Grundidee des Statistikmodells .Die Bundesregierung schlägt jetzt vor – wir als Par-lament müssen das noch ausführlich beraten –, dassdas Einkommen dieser Referenzgruppe erst einmal da-durch reduziert wird, dass nun auch noch Personen inder Gruppe sind, die Grundsicherung beziehen . Dadurchwird das Einkommen also schon ein bisschen geringer .Dann sollen Personen zur Gruppe gehören, die Anspruchauf Grundsicherung haben, diesen Anspruch aber nichtwahrnehmen, also noch weniger als Grundsicherung ha-ben . Dadurch wird das Einkommen der Referenzgruppenoch einmal geringer . Dabei bleibt es nicht . Von den Aus-gaben, die diese Gruppe hat – Katja Kipping hat schongesagt, dass es eine Gruppe ist, die im Durchschnitt einEinkommen an der Armutsgrenze oder sogar darunterhat –, werden noch Ausgaben abgezogen . Das hat dasBundesverfassungsgericht erlaubt, obwohl es metho-disch eigentlich fragwürdig ist . Es hat dabei aber engeGrenzen gesetzt . Was die Bundesregierung vorschlägt,ist eine wahre Kürzungsorgie: Zimmerpflanzen, Haus-tiere, Gartenpflege, Weihnachtsbaum, Handy, Taschen,Regenschirme, Adventsschmuck, das Speiseeis im Som-mer, Fotografien, Campinggeräte, Malstifte für Kinder inder Freizeit, Kleidung für Familienfeste usw . usw . Sie er-möglichen nicht soziale Teilhabe, sie verhindern sozialeTeilhabe mit dem, was Sie hier vorschlagen .
Ich könnte jetzt noch diverse weitere Themen anspre-chen . Die Kürzung bei den Leistungen für Asylbewer-ber wurde schon angesprochen . Es handelt sich um eineKürzung um 10 Prozent, die meines Erachtens nicht ver-nünftig begründet ist . Frau Schimke hat deutlich gesagt,was der eigentliche Grund ist, nämlich der Abbau vonFehlanreizen . Das darf nicht sein .Die Stromkosten werden im Regelsatz nicht vernünf-tig abgedeckt . Das hat das Bundesverfassungsgerichtangemahnt und wird jetzt in vielen Stellungnahmen er-wähnt . Sie werden in der EVS nicht ausreichend ermit-telt . Sie sollten separat vom Regelsatz behandelt werden .Das Problem, dass Hartz-IV-Empfänger auch einmaleinen kaputten Kühlschrank oder eine kaputte Waschma-schine haben, ist nicht gelöst . Für das Problem der soge-nannten Weißen Ware bräuchten wir auch eine Lösung .Der Umgangsmehrbedarf für Kinder, die bei Eltern,die getrennt leben, aufwachsen, wird nicht abgedeckt; daist das Existenzminimum nicht gesichert . Das Bildungs-und Teilhabepaket müsste eigentlich komplett reformiertund verändert werden . Auch das wird nicht angegangen .Die Regelbedarfsstufen sind schon angesprochen wor-den . Das ist völlig unsystematisch . Es gibt viele Punktein diesem Gesetzentwurf, die unbedingt geändert werdensollten .
Ich will noch einmal zum Kern zurückkommen,nämlich zum Regelsatz . Was müsste gemacht werden?Es müsste eine Referenzgruppe betrachtet werden ohnediese Zirkelschlüsse, die Sie machen – so sagt man estechnisch –, also eine Referenzgruppe, bei der klar ist,dass sie keine Grundsicherungsbeziehenden und dass siekeine verdeckten Armen umfasst; die Personen in derReferenzgruppe sollten etwas mehr haben als die der-zeitigen Bezieher von Grundsicherung . Dann darf dieseKleinrechnerei der Ausgaben nicht so stattfinden, wie Siedas gemacht haben . Wenn wir das so machen würden,dann hätten wir endlich wieder eine Grundsicherung, diedas schafft, wofür sie eigentlich da ist, nämlich Armutzu bekämpfen und soziale und kulturelle Teilhabe zu er-möglichen .Vielen Dank .
Dagmar Schmidt hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchteich einmal aus meiner Sicht einordnen, worüber wir hierheute reden . Wir haben in der Großen Koalition großeSozialreformen gemacht und machen sie noch: Mindest-lohn, Rente, Bundesteilhabegesetz und Bekämpfung derLeiharbeit . Eine grundlegende Reform der Regelbedarfemachen wir nicht. Eine grundsätzliche Neufassung findetmit dem Gesetzentwurf nicht statt . Die Anmerkungen,die Kritik des Bundesverfassungsgerichts wurde aufge-nommen, und eine Reihe von Verbesserungen wurde er-zielt . Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller hat daraufhingewiesen .Aber es gilt das Struck’sche Gesetz . Wir möchten nochan einigen Stellen Verbesserungen erzielen . Uns geht esdabei vor allem um konkrete Probleme, die Menschen imTransferleistungsbezug haben . Da ist zum Beispiel diesogenannte Erstrentenproblematik . Menschen, die vomSozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-I-Bezug in die Rentewechseln, müssen einen Monat überbrücken, denn Erste-Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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res wird vorschüssig gezahlt und die Rente erst am Endedes Monats . Das Problem müssen wir lösen .Auch gibt es oftmals Probleme – Herr Strengmann-Kuhn hat es angesprochen – mit der Weißen Ware .Waschmaschinen und Kühlschränke verursachen einma-lig hohe Kosten, wenn sie neu angeschafft werden müs-sen . Eigentlich ist vorgesehen, dass für diesen Fall ausdem Regelsatz angespart werden soll, aber jeden Monatetwas zurückzulegen, beiseitezulegen, das gelingt nurschwer oder gar nicht . Es ist inakzeptabel, dass eine al-leinerziehende Mutter ohne Waschmaschine und Kühl-schrank zurechtkommen soll . Auch dafür brauchen wireine Lösung .
Ein anderes Problem entsteht, wenn die Stromkostensteigen, eine Anpassung an die Preise aber erst im Fol-gejahr stattfindet. Auch das darf nicht dazu führen, dassMenschen der Strom abgeschaltet wird . Deswegen habenwir Erleichterungen für Direktzahlungen erreicht . Sprich:Das Geld wird direkt vom Jobcenter überwiesen, wenndas Konto nicht gedeckt ist . Es muss aber auch möglichwerden, die Nachzahlung zu begleichen . Wir könntenuns für alle diese Fragen erleichterte Darlehensregelun-gen vorstellen, die die Betroffenen zwar nicht aus derVerantwortung lassen, sie aber auch nicht überfordern .Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist, ist die Mobili-tät im ländlichen Raum . Wie können wir erreichen, dassMenschen auch dort mobil bleiben, wo es einen schlech-ten oder gar keinen öffentlichen Personennahverkehrgibt, wenn sie also nicht nur mit Blick auf die Erwerbstä-tigkeit auf einen Pkw angewiesen sind, sondern auch zurBewältigung des ganz normalen Alltaglebens?Ein weiteres und sehr wichtiges Thema ist der Um-gangsmehrbedarf für Alleinerziehende .
Wir wollen nicht, dass der Umgang mit dem anderen El-ternteil dazu führt, dass die Mutter – meistens ist es ja dieMutter – finanzielle Einbußen hat. Jeder weiß, dass esmehr kostet, wenn Kinder bei getrennt lebenden Eltern-teilen aufwachsen . Dem wollen wir Rechnung tragen .
Ein weiterer Punkt, der die Kinder betrifft, ist folgen-der: Bisher ist es leider gängige Praxis, dass aus demBildungs- und Teilhabepaket nur Nachhilfe bezahlt wird,wenn das Kind akut davon bedroht ist, sitzen zu bleiben .Wir würden gerne klarstellen, dass auch dann, wenndie Chance besteht, dass das Kind sich verbessert, vomB- in den A-Kurs, von der Realschule aufs Gymnasiumkommt, eine Unterstützung möglich wird .
– Ja, aber es wird nicht gemacht . Die Länder, auch die, indenen Sie regieren, machen es leider nicht . Die sind fürdie Umsetzung verantwortlich . Wir wollen das im Ge-setz deutlich klarstellen, damit die Länder den Hinweisverstehen – auch die, in denen die Grünen mitregieren –,dass man auch die unterstützen kann, die aufsteigen wol-len .
Gerade bei den Kindern gibt es noch einen großenHandlungsbedarf . Jedes siebte Kind lebt in Armut oderist von Armut bedroht . Immer noch hängt der Bildungs-erfolg vom Einkommen der Eltern ab . Wir werden mitden Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss für Al-leinerziehende schon einiges erreichen . Hier ist nicht nurder Bund gefragt, sondern genauso die Länder und Kom-munen . Wir brauchen eine verbesserte soziale Infrastruk-tur: Ganztagsschulen, kleine Klassen, gemeinsames Ler-nen, aber auch eine bessere Ausstattung der Kinder- undJugendhilfe, des Erfolgsprogramms „Soziale Stadt“ undvieles mehr . Da haben wir, Bund, Länder, Kommunen,noch einen weiten Weg vor uns, aber Chancengleichheitfür alle Kinder herzustellen, bleibt unser Ziel .
Ich fasse zusammen: Wir haben keine grundsätzlichenVeränderungen vorgenommen, aber Verbesserungen er-reicht . Wir wollen im Rahmen der Beratungen noch wei-tere Verbesserungen erzielen, die die konkreten Proble-me lösen . Mit der Bekämpfung von Kinderarmut und derHerstellung von Chancengleichheit haben wir noch drän-gende und große Aufgaben vor uns, an denen ich gernemit allen in diesem Haus weiterarbeiten möchte .Glück auf!
Als nächster Redner hat Professor Dr . Matthias
Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennman am Schluss einer Debatte zu Wort kommt – nichtganz, es kommen ja noch zwei Redner –,
ist man doch sehr versucht, auf die Argumente der vor-herigen Rednerinnen und Redner einzugehen, was ich andieser Stelle auch einmal machen will .Frau Kollegin Schmidt, wir hatten ein sehr konstruk-tives Gespräch über die Punkte, die Sie angesprochenhaben . Ich bin eigentlich sehr zuversichtlich, dass wir dazu einer Einigung kommen werden, weil wir viele Dingeganz ähnlich sehen .
Dagmar Schmidt
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Zweiter Punkt . Ich höre dem Kollegen Strengmann-Kuhn immer sehr gerne zu und möchte eine Anmerkungzu dem machen, was er gesagt hat . Es geht um die WeißeWare. Er hat recht: Es ist ein Problem, dass die Betroffe-nen Waschmaschinen und ähnliche Dinge nicht per Zu-schuss bekommen, sondern dafür über ein Ansparmodellselbst ansparen müssen, was in der Regel vermutlich denwenigsten gelingen wird . Das hängt aber, lieber KollegeStrengmann-Kuhn, sehr ursächlich mit einer Gesetzesän-derung zusammen, die Rot-Grün im Jahr 2005 zu ver-antworten hatte; denn das ist damals eingeführt worden .
Da das Sein das Bewusstsein bestimmt
– das gesellschaftliche Bewusstsein; vielen Dank –, wün-sche ich mir, dass die Lernerfolge, die es in der Opposi-tion gibt, auch bei einigen anderen Dingen noch etwasstärker ausgeprägt sein mögen .
Auf einen Punkt sollte man noch einmal hinweisen,nämlich auf die Berechnung der Regelsätze . Wenn ich indie Anlage zum Gesetzentwurf schaue, habe ich schonden Eindruck, dass man sich sehr große Mühe gegebenhat, das alles methodisch sauber abzuleiten .
Mir ist auch völlig klar, dass es in der Wissenschaft sehrunterschiedliche Ansätze gibt, wie man das sauber be-rechnet . Ich glaube aber, eines sollte man nicht machen –das hat der Kollege ja auch nicht getan –: Wir solltendenjenigen, die diesen Gesetzentwurf vorbereitet und mitwissenschaftlicher Expertise eine Berechnung durchge-führt haben, nicht die Wissenschaftlichkeit abstreiten .Das wäre sicherlich nicht richtig .Ebenso wenig sollten wir uns darüber aufregen, dassdas Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einenErmessensspielraum gegeben hat . Diesen Ermessens-spielraum hat das Ministerium bei der Formulierung desGesetzentwurfs genutzt . Es hat nicht den höchstmögli-chen Regelbedarf zugrunde gelegt, sondern vernünftigeAbschläge formuliert .
Ich glaube, insgesamt ist etwas herausgekommen, wasangemessen und vertretbar ist .Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch eineBemerkung zu Ihnen, Frau Kipping, machen, weil michIhre Ausführungen etwas verwundert haben . Sie spra-chen von den 8,5 Millionen
indirekt Betroffenen, die über das SGB II Leistungenbeziehen . Frau Kipping, wenn wir den Regelsatz deut-lich erhöhen würden, so wie Sie das wollen – sagen wireinmal: auf 560 Euro –, hätten wir das große Problem,dass es dann nicht nur 8,5 Millionen, sondern weit über10 Millionen Berechtigte geben würde, weil natürlichauch andere Anspruch auf diese Leistungen hätten undin die Gruppe der Bezieher fallen würden . Dann müsstenwir uns von Ihnen anhören, dass durch unsere Politik dieArmut in Deutschland steigt. Das finde ich eine ziemlichverrückte Nummer .
– Frau Kipping, ich weiß nicht, ob Sie auch einmal dasZuhören gelernt haben .
Wir haben es hier mit einer Rationalitätenfalle zu tun,die von Ihnen sehr populistisch genutzt wird. Das findeich eigentlich sehr schade .
– Nein, heute möchte ich sie nicht zulassen .Ich will noch einen Gedanken aufgreifen, den JanaSchimke formuliert hat . Es geht um die Frage, ob wirmit den Regelbedarfsätzen Eltern bzw . Familien diskri-minieren . Ich glaube, das ist hier der Fall; wir müssenuns noch sehr genau darüber unterhalten . Mit diesemGesetzentwurf ist die Regelbedarfsstufe 2 in der Regelfür die Betroffenen vorgesehen, die einen gegenseitigenEinstandswillen bekundet haben, während für die „unab-hängigen Erwachsenen“ die Regelbedarfsstufe 1 vorge-sehen ist, in der mehr gezahlt wird . Ich glaube, das ist derfalsche Weg . Das wäre, wenn man es überspitzt formu-lieren wollte, der endgültige Sieg der Kommune über dasElternhaus . Das halte ich für familienpolitisch falsch undfür gesellschaftspolitisch hoch bedenklich .Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben hierin Bezug auf die Berechnung der Regelsätze einen insge-samt ausgewogenen Gesetzentwurf vorgelegt . Im parla-mentarischen Verfahren haben wir aber, wie die KolleginSchmidt es formuliert hat, noch einiges zu tun . Ich binzuversichtlich, dass wir das in der dafür vorgesehenenZeit schaffen werden und zum 1. Januar 2017 die neuenRegelsätze in Kraft treten lassen können .Vielen Dank .
Dr. Matthias Zimmer
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Daniela Kolbe hat als nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn die Deutsche Post die Portogebühren
anhebt oder die Deutsche Bahn und die Leipziger Ver-
kehrsbetriebe die Fahrkartenpreise erhöhen, dann müs-
sen wir alle miteinander tiefer in die Tasche greifen und
mehr Geld bezahlen . Das ist natürlich für diejenigen, die
auf Hilfe angewiesen sind, besonders spürbar . Deswegen
ist es richtig und gut, dass es regelmäßig eine Einkom-
mens- und Verbrauchsstichprobe gibt, dass es Menschen
gibt, die sich bereit erklären, all ihre Einkäufe zu notie-
ren, anhand dessen wir berechnen können, was die unte-
ren Einkommensschichten ausgeben . Entsprechend kön-
nen wir die Leistungssätze anpassen .
Das gilt auch für Geflüchtete und Geduldete, die Leis-
tungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekom-
men . Das hat jedenfalls das Bundesverfassungsgericht
2012 in seinem Urteil klargestellt . In der Begründung,
Frau Schimke, steht – ich habe gerade einmal hinein-
gesehen –, dass einem jeden nach dem Grundgesetz ein
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdi-
gen Existenzminimums zusteht . Ich muss sagen: Darauf
bin ich sehr stolz. Ich finde es gut und richtig, dass wir
das in Deutschland so handhaben .
Die Berechnung nach dem Asylbewerberleistungs-
gesetz ist geringfügig anders . Außerdem wird dort zwi-
schen notwendigem Bedarf, etwa für Wohnen und Essen,
und persönlichem Bedarf, etwa für kulturelle Aspekte,
unterschieden .
Was genau ändern wir jetzt im Asylbewerberleistungs-
gesetz? Die Leistungen werden zunächst einmal nach der
EVS angepasst, also nach oben . Wir hatten in der Koali-
tion im Rahmen des Integrationsgesetzes vereinbart, den
notwendigen Bedarf anders zu regeln und die Bedarfe für
Strom und Wohnungsinstandhaltung aus dem Leistungs-
satz auszugliedern, wie das schon beim Hausrat der Fall
ist . Das heißt, die Leistungen werden als Sachleistungen
erbracht und sind nicht mehr im Regelsatz enthalten .
Es wird eine neue Bedarfsstufe für erwachsene Leis-
tungsberechtigte geschaffen, die in Sammelunterkünften
untergebracht werden . Erwachsene unter 25 Jahren, die
unverheiratet sind und bei ihren Eltern leben, kommen in
die Bedarfsstufe 3 .
Wir haben endlich – darüber freue ich mich sehr –
die Ehrenamtspauschale für Asylsuchende umgesetzt .
Mit Inkrafttreten des Gesetzes dürfen Geflüchtete bis zu
200 Euro, die sie als Ehrenamtspauschale erhalten, wenn
sie zum Beispiel im Fußballverein Jugendliche trainie-
ren, behalten . Dadurch haben wir einen Gleichklang mit
dem SGB II . Damit wird die Integrationsleistung, die von
ganz vielen, die zu uns gekommen sind, erbracht wird,
gewürdigt. Ich finde es richtig toll, dass wir das umsetzen
werden .
Wir werden sicher einiges noch diskutieren müssen,
insbesondere die neue Bedarfsstufe . Da habe ich per-
sönlich noch einige Fragen . Immerhin reden wir darü-
ber, dass Menschen nicht freiwillig mit vielen anderen
Menschen anderer Nationen zusammenleben . Wie genau
hier Synergien aussehen könnten, fände ich spannend,
zu diskutieren . Ich möchte nicht, dass wir diejenigen
Kommunen über höhere Leistungssätze bestrafen, die
die Menschen dezentral, also, damit sie sich besser in-
tegrieren können, in Wohnungen unterbringen . Ich fände
es gut, wenn wir hierüber noch einmal in die Diskussion
miteinander gingen, um keine Fehlanreize zu setzen .
Ich will das, worüber wir reden, ins Verhältnis setzen:
Im Vergleich zu den aktuellen persönlichen Bedarfen
werden die Menschen in der neuen Bedarfsstufe 4 Euro
weniger erhalten . Sie werden also weniger Leistungen
bekommen und auch von der Steigerung in der Regel-
bedarfsstufe 1 nicht profitieren. Wir reden hier also über
4 Euro .
Es gab in den Stellungnahmen noch einige andere Kri-
tikpunkte . Es wurde befürchtet, dass UMAs und minder-
jährige Mütter durch das Gesetz schlechtergestellt wür-
den . Diese Sorge ist mittlerweile ausgeräumt; das will ich
ganz deutlich sagen . Darüber freue ich mich sehr .
Ansonsten haben wir hier, denke ich, eine gute Grund-
lage für intensive Diskussionen, die es ja noch braucht .
Darauf freue ich mich . Ich freue mich auch auf die zweite
und dritte Lesung hier im Plenum .
Schönes Wochenende Ihnen!
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Matthäus
Strebl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Nachdem sich meine Kolle-gin Schimke und mein Kollege Zimmer ausführlich mitder Ermittlung der Regelbedarfe nach dem Sozialgesetz-buch II und dem Sozialgesetzbuch XII befasst haben,möchte ich einige Worte zu den geplanten Änderungendes Asylbewerberleistungsgesetzes sagen .Betroffen sind hier insbesondere Asylbewerberinnenund Asylbewerber, Geduldete und vollziehbar Ausreise-pflichtige. Auch für diese Leistungen spielt die neue Ein-kommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2013eine signifikante Rolle. Die Leistungen werden aufgrunddieser Stichprobe ermittelt und nicht einfach wahllos
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festgelegt . Die Leistungen passen wir mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf an .Mit dem Gesetzentwurf tragen wir insbesondere demUmstand Rechnung, dass die Leistungen für Erwachsenein Sammelunterkünften geringer ausfallen . Es ist davonauszugehen, dass das gemeinsame Zusammenleben inSammelunterkünften Einspareffekte ermöglichen kann.Ich halte es für sinnvoll, ja, ich halte es für nachvoll-ziehbar, dass bei einzelnen Leistungen differenziert wer-den muss, ob jemand in einer Gemeinschaftsunterkunftoder in einer Wohnung lebt . Deshalb besteht hier für dieAsylbewerber eine abweichende Bedarfslage . Diese Be-darfslage findet sich zukünftig in der Regelbedarfsstufe 2wieder . Ich begrüße es außerordentlich, dass die in Bay-ern weitverbreitete Praxis von mehr Sachleistungen nunauch bundesweit praktiziert werden kann .Mit den Änderungen fördern wir auch die ehrenamtli-che Tätigkeit von Asylbewerbern . Durch die Freibetrags-regelung werden sie ermutigt, sich in die Gesellschafteinzubringen und gleichzeitig Sprache und Kultur ken-nenzulernen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunktdie Gelegenheit nutzen, einige Sätze zur Situation vongeflüchteten Menschen allgemein zu sagen.Wir alle wissen, dass die Bürgerkriege und die poli-tischen Krisen in anderen Staaten und Regionen Kon-sequenzen nicht nur, aber auch für Deutschland haben .Deutschland wird dadurch in den nächsten Jahren vorbesonderen Herausforderungen stehen . Viele Menschensorgen sich, ob wir diese Herausforderungen meisternkönnen . Es besteht Unsicherheit, ob es Deutschland wei-terhin gut gehen wird und wie sich das Land verändernwird . Ich kann diese Sorgen der Menschen gut nachvoll-ziehen. Aber gerade deshalb sind wir verpflichtet, dieVeränderungen richtig zu gestalten und den Rechtspopu-listen entgegenzuwirken .Gute Sprachkenntnisse – um auf das Thema zu kom-men – und Teilnahme am Arbeitsmarkt sind zweifelsfreiunerlässliche Schlüssel für eine erfolgreiche Integration .Zwischenzeitlich wurden durch die Bundesagentur fürArbeit und das Bundesamt für Migration und Flüchtlin-ge die Angebote für die speziellen Bedürfnisse der Ziel-gruppen weiterentwickelt und die Kapazitäten angepasst .Natürlich gibt es regionale Engpässe und Möglichkeitenzur Verbesserung . Inzwischen wird den Flüchtlingenaber ein großes Angebot an Kursen unterbreitet . Ichmöchte nur nennen: normale Integrationskurse, Alphabe-tisierungskurse, Frauenintegrationskurse, Jugendintegra-tionskurse, berufsbezogene Deutschsprachförderung undviele andere . Durch die Regelung des § 421 im Sozialge-setzbuch III hat die Bundesagentur für Arbeit die Mög-lichkeit, auch Asylbewerberinnen und Asylbewerbernmit guter Bleibeperspektive Sprachkurse anzubieten . Biszum letzten Monat haben über 190 000 Teilnehmerinnenund Teilnehmer diese Kurse besucht . Das beweist, dassdie Maßnahmen zu greifen beginnen .Eine erfolgreiche Integration von Flüchtlingen – die-se Aufgabe muss und wird gelingen . Den Grundsatz ausdem Sozialgesetzbuch II „Fordern und Fördern“ halte ichauch hier für angebracht und vollkommen richtig . DieÄnderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes werdendazu beitragen .Herzlichen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetz-entwürfe auf den Drucksachen 18/9984 und 18/9985an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen . Gibt es anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall . Dann sind die Überweisungen so be-schlossen .Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr . Franziska Brantner, Katja Dörner, UlleSchauws, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDamit Kinder gut aufwachsen – Kinderschutzund Prävention ausbauenDrucksache 18/9054Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazuWiderspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das sobeschlossen .Ich eröffne die Aussprache und erteile FrauDr . Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen als erster Rednerin in dieser Aussprache dasWort .
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Damen und Herren!Wir reden heute über Kinderschutz und Möglichkeiten,Kinder in diesem Land besser zu schützen vor all dengrausamen Dingen, die wir hier immer nur wahrnehmen,wenn es wieder einzelne Fälle gibt, die in den Medienaufpoppen; dann sind sie Gesprächsthema, verschwindendanach aber auch wieder . Wir haben gesagt: Wir setzendas Thema auf die Tagesordnung, auch wenn es geradekeinen schlimmen Fall gibt, weil wir wollen, dass manpräventiv und rechtzeitig bessere Strukturen erarbeitet .Nach Aussagen des Unabhängigen Beauftragten fürFragen des sexuellen Kindesmissbrauchs könnten inDeutschland rund 1 Million Kinder von sexualisierterGewalt betroffen sein. Das ist fast jedes zehnte Kind.Man muss sich das einmal vorstellen: fast jedes zehnteKind . Das ist eine Zahl, die wir nicht hinnehmen wollen .Matthäus Strebl
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Wir sagen: Da müssen wir unserer Verantwortung bessergerecht werden .
Gewalt oder Vernachlässigung prägen die Kinder ihrLeben lang . Das bleibt . Das, was mit den Kindern ge-schieht, tragen sie ihr Leben lang mit sich . Nachdem derrunde Tisch seine Arbeit abgeschlossen hatte, wurde dasBundeskinderschutzgesetz verabschiedet . Dann wurdedas Bundeskinderschutzgesetz evaluiert . Diese Evaluie-rung hat eindeutig gezeigt: Es gibt enormen Handlungs-bedarf; denn zwischen den gesetzlichen Regelungen undder Praxis vor Ort klaffen weiterhin riesige Lücken.Eine der größten Baustellen ist nach wie vor die Zu-sammenarbeit zwischen der Kinder- und Jugendhilfe unddem Gesundheitswesen . Es wurde von Anfang an gesagt,dass es dabei Schwierigkeiten gibt . Jetzt haben wir evalu-iert und sehen: Es gibt immer noch große Schwierigkei-ten . Da wollen wir ansetzen .
Wir wissen, dass es nicht immer einfach ist, diese Koope-ration verbindlich zu gestalten, die Ressourcen zu denrichtigen Akteuren zu bekommen und die Vernetzung zugarantieren . Wir haben uns deswegen mit den Gesund-heitspolitikern unserer Fraktion zusammengesetzt undmiteinander gerungen . Wir haben gemeinsam nach Mög-lichkeiten gesucht, die umsetzbar und praktikabel sind .Wir fordern, die Beteiligung von Vertretern der Ärz-teschaft in kommunalen und landesweiten Gremien ver-bindlicher zu gestalten . Uns schwebt analog zur Sozial-psychiatrie-Vereinbarung eine Vereinbarung zwischenden gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztli-chen Bundesvereinigung vor . Wir haben lange überlegt,wie wir Möglichkeiten schaffen können, an dieser Netz-werkarbeit teilzunehmen . In der Sozialpsychiatrie-Ver-einbarung, die es schon gibt, werden Anforderungen andie Qualität der Behandlung definiert; es gibt aber aucheine Aufwandspauschale . Das ist auch die Idee für die-sen Bereich: Wir wollen Qualität definieren; dafür gibtes aber auch eine Aufwandspauschale . Netzwerkarbeitist nicht einfach so nebenbei zu leisten, sondern ist auchArbeit und gehört deswegen als solche berücksichtigt .
Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich dieser Forde-rung anschließen und wir darüber hier gemeinsam disku-tieren könnten .Wir haben auch über den Tellerrand geschaut, nachÖsterreich . Die Kinderschutzgruppen, die dort eingerich-tet wurden, halten wir für sehr vielversprechend . DieseGruppen sind direkt an den Kliniken tätig, um Kindernbei Verdacht auf Gewalt, Missbrauch und Vernachlässi-gung Hilfe und Schutz anzubieten . Sie übernehmen dieSchnittstellenfunktion zwischen medizinischem Perso-nal, Sozialarbeit, Jugendämtern und anderen Institutio-nen . Wir halten die Kinderschutzgruppen in Österreichfür ein gutes Modell, mit dem wir diese Schnittstellen-funktion auch bei uns umsetzen können .Wichtig sind auch – dieser Punkt wurde in der Evalu-ierung immer wieder angemahnt – verpflichtende Wei-terbildungs- und Qualifizierungsangebote für alle Fach-kräfte nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch fürRichter, Verfahrensbeistände und alle, die in diesem Be-reich tätig sind – wichtig ist auch, bei den Gutachternmit den Standards voranzukommen –, damit es in denBerufsgruppen, die mit Kindern in diesem Bereich zutun haben, endlich die entsprechende Qualifikation gibt.Das ist zurzeit nicht sichergestellt, und dafür müssen wirsorgen .
Eine weitere Forderung in unserem Antrag ist – dashat auch der Bundesbeauftragte schon mehrfach ange-mahnt –, dass Kinder nur einmal befragt werden . In vie-len Ländern ist es schon Usus, dass es – statt mehrfachund mit unterschiedlichen Akteuren – nur einmal unddann auch gemeinsam zu einer Befragung kommt . Ichglaube, diesen Anspruch überall vor Ort realisieren zukönnen, ist mittlerweile ein internationaler Standard, denwir auch in Deutschland umsetzen sollten .Wir müssen uns auch dringend für die Präventioneinsetzen . Hier geht es um die Frage von Kinderrechten .Kinder müssen ihre Rechte nicht nur kennen, sondernsie auch verinnerlichen und leben können . Sie müssenwissen, wie stark sie sind und an wen sie sich wendenkönnen, wenn ihnen etwas nicht passt . Das fängt in derKita an mit dem Wissen: Ich kann mich beschweren; dasist okay. Ich darf etwas sagen, und danach gibt es hoffent-lich sogar eine positive Reaktion . – Kinderschutz fängtan, wenn Kinder erfahren: Ich kann mich beschweren .Ich darf meine Meinung äußern . Ich weiß, an wen ichmich wenden kann . – Das ist die beste Präventionsarbeit .Diese Stärkung von Kindern müssen wir gemeinsam vo-ranbringen .
Zum Schluss will ich einen Punkt noch kurz anspre-chen . Wir wissen, es ist auch immer eine Geldfrage .Die Beratungsstellen vor Ort brauchen eine sichere undkontinuierliche Finanzierung und wesentlich mehr Geld .Insofern sollten wir über die gesetzlichen Regelungenhinaus auch entsprechende Mittel zur Verfügung stellen,damit sie diese Arbeit vor Ort leisten können . Sie sindhäufig die Lebensretter von Kindern und ihren Famili-en, und wir müssen sie stärken. Sie sind häufig überlastetund haben nicht genügend Ressourcen . Dabei machen sieunglaublich viel für uns und unsere Zukunft, damit hieralle gut aufwachsen können .Ich danke Ihnen und freue mich auf die Beratungen inden Ausschüssen .
Marcus Weinberg hat für die CDU/CSU-Fraktion alsnächster Redner das Wort .
Dr. Franziska Brantner
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Vielen Dank, Frau Präsidentin . – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich freue mich ebenfalls auf die Beratun-gen, weil Sie – das ist ein Kompliment an die Grünen, anFrau Brantner – tatsächlich auch für uns in weiten Teilenwichtige Themen angesprochen haben . Wir werden nochviel darüber debattieren und überlegen, wo wir nochHandlungsansätze weiterentwickeln . Insofern haben Sieeinen interessanten Antrag vorgelegt. Einen Satz findeich besonders gut:In den zurückliegenden Jahren hat sich der Kinder-schutz erheblich weiterentwickelt .Das ist ein Ergebnis der Arbeit der Großen Koalition .Dass Sie das bestätigen, sehe ich als Erfolg unserer Ar-beit an .
Was haben wir erreicht? Sie haben vieles angespro-chen . Ich will das gerne wiederholen . Anfang 2016 wur-de die Aufarbeitungskommission beim UnabhängigenBeauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch eingerich-tet und damit erstmals – ich glaube, das ist wichtig – eineauf nationaler Ebene angesiedelte unabhängige Kommis-sion .Sie haben das Sachverständigenrecht und die Qualifi-zierung der Gutachter angesprochen . Das war uns auchbesonders wichtig, gerade mit Blick auf die Bedeutung,die Sachverständige und Gutachter im Familienrechthaben; denn sie entscheiden über ihre Gutachten darü-ber, was mit einem Kind passiert . Insoweit war und ist eswichtig, dass wir mit der Änderung des Sachverständi-genrechts den richtigen Weg eingeschlagen haben .Wir diskutieren zurzeit sehr intensiv und auch manch-mal etwas strittig über eine Studie zum Thema Kindes-wohl, die uns wichtig war, weil wir unabhängig undobjektiv erkennen müssen, wie es Kindern nach Tren-nungen geht und was sie danach erleben . Ich glaube üb-rigens, dass in dem Bereich Kinderschutz der KomplexForschung noch unterentwickelt ist . Ich halte sehr vieldavon, immer genau zu wissen, was passiert, um die rich-tigen Maßnahmen auf den Weg zu bringen .Das Bundeskinderschutzgesetz wurde angesprochen .In weiten Teilen konnten wir schon Erkenntnisse umset-zen .Sie haben die Teamarbeit zwischen den im Kinder-schutz und in der Jugendhilfe tätigen Gruppen ange-sprochen . Für die Union kann ich sagen, dass wir, weildas auch unser Gedankengang war, mit der Kinder-schutz-Hotline, glaube ich, das Richtige auf den Weggebracht haben . Was ist denn wichtig bei der Vernetzungvon Jugendhilfe und Gesundheit? Wichtig ist, denjeni-gen, die mit Kindern arbeiten, und denjenigen, die denAuftrag haben, zu überprüfen, was den Kindern passiertist – gab es eine Vernachlässigung, gab es einen Miss-brauch oder Ähnliches? –, die größtmögliche Unterstüt-zung anzubieten .Ein Arzt in einer Notfallambulanz am Wochenendemuss, wenn ein Kind zu ihm kommt, das erkennbar eineVerletzung hat, beraten werden: Wie geht es weiter? Wiekann er mit der rechtsmedizinischen Analyse medizinischberaten werden? Es geht auch um die Frage: Was mussJugendhilfe leisten? – Viele Mediziner haben uns gesagt,dass Misshandlungen und Missbrauch erkannt werdenmüssen . Deswegen ist diese Kinderschutz-Hotline sowichtig, die im April 2017 starten wird . Wenn Ärzte nichtwissen, was genau passiert ist, können sie sich dort Infor-mationen holen. Das betrifft auch die rechtliche Frage:Was müssen sie machen, wenn sie einen Missbrauch odereine Misshandlung erkennen? Die Kinderschutz-Hotlineist ein großer Erfolg der Großen Koalition . Die Unionhatte das vorgeschlagen . Das wird kommen .Wichtig ist die Qualifizierung von Ärzten, von Ju-gendamtsmitarbeitern und von Familienrichtern – auchmit Blick auf rechtsmedizinische Grundkenntnisse . Dasist auch im Kontext der Kinderschutz-Hotline eine wich-tige Forderung .Ich finde Ihre Einlassung mit Blick auf die Kinder-schutzgruppen hochinteressant . Dazu haben wir alle eineklare Position . Die Modelle von Kinderschutzgruppen inKrankenhäusern sind sehr positiv . In Deutschland, auchhier in Berlin, haben wir einige Modelle . Dort wird aufmehreren Ebenen zusammengearbeitet . Diese Kinder-schutzgruppen sind noch ausbauwürdig, weil man so aufstrukturierte Art und Weise nicht nur analysieren kann,was passiert ist, sondern auch die Folgewirkung be-spricht . Dafür braucht man einen Psychologen und viel-leicht einen Sozialarbeiter . Aber man braucht natürlichMediziner . Das Modell der Kinderschutzgruppen werdenwir uns demnächst noch intensiver anschauen .Zum Kinderschutz gehört auch, was uns momentansehr intensiv bewegt . Natürlich haben wir eine Diskus-sion über die anstehende Reform zum Achten Buch So-zialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe . Wir könnenaus meiner Sicht stolz darauf sein: Das KJHG, wie es soschön heißt, ist eine Errungenschaft der Kinder- und Ju-gendhilfe . Es wurde vor 25 Jahren auf den Weg gebrachtnach intensiver Diskussion mit den Betroffenen, mit denTrägern und mit den Verbänden . Was ist in der aktuellenDiskussion zu beachten? Für uns – das sagen wir ganzdeutlich – stehen zwei zentrale übergeordnete Punkte imMittelpunkt .Erstens reden wir über Hilfe zur Erziehung . „Un-terstützung“ oder „Leistung“ ist keine Hilfe . Bei derSGB-VIII-Reform gibt es Reformvorhaben und Reform-schritte, die wichtig sind . Die Jugendhilfe muss früher,zielgenauer und bedarfsorientierter arbeiten . Aber auf ei-nes werden wir niemals verzichten, nämlich auf einen in-dividuellen Anspruch auf eine Hilfeleistung . Das ist Kerndes KJHG . Die Kinder, die Familien, die Eltern sollenwissen: Es gibt nicht irgendwo Unterstützung, wenn eineNotfallsituation eintritt, sondern klar Hilfe . Das werdenwir in die Diskussionen einbringen .Zweitens ist für uns wichtig, dass der kooperativeGedanke der Jugendhilfe – gemeinsam mit Jugendamt,Trägern, Eltern und Kindern – bestehen bleibt . Wenn wireine Reform durchführen, werden wir das ganz deutlich
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so formulieren: Alle müssen mitarbeiten im Sinne desKindes .
Das heißt: Wir werden in den nächsten Wochen undMonaten intensiv darüber diskutieren, wie es mit dieserReform weitergeht .Wir hatten 124 000 Gefährdungseinschätzungen imJahr 2014, in denen der Verdacht aufgekommen ist, dassKinder psychische, physische oder sexuelle Gewalt er-leben bzw . vernachlässigt sind . Das sind 7 Prozent mehrals im Vorjahr . Das ist für unsere Gesellschaft nicht hin-nehmbar . Dass diese Zahlen weiter steigen, ist nicht hin-nehmbar . Das wird uns als Jugend- und Kinderpolitikerweiterhin bewegen müssen .
Wir dürfen es nicht zulassen, dass Kinder in einer Anzahl,die der Einwohnerzahl einer mittleren Stadt vergleichbarist, Jahr für Jahr gefährdet sind . Deswegen müssen wirgenau überlegen, was wir machen . Das tun wir auch .Die SGB-VIII-Reform – wie und wann auch immer;das werden wir sehen – könnte einen Fortschritt bedeu-ten . Ich bin auch sehr dankbar für den Antrag und denImpuls, eine Diskussion zum Thema „Kinderschutz, Ver-netzung, Gesundheit, Medizin, Jugendhilfe“ zu führen .Wir haben in der Großen Koalition bereits viel erreichtund Gutes gemacht . Aber das Gute kann man ja auch aus-weiten und noch besser machen .
Deswegen freue ich mich genauso wie Sie auf die guteDiskussion im Ausschuss .Danke .
Norbert Müller hat für die Fraktion Die Linke als
nächster Redner das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beratenheute über einen Antrag der Grünen zum Kinderschutz .Herr Kollege Weinberg, ich habe Ihnen aufmerksam zu-gehört und habe Ihrer Rede entnommen, dass wir in die-sem Haus die seltene Chance haben, gemeinsam einemAntrag der Grünen zuzustimmen . Die Fraktion Die Linkesieht dieses Chance genauso wie Sie .
Die UN-Kinderrechtskonvention kennt drei großeStützen: Schutz, Förderung und Beteiligung . Wir sindim internationalen Vergleich in allen Bereichen nichtschlecht . Wir können und müssen aber besser werden .Sie haben bereits einige Punkte in der Debatte angespro-chen: das Bundeskinderschutzgesetz oder die Einsetzungdes Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellenKindesmissbrauchs . Diesem möchte ich für seine hervor-ragende Arbeit danken .
Herr Rörig als Unabhängiger Beauftragter hat in den letz-ten Monaten eine ganze Reihe von Themen aufgeworfen,bei denen es nicht nur um Aufarbeitung, sondern auch umPrävention geht und wir im gesetzlichen Rahmen nach-arbeiten müssen . Ich will zwei Punkte ansprechen, beidenen Sie wahrscheinlich etwas schwerhöriger werden .Das Erste ist die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinieund der Schutz besonders schutzbedürftiger Menschen,also von minderjährigen Flüchtlingen und Frauen, insbe-sondere von alleinreisenden Frauen, in Erstaufnahmeein-richtungen und Gemeinschaftsunterkünften . Hier müssenwir besser werden . Ich empfehle Ihnen, nachzulesen, wasdie Kinderkommission des Deutschen Bundestags insbe-sondere zum Schutz von Flüchtlingskindern – mit Unter-stützung von Herrn Rörig – aufgeschrieben hat .
Zweitens . Ein großes Thema ist der sexuelle Miss-brauch in Schulen . Wie können wir auch in diesem rie-sigen Bereich, in dem sich aufgrund der zehnjährigenSchulpflicht so gut wie alle jungen Menschen aufhalten,Prävention betreiben? Hier läuft die Kooperation mit denLändern bereits an . Wir sollten darüber nachdenken, wieder Bund besser unterstützend tätig sein kann .Ich war 2013/14 Mitglied des Bildungsausschussesdes brandenburgischen Landtags, als Brandenburg diedrei Einrichtungen der Haasenburg GmbH geschlossenhat . Diese stationären Einrichtungen der Kinder- und Ju-gendhilfe hatten einen geschlossenen Bereich, der dazugeeignet war, Kinder zu missbrauchen; das wurde auchpraktiziert . Kinder wurden dort missbraucht, geschla-gen, misshandelt, unterworfen und gedemütigt . Es warrichtig, diese Einrichtungen zu schließen . Ich sage Ihnenaber auch: Das war ziemlich schwierig; denn die gesetz-lichen Grundlagen waren nicht so, wie wir sie brauchten .Deswegen sind die Vorschläge der Grünen, insbesonderewas das Betriebserlaubnisverfahren angeht, aber auch dieErgebnisse der Bund-Länder-Gruppe, was die Betriebs-aufsicht und die Heimaufsicht angeht, entscheidend . Wirsollten dafür sorgen, dass nicht nur die stationären Ein-richtungen besser kontrolliert werden, sondern dass alleEinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe engmaschigerkontrolliert werden . Wir müssen das Betriebserlaubnis-verfahren deutlich verbessern, um sicherzustellen, dasses in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wederzu Übergriffen noch zu Missbrauch kommt.
Ein wichtiges Instrument für den Kinderschutz ist dasin den letzten Jahren vorgeschriebene Führungszeug-nis für ehrenamtlich Tätige . Wie Sie aber wissen, greiftMarcus Weinberg
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dieses Instrument viel zu kurz . Das kann nur ein ersterAnfang sein . Seit Monaten liegen uns Vorschläge desBayerischen Jugendrings und des Deutschen Bundesju-gendrings vor. Wir finden es sehr gut, dass die Grünendiese Vorschläge aufgreifen . Wir müssen dieses Füh-rungszeugnis weiterentwickeln . Es ist bislang zu büro-kratisch und zu aufwendig für die Verbände . Es ist vielzu schwierig zu handhaben . Wie Sie wissen, gab es voranderthalb Jahren dazu eine Anhörung im Familienaus-schuss . Die Ergebnisse möchte ich noch einmal kurz zu-sammenfassen; Sie können sie auch im Antrag der Grü-nen nachlesen .Das Führungszeugnis für ehrenamtlich Tätige zumBeispiel in Sportvereinen soll zugunsten einer Unbe-denklichkeitsbescheinigung, basierend auf dem Bundes-zentralregister, abgeschafft werden, die nicht mehr jederx-Beliebige auf Antrag bekommt und die deutlich macht,ob der Betreffende mit Kindern arbeiten darf oder ob da-von abzusehen ist, weil es einen entsprechenden Eintragim Bundeszentralregister gibt . Der Vorschlag der Grü-nen ist gut . Diesen könnten wir sofort umsetzen, HerrWeinberg .
Die Grünen stärken in ihrem Antrag den Beratungs-anspruch. Das finden wir richtig. Ja, die Beratung mussentbürokratisiert und ausgeweitet werden . Sie muss füralle Kinder und Jugendlichen geöffnet werden. Wenn wiraber – das fehlt mir ein Stück weit in Ihrem Antrag; daswerden wir noch einmal in die Beratungen einbringen –die Beratungsansprüche ausweiten, die Aufsicht überEinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, insbeson-dere die Heimaufsicht, ausbauen sowie die Betriebsge-nehmigungsverfahren qualitativ verbessern wollen, dannbrauchen wir eine bessere Kinder- und Jugendhilfe . Dasheißt, wir brauchen mehr Geld in Ländern und Kommu-nen für Aufsichtsbehörden und Jugendämter . Wir müssenden kompletten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe stär-ken . Die anstehende Reform des Achten Buches Sozial-gesetzbuch bietet eine gute Gelegenheit, Herr Weinberg,die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland insgesamt zustärken . Diese Signale sollten Sie aufnehmen . Dann hät-ten Sie uns als Linke an Bord . Das können Sie mit Geld,einer Entlastung der Kommunen an dieser Stelle und mitbesseren gesetzlichen Grundlagen tun .Vielen Dank .
Als nächste Rednerin hat Ulrike Bahr für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegenund Kolleginnen! Equal Pay – hochaktuell . Viele Kolle-ginnen und Kollegen waren in der letzten Woche bei denAuftaktveranstaltungen zum Equal Pay Day 2017 . ZumTitel Ihres Antrags – keine Sorge, ich habe mich nichtim Thema vertan –, „Damit Kinder gut aufwachsen“, fielmir spontan ein ganz ähnliches Schlagwort ein, nämlich:Equal Grow Up .Das ist zweifelsfrei ein mindestens genauso wichtigesThema; denn genauso wie es ungerechte Lohnlückengibt, gibt es auch weiterhin ungleiche Startbedingungen,was das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen be-trifft. In der Gewerkschaftsarbeit haben wir dazu immerein einfaches, aber dafür sehr eindrucksvolles Bild be-nutzt . Stellen Sie sich eine Startlinie vor, an der nebenei-nander ein Rabe, ein Affe, ein Pelikan, ein Elefant, eineRobbe und ein Dackel stehen . Vor ihnen sitzt ein Leh-rer am Pult und sagt: Aus Gerechtigkeitsgründen lautetfür Sie alle die Aufgabe gleich: „Klettern Sie auf einenBaum!“ – So viel zur Chancengleichheit in der Realität .Dabei haben wir in der Vergangenheit natürlich schonviele „Prothesen“ und Hilfsmittel entwickelt, um Nach-teile auszugleichen und gerechtere Startchancen für alleKinder zu schaffen, auch mithilfe unseres über die Lan-desgrenzen hinaus anerkannten Kinder- und Jugendhil-fesystems, bei dem wir auch in Zukunft keinerlei Stan-dardsenkungen akzeptieren werden .
„viel wert . gerecht . wirkungsvoll“ – das waren dieSchlagworte des letzten Kinder- und Jugendhilfetages,wenige Worte, die aber alles sagen . Seit mittlerweile ei-nem Vierteljahrhundert stellen wir so das Kind und seinebestmögliche persönliche Entwicklung in den Mittel-punkt . Wir sprechen hier nicht ohne Grund von einemParadigmenwechsel; denn seitdem gehört es zum Ver-ständnis von gutem Aufwachsen, dass wir die Kinder inihrer Persönlichkeit und als Individuen stärken . Es gehtdarum, Stärken zu fördern und auszubauen, und ebennicht darum, vermeintliche Defizite auszumerzen. Auchdas ist für mich Kinderschutz .Dabei scheint uns das heute oft selbstverständlich . Er-innern wir uns: Wie war es denn noch in der Mitte desletzten Jahrhunderts, wenn man beispielsweise Links-händer war? Ich bin mir sicher, dass sich hier im Saal ei-nige „Umgedrehte“ finden, jene, denen mit Zwang, nichtselten mit Schlägen, beigebracht wurde, mit der „schö-nen“ Hand zu schreiben und guten Tag zu sagen .Für mich ist diese Abkehr davon, dass man nur „rich-tig“ ist, wenn man in eine bestimmte Norm passt odergepresst wird, wirklich eine Errungenschaft zum Nutzenund auch zum Schutz vieler späterer Kindergenerationen .Unsere Kinder lernen, dass es völlig normal ist, unter-schiedlich zu sein, dass jeder Schwächen hat . Aber nochwichtiger ist: Jeder hat Stärken, die wir fördern könnenund müssen . Jedes Kind soll die gleichen Chancen aufdiese Förderung haben . Das gilt für Mädchen und Jun-gen, für Aufgeweckte und Ruhige, für hier Geborene undfür Zugezogene, kurz: für alle Kinder – und das auch un-abhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern .
Wenn wir eine inklusive Gesellschaft wollen, dannbrauchen wir genauso ein System mit Hilfe- und Un-terstützungsleistungen, das für alle Kinder und Jugend-Norbert Müller
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lichen gilt, egal ob behindert oder nicht behindert . Wirbrauchen auch die inklusive Lösung im SGB VIII, damitdie verschiedenen Schubladen bei den Eingliederungs-hilfen endgültig zu sind .Zweifelsohne ist viel passiert in den letzten Jahren inRichtung inklusive Gesellschaft mit den Frühen Hilfen,integrativen Kitas, Programmen wie „Jugend Stärkenim Quartier“ oder, gerade neu, mit dem schon jetzt sehrerfolgreichen Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ . Wir ha-ben also durchaus Erfolge zu verzeichnen . Heutzutage istdas katholische Mädchen vom Lande nicht mehr zwangs-läufig bildungsbenachteiligt. Frau kann sogar Bundes-tagsabgeordnete werden .Aber es gibt weiterhin jene und auch neue Gruppen,für die wir noch breitere Zugänge zu mehr Bildung, zumehr Schutz und zu mehr Partizipation schaffen müssen.Das gilt für Kinder aus einkommensschwachen und bil-dungsfernen Familien, das gilt für Jugendliche, die unsteils an den Übergängen von der Schule in die Ausbil-dung verloren zu gehen drohen und schlimmstenfallsdurch alle Netze fallen, und das gilt nicht zuletzt für die-jenigen jungen Menschen, mit deutschem genauso wiemit Migrationshintergrund, die sich von unserer Gesell-schaft nicht angenommen fühlen und für extremistischesGedankengut anfällig werden . Deshalb gehören für michpolitische Bildung und Demokratieerziehung unbedingtauch dazu, wenn es um gutes Aufwachsen, Schutz undPrävention geht .
Ein weiteres Instrument, das vor Ort im Bereich derKinder- und Jugendhilfe dazu beitragen kann, Ungleich-gewichte auszubalancieren, sind Ombudsstellen . Füralle, denen dieser Begriff – einfach auch deswegen, weiles diese leider noch nicht flächendeckend gibt – nicht sogeläufig ist: Ombudsstellen sind unabhängige Anlaufstel-len, die den Anspruchsberechtigten in der Kinder- undJugendhilfe offenstehen. Hier gibt es Beistand und Hil-fe, wenn es Unklarheiten, Probleme und Konflikte in derKinder- und Jugendhilfe gibt .Ich bin seit dem letzten Jahr stellvertretende Vorsit-zende eines neuen Vereins in Bayern, der das Thema„unabhängige Ombudschaft“ weiter vorantreiben will . Indieser kurzen Zeit habe ich eine Menge gelernt, vor allemvon den vielen engagierten Fachkräften, die sich haupt-wie ehrenamtlich für dieses Thema starkmachen . Ich binüberzeugt, dass eine Verankerung von Ombudsstellen imSGB VIII der absolut richtige Weg ist .Aber was ist eigentlich mit den Kindern? Wissen wirimmer so ganz genau, was für die Kinder selbst gutesAufwachsen ist? Eine Umfrage der Deutschen Bahn imSommer hat dazu interessante Ergebnisse geliefert . DieHauptfrage war: Was wünschen sich Kinder am meisten?Man hat sowohl die Kinder als auch ihre Eltern gefragt .Die Eltern lagen da – wenn wundert es? – nicht immerrichtig . Natürlich stehen Süßigkeiten, Computerspieleund Hunde ziemlich weit oben auf der Skala . Am Schlussaber kam heraus: Das, was Kinder sich wirklich ammeisten wünschen, ist Zeit, Zeit mit der ganzen Familie .Deshalb wünsche ich mir auch, dass künftig – möglichstbald – auch die Familienarbeitszeit zum guten Aufwach-sen dazugehört .In diesem Sinne vielen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Christina Schwarzer für
die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sieben Monate alt durfte die kleine Lena aus Ber-lin-Neukölln werden, bevor ihr junger Vater der Mei-nung war, dass ihn ihr Schreien so sehr nervt, dass ersie durchschütteln könnte . Und er tat es . Fünf Sekundenlang . Lena hatte keine Chance . Sie ist einen Tag späteran ihren schweren Gehirnverletzungen gestorben . Dieserunglaublich traurige Fall passierte hier bei uns in Ber-lin im Jahre 2012, allerdings nicht in einer Familie, diedurch das Hilfenetz fiel, auch nicht in einer Familie, dievon unseren Regeln und Gesetzen nicht erreicht wurde .Es passierte in der Obhut des Jugendamtes, in einer Ber-liner Jugendhilfeeinrichtung, einem sogenannten Mutter-Kind-Haus .Fälle wie der der kleinen Lena gibt es leider immerwieder in Deutschland . Viel zu oft wird dann – vielleichtauch aufgrund der Hilflosigkeit der Verantwortlichen –nach bundesgesetzlichen Regelungen gerufen . Sehr ge-ehrte Kollegen der Grünen, Sie sagen es in Ihrem Antragja selbst: Der gesetzliche Kinderschutz hat sich erheblichweiterentwickelt, auch und insbesondere durch das Bun-deskinderschutzgesetz . Zwischen diesen gesetzlichen,vor allem bundesgesetzlichen Regelungen und dem da-mit verbundenen Anspruch sowie der Praxis vor Ort klaf-fen dennoch Lücken . Das beschreiben Sie ebenfalls inIhrem Antrag .Mein Heimatbezirk Neukölln hat aus diesem Fall ge-lernt . Unser Jugenddezernent hat dieses Thema zur Chef-sache erklärt, den Fall sehr intensiv und mit zahlreichenExperten aufgearbeitet und vor Ort wichtige Maßnahmenumgesetzt . Die vielleicht wichtigste Maßnahme ist dieEinrichtung eines Kinderschutzteams mit zusätzlichemPersonal . Das war ein Novum in Berlin . Die Etablie-rung einer Präventionskette – und damit eine rechtzeiti-ge frühe familiäre Präventionsarbeit am besten schon inder Schwangerschaft – konnte ebenfalls erreicht werden .Eine frühe Unterstützung der jungen und werdenden Fa-milien bewahrt in den allermeisten Fällen die Kinder vorspäten negativen Entwicklungen .Um es noch einmal sehr deutlich zu sagen: Wir habenin den vergangenen Jahren unsere Regeln und unsere Ge-setze zum Kinderschutz zum Glück und zu Recht erheb-lich weiterentwickelt, nicht zuletzt – das sagte auch derKollege Weinberg – durch das Bundeskinderschutzge-setz . Mir persönlich ist dabei das System „Frühe Hilfen“ganz wichtig . Ich glaube, da sind wir hier einer Meinung .Ulrike Bahr
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Auch die Möglichkeit für Ärzte und andere Berufsge-heimnisträger, bei Verdacht auf Kindesmisshandlungendie Jugendämter einzuschalten – also ihre Schweige-pflicht zu brechen –, ist eine bedeutende Maßnahme. Siemüsste nur noch viel stärker genutzt und publik gemachtwerden . Die Ärzte müssten über ihren Nutzen wie auchüber Merkmale und Folgen von Kindesmisshandlungenstärker aufgeklärt werden . Auch hier stehen wir immerwieder vor der großen Herausforderung, ob der Daten-schutz dem Kinderschutz entgegensteht .Noch recht aktuell im großen Feld Kinderschutz istdie so wichtige Verschärfung des Sexualstrafrechts . AnLetzterem können wir – diese Nebenbemerkung sei mirerlaubt – meines Erachtens ruhig noch ein bisschen wei-terarbeiten . Ich würde mir wünschen, dass wir das The-ma „Versuchsstrafbarkeit beim Cybergrooming“ nocheinmal angehen . Spätestens nachdem viele von uns denFilm Das weiße Kaninchen gesehen haben, wissen wiralle, was für Dinge im Internet passieren . Am Ende sindwir uns jedoch aber alle einig: Kinder brauchen undverdienen unseren besonderen Schutz . Und egal, wiehoch die Schutzstandards bei uns sind: Gesetze müsseneben auch eingehalten und gut umgesetzt werden . Da-für braucht es Kontrollmechanismen in den Ländern undKommunen . Wir alle, die wir hier sitzen, können uns da-für verantwortlich zeigen und uns in den Heimatregio-nen, aus denen wir kommen, dafür starkmachen .Einen Punkt würde ich gerne noch aufgreifen – meineVorredner haben ihn schon erwähnt –: das Führungszeug-nis. Hierzu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungender Fraktionen in unserem Haus. Ich teile die Auffassungder Vereine und Verbände, die auch in der Expertenanhö-rung Anfang des letzten Jahres, also vor rund anderthalbJahren, deutlich wurde . Die Vorlage des Führungszeug-nisses sollte durch eine sogenannte bereichsspezifischeAuskunft beim Bundeszentralregister ersetzt werden .Diese Bescheinigung würde dann nur Auskunft darübergeben, ob eine Person nach dem Bundeskinderschutz-gesetz haupt- oder ehrenamtlich mit Kindern arbeitendarf oder nicht, ergo, ob sie nach den in § 72a Absatz 1SGB VIII genannten Straftatbeständen verurteilt sind .Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um Sexual-delikte . Andere Vergehen wie zum Beispiel Diebstahl,Drogenhandel oder auch Mord würden dem Vereinsvor-sitzenden nicht bekannt . Das Bundeskinderschutzgesetznennt diese aber auch nicht als Ausschlussgründe für dieArbeit mit Kindern und Jugendlichen .Weil ich auch die Gegenargumente, unter anderem derzuständigen Ministerien kenne, möchte ich gleich nochetwas klarstellen: Die Gegner einer möglichen Gesetzes-änderung argumentieren, dass es einem Vereinsvorstandmöglich sein müsse, auch in andere Straftatbestände Ein-sicht zu nehmen, die nicht von § 72a Absatz 1 SGB VIIIabgedeckt sind . Dann solle er im Einzelfall entscheiden,ob, sagen wir, ein ehemaliger Drogenhändler Kinder-und Jugendarbeit in einem Verein machen darf . Um dasnoch etwas deutlicher zu machen: Wir verlangen vomVereinsfunktionär hier eine Entscheidung, die wir alsGesetzgeber nicht treffen wollen. Wir haben den Funk-tionären doch gar keine Entscheidungsgrundlage an dieHand gegeben, also kann der eine ehemalige Drogen-händler ruhig die Fußballmannschaft trainieren, weil derVereinsvorsitzende der Meinung ist, er sei ausreichendbekehrt, ein anderer darf das aber nicht .Ich muss aber auch kritisch hinterfragen, wie dieserPunkt in einen Antrag passt, in dessen Titel es „Kinder-schutz und Prävention ausbauen“ heißt . Ich denke, wirsind uns einig, dass wir auf keinen Fall die Kinderschutz-standards senken dürfen . Ich würde mir in diesem Zu-sammenhang im Übrigen auch noch wünschen, dass wirdas Erfordernis der Vorlage eines entsprechenden Nach-weises auf all diejenigen ausweiten, die im Haupt- oderEhrenamt mit Kindern arbeiten, egal ob diese Jugendar-beit nun öffentlich gefördert ist oder nicht. Gleiches giltim Übrigen auch für Berufsgruppen, die vermehrt mitKindern arbeiten . Ich denke hier zum Beispiel an Kin-derärzte und Kinderpsychologen . Weil wir ein Land vonBürokraten sind, gehen wir immer wie selbstverständlichdavon aus, dass so etwas bei uns geklärt ist . Ist es abernicht .Ich freue mich ebenfalls auf die guten Beratungen .Herr Müller, vielleicht können wir ja noch gemeinsamgute Ideen entwickeln .Vielen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Gülistan Yüksel für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Bürgerinnenund Bürger! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „KeinKind zurücklassen!“, diesen Titel trägt ein erfolgreichesProjekt in NRW. Es schafft durch sogenannte kommu-nale Präventionsketten niedrigschwellige Angebote zurUnterstützung von Kindern und Familien, und zwarmöglichst lückenlos und von der Schwangerschaft biszum Eintritt ins Berufsleben . „Kein Kind zurücklassen“umschreibt auch unser aller Anliegen: Kinder zu schüt-zen und ihnen zu ermöglichen, dass sie gut aufwachsenkönnen . Unser Schutzsystem mit seinen Beratungs- undUnterstützungsangeboten ist zwar grundsätzlich gut undwirksam, weil aber jeder Fall von Kindesmissbraucheiner zu viel ist, müssen wir kontinuierlich an weiterenVerbesserungen arbeiten .Erfolgreiche Bausteine unserer aktuellen Kinder-schutzpolitik sind unter anderem das Gesamtkonzept fürden Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellerGewalt; Initiativen wie „Trau dich!“, die bundesweit El-tern und Kinder über ihre Rechte und das Thema Miss-brauch informieren; oder die Frühen Hilfen, die Elternbei der Erziehung ihrer Kinder in puncto Gewaltschutzund gesundes Aufwachsen unterstützen . Außerdem wirdes eine neue zentrale medizinische Kinderschutzhotlinegeben, die Ärztinnen und Ärzten 24 Stunden am Tag, sie-ben Tage die Woche bei Verdachtsfällen der Kindeswohl-gefährdung unterstützend zur Seite steht .Christina Schwarzer
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Unabhän-gige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmiss-brauchs leistet wichtige Arbeit im Bereich der Hilfe, Be-ratung und Prävention . Seine Initiative „Kein Raum fürMissbrauch“ gibt den Anstoß dazu, dass Einrichtungenund Organisationen Orte werden, an denen Kinder undJugendliche vor sexueller Gewalt geschützt sind sowieHilfe und Unterstützung bekommen . Ein besondererSchwerpunkt wird auf den Ort gelegt, an dem die meis-ten Kinder und Jugendlichen erreicht werden können: dieSchule . Gerade Schulen müssen geschützte Räume sein,in denen Probleme sensibel wahrgenommen und gelöstwerden .Besonders schutzbedürftig sind in diesen Tagen ge-flüchtete Kinder und Jugendliche. Sie haben kriegs- undfluchtbedingte Gewalterfahrungen gemacht; viele sindtraumatisiert . Es ist unsere Aufgabe, dass sie bei uns end-lich Ruhe und Schutz finden.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesfa-milienministerin in ihrer Forderung, Schutzkonzepte inAsylunterkünften als Standard bundesweit vorzuschrei-ben .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinderschutz undgutes Aufwachsen müssen ganzheitlich gedacht werden .Politik hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen dafürzu schaffen, dass Eltern ihren Kindern ein körperlich,seelisch und sozial gesundes Aufwachsen ermöglichenkönnen . Zu „Kein Kind zurücklassen“ gehört auch, je-des Kind bestmöglich zu fördern . Alle Kinder brauchenvollen Zugang zu frühkindlichen Bildungsangeboten,Schulen sowie zur Kinder- und Jugendhilfe . Deshalbwar es wichtig und richtig, dass wir die Kinderbetreu-ung weiter ausgebaut haben, dass wir bei den jüngstenBund-Länder-Verhandlungen zusätzliche Investitionenim schulischen Bereich sowie eine Verbesserung desUnterhaltsvorschusses durchgesetzt haben, dass wir dieGrundsicherung und den Kinderzuschlag verbessern unddass wir die hohen Standards der Kinder- und Jugendhil-fe für alle Kinder und Jugendlichen erhalten .
Durch Programme wie KitaPlus oder staatliche Leis-tungen wie dem Elterngeld Plus ermöglichen wir Fami-lien außerdem eine zeitlich flexiblere Ausgestaltung desAlltags . Wie meine Kollegin Ulrike Bahr bereits ausge-führt hat, wünschen sich Kinder mehr Zeit mit der Fa-milie . Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratennehmen wir diesen Wunsch ernst und werden uns weiter-hin für das zukunftsweisende Familienarbeitszeitmodellstarkmachen .
Schade, dass sich noch nicht alle dafür haben erwärmenkönnen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, verantwortungsvol-le und vorbeugende Politik ist nicht nur gut für Kinderund Familien . Verantwortungsvolle und vorbeugendePolitik spart auch soziale Folgekosten, etwa bei Kinder-und Jugendhilfen und Grundsicherungsleistungen . DemKindeswohl muss bei allem staatlichen Handeln der Vor-rang eingeräumt werden . Für uns als SPD ist deshalb eineStärkung der Rechte von Kindern ein wesentliches Ziel .
Um diese Rechte im Alltag besser durchzusetzen undKinder somit zu stärken und auch besser zu schützen,brauchen wir als einen wichtigen Schritt Kinderrechte imGrundgesetz .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen keinKind zurücklassen . Das heißt für uns: früh handeln, ge-zielt fördern, ganzheitlich helfen. Das ist unsere Pflicht.Danach handeln wir . Auch wir freuen uns auf die Diskus-sionen in den Ausschüssen .Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit .
Als nächster und letzter Redner in der Debatte hat
Eckhard Pols für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Vater vonfünf Kindern fühlt man sich im Familienausschuss amrichtigen Fleck . Ich vermag hier all meine praktischenErfahrungen als Elternteil mit einzubringen . Ebenso ver-hält es sich mit dem Blick auf meine Mitgliedschaft inder Kinderkommission seit Beginn der 17 . Legislaturpe-riode des Deutschen Bundestages .In der Zeit meines Vorsitzes in der Kinderkommissionhabe ich etwas gesagt, zu dem ich auch heute noch stehe:„Ohne Kinder ist kein Staat zu machen, ohne Kinder gibtes keine Zukunft .“ Deshalb ist es überaus wichtig, dassvor allem wir Familienpolitiker das Wohl der Kleinen inunserer Gesellschaft stets im Auge behalten . Dabei han-delt es sich natürlich um einen fortwährenden Prozessder Analyse, wie wir die bestmögliche Entwicklung un-serer Kinder gewährleisten können . „Kinderschutz“ und„Prävention“ lauten hier die zentralen Begriffe.Vor diesem Hintergrund halte ich Ihren Antrag sogargrundsätzlich für lobenswert . Ich bin mir ziemlich sicher,dass Sie damit auch zu einem besseren Kinderschutz bei-tragen wollen . Sie sprechen auch wichtige Themen an .Da sind zum Beispiel eine bessere Kooperation zwischenKinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen so-wie die bestmögliche Integration von Ehrenamtlichen indie Kinder- und Jugendarbeit .Als aufrichtiger Kollege muss ich Ihnen aber leiderauch sagen, dass Sie mit Ihrem Antrag an vielen StellenGefahr laufen, das eigene Ziel zu verfehlen . Ich möchtemeine Position an zwei Punkten erläutern .Gülistan Yüksel
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Zum einen wollen Sie die Pflicht zur Vorlage des er-weiterten Führungszeugnisses aufheben . Sie sprechen indiesem Zusammenhang überwiegend von Ehrenamtli-chen, die in der Tat Außergewöhnliches im Bereich derKinder- und Jugendhilfe leisten . Die Gesellschaft – eben-so wie wir Abgeordnete – kann sich wahrhaftig glücklichschätzen, ein solch bewundernswertes ehrenamtlichesEngagement vorzufinden. Deshalb plädiere auch ich da-für, Ihnen die Aufnahme eines entsprechenden Ehrenam-tes so leicht wie möglich zu machen . Da sind sich Unionund Grüne sogar einig .Was uns jedoch unterscheidet, ist das Augenmaß .Ausgerechnet beim Kindeswohl – ich betone: beim Kin-deswohl – wollen Sie die gesetzlich vorgeschriebenePflicht zur Vorlage eines erweiterten Führungszeugnissesabschaffen – ohne Prüfung, ob dies auch zweckdienlichwäre . Dabei sollten wir jedoch stattdessen reinen Gewis-sens in den Spiegel schauen und sagen können: UnsereKinder befinden sich in guten Händen. So vermag es al-lerdings nur zu sein, wenn wir den Personen, in derenObhut wir unsere Kinder geben, wirklich vertrauen kön-nen .Natürlich sehe auch ich das Unbehagen derjenigen, diesich um unsere Kinder kümmern, wenn sie dem Trägerihr erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen . Diesgilt laut Gesetz für die hauptamtlichen Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe wie auchfür Ehrenamtliche gleichermaßen . Allerdings muss zu-erst geprüft werden, ob gleichwertige Alternativen zurderzeitigen Vorlagepflicht wirklich bestehen. Ich sage Ih-nen: Gerade beim Thema Kindeswohl muss Sorgfalt vorSchnelligkeit gehen .Angesichts dessen will ich vielmehr unserer unions-geführten Bundesregierung ein großes Lob aussprechen .Sie geht äußerst bedächtig und verantwortungsvoll mitdem Kindeswohl um . Sie wird die Zweckdienlichkeitdes sogenannten Negativ-Attestes, welches die Grünenin ihrem Antrag vielleicht schon als der Weisheit letzterSchluss verkaufen wollen, eingehend prüfen .Eine Prüfung wird die Regierung auch hinsichtlich derFrage vornehmen, ob bestimmte andere schwere Strafta-ten, die heutzutage noch nicht zum Ausschluss von Tä-tigkeiten aus der Kinder- und Jugendhilfe führen, mit inden Katalog der ausschlussrelevanten Straftaten einbezo-gen werden sollten . Von dieser Überprüfung sind Delikteetwa des Totschlags und der schweren Körperverletzungbetroffen, und das finde ich gut.Der zweite kritische Punkt, den ich sehe, ist, dass Siedie Verantwortung für die Unterhaltung von Hilfenetz-werken anscheinend allein dem Bund auferlegen wollen,und zwar mit der Begründung, dass Präventionsnetzwer-ke Schwierigkeiten bei ihrer langfristigen Finanzierunghätten . Meine Damen und Herren von den Grünen, ichsage Ihnen einmal Folgendes: Kinderschutz und Präven-tion sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an dersich sowohl der Bund als auch die Länder zu beteiligenhaben .Wenn sich Ihre eigenen Landesregierungen dieserVerantwortung entziehen, ist das ein Problem, das vorallem die Länder zu lösen haben und nicht die Bundes-ebene . Wie auch in anderen Politikbereichen nach demBund zu rufen, wenn man wieder einmal nicht weiter-weiß, ist zwar immer sehr einfach, ich halte das aber andieser Stelle für deplatziert .Ungeachtet dessen bekennt sich der Bund zu seinerVerpflichtung, wie etwa die Anschubfinanzierung desPräventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ zeigt, dassich an Pädophile richtet . Diese übernahm das Bundes-ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz . So-gar das rot-schwarz regierte Berlin hat übrigens die An-schlussfinanzierung für das Jahr 2017 übernommen. Dasnenne ich verantwortungsvoll .Aber zu guter Letzt möchte ich tatsächlich einen So-zialdemokraten zitieren, nämlich unsere Familienminis-terin Manuela Schwesig – leider ist sie gerade nicht da –,die einmal gesagt hat: „Jedes Kind hat ein Recht darauf,gut und sicher aufzuwachsen .“ Und das wollen wir dochalle .Vielen Dank .
Ich schließe die Aussprache .Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 18/9054 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisungso beschlossen .Ich rufe den tagesordnungspunkt 31 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPDGartenbau sowie Garten- und Landschafts-bau als innovativen Wirtschaftszweig stärkenund zukunftsfest machenDrucksache 18/10018Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-sicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .Sobald alle Kolleginnen und Kollegen, die an dieserDebatte teilhaben wollen, einen Platz gefunden haben,könnte ich die Aussprache eröffnen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeThomas Mahlberg für die CDU/CSU-Fraktion .
Eckhard Pols
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren, die dieser Debatte aufder Tribüne oder vor dem Fernseher beiwohnen! Wirhaben die Initiative für den Gartenbau deshalb ergriffen,weil es wichtig ist, wie ich finde, einen innovativen, ei-nen klein- und mittelständisch strukturierten Wirtschafts-zweig hier in Deutschland zu stärken und ihn auch wei-terhin zukunftsfest zu machen .Manch einer reibt sich die Augen und fragt sich: ImDeutschen Bundestag wird über Gartenbau debattiert?Man reibt sich noch mehr die Augen, wenn man mit denHard Facts des Gartenbaus konfrontiert wird; denn derGartenbau bei uns im Land hat eine Bruttowertschöpfungvon rund 20 Milliarden Euro . Er macht einen Umsatzvon etwa 78 Milliarden Euro . Rund 700 000 Menschenarbeiten in dieser Wertschöpfungskette . Der Gartenbauin Deutschland stellt etwa 13 000 Ausbildungsplätze zurVerfügung und ist damit einer der größten Ausbilder inder Agrarbranche .
Sie sehen also: Der Gartenbau verdient unsere volle Un-terstützung . Gartenbaubetriebe bereichern unser Leben;ich glaube, diese Erfahrung hat jeder schon ganz persön-lich gemacht .Das Thema Ernährung ist derzeit in aller Munde . Wirhaben auch in dieser Woche Debatten über dieses Themageführt . Wenn Sie morgen wie ich und meine Kollegin-nen und Kollegen selber einkaufen gehen, dann erfahrenSie wieder, welche tollen und innovativen Produkte un-ser Gartenbau hervorbringt, beispielsweise Obst und Ge-müse auf dem Wochenmarkt oder in den Geschäften . Sogehören gartenbauliche Betriebe mit ihren Erzeugnissenzu unserem Alltag .Aber es gibt nicht nur Obst und Gemüse vom Garten-bau, sondern der Gartenbau ist viel mehr . Es gibt nebenEssbarem, neben viel Gesundem, das produziert wird,auch Zierpflanzen, es gibt den Friedhofsbereich – einsehr großer Bereich – und Einzelhandelsgärtnereien so-wie den Garten- und Landschaftsbau, kurz: GaLa-Bau .Als Arbeitgeber spielt der Gartenbau eine wichtigeRolle in unserem Land – das habe ich eben deutlich ge-macht –, vor allen Dingen in den ländlichen Regionenunseres Landes, aber nicht nur dort: Er leistet auch Groß-artiges im Bereich der Integration . Ich komme aus Nord-rhein-Westfalen . Dort gibt es beispielsweise ein sehr gro-ßes Integrationsprojekt, von dem gerade junge Menschensehr profitieren, aber nicht nur die jungen Menschen,sondern auch die Betriebe, weil so die entsprechendenFachkräfte für den Garten- und Landschaftsbau ausge-bildet werden .Neben den Integrationsmöglichkeiten im Rahmen die-ser Projekte findet auch eine alltägliche Integration statt,zum Beispiel in den vielen Kleingartenanlagen, die wirhaben; davon ist natürlich auch der städtische Raum be-troffen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein großesLob und einen großen Dank den vielen Kleingärtnernaussprechen, die wir bei uns im Land haben; denn sietragen mit Urban Gardening, mit Urban Farming und mitihren Kleingärten dazu bei, viel Grün in unsere Städte zubringen, viel Grün in unser Land zu bringen, und damitsorgen sie für die entsprechende Lebensqualität in unse-ren Städten .
Sie steigern damit die Attraktivität unserer urbanen Räu-me . Und nicht nur das: Sie verbessern auch das Stadt-klima . Das Stadtgrün ist nämlich auch eine wichtige Vo-raussetzung für ein gesundes Klima, das wir in unserenStädten brauchen .Natürlich gibt es auch viele Herausforderungen für denGartenbau, zum Beispiel die gestiegenen Anforderungenan die Energieeffizienz. Dabei steht vor allen Dingen dieressourcenschonende Produktion im Vordergrund . Wirkönnen es nur begrüßen – das darf ich an dieser Stelleganz persönlich sagen –, dass im Haushalt zusätzlicheGelder insbesondere für die Förderung von Energiebera-tung und energiesparenden Investitionen für den Garten-und Landschaftsbau vorgesehen sind . Somit unterstütztder Bund die schnelle Umsetzung wissenschaftlicher Er-kenntnisse in die Praxis . Deshalb an dieser Stelle ein gro-ßes Lob an unseren Bundesminister Christian Schmidt!Ich denke, stellvertretend wird der Staatssekretär PeterBleser dieses Lob weiterleiten .
Es gibt viele Aufgaben, die wir gemeinsam mit derBundesregierung lösen müssen . Das gilt auch mit Blickauf die europäische Ebene . Dazu zählt die weitereAngleichung wettbewerbsrelevanter Regelungen genau-so wie der europäische Patent- und Sortenschutz . Wirfordern die Bundesregierung deshalb auf, auf europäi-scher Ebene darauf hinzuwirken, dass Erzeugnisse auskonventioneller Zucht und alle herkömmlichen biolo-gischen Zuchtverfahren von der Patentierbarkeit ausge-schlossen sind .Im Bereich der Absatzförderung sind die Stellung unddie Förderfähigkeit aller Produkte des Gartenbaus zuverbessern und Selbstvermarkter – ich glaube, da sindwir uns einig – stärker zu unterstützen . Letztendlich gehtes ja darum, dass unsere leistungsfähige Gartenbauwirt-schaft einen leichteren Zugang zu den Märkten geradein Drittstaaten bekommt . Das heißt, wir müssen die Zahlder nichttarifären Handelshemmnisse weiter reduzieren .Im Jahre 2013 hat es einen großen Kongress des Bun-desministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ge-geben . Wichtig erscheint mir, dass wir die Ergebnisse,die wir dort erzielt haben, weiterhin umsetzen: im Be-reich der Energieeffizienz, zum Beispiel, was die Reduk-tion von Torf in Substraten angeht, in der Züchtungs-forschung und gerade auch bei der Erforschung neuerGefahren durch Krankheiten und Schädlinge sowie derGefahren der Bodenmüdigkeit . Deshalb haben wir in un-serem Antrag, den wir gemeinsam mit der SPD formu-liert haben, der Forschung ein großes Kapitel gewidmet .Kontraproduktiv ist, wie ich finde – auch das darf andieser Stelle erwähnt werden; aber ich hoffe, dass wir da
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noch eine gemeinsame Lösung finden –, die existenzielleFrage des Leibniz-Instituts für Gemüse- und Zierpflan-zenbau am Standort Erfurt . Dort gibt es massive Proble-me . Wir haben ja bereits verabredet, im November diesesJahres ein gemeinsames Gespräch zu führen. Ich hoffe,dass wir dann eine Lösung finden. Ich glaube, die Schlie-ßung dieses Instituts wäre ein großer Verlust – da sindwir uns wahrscheinlich parteiübergreifend einig –, nichtnur für die Branche, sondern auch im Hinblick auf diepolitischen Ziele, die wir verfolgen .
Auch was das Thema „Grün in der Stadt“ angeht, gibtes viele Fragen, die einer wissenschaftlichen Klärung be-dürfen . Wir glauben, wie gesagt, auch hier weiter fördernzu müssen . Wir brauchen ein eigenständiges Förderpro-gramm Stadtgrün . Die Grünentwicklung, gerade quar-tierbezogen in den Städten, ist eine wichtige Aufgabe,der wir uns widmen müssen . Vor allem diejenigen, dieaus Städten kommen, wissen, dass das Grün ein Bereichist, der aus Kostengründen – weil es vielen Kommunenwirtschaftlich nicht so gut geht – oft stark vernachlässigtwird . Ich glaube, an dieser Stelle brauchen wir gemeinsa-me Anstrengungen, weil gerade das Grün in der Stadt denLebensraum für die Menschen ausmacht .Abschließend und zusammenfassend: Ich finde, denAntrag, den wir formuliert haben, hat sich der Garten-bau in Deutschland redlich verdient . Er ist ein innovati-ver Wirtschaftszweig. Ich hoffe, dass wir diesem Antragüber die Parteigrenzen hinweg tatsächlich gemeinsamzustimmen werden . Ich glaube, er ist ein gutes Zeichenfür unseren Gartenbau . Die ersten Stellungnahmen, dieich dazu schon gehört habe, sind sehr positiv . Insofernfreue ich mich auf die Beratungen, die wir im Ausschusshaben werden, und hoffe, dass wir alle diesem Antragzustimmen werden, um dem Gartenbau gemeinsam einegute Zukunft zu bieten .Herzlichen Dank .
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-
tion Die Linke .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Wir alle schätzen Grünanlagen und Parksin Städten und Dörfern . Ich esse gern Tomaten, Gurkenund Paprika aus heimischer Produktion .
Zierpflanzen verschönern Gärten und Balkons undmachen unsere Wohnungen bunter . Gartenbau ist einwichtiger Wirtschaftszweig mit, wie schon gesagt, fast700 000 Beschäftigten . Die Initiative, den Gartenbau zustärken, unterstützt die Linke .
Aber Gartenbau ist noch viel mehr . Bäume, Sträu-cher und Grünanlagen vermindern Lärm und Staubbe-lastungen in Städten und schaffen Abkühlung in hei-ßen Sommern . In Auswertung der Abgasskandale beiDieselfahrzeugen muss man jetzt von deutlich höherenFeinstaub- und Stickoxidbelastungen ausgehen . Da kön-nen mehr und bessere Grünanlagen in BallungszentrenAbhilfe schaffen.
Bei der Planung von Grünanlagen, aber auch generellim Landschafts- und Gartenbau stehen Fragen an: Wel-che Pflanzen sind wo am besten geeignet? Wie kann einGewächshaus energieeffizient betrieben werden? WelcheArten verkraften den Klimawandel? Welche Gefahrengehen eventuell von Zier- und Gartenpflanzen aus? Ineinigen Städten empfehlen Ämter Baumsorten, die vomBundesamt für Naturschutz als invasive Arten eingestuftsind, also Arten, die einheimische Pflanzen und Bäumeverdrängen und gefährden können . Wir brauchen mehrInformation, Koordination und vor allem Forschung .Denn Antworten auf all diese Fragen sind notwendig .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Siefordern in Ihrem Antrag folgerichtig mehr Ressortfor-schung für Gartenbau . Dem stimmt die Linke zu .
Bis zum Jahresende gibt es in Deutschland zwei Stand-orte, an denen außeruniversitär im Bereich Gartenbaugeforscht wird . Beide gehören zum Leibniz-Institut fürGemüse- und Zierpflanzenbau, IGZ. Einer dieser Stand-orte ist Großbeeren in Brandenburg, der andere ist Erfurtin Thüringen . Sollen unsere Gartenbaubetriebe weitererfolgreich sein, brauchen sie die Ergebnisse der For-schung, und zwar anwendungsbereit .
Ein gelungenes Experiment, ein Nachweis, dass einespeziell gekreuzte Pflanze über Triebe vermehrt werdenkann, reicht vielleicht Wissenschaftlern für ihre Exper-tise und ihr Renommee in der Grundlagenforschung, esreicht aber nicht für den Gartenbaubetrieb Meier, der die-se Pflanzen tausendfach in Städten einsetzen will.
Das IGZ verbindet derzeit beides: die Grundlagenfor-schung in Großbeeren und die Fähigkeit, Forschungser-gebnisse in die Breite zu überführen, in Thüringen . DieLeibniz-Gemeinschaft legt ihren Schwerpunkt leidernunmehr auf die Grundlagenforschung und wird des-halb den Standort Erfurt zum Jahresende abwickeln .Der Zentralverband Gartenbau befürchtet wie die Linke,dass sich damit die Innovationskraft des gesamten Wirt-schaftszweiges verschlechtert . Die rot-rot-grüne Thürin-ger Landesregierung kämpft für den Erhalt dieser For-schung für Gemüse und Zierpflanzen in Erfurt.
Thomas Mahlberg
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Aber allein und ohne Bundesmittel kann Thüringendiese eigentliche Bundesaufgabe nicht schaffen. Gegen-über dem Landwirtschaftsministerium hat Thüringen inGesprächen und Protokollen stets bestätigt, dass es denNeustart einer wissenschaftlichen Forschungseinrich-tung in Nachfolge des IGZ in Erfurt unterstützen wird .Im Landeshaushalt für 2017 sind die Mittel eingestellt .In der mittelfristigen Finanzplanung des Freistaates Thü-ringen sind die Mittel enthalten . Am 23 . September 2016hat der Staatssekretär des Thüringer Ministeriums fürInfrastruktur und Landwirtschaft in Berlin vor Leitung,Betriebsräten und Beschäftigten des IGZ die Bereitschaftzur anteiligen Weiterfinanzierung einer Forschungsein-richtung durch Thüringen bestätigt .Herr Staatssekretär Bleser, Thüringen steht wie derZentralverband Gartenbau zur Garten- und Zierpflan-zenforschung in Erfurt . Minister Schmidt bestätigtezuletzt am Mittwoch im Landwirtschaftsausschuss desBundestages, dass solch eine Einrichtung zu erhaltenund finanziell zu unterstützen ist. Hier reden wir gera-de über den im Antrag dokumentierten Willen der Ko-alitionsfraktionen, die Gartenbauforschung zu stärken .Wenn jedoch das Bundesministerium für Ernährung undLandwirtschaft nur Projektförderung anbietet und sichabweichend von den Aussagen des Ministers im Land-wirtschaftsausschuss um eine institutionelle Förderungdrückt, dann wird das Ministerium dem Willen der Koa-lition nicht gerecht .Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dieLinke unterstützt Sie bei der Konkretisierung und Um-setzung dieses Antrags . Verhindern wir gemeinsam einenVerlust an Forschungskapazitäten für eine innovativeheimische Gartenwirtschaft . Geben wir als Bundestagder Regierung auf, den gewachsenen Gartenbaufor-schungsstandort in Erfurt dauerhaft zu sichern .Danke .
Der Kollege Johann Saathoff hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! In der Stadt Wiesmoor in Ostfriesland, einemZentrum des Gartenbaus in Deutschland, findet jedesJahr ein Blütenfest statt . Es ist eine wundervolle Ver-anstaltung mit gesteckten Wagen, mit Dahlien, die dortin ehrenamtlicher Arbeit gesteckt werden . Es gibt einenBlütenkorso und die Wahl einer Blütenkönigin . Das Gan-ze endet mit einer eindrucksvollen Veranstaltung „Kanalin Flammen“ . Ich lade Sie alle herzlich nach Wiesmoorein; denn ein Besuch lohnt sich zu jeder Zeit, aber natür-lich auch zum Blütenfest .In Ostfriesland ist der Gartenbau wie in vielen ländli-chen Regionen Deutschlands ein wichtiger Bestandteil;denn er generiert Arbeitsplätze und Wertschöpfung . Wirvon der SPD, meine Damen und Herren, wollen, dass dasauch so bleibt . Das sage ich hier ganz deutlich .
Dieser wertvolle Beitrag des Gartenbaus schlägt sichnatürlich auch in Zahlen nieder . Die will ich jetzt nichtim Einzelnen nennen, die können Sie aber in unseremAntrag nachlesen . Herr Kollege Mahlberg hat ja auchdarauf hingewiesen . Nur so viel: Deutschland bietet seitJahrzehnten den größten europäischen Verbrauchermarktfür Blumen und Pflanzen. Der Gartenbausektor ist eineinnovative Branche, ohne die der ländliche Raum nichtnur ein kleines, sondern ein großes Stück ärmer wäre .Deswegen ist er für uns im ländlichen Raum wichtig .
Das Wetter ist und bleibt aber der größte Unsicher-heitsfaktor für den Gartenbau . Das eint den Gartenbaumit den erneuerbaren Energien, neben dem Gartenbaueiner der weiteren wichtigen Wertschöpfungsfaktorenin ländlichen Regionen . In Ostfriesland gibt es nicht nurviele Gartenbaubetriebe, es gibt auch viele Windenergie-anlagen . Die Übertragungsnetzbetreiber haben kürzlichdie EEG-Umlage für das nächste Jahr bekannt gegeben .Sie ist mit 6,88 Cent pro Kilowattstunde erneut leicht ge-stiegen . Gleichzeitig steigen die Netzentgelte, was denStrompreis zusätzlich belastet .Natürlich ist das alles auch von den Gartenbaube-trieben zu zahlen, so wie ein großer Teil der Einnahmendes EEG-Kontos aus den mittelständischen Betriebenstammt . Denn anders, als es im Allgemeinen wahr-genommen wird, ist nur ein kleiner Teil der deutschenWirtschaft von der EEG-Umlage als privilegiert zu be-trachten . So leisten auch die Gartenbaubetriebe einenessenziellen Beitrag zum Gelingen der Energiewende inDeutschland .
Bei der Energiewende geht es zuallererst um Klima-schutz . Die Branche weiß ganz genau, was Klimawandelbedeutet, und stellt sich schon darauf ein, zum Beispielmit neuen Sorten . Dafür ist eine breit aufgestellte For-schung notwendig . Deswegen heißt es in der Antrags-überschrift: „ . . . Garten- und Landschaftsbau als innovati-ven Wirtschaftszweig stärken und zukunftsfest machen“ .Der Bund tritt weiterhin für eine leistungsfähige For-schung im Gartenbau ein und setzt sich gemeinsam mitden zuständigen Ländern dafür ein, dass die Forschungauf diesem hohen Niveau erhalten bleibt .Aber die Branche trägt nicht nur mit der Zahlung derEEG-Umlage zur Energiewende bei, sie arbeitet auch ak-tiv am Klimaschutz mit, indem sie hilft, die Klimazielezu erreichen, wie zum Beispiel durch die Senkung desPrimärenergieverbrauchs . Wir alle unterstützen sie dabei,liebe Kolleginnen und Kollegen . Das Bundesprogrammzur Förderung von Effizienzmaßnahmen in Landwirt-schaft und Gartenbau ist sehr erfolgreich .
Ralph Lenkert
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Es läuft seit dem 1 . Januar 2016 und erfährt seitdem zu-nehmenden Zuspruch aus der Branche . Antragszahlenund Antragsvolumen haben sich sehr erfreulich entwi-ckelt . Aktuell liegen 483 Anträge mit einem Gesamtvo-lumen von 11,8 Millionen Euro vor . Dafür, dass es soerfolgreich bleibt, wollen wir im nächsten Jahr die Mitteldeutlich aufstocken .
Damit lässt sich vor allem im Unterglasgartenbau eineMenge Energie und damit eine Menge Geld, aber aucheine Menge CO2 einsparen . Dem Klimaschutz möchteich mich an dieser Stelle aber noch mehr widmen wollen .Der Ausstoß von CO2 ist nämlich bislang quasi kostenlos .Es gibt keine Gebühr für die Ablagerung von CO2 in derDeponie, die Atmosphäre heißt . Als ehemaliger Bürger-meister kann ich Ihnen aber sagen: keine Ablagerung undkeine Abfallentsorgung ohne Gebühr .Natürlich begeben wir uns damit in ein Spannungs-feld . Beispielhaft für das Spannungsfeld stehen die Zieleim Klimaschutzplan der Bundesregierung, deren Errei-chen eine Umstrukturierung der gesamten Wirtschaft vo-raussetzt und eben auch den Gartenbau betreffen wird.In Ostfriesland sagt man: „Van lüttje Fisken wordenHeekten groot“, was sehr frei übersetzt heißt: Kleinviehmacht auch Mist . – Zu den kleinen Maßnahmen im Ent-wurf des Klimaschutzplans der Bundesregierung gehörtim Bereich Gartenbau vor allem die Reduktion des Torf-einsatzes .In meiner Heimat Ostfriesland gibt es eben nicht nurviele Gartenbaubetriebe, viele Windenergieanlagen undviele andere einmalige, sehenswerte Dinge, sondern tra-ditionell auch viel Torf . Torf wurde früher in den ärmstenRegionen unter bittersten Umständen gestochen, über dieKanäle in die Städte gebracht und gegen Lebensmittelgetauscht . Torf ist ein essenzieller Bestandteil des Gar-tenbaus . Wir alle wissen aber, dass der, der Torf abbaut,dem Klima extrem schadet .In Niedersachsen wurde deshalb beispielsweise einProgramm ins Leben gerufen, das dem Schutz und derEntwicklung der niedersächsischen Moorlandschaftendient . Es besteht ein vielschichtiger Maßnahmenkatalogzur Verringerung der Torfzehrung und Torfsackung unddamit zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen . DasProgramm umfasst Maßnahmen zum Moorschutz undzur moorschonenden Bewirtschaftung . Dabei geht es bei-spielsweise um Wiedervernässung nach dem Torfabbauund um die Optimierung des Wasserhaushalts auf bereitsrenaturierten Flächen .Ich weiß, dass der Gartenbau enorme Anstrengungenleistet, um Torf zu substituieren . Am Beispiel des Öko-werks in Emden möchte ich Ihnen heute demonstrieren,dass sich Klimaschutz, Torfsubstitution und Wirtschaft-lichkeit nicht gegenseitig ausschließen:Im Pomarium des Ökowerks werden rund 600 Ap-felsorten kultiviert . Es gibt Apfelsorten, die so kleinwir Kirschen sind, und es gibt Apfelsorten, die so großwie kleine Kürbisse sind . In diesem Pomarium gibt es600 verschiedene Geschmäcker, also deutlich mehr alsdie 25 Sorten, die es im Einzelhandel üblicherweise zukaufen gibt . Als das Pomarium vor einigen Jahren ein-gerichtet wurde, bestand es noch komplett aus Topfkul-turen . Mittlerweile stehen die jungen Bäume komplett inBeeten im Freiland – und das alles ohne den Einsatz vonTorf .Sicher werden jetzt einige sagen: Das geht doch garnicht . Das ist viel zu teuer . Das kann man nur in Ostfries-land machen . – So ist es aber eben nicht . Im Gegenteil:Der Arbeitsaufwand hat sich durch die Umstellung re-duziert . Man muss zum Beispiel am Wochenende nichtmehr nachschauen, ob die Tropfanlage irgendwo ver-stopft ist. Die Pflanzen bekommen auch so ganz natürlichgenügend Feuchtigkeit .Ich sehe hier also erst einmal die Schutzreaktion vonMenschen, die umstellen müssen, nach dem Motto: Wattde Buur neet kennt, dat freet he neet . – Es kann abereben doch funktionieren . Genau deshalb steht im Klima-schutzplan nicht nur irgendein Verbot, sondern dass manBeratungs- und Informationsmaßnahmen zur Nutzungvon Torfersatzstoffen durchführen soll, damit sich dieseErkenntnis dann auch über Emden hinaus in Deutschlandverbreiten kann .Selbstverständlich sind in diesem Zusammenhangnoch enorme Forschungsanstrengungen notwendig, aberso sicher, wie wir irgendwann unseren Strom komplettaus erneuerbaren Energien gewinnen werden, wollen wirden Torf zum Schutz des Klimas da lassen, wo er hinge-hört .Ein großes Thema ist aktuell auch das Stadtgrün .Der Gartenbautag stand dieses Jahr unter dem Motto:„Mensch . Stadt . Grün .“ Urbanes Grün trägt unmittelbarzu einer guten Nachbarschaft und einem sozialen Quar-tier bei . Deshalb unterstützt die SPD auch die Bestrebun-gen, dem Grün in der Stadt einen wichtigen Stellenwerteinzuräumen .So wie wir mit dem Mieterstrom die Erzeugung grü-nen Stroms in den Städten fördern und auch Menschen,die kein eigenes Haus besitzen, auf der Erzeugungsseitean der Energiewende beteiligen wollen, haben wir mitdem Stadtgrün vor, mehr Teilnahme am Grün zu ermög-lichen . Das bedeutet bessere Freizeit, bessere Luft unddamit ein gutes und soziales Leben miteinander im Quar-tier. Grünflächenparks, Spielplätze und andere Naturer-holungsräume tragen zu einem guten Miteinander bei .Ein weiteres wichtiges Thema, das gerade in allenWirtschaftsbereichen diskutiert wird, ist „Digitalisierungund Industrie 4 .0“ . Die Digitalisierung verändert unserLeben, und sie verändert, wie wir arbeiten . Manche Men-schen haben aber auch berechtigte Befürchtungen, dassdie Digitalisierung dazu führt, dass sie im Endeffekt garkeine Arbeit mehr oder nur noch eine viel schlechter be-zahlte Arbeit haben .Im Gartenbau bietet die Digitalisierung Möglichkeitenzur Optimierung von Bestandserfassung, Orderprozessenund bedarfsgerechter Planung der Produktion . Diese Pro-zesse können also deutlich effizienter ausgestaltet wer-den, wodurch Aufwand und Geld gespart werden . DerKundenkontakt kann ebenfalls substanziell weiterentwi-ckelt werden . Ich habe in den vergangenen Wochen undJohann Saathoff
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Monaten mit ganz vielen Start-up-Unternehmen gespro-chen . So wie vor 15 Jahren noch niemand an Smartpho-nes und die Apps dachte, die dazugehören, wird es in dennächsten Jahren viele Entwicklungen geben, die heutebestenfalls schemenhaft zu erkennen sind .Darin besteht eine große Chance für die wirtschaftli-che Entwicklung . Aber diese Chance birgt natürlich wiejede Chance in gesellschaftlichen Umbrüchen gewisseGefahren . Deswegen ist es für die SPD ganz wichtig,dass solche Weiterentwicklungen möglich gemacht wer-den, aber der Mensch bei der Weiterentwicklung in die-sen Bereichen immer fest in den Blick genommen wird .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gar-tenbaubranche erfüllt in ihrer Vielfalt wichtige gesell-schaftliche Aufgaben . Die Früchte des Erwerbsobst- und-gemüsebaus sind Teil unserer Ernährung . Den Ausbauund die Instandsetzung des öffentlichen Grüns leistet derGarten- und Landschaftsbau . Der Freizeitwert wird vomSport- und Spielstättenbau befördert . Auch andere Berei-che wie Friedhofsgärtnereien, aber auch Baumschulen,Staudengärtnereien oder Zierpflanzenbau sind wichtigeKulturträger .Nicht zu vergessen: Der Gartenbau ist Träger positi-ver Emotionen, meine Damen und Herren . Das bedeutet,der gesellschaftlichen Erwartungshaltung und der gesell-schaftlichen Akzeptanz ist nachzukommen . Inzwischenspüren wir eine breite Bewegung und gerade auch beijungen Familien den Wunsch nach einer eigenen Anbau-parzelle, nach einem eigenen Sehnsuchtsort; sei es UrbanGardening – Stichwort: Tempelhofer Feld –, sei es derklassische Kleingarten im Ruhrgebiet . Da gibt es in denKleingärtenvereinen inzwischen wahre Kulturrevolutio-nen .Der Garten- und Landschaftsbau verdient viel stärkereAufmerksamkeit; denn die Branche muss zukunftsorien-tiert denken und handeln . Dafür braucht sie aber Perspek-tive . Das ist die politische Aufgabe, die wir haben . Es istgut, dass es diesen Antrag der Koalitionsfraktionen gibt .Deshalb können wir diese Debatte, meine Damen undHerren, nur sehr begrüßen .Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU undder SPD, wo liegen denn die Prioritäten in der Förderungder Branche? Was wir im Antrag lesen, ist ein wärmen-der, wohlwollender Rundumschlag nach dem Motto: Wirstehen immer hinter euch, heute und gestern . – Was fehlt,sind natürlich die Wegweiser, wo es in der Zukunft hin-gehen soll .Die Umstellung auf regenerative Energien ist denGartenbaubetrieben wahrlich nicht fremd . Sie sind schonlange auf dem Weg. Durch Energieeffizienz und Energie-sparen können Kosten eingespart werden, Energie kannaber auch ein wichtiger Kostentreiber sein .Bei Ökologisierung und Nachhaltigkeit müssen wirdie Betriebe viel stärker unterstützen . Darum müssenwir uns kümmern . Da geht es nicht nur um den knappenRohstoff Torf, der aus dem Gartenbau weiter verbanntwerden muss; darin sind wir uns durchaus einig . Es gehtum viel mehr .Ein Thema ist zum Beispiel die EU-weite Harmonisie-rung der Pflanzenschutzgesetzgebung. Im Obstbau führtdie nichteinheitliche EU-Regulierung immer wieder zuenormen Wettbewerbsverzerrungen . Mittel, die hier inDeutschland zu Recht längst verboten sind, kommen inNachbarländern noch immer zum Einsatz, durch den Im-port von Früchten aber leider auch zu uns . Umgekehrtist es aber genauso . Auch wir müssen hier tätig werdenund haben da noch einiges zu tun . Dieses Problem mussendlich angegangen werden, meine Damen und Herren .Im Zierpflanzenbau muss der Einsatz von bestimm-ten Wachstumsregulatoren endlich geregelt werden . Hiererfährt die Branche aufgrund fehlender EU-Regelungenebenfalls große Benachteiligungen . Eine Harmonisie-rung der EU-Pflanzenschutzvorgaben wird die Forschungnach Alternativen und die EU-weite Ökologisierung desGartenbaus endlich voranbringen .Ein weiteres dringendes Thema ist die Förderung desÖkozierpflanzenbaus. Hier stecken Forschung und Leh-re noch in den Kinderschuhen, obwohl der Markt dieseProdukte zunehmend fordert, wie auch im Übrigen derÖkomarkt .Meine Damen und Herren, diesen Bereich an Garten-bauforschungszentren anzugliedern, ist längst überfällig .Da gilt es, endlich Fahrt aufzunehmen . Die unterschied-liche Branchenausrichtung auf Produktion, Handel undDienstleistung oder auch deren Kombination erfordertvielfältige betriebliche Strukturen . Eine Stärkung kleinerund mittlerer, direktabsetzender Betriebe ist zur Erhal-tung der Branchenstruktur unabdingbar . Was wir in denbäuerlichen Strukturen erfolgreich vorangebracht haben,geht im Gartenbau im Moment noch sehr stark verloren .Diese Entwicklung muss gestoppt werden . Die Politikmuss dafür sorgen, dass die Chancen der kleinen undmittleren Betriebe, sich gegenüber Gartencenterketten,Baumärkten und dem Lebensmitteleinzelhandel durch-zusetzen, die sich hier ja auch im Verkauf sehr stark en-gagieren, und zwar nur da, verbessert werden .
In den direktabsetzenden Betrieben finden wir die In-novation, die wir in der Branche brauchen . Diese Betrie-be stellen auch eine große Zahl der Ausbildungsplätze fürden so wichtigen Fachkräftenachwuchs . Diese attrakti-ven Berufe des Gartenbaus haben absolute Nachwuchs-probleme . Das kann uns doch nicht egal sein .Gesellschaftlich liegt Garten voll im Trend . Eine pro-fessionelle Ausbildung in diesem Bereich, vor allem improduktiven Gartenbau, ist leider bei jungen Leuten out .Da müssen wir gemeinsam Anstrengungen unternehmenund innovative Marketingideen hineinstecken, um die-Johann Saathoff
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sen spannenden, abwechslungsreichen, kreativen undgesellschaftlich wertgeschätzten Bereich voranzubrin-gen . Natürlich bedeutet das auch, Betrieben zu helfen,die sich darum mühen, jungen Flüchtlingen, die oft guteVoraussetzungen mitbringen, das Berufsfeld Gartenbauzu öffnen. Das könnte, wenn es gelingt, auch ein wichti-ger Beitrag zur Integration werden .
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion .
Danke schön . – Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Es ist schon fast sehr harmonischzu nennen, wie hier ein Thema unseres Ausschusses de-battiert wird . Bei anderen Themen sind wir etwas leiden-schaftlicher . Vielleicht eint uns ja das Thema, das wirhier haben .Ich begrüße zu dieser Debatte auch Menschen aus ei-nem Bundesland, die alles können außer Hochdeutsch .Ich begrüße die Mitglieder des Kreistages Göppingenund meinen Kollegen Hermann Färber . Schön, dass Siedieser Debatte beiwohnen! Ich kann Ihnen versprechen:Nicht immer ist es so harmonisch hier .
Der Gartenbau hat in Deutschland eine lange Traditi-on . Es war früher eine Selbstverständlichkeit, einen ei-genen Hausgarten anzulegen und für den eigenen Bedarfanzupflanzen. Das war gerade in den neuen Bundeslän-dern der Fall . Die Versorgungssituation hat es ja bedingtnotwendig gemacht, sein eigenes Obst und Gemüse imSchrebergarten mit einer kleinen Datsche anzubauen .Auch und gerade im ländlichen Raum und auf unserenBauernhöfen gehört der Gartenbau wie selbstverständ-lich dazu . Der eigene Garten ist das wahre „Bio“ . Geradedie junge Generation entdeckt den eigenen Garten wiedervollkommen neu für sich . Wahre Kleinbauern sind sie .Als Landwirt begrüße ich die Ziele des vorliegendenAntrags ausdrücklich . Mit den aufgeführten Maßnahmenunterstützen wir die Inklusion von Urbanität und Land-wirtschaft . In der Landwirtschaft und im heimischenoder urbanen Garten geht es um die gleichen Dinge . Derrichtige Umgang mit Pflanzen ist Voraussetzung, damitaus der Saat ein genießbares Produkt wird . Die Vorar-beit ist wichtig, ebenso die Pflege, der Schutz, auch derPflanzenschutz.Wir haben hier Potenzial für mehr Wertschätzung derProduktion von Lebensmitteln, wir haben Potenzial fürAkzeptanz der Preise, und wir haben Potenzial für gerin-gere Verschwendung . Der Gartenbau, der in der Bevölke-rung selbst stattfindet, erzeugt ein größeres Verständnisfür Lebensmittel bei uns . Gerade Kinder können nichtfrüh genug entsprechende Erfahrungen machen, etwa inder Schule einen Apfel zu verzehren, der aus dem eige-nen Garten kommt und selbst gepflückt worden ist. Sokann man die heimische Produktion wesentlich besserwertschätzen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freuemich über das starke Verlangen der Verbraucher nach re-gionalen Produkten . Auch hier handelt es sich nicht umeine moderne Entwicklung, sondern um Altbewährtes,das wieder auflebt. Gesundheitsbewusste Stadtbewoh-ner, vorwiegend junge Familien, wollen wieder ökolo-gisch angebautes Obst und Gemüse vom Bauernhof inihrer Region . Mit diesem Antrag wollen wir die regionaleProduktion von Lebensmitteln unterstützen .Gerade kleine und mittelständische Agrarbetriebe, diesich auf ökologische Landwirtschaft spezialisieren, sindauf die Forschungsergebnisse angewiesen, die der Bundmit seinen Programmen zu Saatgut und zur Schädlings-bekämpfung unterstützt . Mit diesem Antrag wollen wirhier für eine Verstetigung sorgen . Wer im 21 . Jahrhundertnicht Möhren und Zwiebeln im Wechsel anpflanzt, umeinen natürlichen Schädlingsbefall zu verringern, ist aufdie Forschungsergebnisse im Bereich Saatgut und Schäd-lingsbekämpfung angewiesen .Meine sehr verehrten Damen und Herren ich kommeauf Landschaftsbau und Städtebau bzw . Grün in der Stadtzu sprechen . Berlin ist – das muss man gnadenlos aner-kennen – das Paradebeispiel für Grün in der Stadt . Ichspreche jetzt nicht von der Partei .
Den einen oder anderen von uns trifft man ja morgensimmer im Tiergarten beim Joggen . Da können Sie dashautnah erleben . Wenn ich in meine Heimat schaue, kannich feststellen, dass auch dort in den Städten immer mehrauf Grün in der Stadt geachtet wird . Wir sorgen diesbe-züglich mit den Städtebaufördermitteln für gute Ansätze .Heute kommt aber dem Thema „Grün in der Stadt“noch eine ganz andere Bedeutung zu . Grün in der Stadtist Staubfilter, ist Lärmdämpfer, ist Sichtschutz und vorallem Klimaschutz . Ich freue mich, dass sich im Deut-schen Bundestag eine Parlamentsgruppe „Kulturgut Al-leen“ gegründet hat, die sich den Schutz unserer Allee-bäume an den Straßen auf die Fahne geschrieben hat .Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir spre-chen in diesem Haus oft über ökologische Ausgleichsflä-chen . Wie wir wissen, regeln wir mit der Kompensations-verordnung diese ökologischen Ausgleichsmaßnahmen .Gerade wenn neue Straßen, wenn neue Gebäude gebautwerden müssen, ist der ökologische Ausgleich von Be-deutung. Wir müssen aber leider immer häufiger feststel-len, dass gerade die Städte in Ballungsräumen in länd-lichen Räumen landwirtschaftliche Nutzflächen kaufenund damit diese landwirtschaftlichen Nutzflächen denLandwirten und damit der Lebensmittelproduktion ent-ziehen . Es besteht Bedarf, darüber zu diskutieren . Hiermüssen wir nachsteuern .Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir in-nerhalb der Städte einen ökologischen Ausgleich schaf-fen und nicht außerhalb, irgendwo in der Ferne . DeshalbFriedrich Ostendorff
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 197 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 21 . Oktober 2016 19691
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ist bei Baumaßnahmen auf das Thema „Grün in derStadt“ durch innovative Ideen der Architekten und eineverstärkte Pflege während der Baumaßnahmen zu ach-ten . Zugleich muss dafür gesorgt werden, dass die Sachemit extern ausgelagerten Ausgleichsflächen, mit ökolo-gischen Ausgleichsflächen im ländlichen Raum ein Endehat . Die biologische Vielfalt muss innerhalb der Stadt ge-währleistet sein; ein Ausgleich irgendwo auf dem flachenLand hilft da nicht weiter .Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gar-tenbau hat einen großen Energiebedarf; Kollegen sindschon darauf eingegangen . Es freut mich allerdings, dasssehr viele Gartenbaubetriebe auf regenerative Energie-versorgung umgestellt haben . Ich kenne viele Garten-baubetriebe, die eine eigene Hackschnitzelheizanlageoder Bioenergieanlagen betreiben oder an Biogasanlagenangeschlossen sind, um die Wärme zu nutzen . Das so-genannte regenerative Zusammenspiel funktioniert imGartenbaubereich bereits hervorragend . Das sollten wirweiter unterstützen, damit wir hier vorankommen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gar-ten- und Landschaftsbau ist für mich neben der deut-schen Landwirtschaft – er ist ja eigentlich ein Teil derdeutschen Landwirtschaft – Garant für das freundlicheGesicht Deutschlands . Lassen Sie uns gemeinsam daranarbeiten, dass dieses Gesicht weiterhin freundlich bleibt .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Ich schließe die Aussprache .
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/10018 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung
so beschlossen .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 9 . November 2016, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen alles Gute bis dahin .
Die Sitzung ist geschlossen .