Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich. Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ichdem Kollegen Tom Koenigs nachträglich zu seinem71. Geburtstag gratulieren und im Namen des Hauses al-les Gute wünschen.
Wir müssen noch eine Wahl durchführen. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, für den verstorbenen Kolle-gen Dr. Andreas Schockenhoff den Kollegen Dr. FranzJosef Jung als persönliches stellvertretendes Mitgliedals Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parla-mentarischen Versammlung des Europarates zu beru-fen. Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. –Das sieht ganz so aus. Dann ist der Kollege Franz JosefJung hiermit als persönliches stellvertretendes Mitgliedgewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-nung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführtenPunkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Haltung der Bundesregierung zum EZB-An-leihekaufprogramm
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfah-ren
Beratung des Antrags der Abgeordneten RalphLenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBundesprogramm Modellvorhaben RegionaleAuslastung von Müllverbrennungsanlagenunter Integration von Klärschlamm auflegenDrucksache 18/3048Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Ausspra-che
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Recht und Verbraucherschutz
Übersicht 4über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gerichtDrucksache 18/3864ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Tom Koenigs, AgnieszkaBrugger, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENJa zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter –Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen,Raif Badawi freilassenDrucksache 18/3835ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKERaif Badawi sofort freilassen – Völkerrechts-widrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffenDrucksache 18/3832ZP 6 Erste Beratung des von den AbgeordnetenKordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, ElisabethScharfenberg, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlas-sung der Pille danach aus der Verschreibungs-pflicht und zur Ermöglichung der kostenlosen
Metadaten/Kopzeile:
7752 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
(C)
(B)
Drucksache 18/3834Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Agnieszka Brugger, Dr. Tobias Lindner, DorisWagner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Gerechtigkeit bei der Entschädigungvon EinsatzunfällenDrucksachen 18/2874, 18/3126Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 7 – da geht es um die Stär-kung der Provenienzforschung – und 19 b – da geht esum die Änderung des Personalausweisgesetzes – werdenvon der Tagesordnung abgesetzt.Anstelle des Tagesordnungspunktes 7 sollen der An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Druck-sache 18/3835 mit dem Titel „Ja zur Meinungsfreiheit,nein zur Folter – Menschenrechte in Saudi-Arabienschützen, Raif Badawi freilassen“ und der Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 18/3832 mit dem Ti-tel „Raif Badawi sofort freilassen – VölkerrechtswidrigeStrafen in Saudi-Arabien abschaffen“ aufgerufen wer-den. Die Debattenzeit dazu soll 38 Minuten betragen.Ich mache schließlich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkte-liste aufmerksam.Der am 15. Januar 2015 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demAusschuss für Gesundheit und demAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung zur Mitberatungüberwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzeszur Änderung des Vierten Buches Sozialge-setzbuch und anderer Gesetze
Drucksache 18/3699Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungIch frage Sie, ob Sie mit den vorgeschlagenen Verän-derungen und Ergänzungen einverstanden sind. – Das istder Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und EnergieInvestieren in Deutschlands und Europas Zu-kunftb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahreswirtschaftsbericht 2015 der Bundesre-gierungDrucksache 18/3840Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
SportausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschussc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresgutachten 2014/2015 des Sachverstän-digenrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen EntwicklungDrucksache 18/3265Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
SportausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschussZu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu höre ichkeinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Wirtschaft und Energie, SigmarGabriel.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7753
(C)
(B)
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die deutsche Wirtschaft istin guter Verfassung. Trotz eines schwierigen internatio-nalen Umfelds rechnen wir nach zwei schwächeren Jah-ren – 0,4 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2012und 0,1 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr 2013 –nun zum zweiten Mal in Folge mit einem Wachstum von1,5 Prozent. Besonders wichtig ist, dass diese wirtschaft-liche Entwicklung bei den Menschen in Deutschland an-kommt. Nach 370 000 zusätzlich Beschäftigten im letz-ten Jahr erwarten wir im Jahr 2015 nochmals einenBeschäftigungsaufbau um 170 000. Wir erreichen damiteinen erneuten Rekord mit 42,8 Millionen Beschäftig-ten.Die Zahl der Arbeitslosen lag im Dezember des letz-ten Jahres auf dem niedrigsten Stand seit der Wiederver-einigung, und sie wird auch in diesem Jahr weiter leichtabnehmen. Die längerfristigen Gründe für diese gutewirtschaftliche Entwicklung sind erstens hochflexibleund innovative Unternehmen, vor allem im deutschenMittelstand, zweitens hochqualifizierte Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer, drittens der Erhalt von Industrieund verarbeitendem Gewerbe als wirtschaftliche Basisunseres Landes. Während andere Länder in Europa überReindustrialisierung diskutieren müssen, ist das Gott seiDank in Deutschland nicht nötig, meine Damen undHerren.
Zu den Erfolgsfaktoren gehören sicher auch – vier-tens – die Verbindung von Arbeitsmarkt- und Sozialre-formen mit Investitionen in Bildung, Forschung undEntwicklung im Zuge der Reformpolitik der Agenda2010 und fünftens natürlich auch eine außerordentlichsolide Finanz- und Haushaltspolitik, die uns ja schon imletzten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt beschert hat.
Aktuell wird das wirtschaftliche Wachstum getragenvon einer starken Binnenkonjunktur und Binnennach-frage. Die verfügbaren Einkommen der privaten Haus-halte nehmen endlich wieder spürbar zu; sie werden um2,7 Prozent steigen. Dazu leisten die guten Tarifab-schlüsse, aber auch der Mindestlohn und die Rentenre-form des letzten Jahres ihre Beiträge. Das zeigt: DieTeilhabe möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger amWirtschaftswachstum durch eine gute Einkommens- undBeschäftigungsentwicklung ist die zentrale Bedingungfür Wohlstand, aber auch für den kulturellen und politi-schen Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Daran werden wir weiter arbeiten müssen. Wir brau-chen beides, wirtschaftliches Wachstum, Innovationsbe-reitschaft, Veränderungsbereitschaft, aber eben auch,dass möglichst alle daran teilhaben. Das muss fühlbarwerden; denn noch immer müssen viel zu viele Men-schen in Deutschland mit zu geringen Einkommen klar-kommen. Vor allem Familien und Alleinerziehende mitKindern sind davon betroffen, aber zunehmend auchRentnerinnen und Rentner.So richtig und notwendig viele der Sozialreformender Agenda 2010 waren und sosehr sie heute Grundlagefür die gute wirtschaftliche Entwicklung sind: Die Ent-wicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland ist ein-deutig zu weit gegangen.
Meine Damen und Herren, wenn Menschen in qualifi-zierten Berufen mit 1 200 Euro brutto auskommen sol-len, wenn Rentnerinnen und Rentner nach 40 Arbeitsjah-ren gerade mal das Rentenniveau der Sozialhilfeerreichen und wenn dann noch in Großstädten die Miet-preise so explodieren, dass mit Normaleinkommen kaumnoch eine Wohnung zu bezahlen ist, dann spaltet das dieGesellschaft und bringt manchmal auch Menschen ge-geneinander in Stellung.
Deshalb ist es richtig, Tarifverträge zu stärken. Des-halb ist es richtig, Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern nach 45 Arbeitsjahren einen fairen Zugang zurRente ohne Rentenkürzung zu ermöglichen.
– Wenn Sie ihnen die Rente nicht kürzen, dann hebt dasdas Rentenniveau. Das ist eine einfache Rechnung.
Deshalb ist es richtig, sich um Mietpreisbremsen undden Bau bezahlbarer und übrigens auch alters- und pfle-gegerechter Wohnungen zu kümmern. Und natürlich istes deshalb auch richtig gewesen, den Mindestlohn einzu-führen.
Ich glaube, in diesem Haus gibt es niemanden, der et-was gegen die Einführung des Mindestlohns hat.
– Ich glaube nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen,die dem zugestimmt haben, das sozusagen aufgrund öf-fentlicher Erpressung getan haben, sondern sie werdendavon überzeugt gewesen sein.
Beim einen dauert es länger, beim anderen geht esschneller.
Wir haben jetzt doch keine Debatte über den Mindest-lohn.
Wir haben eine Diskussion über die Frage, ob der mit derKontrolle des Mindestlohns verbundene Aufwand ei-gentlich zwingend erforderlich ist, damit der Mindest-
Metadaten/Kopzeile:
7754 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
lohn auch durchgesetzt wird – es nützt ja nichts, ihn insGesetz zu schreiben und dann seine Einhaltung nicht zukontrollieren –, oder ob an einigen Stellen der Kontroll-aufwand zu weit geht. Ich finde, das kann man doch ent-spannt miteinander bereden; das muss doch möglichsein.
Niemand wird etwas am Mindestlohn ändern, nie-mand wird die Kontrolldichte so reduzieren, dass er inWahrheit nicht stattfindet.
Wir sollten aber jetzt einmal ein paar Wochen und Mo-nate Erfahrungen sammeln, und dann werten wir aus, obes notwendig ist, an dem Bürokratieaufwand etwas zuändern, oder ob es nicht notwendig ist.
Das, finde ich, ist ein entspannter Umgang mit demThema.
Meine Damen und Herren, das alles ist nicht nur So-zialpolitik, sondern das ist auch Wirtschaftspolitik. Nurin einem Land, in dem sich Arbeit lohnt und Menschenan den Möglichkeiten der Gesellschaft teilhaben können,gibt es auf Dauer Leistungsbereitschaft, Anstrengungund auch Risikobereitschaft.
Das ist der Grund, warum Ludwig Erhard sein Modellder sozialen Marktwirtschaft mit dem Aufruf „Wohl-stand für alle“ verbunden hat. Das ist auch heute derrichtige Aufruf in unserer Gesellschaft und in unsererWirtschaft.
Neben der guten Binnenkonjunktur wird unser Wirt-schaftswachstum allerdings auch ganz wesentlich vonzwei externen Faktoren getragen: von niedrigen Ölprei-sen und einem schwachen Wechselkurs des Euro, der vorallem der mittelständischen Exportwirtschaft zugute-kommt. Das wiederum zeigt aber auch die Verwundbar-keit unseres Wirtschaftswachstums.Gerade im letzten Jahr haben wir erlebt, dass guteWachstumsprognosen schnell das Papier nicht mehr wertsind, wenn sich die internationale Lage auf einmal ver-schlechtert. Natürlich bleibt diese unsichere Lage zumBeispiel aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts oderder Situation im Nordirak ein Unsicherheitsfaktor für diewirtschaftliche Entwicklung in unserem Land. Hinzukommt die schwächere Entwicklung in für den Exportunseres Landes wichtigen Ländern und Regionen wieChina und Lateinamerika. Alle relativ guten Prognosendürfen uns also nicht davon abhalten, die Aufgabenschnellstens anzugehen, die wir nicht nur im eigenenLand, sondern auch in Europa dringend angehen müs-sen, um unsere eigene Stärke zu verbessern. Denn nurwenige führende Wirtschaftsnationen der Welt stehenvor so grundlegenden Herausforderungen wie Deutsch-land. Ich möchte beispielhaft nur die wichtigsten He-rausforderungen nennen:Die demografische Entwicklung – das Arbeitskräfte-potenzial unseres Landes nimmt in den kommendenzehn Jahren um bis zu 6,7 Millionen Menschen ab. KeinIndustrieland der Erde hat bisher ein solches Experimentvor sich gehabt. Es ist wahrscheinlich die größte Heraus-forderung der kommenden Jahre, mit der wir umgehenmüssen.Die europäische Integration: Was in den letzten Jah-ren die deutsche Stärke in Form von Wohlstand und Sta-bilität ausgemacht hat, nämlich wachsender Wohlstandund wachsende Stabilität in Europa, ist immer noch fra-gil. Hinzu kommt die enorme Herausforderung durch dieIntervention Russlands in der Ukraine.Natürlich hat niemand in Europa und ganz sichernicht in Deutschland ein Interesse an weiteren und schär-feren Sanktionen, und natürlich brauchen Europa unddie ganze Welt einen Partner wie Russland für die Lö-sung globaler Konflikte und für die Bewältigung globa-ler Herausforderungen. Aber der Weg zu einem neuenAufbruch in den europäisch-russischen Beziehungen,also zum Beispiel der Weg zu freiem Handel zwischenLissabon und Wladiwostok, führt eben über Minsk unddie Umsetzung der dort vereinbarten Schritte zur Been-digung der bewaffneten Intervention in der Ukraine.
Deutschland gehört zu den Ländern, die am ener-gischsten für eine Verhandlungslösung eintreten – durchden Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin. Esgibt aber keine Alternative zur Rückkehr zu all dem, wasvor rund 40 Jahren in der KSZE-Schlussakte von Hel-sinki vereinbart wurde und was vermutlich in ganz Eu-ropa die größte Leistung in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts war, nämlich die Erklärungen zur Un-verletzlichkeit der Grenzen in Europa und zum Gewalt-verzicht.
Aber auch im Inland stehen wir vor großen Heraus-forderungen. Die Investitionskraft unseres Landes musssteigen; sowohl bei Investitionen in die öffentliche Infra-struktur als auch bei privaten Investitionen in Unter-nehmen. Deshalb ist es richtig, nachdem die Koalitionzusätzliche Verkehrsinvestitionen in Höhe von 5 Milliar-den Euro vereinbart hat, jetzt noch einmal – diese Mög-lichkeit hat der Finanzminister aufgrund der solidenFinanzpolitik – 10 Milliarden Euro zusätzlich zu inves-tieren. Dazu kommt eine Entlastung der Kommunen indieser Legislaturperiode um rund 10 Milliarden Euro.Das ist deshalb so wichtig, weil mehr als die Hälfte deröffentlichen Investitionen von den Gemeinden getätigtwerden. Außerdem wollen wir jetzt im Frühjahr die Er-gebnisse der Expertenkommission vorlegen, wie wir pri-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7755
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
vate Investitionen steigern können, in den privaten Sek-tor selbst und auch in die öffentliche Infrastruktur.Natürlich ist es auch weiterhin nötig, sich um denAufbau Ost zu kümmern. Ja, da hat sich vieles verbes-sert. Aber gerade der Mindestlohn ist für Ostdeutschlandwichtig. Das in der Koalition vereinbarte Projekt zu ei-ner Solidarrente übrigens auch; es ist vor allen Dingenfür Ostdeutschland und für Frauen von Bedeutung. Wirhaben deshalb auch das ZukunftsinnovationsprogrammMittelstand im Wirtschaftsministerium ausgebaut, durchdie wesentliche Förderung in Ostdeutschland geschieht.Das Gleiche gilt auch für die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“.
Eines muss auch klar sein: Was immer bei den Ver-handlungen über die Fortführung des Solidarpaktes ab2019 herauskommt – wir werden nicht an einer besonde-ren Förderung von Ostdeutschland vorbeikommen,meine Damen und Herren. Der Aufbau dort muss weiter-gehen, aber eben auch in vielen anderen Regionen stär-ker werden, die heute benachteiligt sind.
Zu unseren Aufgaben gehört auch, junge Unterneh-men in ihrer Wachstumsphase besser zu fördern. Ich binder Deutschen Börse dankbar für ihre Initiativen. Wirbegleiten das durch den Ausbau der Förderinstrumente.Aber, meine Damen und Herren, wir müssen auch denregulatorischen Rahmen anpassen. Es kann doch nichtsein, dass wir den Einstieg in junge deutsche Unterneh-men für Kapitalgeber auf Dauer durch hohe Hürden imEinkommensteuerrecht erschweren und damit internatio-nal überhaupt nicht wettbewerbsfähig sind.
Dazu zählt auch der Abbau von Bürokratie. Wir werdenin diesem Frühjahr ein Gesetzespaket zum Bürokratieab-bau vorlegen.Eine der großen Herausforderungen wird die Digitali-sierung unserer Wirtschaft sein. Den digitalen Sektorgibt es schon lange nicht mehr. Die Digitalisierung hatlängst alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft er-reicht. Sie verändert Qualifikations- und Wertschöp-fungsstrukturen, schafft neue Chancen, aber eben auchneue Herausforderungen und Risiken. Deutschland un-terstützt die Schaffung eines gemeinsamen digitalenBinnenmarktes in Europa und baut selbst seine digitaleInfrastruktur aus. Wir öffnen Deutschland auch weiterdigital. Wir sorgen für freies WLAN, freie Routerwahl,wirksame Verankerung der Netzneutralität, investitions-freundliche Netzregulierung und für einen Ordnungsrah-men für die digitale Ökonomie.Die Neuordnung unserer Energiepolitik gehört auchzu den innerdeutschen Herausforderungen. Wir müssendie Umstellung eines der weltweit führenden Industrie-standorte auf eine neue, klimaschonende, nachhaltige,aber eben auch bezahlbare Energiebasis weiter voran-bringen. Für den Industriestandort Deutschland ist eselementar, dass sich die Energiekosten im Vergleich zuunseren Wettbewerbern nicht immer weiter verteuern,meine Damen und Herren.
Nach der Einführung einer Zielsteuerung beim Zubauder Erneuerbaren müssen wir deswegen jetzt die Archi-tektur des Marktes und der Netze an die Energiewendeanpassen. Mit unserem Grünbuch haben wir die Diskus-sion über die Zukunft des Strommarktes eröffnet. Dazukommen die Entscheidungen über die Zukunft vonKWK und Stadtwerken. All das werden wir in diesemJahr nicht nur voranbringen, sondern auch abschließenmüssen.
Meine Damen und Herren, jede der genannten Verän-derungen bringt Herausforderungen an das heutige Mo-dell Deutschland mit sich. Wer ehrlich ist, der weiß, dasssich unser Land ändern muss, um seine Werte zu sichernund weiterhin erfolgreich zu sein. Um selbstbewusst indie Zukunft zu blicken, muss sich Deutschland öffnenund Barrieren abbauen.Wir müssen Deutschland weiter öffnen: einmal nachinnen, um mehr Menschen die Erarbeitung von Wohl-stand, aber auch die Teilhabe an diesem Wohlstand zuermöglichen. Das wichtigste Instrument dabei ist Bil-dung. Viel zu viele junge Menschen in Deutschlandwachsen in zweiter und dritter Generation in Stadtteilenauf, in denen sie keine Erfahrung von Aufstieg durchBildung machen; und das gilt für Deutsche wie für Zu-wandererkinder, meine Damen und Herren.
Deshalb ist es richtig gewesen, dass die Koalition ent-schieden hat, den Ländern 6 Milliarden Euro mehr fürBildungsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Die sindgenau in diesen Stadtteilen am besten aufgehoben.Zur Öffnung nach innen gehört aber auch mehrGleichberechtigung. Es ist nicht nur ungerecht, immernoch viel zu vielen Frauen den Zugang zum Arbeits-markt und zur beruflichen Karriere zu verbauen, wennsie Kinder haben, sondern es ist auch wirklich ökonomi-scher Unfug.
Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen für mehrGleichberechtigung und Gleichstellung erhöhen. DieVereinbarkeit von Beruf und Familie, die Akzeptanzneuer Erwerbsbiografien, die Integration von Zuwande-rern, die Toleranz gegenüber neuen Familienmodellen,religiöser Zugehörigkeit und gleichgeschlechtlichenEhen sowie die Teilhabe von Menschen mit Behinderun-gen in unserer Gesellschaft – all das gehört zur Öffnungnach innen.
Metadaten/Kopzeile:
7756 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
Wir brauchen auch die Bereitschaft, uns mehr nachaußen zu öffnen, eine Bereitschaft zu mehr und nicht zuweniger Internationalität. Dazu gehört auch Freihandel,meine Damen und Herren, der natürlich in Deutschlandund in Europa weder Standards absenken darf, noch anirgendeiner Stelle das Recht privatisieren darf oder diedemokratischen Rechte von Parlamenten und Regierun-gen einschränken darf.
Der Verweis auf schlechte Freihandelsabkommen derVergangenheit darf uns doch nicht daran hindern, bes-sere für die Zukunft zu machen.
Wenn wir uns als Europäer von den Entwicklungenabkoppeln, die heute das asiatische oder das pazifischeJahrhundert genannt werden, wenn sich die wirtschaftli-che Entwicklung dahin verschiebt, wir uns aber keinePartner suchen, mit denen wir gemeinsam ein Gegenge-wicht dazu bilden, dann werden wir uns den internatio-nalen Standards, über die andere entscheiden, anpassenmüssen,
statt sie selber jetzt mutig zu gestalten. Darum geht esbei der Debatte.
Noch einmal: Nicht jedes Freihandelsabkommen istgut. Es gibt Dinge, die wir nicht machen dürfen undauch nicht machen werden; diese habe ich eben schongenannt. Aber eine Verweigerungshaltung zwingt unsspäter zur Anpassung.
Wir sollten die vermutlich letzte Chance nutzen, dassEuropa diese Standards im Sinne Europas definiert, stattsich später anderen Standards anpassen zu müssen.
Zur Öffnung gehört auch, dass sich Deutschland dazubekennen muss, ein Einwanderungsland zu sein, umseine wirtschaftliche Stärke beizubehalten.
Dazu gehören klare Regeln, die festlegen, wen wir auf-nehmen, weil er Hilfe und Schutz vor Verfolgung undKrieg braucht, um wen wir weltweit werben, weil er bis-lang nicht bereit ist, zu uns zu kommen, wir ihn oder sieaber brauchen. Übrigens auch Regeln diesbezüglich,wen wir nicht in Deutschland aufnehmen können oderwollen. Manches davon ist bereits geregelt, anderesnicht. Deshalb ist die Debatte über ein modernes Ein-wanderungsgesetz meines Erachtens außerordentlichsinnvoll. Wir sollten sie mutig und offen führen, meineDamen und Herren.
Aber Gesetze alleine helfen nicht. Wir müssen in derPraxis ein Einwanderungsland werden. Zur Bildunghabe ich schon etwas gesagt. Es muss zum Beispiel aberauch darum gehen, dass wir nicht jedes Jahr erneut umdie Finanzierung kämpfen müssen, damit ausreichendSprachförderkurse vorgehalten werden können.
Ich bin es, ehrlich gesagt, leid, dass wir diese Debatteimmer wieder führen müssen, und bin außerordentlichfroh, dass wir die Haushaltsmittel für Integrationskurse2014 um 40 Millionen Euro auf inzwischen immerhin244 Millionen Euro aufstocken konnten. Wir müssenund wollen das fortschreiben.Meine Damen und Herren, für nachhaltiges Wachs-tum in Deutschland ist ein starkes Europa die entschei-dende Voraussetzung. Dazu müssen wir dringend dienotwendigen Strukturreformen durch eine ambitionierteWachstumspolitik in Europa ergänzen.Ich begrüße es sehr, dass der Europäische Rat im letz-ten Dezember die mit bis zu 315 Milliarden Euro ausge-stattete europäische Investitionsoffensive von Kommis-sionspräsident Juncker beschlossen hat. Ich finde es– das sage ich ausdrücklich – richtig, dass die Kommis-sion die Möglichkeiten der Flexibilität im Stabilitäts-und Wachstumspakt nutzt und sich dieser Debatte nichtverweigert hat.
Wir wollen, dass diese Investitionsoffensive ein Er-folg wird. Deshalb werden wir unseren Beitrag zum Ge-lingen dieser Offensive leisten, indem wir uns über dieKfW mit bis zu 8 Milliarden Euro – möglicherweise so-gar darüber hinaus – an der Projektfinanzierung beteili-gen. Ich bin meinem Kollegen Wolfgang Schäuble au-ßerordentlich dankbar, dass er das mitträgt und imEcofin-Rat in dieser Woche vertreten hat. Wir habendank unserer soliden Finanzpolitik die Möglichkeit, unsdaran zu beteiligen. Das sollten wir nicht kleinreden.Deshalb sage ich herzlichen Dank an den KollegenSchäuble für diese Initiative.
Wir haben vereinbart, dass Deutschland und Frank-reich die europäische Investitionsoffensive nach Kräftenunterstützen und durch eigene Initiativen und Reformenvoranbringen wollen. Ziel darf kein konjunkturellesStrohfeuer sein, sondern Ziel müssen Investitionen inNachhaltigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Konti-nents sein, also in digitale Infrastruktur, in Energieeffi-zienz, in den Energiebinnenmarkt, in Forschung undEntwicklung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen in Grie-chenland am letzten Sonntag rufen uns allerdings auch inErinnerung, wie sehr Europa von der Kooperationsbe-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7757
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
reitschaft seiner Mitgliedstaaten abhängt, und auch, dasswir bei Fragen der wirtschaftlichen Erholung und derwirtschaftlichen Stabilität und den dafür notwendigenReformschritten nicht vergessen dürfen, dass es nichtnur um ökonomische Lehrmeinungen geht, sondern im-mer auch um Menschen. Ohne Hoffnung und nur mit äu-ßerem Druck gelingen keine Reformen.Griechenland hat einen beachtlichen Fortschritt beider Sanierung seines Haushalts und auch beim Wirt-schaftswachstum gemacht. Ich finde, man darf jetzt aucheinmal sagen, dass die Menschen dort ungeheuer viel er-tragen und erduldet haben; auch das zu sagen gehörtdazu.
Ich erinnere mich noch ganz gut, welche Debatte wir beider Agenda 2010 in unserem Land hatten. Wer ehrlichist, der muss doch sagen: Gegenüber dem, was Grie-chenland zu schultern hatte und hat, ist die Agenda 2010in unserem Land ein laues Sommerlüftchen gewesen.Gerade wir sollten die Bereitschaft zu Reformen in die-sem Land und das, was Menschen dort dafür zu ertragenhatten, hochschätzen und das öffentlich zum Ausdruckbringen.
Ich hoffe sehr, dass es der neuen Regierung in Grie-chenland gelingt, das System von Korruption, persönli-cher Bereicherung und Vorteilsnahme, das sich ungeach-tet der Reformprogramme in Griechenland hartnäckighält, endlich zu zerstören. Das ist dringend notwendig.
Dieses Land ist viel zu lange die Beute von einigen Fa-milien gewesen, die sich jeder Verantwortung für diesesLand entzogen haben.
Deswegen sind nicht die Troika und Europa an den Pro-blemen in Griechenland schuld. Das ist eine falsche In-terpretation.
Jedenfalls hoffe ich, dass es gelingt, eine gerechtereVerteilung der Lasten zu erzielen. Es ist immer nochtraurige Realität, dass die Vermögensverteilung in Grie-chenland eine der ungerechtesten in Europa ist.
Ich finde, wir Deutschen haben auch diesbezüglich eineErfahrung anzubieten: Der Lastenausgleich dieses Lan-des nach 1945 war eine Maßnahme, in deren Folge die-jenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch Vermö-gen hatten, von ihrem Vermögen etwas abgegebenhaben, um denen, die alles verloren hatten und alsFlüchtlinge in dieses Land kamen, zu helfen, sich in die-sem Land zu integrieren. Das ist ein Beispiel, dem auchin Griechenland diejenigen folgen sollten, die über großeVermögen verfügen.
– Ich würde an Ihrer Stelle nicht so ganz laut dazwi-schenrufen, wenn es um die griechische Regierung geht;denn, ehrlich gesagt, übertragen auf deutsche Verhält-nisse – ich unterstelle Ihnen das nicht; damit das klar ist –,ist die Koalition dort eine Koalition von Linken undAfD. Das ist eine bemerkenswerte Entscheidung.
Ich würde an Ihrer Stelle nicht darüber lachen; denn dasbeinhaltet eine klare Botschaft, nämlich die der Rück-kehr zum Nationalismus und, gegen Europa zu sein.Sonst kann man nicht mit einer solchen Partei koalieren.
Ich sage deshalb auch klar: Wir wollen Griechenlandin der Euro-Zone halten, nicht, weil es alternativlos ist,sondern, weil es das Richtige ist, um Europas wirtschaft-liche und politische Zukunft zu sichern. Gleichzeitigaber erwarten wir, dass die neue griechische Regierungihren Verpflichtungen nachkommt.
Natürlich muss jeder Demokrat die demokratischeEntscheidung von Wählerinnen und Wählern genausoakzeptieren wie das Recht einer neu gewählten Regie-rung, ihren Kurs neu zu bestimmen. Allerdings gilt eben-falls, dass natürlich auch alle anderen Bürgerinnen undBürger Europas erwarten können, dass Veränderungen inder griechischen Politik nicht zu ihren Lasten vorgenom-men werden. Darum geht es.
Was immer die griechische Regierung an den zwi-schen den europäischen Mitgliedstaaten, der Europäi-schen Kommission und Griechenland vereinbarten Maß-nahmen, Programmen und Reformen ändern will, siemuss die Konsequenzen dieser Änderungen im eigenenLand bewältigen und darf sie nicht auf die Bürgerinnenund Bürger anderer Länder abwälzen. Darum geht es inder Debatte.
Denn Europa lebt von Berechenbarkeit und Koopera-tionsbereitschaft, allerdings auch von gegenseitiger Fair-ness.Der Jahreswirtschaftsbericht 2015 zeigt: Wir stellenuns den vor uns liegenden Herausforderungen. Richt-
Metadaten/Kopzeile:
7758 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Bundesminister Sigmar Gabriel
(C)
(B)
schnur des Handelns dieser Bundesregierung ist die Öff-nung der Gesellschaft auf Grundlage der Idee der sozia-len Marktwirtschaft und der Zusammenarbeit aller inunserem Land. Ich bin fest davon überzeugt, dassDeutschland von mehr Offenheit profitieren wird. Sieschafft Freiheit, und zwar nicht nur die Freiheit, sich umseine wirtschaftlichen Belange zu kümmern, sondern vorallen Dingen Freiheit zur Gestaltung des eigenen Le-bens. Das ist die Voraussetzung für Kreativität und Leis-tungsbereitschaft. Das gehört zu einer modernen sozia-len Marktwirtschaft.Im Übergang zur vierten industriellen Revolutionspielen Grenzen des Denkens und Grenzen hinsichtlichder Zugehörigkeit der Länder kaum noch eine Rolle.Aber Kreativität und Mut spielen genauso viel eine Rollewie in der Vergangenheit. Wir müssen und werden dasfördern. Wenn wir an einem Strang ziehen, dann – da binich mir sicher – werden wir es schaffen, in Deutschlandsund Europas Zukunft zu investieren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister, nachdem Sie sich jetzt doch zueiner Aussage verstiegen haben, was die Verhältnisse inGriechenland angeht, mache ich zwei, drei kurze Bemer-kungen dazu.Der erste Punkt ist: Was wäre die Alternative gewe-sen? Die Alternative in Griechenland wären Neuwahlengewesen. Dann hätten wir im Ergebnis noch instabilereVerhältnisse, die sich mit Sicherheit auf Europa nicht po-sitiv ausgewirkt hätten.
Der zweite Punkt, der mich sehr ärgert: Es waren IhrePartnerparteien – Pasok ist eine sozialdemokratischePartei; Nea Dimokratia ist die konservative Partei –, diediesen Saustall in Griechenland verursacht haben –
das haben Sie vorhin selber gesagt –: Korruption, dieReichen werden nicht besteuert. Vielleicht hätten Sievorher einmal nach Griechenland fahren und denen sa-gen sollen, dass sie anständige Politik machen müssen.Dann müssten Sie sich hinterher nicht darüber aufregen,dass unsere Partnerorganisation dort das einzig Mögli-che macht, nämlich diese Verhältnisse wieder vom Kopfauf die Füße zu stellen und dafür zu sorgen, dass tatsäch-lich die Reichen besteuert werden,
dass tatsächlich andere Verhältnisse in Griechenlandherrschen als die, die Sie kritisiert haben.
Aber das, meine Damen und Herren, ist nicht unserThema.Im Zusammenhang mit der Vorlage des Jahreswirt-schaftsberichtes haben Sie heute betont, die deutscheWirtschaft sei in guter Verfassung, und haben vielePunkte angesprochen, die auch uns freuen, zum Beispieldie Entwicklung von Beschäftigung und Wachstum. Ichbin Ihnen dankbar, Herr Gabriel, dass Sie aber auch da-rauf eingegangen sind, was nicht in Ordnung ist. Aufdiesen Punkt möchte ich schon hinweisen, meine sehrverehrten Damen und Herren. Wer, bitte, ist denn eigent-lich die Wirtschaft? Sind das nur die Zahlen, die wir hiervorgelegt bekommen, oder stecken auch Menschen da-hinter?
Wenn man sich anschaut, wie sich die Entwicklungder Wirtschaft darstellt, dann merkt man: Sie ist äußerstunterschiedlich. Von 2000 bis 2013 ist der Umfang derEinkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um24 Prozent gestiegen; das ist ein Viertel mehr. Im selbenZeitraum war bei den abhängig Beschäftigten ein realesMinus von 3,1 Prozent zu verzeichnen. Wir haben hieralso eine vollkommen unterschiedliche Entwicklung.Die Menschen nehmen nicht mehr gleichermaßen an derwirtschaftlichen Entwicklung teil, sondern ein großerTeil von ihnen ist abgehängt, nämlich diejenigen, die dasGanze erarbeiten:
durch Schichtarbeit, durch Samstagsarbeit, durch Sonn-tagsarbeit, oft auch indem sie ihre eigene Gesundheitaufs Spiel setzen. Wenn man diese Menschen von derwirtschaftlichen Entwicklung abkoppelt
und sagt: „Die Wirtschaft ist in guter Verfassung“, wirddies dem Zustand des Landes nicht gerecht, meine Da-men und Herren.
Im Übrigen haben wir die Situation – Sie haben jaauch etwas zum Thema Renten gesagt, Herr Gabriel –,dass die Renten von 2000 bis 2012 um real 19 Prozentgesunken sind, im Osten um 24 Prozent. Wir sehen also,dass Sie nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7759
Klaus Ernst
(C)
(B)
auch die Älteren, die unser Land aufgebaut haben, nichtan der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben lassen.Weil Sie auch etwas zur Agenda 2010 gesagt haben,Herr Gabriel: Wenn man Gesetze macht, durch die dieLöhne gedrückt werden, dann braucht man sich nicht zuwundern, wenn die Beschäftigten geringere Löhne ge-zahlt bekommen. Das ist die Wahrheit.
Wie kommen wir wieder voran? Sie haben den Min-destlohn angesprochen, Herr Gabriel. Ja, 8,50 Euro sindbesser als nichts. 10 Euro wären bei weitem besser undangemessener gewesen.
Ich sage Ihnen, was jetzt aber überhaupt nicht geht: voll-kommen zu verharmlosen, dass selbst diese 8,50 Eurovon Teilen Ihrer eigenen Regierung bzw. von einem Teilder Fraktionen, die die Regierung stellen, offensichtlichsabotiert werden. Ich sage Ihnen, meine Damen und Her-ren von der CDU/CSU: Sie sabotieren Ihre eigenen Ge-setze, die Gesetze, die Sie selber hier beschlossen haben.
Nichts anderes ist es, wenn Sie sagen: Wir wollen,dass in bestimmten Bereichen nicht mehr kontrolliertwird, wie lange die Leute eigentlich arbeiten.
Es geht doch um die Dokumentationspflicht.
Ich sage: Wenn Sie nicht dokumentieren, wie lange dieMenschen arbeiten, wissen Sie auch nicht, welchenLohn sie pro Stunde bekommen, weil Sie den Lohn danngar nicht auf die Arbeitszeit umrechnen können.
Deshalb sagen wir: Hören Sie mit diesem Unsinn auf!Halten Sie sich wenigstens an das, was Sie selber be-schlossen haben!
– Herr Grosse-Brömer, da können Sie abwinken, so vielSie wollen. Man merkt in diesem Land, was Sie hier trei-ben.Meine Damen und Herren, um die Verhältnisse wie-der vernünftig zu gestalten, wäre es notwendig, dafür zusorgen, dass es am besten gar keine Leiharbeit mehr gibt,dass aber zumindest gleicher Lohn für gleiche Arbeit ge-zahlt wird, und zwar ab der ersten Stunde. Wir müssenRegelungen zur Befristung treffen, und wir müssen vorallen Dingen beim Thema Werkverträge vorankommen.Hier haben Sie bisher nur heiße Luft von sich gegeben.Das große Problem in unserem Land sind die Investi-tionen; Sie haben den Titel Ihres Berichts – „Investierenin Deutschlands und Europas Zukunft“ – erwähnt. WennSie es nur tun würden, meine Damen und Herren! 5 Mil-liarden Euro soll es zwischen 2014 und 2017 für den Er-halt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur geben,10 Milliarden Euro im selben Zeitraum für Infrastrukturund Energieeffizienz. Angesichts dieser Zahlen reibtman sich wirklich die Augen. Ich möchte, damit dieHöhe des Investitionsbedarfs auch Ihnen bewusst wird,das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zitieren.Dort heißt es – ich zitiere –:Im Vergleich mit dem Durchschnitt der Eurozone… hat sich in Deutschland seit 1999 eine Investi-tionslücke von drei Prozent– ich betone: jährlich –des Bruttoinlandsprodukts gebildet. Kumuliert seit1999 entspricht dies etwa einer Billion Euro …Ich wiederhole: Das Investitionsdefizit beträgt laut Deut-schem Institut für Wirtschaftsforschung 1 Billion Euro.Aber Sie betreten die Bühne mit 5 und 10 MilliardenEuro. Für wie dumm halten Sie die Leute eigentlich?Glauben Sie wirklich, die Leute denken, dass man damittatsächlich etwas bewegen kann?
Meine Damen und Herren, notwendig wären tatsäch-lich Investitionen. Die muss man finanzieren. Aber stattnun die niedrigen Zinsen auszunützen, um für mehr In-vestitionen staatlicherseits zu sorgen, kommen Sie mitder schwarzen Null. Ich habe langsam den Eindruck, diegroßen schwarzen Nullen sitzen in dieser Regierung.
Leider geht das zulasten der Bevölkerung.
Sie hätten auch die Möglichkeit, bei denen, die wirk-lich zu viel haben, Steuern zu erhöhen; denn die Vermö-gensverteilung läuft auseinander. Auch das tun Sie nicht.Sie verweigern höhere Steuern. Obwohl Sie sich vor derWahl, Herr Gabriel, noch dafür ausgesprochen hatten,sah die Welt kurz nach der Wahl wieder vollkommen an-ders aus.Meine Damen und Herren, jetzt kommen Sie auf diefantastische Idee – ich zitiere aus Ihrem Jahreswirt-schaftsbericht –: Für die Finanzierung des Erhalts unddes Ausbaus der öffentlichen Infrastruktur sollen nun„private Finanzierungsmöglichkeiten“ einbezogen wer-den. – Was machen Sie denn da nun? Obwohl wir wis-sen, dass die Privaten sozusagen Geld wie Heu habenund dennoch nicht investieren, wollen Sie, dass jetzt diePrivaten die Infrastruktur des Staates erneuern, den Stra-ßenbau übernehmen. Was Sie hier machen, ist der di-rekte Griff in die Taschen der Steuerzahler. Ich sage Ih-nen auch, warum. Nehmen Sie einmal den Bericht des
Metadaten/Kopzeile:
7760 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Klaus Ernst
(C)
(B)
Bundesrechnungshofs, der dem Haushaltsausschuss desDeutschen Bundestages vorgelegt wurde. Dort lesen Sie– ich zitiere –:Vielmehr haben Berechnungen des Bundesrech-nungshofs zu fünf der sechs bereits vergebenenÖPP-Projekte ergeben, dass allein diese um insge-samt über 1,9 Mrd. Euro teurer sind, als es einekonventionelle Realisierung gewesen wäre.Er kommt zu dem Ergebnis – ich zitiere weiter –:Der Bundesrechnungshof ist der Auffassung, dassdie bisherigen ÖPP-Projekte unwirtschaftlich sind.Was bedeutet das? Die Projekte, die es schon jetzt indieser Art und Weise gibt, wo sozusagen private Investo-ren für öffentliche Investitionen gewonnen werden sol-len, kosten den Steuerzahler viel mehr Geld, als wennwir das über Kredite des Staates finanzieren oder dieReichen entsprechend besteuern. Was Sie machen, istein Renditeprogramm für die Reichen, für die Besserver-dienenden, für die großen Unternehmen. Was Sie ver-weigern, ist eine vernünftige öffentlich finanzierte Infra-struktur für die Leute in diesem Land.
Das ist eine unmögliche Politik.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich dankefür die Aufmerksamkeit.
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Esfällt natürlich ein bisschen schwer, nach einem solchenUnsinn überhaupt noch ernst zu bleiben; Herr Ernst, mirfällt das schwer.
Denn was ich da von Ihnen hören musste, das ist nunmal durch nichts zu belegen. Sie haben es immer nochnicht kapiert. Sie reden davon, dass der Staat das allesbesser könne. Das haben Sie ja mit der SED in der DDRbewiesen: Da ist er dann zusammengebrochen.
– Das tut Ihnen weh, das weiß ich; das soll Ihnen auchwehtun.Meine Damen und Herren, Deutschland geht es gut.Wir haben eine Situation, wie wir sie so gut in Deutsch-land eigentlich noch nicht gehabt haben: 42,8 MillionenErwerbstätige in Deutschland – der Bundesminister hates eben gesagt –, das ist eine Erfolgsstory.
Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Eu-ropa. Das ist für mich eines der wichtigsten Signale, dasses Deutschland gut geht; denn es gibt nichts Schlimme-res, als wenn junge Menschen keine Hoffnung haben.Das haben wir Gott sei Dank in Deutschland verändert.
Wenn Sie sich anschauen, wie es im europäischenUmfeld aussieht, dann sehen Sie: Wir sind auf einem gu-ten Weg. In Frankreich liegt die Jugendarbeitslosigkeitbei 25 Prozent, in Spanien bei 42 Prozent. Bei uns liegtsie durchschnittlich bei 6,7 Prozent. In vielen RegionenDeutschlands gibt es keine Jugendarbeitslosigkeit mehr.Im Gegenteil: Wir sind dabei, nach Wegen zu suchen,wie wir für diese Regionen unter Umständen jungeLeute aus dem Ausland anwerben können.Dies zeigt: Wir haben die richtige Wirtschaftspolitikbetrieben. Wir haben dafür gesorgt, dass es läuft. DieUnternehmer wie die Arbeitnehmer in den Betrieben ha-ben eine gute Arbeit geleistet.Wir haben einen Konsolidierungskurs gefahren, derbemerkenswert ist: Wir haben bereits letztes Jahr dieschwarze Null erreicht. Dieses Jahr wird es dann sicher-lich – Überraschungen des Finanzministers sind ja be-kannt – auch noch ein nettes Plus geben; wir gehen maldavon aus, dass das so sein wird. Ich finde, dass wir aufdem richtigen Weg sind.Das ist allerdings – das sollten wir auch sagen – keinegottgegebene Sache und auch kein Automatismus. Wirmüssen schon daran arbeiten, dass das so weitergeht. Ichhabe das Gefühl, dass wir im letzten Jahr das eine oderandere Mal ein bisschen zu viel über Verteilungsgerech-tigkeit nachgedacht haben, aber zu wenig darüber, wiewir die wirtschaftliche Situation in Deutschland verbes-sern und verstärken. Das sollten wir jetzt machen. DieWorte des Wirtschaftsministers in diesem Zusammen-hang habe ich gehört.Wir dürfen bei der Bürokratie nicht immer weiterdraufsatteln. Das haben Sie selbst gesagt, Herr Gabriel,und ich bin Ihnen dankbar dafür. Allerdings habe ich dasGefühl, dass das nicht in allen Ministerien so verstandenwird.
Zu den Dokumentationspflichten beim Mindestlohn
sage ich Ihnen: Das geht ein gutes Stück zu weit, ver-ehrte Frau Andreae. Das geht nämlich so weit, dass wiralle Unternehmer – und das stört mich vor allen Dingen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7761
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
bei der Linken besonders – unter den Generalverdachtstellen, dass sie Verbrecher und Betrüger sind. Das istnicht in Ordnung, und das möchte ich nicht. Wir habenin Deutschland einen Mittelstand, der hervorragende Ar-beit leistet,
indem die Unternehmen gut zusammenarbeiten. Sie alleunter einen Generalverdacht zu stellen, das ärgert michschon ganz gewaltig. Auch darüber sollten wir nachden-ken. Ich will kein Misstrauensklima in Deutschland ha-ben.
Herr Kollege Fuchs, darf der Kollege Ernst eine Frage
stellen?
Ich nehme es zwar nicht ernst, aber okay.
– Nein, Gott sei Dank.
Ich möchte keine Frage stellen. Man darf ja auch Be-
merkungen machen, Herr Präsident; das habe ich so ver-
standen.
Meine erste Bemerkung. Sie haben ja gerade ver-
sucht, einen Zusammenhang zwischen der SED und
meiner Person herzustellen.
Das betrifft nicht Sie; das weiß ich. Aber Sie sind für
den Verein verantwortlich.
Jetzt kann man unschwer erkennen: Ich spreche mit
bayerischem Akzent. Ist Ihnen entgangen, dass es die
SED in Bayern gar nicht gab?
Zweitens. Das bezieht sich jetzt auf das, was Sie zu
mir gesagt haben – das sei Unfug, Unsinn, und man
müsse das ja nicht ernst nehmen –: Herr Fuchs, Sie ha-
ben, zitiert nach dem Handelsblatt, einen Vergleich auf-
gestellt; der ist einige Jahre her. Dort haben Sie gesagt
– ich möchte das zitieren –:
Der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen
Groß- und Außenhandels, Dr. Michael Fuchs, hat
die Diskussion über die Standortqualität Deutsch-
lands auf diese Gleichung verdichtet: Für das, was
ein deutscher Arbeitnehmer im Durchschnitt kostet,
könnten entweder 70 Russen, 38 Bulgaren, 18 Po-
len, 17 Tschechen oder 10 Ungarn beschäftigt wer-
den. Denn die monatlichen Arbeitskosten … liegen
in Deutschland bei 6 000 DM und entsprechend ge-
ringer in den anderen Ländern.
Daraufhin, auf diese große wirtschaftliche Einsicht, die
Sie dort bekundet haben, hat Ihnen dann Herr Hans
Mundorf vom Handelsblatt geantwortet. Er hat geschrie-
ben:
Müsste man aus solchen Vergleichen die tarifpoliti-
sche Konsequenz ziehen, könnte die nur heißen:
Erst wenn das Monatseinkommen des deutschen
Arbeitnehmers auf 90 DM reduziert worden wäre,
könnte die Bundesrepublik wieder im Wettbewerb
mit Russland bestehen.
Und dann schreibt Herr Mundorf – jetzt wird es span-
nend –:
Diese Folgerung jedoch ist zu absurd, als dass man
nur eine Sekunde darüber nachdenken müsste.
Das ist Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz, Herr
Fuchs.
Wenn Sie dann zu mir sagen, das, was ich sage, müsse
man nicht ernst nehmen, kann ich Ihnen nur sagen: Die-
ser Vergleich ist 20 Jahre her. Man muss Sie seit 20 Jah-
ren nicht mehr ernst nehmen.
Auf so etwas zu antworten, erspare ich mir. Sie kapie-ren es halt nicht, und Sie werden es nicht kapieren, weilSie es auch nicht können.
Bleiben wir bitte beim Bürokratieabbau. Das mussunser gemeinsames Ziel sein; denn es macht überhauptkeinen Sinn, Bürokratie aufzubauen, parallel dazu aberdavon zu reden, dass wir sie abbauen wollen. Deswegenbin ich der Meinung, dass wir da unbedingt herangehenmüssen.Ich finde, dass wir auch in Europa ein gutes Stückweitergekommen sind. Es ist erfreulich, dass viele Län-der jetzt aus den Programmen, die wir hier in diesemHohen Haus beschlossen haben, herausgekommen sind.In Irland sind wir auf einem sehr guten Weg. Selbst inPortugal und in Spanien sind wir auf einem guten Weg.Die Kanzlerin hat am Wochenende ja gesagt, dass auchItalien langsam, aber sicher merkt, dass wir nur über Re-formen aus der Krise herauswachsen können. Ich hoffe,dass das in allen anderen Ländern genauso wird.Wenn nun aber in Griechenland eine neue Regierungantritt und sagt, die geringe Reform, die gemacht wurde,wolle man zurückdrehen und ein Antispar- bzw. Antire-formprogramm oder gar einen Anti-Merkel-Pakt be-schließen, dann macht mir das schon erhebliche Sorgen.Das ist nicht der Weg, mit dem Europa wettbewerbsfähigwird, und das ist auch nicht der Weg, mit dem wir dieZukunft in Europa gestalten können.
Metadaten/Kopzeile:
7762 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
Wenn dann Linksradikale mit Rechtspopulisten koa-lieren, dann frage ich mich, ob ich nicht im falschenFilm bin.
Wenn ich mir dann angucke, was diese Linksradikalenzusammen mit den Rechtsradikalen da machen wollen,wird es mir angst und bange. Und dann, Herr Ernst:Wenn es eine Partei ist, die Antisemitismus, Rassismusund einen Chauvinismus in ihrem Programm hat, dernicht akzeptabel ist, dann kann ich nur sagen: Eine Ko-alition mit einer solchen Partei zu akzeptieren, zeigt denganzen Charakter der Linken und stört mich ganz gewal-tig.
Herr Kollege Fuchs, darf der Kollege Schlecht eine
Zwischenbemerkung machen?
Na gut.
Herr Fuchs, Sie haben ja eben die neue griechische
Regierung beschrieben und dabei von einer Koalition
aus Linksradikalen und Rechtspopulisten gesprochen.
Ich will Sie nur darauf hinweisen, dass diese Regierung
momentan versucht – maßgeblich von Syriza betrie-
ben –, die übelsten Zustände, die dem griechischen Volk
von außen über die Troika aufoktroyiert worden sind
– maßgeblich auch von Deutschland betrieben –, zu be-
seitigen.
Dort sind dramatische Verschlechterungen der sozialen
Lage und eine ganz große Anzahl von Menschen, die
nicht mehr krankenversichert sind, zu beklagen. Es ster-
ben dort Leute auf den Straßen, weil sie verhungern, die
Suizidrate hat dramatisch zugenommen, es gibt Strom-
sperren usw.
Das alles soll jetzt abgestellt werden.
Ich will Sie nur darauf hinweisen: Das ist nicht links-
radikal, sondern im besten Sinne sozialdemokratische
Politik. Allerdings mag es sein, dass Ihr Koalitionspart-
ner hier in Deutschland, die SPD, bestimmte Elemente
sozialdemokratischer Politik mittlerweile als linksradi-
kal denunziert. Daran kann man aber nur sehen, wo sie
angekommen ist.
Weil die Anel auch von anderen immer wieder mit der
AfD verglichen wird, will ich, bezogen auf die soge-
nannten Rechtspopulisten, darauf hinweisen, dass es ei-
nen ganz großen Unterschied zwischen diesen beiden
Gruppierungen gibt. Er besteht darin, dass diese soge-
nannten Rechtspopulisten gemeinsam mit Syriza gegen
das antreten, was hier in Deutschland „Agenda 2010“
heißt und was zu einer Zerstörung der Strukturen am Ar-
beitsmarkt geführt hat. Dafür würde die AfD hier in
Deutschland nie die Hand geben, weil die AfD – das ist
in der Öffentlichkeit leider viel zu wenig bekannt – eine
Vorkämpferin für die weitere Verschlechterung der Si-
tuation am Arbeitsmarkt ist und hinter den Entscheidun-
gen steht, die vor zehn Jahren hier in diesem Hause ge-
troffen worden sind und die wir nicht wollen und
bekämpfen. Das ist der entscheidende Unterschied zwi-
schen der AfD und Anel.
Insofern kann man diese beiden Gruppierungen über-
haupt nicht miteinander vergleichen.
Herr Schlecht, das macht Rassismus, Antisemitismusund Ausländerfeindlichkeit besser? Ist das Ihre Einstel-lung? Das habe ich kritisiert. Sie sollten hier bitte zuhö-ren!
Ich möchte nicht, dass wir solche Verhältnisse jemals inDeutschland bekommen, und ich sage Ihnen eines: Gottsei Dank wird diese Linke zusammen mit der AfD undder Pegida in Deutschland niemals mehrheitsfähig sein –und das wünsche ich Ihnen auch nicht.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer Reihegroßer Herausforderungen; der Minister hat schon eineganze Menge genannt. Eine der Herausforderungen istsicherlich die Energiewende.Wir haben im letzten Jahr eine vernünftige EEG-Re-form durchgeführt. Ich würde mir wünschen, der HerrKrischer würde sich heute bei Ihnen, Herr Gabriel, ent-schuldigen; denn er hat am 27. Juni 2014 hier im HohenHause gesagt – ich zitiere das einmal –:Sigmar Gabriel ist die Abrissbirne, die die erneuer-baren Energien in diesem Land kaputt macht …
Das war eine Unverschämtheit.Wenn Sie einmal nachgucken würden, was im letztenJahr passiert ist – vielleicht haben Sie das ja noch nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7763
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
gelesen, Herr Krischer –, dann wüssten Sie, dass das,was Sie erzählt haben, Unsinn war.
Wir haben für neue Investitionen gesorgt, was allein imBereich der Onshorewindenergie zu einer Ausweitungder Kapazität im Umfang von brutto 4 700 Megawattund netto 4 300 Megawatt geführt hat. Das ist gewaltigviel und sogar viel mehr, als wir uns in dem Zielkorridorvon 2 400 Megawatt bis 2 600 Megawatt vorgenommenhatten.
Einen Augenblick mal. – Ich bitte um Nachsicht: In
der Zulassung von Zwischenfragen und auch Kurzinter-
ventionen bin ich nachweislich eher großzügig, aber
man muss einem Redner auch die Möglichkeit geben,
drei aufeinanderfolgende Sätze ohne Unterbrechung vor-
zutragen.
Wenn Sie nachher also eine Kurzintervention machen
wollen, dann werde ich sie gerne genehmigen; aber im
Augenblick genehmige ich keine weiteren Zwischenfra-
gen.
Ich bin dem Präsidenten dankbar; denn man muss ei-nen Gedanken ja auch einmal komplett ausformulierenkönnen. – Wir hatten 2 400 bis 2 600 Megawatt geplant,und es sind netto 4 300 Megawatt geworden. Das zeigt jawohl, dass wir die Energiewende nicht kaputt gemacht,sondern dass wir, im Gegenteil, in gewaltigem MaßeMöglichkeiten geschaffen haben, in Deutschland in er-neuerbare Energien zu investieren.Ich kann nur sagen: Wir müssen uns schon genauüberlegen, ob das richtig ist. Verehrte Kollegen von denGrünen, diese zusätzlich gebauten Anlagen kosten250 Millionen Euro pro Jahr mehr an EEG-Umlage. Wirliegen zurzeit bei 22 Milliarden Euro. Zu dieser Summekommen in diesem Jahr 250 Millionen Euro mehr dazu,und zwar nur aufgrund der Tatsache, dass wir beim Aus-bau der Windenergie deutlich über das selbstgesteckteZiel hinausgeschossen sind.Herr Minister, wir sollten darüber nachdenken, ob wirden Ausbau in den Folgejahren leicht reduzieren, umdiesen nicht gewollten Anstieg bei den Mitteln zu kom-pensieren. Ich halte das für eine sinnvolle Maßnahme;denn wir müssen in irgendeiner Weise die gewaltigenMehrausgaben in diesem Bereich kompensieren. DieFirmen können das nicht bezahlen, und auch die Bürge-rinnen und Bürger können das nicht bezahlen.Ich halte es für vollkommen richtig, dass Sie heute indiesem Hohen Hause gesagt haben, dass unsere Mehr-ausgaben bei den Energiekosten gedeckelt werden müs-sen, dass wir aufhören müssen, zu glauben, wir könntendie Energiekosten immer und immer weiter steigen las-sen. Das gilt für KWK. Das gilt aber auch für alles, waserneuerbare Energien in diesem Zusammenhang aus-macht.Ich meine, es ist allerhöchste Zeit, das zu tun; denn invielen Bereichen hat der Ausbau nichts gebracht. Mitt-lerweile gibt es mehr chinesische PV-Module auf deut-schen Dächern als Module aus Deutschland. Das wirdnicht zu unserer Wettbewerbsfähigkeit beitragen. DerAusbau hat zwar für Bayern ein erfreuliches Ergebnis er-zielt, weil es dadurch zu einer Umkehr des Länderfi-nanzausgleichs gekommen ist. Aber ob das sinnvoll ist,müssen wir noch einmal diskutieren.Auch der Netzausbau muss mit dem Ausbau der er-neuerbaren Energien in irgendeiner Art synchronisiertwerden. Es macht keinen Sinn, wenn wir ständig weitereAnlagen im Norden bauen, aber den Strom nicht in denSüden transportieren können.Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. InSchleswig-Holstein werden wir Ende dieses Jahreswahrscheinlich eine installierte Leistung von 12 Giga-watt bei den erneuerbaren Energien erreichen. In Schles-wig-Holstein werden aber maximal 2,8 bis 3 Gigawattan installierter Leistung gebraucht. Das heißt, dort gibtes 9 Gigawatt zu viel. Wohin mit dieser Leistung? Siemuss wegtransportiert werden. Wenn es uns nicht ge-lingt, diese wegzutransportieren, dann haben wir einProblem. Dann müssen diese Anlagen nämlich perma-nent abgeschaltet werden – das können Sie jetzt schonbeobachten –, und das kostet enorm viel Geld. Das müs-sen alle Verbraucher bezahlen. Das kann nicht unser Zielsein. Deswegen muss das gesamte Hohe Haus dafür sor-gen, dass der Netzausbau so schnell wie möglich voran-kommt. Das dauert mir bei weitem zu lange.
Das kann so nicht weitergehen. Ich bin der Meinung,dass wir auf diesem Sektor Defizite haben, und zwar inallen Bundesländern, auch in Bayern.Es ist klar – ich bin dankbar, dass der Bundesministerdas eben sehr deutlich erwähnt hat –, dass wir nur dann,wenn wir ein vernünftiges Freihandelsabkommen mitden Amerikanern aushandeln,
in der Zukunft Standards und Normen setzen. Die Ame-rikaner verhandeln zurzeit sehr intensiv mit denASEAN-Staaten über TPP. Wer die State-of-the-Union-Rede von Obama gelesen hat, der wird feststellen, dasssich Obama mehr um TPP als um TTIP kümmert. Wenn
Metadaten/Kopzeile:
7764 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
es so sein sollte, dass dieses Abkommen zuerst geschlos-sen wird, dann werden die Amerikaner mit den ASEAN-Staaten Normen und Standards setzen, an denen wirdann nicht mehr vorbeikommen. Das ist nicht meineVorstellung.Meine Vorstellung ist, dass wir mit den Amerikanerneuropäische Standards aushandeln und dass diese dannanschließend auf Asien übertragen werden. Das wäre fürdie deutsche Wirtschaft eine Chance. Daran sollten wirgemeinsam arbeiten.
Deswegen ärgere ich mich so, wenn alle NGOs, dieLinke sowieso und auch Teile der Grünen
das TTIP-Abkommen schlechtreden. Dahinter stecktIdeologie, dahinter steckt Antiamerikanismus.
Dagegen wehren wir uns. Wir wollen nämlich genaudas Gegenteil. Wir wollen, dass ein vernünftiges Frei-handelsabkommen zwischen unseren Ländern geschlos-sen wird, das den Menschen hilft und das auch den Un-ternehmen bessere Chancen ermöglicht.
Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Kollege
Krischer das Wort.
Herr Kollege Fuchs, Sie haben darauf hingewiesen,
dass ich vor einem guten halben Jahr Sigmar Gabriel bei
der Verabschiedung der EEG-Novelle als „Abrissbirne“
der Energiewende bezeichnet habe. Das ist richtig.
Ein halbes Jahr danach muss ich leider feststellen
– Herr Fuchs, Sie sind offensichtlich nicht über die Ent-
wicklungen in der Branche beim Ausbau der erneuerba-
ren Energien informiert –, dass die Voraussage, dass
Sigmar Gabriel mit dieser EEG-Novelle die Abrissbirne
der Energiewende ist, genau so eingetreten ist. Die Bio-
massebranche hat null Zubau in Deutschland.
In den Fachmagazinen der Branche finden Sie nur noch
Artikel darüber, wie man im Ausland investieren kann
und dass Deutschland keinen Zukunftsmarkt hat.
Bei der Photovoltaikbranche ist es genauso. Im letz-
ten Jahr, 2014, ist Ihr eigener Ausbaukorridor deutlich
unterschritten worden,
und im Jahr 2015 wird der Ausbau gegen null gehen.
Das Einzige, was noch kommt, ist Ihr merkwürdiges
Ausschreibungsprogramm für Solar-Freiflächenanla-
gen. Ansonsten passiert gar nichts.
Gestern hat SMA, ehemals Weltmarktführer in der
Wechselrichtertechnologie, den Abbau von 1 600 Ar-
beitsplätzen angekündigt. Sie treiben diese Industrie aus
dem Land.
Dass wir derzeit bei der Windenergie noch einen gu-
ten Zubau haben, liegt daran, dass die rot-grün regierten
Bundesländer dafür gesorgt haben, dass im EEG wenigs-
tens noch bis 2017 eine angemessene Vergütung vorge-
sehen ist. Das wollten Sie auch ändern. Das wollten Sie
auch kaputtmachen.
Aber hier kommt es zum Schlussverkaufeffekt. Das
ist in Kürze vorbei. Der Marktführer Enercon beispiels-
weise, der Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland
sichert, hat ab 2017 in Deutschland keinen einzigen Auf-
trag mehr, weil Sie dann, ohne irgendwie benennen zu
können, wie Sie es machen wollen, das Vergütungssys-
tem auf Ausschreibung umstellen wollen. Sie haben aber
keine Vorstellung davon, wie Sie das machen wollen.
Sie machen die erneuerbare Industrie kaputt, statt In-
dustriepolitik zu betreiben. Der Bundesminister hat das
eben sehr deutlich bestätigt, als er über alles Mögliche
geredet hat, aber nicht über Klimaschutz, die Energie-
wende und den Ausbau der Erneuerbaren.
Das ist zu wenig für ein Land, das die Energiewende
will.
Zur Erwiderung Herr Kollege Fuchs.
Verehrter Herr Krischer, ich habe versucht, es Ihnenzu erklären.
Wir hatten einen Ausbau der Windenergie auf 2 400 bis2 600 Megawatt geplant. Es sind inklusive des Repow-ering 4 700 Megawatt geworden. Angesichts dessentrifft es nicht zu, dass wir etwas abgerissen haben. Es istdoch mehr aufgebaut worden, als wir selbst gewollt ha-ben.Die Zahlen für die Photovoltaik liegen noch gar nichtvor. Sie mögen sie schon alle haben, weil Sie permanentmit diesen Herrschaften reden. Ich habe sie noch nicht.Ich habe heute Morgen noch einmal bei den Übertra-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7765
Dr. Michael Fuchs
(C)
(B)
gungsnetzbetreibern angerufen und gefragt, ob es ir-gendwelche Zahlen gibt. Sie sind nicht vorhanden. Re-den Sie nicht über etwas, das noch gar nicht vorliegt!Bis Anfang November waren schon rund 1 800 Me-gawatt installiert. Wir sind also nicht weit von dem Kor-ridor, den wir uns selbst gegeben haben, entfernt, undwir haben obendrein ein vernünftiges Ausschreibungs-verfahren für Freiflächen auf den Weg gebracht. Wirwollen aber nicht, dass alles in Deutschland verspiegeltwird. Wir wollen auch noch Landwirtschaft haben.
Deswegen sind wir bei dem ganzen Thema Biomassesehr zurückhaltend.
Zu einer direkten Erwiderung nach § 30 unserer Ge-
schäftsordnung erhält der Kollege Gabriel jetzt das Wort.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft und
Energie:
Meine Damen und Herren! Ich habe dem Präsidenten
versprochen, dass ich mit nur einem Satz antworte. Den
muss ich jetzt hinbekommen.
Ich wollte nur, weil Sie an das Stichwort „Abriss-
birne“ erinnert haben, an ein zweites Wort in der damali-
gen Debatte erinnern: Damals habe ich Ihnen gesagt,
dass man Sie mit guten Gründen davor bewahren muss,
zum Pinocchio dieses Bundestages zu werden;
denn auch Ihre heutige Darstellung der Entwicklung der
erneuerbaren Energien ist falsch, und der Abbau des Per-
sonals bei der Firma SMA hat etwas mit Billigimporten
aus China und Dumping zu tun, aber nichts mit der Ent-
wicklung der erneuerbaren Energien.
Sie nähern sich immer mehr diesem Ehrentitel.
Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Gabriel, ich erinnere Sie an das dritte Wort der De-batte. Dieses lautete „roter Anorak“.
Sie sollten sich an damals erinnern, als Sie als Bundes-umweltminister die Klimakrise wirklich ernst genom-men haben und im roten Anorak vor den Polarbergen er-klärt haben: Wir haben ein Problem, das wir weltweitangehen müssen. – Das war damals die richtige Haltung.Diese Haltung sollten Sie auch heute als Bundeswirt-schaftsminister einnehmen. Das wäre effektive, sinn-volle Wirtschaftspolitik.
Sie haben viel von zusätzlich notwendigen Investitio-nen gesprochen. Wir teilen das ausdrücklich. Ja, wirbrauchen zusätzliche Investitionen. Aber was im Jahres-wirtschaftsbericht zu lesen ist, ist nichts anderes als auf-gewärmter Kaffee. Sie reden von 5 Milliarden Euro anZusatzinvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Aberder große Teil fließt in alte Projekte. Da wird RamsauersSpatenstichpolitik fortgeführt. Hier von Zusatzinvestiti-onen zu sprechen, ist ein glatter Etikettenschwindel. VonZukunftsinvestitionen zu sprechen – dieses Wort wirdauch im Jahreswirtschaftsbericht verwendet –, geht erstrecht nicht. Man könnte nur dann von Zukunftsinvesti-tionen in den Verkehrsbereich sprechen, wenn das Pro-gramm, das zum Ziel hat, 1 Million Elektromobile aufdie Straße zu bringen, forciert angegangen und wenneine Infrastruktur aus Ladestationen finanziert würde.Dann gäbe es eine echte Verkehrswende. Zukunftsinves-titionen bedeuten Umsteuern in Richtung Zukunft undNachhaltigkeit unter besonderer Berücksichtigung derBedürfnisse zukünftiger Generationen. Das machen Siehier nicht.
Die Mittel dazu wären doch vorhanden. Die wirt-schaftliche Lage ist so gut, wie seit langem nicht mehr.Der niedrige Ölpreis, der teilweise bedauerlich schwa-che Euro – es ist nicht nur schön, dass der Euro soschwach ist – und auch die niedrigen Zinsen verschaffenIhnen einen Puffer, der es Ihnen ermöglicht, in die Zu-kunft zu investieren. Sie müssen jetzt handeln, denn derÖlpreis wird nicht immer so niedrig sein. Die Investitio-nen nehmen gerade ab. Das heißt, dass auch das Angebotabnehmen wird und die Preise wieder steigen werden.Aus Klimaschutzgründen ist es sowieso notwendig, denÖlverbrauch zu senken; das dürfen Sie nicht vergessen.Sie müssen nun das Zeitfenster und die steigenden Ein-nahmen – der niedrige Ölpreis wirkt wie ein Konjunktur-paket von 20 Milliarden Euro – nutzen und dafür sorgen,dass tatsächlich konsequent Investitionen in den Ausbauder erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz ge-tätigt werden.
Gerade bei der Energieeffizienz sind Sie weit vondem entfernt, was wir brauchen. Sie haben auf den Na-tionalen Aktionsplan Energieeffizienz verwiesen. Aberwas wir fordern und brauchen, sind konsequente Investi-tionen in Energieeffizienz und Klimaschutz. Der Klima-schutz eröffnet neue Geschäftsfelder. Wir erleben das inanderen Ländern. In Indien und in China werden dieSubventionen für herkömmliche Energiequellen herun-tergefahren. Auch Sie könnten die Mineralölsubventio-nen zugunsten der chemischen Industrie, die ebenfallsvon dem niedrigen Ölpreis profitiert, herunterfahren.
Metadaten/Kopzeile:
7766 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Kerstin Andreae
(C)
(B)
Klimaschutz ist ein Chancenfaktor und kein Kostenfak-tor. Das müsste sich doch durchsetzen lassen.
Ja, es geht um Deutschlands und um Europas Zu-kunft. Deutschland muss mehr Verantwortung für Eu-ropa übernehmen. Derzeit zieht die Europäische Zentral-bank den Karren aus dem Dreck. Sie musste handeln,weil die Bundesregierung nicht gehandelt hat.
Die Wahlen in Griechenland zeigen doch nur, dass dieMenschen frustriert sind, Angst haben und keine wirt-schaftliche Perspektive und Zukunft für sich sehen.
Deswegen geht es vor allem darum, hier Investitionenfür wirtschaftliche Perspektiven auf den Weg zu bringen,die Energienetze auszubauen, die Bildung zu fördern so-wie kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen,aber auch Armut zu bekämpfen.Herr Gabriel, Sie haben angekündigt, dass sich dieKfW mit 8 Milliarden Euro an der zweiten Stufe derProjekte beteiligen soll. Das ist nicht der richtige Weg.Sie haben uns im Haushaltsausschuss gesagt, dass Siesich am Investitionsfonds von Herrn Juncker erst dannbeteiligen, wenn die anderen europäischen Länder nach-ziehen. Wollen Sie wirklich auf Estland und Portugalwarten? Nein, richtig wäre, 12 Milliarden Euro in denInvestitionsfonds von Herrn Juncker einzuzahlen. Daswäre ein klares, starkes proeuropäisches Signal. Dannwürde Deutschland Verantwortung für Europa überneh-men.
Führen wir uns einmal die Debatte über den Mindest-lohn vor Augen. Sie sagen, dass Sie Erfahrungen sam-meln und dann auswerten wollen. Wir haben Ihnen beimMindestlohngesetz vorgeschlagen, es genau andershe-rum zu machen. Evaluieren Sie kontinuierlich mit Be-ginn des Mindestlohns! Natürlich gibt es am Anfang ander einen oder anderen Stelle noch gewisse Schwierig-keiten. Wenn aber der Wirtschaftsrat der Union und Sie,Herr Fuchs, schon zehn Tage nach Inkrafttreten des Ge-setzes unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus ver-suchen, die Axt anzulegen, dann ist das nichts anderesals Propaganda gegen den Mindestlohn.
Wir würden Sie dabei unterstützen, Bürokratie abzu-bauen.
Das ist ganz einfach: Lassen Sie diesen CSU-Irrsinn mitder Ausländermaut. Das ist das größte bürokratischeProgramm, das Sie gerade auf den Weg bringen. LassenSie diese Bürokratie weg.
Im Jahreswirtschaftsbericht wird der demografischeWandel als Problem erkannt. Die Diskussion über denFachkräftemangel gibt es seit vielen Jahren. Ich zitiere:Der demografische Wandel in Deutschland gehteinher mit einer abnehmenden Zahl von Personenim erwerbsfähigen Alter.
Guten Morgen! Genau deshalb ist die Rente mit 63das falsche Signal an den Arbeitsmarkt gewesen. Es istdiese Koalition, die mit einem falschen Rentenpaket dieProbleme des demografischen Wandels verschärft hat.Es ist diese Koalition, die den zukünftigen GenerationenKosten in Höhe von 10 Milliarden Euro pro Jahr aufbür-det. Das war die bisher teuerste sozialpolitische Fehlent-scheidung dieser Koalition.
Natürlich brauchen wir eine Fachkräftesicherung imInland, aber auch Fachkräfte aus dem Ausland. Sie, HerrGabriel, haben einen bemerkenswerten Artikel imTagesspiegel mit der Überschrift „Mut zur Einwanderer-gesellschaft“ geschrieben. Da finden Sie unsere volleUnterstützung. Aber ich würde mir wünschen, dass sichein Wirtschaftsminister dieses Landes, der dieses Pro-blem erkennt, auch in einem Jahreswirtschaftsberichtklar zu einem Einwanderungsgesetz bekennt. Wir brau-chen ein Signal, ein Signal für ein weltoffenes, modernesund zukunftsfähiges Deutschland mit Einwanderung,mit einem Einwanderungsgesetz. In diesem Jahreswirt-schaftsbericht findet sich nichts darüber. Reden Sie sichnicht damit heraus, dass Thomas de Maizière in seinemZuwanderungsbericht schreibt, es sei doch alles in Ord-nung, es sei zufriedenstellend, und er ein Einwande-rungsgesetz ablehnt.Sie haben viele Sachen angesprochen, die Sie im Ka-binett noch nicht durchbekommen haben oder die Sienoch mit Ihren Kolleginnen und Kollegen diskutieren.Aber ein Wirtschaftsminister muss in der Lage sein, zusagen: „Wir werden moderne Bedingungen für Einwan-derung schaffen, wir werden ein Einwanderungsgesetzauf den Weg bringen“,
und dieses auch im Jahreswirtschaftsbericht benennenund darf sich nicht auf Placebos beschränken, wie Sie eshier getan haben.
Das wäre im Übrigen eine Investition in die Zukunft,die keinen Pfennig Geld kostet, sondern die im Gegen-teil viel Geld bringt. Was sie kostet, ist Mut und Durch-setzungsfähigkeit. Wir fordern Sie jetzt auf: Stellen Siedie Weichen richtig – für Deutschland und für Europa,für die Zukunft dieses Landes und für die Zukunft nach-folgender Generationen, nicht nur hier, sondern auch inEuropa!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7767
Kerstin Andreae
(C)
(B)
Vielen herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Eigentlich sollten wir über die wirtschaftliche Lagereden, Frau Kollegin Andreae. Dazu haben Sie keinWort gesagt. Man kann sich doch auch einfach einmalfreuen, dass wir eine ordentliche wirtschaftliche Ent-wicklung haben: 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum,
Rekordbeschäftigung, zusätzliche sozialversicherungs-pflichtige Arbeitsplätze. Einfach einmal sich fröhlichfreuen, würde auch Ihnen den Tag versüßen, sage icheinmal an dieser Stelle.
Es ist natürlich richtig – und das ist ein Verdienst desBundeswirtschaftsministers –, dass man sich angesichtsdieser guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur hin-stellt und sagt: Es ist schön. – Denn klar ist: Es gibt sehrunterschiedliche Gründe, warum wir so gut aufgestelltsind. Das ist die Folge von Reformen in der Vergangen-heit gewesen, das hat etwas mit der aktuellen internatio-nalen Situation zu tun und auch mit der Arbeit dieserBundesregierung, die aktuell im Amt ist. Da kommt vie-les zusammen.Aber es ist vor allen Dingen das Verdienst von fleißi-gen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und tüchti-gen Unternehmern in diesem Land. Dieser Bundeswirt-schaftsminister macht mit dem Jahreswirtschaftsbericht,im Übrigen auch schon mit dem letzten, Dinge andersals Vorgänger. Ich finde es richtig, dass er eben nicht nursagt, was jetzt ist, sondern auch, was kommen muss, undganz offen und ehrlich auch Herausforderungen benennt.Genau das ist es.Aber, liebe Kerstin Andreae, eines muss ich dochnoch loswerden: Bei bestimmten Fragen habe ich bei derRede, die ich eben gehört habe, das Gefühl gehabt, dassman geradezu Pappkameraden aufbauen muss, weil esganz schön schwierig ist, Dinge zu fordern, die es schongibt. Ich finde das ganz schön schwierig. Mich erinnertdas ein bisschen an eine Szene aus den Buddenbrooks,als Arbeiter vor das Haus des Senators ziehen und rufen:Wir wollen eine Republik. – Da sagt der Senator: Wirsind in der Freien und Hansestadt Lübeck, wir sindschon eine Republik. – Daraufhin sagt einer: Dann wol-len wir noch eine Republik. – Das ist ein bisschen pro-blematisch.Sie fordern zusätzliche Investitionen. Genau die ha-ben wir auf den Weg gebracht.
Ich kann sie Ihnen im Einzelnen benennen: 5 MilliardenEuro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur; 6 Milliar-den Euro zusätzlich für Bildung, weil wir nicht nur inBeton denken; 3 Milliarden Euro zusätzlich für For-schung; 10 Milliarden Euro zusätzlich für Investitionenbringen wir jetzt auf den Weg. Wir entlasten die Kom-munen in dieser Legislaturperiode um über 5 MilliardenEuro. Also einfach mit einer Tonnenideologie immermehr zu fordern, ist der falsche Weg. Sie könnten zumin-dest einmal anerkennen, dass diese Regierung massivmehr als Vorgängerregierungen in die Zukunft investiert.
Wenn wir über Investitionen in diesem Land reden,dann reden wir zum einen über die Investitionen der öf-fentlichen Hand, also über die Investitionen von Bund,Ländern und Kommunen, in die Infrastruktur diesesLandes. Ich habe vorhin von Investitionen im Bereichder Bildung gesprochen: Zusätzlich stehen 6 MilliardenEuro zur Verfügung, vor allen Dingen durch Entlastungder Länder, damit in Kitas, in Schulen, in Hochschuleninvestiert werden kann. Hinzu kommen zusätzlich 3 Mil-liarden Euro für Forschung. Das ist eine gigantischeLeistung. Man kann immer mehr wünschen – gar keineFrage –; aber wir wollen es eben schaffen – das ist nach-haltige Politik –, die Balance zwischen Haushaltskonso-lidierung und Zukunftsinvestitionen zustande zu brin-gen. Dieser Weg scheint richtig zu sein.Wir haben es geschafft, einen ausgeglichenen Haus-halt vorzulegen, und wir haben es geschafft, ihn durch-zusetzen und auch durchzuhalten. Natürlich ist das Glückmanchmal auch mit den Tüchtigen; gar keine Frage. Dieinternationale Situation ist beschrieben worden, und wirhaben das Glück der Tüchtigen an dieser Stelle. Aber esist nicht so, dass sich diese Bundesregierung auf dem Er-reichten ausruht; vielmehr gehen wir die Dinge an, dievor uns liegen. Auch das ist vorhin beschrieben worden.Mehrere große Herausforderungen liegen vor uns. Esgeht nicht nur darum, dafür zu sorgen, dass wir bei denöffentlichen Investitionen vorankommen, sondern zumanderen darum, dass wir die Rahmenbedingungen so set-zen, dass die Privatwirtschaft in Deutschland investiert.Aber auch da, Kerstin Andreae, ist der Befund, dass we-niger investiert wird, falsch. Die Bruttoanlageinvestitio-nen in diesem Land sind gestiegen. Auch die Investitio-nen in der Privatwirtschaft in diesem Land sindgestiegen; auch das ist ein Befund des Jahreswirtschafts-berichts.Wir haben also einige Aufgaben zu bewältigen. DasThema Fachkräftesicherung ist vorhin angesprochenworden. Hier sind wir – Kollege Fuchs hat es angespro-chen – ganz kräftig vorangekommen, auch was die Re-duzierung der Jugendarbeitslosigkeit in diesem Land be-trifft. Das ist hocherfreulich.Ich füge hinzu: Es gibt in diesem Bereich noch Poten-ziale, die wir heben müssen. 50 000 junge Menschen
Metadaten/Kopzeile:
7768 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Hubertus Heil
(C)
(B)
verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Schulab-schluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30haben keine Ausbildung. Damit darf man sich nicht ab-finden; das werden wir auch nicht. Deshalb ist es gut,dass dieser Bundeswirtschaftsminister im vergangenenDezember mit Vertretern der Wirtschaft und der Ge-werkschaften die Allianz für Aus- und Weiterbildung ge-schlossen hat, um dafür zu sorgen, dass wir kein Kind indiesem Land zurücklassen, dass wir versuchen, jedem,auch den Benachteiligten in diesem Land, unter dieArme zu greifen. Das geht nur im Schulterschluss zwi-schen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Ich finde,auch als Opposition hätte man diese Leistung einfacheinmal anerkennen können, Frau Kollegin Andreae.
Sie haben über Einwanderung gesprochen. Ich finde,es ist nicht fair, zu sagen, dass dieser Wirtschaftsministerdazu keine Vorschläge mache; er hat es nämlich in seinerRede vorhin getan. Wir werden uns miteinander darüberzu unterhalten haben, wie wir das Einwanderungsrechtin diesem Land modernisieren. Ich finde, das ist eineganz wesentliche Botschaft an diejenigen, die glauben,dass wir unseren Wohlstand national abgeschottet vertei-digen können. Das können wir nicht! Wir müssen ein of-fenes, ein weltoffenes Land sein. Aber die Diskussiondarüber müssen wir miteinander führen.Ich glaube, dass es neben der Frage der gesetzlichenBedingungen für Einwanderung in diesem Land einfachdarum geht, eine offene Gesellschaft zu haben, die Men-schen willkommen heißt und die Zuwanderer nicht ab-stößt. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir müssenRechtsradikalen und Rechtspopulisten aus sehr unter-schiedlichen Gründen entgegentreten. Wir müssen auchÄngsten entgegentreten, die es in der Bevölkerung aussehr unterschiedlichen Gründen gibt; schließlich geht esum Menschen, und es ist nicht in Ordnung, gegen Min-derheiten zu hetzen. Aber wir müssen auch deswegenweltoffen sein, weil es sich unser Land ökonomischnicht leisten kann, national vernagelt zu sein. UnsereWirtschaft ist exportorientiert, und wir brauchen einequalifizierte Zuwanderung nach Deutschland. Dies wol-len und werden wir organisieren.
Ich sage das auch im Hinblick auf den anderen As-pekt der Zukunftsfähigkeit unseres Landes: die digitaleInfrastruktur. Wir haben durch die Haushaltskonsolidie-rung, durch die wirtschaftliche Entwicklung Spielräumebekommen: Zusätzlich stehen 10 Milliarden Euro für In-vestitionen zur Verfügung. Wir müssen schauen, wie wirdas vernünftig einsetzen. Auch da geht es darum, mitknappem Geld vernünftig umzugehen. Es ist richtig,dass in Energieeffizienz investiert wird; denn gerade indiesem Bereich können private Investitionen vernünftiggehebelt werden. Das ist ökologisch und auch wirt-schaftlich vernünftig. Wir müssen etwas für die Ver-kehrsinfrastruktur tun. Auch da gilt unser Prinzip „Erhaltvor Neubau“, weil wir von der Substanz im Bereich derVerkehrsinfrastruktur leben; denn es ist für einen Wirt-schaftsstandort wichtig, eine gute Verkehrsinfrastrukturzu haben.Aber ich füge hinzu: Wir müssen auch mehr in die di-gitale Infrastruktur in diesem Land investieren.
Auch das wird Teil der Aufgabe sein: mit öffentlichemAnstoß privates Kapital in den Ausbau von Breitbandin-frastruktur gerade in ländlichen Räumen in Deutschlandzu bringen.Nächster Punkt: die Frage der Internationalisierung.Es ist vorhin angesprochen worden: Wir sind Export-vizeweltmeister. Wir dürfen nicht vernagelt sein. Wirmüssen auch darüber reden, wie die Regeln für einen fai-ren und freien Welthandel gestaltet werden. Das sindschwierige Debatten, die wir in Sachen CETA und TTIPzu führen haben. Aber wir stellen uns den Debatten. Ichfinde, man hätte auch einmal anerkennen können, dasswir diesen kritischen Diskurs miteinander führen undaushalten.
An einem Punkt – da beißt die Maus keinen Fadenab – dürfen wir nicht national vernagelt sein. Man musssich die Entwicklung in Fernost einfach einmal an-schauen, um zu begreifen, dass auch unsere Interessenberührt sind. Es geht darum, welchen Zugang deutscheUnternehmen, vor allen Dingen mittelständische Unter-nehmen, auf den Märkten der Welt haben, wenn darüberverhandelt wird, Zollgrenzen einzureißen und auchnichttarifäre Handelshemmnisse zu beseitigen. Das ist inunserem Interesse, und auch das ist wirtschaftlich ver-nünftig.Der Kollege Krischer hat vorhin über Energiepolitikgesprochen.
Wir haben noch genug Gelegenheit in diesem Jahr, überEnergiepolitik zu diskutieren. Ich finde, Oliver Krischer,es ist auch nicht unehrenhaft, wenn man Prognosen, dieman bei Reden hier im Bundestag sozusagen im Über-schwang abgegeben hat, was den Ausbau der erneuerba-ren Energien betrifft, einfach einmal korrigiert und Zah-len zur Kenntnis nimmt.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht in diesemLand kräftig weiter.Aber es geht nicht darum, einfach nur kräftig Gas zugeben, sondern es geht darum, das System vernünftigweiterzuentwickeln. Die Frage der Bezahlbarkeit scheintdie Grünen nicht so richtig zu interessieren, wenn es umdie Energiewende geht. Das unterscheidet uns mögli-cherweise.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7769
Hubertus Heil
(C)
(B)
Wir wollen eine sichere, aber auch eine saubere und be-zahlbare Energieversorgung in diesem Land.
Das ist der Weg, den wir fortsetzen werden. Das ist wirt-schaftlich vernünftig. Es ist auch eine Frage der Wettbe-werbsfähigkeit dieses Landes, dass wir die Energie-wende miteinander hinbekommen. Da liegt viel Arbeitvor uns.
Herr Kollege Heil.
Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt: Wir sind auf dem
richtigen Weg. Wir werden nicht nachlassen, im Inte-
resse unseres Landes weiter daran zu arbeiten, dass wir
wettbewerbsfähig bleiben, dass wir erfolgreich bleiben
und dass möglichst viele Menschen am Wohlstand in
diesem Land teilhaben können.
Herzlichen Dank.
Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutierenheute den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung.Das heißt, es geht darum, einzuordnen: Was wurde er-reicht? Wo stehen wir? Vor allem geht es um die Frage:Wo wollen wir hin? Das ist in diesem Jahreswirtschafts-bericht niedergelegt. Es sind Dutzende von Maßnahmenangesprochen worden, die wir in diesem Jahr anpackenwollen. Wir wollen uns nicht auf unseren Lorbeeren aus-ruhen.Wo stehen wir? Deutschland – die Vorredner habendas angesprochen – steht gut da. Noch vor wenigen Wo-chen und Monaten wurde uns von linker und grünerSeite gesagt: „Wir rutschen in eine Rezession, es gehtabwärts, das Wirtschaftswachstum wird zum Erliegenkommen“, und anderes mehr.
Die Kassandrarufe habe ich heute nicht mehr gehört,Gott sei Dank, weil die Realität Sie mal wieder einesBesseren belehrt hat.Wir haben 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Nochvor wenigen Wochen war von maximal 1 Prozent dieRede, davon, dass es nach unten geht. Das Gegenteil istder Fall. Das Konsumklima heute ist auf dem höchstenStand seit 13 Jahren. Träger des Wachstums ist nebendem Export insbesondere die Binnenkonjunktur. HoheEinkommenszuwächse – nominal und real – kommenbei den Menschen an. Sie haben Vertrauen in die Politik,in diese Regierung und investieren und konsumierenjetzt. Das ist das Ergebnis verantwortungsvoller Politikdieser Bundesregierung in den letzten Jahren.Was sind die Rahmenbedingungen, die wir verändernwollen, die wir angehen wollen, um uns noch besser zumachen, um uns auf die demografischen und die techno-logischen Herausforderungen noch besser einzustellen?Der digitale Wandel stellt uns vor große Herausforderun-gen. Wir haben in dieser Woche zusammen mit den Län-dern den Startschuss gegeben für die Versteigerung vonFrequenzen – es geht um die sogenannte Digitale Divi-dende II –, von Funkfrequenzen, die im analogen Be-reich nicht mehr benötigt werden und jetzt im Rahmendes digitalen Wandels für den Breitbandausbau verwen-det werden können.Das heißt, wir können über die Versteigerung derFunkfrequenzen einen Beitrag dazu leisten, die flächen-deckende Versorgung mit 50 Megabit bis 2018 inDeutschland zu erreichen. 98 Prozent der Haushalte und98 Prozent der Bundesbürger sollen mit diesen 50 Mega-bit versorgt werden. In keinem Bundesland sollen es we-niger als 97 Prozent sein. Nicht nur flächendeckend inden Städten und Gemeinden, sondern auch entlang vonAutobahnen und entlang von Schienentrassen soll dieserBreitbandausbau erfolgen. Er ist kein Selbstzweck; denndieser Breitbandausbau ist notwendig für Industrie 4.0,für neue Anwendungen im Bereich der Mobilität. Selbst-fahrende Autos werden nicht ohne Breitbandausbau undohne eine entsprechende Netzinfrastruktur funktionie-ren. Deshalb arbeiten wir daran, dies entsprechend nachvorn zu bringen.
Jetzt sind die vermeintlichen Investitionslücken ange-sprochen worden. Da lohnt es sich, etwas genauer hinzu-sehen. In der Tat, wenn man die Zahlen oberflächlich be-trachtet, dann hat Deutschland heute mit 17 Prozent einniedrigeres Investitionsniveau im Vergleich zum Jahr2000 und auch im Vergleich zu 20 Prozent im OECD-Durchschnitt. Das heißt, es gibt eine vermeintliche In-vestitionslücke von 3 Prozent. Wenn man sich die Zah-len aber genau anschaut, wenn man beispielsweise sieht,dass in den 90er-Jahren vereinigungsbedingt bei uns vielgebaut wurde, und wenn man die Baubranche heraus-rechnet, dann gibt es im Vergleich zu anderen europäi-schen Ländern, die beispielsweise im Baubereich nochNachholbedarf haben, keine Investitionslücke. Das hatdie Bundesbank jüngst klargestellt und dargestellt. Manmuss sich das nur anschauen wollen und sich mit demThema beschäftigen.Das heißt aber nicht, dass wir nicht weiter investierenwollen. Wir wollen jedoch nicht auf Pump investieren.Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Staatensind unsere Investitionen nicht mehr schuldenfinanziert.Wir haben einen ausgeglichenen Haushalt, keine Neu-verschuldung in 2014, keine Neuverschuldung in 2015,und trotzdem können wir 10 Milliarden Euro mehr in-vestieren, als noch vor einem Jahr geplant war. Das ist
Metadaten/Kopzeile:
7770 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Joachim Pfeiffer
(C)
(B)
solide Haushaltsfinanzierung, und das ist solides Inves-tieren und nicht Investieren auf Pump.
Wir werden trotzdem weiter versuchen, privates Ka-pital für die Infrastruktur zu mobilisieren. Es gibt genugGeld auf der Welt. Warum sollte es nicht noch mehr inDeutschland investiert werden? Beispielsweise beimAusbau der Stromnetze ist dies gelungen. Warum solltees nicht auch an anderer Stelle, bei kommunaler Infra-struktur, bei Straßeninfrastruktur gelingen, dieses Geldnach Deutschland zu bringen? Das werden wir versu-chen.Dann gilt es auf jeden Fall, Wachstumsfesseln der Bü-rokratie zu lösen. Da wird manches durcheinanderge-bracht. Zum einen begrüßen wir ausdrücklich das, wasdie Bundesregierung vorschlägt, nämlich das Prinzip„One in, one out“. Das heißt, dass zukünftig bei jedemzusätzlichen Bürokratieaufwand an anderer Stelle Büro-kratie abgebaut werden muss. Wenn dies konsequentdurchgehalten wird, dann haben wir viel erreicht. Dannwird nämlich nicht mehr weiter Bürokratie aufgebaut.Wir haben schon einmal, von 2005 bis 2013, einen Büro-kratieabbau von 25 Prozent geschafft. Dieser schlägt sichnatürlich entsprechend in Zahlen nieder. Dies kommt demArbeitsmarkt und der Wirtschaft zugute.Wir müssen den Mut haben, Dinge, bei denen wirüber das Ziel hinausgeschossen sind, entsprechend zukorrigieren. In der Tat sind wir bei den Dokumentations-pflichten, die jetzt im Rahmen des Mindestlohns einge-führt wurden, über das Ziel hinausgeschossen.
Es geht nicht darum, den Mindestlohn in Höhe von8,50 Euro infrage zu stellen.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern.Mit der Einführung des Mindestlohns sind fast10 Millionen Menschen in Deutschland von Dokumen-tationspflichten betroffen. Bis zu einem Schwellenwertdes Einkommens in Höhe von 2 958 Euro muss die Ar-beitszeit in vielen Branchen minutengenau, halbstunden-genau dokumentiert werden. Dabei geht es aber nicht umden Mindestlohn; denn man müsste an 29 Tagen im Mo-nat zwölf Stunden arbeiten, um mit dem Mindestlohn2 958 Euro zu verdienen.
Es geht jetzt nicht darum, den Mindestlohn auszuhebeln,sondern es geht darum, Millionen von Menschen vonunnötiger Bürokratie zu befreien.
Ich komme zum Minijobbereich. Die Minijobs sindein Erfolg. Sie sind das größte Schwarzarbeitsbekämp-fungsprogramm, das wir in den letzten 15 Jahren ge-schaffen haben. Diese Arbeitsplätze sind zusätzlich ent-standen. Da von linker Seite vorhin gesagt wurde, dieReformen der letzten zehn Jahre hätten den Arbeitsmarktzerrüttet, muss ich Sie fragen: Wo leben Sie denn?
Heute sind 6 Millionen Menschen mehr in Lohn undBrot – vor allem in sozialversicherungspflichtigen Ar-beitsplätzen – als 2005. Das ist die höchste Beschäfti-gung, die wir jemals in der Geschichte der Bundesrepu-blik hatten: mit den höchsten Einkommen, mit dergrößten Kaufkraft und den höchsten Reallohnzuwäch-sen.
Und Sie reden davon, es würde in diesem Land unge-recht zugehen. Das ist absolut nicht nachvollziehbar.
Wir werden Wachstumsfelder für unseren Binnen-markt beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit denUSA – TTIP ist schon angesprochen worden – erschlie-ßen. Wir werden in diesem Jahr auf nationaler Ebene dieFreiräume schaffen, um den Einstieg in die Abmilderungder kalten Progression noch in dieser Legislaturperiode,nämlich 2016/2017, angehen zu können. Das sind Maß-nahmen, die den Bürgern nutzen und die Wirtschaft nachvorne bringen.
Lassen Sie mich abschließend zum Thema Europa– auch das wurde schon angesprochen – noch etwas sa-gen. Viele Länder Europas befinden sich in einerschwierigen Situation. Nicht der Euro ist in einer Krise,sondern einige Länder der Europäischen Union befindensich nach wie vor in einer Struktur- und Verschul-denskrise. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich, abersie sind vor allem hausgemacht. Darauf muss an dieserStelle hingewiesen werden. Wir sind alle solidarisch undhaben Rettungsschirme aufgespannt, um Zeit zu gewin-nen. Diese Zeit muss von den Ländern genutzt werden,um Strukturreformen vorzunehmen, die zu Wachstumund Innovationen führen. Dazu gibt es klare Vereinba-rungen. „Pacta sunt servanda“ – das gilt für alle Länderin Europa, egal wer dort regiert. Dass dieses funktio-niert, sehen wir in Irland, in Spanien und Portugal. DieMühen haben sich dort gelohnt.
Bei allem Verständnis für das, was die Menschen inGriechenland aufgrund der Reformen an Entbehrungen,Belastungen und Mühsal zu ertragen haben, muss ich sa-gen: Wenn ich die Stimmen der letzten Tage höre, habeich manchmal den Eindruck, dass Ursache und Wirkungverwechselt werden. Man kann dies mit folgender Situa-tion vergleichen: Ein Alkoholiker, der ins Krankenhauseingewiesen wird, damit sein schweres Leberleiden be-handelt wird, schimpft darüber, dass es die Schuld desArztes ist, dass er ins Krankenhaus musste und dort zu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7771
Dr. Joachim Pfeiffer
(C)
(B)
wenig Alkohol bekommt. Ich glaube, da wird manchmalUrsache und Wirkung verwechselt.
Herr Kollege Pfeiffer!
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Es ist nicht
akzeptabel, dass in einem Land Europas neu gewählte
Mitglieder einer Regierung sagen, sie wollten das vierte
Reich in die Knie zwingen und die nationale Souveräni-
tät und Würde wiederherstellen. Das ist nicht der Um-
gang, den wir im Europa der 28 im 21. Jahrhundert mit-
einander pflegen sollten.
Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt werden.
Alles hat seine Grenzen.
Insofern gilt es, in Europa Ruhe zu bewahren, Kurs zu
halten und den eingeschlagenen erfolgreichen Weg wei-
terzugehen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Schlecht
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ver-ehrter Herr Wirtschaftsminister, Sie sind am Anfang Ih-rer Rede auf Griechenland eingegangen. Ich kann über-haupt nicht verstehen, wieso Sie den Griechen eineFortsetzung Ihrer Politik vorschreiben wollen, obwohlwir mittlerweile sehen, dass diese Politik, die den Grie-chen von außen aufoktroyiert wurde, gescheitert ist.Aufgrund dieser Politik, die in den letzten vier, fünf Jah-ren dem griechischen Volk von außen aufgedrängtwurde, ist in Griechenland die Wirtschaft um ein Vierteleingebrochen, ist die Arbeitslosigkeit angestiegen, sinddie Löhne gesunken und dergleichen mehr. Ich muss dasnicht alles hier aufzählen. Im Übrigen: Ein Wirtschafts-einbruch von 25 Prozent ist historisch nur vergleichbarmit der Großen Depression zu Beginn des letzten Jahr-hunderts in den USA. Sie hat erhebliche politische Kon-sequenzen gezeitigt.Die Griechen haben sich jetzt gewehrt. Sie haben eineneue Regierung gewählt. Diese Regierung korrigiert imKern unmenschliche Maßnahmen: Sie setzt in einem ers-ten Schritt zum Beispiel den Mindestlohn von 400 Euroauf 751 Euro herauf, in den Schulen will sie entlasseneLehrer wieder einstellen, auch Putzfrauen und derglei-chen mehr. Das sind die ersten Schritte, und ich finde esmehr als begrüßenswert, dass sie jetzt von der neuen Re-gierung sehr schnell angegangen werden.
Mir ist vollkommen unverständlich, dass Sie das kriti-sieren. Ich sage noch einmal: Das ist beste sozialdemo-kratische Politik. Aber man hat sich mittlerweile darangewöhnt, dass die SPD das, was sozialdemokratischePolitik ausmacht, schon seit langem vergessen hat.
Dann sagen Sie: Sie können es gerne machen, aber dannsoll das nicht die Bevölkerung Europas bezahlen müs-sen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Ich glaube,auch Sie kennen das Programm der neuen Regierung.Syriza – das ist eine der entscheidenden Neuerungen –will zum ersten Mal etwas angehen, was sogar positiv istund was die griechischen Regierungen in den letztenJahren nicht getan haben – auch von außen wurde es dengriechischen Regierungen nie als Bedingung vorge-schrieben –, nämlich Reiche und Vermögende in Grie-chenland heranzuziehen. Das Programm, das die Regie-rung momentan auflegt und mit dem die ersten Schrittezur Linderung der größten humanitären Krise unternom-men werden, hat ein Volumen von 11 Milliarden Euro.Nach ihren eigenen Rechnungen hat Syriza es gegenfi-nanziert, indem sie Reiche und Vermögende – in Grie-chenland gibt es Reiche, die bisher von dieser Krise voll-kommen ungeschoren geblieben sind – heranzieht. Eswäre verdienstvoll gewesen, wenn in den letzten Jahrenbei den Auflagen, die von der deutschen Bundesregie-rung mittels der Troika gemacht worden sind, der grie-chischen Regierung aufoktroyiert worden wäre, die Rei-chen heranzuziehen.
Ich will noch einige Punkte zum Jahreswirtschaftsbe-richt sagen. Der wichtigste Punkt, über den überhauptnoch nicht geredet wurde, ist: Im Jahreswirtschaftsbe-richt steht, dass das glorreiche Wachstum in Höhe von1,5 Prozent in diesem Jahr erfordert, einen Außenhan-delsüberschuss von über 200 Milliarden Euro zu gene-rieren. Das heißt im Klartext – ich weiß nicht, ob es Ih-nen bewusst ist, ob Sie es vielleicht so laufen lassen undstolz darauf sind –, dass Sie eine Politik betreiben, wo-nach Deutschland einen Überschuss von 200 MilliardenEuro erwirtschaftet, der zu den 1,8 Billionen Euro Über-schuss, die seit 2000 entstanden sind, hinzukommt.Diese 1,8 Billionen Euro bzw. die neuen 200 MilliardenEuro bedeuten faktisch eine Verschuldung des Auslands,auch eine Verschuldung der anderen europäischen Part-nerländer.Auf der anderen Seite sagen Sie immer: Die müssenihre Verschuldung abbauen. Sie selbst praktizieren abereine Politik – sie heißen sie gut, sie beschreiben sie in Ih-rem Jahreswirtschaftsbericht –, die zu einer weiterenVerschuldung Europas, der Krisenländer und der übrigenWelt beiträgt. Wie sollen es die betroffenen Ländern ei-gentlich jemals schaffen, von der Neuverschuldung he-
Metadaten/Kopzeile:
7772 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Michael Schlecht
(C)
(B)
runterzukommen, wenn Deutschland eine Politik be-treibt, die zur Folge hat, dass die Binnenwirtschaft soschwach ist, dass am Ende immer wieder ein Außenhan-delsüberschuss entsteht?
Herr Kollege.
Mein letzter Satz. – Wir brauchen eine Stärkung der
Binnennachfrage, damit in Deutschland der Außenhan-
delsüberschuss endlich umgekehrt wird. Wir brauchen
Außenhandelsdefizite und eine Stärkung der Binnen-
nachfrage; denn nur so besteht die Chance, dass Ver-
schuldung abgebaut wird.
Aber ich sehe an Ihrer Reaktion:
Nein, nein, Herr Kollege, jetzt müssen Sie zum
Schluss kommen.
Die einfachsten ökonomischen Zusammenhänge sind
in diesem Hause nicht besonders verbreitet.
Danke schön.
Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Diedeutsche Wirtschaft ist in guter Verfassung“ – so lautetein Kernsatz des Jahreswirtschaftsberichts 2015.
Ein Garant dafür sind der deutsche Mittelstand und dasHandwerk. Hierzu zählen 99 Prozent der Unternehmenin Deutschland. Hier werden nicht nur die meisten Ar-beitnehmer beschäftigt, sondern auch die meisten jungenMenschen ausgebildet. Zudem findet im Mittelstandmehr als die Hälfte der Wertschöpfung statt. Dies muss,meine ich, Grund genug sein, uns speziell diesem Be-reich wirtschaftspolitisch mehr zu widmen. Dabei darfes nicht darum gehen, dass wir die besseren Unterneh-mer sein möchten, sondern es muss darum gehen, dasswir die Rahmenbedingungen mittelstandsfreundlich ge-stalten, und natürlich hängen gerade im Mittelstand vieleAufträge davon ab, wie investitionsfreudig Bund, Län-der und Kommunen sind. Deshalb ist es wichtig, dasswir mehr investieren.Der Anfang ist gemacht. Mit dem neuen EEG war un-ter anderem das Ziel verbunden, die stetig steigendenEnergiekosten zu bremsen. Dies ist nicht nur für denVerbraucher wichtig, sondern auch für kleine und mittel-ständische Unternehmen; denn in Bäckereien oder in dermittelständischen textilverarbeitenden Industrie bildendie Stromkosten einen Großteil der Herstellungskosten.Auch die Zahlungsverzugsrichtlinie konnten wir mit-telstandsfreundlich gestalten. Unternehmen haben nuneinen rechtlichen Anspruch auf eine zügige Bezahlungihrer Leistungen.
Die teilweise schlechte Zahlungsmoral von Großunter-nehmen, aber auch – das müssen wir zugeben – der öf-fentlichen Hand, haben bisher das eine oder andere klei-nere Unternehmen in Schwierigkeiten gebracht. Demtreten wir mit dem neuen Gesetz entgegen.
Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung ist dasEckpunktepapier zum Bürokratieabbau. Darin ist unteranderem vorgesehen, Start-ups und Gründer in den ers-ten drei Jahren von Berichts- und Informationspflichtenzu entlasten. Zudem sollen Anlaufstellen eingerichtetwerden, bei denen Gründer alle nötigen Formalitätenelektronisch einreichen. Damit sparen sie mehrfache An-tragstellung und somit viel Zeit. Wichtig ist aber, dass esnicht bei dem Eckpunktepapier bleibt, sondern dass dieMaßnahmen zügig – möglichst in diesem Jahr – durchpraxistaugliche Gesetze und Verordnungen umgesetztwerden.
Weitere Reformen – das wissen Sie – sind in der Pipe-line, zum Beispiel das Insolvenzanfechtungsrecht, dasgerade den Mittelstand betrifft. Nach unseren Vorstellun-gen soll die Frist verkürzt werden, in der ein Insolvenz-verwalter Zahlungen zurückfordern kann. Damit ge-währleisten wir die notwendige Planungssicherheit underhalten übliche und wichtige Geschäftspraktiken wieStundungen und Ratenzahlungen.Eine Herausforderung der nächsten Monate wird füruns die Neuregelung der Erbschaftsteuer sein. Betriebs-übergänge dürfen durch die veränderten Regelungennicht gefährdet werden.
Daher brauchen wir eine mittelstandsfreundliche Ausge-staltung. Gleiches gilt auch für das Vergaberecht. Mittel-ständische Unternehmen müssen eine reelle Chance ha-ben, bei öffentlichen Aufträgen zum Zug zu kommen.Der Jahreswirtschaftsbericht geht auf eine weitereAufgabe ein, die vor uns liegt – wir hatten das Themaheute schon –, auf den Fachkräftemangel, der sich, wennauch nicht in allen, so doch in einigen Branchen schon
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7773
Sabine Poschmann
(C)
(B)
abzeichnet. Auch diesbezüglich waren Regierung undKoalitionsfraktionen nicht untätig. Mit Investitionen inBildung, in den Kitaausbau sowie die Nach- und Weiter-qualifizierung treten wir ihm entgegen. In unserem Ko-alitionsantrag, den wir vor einem Monat hier beraten ha-ben, stellen wir zudem klar, dass der Meisterbrief für unsnicht zur Disposition steht; denn der Meisterbrief stehtfür gut ausgebildete Fachkräfte, die Deutschland braucht,um nachhaltig, innovativ und wettbewerbsfähig zu sein.
Wir müssen in diesem Zusammenhang aber auch da-für sorgen, dass akademische und nichtakademische Bil-dung gleichgesetzt werden. Das Aufstiegsfortbildungs-gesetz bzw. das sogenannte Meister-BAföG muss daherreformiert werden. Wir müssen stärkere Anreize fürWeiterbildung setzen, aber wir müssen auch bestehendeUngleichheiten auflösen. Die Streichung der Studienge-bühren muss eine Entlastung bei der Fortbildung fürMeister und Techniker nach sich ziehen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Katharina
Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
– Extra langsam für Sie! – Für Herrn Pfeiffer sprecheich extra langsam.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, Sie ha-ben gestern im Wirtschaftsausschuss ein Bild benutzt,das mir eigentlich ganz gut gefallen hat und das ich Ih-nen deshalb heute klauen möchte. Sie haben gesagt, dassdie EZB, dass Mario Draghi in der europäischen Wirt-schaftspolitik, im Kampf gegen die erschreckende Preis-entwicklung in Europa, im Kampf gegen sinkende Preisezum Last Man Standing in Europa geworden ist. Ichmuss Ihnen sagen: Das stimmt. Wenn die EZB ihr letztesgeldpolitisches Instrument einsetzt und Staatsanleihenankauft, dann macht sie das nicht, weil sie das super fin-det, sondern weil sonst wirklich niemand in Europa et-was Wirksames gegen die Deflationstendenzen, gegendie Gefahr dauerhaft stagnierender oder sogar fallenderPreise und gegen eine dauerhafte Lähmung der Kon-junktur tut.
Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich finde es richtig,dass Sie diese Situation mit Besorgnis betrachten, wieSie das gestern im Wirtschaftsausschuss gesagt haben.Wir können wirklich nur hoffen, dass die Maßnahmender EZB wirken und Europa nicht in eine Deflationrutscht.Erstaunlich finde ich aber, dass solche Worte von derBundesregierung kommen; denn in diesem Spiel sindSie einer der Akteure, die Mario Draghi in seiner Politikunterstützen könnten. Wenn Mario Draghi der Last ManStanding ist, dann frage ich: Warum stellt sich die Bun-desregierung nicht einfach neben ihn?
Sie könnten – das wäre dringend notwendig – eine aktiveFiskalpolitik betreiben. Aber statt eine starke Rolle inEuropa einzunehmen, statt als deutsche Bundesregie-rung voranzugehen, bleiben Sie auf Ihrer Insel sitzenund ignorieren die Mahnungen und die Forderungennach mehr Investitionen.Jetzt hat Herr Juncker einen ersten Vorschlag für ei-nen Europäischen Investitionsfonds vorgelegt. Das isterst einmal eine Chance für uns in Europa, darüber zudiskutieren, dass Investitionen in Europa notwendigsind. Doch statt dafür zu sorgen, dass in den BereichenForschung, Bildung und Klimaschutz europäische Pro-jekte finanziert werden, statt Vorschläge für eine ver-nünftige Wirtschaftspolitik, für die Bekämpfung vonSteuerflucht, für den Abbau umweltschädlicher Investi-tionen und für nachhaltige Investitionen zu unterbreiten,statt Geld in die Hand zu nehmen, mit dem der Europäi-sche Investitionsfonds wirklich unterstützt werdenkönnte, statt dafür zu kämpfen, dass die Mittel in dieLänder fließen, in denen sie wirklich gebraucht werden,statt dafür zu sorgen, dass es öffentliche Investitionengibt, schicken Sie auf die Schnelle eine merkwürdige90-Milliarden-Euro-Liste nach Brüssel – ohne Plan undohne roten Faden –, die Ihnen selbst gestern im Aus-schuss so peinlich war, dass Sie sie uns nicht erklärenwollten.
Jetzt zum Thema TTIP, weil das in der Debatte einegroße Rolle gespielt hat.
Ich erwarte von Ihnen als Bundesregierung schon, dassSie nicht einfach so, aus Angst vor der Konkurrenz ausChina oder anderen asiatischen Ländern in ein Handels-abkommen stolpern, das Sie nicht gestalten können undfür das Sie keinen Plan haben.
Ihr Auftritt hier im Bundestag hat mit Gestalten ebensowenig etwas zu tun, wie Ihre Wirtschaftspolitik etwasmit Zukunft zu tun hat.
Sie stolpern seit einem Jahr durch das Parlament undversprechen uns, dass Sie die Standards schützen wollen.Sie wissen aber nicht, wie. Sie sagen, dass Sie Probleme
Metadaten/Kopzeile:
7774 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Katharina Dröge
(C)
(B)
mit dem Investitionsschutzabkommen haben – die einenmehr, die anderen weniger. Sie wollen das irgendwiegerne raushaben, wissen aber nicht, wie Sie das hinkrie-gen können. Sie, liebe CDU/CSU, wollen die Bürgerin-nen und Bürger von einem Projekt überzeugen, indemIhre Kollegen hier im Deutschen Bundestag die Bürger,die sich beteiligen, die kritische Stellungnahmen abge-ben, als Empörungsindustrie beschimpfen. Ich sage Ih-nen: Viel Glück mit dieser Politik.
Liebe Bundesregierung, statt sich aus Angst vor ei-nem drohenden Verlust der deutschen Wettbewerbsfä-higkeit in ein Handelsabkommen zu flüchten, das Sienicht gestalten können und für das Sie auch keinen Planhaben, sollten Sie die Chance nutzen, die deutsche Wirt-schaft und den internationalen Handel tatsächlich zu-kunftsfähig zu gestalten.
Wenn Sie die Förderung erneuerbarer Energien oderden Klimaschutz als Priorität definieren würden, dannwürden Sie etwas für die Wettbewerbsfähigkeit des deut-schen Standortes tun. Wenn Sie in die Infrastruktur in-vestieren würden, die in diesem Land verrottet, dannwürden Sie etwas für die Zukunft Deutschlands tun.Wenn Sie endlich genug Geld für Bildung und für dieBetreuung von Kindern in die Hand nehmen würden,dann würden Sie Deutschland zukunftsfähig machen.All das tun Sie nicht.
Auf internationaler Ebene machen Sie dies auch nicht.Statt sich für vernünftige Klimaschutzziele einzusetzen,statt sich für die Einhaltung von Menschenrechtsstan-dards oder für die Zertifizierung von ILO-Kernarbeits-normen einzusetzen, verhandeln Sie Handelsabkommen,die sich einseitig auf Deregulierung, auf den Abbau vonStandards und auf Investitionsschutzabkommen konzen-trieren. Das alles ist keine vernünftige zukunftsfähigePolitik, weder in Deutschland noch in Europa. Da habenSie Ihren eigenen Arbeitsauftrag einfach verfehlt.
Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben gerade überlegt, Frau Dröge, wenn HerrKrischer der Pinocchio ist, was dann die weibliche Formwäre. Wir sind auf Pinocchia gekommen. Diese Diskus-sion können wir ja beizeiten noch vertiefen.
86 Prozent der Deutschen blicken laut einer Studieoptimistisch in die Zukunft. Schaut man sich die Zahlender wirtschaftlichen Entwicklung an, dann sieht man,dass die Menschen in Deutschland zu Recht optimistischsind. Doch die größte Gefahr für die Zukunft ist be-kanntlich der Erfolg der Gegenwart. Wir müssen alsojetzt die Grundlagen für eine langfristig positive wirt-schaftliche Entwicklung legen. Die Investitionen vonheute sind das Fundament für Wachstum, Wohlstand undArbeitsplätze von morgen.
Deshalb trägt der Jahreswirtschaftsbericht nicht grund-los den Titel: Investieren in Deutschlands und EuropasZukunft. Die deutsche Wirtschaft konnte den zahlrei-chen geopolitischen Krisen des vergangenen Jahres trot-zen und stieg real um 1,5 Prozent. Die Prognose für diewirtschaftliche Entwicklung ist weiter positiv. Dazu trägtauch der gesunkene Rohölpreis bei, der voraussichtlichfür Einsparungen von rund 30 Milliarden Euro sorgenwird. Auch deshalb erhöht die Bundesregierung ihreWachstumsprognose für 2015 auf 1,5 Prozent. Deutsch-land ist damit weiter der Stabilitätsanker in Europa.Die Zahl der Beschäftigten steigt 2015 vermutlich um170 000. Damit stehen wir vor einem erneuten Beschäf-tigungsrekord. 2015 werden 42,8 Millionen Menschenerwerbstätig sein, so viele wie noch nie in der Ge-schichte der Bundesrepublik. Vor allem gilt es dabei zubetonen, dass auch die Zahl der sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in der letzten De-kade angestiegen ist. Mehr als 3,5 Millionen Menschenhaben seit 2005 einen sozialversicherungspflichtigen Ar-beitsplatz angenommen. Auf diese Entwicklung könnenwir stolz sein.
Besonders stark stieg der Anteil der Beschäftigungvon ausländischen Mitbürgern. Diese trugen im letztenJahr zu annähernd 40 Prozent des Beschäftigungswachs-tums bei. Die Bekämpfung von Missbrauch beim Bezugvon Sozialleistungen durch EU-Ausländer in Deutsch-land bleibt jedoch gerade auch deshalb richtig.Ebenso wichtig ist das Bekenntnis zu einem flexiblenArbeitsmarkt. Trotz der hohen Flexibilität unseres Arbeits-marktes stieg das Vertrauen in die Jobsicherheit auf einRekordniveau. 91 Prozent halten ihren Arbeitsplatz fürsicher. Flexibilität und Vertrauen müssen also kein Ge-gensatz sein. Mit einem Bruttolohnzuwachs von 3,2 Pro-zent und einem Reallohnzuwachs von 1,6 Prozent habenwir den größten Lohnzuwachs seit 2010. Die Lohnent-wicklung trägt so wesentlich zu einem höheren Binnen-konsum bei.Bei der letzten Vorstellung des Jahreswirtschaftsbe-richts, des Jahreswirtschaftsberichts 2014 im letztenJahr, meinte der Bundeswirtschaftsminister noch, man
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7775
Dr. Andreas Lenz
(C)
(B)
müsse bei der Lohnentwicklung die Produktivität beach-ten. „Verkehrte Welt“ titelten damals die Zeitungen.Diese Feststellung ist schlicht richtig. Wir übernehmenin diesem Jahr gerne den Hinweis, dass die Lohnstück-kosten moderat steigen und wir diese Entwicklung hin-sichtlich der Wettbewerbsfähigkeit beobachten müssen.Allerdings sind wir uns auch hier einig. Das haben wirgestern im Ausschuss schon besprochen. Jetzt müssenwir nur noch die Opposition davon überzeugen.
Dann sind wir schon ein Stück weiter.Um Wohlstand und Beschäftigung zu sichern, brau-chen wir Investitionen in die Zukunft. Hierzu tragen dieverstärkten Investitionen des Bundes in die öffentlicheInfrastruktur bei. Tausende Kilometer Straßen, Schienenund Wasserwege werden schwerpunktmäßig instand ge-halten und verbessert. In den Jahren 2014 bis 2017 stelltder Bund insgesamt 5 Milliarden Euro zusätzlich für denErhalt und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zurVerfügung. Allein für 2015 haben wir den Verkehrshaus-halt um weitere 410 Millionen Euro erhöht. Ja, FrauAndreae, auch die Pkw-Maut wird zur stärkeren Nutzer-finanzierung der Verkehrsinfrastruktur beitragen; auchdarauf können wir stolz sein.
Von 2016 bis 2018 stellt der Bund zusätzliche Mittelin Höhe von 10 Milliarden Euro für weitere Investitio-nen zur Verfügung. Diese müssen zielgerichtet in nach-haltige Wohlstandstreiber investiert werden. Dazugehören vor allem Investitionen in Infrastruktur, Ener-gieeffizienz und Digitalisierung. Auch Formen der öf-fentlich-privaten Partnerschaften sollten nicht verteufeltwerden. Dabei muss natürlich ein Rahmen geschaffenwerden, der langfristige Rechtssicherheit für beide Ver-tragsparteien gewährleistet.
Auch die Unternehmen sind gefordert. Es geht amEnde um mehr Investitionen für mehr Wettbewerbsfä-higkeit. Es nutzt insgesamt jedoch wenig, durch kon-krete Maßnahmen private Investitionen zu fördern, wennUnternehmen Zweifel an der grundsätzlichen Ausrich-tung der Wirtschaftspolitik haben. Auch deshalb ist eswichtig, eine unternehmensfreundliche Regelung imHinblick auf die anstehende Änderung bei der Erbschaft-steuer zu treffen, und dies möglichst ohne bürokrati-schen Mehraufwand. Die Aufzeichnungspflichten beider Umsetzung des Mindestlohns – wir haben das vorhinschon gehört – schießen in vielen Fällen über das Zielhinaus. Ich danke dem Minister, dass er einer Überprü-fung zustimmt. Wir dürfen unsere Unternehmer nichtunter staatlichen Generalverdacht stellen.
Genauso wichtig wie der Bürokratieabbau ist es, dasswir keine neue Bürokratie aufbauen.
Das gilt für Pläne hinsichtlich einer Anti-Stress-Verord-nung, die abzulehnen sind, genauso wie für die anste-hende Arbeitsstättenverordnung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir inBildung, insbesondere in die berufliche Bildung, inves-tieren, dann sind auch dies Zukunftsinvestitionen. Einesolide Fachkräftebasis ist die Grundlage für Wachstumund Investitionen. Eine Ausbildung ist dabei nichtschlechter als ein Studium; das kann man nicht oft genugbetonen. Unser betriebliches Ausbildungssystem ist je-dem anderen Ausbildungssystem überlegen. Die Ausbil-dungsinhalte richten sich nach dem betrieblichen Bedarf.Was vermittelt wird, wird auch gebraucht. In Anbetrachtder demografischen Entwicklung dürfen wir auf keinenSchulabgänger verzichten. Jeder Mensch ist uns wichtig.
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag eine Ausbil-dungsgarantie für jeden Jugendlichen abgegeben. Diesewird im Rahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildungeingelöst. Die renditestärksten Investitionen sind im Be-reich der Innovation, der Digitalisierung und der Hoch-technologie zu erwarten. Deshalb ist es wichtig, denRahmen für Unternehmensgründungen weiter zu stär-ken. Wir müssen durch gezielte Förderung von Wagnis-kapital Wachstumsfinanzierungen ermöglichen.Der ausgeglichene Haushalt 2015 bzw. schon 2014 isteine historische Leistung. Langfristig entstehen so Spiel-räume für mehr staatliche Investitionen. Darüber hinauswerden die Länder und Kommunen entlastet. So werdenauch deren Investitionsspielräume erhöht. Der ausgegli-chene Haushalt ist ein Beitrag zu einer generationenge-rechten Politik.Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen bedürfen einerNeuregelung. In diesem Zusammenhang gilt es, auchden Länderfinanzausgleich in einer Weise zu ändern,dass die richtigen Anreize für mehr Eigenverantwortunggesetzt werden.Steuervereinfachung bleibt ein Dauerthema. Wün-schenswert wäre dabei auch eine Steuerstrukturreform.Es ist zu begrüßen, dass im Jahreswirtschaftsbericht erst-malig das Ziel des Abbaus der kalten Progression ge-nannt wird. Ziel muss es sein, dass wir hier noch in die-ser Legislaturperiode Fortschritte erzielen.Die Unternehmen brauchen einen berechenbarenRahmen hinsichtlich der Entwicklung der Energiepreise.Maßstab ist das energiepolitische Dreieck einer umwelt-verträglichen, sicheren, aber eben auch bezahlbarenEnergieversorgung. Das neue Strommarktdesign wird inpuncto Versorgungssicherheit einen entscheidendenSchritt bringen. Wir sollten hier Mut zu marktwirtschaft-lichen Ansätzen zeigen.
Metadaten/Kopzeile:
7776 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Andreas Lenz
(C)
(B)
Für den Wohlstand und die Lebensqualität derMenschen in Deutschland und Europa ist nicht nurein dynamisches Wachstum des Bruttoinlandspro-dukts entscheidend, sondern auch gesellschaftlicherZusammenhalt und eine nachhaltige Entwicklung,heißt es treffend im Jahreswirtschaftsbericht.Die geopolitischen Krisenherde bergen erhebliche Ri-siken, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ebenso treibtdie Menschen die Frage nach der Stabilität unserer Wäh-rung um. Auch deshalb müssen die Strukturreformen inden Krisenländern weitergehen. Gleichzeitig müssen wirdie europäischen Strukturen stärken, und zwar mehrdenn je. Es gilt, den Blick in die Zukunft zu richten.Ludwig Erhard sagte: Den Wohlstand zu bewahren, istnoch schwerer, als ihn zu erwerben. – Mit dem Jahres-wirtschaftsbericht schaffen wir die Basis dafür, die He-rausforderungen der Zukunft zu meistern. Packen wir’san!Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt das
Wort Dirk Becker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich mich
mit dem Kernthema befasse, möchte ich doch noch mal
ganz kurz auf den Kollegen Schlecht eingehen. Herr
Schlecht – wenn Sie mir kurz zuhören könnten, wäre das
nett –, Sie haben sich in der Debatte zweimal veranlasst
gesehen, die Sozialdemokraten an ihre Werte zu erin-
nern, haben uns vorgeworfen, dass wir unsere Werte teil-
weise verloren hätten. Wenn ich mir angucke, mit wel-
chen Argumenten Sie zu relativieren versuchen, was da
in Griechenland passiert, kann ich Ihnen als Beispiel für
unsere sozialdemokratischen Werte nur mit auf den Weg
geben: Als eine unserer Schwesterparteien mit Rechten
eine Koalition gebildet hat, haben wir sie aus der euro-
päischen Familie der Sozialdemokraten ausgeschlossen.
Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen! Oder sind
Sie auf dem rechten Auge blind?
– Wir können das gleich diskutieren.
Ich möchte zum Jahreswirtschaftsbericht kommen.
Ich danke dem Wirtschaftsminister, der heute – ich
glaube, für uns alle – klargemacht hat, was die Gründe
für diese robuste wirtschaftliche Situation sind, aber
auch auf die Risiken und auf die Herausforderungen hin-
gewiesen hat. Ich will nur vier Punkte im Kontext der
letzten zehn Jahre erwähnen:
Da wären die Arbeitsmarktreformen, die gerade für
Sozialdemokraten schwierig waren, die auch teilweise
fehlerbehaftet waren. Es gibt Fehler, die wir korrigiert
haben, und Fehler, die wir aktuell noch korrigieren.
Wir haben in Zeiten der letzten Großen Koalition, als
wir in der Wirtschaftskrise waren, reagiert: Wir haben
investiert. Wir haben dem Arbeitsmarkt durch die Ver-
längerung des Bezugs von Kurzarbeitergeld wichtige
Impulse gegeben.
Wir haben im Weiteren eine Konsolidierung des
Staatshaushaltes vorangetrieben; wir haben jetzt eine
Basis, auf der wir aufbauen können.
Wir haben aber auch die Nachfrage gestärkt. Wir ha-
ben erkannt: Ja, die Binnennachfrage muss gestärkt wer-
den. Wir haben das durch bessere Lohnabschlüsse, aber
auch durch den Mindestlohn und eine entsprechende
Rentenpolitik hinbekommen.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten immer voraus-
schauend betrachtet: Wie müssen wir Deutschland auf-
stellen, um weiter erfolgreich wirtschaften zu können?
Ich will auf ein paar Bereiche eingehen – einige sind
schon angeklungen –, die diese Große Koalition in den
nächsten Jahren beschäftigen werden, wo wir die Wei-
chen für die Zukunft stellen wollen:
Dass die Investitionstätigkeit mangelhaft ist, ist mehr-
fach angeklungen. Herr Minister, ich danke Ihnen und
auch dem Finanzminister, dass Sie nun gemeinsam dabei
sind, bis, ich glaube, Ende März in einer Arbeitsgruppe
Vorschläge zu diesem Bereich zu erarbeiten. Wir werden
uns damit auseinandersetzen. Das ist ein wichtiges
Signal für die Kommunen. Wir wissen schließlich: Der
wichtigste Investitionsbereich sind die Kommunen. –
Wir werden die Rahmenbedingungen dafür schaffen,
dass die Investitionsmöglichkeiten der Kommunen ge-
stärkt werden.
Herr Kollege Becker, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Liebich
von der Fraktion Die Linke?
Bitte.
Bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7777
(C)
(B)
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen-
frage zulassen. – Ich verstehe, dass Fragen an die neue
griechische Koalition gerichtet werden, weil das ja keine
Selbstverständlichkeit ist.
Ich habe da keine Fragen.
Ja. – Sie haben dazu ja eine klare Haltung formuliert,
die allerdings nicht auf dem Blick in die eigene Vergan-
genheit basiert. Es war ja die Pasok, also Ihr sozialdemo-
kratischer Partner, die im griechischen Kabinett im Jahr
2012 mit der Partei Laos – einer rechtspopulistischen,
zum Teil sogar ultrarechten Partei – zusammen regiert
hat. Das heißt, diese Diskussionen, die wir hier führen
müssen, die wir auch führen, sollten Sie nicht vom ho-
hen Ross herunter führen.
Mache ich auch nicht.
Vielmehr sollten Sie sich Ihre eigene Geschichte in
Griechenland anschauen. Da gäbe es eine ganze Menge
zu sagen. Aber diesen Aspekt wollte ich hier wenigstens
hinzugefügt haben.
Herr Kollege Liebich, erwarten Sie eine Antwort?
Ja, bitte.
Dann bleiben Sie bitte stehen. – Bitte schön.
Herr Liebich, ich habe Folgendes getan: Herr
Schlecht hat hier versucht, an unsere Werte zu erinnern.
Und ein Grundwert der Sozialdemokratie ist, dass wir
Rechtspopulisten in unserer Geschichte immer eine Ab-
sage erteilt haben.
Meine Frage war nur noch: Was haben Sie unternom-
men? Haben Sie mit Ihren griechischen Brüdern und
Schwestern einmal gesprochen, haben gesagt: „Leute,
das ist ein Problem“?
Die Aussage, die Herr Ernst gemacht hat, war nur:
Sonst hätte es Neuwahlen geben müssen. – Ich finde, das
ist ein relativ schwaches Argument.
Wir wollen jetzt weiter über den Jahreswirtschaftsbe-
richt reden
und über die Frage: Wie geht es in diesem Land weiter?
Ich habe die Investitionen angesprochen. Das zweite
Thema ist: Wie sichern wir, dass hinreichend qualifi-
zierte Beschäftigte für unsere Unternehmen zur Verfü-
gung stehen? Denn anders als die Linkspartei wünschen
wir uns kein Außenhandelsdefizit, sondern wir wissen:
Eine Stärke der deutschen Unternehmen, der deutschen
Industrie, ist der Außenhandel. Von daher, Herr
Schlecht: Wir sehen es anders, und daher wollen wir
auch in bessere Bildung und in Arbeitskräfte investieren.
Das heißt aber auch, dass wir – wie schon in den letzten
Jahren; der Kollege Lenz hat das eben angesprochen –
Zuwanderung brauchen, diese Menschen qualifizieren
müssen, um bei den Arbeitskräften unsere Möglichkei-
ten zu erhalten.
Ich finde es ganz interessant für die Debatte: Wenn
man sich die Zahlen anguckt, muss man zur Kenntnis
nehmen, dass auch die sozialen Sicherungssysteme in
unserem Land von der Zuwanderung profitiert haben.
Wir haben auch unsere sozialen Sicherungssysteme
durch Zuwanderung zukunftsfest gemacht.
Lieber Herr Kollege Becker, darf ich noch einmal un-
terbrechen? Der Herr Kollege Schlecht würde Ihnen
gern noch eine Frage stellen.
Nein, wenn es wieder um Griechenland geht. Ich rede
jetzt zum Jahreswirtschaftsbericht weiter.
Nein, nein, zur Wirtschaft, hat er gesagt, nicht zu
Griechenland.
Wenn er zum Wirtschaftsthema fragt, dann lasse ich
es zu.
Bitte schön, Herr Kollege Schlecht.
Metadaten/Kopzeile:
7778 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
(C)
(B)
Das finde ich jetzt sehr nett, dass Sie mir die Zwi-
schenfrage ermöglichen. – Sie sprachen eben über das
Problem des Außenhandelsüberschusses oder des Au-
ßenhandelsdefizits. Ich will Sie noch einmal darauf hin-
weisen: Deutschland erzielt ungefähr seit dem Jahr 2000
Jahr für Jahr einen Außenhandelsüberschuss. Deutsch-
land verkauft dem Rest der Welt jedes Jahr mehr Waren
und Dienstleistungen, als Deutschland aus dem Ausland
kauft.
Mit dem voraussichtlichen Außenhandelsüberschuss von
200 Milliarden Euro in diesem Jahr werden wir am Ende
dieses Jahres kumuliert – also aufsummiert seit 2000 –
einen Außenhandelsüberschuss von 2 Billionen Euro ha-
ben. Das heißt, wenn Deutschland in diesen 15 Jahren im
Ausland für 2 Billionen Euro mehr verkauft, als es von
denen kauft: Womit sollen die denn unseren Überschuss
überhaupt bezahlen? Sind Sie denn mit mir nicht einer
Meinung, dass das Ausland diesen Überschuss nur mit
einer permanenten Verschuldung bei uns überhaupt be-
zahlen kann? Glauben Sie, dass ein derartiges Außen-
handelsungleichgewicht langfristig wirklich störungsfrei
bleiben kann?
Wenn Sie mir dann antworten, würde ich Sie zuvor
gern noch an das Stabilitätsgesetz von 1968 – glaube ich –
von Karl Schiller
– oder von 1967 – erinnern, in dem festgelegt wurde,
dass wir auf längere Sicht ein Außenhandelsgleichge-
wicht brauchen. Wir sollten also nicht über 15 Jahre be-
ständige Überschüsse von – ich sage es noch einmal –
2 Billionen Euro auflaufen lassen. Das ist ja ein Betrag,
den sich kaum jemand vorstellen kann.
Danke schön.
Herr Schlecht, ich habe ein einigermaßen gutes Ge-
dächtnis. Eine ähnliche Frage haben Sie dem Wirt-
schaftsminister vor ungefähr einem Jahr im Wirtschafts-
ausschuss gestellt. Der Wirtschaftsminister hat damals
gesagt: Ja, wir wollen die Binnennachfrage, bei der wir
Defizite haben, stärken, die Nachfrage im Inland also
voranbringen.
Das haben wir geschafft.
Er hat auch gesagt, dass wir natürlich auch darauf achten
müssen, dass wir den Überschuss, den wir nach wie vor
haben, nicht ausufern lassen, und dass wir verantwor-
tungsvoll damit umgehen.
Aber noch einmal: Wir sind nicht in einer weltweiten
Planwirtschaft. Es gibt eine starke Nachfrage nach deut-
schen Produkten, und das ist eine Stärke unseres Landes.
Nur wenn die Wirtschaft erfolgreich ist, haben wir das
Geld, um das zu finanzieren, was auch Sie von uns for-
dern. Man kann nicht das eine nicht wollen und alles an-
dere fordern.
Wir wollen dafür sorgen, dass Deutschland als Exportna-
tion erfolgreich bleibt, damit die Menschen in diesem
Land Arbeit haben.
Zurück zu den Herausforderungen. Neben den Fach-
kräften – ich habe das eben angesprochen – und den In-
vestitionen müssen wir uns auch Gedanken darüber ma-
chen, wie wir die Versorgung der deutschen Industrie
mit Ressourcen in Zukunft sicherstellen können. Wir
kennen die Probleme – Stichworte: Ressourcenverant-
wortung und Ressourcenverwertung. Ich denke, wir ha-
ben hier wichtige Dinge zu regeln.
Aufgrund der Zeit kann ich nur noch einen letzten
Punkt kurz ansprechen: Wir wollen unter Beweis stellen,
dass in einem Industrieland eine Energiewende möglich
ist. Von daher ist der Bundeswirtschaftsminister dabei,
diese Energiewende mit Augenmaß zum Ziel zu führen
und bis 2050 umzusetzen,
ohne dass wir die Stärke der deutschen Wirtschaft in Ge-
fahr bringen. So und nicht anders sieht eine verantwor-
tungsvolle Wirtschaftspolitik aus.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält
jetzt der Kollege Andreas Lämmel das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken undvon den Grünen, es ist Mist, wenn man in der Opposi-tion sitzt. Selbst bei besten Wirtschaftsdaten muss mandie Regierung irgendwie kritisieren und an allen Dingenherumnörgeln, die überhaupt gar keinen Grund dafür ge-ben. Das tut mir zwar sehr leid, aber das ist nun einmal
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7779
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
Ihre Rolle. Man kann hier auch nichts anderes erwarten;das wissen wir ja. Wir haben das auch gestern im Aus-schuss schon erlebt. Dort mussten wir einiges über unsergehen lassen.
Herr Schlecht, Ihr Name ist Programm.
Wenn man Ihre Reden hört, dann wird einem schlecht.
Dazu nur eines: Sie haben die neue griechische Regie-rung so gelobt, weil sie Lehrer einstellt, Tausende Be-amte zurückholen will und weitere Großtaten plant. Ei-nes haben Sie aber nicht beantwortet, nämlich die Frage,woher das Geld dafür kommen soll. Sie arbeiten ja nichtumsonst.Aber ich kann Ihnen da einen Tipp geben, wissen Sie?Am besten reden Sie noch einmal mit Ihrem KollegenGysi. Er soll wissen, wohin das ganze SED-Vermögenverschwunden ist.
Das könnten Sie Ihren Genossinnen und Genossen inGriechenland doch zur Verfügung stellen. Damit könn-ten sie diese Leistungen auch bezahlen.
Sie können aber nicht davon ausgehen, dass der deutscheSteuerzahler das bezahlen wird, was Sie vorschlagenund wozu Sie sagen: Es ist wunderbar, dass die neue Re-gierung Griechenlands genau das tut.
Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbe-richt hat ja eigentlich zwei Funktionen: Zum einen wirdnoch einmal auf die wirtschaftliche Lage zurückgeblickt,zum anderen wird ein Ausblick auf das gegeben, was dieRegierung in den nächsten Monaten beabsichtigt, zu tun,um die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland vo-ranzubringen.Von den Oppositionsrednern habe ich überhauptnichts dazu gehört, wie sie die Maßnahmen der Bundes-regierung einschätzen.
Wahrscheinlich ist Ihnen entgangen, dass es zu dem Jah-reswirtschaftsbericht noch den Anhang „Maßnahmender Bundesregierung“ gibt. Darauf sind Sie überhauptnicht eingegangen. Daraus muss ich schließen, dass Siebei Ihrem Studium des Jahreswirtschaftsberichts nur biszur Seite 10 gekommen sind.Auf diese Maßnahmen möchte ich noch eingehen,weil sie die Grundlage für den zukünftigen ErfolgDeutschlands sein werden:In diesem Maßnahmenkatalog finden sich zwei The-men sehr stark wieder: Das eine Thema ist Digitalisie-rung; darauf ist heute schon verschiedentlich eingegan-gen worden. Die Digitalisierung der Wirtschaft, abergenauso die Digitalisierung der Verwaltung sind fürmich genau die Felder, auf denen sich der zukünftige Er-folg Deutschlands entscheiden wird.Schauen wir uns das einmal an: Wir haben in den letz-ten Jahren große Projekte auf den Weg gebracht. EinStichwort ist die Gesundheitskarte. Das Verfahren läuftbis heute noch nicht reibungslos.
Wir haben als anderes großes Projekt den elektronischenPersonalausweis eingeführt. Mit den vielen Funktionen,die dieser Personalausweis haben sollte, sollten eine Ver-einfachung und eine Digitalisierung von Verwaltungs-vorgängen einhergehen.Diese großen Projekte, die mit großen Hoffnungenverbunden waren, wurden zumindest bisher nicht zu ei-nem erfolgreichen Abschluss gebracht. Das darf natür-lich bei den weiteren Projekten der Digitalisierung nichtpassieren. So wie die Projekte vorangehen, ist das ein-fach zu langsam. Ich nenne hier das Stichwort „Störer-haftung bei öffentlichen WLAN-Netzen“. Es ist dochkein Zustand, dass wir schon seit Jahren über das Themadiskutieren und die Nutzung der öffentlichen WLAN-Netze blockiert wird.
– Ihre Ideen lassen wir einmal außen vor.
Sie wollen ja immer noch, dass andere die Kommunika-tion in öffentlichen WLAN-Netzen mithören. Das wol-len wir nicht.
Noch einmal: Wir müssen jetzt sehen, dass wir dieseProzesse beschleunigen. Dass wir das können und dasswir solche Projekte gut voranbringen können, zeigt sichbei der Versteigerung der Frequenzen für das mobile In-ternet, die wir am Montag beschlossen haben. Hier istDeutschland spitze. Hieraus entstehen viele neue Ge-schäftsmodelle und viele neue Ideen für die Neugrün-dungen von Firmen. Deswegen müssen die Digitalisie-rung der Volkswirtschaft und die Digitalisierung derVerwaltung im Vordergrund unserer Überlegungen ste-hen.Das zweite Thema, das heute kurz in verschiedenenFacetten angesprochen wurde, ist die Außenwirtschaft.Wir sind Exportweltmeister. Wenn man es auf das Volu-
Metadaten/Kopzeile:
7780 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
men umrechnet, werden wir manchmal von China über-holt. Wenn man es aber auf die Exportleistung pro Kopfder Bevölkerung umrechnet, dann sieht man: Deutsch-land ist eindeutig Exportweltmeister.Dadurch sind wir aber auch von großen Absatzgebie-ten abhängig. Natürlich sind China und andere asiatischeLänder ein großer Markt für deutsche Firmen. Wenn inChina die Konjunktur schwächelt, dann schwächelt beiuns der Export. Wir müssen also neue Exportmärkte er-schließen.
Ich denke zum Beispiel an einen Kontinent, der in derwirtschaftlichen Debatte fast völlig vergessen wird:Afrika. Wir müssen uns in den nächsten Jahren verstärktanstrengen, die wirtschaftlichen Märkte in Afrika zu er-schließen. Ich weiß ganz genau, dass das nicht so einfachist, dass das viel Mühe kostet und dass die Bedingungenin vielen afrikanischen Staaten nicht optimal sind. Aberletztendlich müssen wir versuchen, beim Außenhandel,bei der Außenwirtschaft zu diversifizieren, um nicht voneinem Markt abhängig zu werden.Ich komme noch auf das Thema TTIP. In der gestri-gen Sitzung des Ausschusses haben die Grünen und dieLinken wieder eine Glanzvorstellung gegeben.
Wir hatten heute früh vor der Debatte hier im DeutschenBundestag ein Gespräch mit einem mittelständischenUnternehmer, der uns eindeutig klargemacht hat, wie erdie Sache mit seinen Exporten in die USA sieht. UnserKollege Ernst war mit auf der Reise nach Kanada. Auchvon der SPD waren Kollegen dabei. Wir haben zusam-men Firmen besucht. Dass Sie trotz allem und obwohlSie wissen, dass dieses Freihandelsabkommen für denMittelstand sehr wichtig ist, dass Sie also trotz besserenWissens immer nur ihre Ideologie verkaufen, kann icheinfach nicht nachvollziehen.
Wir brauchen ein Freihandelsabkommen. Wir brauchenfür beide großen Wirtschaftsräume, für die VereinigtenStaaten und für Europa,
die Annäherung von Standards und von Prüfverfahren,ganz einfach deshalb, um Export überhaupt zu ermögli-chen.
Reden Sie doch einmal mit deutschen Mittelständlern,warum sie ihre Exportchancen in den USA jetzt nichtnutzen. Das hängt genau an den Dingen, die jetzt imRahmen von TTIP verhandelt werden.
Deswegen wollen wir, dass die Verhandlungen erfolg-reich sind.Ein letzter Punkt zum Thema Außenwirtschaft. Ichmeine die Sanktionen – darüber haben wir auch gesternim Ausschuss kurz diskutiert – gegen Russland.Wir sind uns darüber klar: Solange von russischerSeite keinerlei Zeichen zu einer Entspannung in derUkraine kommt, werden die Sanktionen beibehalten.Aber Sanktionen sind immer eine Einschränkung vonfreiem Handel. Auch wenn die Sanktionen gegen Russ-land für Gesamtdeutschland nicht so einschneidend sind:Ich komme aus Sachsen;
da ist die Lage schon ganz anders.Deswegen muss man, wenn man Sanktionen be-schließt, auch immer bedenken, wie man wieder aus denSanktionen herauskommt. Das ist für mich noch eine of-fene Frage, über die diskutiert werden muss. Auch dieVerschärfung von Sanktionen erfordert eine Diskussiondarüber, gegen wen die Sanktionen gerichtet sind, werdamit getroffen werden soll und wie man sie effizientanwenden kann.Zusammenfassend ist festzuhalten: Der Jahreswirt-schaftsbericht zeigt die positive Entwicklung der deut-schen Wirtschaft auf, und er zeigt eindeutig, dass dieBundesregierung mit ihrem Maßnahmenpaket auf einemhervorragenden Weg ist, um diese Entwicklung auch inZukunft positiv zu begleiten.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, man kann, ohne in Schwarzmalerei zu verfal-len, feststellen, dass die Lage in Europa in dieser Wochekomplizierter geworden ist, nicht weil wir das Wahler-gebnis bedauerten; ich jedenfalls tue das nicht. Die Ab-wahl der beiden Parteien, die die Regierung gestellthaben, ist aus Sicht der griechischen Bevölkerung nach-vollziehbar. Aber was uns dieses Wahlergebnis bescherthat, wirkt sich in verschiedene Richtungen aus – dassieht man ja auch in der Debatte über Sanktionen –, unddas in einer Situation, in der die Europäische Union imInteresse der Arbeitslosen und insbesondere der jugend-lichen Arbeitslosen eine größere Handlungsfähigkeitbraucht, um mehr Investitionen und Strukturreformen inBildung und Ausbildung und zugunsten einer funktio-nierenden Verwaltung durchzuführen; in einer Situation,in der wir vorangekommen sind und die neue Kommis-sion die Aufgaben mit einem gewissen neuen Schwung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7781
Joachim Poß
(C)
(B)
in Angriff nimmt. Wir führen die Diskussion auch aufeuropäischer Ebene – nicht nur in Griechenland –, umden Widerspruch zwischen Austerity, also einer übertrie-benen Sparsamkeit, auf der einen Seite und Investitionenauf der anderen Seite aufzulösen.Wir führen zurzeit diese Debatte. Europa braucht dieAuflösung dieses Widerspruchs. Wir müssen im Inte-resse der europäischen Bürger an einem Strang ziehen.
Deswegen macht diese Komplikation so, wie sie sichderzeit abzeichnet, die Lage schwierig.Es ist auch nicht in Ordnung, dass wir – nicht nur inGriechenland, auch in anderen europäischen Ländern er-lebt man das – in eine Sündenbockfunktion gebrachtwerden: Deutschland, die EU oder die Troika.
Das ist kontraproduktiv. So ist zum Beispiel die Behaup-tung des neuen griechischen Finanzministers, dass dieEU für den Klientelismus und die Vetternwirtschaft inGriechenland verantwortlich ist,
schlicht absurd.
Wenn man solche absurden Analysen trifft, dann kannman auch keine vernünftigen Schlussfolgerungen mitBlick auf das ziehen, was jetzt erforderlich ist. Auf derGrundlage solcher Analysen kann man keinen Staat,keine Gesellschaft und keine Wirtschaft aufbauen. Dasheißt, linker und rechter Populismus helfen den oft ver-zweifelten Menschen in Griechenland oder auch an-derswo in der Europäischen Union nicht.
Unsere konkrete Antwort auf diese Situation ist: Wirreden nicht nur über Investitionen in Deutschland undEuropa, sondern wir sorgen in den nächsten Monaten da-für, dass in Deutschland und Europa tatsächlich mehr in-vestiert wird.
Das ist unsere Antwort, und darauf kommt es an.Im Übrigen sind wir keine Illusionisten. Nur so kön-nen wir auch der schwindenden politischen Akzeptanz,die die Europäische Union in der europäischen Bevölke-rung hat, entgegenwirken. Denn wir sehen ja die Wahler-gebnisse; ich denke dabei nicht nur an Griechenland,sondern auch an andere Trends.Erfolge – zum Beispiel im Kampf gegen Steuerdum-ping, und zwar nicht nur in Luxemburg – brauchen wirin Europa aus Gerechtigkeitsgründen und aus finanziel-len Gründen. Schließlich brauchen wir auch eine ver-nünftige Finanztransaktionsteuer.Das sind drei wichtige Punkte, in denen sich dieKommission, das Europaparlament und auch die natio-nalen Parlamente, auch wir, beweisen müssen, indem siesagen: Das ist unser europäisches Projekt; daran arbeitenwir, und wir erreichen Fortschritte. – Diese messbarenFortschritte müssen wir in diesem Jahr schaffen, liebeKolleginnen und Kollegen, und zwar mit deutscher Un-terstützung und einer breiten Mehrheit.
Es muss in Deutschland auch verstanden werden: Diewirtschaftliche und die soziale Stabilität der Euro-Zonewird nur dann zu erreichen sein, wenn die Länder mitden größten Problemen wieder auf die Beine kommen.Das liegt in unserem ureigensten Interesse. Es ist gesun-der Egoismus, wenn wir vielleicht mehr als bisher inves-tieren, um für Stabilität in ganz Europa zu sorgen. Dasversteht man hier in Deutschland noch nicht ausrei-chend.
Dazu gehört auch, dass wir in Europa und Deutsch-land erkennen müssen, dass wachsende Ungleichheitnicht nur ein soziales Problem ist, sondern zunehmendauch zum wirtschaftlichen Problem wird. Deshalb istVerteilungsgerechtigkeit – Kollege Fuchs musste schongehen; ich hatte ihm das angekündigt – auch für die wirt-schaftliche Entwicklung wichtig; das gehört inzwischenzum Standardrepertoire der wichtigsten Ökonomen derWelt.
Das ist kein Gegensatz. Verteilungsgerechtigkeit ist auchfür die ökonomische Entwicklung wichtig. In diesemSinne wollen wir jedenfalls Europa gestalten.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Bernd Westphal,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vielen Dank, Herr Minister Gabriel, für denJahreswirtschaftsbericht 2015. Er gibt einen Überblicküber die aktuelle wirtschaftliche Situation und zeigtgleichzeitig die zukünftigen Handlungsfelder auf. Wirhaben eine sehr gute ökonomische Situation in Deutsch-land. Das bestätigt die Richtigkeit der wirtschafts- undarbeitsmarktpolitischen Entscheidungen dieser Regie-rungskoalition. Grundlage dieser ökonomischen Stärkesind vor allem engagierte und hoch motivierte Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Es sinddie Schicht- und Fabrikarbeiter, die Pflegekräfte, dieHandwerker, die Ingenieure, die Techniker, die Meister,die Programmierer und viele andere, die mit ihrer Arbeiterst zu diesem Wohlstand beigetragen haben. Es sindaber auch mutige Unternehmer.
Metadaten/Kopzeile:
7782 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Bernd Westphal
(C)
(B)
Diese Leistungen sind nur durch gute Arbeit möglich.Erst wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie her-gestellt ist, wenn Aus- und Weiterbildung sichergestelltsind und wenn es Wertschätzung im Arbeitsprozess gibt,kann man sagen, dass Arbeit zufrieden und nicht krankmacht. Dazu gehört natürlich auch eine angemesseneBezahlung. Dort, wo das Verhältnis zwischen den Tarif-partnern im Rahmen der Tarifautonomie gut ist, entwi-ckeln sich die Löhne sehr positiv. Dort, wo die Tarifpart-nerschaft nicht funktioniert, haben wir als Gesetzgeberdie Verpflichtung, einzugreifen. Deshalb ist der Mindest-lohn der richtige Weg. Ich verstehe überhaupt nicht, dasshier ein Popanz aufgebaut wird, bevor die ersten Lohn-abrechnungen nach Einführung des Mindestlohns vorlie-gen.
Große Bedeutung für unseren Erfolg und die Gestal-tung der Zukunft hat vor allen Dingen die Industrie. Siehat einen erheblichen Anteil an dieser positiven Bilanz,und ihr kommt deshalb ein besonderes Gewicht zu. Eineaktive Industriepolitik hat Relevanz für die Schaffungvon Arbeits- und Ausbildungsplätzen, für Investitionenin neue Produkte und für eine starke Exportwirtschaft,aber auch für Innovationen im Bereich des Umwelt- undKlimaschutzes. Für die zukünftigen Herausforderungengibt es eine ganze Reihe von Politikfeldern. Ich will nureinige kurz nennen.Über Investitionen wurde schon vieles gesagt. DerWeg, den die Bundesregierung beschreitet, ist richtig.Wir brauchen Planungs- und Rechtssicherheit. Nur dannwerden Investitionen getätigt. Hier kommt der Politikeine besondere Verantwortung zu. Gerade im Bereichvon Start-ups, also von jungen Unternehmen, die sichgründen, brauchen wir mehr Venture Capital, um dieStartvoraussetzungen für junge Unternehmen zu ge-währleisten. Aber auch darüber hinaus, wenn es nach derStartphase darum geht, eine gewisse Marktrelevanz zuerreichen, müssen die Unterstützungen ausgebaut wer-den.
Wir brauchen neben Investitionen aber auch eine neueOffenheit in der Gesellschaft, eine neue Offenheit fürZuwanderung, eine neue Offenheit bei der Gestaltungder Globalisierung mit Freihandelsabkommen, aber aucheine neue Offenheit gegenüber großen Infrastrukturpro-jekten und eine neue Offenheit gegenüber dem techni-schen Fortschritt.
Ich will das an den Punkten Energieversorgung undEnergiepolitik festmachen. Eine sichere, saubere und be-zahlbare Energieversorgung ist nach wie vor das Ziel al-ler politischen Parteien, denke ich. Für den Industrie-standort Deutschland ist die Versorgungssicherheit vongroßer Bedeutung. Das gilt für Menge und für Preis. DieEnergiewende muss erfolgreich und kosteneffizient wei-tergeführt werden, um Deutschland als wettbewerbsfähi-gen Wirtschaftsstandort zu erhalten. Dazu gehören aucheffiziente, moderne Kohlekraftwerke, um eine sichereBrücke in das regenerative Zeitalter bauen zu können.
Eine weitere Herausforderung wird die Gestaltungdes demografischen Wandels und natürlich auch die De-ckung des Fachkräftebedarfs werden. Einiges ist dazuhier schon gesagt worden. Natürlich müssen wir die In-vestitionen in Bildung verstärken. Aber auch das, wasAndrea Nahles als Arbeitsministerin angestoßen hat,nämlich dass man mit arbeitsmarktpolitischen Instru-menten versucht, die vermeintlich Außenstehenden derGesellschaft wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren,ist der richtige Weg. Dabei werden wir sie positiv beglei-ten.Infrastrukturausbau ist viel genannt worden. Was wirmit der digitalen Agenda beschlossen haben, zum Bei-spiel der Breitbandausbau, ist vor allen Dingen im länd-lichen Raum wichtig. Wir brauchen diese Kapazitätenfür die Übertragung. Das gilt nicht nur für die Industrie,sondern auch für das Handwerk und den Mittelstand.Wenn ein Handwerksmeister ein Angebot verschickenwill, aber nicht genug Kapazitäten im Internet hat, kanndas nicht zukunftsfähig sein.Als Letztes: Ich glaube, dass wir eine Akzeptanz fürden dynamischen Fortschritt, den wir brauchen, nur er-reichen, wenn wir die wirtschaftlichen, sozialen undUmweltaspekte gleichrangig berücksichtigen. Dies sorgtdann für die Motivation und positive Stimmung imLand, die wir für ein wirtschaftspolitisch erfolgreichesUmfeld benötigen. Sozialdemokratische Wirtschafts-politik trägt schon nach einem Jahr Früchte. Wir werdenden Kurs des Wirtschaftsministers kritisch, solidarischund konstruktiv begleiten.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. Tagesord-nungspunkt 3 a: Abstimmung über den Entschließungsan-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 18/3841. Wer stimmt für diesen Entschließungs-antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke abgelehnt.Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c: Interfraktionellwird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-chen 18/3840 und 18/3265 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidrunBluhm, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7783
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
(C)
(B)
Soziale Wohnungswirtschaft entwickelnDrucksache 18/3744Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit zudem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm,Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEMarktmacht brechen – Wohnungsnot durchSozialen Wohnungsbau beseitigenDrucksachen 18/506, 18/3854Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Diese Bundesregierung ist nun nichtmehr neu; die Schonzeit ist vorbei.
Aber leider ist sie in der Frage des sozialen Wohnungs-baus immer noch im Ankündigungsmodus. Selbst unterden wohnungspolitisch und mietenpolitisch hoffnungs-vollen Euphorikern machen sich langsam die Ernüchte-rung und die Enttäuschung breit. Man fragt sich nämlichzu Recht: Was ist denn nun mit der wohnungspolitischenOffensive? Wo bleibt denn nun der mehrfach angekün-digte Dreiklang aus Stärkung der Investitionstätigkeit,Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus und derausgewogenen mietrechtlichen und sozialpolitischenFlankierung? So steht es ja auf Seite 80 des Koalitions-vertrages, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition.Vielleicht sollten Sie den Koalitionsvertrag ab und zuwieder einmal in die Hand nehmen.
Ein Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen istgegründet worden. Schön! Das haben wir auch begrüßt.Aber was tut dieses Bündnis eigentlich? Nach seinerGründung haben wir nichts weiter davon gehört. Selbstdie lange angekündigte und schon fast wieder zerredeteMietpreisbremse schwimmt noch immer in parlamenta-rischen Gewässern. Es ist zu befürchten, dass am Endenicht der Mietanstieg, sondern das Gesetz gedämpftwird, und zwar so lange, bis die Mietpreisbremse voll-ständig verdampft zu sein scheint.
In der gestrigen Ausschusssitzung vermittelten dieKoalitionsredner den Eindruck, als sei das Gesetz schonin Kraft. Nein, meine Damen und Herren, Sie habennoch nicht geliefert. Die Kolleginnen und Kollegen vonCDU und CSU versuchten auch im Ausschuss, uns weis-zumachen, dass die Mietpreisbremse und die Wohngeld-erhöhung geeignet seien, mehr bezahlbaren Wohnraumzu schaffen.
– Sie nicht, Frau Nissen. Ich habe gerade die CDU/CSUangesprochen. –
Wer hat Sie bloß beraten, dass Sie zu dieser Erkenntniskommen?Zwischenzeitlich haben wir, die Linke, mit den heutehier zu behandelnden Anträgen schon vier Anträge zumsozialen Wohnungsbau und zur Mietpreisbegrenzung zurBeratung und Abstimmung vorgelegt. Während wir hierMonat um Monat debattieren, nutzen Vermieterinnenund Vermieter fleißig die Gelegenheit, jede Mieterhö-hungsmöglichkeit auszuschöpfen und ihre juristischenBatterien in Stellung zu bringen, bevor das Gesetz ir-gendwann das Licht der Welt erblickt. So wird das nichtsmit der wohnungspolitischen Offensive dieser Bundesre-gierung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit ordnungspoliti-schen Maßnahmen zu beginnen, ohne die wirtschaftli-chen Voraussetzungen für eine solide Wohnungspolitikgrundlegend zu verändern, heißt, ein Pferd von hintenaufzuzäumen. Wir alle wissen, dass das meistens nichtgelingt.
Es wird also Zeit, dass sich endlich etwas dreht. Einewirkliche wohnungspolitische Offensive unter markt-wirtschaftlichen Bedingungen müsste damit beginnen,das Verhältnis von Angebot und Nachfrage vor allem inangespannten Wohnungsmärkten in Ordnung zu bringen.Jetzt ist es nämlich so, dass gerade dort jede Wohnung,egal ob energetisch saniert oder nicht, egal ob Familien-wohnung, Studentenwohnung oder altersgerechte Woh-nung, zu Höchstrenditen vermietet werden kann. Ande-rerseits gibt es selbst in schrumpfenden oder ländlichenRegionen mit wachsendem Wohnungsleerstand Woh-nungsnot, weil nur noch das gebaut wird, wofür es einezahlungskräftige Nachfrage gibt. Wirklich bedarfsge-rechte, also für alle bezahlbare, barrierearme, klima- undaltersgerechte Wohnungen fehlen auch hier massenhaft.Hier ist auch die Bundespolitik gefordert, die im Ko-alitionsvertrag versprochene „sozialpolitische Flankie-rung“ tatsächlich praxistauglich zu machen. Auch HerrGabriel hat heute Morgen in seiner Rede zur Wirt-schaftslage darauf aufmerksam gemacht, dass wir hier,die Bundesebene, für den sozialen Wohnungsbau verant-wortlich sind, Länderverantwortung hin oder her. Wozubeschließen wir sonst hier Bundesgesetze, und warumsonst steht die Bundesverantwortung im Koalitionsver-
Metadaten/Kopzeile:
7784 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Heidrun Bluhm
(C)
(B)
trag? Sie können sich also nicht herausreden, wie Sie esgestern im Ausschuss versucht haben.Den sozialen Wohnungsbau wiederzubeleben, wie esdie Bundesregierung angekündigt hat, das wäre ein ers-ter Schritt in die richtige Richtung. Bisher fehlt aber dieRichtung, und von Schritten dahin kann überhaupt keineRede sein.
Unverändert 518 Millionen Euro Kompensationszahlun-gen seit 2006, seitdem die Föderalismusreform beschlos-sen ist, befristet bis 2019 und ohne soziale Zweckbin-dung, das ist doch keine Wiederbelebung, sondernbestenfalls eine Notbeatmung des Patienten „sozialerWohnungsbau“, um ihn vor dem Tode zu retten.Ein wirklicher Neustart im sozialen Wohnungsbau istdringend geboten, und das ist auch das Hauptanliegenunserer hier vorgelegten Anträge. Es müssen jährlichmindestens 150 000 Sozialwohnungen – ich betone: So-zialwohnungen – zusätzlich auf den Markt. Sie sind al-lein erforderlich, um den kontinuierlichen Schwund anSozialwohnungen seit den 1970er-Jahren durch denWegfall der Sozialbindung zu kompensieren. Mindes-tens 700 Millionen Euro jährlich, verlässlich, langfristigdurch den Bund bereitgestellt und durch die Länder be-darfsgerecht und dauerhaft zweckgebunden kofinanziert,sind dafür notwendig. Es muss nicht überall Neubausein; es kann auch die Sanierung von vorhandenen Woh-nungsbeständen sein. Anderswo ist möglicherweise auchder Ankauf von Belegungsbindungen die bessere Lö-sung.Gute und zudem preiswerte Chancen, wenigstens ei-nen kleinen Beitrag zu einer sozialpolitisch flankiertenwohnungspolitischen Offensive zu leisten, hätte dieBundesregierung bei einem entsprechenden Umgang mitihren eigenen Liegenschaften. Beim Verkauf der TLGim Jahr 2012 hat die damalige Bundesregierung dieseChance allerdings gründlich versemmelt. Die jetzigeBundesregierung würde diesen Fehler wiederholen,wenn sie beim Verkauf der BImA-Wohnungen stur amHöchstpreisgebot festhielte.
Hier in Berlin scheint die Chance zu bestehen, einmalüber den Rand der schwarzen Null hinauszublicken undeinen konzeptgebundenen Verkauf dieser Wohnungen ankommunale Wohnungsunternehmen – natürlich zu ak-zeptablen Preisen – zu organisieren.
Das wäre – das sage ich hier ganz klar – der richtigeWeg.Wir begleiten die betroffenen Mieterinnen und Mieterin diesem Prozess nicht nur mit Sympathie, sondern un-terstützen auch ihre Forderung nach Erhalt ihrer Woh-nungen und ihres Kiezes – gegen den Privatisierungs-und Verwertungswahn. Darauf können sich sowohl dieMieterinnen und Mieter als auch die Bundesregierungverlassen.Beides zusammen, der Neustart des sozialen Woh-nungsbaus, finanziell gut ausgestattet, dauerhaft zweck-gebunden und am besten in kommunalen Wohnungsge-sellschaften konzentriert, und ein sozial verantwortlicherUmgang mit öffentlichem Eigentum an Wohnungen undfür Wohnzwecke geeigneten Liegenschaften, das kannder bescheidene Anfang für eine grundlegende Korrek-tur in der heutigen Systematik der Wohnungswirtschaftsein. Die fast ausschließlich privat dominierte Woh-nungswirtschaft mit Gewinnmaximierung muss ge-bremst werden.
Die Wohnung darf nicht ausschließlich eine Ware blei-ben, sondern muss wieder zu einem hohen, schützens-werten Sozialgut werden und damit ein wirkliches Zu-hause für alle sein.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Kai Wegner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NachdemFrau Bluhm die Anträge der Linken hier nochmals be-gründet hat, sehe ich mich in meiner Einschätzung bestä-tigt, zu der ich gekommen bin, als ich die Anträge gele-sen habe: Das, was in den Anträgen nicht ganz falsch,vielleicht sogar gut ist, das ist nicht neu, Frau Bluhm,und das, was neu ist, das ist definitiv nicht gut.
Nichtsdestotrotz begrüße ich, dass wir diese Debatteheute im Hohen Hause führen, da das Thema Wohnenfür die Menschen in unserem Land von ganz großer Be-deutung ist. Liebe Frau Bluhm, vielleicht lernen Sie inder Debatte noch etwas dazu; denn die Bundesregierungist auf diesem Weg sehr erfolgreich und sehr aktiv.
Wir von der Koalition wissen, dass Wohnen mehr be-deutet, als ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir wis-sen, dass eine Wohnung der Lebensmittelpunkt für dieMenschen ist. Sie dient als Rückzugs- und Erholungs-raum. Die Behaglichkeit der eigenen vier Wände bietetden Menschen auch Lebensqualität.In den Problembeschreibungen, liebe Frau Bluhm,stimme ich den Linken in einigen Punkten durchaus zu.Ja, wir stehen in der Wohnungspolitik vor großen He-rausforderungen. Ja, wir haben eine wachsende Nach-frage nach Wohnraum und deshalb auch steigende Mie-ten, insbesondere in großen Städten, in Ballungsräumen,aber auch in kleineren Universitätsstädten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7785
Kai Wegner
(C)
(B)
Angesichts des demografischen Wandels müssen großeTeile des Wohnungsbestandes altersgerecht umgebautwerden. Auch müssen wir weiter in die energetische Sa-nierung des Wohnungsbestandes investieren, um dieseweiter voranzutreiben.Die Große Koalition hat sich dieser Herausforderun-gen angenommen und ist längst aktiv geworden. Ja, FrauBluhm, wir haben die Mietpreisbremse auf den Weg ge-bracht. Wir wollen verhindern, dass einige Bevölke-rungsgruppen ganze Stadtteile nicht mehr bewohnenkönnen. Wir wollen verhindern, dass Menschen in Stadt-vierteln nach Einkommen getrennt leben. Das zerstörtdie Vielfalt in unseren Städten. Das zerstört die Kreativi-tät, und das spaltet auch die Gesellschaft. Meine Damenund Herren, ich sage es sehr deutlich: Wir wollen keinePariser Verhältnisse in unseren Städten. Wir wollennicht, dass Menschen einiger Einkommensgruppen andie Ränder der Städte verdrängt werden. Wir wollenvielmehr eine gute soziale Durchmischung in unserenStädten auch auf dem Wohnungsmarkt.
Frau Bluhm, das beste Mittel gegen steigende Mieten,gegen Gentrifizierung ist nun einmal der Wohnungsneu-bau. Nachdem ich Ihre Anträge gelesen habe, freue ichmich, dass die Linken das ganz offensichtlich auch end-lich verstanden haben.
Wir müssen aber – das sage ich ganz deutlich, und damitwill ich nichts zerreden – darauf aufpassen, dass sich dieMietpreisbremse gerade vor dem Hintergrund des Woh-nungsneubaus nicht zu einer Investitionsbremse entwi-ckelt. Darauf achtet die Koalition, und das werden wirsicherstellen.
Ich erwarte auch von den Ländern, dass sie gerade in denGebieten, in denen die Mietpreisbremse gelten wird,dafür Sorge tragen werden, dass dort neuer, bezahlbarerWohnraum entsteht. Auch das dient der sozialen Mi-schung in unseren Städten.Weiterhin haben wir, Frau Bluhm, das Bündnis fürbezahlbares Wohnen und Bauen ins Leben gerufen. Ichglaube, dass es wichtig ist, dass wir in diesem Bündnisdie unterschiedlichen Akteure, nämlich Bund, Länder,Kommunen, aber auch die Verbände, an einen Tischbringen; denn die wohnungspolitischen Herausforderun-gen, vor denen wir stehen, werden nur alle Akteure ge-meinsam bewältigen können.Für uns ist es gerade im Rahmen des Bündnisses ganzwichtig, eine Baukostensenkungskommission einzuset-zen. Es geht darum, Kostensteigerungen im Baubereichzu analysieren. Preistreibende und überdimensionierteStandards müssen dabei auf den Prüfstand. Wir als Ko-alition machen uns dafür stark, dass wir beim Bauensinkende Kosten haben, dass wir ein investitionsfreund-liches Klima erreichen. Dass dies letztlich den Mieterin-nen und Mietern dient, davon sind wir felsenfest über-zeugt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich würde es in der Tat begrüßen, wenn die Bundesre-gierung zeitnah einen Zwischenbericht über die bisheri-gen Aktivitäten dieses Bündnisses vorlegte. Wir brau-chen erste Ergebnisse; denn die Herausforderungen sindgroß.Auch auf den demografischen Wandel reagieren wir.Sie tun immer so, als würden wir hier gar nichts tun. Wirhaben das Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufge-legt, und dieses leistet einen ganz wichtigen Beitrag fürdie älter werdende Gesellschaft in unserem Land. Durchdieses Programm können gerade ältere Menschen in ih-rer vertrauten Umgebung verbleiben, in der sie sichwohlfühlen und in der sie sozial integriert sind.
Ich glaube, das ist eine gute Investition, die den Men-schen vor Ort ganz konkret hilft.Meine Damen und Herren von der Linken, ich möchtemich jetzt mit der einen oder anderen Forderung ausIhren Anträgen beschäftigen. Zunächst betrifft dies densozialen Wohnungsbau. Frau Bluhm, es ist und bleibt so:Auch die Länder sind hier in der Verantwortung.
Der Bund gibt den Ländern für den sozialen Wohnungs-bau zusätzlich 518 Millionen Euro.
Sie fordern jetzt eine Aufstockung auf 700 MillionenEuro. Meine Damen und Herren, dies rufe ich den Län-dern zu: Es würde sehr helfen, wenn die zur Verfügunggestellten Mittel des Bundes endlich auch für den sozia-len Wohnungsbau genutzt würden.
Es kann doch nicht sein, dass die Mittel in den Länder-haushalten versickern und dann nach dem Bund gerufenund gesagt wird: Ihr müsst mehr tun. – Nein, die Mittel,die der Bund jetzt zur Verfügung stellt, müssen die Län-der angemessen abfordern. Ich wünschte mir, dass dieLänder zu den 518 Millionen Euro, die der Bund zurVerfügung stellt, selbst noch etwas drauflegen, damit wirim sozialen Wohnungsbau mehr tun.
Metadaten/Kopzeile:
7786 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Kai Wegner
(C)
(B)
Sie haben auch das Thema BImA angesprochen, FrauBluhm. Am Beispiel Berlin sieht man doch, dass imRahmen der bestehenden Gesetze etwas geht. Wir habenin Berlin knapp 5 000 Wohnungen im BImA-Bestand.Derzeit gibt es Verhandlungen zwischen der BImA unddem Land Berlin. Ich wünsche mir sehr, dass der Ver-kauf der bundeseigenen Liegenschaften und die Ver-handlungen mit dem Land Berlin gelingen, und zwarzum Verkehrswert. Das wäre im Interesse der Mieterin-nen und Mieter und sollte ein Stück weit Schule machenin Bezug auf die restlichen Bestände. Auch das sage ichsehr deutlich.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie hebenin Ihren Anträgen die Städtebauförderung hervor. Ja, dieStädtebauförderung ist ein unverzichtbarer Bestandteilunserer Stadtentwicklungspolitik. Sie ist unverzichtbarfür den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserenStädten, und sie ist unverzichtbar für die Integration.Frau Bluhm, dass wir dies auch so sehen und daraufeinen Schwerpunkt setzen, sehen Sie doch an der starkenErhöhung der Mittel für die Städtebauförderung, näm-lich von 455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro.Wir kritisieren das nicht, wir finden das richtig. Wir ha-ben das ja auch gemacht. Sie von den Linken haben dasnicht gemacht.
Sie fordern nun in Ihren Anträgen, die Mittel des Pro-gramms „Soziale Stadt“ vermehrt für nichtinvestiveMaßnahmen zu verwenden. Das lehne ich entschiedenab. Gerade die investiven Maßnahmen sind es doch, diedie Lebensqualität in den Städten sichern. Gerade dieinvestiven Maßnahmen sind es doch, die eine Hebelwir-kung haben, die weitere Investitionen nach sich ziehen,die in die Wohnumfeldverbesserung einfließen, die derLebensqualität der Menschen in Ballungsräumen direktzugutekommen. Das dient dem Mittelstand und demHandwerk und schafft Arbeitsplätze. Deshalb ist eswichtig, bei der Städtebauförderung gerade die investi-ven Bereiche nicht zu vernachlässigen.
Sie sprechen auch von der energetischen Sanierungund wollen hier die Umlage der Kosten auf die Mieterbegrenzen. Mit Umsetzung Ihrer Forderungen würde er-reicht, dass im Bereich der energetischen Gebäudesanie-rung nichts mehr passiert, Frau Bluhm. Sie würden dafürsorgen, dass die Vermieter keinen Cent mehr investieren.Wir hätten dann große Probleme bei der Klima-gerechtigkeit. An Ihrem Antrag sieht man einmal mehr:Was gut gemeint ist, ist nicht immer gut gemacht.Frau Bluhm, vielleicht erinnern Sie sich einfach ein-mal: Sie von den Linken haben auch schon Regierungs-verantwortung in den Ländern getragen und tragen sieimmer noch, und in Berlin haben Sie zehn Jahre Zeit ge-habt. Was passiert, wenn die Linke Verantwortung fürWohnungsbaupolitik mitträgt? Sie haben in Berlin inzehn Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung 100 000 Woh-nungen privatisiert;
30 Prozent des Bestandes an öffentlichen Wohnungenwurden verkauft. In Ihrer Regierungszeit gab es im Woh-nungsneubau in Berlin so gut wie keine Investitionen.Wenn wir in Berlin über steigende Mieten, über die Ver-drängung der ortsansässigen Bevölkerung, über die Ge-fährdung einer guten sozialen Durchmischung sprechenmüssen, dann ist das immer auch zu einem guten Teil aufdie Erblast Ihrer gescheiterten linken Wohnungsbaupoli-tik zurückzuführen.
Seitdem Sie nicht mehr in Berlin regieren, entstehenwieder Wohnungen. Wir haben einen Wohnungsbauför-derfonds aufgelegt. 10 000 neue Wohnungen jährlich imsozialverträglichen Segment werden wir errichten. Es istgut, wenn Sie keine Verantwortung für die Wohnungs-baupolitik haben.
Meine Damen und Herren von der Linken, geradekam in einem Zwischenruf von Ihnen zum Ausdruck:Wir haben es schon immer so gesehen, dass wir Woh-nungsneubau brauchen. – Ich erinnere ungern an denVolksentscheid zum Tempelhofer Feld. Aber auch da ha-ben Sie eine unrühmliche Rolle gespielt. Dort hätten5 000 neue Wohnungen entstehen können;
aber Sie haben populistisch dagegengehalten, habenWohnungsneubau verhindert. Sie reden in Sonntags-reden von Wohnungsneubau. Da, wo er konkret stattfin-den kann, Frau Bluhm, verhindern Sie ihn. Deswegensind die Anträge, die Sie heute hier vorgelegt haben,auch nicht glaubwürdig.
In der Wohnungspolitik setzt die Koalition auf einenDreiklang aus einer Stärkung der Investitionstätigkeit,einer Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus undeiner ausgewogenen mietrechtlichen und sozialpoliti-schen Flankierung. Diesen Kurs werden wir entschiedenfortsetzen. Wir sorgen dafür, dass Wohnen für Gering-und Durchschnittsverdiener bezahlbar bleibt und dassausreichend Wohnraum zur Verfügung gestellt wird. DieKoalition wird hier die Bemühungen der Bundesministe-rin Hendricks weiterhin unterstützen. Meine Damen undHerren von den Linken, ich empfehle Ihnen, das auch zutun; denn uns allen hier im Hause sollte doch klar sein,dass Wohnungen nicht irgendeine Ware sind, sonderndas Zuhause für die Menschen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7787
Kai Wegner
(C)
(B)
Diese Regierung wird ihren Weg in der Wohnungspolitikkonsequent fortsetzen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Christian Kühn,Bündnis 90/Die Grünen.Christian Kühn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Be-sucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Eigentlichhatte ich gedacht, dass wir diese Woche im Plenum dieMietpreisbremse debattieren
und auch beschließen würden. Wenn man über Woh-nungswirtschaft redet, muss man in diesen Tagen überdie Mietpreisbremse reden. Alle, die in der Wohnungs-politik unterwegs sind, haben dieses Thema in den letz-ten eineinhalb Jahren begleitet.Nach Ihrer Rede, Herr Wegner, kommt es mir fast sovor, als ob die Mietpreisbremse schon beschlossen wäre.Aber sie ist nicht beschlossen. Herr Maas hat letzte Wo-che in Hamburg gesagt: Die Mietpreisbremse wird biszum Sommer in Kraft treten. – Sie wird vielleicht biszum Sommer beschlossen werden; aber Kraft wird sievor Ort bis zum Sommer nicht entfalten. Das ist Wahl-kampfgetöse, ein Ammenmärchen. Die Mietpreis-bremse, die Sie auf den Weg bringen werden, wird nichtschnell eingeführt werden, und sie wird vor Ort nichtschnell umgesetzt werden. Dies zeigt, dass Sie eigentlichnicht verstanden haben, was eine Mietpreisbremse ist.
Die Anhörung im Rechtsausschuss hat gezeigt, dasses keine schnelle Umsetzung der Mietpreisbremse gebenwird. Sie haben Hürden gebaut und Steine in den Weggelegt. Wenn man eineinhalb Jahre braucht, um ein So-fortprogramm auf den Weg zu bringen, dann ist das eineziemlich lange Zeit. Jede Woche und jeden Monat gehtbezahlbarer Wohnraum in Deutschland verloren. Das istein Skandal; das ist unsozial und Wählertäuschung.Angela Merkel hat sich im Wahlkampf für die Mietpreis-bremse ausgesprochen.
Herr Wegner, ich glaube, dass Sie und Frau Merkel gu-ten Willen gezeigt haben, aber – ich zitiere Sie einmal –:Gut gemeint ist nicht gut gemacht. – Das trifft auf IhreMietpreisbremse zu.
Die Geltungsdauer der Minimietpreisbremse, die Sieauf den Weg bringen, ist zu kurz. Sie hätte mindestenszehn Jahre betragen müssen. Außerdem gibt es großeSchlupflöcher. Mit dem Schlupfloch „umfassende Mo-dernisierungen“ treiben Sie hochpreisige Modernisie-rung an.
Sie leisten damit der Gentrifizierung Vorschub, und dasist ein Skandal.
Es gibt viel zu viele Ausnahmen, zum Beispiel beimNeubau. Es hätte völlig ausgereicht, wenn Sie die erst-vermieteten Neubauwohnungen ausgenommen hätten.Die Länder werden die Mietpreisbremse lange nicht um-setzen können. Ich glaube, bis zum Ende dieser Legis-laturperiode wird es nicht in allen Städten und Ländernmöglich sein, die Mietpreisbremse umzusetzen, weil esgroße Hürden gibt. Eine völlig unsinnige Regelung, dieich als Skandal empfinde, ist die Rügepflicht.
Das Mietrecht kennt keine Rügepflicht. Es gibt genugJuristen in Deutschland, denen sich bei dem, was Sie mitdem Mietrecht machen, der Magen umdreht. Ändern Siedas, damit diese Mietpreisbremse auch eine mieter-freundliche Mietpreisbremse wird.
Anstatt eines schnellen Rettungsschirmes haben Sie eineMinimietpreisbremse auf den Weg gebracht. Diese Miet-preisbremse wird den wohnungspolitischen Herausfor-derungen in sozialer Hinsicht nicht gerecht.Ich komme zum Antrag „Soziale Wohnungswirtschaftentwickeln“ der Linksfraktion. Auch ich finde, dass dasmarkige Worte sind. Es gibt einige Maßnahmen, die ichgut finde, und andere, die ich nicht unterstützen würde.Eigentlich ist es eine Zusammenstellung unterschiedli-cher Punkte.Mir wird nicht klar, was in der Wohnungswirtschaftgeschehen soll, Frau Bluhm. Wollen Sie eher eine Ver-staatlichung der Wohnungswirtschaft, oder wollen Sieeine öffentlich-gemeinnützige Wohnungswirtschaft? Ichfinde Ihren Antrag für dieses Thema zu schmal und des-wegen nicht ganz so gut. Viele Forderungen sind wachs-weich. Es sind viele finanzielle Forderungen enthalten.Eine Forderung hätte man noch hineinschreiben müssen,nämlich die Forderung, dass wir in Deutschland eine De-batte darüber brauchen, wie wir wieder mehr Gemein-nützigkeit in die Wohnungswirtschaft bringen.
Metadaten/Kopzeile:
7788 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Christian Kühn
(C)
(B)
Wir müssen darüber reden, wie wir vielfältige Ak-teure ins Spiel bringen, wie wir statt Monopolbildungund Schrottimmobilien wieder die Mieterinnen undMieter in den Blick bekommen. Ich finde, die zentraleFrage ist: Was ist nach 1988 passiert, als die Wohnungs-gemeinnützigkeit abgeschafft worden ist? Die Ziele, dieman damit verfolgt hat, sind, wenn ich mir heute dieWohnungswirtschaft anschaue, nicht erreicht worden.Ich glaube deshalb, dass wir dringend eine Debatte da-rüber brauchen, wie wir wieder Wohnungsgemeinnützig-keit in Deutschland erreichen können.
Das Thema BImA wurde bereits von Herrn Wegnerangesprochen. Auch ich finde es gut, dass das Land Ber-lin die Idee hat, diese Wohnungen aufzukaufen. AberIhre BImA-Politik im Deutschen Bundestag hat ja ge-rade verhindert, dass das nicht schon früher in Angriffgenommen wurde. Unter anderem wegen Ihrer Politiksind Wohnungen in der Großgörschenstraße verscherbeltworden. Im Kern ist das neoliberale Wohnungs- und Lie-genschaftspolitik, die wir ganz klar ablehnen.
Wir brauchen endlich eine Wohnungsgemeinnützig-keitsdebatte in Deutschland. Wir Grünen wollen Spekula-tion mit Wohnraum verhindern. Wir wollen gemeinwohl-orientierte Wohnungswirtschaft. Wir wollen Akteure, diekeine reine Renditelogik haben. Wir müssen Genossen-schaften, öffentliche Wohnungsunternehmen, Studenten-werke und Baugruppen unterstützen. Sie müssen eingrößeres Stück vom Kuchen der Wohnungswirtschaftabbekommen. Darauf müssen wir unser Augenmerk le-gen.
Leider beobachte ich genau das Gegenteil. Allein durchdie jüngste Elefantenhochzeit zwischen der GAGFAH undder Deutschen Annington entsteht ein Wohnungskon-zern, der rund 350 000 Wohnungen mit mehr als 1 Mil-lion Mieterinnen und Mieter hat. Da frage ich michschon: Wie soll der einzelne Mieter oder die einzelneMieterin angesichts einer solchen Marktmarkt seine bzw.ihre Interessen durchsetzen können? Man muss sich nureinmal im Klagefall vorstellen, welche Macht solch einKonzern gegenüber dem einzelnen Mieter hat. Ich fragemich, ob wir angesichts dieser zu beobachtenden Verän-derungen in der Wohnungswirtschaft nicht ein Verbands-klagerecht brauchen.
Brauchen wir im Kern nicht ein viel sozialeres Miet-recht? Müssen wir die Mietenrechtsnovelle der schwarz-gelben Regierung nicht eigentlich wieder rückabwi-ckeln?Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine letzten Worte
– nein, hier jetzt heute; das verspreche ich Ihnen –
zum Bündnis für bezahlbares Wohnen. Das Bündnis fürbezahlbares Wohnen ist eine gute Sache. Herr Wegner,Sie haben angekündigt, dass Sie sich einen Zwischenbe-richt wünschen. Auch ich wünsche mir einen Zwischen-bericht, aber nach meinen Erkenntnissen würde er jetztsehr dünn ausfallen und nur wenige Seiten beinhalten.Ich hoffe, dass Sie sich im Bündnis für bezahlbaresWohnen einmal über den sozialen Wohnungsbau und an-deres unterhalten. Ab 2019 haben wir ein Riesenpro-blem; denn dann laufen die Bundesmittel aus. 2020kommt die Schuldenbremse der Länder hinzu. Ich habekeine Lust, dass wir in ein Jahrzehnt gehen, in dem dersoziale Wohnungsbau stockt.Danke schön.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt für die Bundesre-
gierung der Parlamentarische Staatssekretär Florian
Pronold.
Liebe Frau Bluhm, ich fand – im Gegensatz zu IhremAntrag und zu den Verhältnissen, wie ich sie sonstkenne – die Rede, die Sie hier gehalten haben, sehr aus-gewogen und moderat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7789
Parl. Staatssekretär Florian Pronold
(C)
(B)
– Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als wenn ich Sie ein-mal lobe. Aber ich bin mir sicher, dass Sie das in Zu-kunft auch wieder anders können.Ich finde, eines muss man hier in aller Deutlichkeitsagen: Durch Ihren Antrag wird die Sicherheit von Mie-terinnen und Mietern in Deutschland leider nicht ge-stärkt. Sie tun auch nichts für den sozialen Wohnungs-bau. Das ist die Wahrheit an dieser Stelle.
Zur Wahrheit gehört auch: Wir haben auf dem Woh-nungsmarkt unterschiedliche Akteure – private Investo-ren, die Kommunen, die Länder und den Bund –, undwenn wir die nicht zusammen an einen Tisch bekommenund wenn wir nicht Politik aus einem Guss machen,dann wird bezahlbares Bauen und Wohnen nicht gelin-gen. Deswegen können wir das nicht durch Anträge imDeutschen Bundestag erreichen, sondern nur durch kon-kretes Handeln.
Sie haben das Bündnis für bezahlbares Wohnen ange-sprochen. Gerade in der letzten Woche hat sich die Ar-beitsgruppe „Aktive Liegenschaftspolitik“ getroffen.Eine vernünftige Liegenschaftspolitik ist eine zentraleVoraussetzung für bezahlbares Wohnen und Bauen.
Dabei geht es nicht nur um die BImA, sondern auch umdie Grundstückspreise der Kommunen. Es geht darum,was wir vor Ort zur Verfügung stellen können.Auch die Baukostensenkungskommission arbeitetund wird noch vor dem Sommer einen Bericht vorlegen.
Auch das ist entscheidend; denn nur, wenn die Baukos-ten bezahlbar sind, kann es nachher auch bezahlbareMieten geben. Die Baukosten zu senken, ist ein zentralesElement des Bündnisses für bezahlbares Wohnen undBauen, das wir auf den Weg gebracht haben.Zur Wahrheit gehört, dass dieses Haus 2006 eine Fö-deralismusreform durchgeführt hat und in diesem Zugeder soziale Wohnungsbau in die Alleinverantwortungder Länder gegeben wurde.
Dazu kann man heute stehen, wie man will. Aber dasGrundgesetz ist geändert worden. Der Bund gibt jedesJahr eine halbe Milliarde Euro an die Länder, damit siesozialen Wohnraum schaffen. Was ist passiert? Zwi-schen 2002 und heute hat sich die Zahl der Wohnungenmit Sozialbindung – 2002 waren es noch 2,6 Millionen –fast halbiert. Wir stellen fest, dass die Länder mit demGeld des Bundes völlig unterschiedlich umgehen.
In der letzten Legislaturperiode ist mit den Ländern ver-einbart worden, dass es keine Verpflichtung gibt, diesehalbe Milliarde Euro vom Bund so und so auszugeben.Wir wollen die Länder jetzt wieder an den Tisch ho-len, weil wir neue Wohnungen mit Sozialbindung brau-chen. Anders ist bezahlbares Wohnen vor Ort nichtmöglich. Darüber muss man reden. Weil wir kein Druck-mittel haben, müssen wir an die Einsicht appellieren. Ichsehe, wie gut das in Hamburg läuft. Dort gibt es Initiati-ven, eine entsprechende Grundstückpolitik und städte-bauliche Verträge. Ein anderes Beispiel ist München, woman auch auf anderem Wege eine Sozialbindung her-stellt. Das ist richtig. Diesen Weg müssen viele mitge-hen, damit wir wieder mehr preisgünstige Wohnungenbekommen.Wir werden eine Wohngeldreform durchführen undmit der Mietpreisbremse dafür sorgen, dass die Men-schen in der Bundesrepublik Deutschland vor Wuchergeschützt sind. Wir werden dafür Sorge tragen, dass wirauch beim Neubau vorankommen. Nicht nur Kostensen-kung ist wichtig, sondern wir brauchen auch eine De-batte darüber, wie wir als Bund über die Steuerpolitikzusätzliche Anreize schaffen können, damit in Städtenmit einem angespannten Wohnungsmarkt mehr neuer so-zialer, bezahlbarer Wohnraum entsteht. Diesen Wohn-raum brauchen wir, weil die Entwicklung vor Ort drama-tisch ist.
Alle bisherigen Redner in dieser Debatte haben ge-sagt, dass Wohnungen keine Ware sein sollen. Wenn wirdas nicht wollen, müssen wir die Kräfte wieder stärken– das ist in den letzten zwei Jahrzehnten eben nicht pas-siert –, die dafür Sorge tragen, dass Wohnungen keineWare sind. Das bedeutet, dass wir auch den Neubaudurch Genossenschaften und kommunale Wohnungsbau-gesellschaften voranbringen müssen, dass auch dort zu-sätzliche Aktivitäten entstehen. Schauen wir uns dasBeispiel München an: Dort liegt die durchschnittlicheKaltmiete heute bereits bei über 12 Euro pro Quadratme-ter. In den städtischen Wohnungsbaugesellschaften be-trägt sie gerade einmal die Hälfte. Das kann man übri-gens auch hier in Berlin feststellen, wenn man sich zumBeispiel viele Genossenschaften anschaut. Das machtdeutlich, welch wichtige Rolle diejenigen spielen, diedie Gemeinnützigkeit im Hinterkopf haben und einengenossenschaftlichen Gedanken verfolgen: für bezahlba-res Wohnen in der Stadt. Das ist entscheidend, und damüssen wir wieder hin. Dafür brauchen wir zusätzlicheInitiativen und eine zusätzliche Stärkung. Das könnenwir aber nicht im Deutschen Bundestag beschließen. Wirkönnen das allenfalls unterstützen.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Wir müs-sen auch dafür Sorge tragen, dass das Land im Gleichge-
Metadaten/Kopzeile:
7790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Parl. Staatssekretär Florian Pronold
(C)
(B)
wicht bleibt. In vielen ländlichen Räumen ziehen dieLeute weg, weil sie den Arbeitsplätzen hinterherziehen.Dadurch verstärken sich in vielen Städten die Probleme,auch hinsichtlich der Bezahlbarkeit des Wohnens. Esmuss uns gelingen – das ist aus Nachhaltigkeitsgründengenauso wie aus sozialen Gründen wichtig –, diesesLand im Gleichgewicht zu halten. Wir müssen unserePolitik, zum Beispiel die Infrastrukturpolitik, darauf aus-richten, dass Menschen in ihrer Heimat wohnen bleibenkönnen, weil sie vor Ort Arbeitsplätze finden oder mitdem ÖPNV oder auf anderem Wege in die Städte kom-men, wo die Arbeitsplätze sind, ohne durch Umzug indie Städte zusätzlichen Druck auf die Mietwohnungs-märkte dort auszulösen.Deswegen bedarf es auch einer weiteren Initiative fürden Neubau. Vor wenigen Jahren sind bis auf ein paarExperten, die aber einsame Rufer in der Wüste waren– sie haben immer schon darauf hingewiesen, dass manNeubau braucht –, alle davon ausgegangen, dass dasThema auf dem Wohnungsmarkt erledigt ist. Die Pro-gnosen haben sich geirrt. Karl Valentin hatte recht: DasGefährliche an Prognosen ist, dass sie auf die Zukunftgerichtet sind. Das ist immer ein Risiko. Alle haben sichvertan. Jetzt müssen wir nachholen.Bei den Städten stellen wir fest, dass die privaten Ini-tiativen bisher nur im hochpreisigen Segment neuenWohnungsbau schaffen. Ich bin froh über jede Wohnung,die gebaut wird. Wir brauchen aber bezahlbaren Wohn-raum auch für die Rentnerin, für den Rentner, für die, dieals Polizeibeamte, als Krankenpfleger, als Kranken-schwester jeden Tag ihre Arbeit tun und auch in derStadt zu bezahlbaren Preisen wohnen wollen. DieseBundesregierung hat mit ihrem Koalitionsvertrag, mitdem, was wir im Bündnis für bezahlbares Wohnen undBauen machen, mit der Mietpreisbremse, mit vielen, vie-len anderen Initiativen – die Wohngeldreform kommtdemnächst – einen Beitrag dazu geleistet, dass Wohnenwieder bezahlbarer wird. Wir werden in dieser Wahlpe-riode noch eine ganze Menge machen. Ich freue michauf die Unterstützung auch der Linken und der Grünenan dieser Stelle.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Sylvia Jörrißen, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wohnen ist Leben, Wohnraum ist Lebensraum.Das ist ein Zitat aus dem Antrag der Linken, über denwir heute debattieren. Das ist nicht neu.
– Ja. – Adäquaten Wohnraum zu haben, ist ein Grundbe-dürfnis menschlichen Lebens. Selbst der Neandertalerhat sich schon seine Höhle geschaffen. Das ist eine Bin-senweisheit, aber es stimmt, Frau Bluhm, und deshalbstimme ich Ihnen zu. Aber Sie können versichert sein: Inden nächsten elf Minuten – so lange habe ich heute Re-dezeit – ist das zugleich auch das letzte Mal, dass ich Ih-nen zustimme.
Wir sind uns darüber einig: Wohnen ist ein zentralesElement unseres Lebens und eine gesamtgesellschaftli-che Aufgabe für die Politik. Dieser fühle ich mich alsBaupolitikerin verpflichtet. Aus diesem Grund bin ichsehr froh, dass die Große Koalition dem Thema Wohnenund Bauen einen solch großen Stellenwert im Koali-tionsvertrag beigemessen hat.Lassen Sie mich auf einige Punkte in Ihrem Antragim Detail eingehen. Mit Ihren Forderungen, die Sie anden sozialen Wohnungsbau stellen, übersehen Sie kom-plett, dass der Bund überhaupt nicht zuständig ist. Es istgerade mehrfach ausgeführt worden: Seit der Föderalis-musreform 2006 sind hierfür allein die Länder zustän-dig. Der Bund stellt Kompensationsmittel zur Verfü-gung. Aber Ihr Ruf nach immer mehr Geld geht doch insLeere, wenn die Länder ihrer Verpflichtung nicht nach-kommen. Sie sollten lieber Ihren Landesregierungen aufdie Finger schauen.
Solange Rot-Rot in Berlin regiert hat, wurden die Mitteljedenfalls nicht in sozialen Wohnungsbau investiert,
sondern Schlaglöcher damit gestopft. Vielleicht funktio-niert es demnächst in Thüringen ja besser.
– Die Hoffnung stirbt zuletzt.Sie fordern weiterhin eine pauschale Anzahl von150 000 neuen mietpreisgebundenen Wohnungen undnennen das bedarfsgerechte Förderung. Ich frage mich:Was ist daran bedarfsgerecht, wenn die Wohnungen amEnde an den falschen Stellen gebaut werden?
Wie kann es bedarfsgerecht sein, wenn Sie vor Beginnder Bedarfsermittlung bereits wissen, welche Zahl amEnde dabei herauskommen soll? Das ist für mich eherHellseherei. Ich weiß nicht, ob Ihre Erkenntnis aus demLegen von Tarotkarten entstanden ist.
Aber dass Sie ja gerne zur Planwirtschaft zurückkom-men möchten, sieht man auch an anderen Stellen in Ih-rem Antrag, zum Beispiel wenn Sie eine staatliche Re-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7791
Sylvia Jörrißen
(B)
gulierungspolitik auch für die Bereiche Energie, Wasser,Abwasser und Abfall fordern. Sie scheinen aus IhrerVergangenheit nichts gelernt zu haben.
Mit uns wird es das jedenfalls nicht geben.
Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag hat mich ganz be-sonders betroffen gemacht
– nein, ich bin fertig –: die Forderungen, die Sie in Be-zug auf die Unterbringung von Flüchtlingen stellen.Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, haben Siedie aktuelle Notlage der Flüchtlinge immer noch nichterkannt? Wir erleben derzeit einen außergewöhnlich gro-ßen Zustrom von Flüchtlingen. Die Zahl der Erstanträgeauf Asyl ist im Jahr 2014 um 60 Prozent höher gewesenals im Vorjahr, und für dieses Jahr ist mit weiter steigen-den Zahlen zu rechnen. 200 000 Flüchtlinge stehen vorden Toren unserer Stadt.
Viele Kommunen stoßen angesichts dieser Herausforde-rungen an das Ende ihrer Kapazität.
Aber wir befinden uns in einer Situation, die sofortigesHandeln erfordert.
Die Unterkünfte müssen heute bereitgestellt werden.Eine Unterkunft in einem Randgebiet ist doch allemalbesser als keine Unterkunft im Zentrum.
Ich halte Ihren Antrag an dieser Stelle für eine gewaltigeMissachtung der Leistung der Kommunen, die geradeihr Möglichstes tun, um den Zustrom von Flüchtlingenzu bewältigen.
Ich halte ihn vor allem auch für eine Missachtung derBedürfnisse der Asylsuchenden.
Meine Damen und Herren, wir nehmen die Menschenernst. Die Menschen stehen im Mittelpunkt unserer Poli-tik.
Deshalb schauen wir genau hin. Wir wollen an den rich-tigen und an den erforderlichen Stellen die notwendigenAnreize setzen.Sie haben vollkommen recht: Wir stehen vor Heraus-forderungen auf dem Wohnungsmarkt. Wir haben inDeutschland einen heterogenen Wohnungsmarkt, wir ha-ben in einigen Bereichen mit Leerstand zu kämpfen, undwir haben Ballungsräume, in denen wir zu wenig Wohn-raum haben. Aber wir als Große Koalition sind diese He-rausforderungen bereits angegangen. Auch die GroßeKoalition möchte die Wiederbelebung der sozialenWohnraumförderung. Deshalb haben wir die Kompensa-tionsmittel in Höhe von 518 Millionen Euro bis zumJahr 2019 verstetigt. Damit ist es den Ländern möglich,bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Aber die Ländermüssen ihrer Verantwortung nun auch nachkommen.Wir haben weitere zielgerichtete Maßnahmen auf denWeg gebracht. Die Mietpreisbremse wird kommen;
sie befindet sich bereits im parlamentarischen Verfahren.Mit der Mietpreisbremse unterbinden wir zielgenau un-verhältnismäßig hohe Mieten bei der Weitervermietungin einigen Ballungsräumen. Aber wir müssen zugleichim Blick haben, dass die Mietpreisbremse nur die Symp-tome lindert. Die Mietpreisbremse baut keine einzigeneue Wohnung.
Des Weiteren werden wir das Wohngeld erhöhen; dashaben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Auch hier istein entsprechender Gesetzentwurf auf dem Weg. Damitstellen wir sicher, dass gerade Menschen mit geringemEinkommen direkt unterstützt werden.Mir ist noch ein Punkt wichtig. Gute Wohnungspoli-tik ist mehr als nur günstige Mieten. Wohnen muss nichtnur bezahlbar, sondern auch lebenswert sein. Wir müs-sen deshalb dafür sorgen, dass strukturschwache Orts-teile in ihrer Gesamtheit stabilisiert und aufgewertetwerden. Deshalb hat der Bund die Städtebaufördermittelauf insgesamt 700 Millionen Euro erhöht. Wir leisten da-mit einen wichtigen Beitrag zur Entlastung der Kommu-nen und zur Schaffung lebenswerter Wohnviertel.
Meine Damen und Herren, bei allem, was wir tun,müssen wir die Menschen im Auge haben, aber nicht nurdiejenigen, die mieten, sondern auch diejenigen, die an-deren Menschen Wohnraum zur Verfügung stellen. Wirmüssen in Deutschland ein Klima schaffen, das Investi-tionen in den Bau von Wohnungen zulässt und attraktivmacht. Attraktiv wird eine Investition durch steuerlicheFörderung.
Daher sollten wir im Rahmen der Möglichkeiten unseresHaushaltes auch über eine Sonderabschreibung nachden-
Metadaten/Kopzeile:
7792 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Sylvia Jörrißen
(C)
(B)
ken, die auf die Gebiete, in denen die Mietpreisbremsegilt, beschränkt werden könnte.
Dann würde wieder zielgenau dort die Investition ange-kurbelt, wo sie benötigt wird.Es ist bereits mehrfach gesagt worden: Nur der Neu-bau bringt mehr Wohnungen, dadurch mehr Angebotund damit eine Entlastung der Märkte. Aber das Bauenist in den letzten Jahren sehr teuer geworden. Aus die-sem Grund gehören auch die preistreibenden Faktorenauf den Prüfstand: Ich nenne als Beispiel die Grunder-werbsteuer. In meinem Heimatland, Nordrhein-Westfa-len, ist mit der Erhöhung in diesem Jahr der traurigeSpitzensatz von 6,5 Prozent erreicht. Ich nenne als Bei-spiel das Bauplanungsrecht: langwierige Umwidmungs-verfahren und Baugenehmigungsverfahren, die Stell-platzverordnung. Ist es erforderlich, dass bei der Planungeiner Seniorenwohnanlage die gleiche Anzahl von Stell-plätzen vorgehalten wird wie bei der Entwicklung einesBaugebietes für junge Familien? Ich bin der Meinung:Nein. Dies treibt die Baukosten in die Höhe und verur-sacht einen nicht notwendigen Flächenverbrauch.An diesen Beispielen sehen Sie bereits, dass dies Fak-toren sind, die der Bund nicht beeinflussen kann. DerBund tut deshalb das, was er kann: Er holt alle Akteurean einen Tisch. Im Bündnis für bezahlbares Wohnen undBauen sind alle politischen Ebenen – auch die Länderund die Kommunen – und alle handelnden Akteure ver-treten: die Bauwirtschaft, die Wohnungswirtschaft unddie Mieter. Jeder muss seinen Teil dazu beitragen. Ich er-warte, dass dieses Bündnis zügig konkrete Ergebnisseliefert.
Letztlich müssen sich auch die Bürger entscheiden,was sie wollen: Wenn sie eine innerstädtische Grünflä-che wollen, dann kann an dieser Stelle kein innerstädti-sches Baugebiet entstehen; das Tempelhofer Feld hier inBerlin ist das beste Beispiel dafür.Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben dieProblematik erkannt und wir handeln bereits. Die An-träge der Linken sind populistisch, zum Teil blanker Un-sinn, und gehen ins Leere.
Es wird Sie daher nicht wundern, dass wir Ihre Anträgeablehnen werden.
Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Kerstin Kassner,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich wage mal ganz einfach die These: Unter uns sindeinfach viel zu wenige Kommunalpolitiker.
Sonst würden wir über die Situation der Kommunennicht nur reden, sondern auch aktiv etwas tun, dass sichan dieser Situation etwas ändert. Die Situation der Kom-munen ist in der Tat sehr unterschiedlich: Es gibt wel-che, denen es gut geht, die auch tatsächlich gestaltenkönnen für ihre Bürgerinnen und Bürger, und es gibtKommunen, denen es nicht gut geht. Ich komme ausMecklenburg-Vorpommern; hier gibt es sehr viele Kom-munen, denen es nicht gut geht. Ich kenne aus meinerZeit als Landrätin die Haushalte der Kommunen auf derInsel Rügen ausgezeichnet, und ich weiß auch als aktiveKommunalpolitikerin in meiner Heimatgemeinde, wie dieLage dort ist. Es braucht also tatsächlich Möglichkeitender Gestaltung. Die Kommunen haben mit ihren Vertre-tungen sehr wohl einen Gestaltungswillen – daran man-gelt es nicht –; aber sie haben oft gar keine Gestaltungs-möglichkeiten mehr, die sie einsetzen können. Deshalbwäre es gut, wenn wir ein solches soziales Wohnungs-programm hätten, dass wir wirklich den Kommunenwieder Gestaltungsspielräume eröffnen.
Es ist in der Gegenwart tatsächlich zu beobachten– auf Rügen –, dass Investoren Bebauungspläne bezah-len. Sie wissen ja, wie das ist: Wer die Musik bezahlt, dersagt auch, was gespielt, in diesem Falle: gebaut wird. –Ergebnis sind Wohnungsgebiete, in denen im Winter dieRollläden heruntergelassen sind und wo die Bauämtersehr viel zu tun haben damit, Fehlnutzungen von Woh-nungen als Ferienwohnungen hinterherzulaufen. Dasdarf nicht sein!Wir wollen, dass die Kommunen das, was für die Bür-gerinnen und Bürger und für die Entwicklungsziele derKommunen notwendig ist, auch tatsächlich gekonnt ein-setzen können. Wir brauchen Möglichkeiten der Stadt-entwicklung, dass man eben auf Entwicklungen flexibelreagieren kann, auf die älter werdende Einwohnerschaft,auf mögliche Ansiedlung von jungen Familien, natürlichauch auf Flüchtlingsströme. Dies gilt beispielsweiseauch für die Situation in der Hansestadt Greifswald, diegleichzeitig eine Universitätsstadt ist. Dort platzt derWohnungsmarkt aus den Nähten, weil für die Studieren-den keine bezahlbaren Räume zur Verfügung stehen.Hier brauchen wir Programme, die auf diese Entwick-lungen tatsächlich reagieren.
Nun hat ja der Staatssekretär, Herr Pronold, die Zu-sammenarbeit zwischen Bund und Land sehr treffendbeschrieben. Ich sage Ihnen einmal als Beispiel, wie es
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7793
Kerstin Kassner
(C)
bei mir in Mecklenburg-Vorpommern aussieht – übri-gens rot-schwarze Regierung. Dort kommen von den518 Millionen Euro jedes Jahr 21,3 Millionen an.11,5 Millionen Euro davon packt die Finanzministerinerst einmal in einen Sparstrumpf. Dort liegen jetzt50 Millionen Euro, und zwar deshalb, weil 2019 dasProgramm ausläuft und man gar nicht weiß, was dannpassiert. Deshalb sagt man: Wir sparen einmal für dieseZeit nach 2019. – Der Rest wird zu großen Teilen alsDarlehen ausgereicht. Das bedeutet, dadurch wird kei-nerlei Absenkung der Mieten erreicht. Das ist eine abso-lute Fehlentwicklung.Deshalb sage ich: Hier muss man sich dringend anden Tisch setzen, und man muss die Länder in die Pflichtnehmen, dass sie das, was ihnen zur Verfügung steht,wirklich für die Gestaltungskraft der Kommunen einset-zen – das ist meine Forderung –, und das muss schnells-tens passieren, nicht erst irgendwann.
Ein weiterer Bereich, bei dem wir Möglichkeiten ha-ben, etwas aktiv zu tun, ist die BImA. Es gab ja den Ver-kauf der TLG-Wohnungen. Ich sage Ihnen einmal, wasin Stralsund passiert ist. Damals sind 240 Wohnungen andie Tegernsee AG verkauft worden. Diese Wohnungensind knapp zwei Jahre später weiterverkauft worden.Und was hat der Vorstandsvorsitzende dazu gesagt, wa-rum er das tut? „Ich wäre ja verrückt, wenn ich das nichttäte.“ Es ist eine Möglichkeit, ganz schnell Geld zu ma-chen, und das nicht zum Nutzen der Bürgerinnen undBürger, sondern zu ihrem Schaden.Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir brauchen wiederGestaltungsspielräume. Ich wünschte mir, dass wir mitsolch einem sozialen Wohnungsbauprogramm dieseSpielräume tatsächlich wieder bekämen. Tun Sie etwasdafür!
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Sören Bartol das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Diese Koalition hat das Thema Mieten, Woh-nen und Stadtentwicklung oben auf die Tagesordnunggesetzt. Ich danke den Kollegen von der Linken, dass siees heute im Bundestag aufgerufen haben.
Gutes und bezahlbares Wohnen ist eines der zentralenVorhaben in dieser Legislaturperiode. Barbara Hendricksund Heiko Maas und natürlich auch die gesamte Koali-tion sorgen dafür, dass es nun auch Schritt für Schrittumgesetzt wird.Wir haben schon 2014 die Städtebauförderung von455 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro aufgestockt,das Programm Soziale Stadt von 40 Millionen Euro auf150 Millionen Euro.
Soziale Stadt wird zum ressortübergreifenden Leitpro-gramm für die soziale Integration in den Städten. HeikoMaas hat bereits im letzten Jahr auch die Mietpreis-bremse und das Bestellerprinzip für Makleraufträge aufden Weg gebracht. Das parlamentarische Verfahren,liebe Kolleginnen und Kollegen, muss jetzt endlich ab-geschlossen werden.
Der Entwurf für die Wohngeldnovelle liegt vor; er gehtin den nächsten Monaten ins Kabinett. Erstmals seit2009 wird damit das Wohngeld wieder erhöht. DieWohngeldreform entlastet über 900 000 Haushalte;360 000 davon bekommen durch die Reform zum erstenMal oder wieder einen Anspruch auf Wohngeld. Wir sor-gen dafür, dass Familien und ältere Menschen nicht al-lein wegen hoher Mieten Arbeitslosengeld oder Grund-sicherung im Alter beantragen müssen.Barbara Hendricks hat das Bündnis für bezahlbaresWohnen und Bauen gestartet und arbeitet gemeinsammit wohnungswirtschaftlichen Verbänden, den Ländern,dem Mieterbund an Vorschlägen, den Wohnungsbau fürMieter mit geringem Einkommen anzukurbeln. In die-sem ersten Regierungsjahr haben wir eben vieles zurEntlastung der Mieter und für die lebenswerten Städteauf den Weg gebracht.Mit der Mietpreisbremse schaffen wir endlich dieMöglichkeit, exzessive Preissteigerungen bei Wieder-vermietungen zu begrenzen. Das ist eine wichtigeErgänzung zur abgesenkten Kappungsgrenze bei denBestandsmieten, die viele Länder wie Hamburg, Berlin,NRW, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz schon einge-führt haben. Mit der Mietpreisbremse wird es in ange-spannten Wohnungsmärkten endlich auch bei neuenMietverträgen eine Grenze nach oben geben. Maßstabdafür ist die ortsübliche Vergleichsmiete. Das dämpft zu-gleich die Dynamik der Mietentwicklung insgesamt.Die Mietpreisbremse ist ein ausgewogenes Instru-ment, das Mieterinnen und Mieter schützt. Neubautenund umfassend modernisierte Wohnungen sind davonausgenommen, um Investitionen in den Neubau und denWerterhalt nicht auszubremsen. Doch das hält leidermanche nicht davon ab, mit einer Verfassungsbe-schwerde zu drohen und deutlichen Mieterhöhungennoch vor dem Inkrafttreten das Wort zu reden. Sie über-sehen, dass Eigentum verpflichtet.Es geht nicht darum, den Mietwohnungsmarkt außerKraft zu setzen. Eine angemessene Rendite ist auch mitMietpreisbremse weiterhin möglich, überzogene Rendi-ten ohne jede Verbesserung des Wohnwerts aber ebennicht.
Die Statistik zeigt: Je länger angespannte Wohnungs-lagen anhalten, desto mehr entfernen sich die Angebots-mieten vom Mietspiegel – in teuren Städten im Schnitt
Metadaten/Kopzeile:
7794 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Sören Bartol
(C)
(B)
um 25 Prozent, sogar in normalen Lagen. Das könnensich dann selbst Haushalte mit mittlerem Einkommennicht mehr leisten.Hier in Berlin ist die Mietpreisspirale in den gehobe-nen Wohnlagen wie Charlottenburg mittlerweile an dieGrenze dessen geraten, was auch Mieter mit höheremEinkommen bereit sind, zu zahlen. Sie weichen jetzt inden Wedding oder nach Lichtenberg aus. Die Angebots-mieten in Charlottenburg sinken, aber der Preisdruck inden einfachen Wohnlagen steigt.Für Haushalte mit niedrigen Einkommen macht dieMietbelastung bis zu 50 Prozent des Einkommens aus.Das trifft vor allem Alleinlebende und Alleinerziehende,aber auch Familien. Sie finden in den Innenstädten kei-nen bezahlbaren Wohnraum mehr, und das hat natürlichauch Folgen für die soziale Durchmischung der Städte.Deswegen brauchen wir die Mietpreisbremse, und zwarjetzt.
Ich bin optimistisch, dass wir den wichtigen Gesetz-entwurf dazu im Bundestag jetzt schnell abschließendberaten werden, und ich sage es auch ganz deutlich: Ichbaue hier auch auf das Versprechen der Kanzlerin unddas Versprechen dieser Koalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt auch für dasBestellerprinzip bei den Maklergebühren. Der Gesetz-entwurf sieht vor, dass Vermieter die Kosten für denMakler nicht mehr einfach auf den Mieter überwälzenkönnen. Unbenommen ist es wohnungssuchendenMietern natürlich, auf eigene Rechnung einen Makler zubeauftragen. In jedem Fall muss es ab jetzt einen schrift-lichen Vertrag über den Suchauftrag geben, und ich sagees noch einmal: Wer bestellt, bezahlt. Das ist ein klaresund, wie ich finde, faires marktwirtschaftliches Prinzip.Wir wollen einen besseren Mieterschutz, gleichzeitigaber Investitionen in den notwendigen Neubau. Klar ist:Die Mietpreisbremse alleine bringt keinen bezahlbarenWohnraum.
In den wachsenden Städten brauchen wir Neubau, zu-mal die Zahl der Haushalte und auch die Ansprüche andie Wohnfläche zunehmen. Neubau – vor allen Dingenim unteren und mittleren Preissegment – kann nur gelin-gen, wenn Bund, Länder und Kommunen an einemStrang ziehen und mit der Bau- und Wohnungswirt-schaft, den Gewerkschaften und dem Mieterbund ge-meinsam nach Lösungen dafür suchen, wie Neubau zuvertretbaren Kosten realisiert werden kann.Barbara Hendricks hat das mit dem Bündnis für be-zahlbares Wohnen und Bauen in Angriff genommen undbraucht hier auch die aktive Unterstützung der Länderund der Wohnungswirtschaft. Vor allem auch genossen-schaftliche Wohnungsunternehmen müssen in meinenAugen verstärkt in den Neubau investieren.Die Bevölkerung in den großen Städten wächst wei-ter. In den Uni-Städten sorgen doppelte Abiturjahrgängeund die Aussetzung der Wehrpflicht für stärkere Bevöl-kerungszuwächse. Die Flüchtlingszahlen bleiben abseh-bar hoch, und auch der Zuzug aus dem europäischenAusland hält an. Das spricht für die Attraktivität derStädte, und ich finde, das ist auch gut so.Knapper Wohnraum und steigende Mieten sind aller-dings die Kehrseite. Deswegen hat die soziale Wohn-raumförderung der Länder eine hohe Bedeutung. Wirhaben die klare Erwartung, dass die Länder die Bundes-mittel für geförderten Neubau oder auch für den Rück-kauf von Belegungsrechten in angespannten Wohnungs-märkten einsetzen, und wir brauchen auch eineWiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus, der in den2000er-Jahren vernachlässigt worden ist.Inzwischen haben etliche Länder ganz klar umgesteu-ert – allen voran Olaf Scholz in Hamburg. Über 6 000Wohnungen, davon 2 000 Sozialwohnungen, wurden imletzten Jahr fertiggestellt. Ich finde, das ist eine beein-druckende Zahl.
In Städten und Ballungszentren ist Bauland oft derentscheidende Engpass. Grundstückskosten machen zumTeil mehr als 20 Prozent der Kosten von Neubauten aus.Die Liegenschaften von Bund, Ländern und Kommunenkönnen deshalb einen Beitrag leisten, Bauland für be-zahlbaren Wohnungsbau bereitzustellen. Ich finde, derBund muss dort mit gutem Beispiel vorangehen.
In den Koalitionsverhandlungen haben wir die verbil-ligte Abgabe von Konversionsliegenschaften, insbeson-dere für Wohnungsbau, erreicht. Das setzen wir auch mitdem Haushalt 2015 um. Flüchtlingsunterbringung wirddabei besonders berücksichtigt. Ich finde, das ist ein ers-ter Schritt. Aber aus Sicht der SPD gehört die Liegen-schaftspolitik insgesamt auf den Prüfstand. Unser Zielist, dass beim Verkauf von bundeseigenen Grundstückennicht nur der Erlös, sondern auch soziale, städtebaulicheund auch energetische Belange berücksichtigt werden.
Konzeptvergaben sind ein bewährtes Instrument.Hamburg zum Beispiel setzt das erfolgreich um und gibtdamit einen Anteil von Sozialwohnungen von bis zu ei-nem Drittel vor. Wir wollen auch, dass Kommunen einverbindliches Erstzugriffsrecht auf Grundlage des natür-lich von den örtlichen Gutachterausschüssen ermitteltenVerkehrswertes bekommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7795
Sören Bartol
(C)
(B)
Für Mieter von bundeseigenen Wohnungen, die zumBeispiel in Berlin zum Verkauf stehen, fordern wir einenvertraglich abgesicherten Schutz vor Umwandlung in Ei-gentum oder vor Luxusmodernisierung.
Neben dem Neubau ist der altersgerechte und energie-effiziente Umbau der Wohnungsbestände die großeAufgabe der kommenden Jahrzehnte. Wir schaffen ver-lässliche Rahmenbedingungen für die Gebäudesanie-rung,
stocken die CO2-Gebäudesanierungsprogramme auf2 Milliarden Euro auf und entwickeln sie weiter, damitdie Förderung stärker als bisher in die Breite wirkt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist zum Erreichenunserer Klimaschutzziele unverzichtbar.Auch für Eigentümer von Ein- und Mehrfamilienhäu-sern und Wohneigentumsgemeinschaften soll die Förde-rung der energetischen Sanierung attraktiver werden.Nicht nur das einzelne Haus, sondern das ganze Quartierhaben wir zum Beispiel beim Programm „EnergetischeStadtsanierung“ im Blick. Damit energiesparendes Woh-nen für alle bezahlbar bleibt, haben wir im Koalitions-vertrag durchgesetzt, dass Mieterhöhungen aufgrundvon Modernisierungen in Zukunft begrenzt werden. Daswerden wir mit dem zweiten Paket umsetzen.
Von besonderer Bedeutung ist natürlich das Pro-gramm „Soziale Stadt“. Es richtet sich an Städte undGemeinden mit Quartieren, in denen Arbeitslosigkeit,Bildungsarmut, vernachlässigte öffentliche Räume undsoziale Konflikte gehäuft auftreten und die besonderesoziale Integrationsleistungen für die gesamte Stadt er-bringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht eben nichtnur um gute und bezahlbare Wohnungen, sondern um eingutes Wohnumfeld, um die Zukunftsfähigkeit der Städteinsgesamt. Wir wollen lebendige und intakte Nachbar-schaften. Dafür steht diese Koalition. Dafür stehen wir.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Oliver Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben zwar heute von der Union nette wohnungspo-litische Worte gehört, aber wenn man mit anderen vonder Union – mir fallen da spontan Michael Fuchs undJoachim Pfeiffer ein – über Wohnungspolitik redet, dannmerkt man, was ihr Problem ist, warum sie in Großstäd-ten nicht ankommen. Sie selber erkennen ja, dass Sie daein Problem haben. Für Sie sind Wohnungen im Kern Ih-rer Partei Rendite- und Anlageobjekte und nicht Heimatund Schutz von Menschen, die dort leben. Genau das istIhr Problem. Das atmen Sie in Ihren Reden aus allen Po-ren aus. Deshalb verhindern Sie hier auch die Mietpreis-bremse.Es ist doch unglaublich, dass es hier seit anderthalbJahren einen politischen Konsens über alle Grenzen hin-weg darüber gibt, eine Mietpreisbremse einzuführen.Auch die Kanzlerin hat vor der Bundestagswahl ge-merkt, dass sie sich diesem Thema nähern muss. Sie aberbringen hier nichts zustande und können nichts ablie-fern. Das ist unglaublich. Eine seit anderthalb Jahren an-gekündigte Mietpreisbremse treibt die Mietpreise sogarnoch nach oben. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, waseine Mietpreisbremse machen sollte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Sören Bartol,Ihr Beitrag war gerade zur Hälfte eine Oppositionsrede.
Das Interessante ist, dass sich das Thema sogar in IhrenFlyern findet, die sich oben vor dem SPD-Fraktionssaalfinden.
Darin ist von bezahlbarem Wohnen in der Stadt dieRede. Da steht: „Gesagt“ – sagen tun sie viel –, aberdann kommt: „getan“ Ich frage mich aber nur: Was ha-ben Sie denn getan? Wo ist die Mietpreisbremse? Schaf-fen Sie es nicht, die Union dazu zu bewegen? Wo ist dieErhöhung des Wohngeldes? Wo ist ein vernünftiges Pro-gramm zur energetischen Quartierssanierung? Das allesliefern Sie an dieser Stelle nicht ab.
Beim Blick in den Flyer wird es dann ganz lustig. Da-rin heißt es – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:Die SPD-Bundestagsfraktion fordert zudem, dass inangespannten Wohnungsmärkten geeignete Grund-stücke des Bundes nur unter der Auflage verkauftwerden, dass auf ihnen zu mindestens 30 Prozentöffentlich geförderter Wohnraum errichtet wird.Sehr richtig. Sie haben nur den Satz vergessen: Wirkonnten uns gegen die Union nicht durchsetzen, unddeshalb kommt das Ganze nicht.
Sie errichten da einen Riesenpopanz. Sie reden vielund tun so, als würden Sie etwas machen. Am Ende ha-ben Sie zwar die Ressortzuständigkeit, bekommen aberüberhaupt nichts hin. Das ist Ihr Problem, und das soll-ten Sie wenigstens in Ihre Faltblätter hineinschreiben,damit den Leuten klar wird, wo das Problem ist.
Metadaten/Kopzeile:
7796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Oliver Krischer
(C)
(B)
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Das ist viel-leicht auch ein Hinweis an die Linken. Heute ist vielüber die Wohnraumförderung gesprochen worden. DieSPD – auch Herr Pronold eben – feiert sich für etwas,was eigentlich gesetzlich verankert ist und für das bis2019 519 Millionen Euro gezahlt werden. Wohnungspo-litik ist aber ein langfristiges Geschäft. Ich habe auf eineAussage darüber gewartet, wie es ab 2019 weitergehensoll. Welche Perspektive gibt es für die Wohnraumförde-rung? Darauf warten die Länder. Das muss endlich gelie-fert werden. Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört.Ganz skurril wird es beim Thema energetische Ge-bäudesanierung. Sie reden davon, was Sie alles machenwollen
und legen einen Nationalen Aktionsplan Energieeffi-zienz vor. Fragt man am Ende nach der Substanz, dannzeigt sich: Sie haben im Haushalt 2015 im Zusammen-hang mit dem Energie- und Klimafonds die Mittel sogarnoch abgesenkt. Sie machen weniger als vorher, und ge-nau das ist das Problem Ihrer Wohnungspolitik, meineDamen und Herren.
Der Kollege Bartol hat sich eben für die energetischeQuartierssanierung gelobt.
Mit diesem Programm fördern Sie zwar ein bisschenwas, aber letztlich muss es einen Ansatz geben. Ichkomme aus Nordrhein-Westfalen und kann mir kaumeine Kommune vorstellen, die dieses Programm in An-spruch nehmen kann, allein was die Eigenanteile angeht,die vorausgesetzt werden.
Wir brauchen doch endlich ein Programm – wir Grü-nen haben dazu den Energieeffizienzfonds vorgeschla-gen, der mit 2 Milliarden Euro für die Kommunenausgestattet werden soll, damit sie vor Ort die Quartiers-sanierung durchführen können. Das wäre eine richtigeAntwort. Dazu kommt aber von Ihnen gar nichts. Sie be-schränken sich auf Showpolitik und Gerede, aber es gibtkeine Substanz.
Zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Wir habenin Deutschland gerade in Großstädten eine Mietentwick-lung, bei der sich die Menschen Sorgen machen, ob sieauch weiterhin in ihren Wohnungen leben können. Wirerleben Gentrifizierung. Das, was man aus anderen west-europäischen Großstädten kennt, wollen wir nicht, aberes droht leider: die Gettobildung.Was auch droht, ist eine Immobilienblase in Deutsch-land. Der Bericht der Bundesbank zeigt, was in diesemZusammenhang läuft. Es gibt aber keine Antwort derBundesregierung zu diesem Thema.Sie liefern nicht die notwendigen Antworten, die dieMenschen, die auf bezahlbaren und günstigen Wohn-raum angewiesen sind, brauchen. Sie liefern keine Ant-wort auf Immobilienblasen, die entstehen.Am Ende werden nicht nur die Menschen, die aufgünstigen Wohnraum angewiesen sind, sondern auch dieVolkswirtschaft insgesamt unter Ihrer nicht vorhande-nen, sondern nur angekündigten Politik leiden, meineDamen und Herren.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin
Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Werte Kollegen von der Fraktion Die Linke,Sie haben insofern recht: Auf dem Wohnungsmarkt inBallungsgebieten und Universitätsstädten herrschtHandlungsbedarf. Auch wenn in weiten Teilen Deutsch-lands die Wohnungsmärkte gut funktionieren, ist es lei-der so, dass bezahlbarer Wohnraum in manchen Gebie-ten Deutschlands knapp ist.Dagegen müssen wir etwas tun, keine Frage. Aberwie so oft in der Politik im Deutschen Bundestag sindunsere Vorstellungen, wie man dieses Ziel erreicht, totalunterschiedlich. Sie zeigen mit Ihren Forderungen aufsNeue, dass Sie noch nicht in der sozialen Marktwirt-schaft angekommen sind, meine Damen und Herren.
Ich möchte hier nur einige Punkte Ihrer Forderungenherausgreifen: erstens Aufstockung und Verstetigung derWohnraumförderung des Bundes bei 700 Millionen Eurojährlich, zweitens eine haushaltsfinanzierte Investitions-offensive zugunsten der energetischen Gebäudesanie-rung in Höhe von 5 Milliarden Euro jährlich, drittenseine Verstetigung der Städtebauförderung bei 700 Mil-lionen Euro jährlich für die nächsten zehn Jahre – manhöre und staune; da greifen Sie in das Haushaltsrecht desBundestages in diesen Jahren ein –,
viertens Auflegung eines Investitionsprogramms für dieEntwicklung der ländlichen Räume und deren Vernet-zung mit städtischen Zentren in relevanter Höhe. DieseForderungen, insbesondere die letzte Forderung – dassage ich als Abgeordnete, die aus dem ländlichen Raumkommt –, hören sich grundsätzlich ganz gut an, keineFrage. Aber bei Anträgen der Linken stellt sich immerwieder die gleiche Frage: Wie wollen Sie das finanzie-ren?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7797
Dr. Anja Weisgerber
(C)
(B)
Das liest sich nicht wie ein seriöser Antrag, den man um-setzen kann, weil das dafür notwendige Geld vorhandenist, sondern wie ein Wunschzettel nach dem Motto„Wünsch dir was“. So sieht seriöse, verantwortungsvolleund nachhaltige Politik nicht aus.
Sie bestätigen einmal mehr, dass Sie ein ganz eigenesbzw. kein Verhältnis zum Steuergeld haben. Ihnen scheintes egal zu sein, wie hoch der Schuldenberg des Bundesanwächst. Wir dagegen haben in diesem Hohen Hauseim November letzten Jahres den ersten ausgeglichenenHaushalt seit 45 Jahren beschlossen; denn wir wollenunseren Kindern Chancen statt Schulden vererben. Dasnenne ich verantwortungsvolle und zukunftsgerichtetePolitik.
Sie dagegen fordern immer mehr. Gleichzeitig werfenSie dem Bund vor, im sozialen Wohnungsbau sei in denletzten Jahren zu wenig passiert. Hier müssen wir aberauf die Zuständigkeiten blicken. Das heißt, wir müssenauf die Länder schauen. In unserem föderalen Systemsind die Bundesländer für den sozialen Wohnungsbauzuständig. Das wollen sie auch, und das soll auch sobleiben. Der Bund stellt ihnen dafür 518 Millionen Eurozur Verfügung. Dieser Betrag wird in den nächsten Jah-ren verstetigt. Wenn man aber einen genaueren Blick aufdie Länder wirft, dann zeigt sich ein ganz unterschiedli-ches Bild. Einige Länder nehmen diese Verantwortungwahr; Herr Staatssekretär Pronold hat das erwähnt. FrauLay, Sie haben vorhin einen Zuruf gemacht – ich habeihn genau verstanden – und gefragt, wie denn die Bilanzin unseren Ländern aussieht. – Frau Lay, würden Sie mirkurz zuhören?
– Gut. – Bayern, das Land, aus dem ich komme, ist hiereinmal mehr ein ausgezeichnetes Beispiel. Bayern hatdie Gelder zur Förderung des sozialen Wohnraums ver-wendet. Wir in Bayern haben zielgerichtet investiert.Andere Länder haben nichts oder nur sehr wenig inves-tiert. Daher muss ich einmal mehr sagen: Es kann nichtsein, dass der Bund den Ländern Gelder für den sozialenWohnungsbau überweist und dass manche Länder danndiese Gelder nutzen, um ihre Haushaltslöcher zu stop-fen; das geht so nicht.
In Berlin war das fast ein Jahrzehnt – wen wundert’s? –unter Rot-Rot der Fall. Erfreulicherweise hat sich die Si-tuation in Berlin seit der rot-schwarzen Koalition deut-lich verbessert; Herr Mindrup hat das bei uns im Aus-schuss erwähnt. Dazu kann ich nur sagen: Kaum ist dieUnion statt der Linken an der Regierung beteiligt, ändertsich etwas,
wenn es um die sinnvolle Verwendung von Steuergel-dern geht. Hier kann man das an einem ganz konkretenBeispiel deutlich machen. Kaum auszudenken ist, waswäre, wenn in Berlin die Union allein in der Verantwor-tung stünde. Allerdings ist das wohl eher ein theoreti-sches Gedankenspiel.
Wir diskutieren heute darüber, wie viele öffentlicheGelder in den sozialen Wohnungsbau investiert werdensollten. Wichtig ist aber auch, dass der Gesetzgeber dieWeichen beim Mietrecht – Stichwort „Mietpreisbremse“ –so stellt, dass noch Anreize zum Bauen und Investierengesetzt werden. Wenn wir zu diesem Thema anderen An-trägen der Linken folgen würden, dürfte es in ZukunftMieterhöhungen nur noch in Höhe der Inflation geben.Das wäre keine Mietpreisbremse, sondern eine Investi-tionsbremse. In der aktuellen Diskussion ist es deshalbentscheidend, dass wir diese Mietpreisbremse klug aus-gestalten. Wenn wir hier dem Modell der Linken folgten,würde niemand in neue Wohnungen investieren. Daswürde die Situation auf den angespannten Wohnungs-märkten noch weiter verschärfen, und das kann auch kei-ner wollen.Deshalb haben wir uns in den Verhandlungen dafüreingesetzt, dass die Vermietung von neu errichtetenWohnungen aus dem Anwendungsbereich der Mietpreis-bremse ausgenommen wird. Das ist jetzt auch so im Ge-setzentwurf enthalten, der zurzeit im Parlament disku-tiert wird. Diese Ausnahme – auch das möchte ich andieser Stelle sagen – wünsche ich mir auch für umfas-send modernisierte Wohnungen. Herr Bartol, Sie habenes vorhin erwähnt. Auch die, hatten Sie gesagt, seienausgenommen. Aber bisher ist bei den umfassend mo-dernisierten Wohnungen nur die erste Vermietung ausder Mietpreisbremse ausgenommen. Eine kompletteAusnahme wie für Neubauten würde die Anreize für dieDurchführung von solchen Modernisierungsmaßnahmennoch erhöhen.Als Klimapolitikerin sage ich: Das ist genau das, waswir uns auch unter klimapolitischen Gesichtspunktenwünschen. 40 Prozent des Endenergieverbrauchs undetwa ein Drittel der CO2-Emissionen in Deutschland fal-len im Gebäudebereich an. Diese Einsparpotenzialemüssen wir nutzen. Das kürzlich beschlossene Klimaak-tionsprogramm der Bundesregierung schafft mit dersteuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanie-rung dafür die richtigen Investitionsanreize. Nun sind andieser Stelle die Bundesländer am Zug. Aber der Bun-desrat hat erneut einen entsprechenden Antrag der Bay-ern vertagt. Deshalb appelliere ich hier erneut an dieBundesländer. Herr Krischer, wo sind hier die grünenAbgeordneten, auch in den Bundesländern?
Die Grünen müssten doch diesen Prozess noch be-schleunigen,
Metadaten/Kopzeile:
7798 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Anja Weisgerber
(C)
(B)
damit die steuerliche Förderung der energetischen Ge-bäudesanierung endlich kommt. Machen Sie jetzt end-lich mit. Lassen Sie uns gemeinsam diese Chance amSchopf packen.
– Bayern hat den Antrag im Bundesrat gestellt. Der istvertagt worden. Wenn wir uns gemeinsam an einenTisch setzen, finden wir endlich eine Lösung. Wir Kli-mapolitiker und, wie ich glaube, alle Politiker in diesemHaus, die meisten jedenfalls, wollen diese energetischeSanierung und die steuerliche Förderung.
Auch für Millionen Mieter in unserem Land wäre dasgut; denn sie sparen durch die energetische Modernisie-rung langfristig bares Geld.Sie sprechen in Ihrem Antrag auch die Unterbringungvon Flüchtlingen an. Uns allen liegt daran, die schutzbe-dürftigen Menschen, die zu uns kommen, angemessenunterzubringen. Ziel dabei ist, die Menschen dezentralan vielen Orten, auch in leerstehenden Häusern, unterzu-bringen, auch um zu vermeiden, dass Gemeinden mitsehr großen Notunterkünften überfordert werden und dieWillkommenskultur, die wir momentan noch in Deutsch-land haben, dadurch gefährdet wird. Diese Lösungenmüssen wir gemeinsam umsetzen – und das auch kurz-fristig.Genau deshalb haben wir im November, übrigens ge-gen die Stimmen der Linken, ein Gesetz verabschiedet,das die Kommunen bei der Flüchtlingsunterbringung un-terstützt. Die Änderungen im Baugesetzbuch erweiternden Handlungsspielraum der Städte und Gemeinden, umFlüchtlinge schneller und einfacher angemessen unter-bringen zu können. Damit helfen wir den Menschenmehr, als wenn wir immer nur utopische Forderungenstellen.
Bei einem Punkt sind wir uns allerdings gar nicht sofern: der Städtebauförderung. Ich freue mich außeror-dentlich darüber, dass wir die Mittel der Städtebauförde-rung auf einem Rekordniveau von 700 Millionen Euroverstetigt haben, im Hinblick auf unsere Staatsfinanzenjedoch zunächst nur bis zum Ende der Legislaturperiode.Das ist ein starkes Signal an unsere Städte und an unsereGemeinden, ein starkes Signal auch mit Blick auf dieHerausforderungen, denen sie derzeit gegenüberstehen,weil immer mehr Menschen in unser Land kommen undin unserem Land Schutz suchen.Gerade das Programm „Soziale Stadt“, das wir deut-lich aufgewertet haben, kann dazu einen Beitrag leisten.Diese Mittel können für die Integration der Flüchtlingeeingesetzt werden, beispielsweise durch Angebote wieNachbarschaftstreffen für Flüchtlinge und die örtlicheBevölkerung. Das trägt auch zur Akzeptanz der Bürge-rinnen und Bürger für die Zuwanderer bei, die wir drin-gend brauchen.
Dennoch bin ich der Meinung, dass das Programm„Soziale Stadt“ weiterhin in erster Linie für investiveMaßnahmen eingesetzt werden sollte; denn das ist dasWesen der Städtebauförderung und ihr Erfolgsrezept.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Ihre Vorschlägezeigen einmal mehr, dass Ihre Politik weit an der Realitätvorbeigeht. Deshalb kann ich, wie meine gesamte Frak-tion, Ihren Antrag nur ablehnen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt
Klaus Mindrup.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Karl Valentin ist hier ja eben schon zitiertworden. Ich kann noch ein Zitat anfügen:Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.Ich möchte versuchen, die Richtigkeit dieses Zitats andieser Stelle nicht zu bestätigen.
Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen habenein wichtiges Thema auf die Tagesordnung gesetzt; dasind wir uns hier einig.
– Sie von der Linken waren das. Entschuldigen Sie, ichhabe gerade in die falsche Richtung geschaut.Das Thema, das Sie aufgegriffen haben, ist vernünf-tig. Deutschland hatte im Jahr 2013 einen Einwande-rungsüberschuss von ungefähr 430 000 Einwohnern. Al-lein nach Berlin sind 47 000 Menschen gekommen.Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Tatsachekann man nicht länger ignorieren und auch nicht längerleugnen.
Das muss natürlich auch eine andere Wohnungspoli-tik zur Folge haben. Die Menschen, die zu uns kommen,brauchen Wohnungen, und sie sollen nicht die Mieterin-nen und Mieter aus ihren angestammten Wohnungenverdrängen; deswegen brauchen wir Wohnungsneubau.Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7799
Klaus Mindrup
(C)
(B)
Aber ich kann Ihnen aus meinem Wahlkreis sagen:Wenn städtische Gesellschaften, nicht private, oder Ge-nossenschaften neuen Wohnraum schaffen wollen, sinddie Linken im Protest immer vorne dabei, egal ob es umeine Brache in der Innenstadt oder um eine Bebauungam Stadtrand geht. Das Argument ist immer dasselbe:„Anderswo geht es besser.“ Oder: „Wir brauchen das garnicht.“
Insofern kann ich Ihnen für diesen Antrag sehr dankbarsein. Er ist eine Argumentationshilfe für uns. Das Posi-tivste an diesem Antrag ist, dass darin festgestellt wird,dass Wohnungsneubau etwas ist, was wir brauchen.
Aber Wohnungsneubau allein ist nicht die Lösung.Wir müssen auch die heutigen Bestandsmieter stärkerund besser schützen. Dazu bietet der Koalitionsvertrageine hervorragende Handlungsgrundlage. Die müssenwir jetzt aber umsetzen, und dafür haben wir Tempo auf-zunehmen. Ich denke, das ist aus Sicht der SPD ganzklar.Das Bündnis für bezahlbares Wohnen ist bereits er-wähnt worden. Ich möchte an dieser Stelle einen Punktherausgreifen: die Liegenschaftspolitik. Es ist hervorra-gend, dass sich Berlin und der Bund auf einen Erstzu-griff für die 4 600 Geschosswohnungen zum gutachterli-chen Verkehrswert geeinigt haben. Diese Einigung istbereits an einer Stelle umgesetzt worden: bei den84 Wohnungen des Quartiers Londoner Straße/Themse-straße. Das zeigt, dass man sich einigen kann, dassBImA, Bundesrepublik und Kommune, in diesem FallBerlin, zum Nutzen der Mieterinnen und Mieter zusam-menarbeiten. Außerdem zeigt es – das ist ein ganz wich-tiger Hinweis –, dass dies eine Politik ist, die einerBlasenbildung entgegenwirkt, nämlich weil zum Ver-kehrswert veräußert wird. Ich hoffe, dass die Verhand-lungen über diese 4 600 Wohnungen in diesem Jahr zumAbschluss gebracht werden können, und ich hoffe, dasses anschließend auch eine Lösung für das Problem derPotenzialflächen gibt.
Alles, was ich höre, und zwar von beiden Seiten, ist,dass man auf einem guten Weg ist.Aber eins ist klar: Das, was für Berlin gilt, muss auchfür alle anderen Städte und Gemeinden in Deutschlandgelten. Das ist die Richtschnur, und das muss auch an-derswo umgesetzt werden.
Zu den Konversionsflächen gibt es bereits einen ent-sprechenden Beschluss des Haushaltsausschusses. Ichdenke, dass die Koalition hier aufgefordert ist – die SPDunterstützt das –, die BImA auf eine entsprechende Be-schlussgrundlage zu stellen, damit sie für ihr Handelnparlamentarischen Rückhalt hat. Wir müssen an dieserStelle liefern. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, sind wir uns hoffentlich bald einig.Man muss aber auch einräumen, dass für die dreiHäuser in Schöneberg keine Lösung gefunden werdenkonnte, zumindest bisher nicht. Hier sagt Berlin, dassder Erwerb zu den aufgerufenen Konditionen wirtschaft-lich nicht möglich ist; Berlin beruft sich auf die Landes-haushaltsordnung. Die BImA sagt: Die Haushaltsord-nung des Bundes legt fest, man könne nicht unterGutachterwert veräußern. – Irgendetwas stimmt an die-ser Stelle nicht. Man muss klar sagen – das sage ich auchan dieser Stelle –: Das ist der Öffentlichkeit nicht zu ver-mitteln. Eins muss man allerdings auch sagen: Wir ken-nen noch nicht alle Einzelheiten dieses Einzelfalls, ins-besondere nicht das Wertgutachten; insofern können wirdas hier nicht beurteilen. Das wird uns sicherlich nochan anderer Stelle beschäftigen.Kommen wir zurück zum Antrag. Die Linken for-dern, dass die Kompensationszahlungen des Bundes fürdie Wohnraumförderung auf 700 Millionen Euro – eineschöne Zahl – jährlich erhöht werden, begründen abernicht, warum. Sind nicht 800 Millionen oder 900 Millio-nen Euro besser? Das ist hier aber nicht die entschei-dende Frage. Die entscheidende Frage ist: Wie sieht dieGesamtstrategie aus? Und dazu hat der Kollege Pronoldschon etwas gesagt. Wir brauchen eine Gemeinschafts-aufgabe, ein gemeinschaftliches Herangehen von Bund,Ländern und Gemeinden. Wir als Bund sind hier schonvorangegangen, konkret bei der Aufstockung der Städte-baufördermittel und zum Beispiel auch beim Zuschussfür das barrierefreie Wohnen; das gehört auch in diesesKapitel hinein, und das haben wir auf den Weg gebracht.
Die energetische Quartierssanierung wurde hier ebenso abgetan, und es wurde gesagt, sie würde nicht funk-tionieren. Ich habe mir die aktuellen Zahlen geben las-sen. Mir wurde gesagt: Der Mittelabruf steigt. – Das istetwas Positives. Verbesserungsbedarf besteht noch inso-fern, als dass Gemeinden in Haushaltsnotlagen einen ge-ringeren Eigenanteil aufbringen müssen. Ich höre aber:Da ist man auch dran.Insofern kann ich sagen: Die Koalition ist unterwegs.Die Richtung stimmt. Aus Sicht der SPD können wir al-lerdings noch etwas beschleunigen. Das ist vor allenDingen ein Hinweis an die Kolleginnen und Kollegenaus der Union.Danke schön.
Vielen Dank. – Jetzt hat die Kollegin Yvonne Magwasvon der CDU/CSU das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
7800 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Vorredner aus der Großen Koalitionhaben bereits die wesentlichen Argumente zu den vorlie-genden Anträgen der Linksfraktion genannt;
ich werde mich deshalb vor allem auf zwei, drei Aspektekonzentrieren, die mir wichtig sind.Es geht schon los, wenn wir uns die Überschriften derAnträge anschauen. Die reichen von einem linksrevolu-tionären „Marktmacht brechen“
bis hin zu einem etwas milderen „Soziale Wohnungs-wirtschaft entwickeln“.
Beide Überschriften erwecken aber den Eindruck, als obwir in Deutschland zwei dramatischen Situationen aus-gesetzt sind: Erstens. Da herrschten irgendwelche finste-ren Mächte des Marktes im Wohnungssektor, und diesemüssten besiegt werden. Zweitens. Eine soziale Woh-nungswirtschaft müsse erst einmal entwickelt werden.Dem Titel nach existiert ja eine solche in Deutschlandüberhaupt nicht.Jetzt kann man einfach anführen, es handele sich nurum die Überschriften; man solle sich doch einmal denText anschauen.
Doch ist die Überschrift immer auch die Visitenkarte ei-nes Textes. Sie sagt etwas darüber aus, was der Inhaltdes Textes zutage fördern wird und was der Autor imSinn hat. In diesem Fall, liebe Kolleginnen und Kollegender Linken, radikalisieren und bagatellisieren die Über-schriften den Wohnungsstandort Deutschland.
Sie erwecken nämlich einen Anschein, der nichts mit derRealität und der wirklichen Situation in unserem Landzu tun hat.
Und sie lassen darauf schließen – das ist eindeutig er-kennbar –, wie grundsätzlich negativ die Linke unserLand betrachtet.Im Text der Anträge selber werfen Sie den Koali-tionsfraktionen vor, die beschlossenen Maßnahmen wür-den nicht ausreichen oder seien überhaupt nicht geeig-net. Sie bagatellisieren also die Mietpreisbremse,
Sie bagatellisieren das Bündnis für bezahlbares Wohnenund Bauen, Sie bagatellisieren die Baukostensenkungs-kommission,
und Sie bagatellisieren die Bundeskompensation inHöhe von 518 Millionen Euro an die Länder. Kein Wortfällt Ihnen zu der von uns angeschobenen Wohngeldno-velle ein.
Die Mittel aus dem Bereich der Städtebauförderung rei-chen Ihnen nicht aus. Und auch, dass wir die Kommunenum Milliarden entlasten, damit sie wieder Aufgaben imsozialen Wohnungsbau wahrnehmen können, ignorierenSie vollends.
Sie hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen derLinken, bleiben sich durchaus treu. Wie heißt es so oft?Viel heiße Luft und wenig bis gar nichts dahinter! InÖsterreich nennt man diese Vorgehensweise „Dampf-plauderei“, und genau das passt zu Ihren Anträgen.
Stattdessen würde es zu guter Arbeit gehören, wennSie wesentliche Fragen beantworten könnten, etwa: Wiewollen Sie das Ganze finanzieren?
Wo wollen Sie sparen? Wen wollen Sie im Gegenzug fürall die Wohltaten, die Sie großzügig verteilen wollen, be-lasten? – Es ist eine Wunschliste, eine Wunschliste ohneGegenfinanzierung. Schauen wir uns einmal die Anträgean – wir können darin viele schöne Zahlen lesen –:5 Milliarden Euro hier, 700 Millionen Euro da, 700 Mil-lionen Euro dort. Hinzu kommen ein neues Investitions-programm in „relevanter Höhe“ und obendrauf nochForschungs- und Förderprogramme zur Entwicklungneuer Wohnformen. Flankiert wird diese wohnungspoli-tische Wundertüte natürlich mit nicht praktikablen Vor-schlägen wie zum Beispiel dem diffusen „Einfrieren“von Energie- und Wasserpreisen unter bundeseinheitli-cher Aufsicht.Meine Damen und Herren, ich möchte es wiederho-len: Nichts in den Anträgen halte ich für durchdacht.
Ihre Anträge sind getragen von einer absurden Ansicht,und das ist natürlich nicht unser Anliegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union machtPolitik für alle Menschen im Land und nicht für eine be-stimmte Klientel.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7801
Yvonne Magwas
(C)
(B)
Würdiges Wohnen ist eine Aufgabe, um die sich Bund,Länder und Kommunen gemeinsam kümmern. Dazu ge-hört für uns auch die Beachtung eines einfachen Grund-satzes: Ich kann nur das ausgeben, was ich einnehme.Mit der Schwarzen Null und einem ausgeglichenenHaushalt betreiben wir eine generationengerechte Poli-tik. Niemand kann heute Wohltaten verteilen, die danndie nächste Generation schultern muss. Dies verlangtaber die Linke in ihrem Antrag. Die Leute im Land ver-dienen, dass man ihnen ehrlich sagt, was man finanzie-ren kann und was man nicht finanzieren kann.
Meine Damen und Herren, meine Kollegen haben esschon angesprochen: Leider wird die vom Bund geleis-tete Kompensation für den Wegfall der Finanzhilfe fürden sozialen Wohnungsbau in den Bundesländern nichtimmer komplett für den sozialen Wohnungsbau verwen-det.
Das ist zu kritisieren.
Wir erwarten im Gegenzug für die vom Bund geleistetenMittel – so steht es auch im Koalitionsvertrag –, dass dieLänder diese zweckgebunden für den Bau neuer sozialerWohnungen einsetzen.Überhaupt sollten wir in diesem Zusammenhang ei-nen Blick auf die einzelnen Bundesländer richten. Berlinwar zur Zeit der linken Regierungsbeteiligung komplettaus dem sozialen Wohnungsbau ausgestiegen.
Aber auch das mit Ihrer Beteiligung regierte Branden-burg ist ein Sorgenkind in Sachen sozialer Wohnungs-bau. Lassen Sie mich kurz aus dem Rechnungshofbe-richt des Landes Brandenburg aus dem Jahr 2014zitieren. Da heißt es:Das Ministerium– für Infrastruktur und Landesplanung –beabsichtigte, bis 2013 für den Neubau von Miet-wohnungen in Innenstädten Fördermittel von30,0 Mio. Euro einzusetzen. Im Jahr 2011 standendavon 10,0 Mio. Euro zur Verfügung.So schön, so gut. Es gab dann einen Wettbewerb, und dieJury wählte 16 Anträge mit insgesamt 336 Wohneinhei-ten aus.Ich zitiere weiter:Nach drei Jahren befanden sich von diesen 16grundsätzlich bestätigten Projekten lediglich …vier Vorhaben in der Umsetzung: …Damit förderte das MIL letztlich den Neubau von72 Mietwohnungen im gesamten Land Branden-burg und stellte dafür Fördermittel von 2,2 Mio.Euro zur Verfügung.
Das entspricht 1 % der zwischen 2007 und 2013insgesamt für die Wohnraumförderung bewilligtenMittel.Das schreibt der Landesrechnungshof.Schon allein das ist im Angesicht der vorliegendenAnträge eine Farce. Aber es kommt noch ein klein wenigdicker: Das Land Brandenburg hat im vergangenen Jahrdie Kappungsgrenzenverordnung eingeführt. Im Ergeb-nis wurden 30 Brandenburger Gemeinden ermittelt, indenen es zu wenige Mietwohnungen zu angemessenenBedingungen gibt.
Frau Kollegin Magwas, lassen Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Liebich zu?
Ich bin fast fertig, das können wir hinterher bilateralklären. Danke schön.
30 Brandenburger Gemeinden wurden ermittelt, indenen es zu wenige Mietwohnungen zu angemessenenBedingungen gibt. Leider ergibt sich daraus auch derSchluss, dass Brandenburg versucht hat, die Fehlent-wicklungen der eigenen Baupolitik zu kaschieren. Dasist die Realität der linken Politik, meine Damen und Her-ren.
Im Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition aufein umfangreiches Paket an Maßnahmen verständigt, umdie Wohnsituation in Deutschland weiter zu verbessern.Diese Maßnahmen sind zum Teil schon verabschiedet,andere werden auf den Weg gebracht. Lassen Sie michdie Maßnahmen noch einmal stichpunktartig zusammen-fassen: das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen,hier vor allem die Baukostensenkungskommission, dieMietpreisbremse, die anstehende Wohngeldnovelle, diefinanzielle Entlastung der Kommunen, die Städtebauför-derung und natürlich die Bereitstellung von Finanzmit-teln, die wir konkret für den sozialen Wohnungsbau andie Länder geben.
Metadaten/Kopzeile:
7802 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Yvonne Magwas
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, die Linke gaukelt unsallzu gerne vor, sie würde die einzig wahre Sozialpolitikfür die Menschen in unserem Land machen. Sozialpoli-tik ist aber auch das, was die Große Koalition tut, näm-lich zum einen durch die bereits erwähnten Maßnahmenzur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, zum anderen– das ist die wesentliche Grundlage – durch eine solideund generationengerechte Haushaltspolitik. Nur einesolche Kombination an Entscheidungen garantiert, dasses den Menschen in unserem Land gut geht.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Liebich für eine
Kurzintervention.
Liebe Kollegin, herzlichen Dank für das charmante
Angebot, dass wir das privat klären können.
Aber ich würde gerne alle hier an den Informationen teil-
haben lassen.
Ich habe in der Zeit, über die Sie hier gesprochen ha-
ben, als Fraktionsvorsitzender der PDS-Fraktion im Ab-
geordnetenhaus von Berlin gearbeitet und würde gerne
über einen Punkt informieren. Sicherlich haben wir da-
mals auch Fehler gemacht – das soll ja beim Regierungs-
handeln vorkommen –, aber der Ausstieg aus dem soge-
nannten sozialen Wohnungsbau in Berlin war aus meiner
Sicht sehr richtig. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum:
In Berlin war es so, dass das Land Berlin unter der CDU-
SPD-Regierung, aber auch schon davor, zu Westberliner
Zeiten, einen ganz besonders kreativen Weg gewählt hat,
den sogenannten sozialen Wohnungsbau zu betreiben. Es
war nämlich so, dass die Immobilienfirmen direkt das
Geld bekommen haben und die sogenannten Sozialmie-
ten höher waren als die Vergleichsmieten auf dem freien
Markt. Deshalb hat sich das Land Berlin entschieden,
dort auszusteigen. Dagegen gab es massive Klagen der
Immobilienunternehmen. Am Ende haben wir in allen
Verfahren gewonnen. Ich glaube, dass man damit dem
Landeshaushalt einen Gefallen getan hat und den Mie-
tern nicht geschadet hat.
Vielen Dank.
Dann hat die Kollegin Ulli Nissen von der SPD-Frak-
tion als nächste Rednerin das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Für mich ist gutes, bezahlbares Wohnen sehrwichtig. Deshalb ist es schön, dass ich heute dank desWünsch-dir-was-Antrags der Linken dazu Stellung neh-men kann.Wenn wir schon beim Wünschen sind: Ich hätte mirgewünscht, dass wir heute die Mietpreisbremse debat-tiert und beschlossen hätten;
aber es gibt leider noch einige kleine Bremsklötze. Ichbin mir jedoch sicher, dass die Nöte der Mieterinnen undMieter auch meinen lieben Kollegen und Kolleginnender CDU/CSU eine Herzensangelegenheit sind und wirmöglichst umgehend eine Lösung finden.
Viele von uns kommen aus Städten, die einen ange-spannten Wohnungsmarkt haben. Ich selber komme ausFrankfurt. Die Stadt wächst jährlich um 15 000 Men-schen. Deshalb wissen wir, wie schwer es ist, bezahlba-ren Wohnraum zu finden. Wir nehmen die Sorgen derMenschen ernst. Wir haben da eine Menge zu tun undhandeln dort, wo wir es auf Bundesebene auch wirklichkönnen.Damit Wohnen nicht zum Luxus wird, haben wir alsrot-schwarze Bundesregierung bereits eine Menge inAngriff genommen. Nur ein kurzer Auszug unserer be-reits beschlossenen Maßnahmen: Erhöhung der Mittelfür die Städtebauförderung, deutlich mehr Geld für dasProgramm „Soziale Stadt“ und die Schaffung des Bünd-nisses für bezahlbares Bauen und Wohnen. Natürlichwäre es super, wenn wir für diese Maßnahmen weitereMittel aus dem 10-Milliarden-Euro-Sonderprogrammbekommen würden. Daran müssen wir alle wirklich ar-beiten; das ist notwendig.Zusätzlich werden wir das Wohngeld erhöhen und dieWarmmiete als Grundlage nehmen. Über 300 000 Men-schen werden davon profitieren, und darüber freue ichmich.
Im Antrag der Linken wird gefordert, die Unterbrin-gung von Flüchtlingen in Massenunterkünften unverzüg-lich zu beenden und sie stattdessen in städtische undländliche Wohnstrukturen zu integrieren – super Forde-rung! Das meine ich mit „Wünsch dir was“. Ich würde esgerne sofort umsetzen. Aber was mache ich in einerStadt wie Frankfurt mit einer langen Liste von Menschenmit Wohnberechtigungsschein, die auf eine Wohnungwarten?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7803
Ulli Nissen
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wassollen wir tun, wenn wir keinen entsprechenden Wohn-raum nach Ihren Vorstellungen anbieten können? Sollenwir die Menschen auf die Straße setzen? Natürlich ver-suchen wir, alle Personen menschenwürdig, am besten inkleinen Wohneinheiten, unterzubringen. Bei uns inFrankfurt werden Flüchtlinge von der Nachbarschaftherzlich willkommen geheißen. Ich bedanke mich bei al-len für ihr großes Engagement.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wohnungsnotkann der Bund alleine nicht beseitigen. Auch Kommu-nen spielen dabei eine wichtige Rolle. Was vor Ort di-rekt und besser gelöst werden kann, sollte auch dort erle-digt werden – auch deshalb haben wir ein föderalesSystem. Frankfurt nimmt die Beschaffung von bezahlba-rem Wohnraum sehr ernst, insbesondere seit Peter Feld-mann Oberbürgermeister ist.Der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, ABGFrankfurt Holding, gehören gut 50 000 Wohnungen. Sienimmt bis 2019 2,4 Milliarden Euro in die Hand, um6 200 neue Wohnungen zu schaffen, davon 37 Prozentim geförderten Bereich. Das ist vorbildlich, reicht aberlange noch nicht aus.Wir haben nur noch wenig bebaubare Grundstücke;das Thema ist schon angesprochen worden. Ich denke,das ist in vielen anderen angespannten Wohnungsmärk-ten ähnlich. Da müssen die Kommunen vor Ort auch sel-ber nach Lösungen suchen. Das kann der Bund für sieeben nicht erledigen. Wir denken zum Beispiel in Frank-furt darüber nach, innerstädtische Autobahnen zu über-bauen. Damit hätten wir zwei Dinge erreicht: einerseitsneue Bauflächen, andererseits Lärmschutz. Es wäreschön, wenn der Bund solche Modelle finanziell fördernkönnte; nicht nur in Frankfurt, sondern auch an anderenOrten.
Kommunen könnten auch Milieuschutzsatzungen er-lassen. In den betroffenen Gebieten müssten dann alleUmbau- und Modernisierungsmaßnahmen der Stadt zurGenehmigung vorgelegt werden. Nicht erlaubt sind dannbeispielsweise Maßnahmen, die zu Luxussanierungenführen. Damit soll die Verdrängung von Mietern aus ge-fragten Stadtteilen verhindert werden. Es ist gut, dasssich vor Ort Bündnisse zusammentun, um sich gegen dieVerdrängung zu wenden. Als vorbildlich in Frankfurtnenne ich zum Beispiel die „NachbarschaftsinitiativeNordend Bornheim Ostend“. Am Samstag werde ichMitglieder in einem betroffenen Objekt in der Wingert-straße 21 treffen. Ich freue mich schon heute darauf.Auch die Länder können viel tun, unter anderem eineLandesverordnung erlassen, mit der die Umwandlungvon Miet- in Eigentumswohnungen unter Genehmi-gungsvorbehalt gestellt werden kann. Dies würde unsnicht nur in Frankfurt helfen, sondern sicherlich auch inanderen Kommunen. Leider gibt es dies in Hessen unterder schwarz-grünen Landesregierung nicht. Das bedau-ere ich sehr.
Es gibt bekanntermaßen große Probleme für Mieterdurch Eigenbedarfsklagen bei der Umwandlung vonMiet- in Eigentumswohnungen. Auch hier könntenLänder gemäß § 577 a BGB mit RechtsverordnungenGemeinden festlegen, in denen die Wohnungsversor-gung besonders gefährdet ist, und damit einen verlänger-ten Kündigungsschutz von bis zu zehn Jahren festlegen.Leider ist auch hier unter Schwarz-Grün in Hessen keineVerbesserung eingetreten. Es blieb bei fünf Jahren – wieunter CDU und FDP. Das finde ich sehr peinlich und be-dauere ich sehr.Eine moderne, soziale, zielgerichtete Wohnungspoli-tik kann also nur im Zusammenspiel aller Beteiligten– Bund, Länder, Kommunen und Akteure des Woh-nungsbaus – gelingen. Lassen Sie uns gemeinsam aufallen Ebenen kämpfen, um den Menschen zu helfen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Interfraktionell wird die Überweisungder Vorlage auf Drucksache 18/3744 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 4 b: Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-schutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „Marktmacht brechen– Wohnungsnot durch Sozialen Wohnungsbau beseiti-gen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 18/3854, den Antrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 18/506 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus-ses? – Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? – DieLinke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Da-mit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen derKoalition bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltungvon Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 2014/49/EU des Euro-päischen Parlaments und des Rates vom16. April 2014 über Einlagensicherungssys-teme
Drucksache 18/3786Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt ha-ben, eröffne ich die Aussprache.
Metadaten/Kopzeile:
7804 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
Als erster Redner in dieser Aussprache hat der Parla-mentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister dasWort.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im November vergangenen Jahres haben wir hier eingroßes Gesetzespaket zur Umsetzung der EuropäischenBankenunion verabschiedet. Mit dem Sanierungs- undAbwicklungsgesetz sind die Vorschriften für eine Eigen-tümer- und Gläubigerhaftung im Falle einer Banken-schieflage am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten.Ich glaube, dass das ein wichtiger Schritt ist, um erstensdem Haftungsprinzip in Europa zur Durchsetzung zuverhelfen und um zweitens eine bessere Trennung zwi-schen der Staatsfinanzierung und der Finanzierung desFinanzsektors zu gewährleisten. Das war ein wesentli-cher Baustein zur Stabilisierung der Finanzsysteme inEuropa.
Im November vergangenen Jahres ist auch der ein-heitliche Aufsichtsmechanismus in Kraft getreten. DieEuropäische Zentralbank hat die Aufsicht über die größ-ten und risikoreichsten Banken innerhalb Europas über-nommen. Damit ist es, wie ich glaube, gelungen, für einequalitativ bessere Aufsicht über diesen Sektor zu sorgen.Wir haben im Dezember des Weiteren die Befüllungeines Fonds zur Restrukturierung und Abwicklung vonBanken, den sogenannten Abwicklungsfonds – er wirdim nächsten Jahr in Kraft treten –, vereinbart. Es ist unsauch dabei gelungen, wie ich glaube, dafür zu sorgen,dass der Bankensektor in Zukunft selbst fair und ausge-wogen an der Finanzierung von Abwicklungs- und Re-strukturierungsmaßnahmen beteiligt wird.Heute diskutieren wir über einen weiteren Baustein,um das europäische Bankensystem stabiler zu machen.Das Kabinett hat am 19. November einen Gesetzentwurfzur Umsetzung der neu gefassten Einlagensicherungs-richtlinie beschlossen. Es geht um einen Rechtsan-spruch, damit die Sparer in Zukunft – ganz gleich, wasin Europa passiert – nicht in Schlangen vor den Bankenstehen müssen, sondern sich darauf verlassen können,dass ihre Ersparnisse gesichert sind und diese ihnen auchkurzfristig wieder zur Verfügung stehen. Ich glaube, dasist ein wesentlicher Schritt, um Vertrauen bei den Spa-rern in Europa und in Deutschland zu erzeugen.
Meine Damen und Herren, unser Ansatz ist es gewe-sen, mehr Sicherheit und mehr Vertrauen für die Sparerin Deutschland zu schaffen. Es ist uns nicht darum ge-gangen, eine gemeinsame Haftung in Europa zu organi-sieren. Ja, wir wollen gemeinsame, harmonisierte Re-geln für die Einlagensicherung, aber wir wollen keinegemeinsame Haftung, weil es nicht darum gehen kann,Sparervermögen in Europa umzuverteilen. Ich glaube,auch an dieser Stelle haben wir eine grundsätzlich rich-tige Entscheidung getroffen.
Wenn über die Einlagensicherung diskutiert wird,dann erinnern wir uns alle noch an die Bilder aus Groß-britannien, als die Menschen im Zuge der großen Finanz-krise – Stichwort: Lehman – im Jahr 2008 in Schlangenvor den Banken standen. Ich will darauf hinweisen, dassdasselbe Phänomen im vergangenen Jahr aufgetreten ist,als wir uns mit der Frage „Wie liquide sind eigentlichbulgarische Banken?“ befasst haben. Deshalb geht es da-rum, nicht nur wegen des Phänomens Finanzkrise Ver-trauen und Sicherheit aufbauen, sondern dauerhaft die-ses Vertrauen und diese Sicherheit zu gewährleisten.Wir müssen, auch um den Finanzsektor zu stabilisie-ren, einen massiven Abzug von Spareinlagen vermeiden.In Deutschland wird es bei den etablierten Strukturen,die wir kennen, bleiben; aber wir werden mit dem Einla-gensicherungsgesetz eine größere Leistungsfähigkeit indie Systeme bekommen, weil wir dafür sorgen, dass dieEinlagensicherungssysteme mit echtem Geld unterlegtsein werden. Wir werden sie krisenfester machen; wirwerden dafür sorgen, dass die Sparer unbürokratischeran ihr Geld kommen; und wir werden dafür sorgen, dasssie schneller an ihr Geld kommen.Vielleicht ein paar Bemerkungen im Einzelnen: AlleBanken müssen in Zukunft einem Einlagensicherungs-system angeschlossen sein. Jeder einzelne Sparer hat ei-nen Rechtsanspruch auf seine Einlagen bis zu einerHöhe von 100 000 Euro pro Sparer und Bank. Wir habenin Deutschland die Sondersituation, dass Sparkassen undGenossenschaftsbanken Institutssicherungssysteme be-sitzen. Diese sollen dafür sorgen, dass solche Institutegar nicht erst in eine Schieflage kommen, weil sie vonihrer Institutsgruppe gegebenenfalls gestützt und abge-sichert werden. Wir haben jetzt nicht diese Institutssi-cherung erhalten, sondern dafür gesorgt, dass diese Ins-titutssicherung – die ist gut und schön – hin zu einerEinlagensicherung weiterentwickelt werden kann. Damitwird das, was sich in Deutschland bewährt hat, in diesesneue, europäische System überführt. Ich glaube, das istein richtiger Ansatz: Wir setzen auf den bewährtenStrukturen auf und sorgen dafür, dass das System nochkundenfreundlicher und stabiler ausgestaltet wird. Dasist ein großer Schritt nach vorne, Institutssicherung undEinlagensicherung vernünftig miteinander zu verbinden.
Um diese Einlagensicherungssysteme finanziell aus-zustatten, um eine finanzielle Unterlegung für die Einla-gensicherung zu schaffen, müssen über die nächstenneun Jahre 0,8 Prozent der gedeckten Einlagen angespartwerden. Wir haben als Bundesregierung in Europa da-rauf geachtet, dass der Proportionalitätsgrundsatz auchin dieser Frage gewahrt bleibt und man sich bei der Be-messung der Höhe der Einlage in diesen Fonds an derHöhe der gedeckten Einlage und am Risiko des Ge-schäftsmodells des jeweiligen Instituts orientiert. Ichglaube, das sind zwei vernünftige Parameter, um dieHöhe der Einlage in diesen Fonds zu bestimmen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7805
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
(C)
(B)
Der Sparer soll zukünftig statt nach 20 Arbeitstagenbereits nach 7 Arbeitstagen den Anspruch haben, seineSpareinlagen ausgezahlt zu bekommen. Wir hätten dieMöglichkeit gehabt, diese Fristverkürzung über zehnJahre zu strecken. Wir schlagen Ihnen aber vor, von die-ser Option der Europäischen Richtlinie keinen Gebrauchzu machen, sondern diese Regelung bereits ab 2016 um-zusetzen, sodass dieser Schutz unseren Sparern bereitsab Mitte kommenden Jahres zur Verfügung steht.
Wie bisher bleiben Spareinlagen bis 100 000 Euro proKunde und Bank im Sinne dieser Einlagensicherung ab-gesichert. Wir sind aber der Auffassung, dass wir in eini-gen Sondersituationen über diese Grundsicherung hin-ausgehen sollten. Eine solche Sondersituation entstehtetwa, wenn jemand eine Immobilie veräußert und da-durch kurzfristig einen hohen Mittelzufluss hat. Wenndiese Mittel für einige Zeit auf seinem Konto stehen,müsste die Einlagensicherung greifen. In diesem Fallwäre ein Betrag von 100 000 Euro möglicherweise nichtausreichend. Eine ähnliche Situation entsteht, wenn je-mand eine größere Auszahlung aus einem Sozialversi-cherungssystem erhält und aus diesem Grund kurzfristigeine höhere Einlage als 100 000 Euro auf seinem Kontohat. Deshalb sind wir der Meinung, dass aus solchenGründen bis zu sechs Monate bis zu 500 000 Euro durchdie Einlagensicherung gedeckt sein sollen. Ich glaube,auch das ist ein vernünftiger Schritt, um Menschen insolchen Sondersituationen mehr Sicherheit und mehrAbsicherung zukommen zu lassen.
Ich glaube, dass wir mit der Konstruktion der Euro-päischen Bankenunion den größten Schritt – ich habe dieverschiedenen Säulen vorhin vorgestellt – seit Einfüh-rung des Euros in Europa unternommen haben. Jetztwird es darauf ankommen, dass wir die neuen Regelun-gen mit Leben erfüllen und glaubwürdig leben. Dazugehört nach meiner Einschätzung nicht nur, dass wir Re-geln schaffen, sondern auch, dass diejenigen, die im Fi-nanzsektor arbeiten, dort mit einem neuen Bewusstseinund einer neuen Philosophie ihrer Tätigkeit nachgehen.Denn der erste Teil des Vertrauens entsteht nicht durchunsere Regeln, sondern durch die Philosophie, mit derdie Verantwortlichen in den Finanzinstituten diese neueSituation leben.Ich glaube, wir haben einen Beitrag geleistet für mehrStabilität in Europa, für mehr Vertrauen und für die Wie-dergeltung von Prinzipien – ich habe das Haftungsprin-zip erwähnt –, die wir in Europa dringend benötigen.Wir haben die Ausschussempfehlung des Bundesrates zudiesem Gesetzentwurf gesehen. Der Bundesrat hat mit16 zu 0 gesagt – das ist ein großer Vertrauensbeweis –,dass er diesen Gesetzentwurf für sinnvoll und zielfüh-rend hält. Ich würde mich freuen, wenn die heutige Dis-kussion und die weitere Beratung im Bundestag auch zuso viel Zustimmung zu diesem Vorschlag der Bundesre-gierung führen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und guteBeratungen.
Als nächster Redner hat Dr. Axel Troost von der Lin-
ken das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im Programm des Deutschen Bundestages hat sich in-zwischen eine Reihe fest etabliert, und zwar die Reihe„Aufräumen im Bankensektor“. In dieser Reihe diskutie-ren wir heute über ein Thema, das sich mit alltäglichenund notwendigen Bankgeschäften befasst. Es geht umden Schutz von Bankeinlagen.Für die allermeisten Bankkunden ist ein Bankkontodazu da, laufende Zahlungen abzuwickeln und Geld auf-zubewahren. Bei Spareinlagen kommt ein Zins knappüber oder unter der Inflationsrate dazu. Zur Zahlung vonMieten, zur Abwicklung von Löhnen und Gehältern unddergleichen ist ein persönliches Bankkonto quasi obliga-torisch. Deswegen setzen wir uns als Linke auch seit lan-gem dafür ein, dass jede und jeder einen Zugang zu ei-nem eigenen Bankkonto hat.
Mit dem Bankkonto vertraut ein Kunde seiner Banksein Geld an in der Hoffnung, dass damit vernünftig um-gegangen wird. Das lässt sich aber von außen schwer be-urteilen. Was passiert, wenn die Bank es nicht tut? Auszwei Gründen sollte sichergestellt sein, dass die Einla-gen bei einer Pleite der Bank geschützt sind:Das ist zum einen das Gerechtigkeitsargument. Daniemand vor der Eröffnung eines Kontos prüfen kann,ob eine Bank solide ist oder nicht, und man natürlich si-cher sein will, dass man sein einmal eingezahltes Geldjederzeit zurückbekommt, sollte es nicht mit Geldernvon Spekulanten, die hochriskante Produkte einwerben,in einen Topf geworfen werden.Zum Zweiten ist der Schutz der Bankeinlagen auchaus Gründen der Finanzstabilität erforderlich. WennBankkunden bei jedem Gerücht scharenweise ihre Gel-der abräumen würden, hätten wir viele unnötige Bank-pleiten und Finanzkrisen. Es ist eben schon angespro-chen worden, dass wir das in Deutschland schon erlebthaben und es auch in der Krise in Großbritannien ge-merkt haben. Darum gibt es in Deutschland seit vielenJahrzehnten private, öffentlich-rechtliche und gesetzli-che Sicherungssysteme, die historisch gewachsen sind.In Europa – das ist von Herrn Meister dargestellt wor-den – hat sich während der Finanzkrise gezeigt, dassNachbesserungsbedarf existiert. Daher wurde die euro-päische Einlagensicherungsrichtlinie überarbeitet. Jetztgeht es darum, diese in nationales Gesetz umzusetzen.
Metadaten/Kopzeile:
7806 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Axel Troost
(C)
(B)
Dabei drohte ursprünglich – auch das ist angespro-chen worden –, dass die Sicherungssysteme der Sparkas-sen und Genossenschaftsbanken in Deutschland plattge-walzt werden. Das ist nun aber nicht der Fall und auchnicht notwendig, weil in Deutschland sowohl für dieSparkassen als auch für die Kreditgenossenschaftenschon immer eigene Sicherungssysteme bestanden ha-ben. Diese Institute können nicht einzeln pleitegehen,sondern werden immer von den anderen Mitgliedern ih-res Verbunds gerettet. Es ist gut, dass diese Prinzipien indie jetzt gefundene Regelung mit eingeflossen sind undes dort eine einheitliche Regelung gibt. Das ist auchwichtig und von Bedeutung, weil wir damit – im Gegen-satz zur Bankenabgabe – ein System haben, bei dem dieSparkassen und die Genossenschaften für Kreditrisikenund Ausfallrisiken der Großen nicht in irgendeiner Formin die Haftung genommen werden können.Trotzdem müssen wir aufpassen – das liegt allerdingsaußerhalb unserer unmittelbaren parlamentarischenMöglichkeiten –, dass im Rahmen der Leitlinie zur Bei-tragsberechnung, die auf Empfehlung der EBA, also derEuropäischen Bankenaufsichtsbehörde in London,kommt, nicht doch wieder Richtlinien erlassen werden,die möglicherweise zur Benachteiligung von Sparkassenund Genossenschaftsbanken führen. Wir müssen in dennächsten vier Wochen darauf achten – das gilt sowohlfür das Finanzministerium als auch für die BaFin –, dass,wie schon gesagt, keine Regelungen getroffen werden,die von den Sparkassen als sehr negativ empfunden wer-den und zu erheblich höheren Kosten führen könnten.Ich glaube, dass das machbar ist. Natürlich muss auchinnerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems das Ver-hältnis der Sparkassen zu ihren Landesbanken neu defi-niert werden. Auch da wird es durchaus noch Reibungs-punkte geben. Aber auch das sehen wir als nicht soproblematisch an.Das deutsche System wird also nicht umgekrempelt,und das ist auch gut so. Allerdings haben wir schon ander Lehman-Krise bzw. -Pleite gesehen, dass durchausGefahren bestehen. Wir alle erinnern uns, dass sich dieBundeskanzlerin und ihr Finanzminister damals trotz derbestehenden Sicherungssysteme genötigt sahen, vor dieKameras zu treten und staatlicherseits Garantien für dieSparguthaben auszusprechen. Das zeigt natürlich, dasses auch in Anbetracht der neuen Regelungen notwendigist, zu verhindern, dass es zu systemischen großen Kri-sen kommt. Denn große Krisen stellen Sicherungssys-teme, wenn sie einen zu geringen Umfang haben, sofortwieder infrage. Insofern muss man sicherstellen, dassmassive Vertrauensverluste gar nicht erst entstehen kön-nen. Das heißt, man muss das Finanzsystem so krisen-sicher machen, dass eine Massenpanik verhindert wer-den kann. Daher sagen wir immer wieder: Die besteEinlagensicherung besteht darin, ein Finanzsystem zuschaffen, das die Banken davor bewahrt, aus Renditegierauf den Abgrund hin zu spekulieren.
Das ist, glaube ich, nach wie vor die zentrale Aufgabe.Wir haben in der Reihe „Wir retten die Banken undhelfen, die Banken sicherer zu machen“ jetzt noch einegroße Aufgabe vor uns, nämlich die Schaffung einesTrennbankensystems. Hier stellt sich die Frage: Kommtda wirklich etwas in Gang, was zur Stabilisierung desSystems führt? Ich möchte in diesem Zusammenhangdaran erinnern: Die Deutsche Bank hat ein Bilanzvolu-men von 1,7 Billionen Euro. Damit ist das Bilanzvolu-men dieser einen Bank größer als das Bruttoinlandspro-dukt von Italien. Diese Dimensionen müssen verkleinertwerden.Wenn es mit dem Trennbankengesetz nicht gelingt,die Deutsche Bank in deutlichem Umfang zu verkleinernund ihre Zockergeschäfte in London und New York vondem zu sichernden Geschäft in der BundesrepublikDeutschland zu trennen, dann sind wir als Tiger losge-sprungen, aber letztlich als Bettvorleger gelandet. Esgeht um die Stabilisierung des Systems und um dieFrage, ob Großbanken wirklich verkleinert werden odernicht. Wenn dies nicht gelingt, hätte ich, um im Bild zubleiben, den Eindruck, dass wir mit all den Bankensiche-rungspaketen zwar vorhatten, in die Hochseefischereieinzusteigen, am Schluss aber beim Angeln im Dorfteichgelandet sind. Wenn wir es nicht schaffen, diese großenEinheiten zu verkleinern, werden wir es immer wiedermit großen Instabilitäten im Finanzsystem zu tun be-kommen. Dann nutzt die Einlagensicherung alleine, sogut sie jetzt auch ausgestattet werden soll, nichts. Ichmöchte gerne, dass wir im Hinblick auf die Trennbankenauch in der Bundesrepublik Deutschland wirklich Verän-derungen im Bankensystem hinbekommen.Danke schön.
Als nächster Redner hat der Kollege Manfred Zöllmer
von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein Bild ist mir im Zusammenhang mit der Finanzmarkt-krise in den letzten Jahren in besonderer Erinnerung ge-blieben: das Bild von den langen Schlangen vor Nor-thern Rock. Northern Rock war 2007 die achtgrößteBank von England. Die Menschen wollten dort in einemAnflug von Panik noch schnell ihre Ersparnisse abhe-ben, da eine Zahlungsunfähigkeit der Bank befürchtetwurde. Fast 2 Milliarden Pfund wurden in kürzester Zeitvon den Kunden abgehoben. Eine solche Situation, liebeKolleginnen und Kollegen, ist eine Horrorvision für je-den Ökonomen; denn in so einer Situation ist die Stabili-tät des gesamten Finanzsystems gefährdet. Damalsmusste die britische Regierung handeln. Sie tat das auch:Sie verstaatlichte kurzerhand die Bank und garantiertefür alle Einlagen.Auch in Deutschland gab es schon ähnlich gelagerteProbleme. Ich kann mich noch gut an den Konkurs der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7807
Manfred Zöllmer
(C)
(B)
Herstatt-Bank 1974 erinnern: Ende Juni 1974 beantragtedie Bank die Eröffnung des Konkursverfahrens wegenÜberschuldung. Am selben Tag kam es in Köln zu Tu-multen am Hauptsitz der Bank, sodass die Polizei dasGebäude sichern musste. Die deutschen Aktienkursestürzten ab.Damit solche Szenarien der Vergangenheit angehö-ren, diskutieren wir heute in erster Lesung über einenGesetzentwurf zur Einlagensicherung. In Deutschlandgeht es immerhin um 2,9 Billionen Euro, die die Kundender deutschen Kreditwirtschaft anvertraut haben. Da darfdann nicht nur der Ruf eines Instituts entscheidend seinfür die Frage: „Wohin bringe ich mein Geld, wo ist es si-cher?“, da braucht es klare und verlässliche gesetzlicheRahmenbedingungen. Wir sprechen hier über einenwichtigen Baustein – wir haben es eben schon gehört –,über die dritte Säule der Bankenunion in Europa, nachAufsichts- und Abwicklungsregime.Insgesamt, glaube ich, können wir eine gute Nach-richt für alle Sparerinnen und Sparer verkünden: Siekönnen sich auf die Sicherheit ihrer Einlagen bei deut-schen Banken verlassen; dies gilt bis zu einer Grenzevon 100 000 Euro pro Person, in Ausnahmefällen – wirhaben die Beispiele eben gehört – bis 500 000 Euro. Dasbewährte deutsche System aus gesetzlichen und freiwil-ligen Sicherungssystemen bleibt auch in Zukunft erhal-ten.Das Gesetz dient insgesamt der Umsetzung der in Eu-ropa neugefassten Einlagensicherungsrichtlinie in einemneuen Einlagensicherungsgesetz, um hier für Europaeinheitliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Ziel desGesetzes ist der sichere Schutz der Einlagen von Kundenbei Banken für den Fall, dass eine Bank zahlungsunfähigwird. Dazu gehört ein Einlagensicherungssystem, das si-cherstellt, dass die versprochenen Auszahlungen im Kri-senfall auch geleistet werden können. Die Kreditinstitutemüssen dazu entsprechende Einzahlungen in einenFonds in Höhe von 0,8 Prozent der gedeckten Einlagenbis 2024 leisten. Gedeckte Einlagen sind alle geschütz-ten Kundeneinlagen bei einer Bank bis zu der Garantie-grenze von 100 000 Euro.Diese 0,8 Prozent waren ein Kompromiss, der im Tri-log mit den zuständigen europäischen Gremien erzieltworden ist. Man kann jetzt lange darüber streiten, obeine höhere Einzahlung nicht besser gewesen wäre – esgab entsprechende Positionen des Europäischen Parla-ments –, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass wir jetztin Europa eine funktionsfähige Bankenunion etablierthaben. Die Aufsicht erfolgt durch die EZB. Der Banken-abwicklungsfonds befindet sich im Aufbau; seine Chefinsoll, so hört man, Frau König von der BaFin werden. Da-mit könnten in Zukunft dann auch große und systemrele-vante Banken aufgefangen werden. Zusätzlich haben wirdie Eigenkapitalanforderungen an Banken deutlich ver-schärft. Damit ist die Stabilität des Bankensystems ins-gesamt deutlich verbessert worden.
Für uns Sozialdemokraten war es bei diesem Prozessvon sehr großer Bedeutung, dass die vorhandenen insti-tutsbezogenen Sicherungssysteme der Sparkassen- undGiroverbände und des Verbandes der Volks- und Raiffei-senbanken als Einlagensicherungssysteme europäischanerkannt werden. Ich bin Peter Simon, dem zuständigenBerichterstatter im Europaparlament, sehr dankbar, dasser sehr hart dafür gekämpft hat und dies auch erfolgreichumsetzen konnte. Die bewährte Institutssicherung vonSparkassen und Genossenschaftsbanken bleibt als eige-ner Haftungsverbund erhalten. Gerät eine Sparkasseoder Volksbank in Schieflage, wird sie auch weiterhindurch die Sicherungseinrichtung ihrer Verbünde aufge-fangen.Auch die beiden gesetzlichen Entschädigungseinrich-tungen in Deutschland bleiben erhalten. Daneben gibt esden freiwilligen Einlagensicherungsfonds des Bundes-verbandes deutscher Banken. Er soll im Falle einer In-solvenz die Entschädigung jenseits dieser 100 000 Euroübernehmen, bis zur jeweiligen Sicherungsgrenze, dievon Bank zu Bank unterschiedlich ist und sich an einembestimmten Prozentsatz des Eigenkapitals bemisst.Eine erfreuliche Nachricht gibt es für die Verbrauche-rinnen und Verbraucher. Mit der Neuregelung der Einla-gensicherung wird die stufenweise Verkürzung der Aus-zahlungsfrist im Krisenfall auf sieben Arbeitstagegeregelt. Wir haben ja eben von Staatssekretär Meistergehört, dass dies in Deutschland sozusagen sofort inKraft treten soll. Ich glaube, das ist eine sehr gute Nach-richt. Damit erhalten Einleger einen besseren undschnelleren Zugang zu einer Entschädigung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen, es gibteine Reihe von guten Nachrichten. Aber auch zu diesemGesetzentwurf wird es Verbesserungsvorschläge geben,die wir dann im Verlauf des Verfahrens genauer analy-sieren, bewerten und gegebenenfalls in das Verfahreneinbringen werden.Insgesamt wird dieses Einlagensicherungssystem eineweitere Säule bei der Bankenunion darstellen und damitdas Vertrauen in die Stabilität des gesamten Finanzsys-tems festigen. Denn eines ist ganz sicher: Herstatt darfsich niemals wiederholen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. GerhardSchick vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es wird im Rahmen dieser Debatte deutlich, dass es jetztnicht um ein sehr umstrittenes Thema geht.
Auch die Fraktionen im Europäischen Parlament habengemeinsam an der zugrundeliegenden Richtlinie gear-
Metadaten/Kopzeile:
7808 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Gerhard Schick
(C)
(B)
beitet – auch unsere grüne Fraktion – und für Verbesse-rungen gestritten.Es ist ein wichtiger Baustein der Bankenunion, derhier jetzt zur Diskussion steht. Jetzt werden nach der ge-meinsamen Aufsicht und der gemeinsamen AbwicklungRegeln für eine einheitliche Einlagensicherung geschaf-fen, weil in den letzten Jahren deutlich geworden ist,dass es in der Währungsunion unterschiedliches Ver-trauen in die Leistungsfähigkeit des Bankensystems, indie Einlagensicherungseinrichtungen sowie in die Sol-venz der Mitgliedstaaten geben kann. Wir haben gese-hen, dass der portugiesische Euro und der deutsche Euroin den Augen der Sparer und Investoren teilweise nichtden gleichen Wert hatten. Die Finanzsysteme in Europawurden dadurch destabilisiert, dass wir hier keine ein-heitlichen Regelungen haben.Wir sollten in Deutschland auch nicht vergessen – dieBemerkungen vom Kollegen Zöllmer, wir hätten inDeutschland ein bewährtes System, habe ich natürlichsehr aufmerksam registriert –: Sehr bewährt hat sich un-ser System nicht. Der Steuerzahler musste in Deutsch-land einspringen, weil im Sicherungssystem der privatenBanken zu großzügige Versprechungen gemacht wordenwaren und man deswegen die Rückendeckung des Fis-kus brauchte, um beim Lehman-Bankhaus aktiv zu wer-den. Nachher musste bei der Hypo Real Estate endgültigder Steuerzahler einspringen. Hinzu kommt natürlich,dass es auch bei der öffentlich-rechtlichen Institutssiche-rung, bei den Landesbanken, nicht ohne Steuerzahler-mittel ging. Das sollte man hier schon sagen. Es gehtauch für Deutschland darum, diese Systeme stabil undsicher für die Zukunft aufzustellen. Wir sollten da nichtimmer nur auf die anderen zeigen, sondern auch unsereeigenen Hausaufgaben im Blick haben.
Ich will auch bei einem anderen Punkt kurz zurück-blicken. Wir hatten 2010 im Bundestag eine Diskussion,in der dann die CDU/CSU-Fraktion gesagt hat: Da brau-chen wir eine Subsidiaritätsrüge. Das sollte Europa garnicht machen. – Sie erinnern sich.Zum Glück haben Sie sich damals mit Ihrem europa-kritischen Kurs nicht durchgesetzt.
– Ja, ja, aber es ging damals darum: Geht man damitkonfrontativ um oder nicht? Ihr Weg hat sich als Sack-gasse erwiesen, und zum Glück hat sich in Europa derandere,
von uns damals vorgeschlagene Weg durchgesetzt, aufdem Verhandlungsweg mit den anderen darüber eine ein-vernehmliche Lösung zu finden. Sonst wäre man jetztnämlich mit der Konfliktstrategie, die Sie vorgeschlagenhaben, möglicherweise bei einem Ergebnis, das zu mas-siven Problemen in Deutschland geführt hätte. ZumGlück haben Sie sich nicht durchgesetzt.
Richtig ist, dass man jetzt einen Wettbewerb der Si-cherungssysteme in Europa durch einheitliche Regelnunterbindet. Es ist zwar kein europäischer Einlagen-sicherungsfonds, so wie die USA einen solchen für diegesamte USA haben; aber es gibt Regeln für die jeweili-gen nationalen Systeme und auch die Berechtigung, sichgegenseitig Kredite einzuräumen. Das macht es umsounwahrscheinlicher, dass der Steuerzahler künftig beiBankenpleiten für die Sicherungssysteme einspringenmuss.Es ist auch deutlich geworden, dass wir beim ThemaInstitutssicherungssysteme eine parteiübergreifende Re-gelung in Europa durchsetzen konnten. Wir begrüßendiese Richtlinie also grundsätzlich.Wichtig war uns dabei, dass die Beitragshöhe der ein-zelnen Institute das Risikoprofil wirklich abbildet unddass nicht kleine, risikoarme Institute relativ mehr zah-len müssen, als es ihrem Risiko entspricht. Es ist auchgut, dass 70 Prozent der Beiträge ex ante gezahlt werdenmüssen und ein Teil durch Zahlungsverpflichtungen ab-gedeckt wird. Das erhöht die Glaubwürdigkeit des Si-cherungssystems, weil in Krisenzeiten Geld eben bereitsda ist.Wichtig ist auch – das ist schon genannt worden –,dass es für die Verbraucherinnen und Verbraucher da-durch eine Verbesserung gibt, dass sie nicht mehr extraeinen Antrag stellen müssen und dass innerhalb von sie-ben Tagen ausgezahlt werden muss. Das ist sicher einewichtige Verbesserung.Ich will noch kurz auf zwei Themen eingehen, die mitder Einlagensicherung verbunden sind und bei denen wirnoch Hausaufgaben zu erledigen haben:Das erste Thema bezeichnen Experten mit dem Be-griff „Asset Encumbrance“. Diesen Begriff muss manvielleicht nicht kennen, aber das Problem ist unmittelbareinleuchtend: Einlagen sind für die Banken eine sehrgünstige Form der Refinanzierung. Wenn sie geschütztsind, müssen die Banken das Risiko nicht selber tragen.Deswegen gibt es das Problem, dass Risiken auf die Ein-lagensicherung übertragen werden und damit praktischeine neue Möglichkeit geschaffen wird, Risiken auf dieAllgemeinheit abzuwälzen. Dieses Problem ist in ande-ren Ländern schon gesetzlich gelöst worden, bei unsnoch nicht. Hier besteht Handlungsbedarf.Zum Zweiten besteht Handlungsbedarf bezüglich derrisikoadäquaten Bepreisung. Hiermit sind wir beimThema Trennbankensystem. Gibt es eine Trennung zwi-schen dem gesicherten Einlagengeschäft auf der einenSeite und dem Investmentbanking auf der anderen Seite?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7809
Dr. Gerhard Schick
(C)
(B)
Auch hier ist nach wie vor Handlungsbedarf gegebenund die Bundesregierung gefordert, sich auch auf euro-päischer Ebene für das Richtige einzusetzen.Danke schön.
Als nächster Redner hat Alexander Radwan von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsi-dentin! Wir haben hier heute – das wurde ja schon vonallen Rednern gesagt – eine große Harmonie. Das zeigt,dass der Entwurf der Bundesregierung
in die richtige Richtung zielt.
– Herr Schick, zum Thema Europa werde ich noch kom-men. Dort war ich eine Zeit lang, und wir können unshier sicherlich gegenseitig gut ergänzen. Das eine oderandere, was aus grüner Sicht gerade lobend erwähntwurde – es ging um die Subsidiaritätsrüge und die Ant-wort auf die Frage, wie man mit der Institutssicherungund den kleinen Banken umgeht –, könnte man vielleichtnoch vertiefen – heute oder auch später.Wir alle haben in unseren Reden mit der Historie an-gefangen. Der Kollege Zöllmer hat das Thema Herstattangesprochen, und der Kollege Troost die damalige Aus-sage von Frau Merkel. Ich gehe jetzt noch einen Schrittzurück, nämlich zur Bankenkrise von 1931; ich weißnicht, ob irgendeiner von Ihnen persönlich dabei war.
Jeder, der in die Geschichtsbücher hineinschaut, wirdBilder von den Schlangen vor den Banken sehen.Den Herstatt-Fall, wie erwähnt, und die Folgen desZusammenbruchs des Finanzunternehmens NorthernRock in Großbritannien haben wir alle noch bildhaft vorAugen. Am 5. Oktober 2008 – ich konkretisiere dasjetzt, Herr Troost; Sie hatten das ja erwähnt – sind Kanz-lerin Merkel und der damalige Minister Steinbrück wäh-rend der Hypo-Real-Estate-Krise an die Öffentlichkeitgegangen und haben erklärt, die Spareinlagen seien si-cher. Das war eine politische Aktion, um die Banken undden Finanzmarkt zu stabilisieren und einen Zusammen-bruch der Finanzmärkte über Deutschland hinaus zu ver-hindern. Ich erinnere zum Beispiel an die Geschehnissein Bulgarien.Wir sind heute beim letzten Baustein der Banken-union angelangt. Wir hatten nach der Finanzmarktkriseauf internationaler Ebene, auf europäischer Ebene undauf nationaler Ebene entsprechende Regularien geschaf-fen, die jetzt umgesetzt werden. Seit November letztenJahres haben wir die gemeinsame Aufsicht unmittelbarbei der Europäischen Zentralbank und für die kleinenBanken bei den nationalen Aufsehern installiert, undzwar so, dass diese Regeln auch angewendet werden.Wir haben erst vor kurzem die gemeinsame Abwick-lung beraten und auf deutscher Ebene umgesetzt. Hierhaben wir dann einen gemeinsamen europäischen Fondskreiert, dessen Mittel bei der Abwicklung zur Verfügungstehen, um den Steuerzahler zu entlasten oder ganz au-ßen vor zu lassen.Heute beraten wir in erster Lesung den Entwurf ei-nes Gesetzes über die Einlagensicherung, der auch denAspekt des Verbraucherschutzes stark berücksichtigt.Dabei möchte ich betonen: Es ist gut, dass wir, andersals bei der Abwicklung, zwar europäische Regeln haben,aber nicht einen europäischen Fonds, also keine grenz-überschreitende europäische Haftung. Jeder Staat sollselber dafür sorgen, dass er für seine Banken Verantwor-tung übernimmt.
Warum brauchen wir überhaupt eine europäischeRichtlinie? Erinnern wir uns: Wo kommen wir her? Vor-her galt der Grundsatz der Mindestharmonisierung. Dasheißt, es wurden bestimmte Zielvorgaben genannt. Aberdie Beantwortung der Fragen, wessen Einlagen ge-schützt werden und wie das Ganze finanziert wird, un-terlag den Mitgliedstaaten. Darüber konnten sie selberentscheiden.Bei grenzüberschreitend tätigen Unternehmen – dieDeutsche Bank wurde genannt; ich nenne hier einmal dieUniCredit oder die BNP Paribas – wusste am Schlusskeiner, was im Fall einer Abwicklung unter anderem mitden Einlagen letztendlich passiert. Darum ist die hiervorliegende Richtlinie, die eine Maximalharmonisierungbeinhaltet, der richtige Ansatz. Maximalharmonisierungheißt: gleiche Regeln für alle Mitgliedstaaten, aber ebenkeine Vergemeinschaftung der Haftung. Das ist der rich-tige Weg.Die Regelungen zur Deckungssumme und zu denAuszahlungsfristen sind bereits angesprochen wordenund führen zu einem verbesserten Verbraucherschutz.Die Sicherung – das wurde bereits angesprochen – wirdauf 100 000 Euro erhöht. Die Auszahlungsfrist wird aufVorschlag der Bundesregierung von drei Monaten aufsieben Arbeitstage verkürzt. Die europäische Richtliniesieht hier einen größeren Spielraum vor. Ich denke, imRahmen der Beratungen werden wir darüber diskutieren,wo es sinnvoll ist, über die Richtlinie hinauszugehen– da gibt es Punkte, an die wir uns nach unserer Ansichtnicht eins zu eins halten müssen –, und wo wir denSpielraum nicht nutzen wollen.
Metadaten/Kopzeile:
7810 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Alexander Radwan
(C)
(B)
Ich bewerte den erhöhten Schutz bis zu einer Summevon 500 000 Euro für ein halbes Jahr als sehr positiv.Dies gilt dann, wenn jemand höhere Einnahmen hatte,zum Beispiel aus dem Verkauf einer Immobilie – dassind schnell über 100 000 Euro –, oder sich jemand seineRentenansprüche auszahlen lässt. Innerhalb einer gewis-sen Frist ist es sinnvoll und notwendig, eine höhereGrenze zuzulassen, nämlich bis zu 500 000 Euro.Ein Antrag auf Entschädigung ist zukünftig nichtmehr erforderlich. Die Verjährungsfrist wird entspre-chend verlängert. Nach zehn Jahren wollen wir 0,8 Pro-zent der gedeckten Einlagen erreicht haben. Auch dieInformationspflichten werden wir prüfen und uns an-schauen, inwieweit sie auf der einen Seite den Informa-tionsbedürfnissen der Verbraucher entgegenkommenund auf der anderen Seite so gestaltet werden, dass derbürokratische Aufwand nicht wie bei anderen Gesetzen,die in diesem Hause zurzeit heftig diskutiert werden, dieBürokratie insgesamt exponentiell nach oben führt.Wichtig ist mir, dass das ganze System bei uns auf na-tionaler Ebene und auf europäischer Ebene offen ist.Was wir nicht brauchen, ist, dass die europäische odernationale Gesetzgebung bestimmte Säulen oder Systemebevorzugt. Vielmehr soll die Institutssicherung gleichbe-rechtigt neben andere Sicherungssysteme, zum Beispieljenes der privaten Banken, gesetzt werden, sodass esprivate freiwillige Einrichtungen und öffentliche Ein-richtungen gibt. Beides gleichberechtigt nebeneinander-zustellen, ist ein wichtiger Schritt. Ich danke der Bun-desregierung, dass sie dieses System entsprechendimplementiert und umgesetzt hat.
Wir haben es geschafft, die Regulierung und die Auf-sicht zu europäisieren und in der nationalen Umsetzungvoranzubringen, um Sicherheit und Vertrauen in dieMärkte und insbesondere beim Verbraucher zu errei-chen. Dafür ist das Gesetz ein richtiger und wichtigerSchritt.Was das Verfahren angeht, ist als Nächstes die Anhö-rung vorgesehen. Wir werden redaktionelle Fragen zudiskutieren haben. Mir ist ein Punkt in dem ganzen Sys-tem besonders wichtig, nämlich die Frage, in welchemRahmen die EBA Kompetenzen bekommt. KollegeTroost – Sie werden heute ein paar Mal von mir zitiert;seien Sie nicht irritiert –, Sie haben von vier Wochen ge-sprochen, aber ich gehe von einem längeren Zeitraumaus.
– Ja, aber nach meiner Einschätzung wird die EBA lei-der Gottes nicht nur bei diesen Punkten eine Rolle spie-len. Die Frage ist, welche Kompetenzen auf Level 2 vor-gesehen sind.Sie haben die Methode der Errechnung der Risikoad-äquanz angesprochen. Dabei müssen wir als Gesetzge-ber aufpassen, dass das, was wir auf der einen Seite lo-ben, zum Beispiel die Institutssicherung, nicht auf deranderen Seite durch europäische Aufseher konterkariertwird. Wir haben eine lange Liste von Themen, die dortabgearbeitet werden, und dabei sehe ich uns alle als Par-lamentarier in der Pflicht, das zu kontrollieren und ent-sprechend den Finger daraufzulegen, wenn sie zu weitgehen.Wir sind in der Verantwortung, die nationale Umset-zung so anzugehen, dass es im Wettbewerb zwischenden Mitgliedstaaten nicht zu einer Schieflage kommt, in-dem auf der einen Seite härter reguliert wird als auf deranderen Seite. Wir werden auf das Verhältnis zwischenFonds und Banken zum Beispiel beim Wertpapierhandelachten müssen: Ist dort die Trennung richtig, oder müs-sen wir entsprechend nachjustieren? Ein großes Paket– ich nenne hier Regulierung, Aufsicht, Abwicklung undEinlagensicherung – haben wir bereits abgearbeitet.Es wurden richtigerweise einige Punkte angespro-chen, die in nächster Zeit auf der Agenda stehen. Aberich bin der Meinung, dass beim Thema Trennbanken diedeutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestagim Lead sind. Wir haben in Deutschland bereits ein ent-sprechendes Gesetz verabschiedet. Ich denke, wir sindauch diejenigen, die dafür sorgen, dass es auf europäi-scher Ebene umgesetzt wird.Aber wir müssen darauf achten, wie die Regulierungauf europäischer Ebene erfolgt und wie sie umgesetztwird. Deshalb liegt mein Fokus nicht nur darauf, wie esin Deutschland umgesetzt wird. Das ist notwendig undrichtig, und es ist unsere Aufgabe. Aber ich sehe es auchals unsere Aufgabe, nachzufragen, wie die europäischenRegeln in anderen Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion umgesetzt und angewendet werden. Haben wirletztendlich die gleiche Wettbewerbslage? Kommen dieanderen entsprechend nach?Insofern, denke ich, werden wir in der nächsten Zeitnoch genügend zu tun haben, aber nicht nur mit Blickauf den deutschen Regulierer, sondern auch auf den eu-ropäischen.Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Christian
Petry für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Spareinla-gen sind sicher. Das könnte – in Abwandlung eines be-rühmten Spruches – auch von Norbert Blüm stammen.Es hört sich zumindest genauso griffig an, und es ist dasZiel vieler Maßnahmen, die schon genannt wurden: DieSpareinlagen werden durch die Gesetzesinitiative, diewir heute beraten, sicherer.Seit 1994 existieren in der Europäischen Union Min-destanforderungen an die Einlagensicherung. Die Vorge-schichte ist schon angesprochen worden: Der Zusam-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7811
Christian Petry
(C)
(B)
menbruch der Herstatt-Bank 1974 hatte zur Folge, dass1976 ein Einlagensicherungsfonds eingerichtet wurde,damit das Risiko abgemildert wird und so etwas in derForm nicht mehr stattfinden kann.Aber die globale Finanzmarktkrise hat gezeigt, dassdies nicht ausreicht und dass für die 8 300 Banken in Eu-ropa eine verbesserte, einheitliche Regelung in diesemBereich notwendig war. Einlagensicherungssystememüssen die Angst vor Verlust nehmen. Das wird hiermiterreicht.Der Verbraucherschutz steht im Mittelpunkt. Das istsozialdemokratische Politik, die man unterstützen kann.Der Verbraucherschutz hat einen hohen Stellenwert indiesem Haus.
Die Harmonisierung der europäischen Einlagensiche-rung soll verhindern, dass der Sparer in bestimmten Si-tuationen seine Ersparnisse verliert und sie vielleichtüberhastet abzieht. Die Bankeinlagen werden – daswurde mehrfach angesprochen – bis zu einem Betragvon 100 000 Euro durch die Richtlinienumsetzung ge-schützt. Auch die in besonderen Fällen geltende500 000-Euro-Grenze wurde genannt. Das ist sehr posi-tiv zu bewerten. Die Bankkunden werden dadurch bessergeschützt.In Deutschland gilt dieses Einlagensicherungssystemseit Jahren. Die Besonderheiten, die institutsbezogenenSicherungssysteme, gelten weiterhin. Das ist ein großerErfolg, und ich bin froh, dass die Richtlinie dies für un-sere Sparkassen, Landesbanken, Genossenschaftsbankenund Landesbausparkassen so vorsieht. Denn diese Siche-rungssysteme haben sich bewährt.Die Höhe des Fonds und der Aufbau bis 2024 wurdenschon angesprochen, genauso wie die Bewertung nachGröße und Risiko. Das alles findet unsere Unterstützung.Das ist ein guter Weg, um Verbesserungen im Kunden-schutz zu erzielen. Bislang wurden Einlagen bis 100 000Euro innerhalb von 20 Werktagen zurückgezahlt. Nunerfolgt eine Rückzahlung antragslos innerhalb von sie-ben Arbeitstagen. Auch das stellt eine Stärkung desVerbraucherschutzes dar. Eben wurde zudem kurz ange-deutet, dass die länderübergreifende Abwicklung verbes-sert wurde. Der Schutz des deutschen Kunden einer aus-ländischen Bank wird dadurch gestärkt und verbessert.Das ist ebenfalls ein erwähnenswerter Vorteil. Die EU-Richtlinie kann also auch deutschen Kunden ausländi-scher Banken weiterhelfen. Das schafft Vertrauen.Das alles ist im europäischen Kontext zu sehen. DieBankenunion, die Aufsichts- und Abwicklungsregime,die bereits installiert sind oder noch installiert werden,Restrukturierungsfonds – zukünftige Abwicklungsmaß-nahmen werden von den Banken selbst finanziert – unddie Haftungskaskade, all das sind viele Schritte, die nachder Krise im Finanzwesen dazu geführt haben, dass dieVerursacher stärker in die Verantwortung genommenwerden und dass der Verbraucher, der Anleger, der Spa-rer stärker geschützt wird.
Die Harmonisierung der Einlagensicherungssystemeist somit ein wichtiger Bestandteil des europäischenMaßnahmenpakets, das die Banken in Europa krisenfes-ter machen wird. Dies ist also ein weiterer wichtigerSchritt hin zu einem verbesserten Anlegerschutz imFinanzbereich. Das stärkt das notwendige Vertrauen inden europäischen Bankensektor. Die Spareinlagen sindsicher.Glück auf!
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Matthias
Hauer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute diskutieren wir in erster Lesung über dieUmsetzung der Richtlinie zur Einlagensicherung. Wirschützen damit Sparer in Deutschland noch besser vordem Verlust ihres Ersparten. Die Systeme zur Einlagen-sicherung werden finanziell besser ausgestattet. Das Er-stattungsverfahren wird unbürokratischer, kunden-freundlicher und transparenter.Gut ausgestattete und funktionierende Einlagensiche-rungssysteme sind ein wesentlicher Faktor, um das Ver-trauen in das Bankensystem zu stärken. Sie vermeidenim Krisenfall einen massiven Abzug von Spareinlagenund tragen somit dazu bei, dass sich eine Krise nichtweiter verschärft. In England standen die Menschen2007 vor Bankschaltern Schlange, um Bargeld abzuhe-ben. In der Schweiz musste eine Bank ein Jahr später in-nerhalb kürzester Zeit 25 Milliarden Schweizer Frankenauszahlen. Wir müssen also nicht weit zurückschauen –einige andere Beispiele sind schon genannt worden –,um einen Eindruck davon zu gewinnen, was fehlendesVertrauen in die finanzielle Leistungsfähigkeit von Ban-ken bewirken kann.Deutschland hat schon lange ein gutes System derEinlagensicherung. Dieses System hat zur Besonnenheitder Bevölkerung in Deutschland beim Umgang mit derFinanzkrise beigetragen. Auch die klaren Worte vonBundeskanzlerin Merkel und dem damaligen Finanz-minister Steinbrück im Jahre 2008, nämlich die Garan-tie, dass die Einlagen der Sparer in Deutschland sichersind, haben Überreaktionen verhindert und waren völligrichtig.
Durch die Richtlinie werden nun die Einlagensiche-rungssysteme EU-weit harmonisiert, und es wird ein ein-heitliches Schutzniveau für alle Sparer in der EU ge-schaffen, egal ob es sich um einen Sparer in meinemWahlkreis in Essen oder um einen Sparer im EU-Aus-land handelt.
Metadaten/Kopzeile:
7812 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Matthias Hauer
(C)
(B)
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, bleiben dieetablierten und historisch gewachsenen Strukturen derdeutschen Einlagensicherung erhalten. Dafür hat sich dieCDU/CSU-Fraktion schon in der Vergangenheit konti-nuierlich eingesetzt. Die drei Säulen aus den gesetzli-chen Entschädigungseinrichtungen, den freiwilligenEinlagensicherungsfonds der öffentlichen und privatenBanken und den institutssichernden Einrichtungen desDeutschen Sparkassen- und Giroverbandes sowie desBundesverbandes der Deutschen Volksbanken undRaiffeisenbanken sind in Europa einzigartig und habensich bewährt.
Auch künftig haftet die deutsche Einlagensicherungausschließlich für Einlagen in Deutschland. Bei Bankenim EU-Ausland greift jeweils das nationale Einlagensi-cherungssystem. Alle EU-Länder sind fortan verpflich-tet, dafür zu sorgen, dass ihre nationalen Einlagensiche-rungssysteme innerhalb einer Frist von zehn Jahren einMindestvermögen in Höhe von 0,8 Prozent der gedeck-ten Einlagen ihrer Kreditinstitute ansparen. Mit der CDUund der CSU wird es auch künftig kein europäischesSystem der Einlagensicherung geben, das eine Verge-meinschaftung der Haftung vorsieht.
Die Einlagensicherung hat sich für die Sparer inDeutschland schon in den letzten Jahren deutlich verbes-sert, von zunächst 20 000 Euro über 50 000 Euro aufnunmehr 100 000 Euro. Auch die frühere Selbstbeteili-gung der Sparer in Höhe von 10 Prozent ist 2009 entfal-len. Schon jetzt ist also von der Einlagensicherung ge-schützt, wer bis zu 100 000 Euro Guthaben hat: aufseinem Sparbuch, auf seinem Girokonto, auf seinemFestgeldkonto, auf seinem Tagesgeldkonto, Bankspar-plan oder Sparbrief.Ein Girokonto ist heute die Voraussetzung dafür, umüberhaupt am wirtschaftlichen Leben teilnehmen zukönnen. Wer ein solches Konto eröffnet, der verbindetdamit nicht automatisch, dass er Gläubiger der Bankwird und dadurch auch ein Haftungsrisiko trägt. Das istvielen Menschen gar nicht bewusst. Gerade vor diesemHintergrund ist die gesetzliche Einlagensicherung einwichtiges Instrument zum Schutz der Sparer. Sie befreitden Kontoinhaber bis zur Höhe der Sicherungsgrenzevon diesen Haftungsrisiken. Künftig wird das Geld derSparer also noch besser geschützt.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Siche-rungsgrenze von 100 000 Euro beibehalten. Für einigeBereiche soll sie sogar deutlich auf 500 000 Euro ange-hoben werden. Es gibt nun einmal bestimmte Ereignisse,da werden hohe Beträge üblicherweise auf einmal aufein Konto überwiesen. Da wären zum Beispiel der Erlösaus dem Verkauf einer Eigentumswohnung oder einesHauses, die Zahlung zugunsten eines Arbeitnehmers auseinem Sozialplan, die Versicherungsleistung nach einemschweren Unfall oder vielleicht auch die Auszahlung ei-ner betrieblichen Altersversorgung zu nennen.Wer solche hohen, meist einmaligen Zahlungen er-hält, die über die Sicherungsgrenze der Einlagensiche-rung hinausgehen, der soll die Möglichkeit erhalten, seinGeld in Ruhe neu anzulegen. Dafür bekommt der Kundenach dem Gesetzentwurf nunmehr sechs Monate Zeit, indenen die höhere Sicherungsgrenze für solche bestimm-ten Ereignisse gilt. Zudem werden die Sparer künftig imSchadensfall schneller und unbürokratischer an ihr Geldkommen. Die Entschädigung soll nicht wie bisher nach20 Tagen, sondern schon nach sieben Arbeitstagen ge-zahlt werden, künftig ohne einen Antrag stellen zu müs-sen.Auch die Transparenz wird erhöht. Die Kreditinstitutewerden nun verpflichtet, ihre Kunden besser über dieEinlagensicherung und vor allem über das Entschädi-gungsverfahren zu informieren. Zudem muss der Kundein Zukunft rechtzeitig über einen Wechsel des Einlagen-sicherungssystems informiert werden, damit er selbstentscheiden kann, ob er seine Einlagen bei dem Kredit-institut belässt oder auf ein anderes überträgt.Abschließend bleibt festzustellen, dass unser gutesund funktionierendes System der Einlagensicherung inDeutschland durch die Umsetzung dieser Richtlinie nochbesser wird. Egal ob in wirtschaftlich besseren oderschlechteren Zeiten – die Menschen in Deutschland kön-nen darauf vertrauen, dass ihre Spareinlagen geschütztsind.Vielen Dank.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt
Dr. Carsten Sieling von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchtezum Schluss dieser Debatte noch einmal darauf auf-merksam machen, dass wir mit der Einlagensicherungeinen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Finanz-systems leisten, aber natürlich auch dazu, dass die Men-schen, die ihr Geld zur Bank bringen, dieses wirklich si-cher haben. Das ist ein Gebot der Fairness.Dieses Gebot der Fairness beinhaltet mehrere Punkte.Ein Punkt, der uns als Sozialdemokraten wichtig war, ist,dass dieses Geld wirklich in allen Instituten sicher ist,und dass dabei beachtet wird, dass insbesondere dieSparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschlandschon eine eigene Institutssicherung haben. Das zeichnetuns gegenüber vielen anderen Ländern aus. Darum waruns als Sozialdemokraten die besondere und faire Be-handlung dieser Institute wichtig.
Weil hier die meisten Punkte bereits ausgeführt wor-den sind, will ich sagen, dass wir eine Reihe weitererAufgaben haben werden, um dieses Ziel der Stabilitätdes Finanzsektors zu gewährleisten. Diese haben wir unsals Koalition vorgenommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7813
Dr. Carsten Sieling
(B)
Ich will zunächst ansprechen, dass es einfach notwen-dig ist, dafür zu sorgen, dass die Gelder, die die Men-schen zu den Banken und Sparkassen bringen, nicht fürriskante Geschäfte verwendet werden. Wir sind sehr da-für, dass das Investmentgeschäft und das Einlagenge-schäft, also das normale Kundengeschäft, getrennt wer-den. Wir haben deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart– das halte ich für einen wichtigen Schritt –, dass ent-sprechend den weiter gehenden europäischen Vorgabenauf Grundlage des Vorschlages des finnischen Zentral-bankchefs Liikanen eine Umsetzung durchgeführt wird,die wirklich zu einer Trennung führt und damit Sicher-heit schafft. Auch das ist uns ein wichtiges Anliegen.
Ein weiteres Thema ist hier in einigen Reden bereitsangesprochen worden, und wir stimmen dem sehr zu: Esgibt viele Menschen in diesem Land, die kein Konto ha-ben und auch keinen Zugang zu Konten haben. Auchdeshalb haben wir vereinbart, jedermann die Einrichtungeines Girokontos zu ermöglichen. Das werden wir baldhier im Hause debattieren. Auch das ist ein wichtigerBereich im Zusammenhang mit der Stabilisierung desFinanzsektors.
Lassen Sie mich als Allerletztes sagen, quasi als Aus-blick auf das, was wir vorhaben und was wir zu tun ha-ben: Die Finanzkrise hat den Steuerzahler viel Geld ge-kostet. Die Finanzkrise war eine Belastung und hat auchdeshalb Risiken hervorgerufen, weil Geld immer wiederspekulativ verwendet wurde. Das wird man nicht einfachabstellen können; aber es gibt Instrumente, um dagegenvorzugehen, etwa die Besteuerung bestimmter Aktivitä-ten im Rahmen einer Finanztransaktionsteuer auf euro-päischer Ebene. Diese Steuer würde dafür sorgen, dassSpekulationen reduziert werden. Ich bin ganz optimis-tisch. Ihre Einführung steht in unserem Koalitions-vertrag; uns Sozialdemokraten war das immer eineHerzensangelegenheit. Die Meldungen der letzten Tagebesagen, dass wir weiterkommen. Die Finanztrans-aktionsteuer stabilisiert die Finanzmärkte und ist deshalbein guter Partner der Einlagensicherung. Ich freue michauf die Debatte und die Beratungen im Bundestag und inden Ausschüssen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Interfraktionell wird die Überweisungdes Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/3786 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatz-punkt 2 auf:22 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungElfter Bericht der Bundesregierung über ihreMenschenrechtspolitikDrucksache 18/3494Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten RalphLenkert, Caren Lay, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBundesprogramm Modellvorhaben RegionaleAuslastung von Müllverbrennungsanlagenunter Integration von Klärschlamm auflegenDrucksache 18/3048Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
InnenausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f sowieZusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich hier um die Beschluss-fassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorge-sehen ist.Tagesordnungspunkt 23 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom15. Mai 2014 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regie-rung der Republik Polen über die Zusam-menarbeit der Polizei-, Grenz- und Zollbe-hördenDrucksache 18/3696Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
Drucksache 18/3851Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Der Innenausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3851,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache18/3696 anzunehmen. Ich möchte jetzt diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich zu er-heben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-mit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition
Metadaten/Kopzeile:
7814 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung vonBündnis 90/Die Grünen angenommen worden.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Zunächst rufe ich Tagesordnungspunkt 23 b auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 139 zu PetitionenDrucksache 18/3738Wer stimmt für die Sammelübersicht 139? – Alle.Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? –Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 139 ein-stimmig angenommen worden.Tagesordnungspunkt 23 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 140 zu PetitionenDrucksache 18/3739Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Die Koali-tion. Wer stimmt dagegen? – Die Linke. Wer enthältsich? – Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammel-übersicht 140 mit den Stimmen der Koalition bei Gegen-stimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen angenommen worden.Tagesordnungspunkt 23 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 141 zu PetitionenDrucksache 18/3740Wer stimmt dafür? – Alle. Trotzdem: Wer stimmt da-gegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand.Damit ist die Sammelübersicht 141 einstimmig ange-nommen worden.Tagesordnungspunkt 23 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 142 zu PetitionenDrucksache 18/3741Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Sammel-übersicht 142 mit den Stimmen der Koalition und derLinken bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünenangenommen worden.Tagesordnungspunkt 23 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 143 zu PetitionenDrucksache 18/3742Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Niemand. Dann ist die Sammelübersicht 143mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen derOpposition angenommen worden.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Recht und Verbraucherschutz
Übersicht 4über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gerichtDrucksache 18/3864Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Alle.Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? –Auch niemand. Damit ist diese Beschlussempfehlungeinstimmig angenommen worden.Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 6:– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Ausbildungsunterstützung der Sicherheits-kräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen StreitkräfteDrucksachen 18/3561, 18/3857– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/3858Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfeh-lung werden wir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die-ser Debatte hat Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Frak-tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich glaube, es ist ein Hinweis, den man amAnfang einer Debatte geben muss: dass die Bekämpfungvon ISIS, also des „Islamischen Staats“, auch eine mili-tärische Herausforderung ist. Das, was wir in den letztenStunden und Tagen gehört haben, nämlich dass es offen-sichtlich gelungen ist, Kobane zu befreien und ISIS auchin diesem Gebiet zurückzudrängen, deutet darauf hin,dass diese Auseinandersetzung militärisch geführt wer-den muss.Wir wissen auch, dass es ohne Sicherheit keine Ent-wicklung gerade in diesem Gebiet gibt. Deswegen ist essehr naheliegend, dass das deutsche Engagement gerade
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7815
Dr. Rolf Mützenich
(C)
(B)
im kurdischen Teil des Irak stattfindet. Wenn Sie, liebeKolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sichehrlich machen würden, würden Sie es an dieser Stelleauch einmal sagen. Sie sind in diesem Gebiet unterwegs– darauf weisen Sie ja oft hin –, wie wir auch. Ohne dieBegleitung oder zumindest ohne die Rahmenbedingun-gen, die offensichtlich auch durch die Peschmerga undandere hergestellt werden, würden Sie sich gar nicht indieses Gebiet wagen können. Ich finde, das zu sagen, ge-hört zu einer ehrlichen Debatte dazu.
Es ist eine militärische Herausforderung. Aber, liebeKolleginnen und Kollegen, es ist genauso eine politischeHerausforderung; das ist wahrscheinlich noch wichtiger,weil das nämlich langfristig trägt. Letztlich ist in demGebiet, über das wir bei dieser Ausbildungsmissionsprechen, ein regionaler Ansatz geboten; nur so wirddieser Konflikt am Ende zu lösen sein.Ich würde gern daran erinnern, dass ISIS offensicht-lich auch deshalb so viel Gefolgschaft hat, weil es in denletzten Jahren Staatsversagen in der Region gegeben hat,weil die Regierungen nicht in der Lage gewesen sind,ein Minimalangebot für die Menschen bereitzuhalten.Korruption und vieles andere haben dazu geführt, dassISIS eine Legitimation von der Bevölkerung bekommt.Das ist eine politische Auseinandersetzung, in der wirvon Deutschland aus durchaus sagen müssen: Es bestehteine Verpflichtung der dortigen politischen Akteure, zueiner guten Regierungsführung zu kommen. Der dama-lige jordanische Kronprinz, Prinz Hassan, hat ja daraufhingewiesen, dass genau das letztlich das Erfolgsrezeptfür die Region ist. Deswegen glaube ich: „ISIS bekämp-fen“ umfasst mehr als nur den militärischen Ansatz, aberohne den militärischen Ansatz wird es keine Vorausset-zungen für politische Lösungen geben.
Deswegen müssen wir auch von dieser Stelle aus sa-gen: Natürlich müssen vornehmlich aus der Region Lö-sungen aufgezeigt werden, müssen sich die auf den Wegmachen, die hoffentlich eine andere Regierungsführungzeigen. In der Tat müssen wir darauf achten, dass ISISnicht mehr diese Gefolgschaft bekommt. Wir wissen,sunnitische Stämme, auch restliche Teile der Baath-Par-tei, sind gerade in diese Gruppierungen mit aufgenom-men worden, und nur eine Einheitsregierung im Irakwird es schaffen, diese Kräfte aus der ISIS wieder he-rauszulösen.Der Außenminister und sein Haus haben letztlich im-mer wieder darauf hingewiesen: Insbesondere geht esum die Delegitimierung des Kalifats. Ich finde, das isteiner der wichtigen Bestandteile, zu dem man immerwieder Fragen an den Irak, insbesondere aber an Saudi-Arabien, richten muss, da offensichtlich von dort einegewisse Legitimierung kommt.Deswegen glaube ich, der Ansatz vonseiten der Bun-desregierung und auch der europäischen Partner, dassdie Unterstützung Deutschlands nicht bedingungslos ist,war richtig gewählt. Voraussetzung ist, dass es in Bag-dad zu einer anderen Regierung gekommen ist und dassdiese mit dafür gesorgt hat, dass religiöse und ethnischeTeile mit an den Tisch geholt und in die Regierungsfüh-rung einbezogen werden.Wir sehen ja auch Fortschritte. Wir sehen zum Bei-spiel die Verwirklichung des Ölgesetzes und die Unter-stützung des kurdischen Haushaltes vonseiten der Zen-tralregierung. Das schafft nach unserem Dafürhaltenmöglicherweise ein Umfeld, in dem ein besseres Regie-ren möglich ist, um so ISIS die Legitimation zu entzie-hen.Dazu kommt der zweite Punkt. Auch hier bin ich derBundesregierung, vor allem der Bundeskanzlerin, aberauch dem Außenministerium, sehr dankbar, dass sie diesimmer wieder in Angriff genommen und gesagt hat: Dieregionalen Akteure wie der Iran, wie Saudi-Arabien, wieKatar und die Türkei haben die Verpflichtung, ein regio-nales Sicherheitsumfeld zu schaffen, in dem möglicher-weise Entwicklung stattfinden kann. Ich glaube, der Iranist nicht nur ein Teil des Problems, sondern er bietetauch eine Möglichkeit, um die Probleme mit lösen zukönnen. Daher glaube ich, wir müssen ihn viel stärkerfordern und einbeziehen; und das gilt nicht nur für denIrak, sondern das gilt genauso für Syrien.Daher bin ich sehr dankbar, dass zum Beispiel der Be-auftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationennicht nur Vorschläge für lokale Waffenstillstände oderWaffenruhen in Syrien gemacht hat, sondern dass er ver-sucht, die Probleme, die sich daraus ergeben, auch mitdiesen anderen Staaten zu besprechen, und versucht,dass auch sie möglicherweise im Rahmen von Genf IIIam Tisch Platz nehmen, um zu einer Problemlösung zukommen.Meine Damen und Herren, ich würde gern zu demrechtlichen Rahmen dieses Mandats kommen, weil wirin den letzten Tagen und Stunden immer wieder gehörthaben, dass der eine oder andere Zweifel besteht. Erstensbin ich der Bundesregierung dankbar, dass sie diesesParlament im Zweifel mit in die Mandatierung einbe-zieht. Ich finde, wir sollten es über alle Fraktionen hin-weg loben, dass die Bundesregierung den Bundestagdennoch einbindet – nicht nur in die politische Diskus-sion, sondern in die Mandatierung –, auch wenn imZweifelsfall vielleicht doch kein Mandat erforderlich ist.Allein die Aufgabe und die Größenordnung machen esnotwendig, dass wir heute als Deutscher Bundestag da-rüber entscheiden.
Der zweite Punkt: Die Frage der Mandatsklarheitfinde ich in dem Antrag der Bundesregierung sehr über-zeugend ausgeführt. Es ist eine überschaubare Aufgabe.Sie wird mit verlässlichen Partnern durchgeführt. Eswerden keine Strukturen geschaffen, die selbstbindendsind oder sozusagen zeitlos wirken werden. Vielmehrstehen wir insbesondere vor der Möglichkeit, die Füh-rung relativ schnell, nach sechs Monaten, an andere Part-ner zu übergeben. Gestern hat der Bundesaußenministerim Auswärtigen Ausschuss von Italien gesprochen. Ich
Metadaten/Kopzeile:
7816 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Rolf Mützenich
(C)
(B)
finde es richtig, dass zum Beispiel die Bundeswehr diePeschmerga an defensiven Waffensystemen ausbildet.Die Frage der Minenräumung und andere Dinge spielenfür die Menschen vor Ort die entscheidende Rolle. Wennda die Bundeswehr Hilfestellung geben kann, sollte siees tun.Die Beschlüsse der Vereinten Nationen sind klar; siemüssen aber im Zusammenhang gesehen werden. Ichvermisse, dass neben der Resolution 2170 zu wenig aufdie Resolutionen 2169 und 2178 eingegangen wird; denndiese bieten den Rahmen für ein kollektives Sicherheits-system, in dem es möglich ist, die Aufgabe an die Mit-gliedsnationen zu überweisen.
– Sie stehen im Mandat. – Deswegen bin ich der Mei-nung, dass Ihr Vorwurf nicht stimmt, es sei ein Novum,was heute vonseiten des Deutschen Bundestages mögli-cherweise beschlossen wird. Es gab bereits andere Man-datstexte – da ging es um AFISMA und andere Einsätze –,die keine unmittelbare Folgewirkung hatten. Wenn IhreKritik glaubwürdig sein soll, dann müssen Sie auch diedamaligen Beschlüsse kritisieren. Auch das gehört zu ei-ner ehrlichen Debatte mit dazu.
– Sie können fragen oder gleich in der Debatte noch et-was dazu sagen.Es gibt Ratschläge, die besagen, dass wir den europäi-schen Rahmen suchen müssen. Das mag sein. Aber derAußenminister hat gestern im Auswärtigen Ausschussangedeutet – auch das sollten wir der Öffentlichkeitdeutlich sagen –, wie schwierig dieser Prozess mit deneuropäischen Partnern ist. Das zu erwähnen, gehört zurEhrlichkeit mit dazu; denn unterschiedliche Regierungenverknüpfen unterschiedliche Ziele damit.Sie diskutieren ja rechtlich; entsprechende Aussagenhat der Kollege Schmidt in der ersten Beratung gemacht.Dann müssen Sie aber auch das Lissabon-Urteil desBundesverfassungsgerichts hier zitieren. Aus Sicht desBundesverfassungsgerichts ist Europa bis zum jetzigenZeitpunkt kein System kollektiver Sicherheit. Sie verlan-gen immer, dass wir alles tun müssen, um an dieserStelle rechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Ich glaube,Sie machen sich mit dieser Forderung nur einen schlan-ken Fuß, damit Sie an diesem Mandat heute nicht mit-wirken müssen.
Was die Bundesregierung heute vorgelegt hat, ist einerechtlich einwandfreie Herleitung. Sie bietet auch Mög-lichkeiten der Mitberatung. Letztlich besteht das Systemauch darin, dass uns eine legitime Regierung und das ira-kische Parlament gebeten haben, an dieser Ausbildungmitzuwirken.Der Beitrag Deutschlands ist in der Tat nicht überra-gend. Aber er ist das, was wir zurzeit liefern können. Ichfinde, er ist auch richtig begründet. Wir sollten uns indieser Debatte selbstbewusst klarmachen, was wir in derVergangenheit unternommen haben. Beim gezieltenAufbau, bei der humanitären Hilfe und bei der Unterstüt-zung der Länder in dieser Region, die die Hauptlast derAufnahme von Flüchtlingen tragen, haben wir viel un-ternommen. Insbesondere haben wir eine Diskussion ge-führt, die ich vor wenigen Jahren nicht für möglich ge-halten habe. Ein Großteil der Menschen in Deutschlandist bereit, Flüchtlingen in Not eine Art Heimat zu bieten.Dieses Signal geht von dieser Debatte aus.Frau Präsidentin, wenn ich das am Schluss noch er-wähnen darf: Neben der guten rechtlichen Herleitung,die die Bundesregierung erarbeitet hat, gehört zu einerehrlichen Debatte, dass wir uns demnächst darüber un-terhalten müssen, ob die eine oder andere Regierung indieser Region nicht erneut möglicherweise eine Situa-tion herbeiführen wird, die bewirkt, dass noch mehr Ge-walt in diese Region hineingetragen wird. Mir machenautoritäre Regierungen große Sorgen, die keine Rück-sicht auf die Menschenrechte nehmen. Darüber solltenwir im Deutschen Bundestag eine ehrliche Diskussionführen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Jan van Aken
von der Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichfinde, wir sollten erst einmal zusammen feiern, dassdiese Woche Kobane befreit worden ist. Mein Dank undmeine ganze Hochachtung gilt den Frauen und Männern,die in den letzten Monaten gegen die Menschenfeindevon ISIS gekämpft haben, dabei ihr Leben riskiert undzum Teil verloren haben. Biji Kobane!Jetzt zu Ihrem Antrag. Sie wollen 100 Bundes-wehrsoldaten in den Nordirak schicken, um dort kurdi-sche Peschmerga auszubilden. Dieser Einsatz ist grund-gesetzwidrig, aber er ist auch politisch falsch. Siewerden damit ISIS auf Dauer stärken und nicht schwä-chen, weil Sie so die Spaltung des Irak vorantreiben.Zur rechtlichen Frage muss ich nicht viel sagen. Dasist in den letzten Tagen alles ausgeführt worden. Auchviele Abgeordnete der SPD, der CDU und der CSU sindder Meinung, dass dieser Einsatz gegen das Grundgesetzverstößt, weil er eben nicht in den Rahmen eines kollek-tiven Sicherheitssystems passt. Wenn Sie ihn jetzt hierdurchwinken, dann schaffen Sie einen Präzedenzfall, deruns in den nächsten Jahren immer wieder einholen wird.
Das allein wäre für uns Grund genug, Ihren Antragabzulehnen. Aber er ist, wie gesagt, auch politischfalsch. Ich bin überzeugt davon – das werde ich gleichim Detail begründen –, dass Sie damit ISIS auf Dauer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7817
Jan van Aken
(C)
(B)
tatsächlich stärker und nicht schwächer machen. HerrMützenich, auch das gehört zur Ehrlichkeit: Sie müssensehen, dass manchmal ein militärischer Beitrag ein poli-tisches Ziel unterläuft. Genau das ist hier der Fall. Siehaben es völlig richtig beschrieben. Ich glaube, wir sinduns hier alle einig: Es gibt einen zentralen Grund, warumISIS im Irak so stark ist. Das liegt daran, dass in denletzten Jahren die sunnitischen Muslime im Nordirakkomplett ausgegrenzt worden sind, dass die Zentralre-gierung in Bagdad alle lukrativen Posten, die gesamtenÖleinnahmen, den gesamten Reichtum des Landes andie Schiiten und zum Teil an die Kurden verteilt hat. DieSunniten sind völlig leer ausgegangen. Als ich Anfangdes letzten Jahres durch die Region gefahren bin, auchdurch Mossul, schlug mir ein Hass auf die Schiiten ent-gegen. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.Genau dieser Hass ist der Nährboden dafür, dass ISISjetzt militärisch so stark geworden ist. ISIS ist im Nord-irak mittlerweile in der Breite verankert und hat die Un-terstützung der lokalen Bevölkerung. Wenn Sie ISIS mi-litärisch bekämpfen wollen, dann geht es nur, wenn Sieden Hass wieder wegbekommen, indem Sie eine inklu-sive, eine breite, eine faire Regierung in Bagdad instal-lieren, die den Reichtum fair zwischen Kurden, Schiitenund Sunniten verteilt. Das muss das politische Ziel sein.
Das große Problem, Herr Mützenich, ist, dass es einegroße Kraft im Irak gibt, die genau dagegen arbeitet, unddas ist Massud Barzani, der Präsident der nordirakischenkurdischen Autonomieregierung. Barzani lässt über-haupt keinen Zweifel daran, dass er einen eigenen Natio-nalstaat der Kurden im Nordirak möchte. Er möchte dieAbspaltung vom Restirak. Seit Monaten bringt er eineVolksabstimmung in der Autonomieregion ins Gespräch.Wozu das führt, wissen wir alle. Wenn sich der Nordirakabspaltet, dann zerfällt der Restirak, und wir haben einDesaster, von dem wir uns viele Jahre nicht erholen wer-den.Genau den Barzani haben Sie mit Waffen beliefert.Genau den Barzani wollen Sie jetzt weiter militärischausrüsten und ausbilden? Damit treiben Sie doch nochmehr Sunniten in die Arme von ISIS. Damit werden SieISIS auf Dauer wirklich stärken, weil Sie die Abspal-tungstendenzen im Irak stärken und nicht die Vereini-gung der drei verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Dasist Ihr grober Fehler. Selbst wenn Sie für Waffenlieferun-gen sind, wenn Sie für Bundeswehreinsätze sind, dannist dieser Einsatz doch genau der falsche. Sie bilden diefalschen Leute für die falschen Zwecke aus.
Noch ein letzter Punkt. Es gebe sehr vieles, was Sieim Moment tun könnten, um ISIS militärisch zu schwä-chen. Aber all dies Richtige und Gute tun Sie nicht. Siekönnten zum Beispiel die direkte Unterstützung für ISISaustrocknen: die Geldquellen, aber auch den Nachschuban Kämpfern und Waffen. Noch immer können Dschiha-disten mit ihren Waffen über die Türkei nach Syrien ein-reisen. Sie können gar nicht so schnell in Arbil ausbil-den, wie ISIS über die Türkei weiter wächst. Dagegenhaben Sie überhaupt keine Chance. Wenn Sie militärischeffektiv gegen ISIS vorgehen wollen, dann machen Siedie Grenzen zu und üben Sie Druck auf die Türkei aus.
Dafür hätten Sie sogar ein UNO-Mandat. Für einenBundeswehreinsatz im Nordirak haben Sie keine gesetz-liche Grundlage bei den Vereinten Nationen. Es gibt ge-nau eine Resolution des Sicherheitsrates der VereintenNationen, die hier einschlägig ist. In dieser geht es da-rum, den Zufluss internationaler Terroristen zu behin-dern. Stoppen Sie endlich den Zufluss der ISIS-Terroris-ten über die Türkei. Machen Sie endlich Druck auf dieTürkei, die Grenze zu schließen. Damit bekämpfen SieISIS, aber lassen Sie die Bundeswehr da raus.
Damit sind wir beim Kern des Problems, den Sie im-mer aussparen. Sie haben über die Golfstaaten, über denIran geredet. Warum reden Sie nicht über die Türkei?Die türkische Regierung ist eines der Hauptprobleme.Sie sagt bis heute: Unser Hauptfeind ist nicht ISIS, son-dern sind Assad und die Kurden. Es ist vorgekommen,dass schwerverletzte Verteidiger von Kobane an türki-schen Grenzposten gestorben sind, weil die Grenze zuwar. Ein paar Kilometer weiter konnte ISIS samt Waffenüber die türkische Grenze gehen. Genau das müssen Sieverändern. Es ist die Hauptaufgabe des Bundesaußen-ministers, den Druck auf die Türkei so weit zu erhöhen,dass ISIS nicht noch weiter stärker wird.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen exportieren sollte: nicht in den Irak undauch nicht in die Türkei.Danke schön.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Henning Otte
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am Dienstag sagte unser Bundestagspräsi-dent, Dr. Norbert Lammert, auf der Gedenkveranstaltunghier im Deutschen Bundestag anlässlich der Befreiungdes KZ Auschwitz:Verantwortung zu übernehmen, ist … ein persönli-cher Akt. Das zu fördern, gehört aber zu den zentra-len Aufgaben des Staates.Meine Damen und Herren, Deutschland übernimmtVerantwortung, auch als Partner einer Verantwortungs-gemeinschaft. Deutschland übernimmt Verantwortungfür das Leben von Christen, Jesiden, Kurden und Mos-lems. Wir verstecken uns nicht hinter Zweifeln, hintereiner Ideologie, sondern wir stehen zu unserer Verant-
Metadaten/Kopzeile:
7818 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Henning Otte
(C)
(B)
wortung. Sie, Herr van Aken – das haben Sie eben deut-lich gemacht –, ducken sich weg.
Der IS-Terrorismus versucht, eine ganze Region unterKontrolle zu bringen und Menschen tief zu verunsi-chern. Männer werden zum Konvertieren gezwungen.Mädchen werden als Sklaven verkauft. Homosexuellewerden unter den Augen der verängstigten Bevölkerungvon hohen Gebäuden gestoßen. Davor können wir dieAugen nicht verschließen.Es ist der kurdischen Peschmerga mit westlicher Hilfegelungen, den Vormarsch des IS-Terrors zu stoppen. DieHerausforderung ist, dass diese Kampfhandlungen aufeiner Frontbreite von 1 000 Kilometern stattfinden. Beieinem Besuch unserer Verteidigungsministerin Frau vonder Leyen, bei dem ich sie begleitet habe, haben wirdeutlich bestätigt bekommen, dass die westliche Hilfeeinen Beitrag dazu leistet, die von mir beschriebenenGrausamkeiten zu verhindern. Die Ausbildungsmissionder Bundeswehr ist ein Gradmesser für die Menschlich-keit, für die Verlässlichkeit und auch für die Verantwor-tung unseres Landes.Wir wollen ein Ausbildungszentrum betreiben. Dasist unser Beitrag – 60 weitere Nationen leisten ebenfallsihren Beitrag –, damit die Peschmerga-Kämpfer noch ef-fektiver vorgehen können. Dazu gehört die Sanitätsaus-bildung, weil hohe Verluste durch schwere Verwundun-gen zu verzeichnen sind. Dazu gehört eine Mission zurMinenräumung, damit die Menschen, nachdem sie ausihren Dörfern vertrieben wurden, wieder zurückkehrenkönnen; denn die IS-Terroristen hinterlassen verbrannteErde und verminte Dörfer. Auch hier leisten wir einenBeitrag. Es gehört auch dazu, dass wir mit militärischemKnow-how einen Beitrag leisten. Es ist doch geradezuzynisch, den Menschen die Mittel zur Selbstverteidigungvorenthalten zu wollen. Als Ultima Ratio gehört auchdazu, Waffen zu liefern, die vonnöten sind, um heranfah-rende, mit Sprengstoff beladene Lkw auf Distanz zu hal-ten. Solche Selbstmordkommandos können gestopptwerden, weil wir beispielsweise die PanzerabwehrraketeMilan zur Verfügung stellen.Wir fangen mit dieser Mission rechtzeitig an. Wirwollen nicht in eine Situation wie in Afghanistan gera-ten. Das Land war bereits völlig zerrüttet, als man umHilfe gebeten hat. Deshalb wollen wir schon jetzt einenBeitrag dazu leisten, den Irak weiter zu stabilisieren.Offensichtlich ist der Terrorismus – ob unter al-Qaidaoder IS – wie ein Franchiseunternehmen organisiert. Inallen möglichen Ländern wird versucht, „Filialen“ zu er-öffnen. Diesem Geschäftsmodell müssen wir als Verant-wortungsgemeinschaft gemeinsam einen Riegel vor-schieben. Wer glaubt, dass wir uns heraushalten können,der irrt. So können wir auf dieser Welt nichts verbessern.Ja, wir müssen aktiv werden. Wir müssen auch deut-lich machen, dass die innere Sicherheit für unser Landvon besonderer Bedeutung ist, und dass wir bereit sind,die notwendigen Maßnahmen umzusetzen, zum Beispieldie Vorratsdatenspeicherung zur Ermittlung bei schwe-ren Straftaten und bei terroristischen Anschlägen. Dassind wir der Sicherheit unseres Landes und auch der Si-cherheit unserer Bürgerinnen und Bürger schuldig.
Oftmals ist in der Debatte darüber von der 68er-Genera-tion der Eindruck vermittelt worden, dass Freiheit undSicherheit sich gegenseitig aufheben bzw. blockieren.
Ich glaube, nach den Anschlägen von Paris können wirdeutlich feststellen: Freiheit gibt es nur mit Sicherheitund in Sicherheit. Deswegen ist es gut, dass wir heutediese Debatte über eine Stärkung der Ausbildungsmis-sion im Irak führen.Deutschland ist bereit, 100 Soldatinnen und Soldatenin ein Mandat zu entsenden, das eine Ausbildungsmis-sion ist – verbunden mit 60 Partnerländern. Hier geht esdarum, sich dem Terror entgegenzustellen und einenBeitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. DerTheologe Georg Picht sagte einmal:Wer die Verantwortung in der Welt bejaht, darf sichder Last, die sich daraus ergibt, nicht entziehen.Deswegen handeln wir, und deswegen reden Sie von derOpposition. Wir bitten um Zustimmung zu diesem Man-dat.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Omid
Nouripour von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicherist die Nachricht über die Befreiung von Kobane einehervorragende. Ich finde es richtig, dass man diese Be-freiung feiert,
auch wenn man weiß, dass ISIS weiterhin ein Drittel desTerritoriums Syriens und des Irak besetzt. Wenn mansich die humanitäre Katastrophe anschaut, die diese Bar-baren verursacht haben, dann fehlen einem manchmaldie Worte, um sie zu beschreiben.In einer solchen Situation muss man handeln. Darübersind wir uns alle einig. Wie man genau handeln sollte,darüber kann man, darüber muss man streiten. Dass mandabei zu verschiedenen Meinungen kommen kann, dasverstehen wir. Wir Grüne haben gute Erfahrungen damitgemacht, und wir haben natürlich Respekt vor der Mei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7819
Omid Nouripour
(C)
(B)
nung derjenigen, die zu einem anderen Ergebnis kom-men, egal ob bei uns oder in anderen Fraktionen.Wir wissen, dass man ISIS nur militärisch stoppenkann, und wir wissen, dass man dafür auch Ausbildungbraucht. Das ist unsere Meinung. Wir haben das bereitsAnfang September in unserem Entschließungsantrag for-muliert, den wir hier eingebracht haben, und wir habendas auch auf unserem Parteitag beschlossen.Heute werden wir uns mehrheitlich enthalten. Ichwerde Ihnen sagen, warum. Es gibt vier Gründe, die sehrviel mit der Art des Mandats, das die Bundesregierungvorlegt, zu tun haben:Erstens. Ja, Ausbildung ist notwendig. Aber mussman nicht vorher sagen, wen man ausbildet? Wir habenüberall nachgefragt. Die Bundesregierung – ich habe esschriftlich – kann diese Frage nicht beantworten. Mussman nicht die Frage beantworten, woran ausgebildetwird? Kollege Mützenich, Sie haben gesagt: an Defen-sivwaffen. Das kann sein, kann aber auch nicht sein. Ichweiß es nicht. Ich kann Ihnen vorlesen, was die Bundes-regierung dazu sagt. Eine Antwort auf diese Frage wurdenicht gegeben. Muss man nicht sagen, was das Ziel ist?Haben wir nicht in den letzten Jahren gelernt, dassAuslandseinsätze ein klares Ziel brauchen, damit man ir-gendwann einmal weiß, wann man sie beendet?
Fehlanzeige, komplette Fehlanzeige.Es gibt ein Novum – das habe ich noch nie erlebt –:Wir schicken, mandatiert, Soldatinnen und Soldaten.Das heißt, es kann sein, dass sie in Kampfhandlungengeraten;
sonst müssten wir ja nicht mandatieren. Wir schickenSoldatinnen und Soldaten, aber es gibt noch keine Ein-satzregeln. Es gibt noch nicht einmal Einsatzregeln! Ichfinde, das ist den Soldatinnen und Soldaten gegenüberein nicht unbedingt verantwortungsbewusstes Verhal-ten. Wir schicken sie in eine Rechtsunsicherheit. Wirschicken sie in einen Einsatz, ohne dass es Einsatzregelngibt. Das ist schlicht unverantwortlich.
Der zweite Grund. Alle haben gesagt, dass die iraki-schen Streitkräfte, dass die irakische Armee in derVergangenheit Teil des Problems gewesen ist. Wir brau-chen in diesem Land dringend eine gescheite Reform desSicherheitssektors; denn die Art und Weise, wie dieStreitkräfte aufgestellt worden sind – dabei geht es nichtum Geld –, ist Teil des Problems. Die Amerikaner haben25 Milliarden Dollar in diese Armee investiert. Als esaber darauf ankam, haben viele Soldaten, wenn sie inMossul nicht gleich die Seite gewechselt haben, nichtnur die Ausrüstung, sondern auch die Uniform hinter-legt. Deshalb muss man da etwas tun. Man muss dafürsorgen, dass die Korruption in den Streitkräften beendetwird. Aber was passiert stattdessen? Die irakische Re-gierung fordert von der EU inoffiziell eine Rechtsstaats-mission. Und die Antwort der Bundesregierung ist:Nein. Das hat mit einer Reform des Sicherheitssektorsüberhaupt nichts zu tun. Sie verschließen die Augen vordem, was im Irak dringend notwendig ist.
Drittens. Die Rechtsgrundlage. Kollege Mützenich,wenn es mit dem System kollektiver Sicherheit so klarwäre, dann frage ich mich, warum die Bundesregierungin zwei Ausschüssen verschiedene Aussagen macht. Indem einen Ausschuss wird gesagt, die völkerrechtlicheGrundlage sei Kapitel VII der Charta der Vereinten Na-tionen. In dem anderen Ausschuss wird gesagt: DieGrundlage ist die Einladung der Regierung Iraks. Ichfrage mich noch etwas; das habe ich auch noch nie gese-hen. Es gibt jetzt – endlich haben wir es bekommen –eine rechtliche Ausfertigung des Auswärtigen Amtesüber die verfassungsgemäße Grundlage dieses Einsatzes.
Diese haben wir einen Tag vor der Abstimmung bekom-men. Das kann man richtig finden, muss man aber nicht.Ich habe noch nie gesehen, dass eine rechtliche Ausar-beitung über die Grundlage eines Einsatzes eingestuftwird. Es ist eine vertrauliche Grundlage. Warum darf dieÖffentlichkeit dieses Papier nicht sehen, um sich selbstein Bild davon zu machen, ob das jetzt verfassungs-gemäß ist oder nicht?
Wie kommt es, dass der Kollege Mißfelder heuteMorgen im Radio gesagt hat: „Natürlich ist das politi-sche Argument wichtiger als juristische Bedenken“?Was ist das denn für ein Verständnis von Rechtsstaat,wenn man sagt, dass man etwas unbedingt will, dasmüsse doch möglich sein, auch unabhängig davon, wiedie rechtliche Grundlage ist?
Sie wissen ganz genau, dass nicht das Lissabon-Urteilder Grund ist, warum die EU jetzt nicht befasst wird.Das Lissabon-Urteil ist aus dem Jahr 2009. Es gibt mitt-lerweile ganz andere Strukturen in der EU. Wir wissenganz genau, dass man ein bisschen Angst hat, dass manweiß, dass man andere Dinge tun müsste, die notwendi-ger sind, statt reinen Aktionismus zu betreiben.Der letzte Grund ist: Man kann sich – das machenwir – darüber streiten, ob Waffenlieferungen Sinn ma-chen oder nicht. Aber in dem Mandat steht auch, dassder Bundestag absegnen soll, und zwar ganz pauschal,dass demnächst Waffen geliefert werden. Das steht ein-fach so in dem Mandat, ohne dass aufgezeigt wird, wasdort passiert, ohne dass darüber nachgedacht wird, wasmit den bisher gelieferten Waffen passiert ist. Uns ist be-kannt – es gibt viele Berichte darüber –, dass man nichtweiß, wo sie sind. Man geht auch nicht der Frage nach,wie man mit Menschenrechtsverletzungen von kurdi-schen und irakischen Streitkräften – auch darüber gibt es
Metadaten/Kopzeile:
7820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Omid Nouripour
(C)
(B)
einige Berichte – umgehen will. Das ist alles andere alsverantwortlich.Wir sind für Ausbildung. Das, was die Bundesregie-rung hier vorlegt, ist für die große Mehrheit meinerFraktion nicht zustimmungsfähig. Deshalb werden wiruns enthalten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner hat der Kollege Roderich
Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ange-sichts des millionenfachen Leids, das wir nicht nur me-dial erleben, sondern über sehr hohe Flüchtlingszahlenauch in Deutschland tagtäglich in unseren Kommunenmitbekommen, ist es wichtig, dass wir heute mit der Ver-abschiedung des Mandats ein Signal des Handelns zei-gen. Es ist nicht nur das Mediale, das uns fassungslosmacht, sondern es sind auch die Geschichten syrischerFamilien und irakischer Familien, die uns in den Kom-munen tagtäglich vor Augen führen, welches Leid dortgeschieht.Es ist gerade einmal fast auf den Tag genau ein Jahrher, dass unsere Bundesverteidigungsministerin und un-ser Bundesaußenminister bei der Münchener Sicher-heitskonferenz deutlich gemacht haben, dass unser Landnicht dauerhaft gewisse Ereignisse auf der Welt von derSeitenlinie kommentieren kann,
sondern dass wir sehr sorgfältig abwägen müssen, wowir uns engagieren. Die Münchener Sicherheitskonfe-renz hat eben nicht dazu geführt, dass sich Deutschlandstärker militärisch engagiert, sondern dazu, dass wir ver-schiedene Prozesse in unserem Land äußerst besonnenangestrengt haben. Ich erinnere an den Review-Prozessdes Auswärtigen Amtes. Ich erinnere an den Weißbuch-Prozess. Ich erinnere an die Einsetzung der Rühe-Kom-mission. Das alles sind Bereiche, in denen wir uns alsParlamentarier intensiv Gedanken machen, wie wir un-ser Land angesichts der außenpolitischen Herausforde-rungen strategisch besser aufstellen.
Das führt, lieber Herr Kollege Nouripour, eben auchdazu, dass wir uns Gedanken über die Mandatierungmachen. Die Einsatzschwelle ist mit der Ausbildungs-mission im Nordirak nicht erreicht. Aber wir als Parla-mentarier setzen damit ein ganz wichtiges Zeichen, dasswir bereit sind, eine Ausbildungsmission zu mandatie-ren, die der Stabilisierung einer Region im Norden desIrak dient und auf Einladung der irakischen Regierung,auf Aufforderung der Vereinten Nationen erfolgt. Dasgibt auch die Handlungssicherheit, die wir brauchen.Das Mandat gibt unseren Soldatinnen und Soldaten, diedort hingehen, die Rückendeckung, die sie in einer Aus-bildungsmission brauchen. Es ist kein Kampfeinsatz,und es ist keine bewaffnete Auseinandersetzung.
Für eine Ausbildungsmission gibt es bestimmte Re-geln. Auch Eigensicherung ist zulässig. Aber mehrbrauchen wir da im Moment nicht. Entscheidend ist– wir beraten nachher ja auch die Operation ActiveFence in der Türkei –, dass wir vorbeugende Sicherheits-politik betreiben. „Vorbeugende Sicherheitspolitik“heißt, dass wir einen Rahmen schaffen, der bei einermöglichen Eskalation Rechtssicherheit gewährleistet.Genau das leisten wir im Rahmen dieser Mission. Des-wegen stimmen wir als CDU/CSU zu. Ich bin froh, dassdie gesamte Regierungskoalition geschlossen hinter die-sem Einsatz steht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn dierechtlichen Voraussetzungen stimmen – ich bin demBundesaußenminister sehr dankbar, dass er gestern imAuswärtigen Ausschuss für Klarheit gesorgt hat –, müs-sen wir uns zwei Fragen stellen: Erstens. Wird unserEinsatz gebraucht? Zweitens. Ist er politisch sinnvoll?Dass er gebraucht wird, wird schon an der mangeln-den Handlungsfähigkeit der irakischen Regierung deut-lich. Mit Blick auf die Eroberung von Kobane müssenwir die Kräfte, die die Staatlichkeit des Irak schützen,stärken.Ist er politisch sinnvoll? Als Europäer müssen wirdeutlich machen, dass uns die Region, aus der zurzeit diemeisten Flüchtlinge der Welt kommen, nicht gleichgültigist, dass wir diese Region nicht sich selbst überlassen,dass wir aber auch nicht massiv von außen eingreifen,wie es im Jahr 2003 der Fall war, sondern Hilfe zurSelbsthilfe geben. Das müssen wir äußerst engagiert tun.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir solltenuns als Angehörige dieses Parlaments auch Gedankendarüber machen, wie lange der Entscheidungsprozessgedauert hat, nämlich vom August letzten Jahres bis inden Januar dieses Jahres, also fast sechs Monate. In die-ser Zeit hat Dänemark versucht, diese Ausbildungsmis-sion mit uns gemeinsam durchzuführen. Unsere Verfah-ren haben sehr lange gedauert. Daran ist nichtsauszusetzen. Wohl aber sollten wir aufmerken, dass die-ses Verfahren engsten Bündnispartnern – sogar Däne-mark, einem Land, das der Gemeinsamen Sicherheits-und Verteidigungspolitik der EU äußerst zurückhaltendgegenübersteht – zu lange gedauert hat. Dänemark hatsich nun einer gemeinsamen Mission mit Großbritannienangeschlossen. Ich rege deshalb an, dass wir uns auchmit Blick auf unseren Koalitionsvertrag Gedanken da-rüber machen, wie wir die europäische Integration ver-tiefen können.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7821
Roderich Kiesewetter
(C)
(B)
Der Vertrag von Lissabon erlaubt die vertiefte Inte-gration einzelner Staaten; derzeit gehören ja acht oderneun EU-Staaten der Koalition der 60 an. Die Aktivitä-ten dieser Koalition könnten wir mit einem Instrument,das der Lissabon-Vertrag zulässt, verknüpfen, nämlichmit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit. Las-sen Sie uns gemeinsam ausloten, wie wir die Verantwor-tung, die wir haben, wahrnehmen, mit Besonnenheit undAugenmaß agieren und dabei europäische Partner ge-winnen können, indem wir gemeinsam Instrumente ent-wickeln, um die europäische Sicherheitspolitik voran-zutreiben, allerdings ohne dabei unsere Rechte alsParlament zu verlieren. Wir müssen, wie in diesem Falle,um die jeweiligen Mandate ringen und zur Gewährleis-tung der Sicherheit unseres Landes zur Stabilisierungdieser Region beitragen.
Es ist, glaube ich, ein gutes Zeichen, liebe Kollegin-nen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, wennwir als Parlament mit einer breiten Mehrheit deutlichmachen, dass wir hinter dieser Ausbildungsmission ste-hen. Wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten zei-gen, dass sie in ein Gesamtkonzept der freien westlichenWelt eingebunden sind.Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Julia
Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vorgestern gedachten wir hier im Hohen Haus
der Opfer des Nationalsozialismus. Der Bundestagsprä-
sident hat in seiner Rede deutlich gemacht, was Ausch-
witz und die Erinnerung an diesen Völkermord heute be-
deuten. Er betonte dabei die besondere Verantwortung
Deutschlands, solche Verbrechen nie und nirgendwo
mehr zuzulassen. Daraus leite ich für die heutige Debatte
ab, dass wir im Irak handeln und helfen müssen.
Die ISIS-Schlächter richten auf menschenverach-
tende Art tausendfach Tod, Leid und Schmerz an. Am-
nesty International spricht von einer systematischen eth-
nischen Säuberung von historischem Ausmaß. ISIS
macht ganze Dörfer dem Erdboden gleich. Die Männer
werden ermordet, Mädchen und Frauen vergewaltigt und
versklavt. Millionen von Menschen sind im Irak und in
Syrien brutalster Verfolgung ausgesetzt. ISIS bedroht
damit nicht nur die Stabilität der gesamten Region, son-
dern auch die internationale Sicherheitsarchitektur.
Zur Wahrheit gehört leider auch, dass sich diese Ter-
rormiliz nicht durch diplomatische Gespräche stoppen
lässt. In diesem Fall muss die Weltgemeinschaft zur
Ultima Ratio greifen: zu militärischen Mitteln. Deutsch-
land gehört zu den knapp sechzig Staaten, die sich zu-
sammengetan haben, um den Terror von ISIS zu stop-
pen. Die Beiträge der unterschiedlichen Nationen sind
vielfältig: Die USA, Saudi-Arabien und Frankreich be-
teiligen sich an Luftschlägen, Kanada beispielsweise hat
Spezialkräfte vor Ort.
In unserem deutschen Beitrag sind wir großzügig mit
Hilfslieferungen, offen für Waffenlieferungen und vor-
sichtig beim Einsatz von Militär. Deutschland ist einer
der größten Geldgeber für die Flüchtlinge in der Region:
Seit dem Ausbruch der Syrien-Krise 2012 haben wir den
Menschen vor Ort mit über 600 Millionen Euro humani-
tär geholfen. Aber diese humanitäre Hilfe kann nur in si-
cheren, ruhigen Gebieten auch ankommen. So haben wir
uns im Sommer nach gründlicher Abwägung für die Lie-
ferung von Waffen, Munition und Ausrüstung entschie-
den. Damit unterstützen wir die Peschmerga, also dieje-
nigen, die ISIS entgegentreten. Diese Entscheidung
beruhte auf der Überzeugung, unschuldiges Leben zu
schützen.
Die Richtigkeit dieses Schritts wurde von Papst Franzis-
kus, aber auch von Personen wie Rupert Neudeck ge-
stützt. Das Engagement Deutschlands hat hier bereits ei-
niges bewirkt: Durch die gelieferten Milan-Raketen
können die rollenden Selbstmordkommandos von ISIS
– mit Sprengmaterial beladene Lastwagen – gestoppt
werden. Auch einer der gelieferten Dingos konnte be-
reits Leben retten.
Doch um gegen ISIS weiter bestehen zu können, be-
nötigen diejenigen, die an vorderster Front kämpfen,
nicht nur das richtige Material, sie brauchen auch die
entsprechende Ausbildung. Dazu gehört zum Beispiel
eine Ausbildung in der Versorgung von Verwundeten.
Etwa 800 Kämpfer der Peschmerga haben ihr Leben ver-
loren, weil sie direkt nach der Verletzung an der Front
nicht die notwendige Wundversorgung erhielten. Eine
Ausbildung in diesem Bereich durch die Bundeswehr
kann Leben retten. Dieses Ziel – Leben retten – verfol-
gen wir mit diesem Mandat. Es handelt sich dabei um
eine reine Ausbildungsmission, um keinen Kampfein-
satz. Es sind auch keine Partnering-Modelle wie damals
in Afghanistan geplant. Die Mandatsobergrenze ist mit
100 Soldatinnen und Soldaten eng – vielleicht zu eng –
begrenzt; aber die Mission ist ein wichtiger Teil des
deutschen Beitrags im internationalen Kampf gegen die
ISIS-Terrormiliz. Und wir handeln hier auf Bitte der ira-
kischen Regierung und der Regionalregierung von Arbil.
Mit dieser Ausbildungsmission wollen wir dazu beitra-
gen, die Region zu stabilisieren, Menschen zu schützen
und insbesondere weitere Massenmorde zu verhindern.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank, Frau Kollegin Obermeier. Ich möchteIhnen auch gratulieren zu Ihrem Namenswechsel, weil er
Metadaten/Kopzeile:
7822 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
einen ganz bestimmten Grund hat: Ihre Heirat. Herzli-chen Glückwunsch dazu!
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-rung zu der Ausbildungsunterstützung der Sicherheits-kräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak und derirakischen Streitkräfte. Dazu liegt mir eine Reihe vonpersönlichen Erklärungen gemäß § 31 unserer Ge-schäftsordnung vor.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/3857, den Antrag der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/3561 anzunehmen. Wir stim-men nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab.Ich möchte bereits jetzt darauf hinweisen, dass wir imLaufe des Nachmittags zu Tagesordnungspunkt 8 eineweitere namentliche Abstimmung durchführen werden.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind jetzt allePlätze an den Abstimmungsurnen besetzt? – Dann er-öffne ich die Abstimmung über die Beschlussempfeh-lung.Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Ich sehe, das sind nocheinige, darunter auch der Herr Bundesverkehrsminister. –Ich sehe jetzt niemanden mehr im Plenarsaal, der seineStimme noch nicht abgegeben hat.Ich schließe hiermit die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab-stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Ich bittejetzt, die Plätze wieder einzunehmen, weil wir noch eineweitere Abstimmung durchführen werden und es sonstschwierig ist, die Mehrheitsverhältnisse mit der notwen-digen Genauigkeit festzustellen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/3863. Wer für diesen Entschlie-ßungsantrag stimmen möchte, den bitte ich um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist dieser Entschließungsantrag mit denStimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmenvon Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FraktionDie Linke abgelehnt.Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Tom Koenigs, AgnieszkaBrugger, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENJa zur Meinungsfreiheit, nein zur Folter –Menschenrechte in Saudi-Arabien schützen,Raif Badawi freilassenDrucksache 18/38351) Anlagen 3 bis 72) Ergebnis Seite 7823 DZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten AnnetteGroth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKERaif Badawi sofort freilassen – Völkerrechts-widrige Strafen in Saudi-Arabien abschaffenDrucksache 18/3832Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Tom Koenigs, Bündnis 90/Die Grü-nen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Raif Badawi, für den im Augenblick vor dersaudi-arabischen Botschaft demonstriert wird und fürden viele von uns demonstriert haben, ist leider nicht derEinzige. Allein im Jahre 2014 hat der inzwischen ver-storbene König zwölf Enthauptungen genehmigt, und siesind auch durchgeführt worden. Beim neuen König sindes schon vier.Wie sie durchgeführt worden sind, haben wir im In-ternetvideo von ISIS gesehen. Nur die Fahne war eineandere. In Saudi-Arabien ist es die Fahne des „Bewah-rers der Heiligen Stätten“, bei ISIS ist es die schwarzeFahne. In der Sache ist es dasselbe.Raif Badawi ist bekannt. Seine Strafe sind Folter undzehn Jahre Haft. Diese Folterung – 1 000 Stockhiebe –bedeutet den Tod auf Raten. Das haben die Saudis gese-hen; denn in Saudi-Arabien gibt es die dritthöchsteDichte an Smartphones auf der Welt. Dieser Mord aufRaten wird im Netz kommuniziert.Warum wurde er verurteilt? Er wurde verurteilt, weiler angeblich den Propheten beleidigt hat; denn er hat ge-sagt: Alle Menschen sind gleich viel wert: Muslime, Ju-den und Christen. – Das ist aber nur fast wörtlich der Ar-tikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.Außerdem hat er sich über die Tugendwärter – Mutawagenannt – lustig gemacht, die darauf geachtet haben,dass der Valentinstag in Saudi-Arabien nicht mit Scho-kolade und Blumen gefeiert wird. Er hat geschrieben:Herzlichen Glückwunsch zu eurer Bereitschaft, al-len Mitgliedern der saudischen Öffentlichkeit einenPlatz im Paradies zu sichern.Das verbietet die „Freiheit“ in Saudi-Arabien.Ein Wort zur Pressefreiheit. „Reporter ohne Grenzen“hat Saudi-Arabien in puncto Pressefreiheit auf Platz 174von 180 Ländern gesetzt. Dahinter kommen dann Län-der wie Nordkorea. Am 11. Januar dieses Jahres ist seineExzellenz Dr. Nizar bin Obaid Madani, der Vizeaußen-minister von Saudi-Arabien, in Paris mit vielen Staats-chefs mit dem Schild „Je suis Charlie“ durch die Straßengelaufen.Die Pressefreiheit ist nicht das einzige Menschen-recht, das in Saudi-Arabien mit Füßen getreten wird:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7823
Tom Koenigs
(C)
(B)
Frauenrechte, politische Rechte, Ausbeutung von Gast-arbeitern usw. Dort sind mittelalterliche Zustände; dasLand wird beherrscht von einem Diktatorkönig: Der 90-Jährige wurde von dem inzwischen 79-Jährigen abge-löst. Der Altersdurchschnitt im Lande liegt demgegen-über bei 30 Jahren. Wenn es in Saudi-Arabien freie Wah-len geben würde, würde ich nicht zu schätzen wagen,was dabei herauskäme. Vor fünf Jahren gab es eineUntersuchung, die das Ergebnis hatte, dass Osama BinLaden gewählt worden wäre, populärster Sohn des Lan-des. Dort im Lande wird Terror produziert.
Das ist der geostrategische Stabilitätsanker des Wes-tens.Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschlandund Saudi-Arabien sind freundschaftlich und span-nungsfrei.So steht es auf der Website des Außenministers. DasHandelsvolumen beträgt 11 Milliarden Euro. Deutsch-land pflegt wirtschaftliche Zusammenarbeit und staatli-che Wirtschaftsförderung, gewährt Bürgschaften und er-laubt Waffenexporte. Gleichzeitig macht das AuswärtigeAmt einen Aktionsplan zur menschenrechtlichen Verant-wortung von Unternehmen.Deutschland hofiert die königlichen Diktatoren. Zuden Trauerfeiern hat es den Exbundespräsidenten Wulffrecycelt. Da wird also gerade ein „Held der Pressefrei-heit“ mit einem neuen Amt versehen. Wir erinnern uns:Ruf’ den Chefredakteur an! Das ist Krieg. – Islam gehörtzu Deutschland. – Und Wulff gehört zu Saudi-Arabien.
– Der Satz, über den ihr gerade gelacht habt, hätte mir inSaudi-Arabien 1 000 Peitschenhiebe eingebracht.
Jetzt steht die Reise einer hochrangigen Wirtschafts-delegation, begleitet von Ministerpräsidenten, nachSaudi-Arabien an, angeführt von WirtschaftsministerGabriel. Ich frage: Was wollen Sie da?
Was sagen Sie da? Für was stehen Sie da? Für wen ste-hen Sie da? Für mich nicht und für die Bevölkerungauch nicht. Da gibt es eine Umfrage: 78 Prozent wollenWaffenexporte nicht. Für welche Reform stehen Sie,nachdem jahrelang und jahrzehntelang nichts passiertist?Gehen Sie, wenn Sie schon dahin fahren, zu den we-nigen Demokraten! Gehen Sie zu den „Writers in Pri-son“! Gehen Sie zu den Menschen in die Gefängnisse!Gehen Sie zu den Bloggern! Und gehen Sie zu den weni-gen oder vielen Menschen – die Sie erreichen –, die un-sere Werte vertreten! Im Nahen Osten werden unsereWerte gegen die Werte von ISIS gesetzt. Da findet derideologische Kampf statt.Und im allergrößten Notfall: Bieten Sie den Men-schen Asyl an,
wenn sie sich in der Deutschen Botschaft in Riad mel-den! Bieten Sie auch Raif Badawi Asyl an! Sollte seineExzellenz, die Königliche Hoheit, Ihnen, Herr Gabriel,im Nebensatz anbieten: „Ihren Raif Badawi können Siemitnehmen“, vergessen Sie nicht, dass auch sein Anwaltim Gefängnis sitzt.
Bevor ich dem Kollegen Frank Heinrich das Wort er-teile, darf ich das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der eben durchge-führten namentlichen Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zudem Antrag der Bundesregierung „Ausbildungsunter-stützung der Sicherheitskräfte der Regierung der RegionKurdistan-Irak und der irakischen Streitkräfte“, Druck-sachen 18/3561 und 18/3857, bekannt geben: abgege-bene Stimmen 590. Mit Ja haben gestimmt 457, mit Neinhaben gestimmt 79, Enthaltungen 54. Die Beschluss-empfehlung ist damit angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 590;davonja: 457nein: 79enthalten: 54JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Metadaten/Kopzeile:
7824 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinJulia ObermeierFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblThomas StritzlMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe Beckmeyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7825
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Lothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Marcus HeldWolfgang HellmichGustav HerzogThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzJosip JuratovicThomas JurkJohannes KahrsChristina KampmannGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Marianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteEwald SchurerStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinCDU/CSUDr. Peter GauweilerSPDUlrike BahrKlaus BarthelMarco BülowDr. Ute Finckh-KrämerWolfgang GunkelGabriele Hiller-OhmCansel KiziltepeHilde MattheisRené RöspelSwen Schulz
Rüdiger VeitWaltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnnalena BaerbockKatja KeulSylvia Kotting-UhlMonika LazarIrene MihalicCorinna RüfferDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDPetra Hinz
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeVolker Beck
Agnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe Kekeritz
Metadaten/Kopzeile:
7826 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
Sven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischPeter MeiwaldBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie Wilms
Wir fahren jetzt in der Beratung dieses Tagesord-nungspunktes fort. Ich darf dem Kollegen FrankHeinrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute vielleicht auch besonders: GeschätzteVertreter von Menschenrechtsorganisationen! Bevor ichzum Thema komme, möchte ich zunächst den Bürgerin-nen und Bürgern von Saudi-Arabien zum Tod desKönigs Abdullah am 23. Januar kondolieren und zumZweiten auch Glückwünsche an den neuen König Salmanaussprechen. Dies ist unter anderem auch deswegen einguter Zeitpunkt, darüber zu diskutieren. Denn am An-fang einer Regierungszeit lassen sich Zeichen setzen, so-wohl von ihm – das wird heute angesprochen; HerrKoenigs, Sie haben das sehr deutlich gemacht – als auchvon uns, von außen.König Abdullah sah die Förderung der Menschen-rechte als wichtigen Teil seiner Reformpolitik, vor allemin den Bereichen Bildung, Justiz und Frauenrechte. Sokündigte er im September 2011 die Einführung des akti-ven und passiven Frauenwahlrechts bei den Kommunal-wahlen 2015, also in diesem Jahr, an. Wir wünschenbzw. fordern – ich denke, darin sind wir alle uns einig –von Saudi-Arabien unter dem neuen König, diese ange-kündigten Reformen umzusetzen und weiterzuführen,Menschenrechte ernst zu nehmen und zu garantieren.Um ein positives Beispiel zu setzen, fordern wir dieFreilassung von Raif Badawi. Das ist auch Anlass derAnträge vom Bündnis 90/Die Grünen und von den Lin-ken und der heutigen Debatte.Im Juni 2012 wurde – das wurde bereits gesagt – derBlogger und Internetaktivist Raif Badawi wegen Belei-digung des Islam verhaftet. Im November letzten Jahreswurde er zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe, einerGeldstrafe und zu den schon angesprochenen 1 000Stock- und Peitschenhieben verurteilt.Nachdem die erste Einheit von 50 Peitschenhiebenam 9. Januar 2015 öffentlich vollstreckt wurde, ist dieweitere Vollstreckung aufgrund von nicht verheilendenWunden – und aufgrund der internationalen Proteste,wie die Ehefrau Badawis gegenüber einer deutschen Zei-tung bestätigt hat – zumindest momentan ausgesetzt.Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte – dasfand ich bemerkenswert, und dafür bin ich ihm sehrdankbar – in seiner Rede in diesem Hause vor 14 Tagennach den Attentaten von Paris und den Reaktionen da-rauf, wem unter den Muslimen über rhetorische Floskelnhinaus tatsächlich an Aufklärung gelegen sei, müsse sichals Muslim mit der Frage auseinandersetzen, warumnoch immer im Namen Allahs Menschen verfolgt,drangsaliert und getötet werden.Auch mit staatlicher Autorität werde im Namen Got-tes gegen Mindeststandards der Menschlichkeit versto-ßen. Saudi-Arabien habe das Attentat in Paris „als feigenTerrorakt“ verurteilt, „der gegen den wahren Islam ver-stößt“, und zwei Tage später den Blogger Raif Badawi inDschidda öffentlich auspeitschen lassen.Menschenrechtsverletzungen sind in Saudi-Arabienan der Tagesordnung. Wir haben es gerade gehört: Dasist kein Einzelfall. Die Behörden schränkten die Rechteauf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Ver-sammlungsfreiheit durch entsprechende Gesetze 2012empfindlich ein. Andersdenkende wurden rücksichtslosunterdrückt. Regierungskritiker und politische Aktivis-ten befanden sich ohne Anklageerhebung in Haft oderwurden äußerst unfairen Verfahren ausgesetzt und dannverurteilt. Sie werden im Alltag – auch durch Gesetze –diskriminiert.Die Todesstrafe wurde 2013 mindestens – soweit esdraußen bekannt wurde – 79-mal vollstreckt, Körper-strafen wie Auspeitschen oder Stockhiebe wie im FallBadawis werden regelmäßig vollzogen. Dissidentenwerden inhaftiert und Geständnisse erzwungen. Frauenwerden wesentliche Menschenrechte vorenthalten, min-derjährige Mädchen zwangsverheiratet. Freie Meinungs-äußerung ist nur teilweise möglich, die öffentlicheReligionsausübung für nichtmuslimische Religionenverboten. Das heißt, es ist lebensgefährlich, mit demHeiligen Buch der Christen in der Stadt herumzulaufen.Die schiitische Minderheit im Osten des Landes wirddiskriminiert. Ausländische Arbeitnehmer können ihreRechte häufig nicht durchsetzen usw. Ich könnte dieseReihe noch fortsetzen.Auf der anderen Seite ist Saudi-Arabien – Sie habendas sehr lautstark kritisiert, Herr Kollege Koenigs – einwichtiger Partner Deutschlands. Wie wichtig, darübermüssen wir natürlich reden. Saudi-Arabien ist ein Wirt-schaftspartner nicht nur bei Rüstungsgütern. Nach denUSA und China ist die BRD drittgrößtes Lieferland. Eshandelt sich dabei um verschiedene Wirtschaftsfelderwie Maschinenbau und Eisenbahnen. 2013 belief sich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7827
Frank Heinrich
(C)
(B)
das bilaterale Handelsvolumen auf rund 11 MilliardenEuro. Hinzu kommen internationale Zusammenarbeitund Entwicklungszusammenarbeit mit Saudi-Arabien.Seit 1980 ist die GIZ – damals hieß sie noch GTZ – inSaudi-Arabien tätig. Berufliche Bildung, Gesundheits-wesen, Infrastruktur, biologische Landwirtschaft, Was-serwirtschaft und Lebensmittelsicherheit sind nur einpaar Stichworte, die in diesem Zusammenhang zu nen-nen sind.Eine wichtige Säule in der Entwicklungszusammen-arbeit mit Saudi-Arabien sind Dreieckskooperationen, indenen die GIZ saudische Entwicklungsprojekte in Dritt-ländern als Durchführungsorganisation abwickelt. Soführt die GIZ im Auftrag des Saudi Fund for Develop-ment ein Brunnenbauprogramm in zwölf Ländern Afri-kas bereits in der vierten Phase durch.Außenminister Steinmeier hat das wahhabitischeKönigreich als wichtigen Verbündeten im Kampf gegendie Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ bezeichnet.Gerade von einem solchen Partner – deshalb habe ichdas so ausführlich dargelegt – muss Deutschland, müs-sen wir die Achtung der Menschenrechte fordern. WennSaudi-Arabien einen exponierten Platz in der Weltge-meinschaft einnehmen will – das will dieses Land, undeinen solche Platz soll es auch haben –, dann muss es dieMenschenrechte, die die Grundlage bilden, auf der wirstehen, achten, respektieren und durchsetzen.
Daher begrüße ich die Stellungnahme der Bundesre-gierung. Der Außenminister hat die Prügelstrafe für densaudischen Blogger verurteilt und gesagt, dass die Re-gierung alles tun werde, um eine Lösung zu finden. DieAuspeitschung des 30-Jährigen sei grausam, falsch, un-gerecht und völlig unverhältnismäßig. Die Bundesregie-rung werde hier weiterhin alles tun, was möglich sei, umeine Lösung zu befördern. Unabhängig vom Fall desBloggers spiele das Thema Menschenrechte in allen Ge-sprächen mit den Verantwortlichen in Riad – es sindviele Gespräche, da es um viel Geld und viele Projektegeht – eine wichtige Rolle. Das versicherte Steinmeier.Heute in der Zeit sagt Ensaf Haidar, die Ehefrau desBloggers Raif Badawi, über den wir heute reden:Deutschland könnte seinen Einfluss aber weiter gel-tend machen und „seine Stärke für meinen Mannund die Menschenrechte einsetzen“ …Diesen Auftrag nehmen wir gerne an.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Inge Höger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei denSolidaritätskundgebungen nach den Attentaten in Pariswar die saudische Regierung mit einem Vertreter prä-sent; das wurde schon erwähnt. Nur zwei Tage nach die-sen Bluttaten ließ die saudische Justiz den ersten Teil derPrügelstrafe gegen den kritischen Blogger Raif Badawivollziehen. So viel Heuchelei und Doppelmoral ist kaumzu überbieten, außer vielleicht von den westlichen Staa-ten, für die Saudi-Arabien ein wichtiger Verbündeter istund die dieses Land mit allem ausstatten, was für denMachterhalt nötig ist. Um es klar zu sagen: 1 000 Peit-schenhiebe sind nichts anderes als Folter und wahr-scheinlich die Todesstrafe auf Raten. Diese barbarischePraxis muss ein Ende haben.
Das gilt für Raif Badawi, aber auch für alle anderen, diein Saudi-Arabien zu unmenschlichen Strafen verurteiltwerden.Wenn die Bundesregierung Menschenrechte in derAußenpolitik tatsächlich ernst nehmen will und wenn sieRaif Badawi beispielhaft helfen will, dann gibt es hierfüreine Reihe von ganz konkreten Schritten, die möglichund nötig wären. Sowohl der Antrag der Grünen als auchunserer nennen dafür Beispiele. Es fängt an bei Bot-schafterbesuchen im Gefängnis, geht über die Entsen-dung einer hochrangigen Delegation bis hin zur Ermög-lichung von Asyl in Deutschland. Ich fordere dieBundesregierung auf, hier tätig zu werden.
Allerdings darf neben dem Entsetzen über dasSchicksal dieses Bloggers nicht vergessen werden, dassdas kein Einzelfall ist. Das saudische Justizsystem ope-riert generell weit jenseits rechtsstaatlicher und men-schenrechtlicher Standards. Allein im letzten Jahr wur-den 87 Menschen in Saudi-Arabien hingerichtet. Es istkaum möglich, einen angemessenen Rechtsbeistand imVerfahren zu bekommen. Anwälte geraten meist selbstins Visier der Justiz. Auch der Anwalt von Raif Badawiwurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch erbraucht unsere Hilfe.
Solange das Justizsystem in Saudi-Arabien nichtgrundlegend geändert wird, ist es nicht akzeptabel, dassaudische Unterdrückungssystem auch noch durch denVerkauf deutscher Überwachungstechnik und die Ent-sendung deutscher Soldaten und Polizisten zu stabilisie-ren. Die Gewerkschaft der Polizei hat sich sehr deutlichzu Wort gemeldet. Sie hat dagegen protestiert, dass deut-sche Polizei in einer undurchsichtigen – Zitat – „Gemen-gelange politischer und wirtschaftlicher Interessen“ ein-gesetzt wird. Diesem Protest kann ich mich nuranschließen.
Metadaten/Kopzeile:
7828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Inge Höger
(C)
(B)
Die Sicherheitskooperation mit Saudi-Arabien mussumgehend gestoppt werden. Das gilt für die polizeiliche,die geheimdienstliche und die militärische Zusammen-arbeit.
Ich freue mich, wenn das, was in den Medien zu lesenwar, tatsächlich stimmt, nämlich dass in der jüngsten Sit-zung des Bundessicherheitsrates beschlossen worden ist,keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien zu liefern. Eswäre ein wichtiger Schritt, zukünftig auf die Lieferungvon Waffen nach Saudi-Arabien zu verzichten. Die „Ak-tion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ kommen-tierte diese Berichte über einen möglichen Kurswechselwie folgt:Wer dem Frieden dienen und Menschenrechte ach-ten will, darf keine Rüstungsgüter und insbesonderekeine Kleinwaffen von Heckler & Koch mehr anDiktatoren und kriegsführende Staaten liefern.
Allerdings verweigerte die Bundesregierung gestern inder Fragestunde Antworten zu der weiteren Praxis vonRüstungsexporten nach Saudi-Arabien. Deshalb bleibtzu befürchten, dass es hier nicht zu einer wirklichenKursänderung gekommen ist. Ich befürchte, dass nur ge-wartet wird, bis das öffentliche Interesse etwas erlahmt,um dann wieder ungebremst Rüstungsgeschäfte mitSaudi-Arabien machen zu können. Waffenlieferungenbringen jedoch weder Stabilität noch Frieden, nicht imInnern eines Landes und auch nicht nach außen. Been-den Sie die Waffenlieferungen – vollständig und dauer-haft.
Lassen Sie mich abschließend noch auf ein anderesgroßes und sehr grundsätzliches Problem hinweisen.Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz in der UN-Menschenrechtskommission. Der Kampf für Menschen-rechte ist jedoch nur dann glaubwürdig, wenn er auchSelbstkritik beinhaltet, wenn auch im eigenen Land dieMenschenrechte beachtet werden und dafür die notwen-digen Voraussetzungen geschaffen werden. Genau hierdroht Deutschland eine gigantische Blamage. Wenn dasDeutsche Institut für Menschenrechte nicht bis Märzeine gesetzliche Grundlage erhält, die seine Unabhän-gigkeit sichert, dann wird Deutschland vom UN-Akkre-ditierungsausschuss der sogenannte A-Status aberkannt.Dadurch würde Deutschland wichtige Einflusskanäleverlieren. Es würde aber vor allem dem globalen Kampffür Menschenrechte massiv schaden, wenn hier offen-sichtlich Angst davor herrscht, auch die Menschenrechteim eigenen Land kritisch untersuchen zu lassen.
Lassen Sie uns deswegen gemeinsam für eine glaub-würdige Menschenrechtspolitik eintreten. Wir kämpfenfür die Rechte von Bloggern wie Raif Badawi und ge-nauso für die Menschenrechte in allen Regionen derWelt. Wir dürfen darüber aber nie die Hausaufgaben imeigenen Land, die Beachtung der Menschenrechte, ver-nachlässigen. Lassen Sie uns die Menschenrechte immerund überall verteidigen!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Ute Finckh-
Krämer für die SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen!
Saudi-Arabien ist eines der Gründungsmitglieder der
Vereinten Nationen. Es war also schon Mitglied der Ver-
einten Nationen, als 1948 die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte als Grundsatzdokument der Vereinten
Nationen verabschiedet wurde. Saudi-Arabien hat sich
damals bei der Abstimmung enthalten, und zwar nicht
wegen der Menschenrechte, um die es im Augenblick im
Fall von Raif Badawi, seinem Anwalt und vielen ande-
ren geht – also wegen des Verbots grausamer Strafen
oder der Einschränkung der Meinungsfreiheit –, sondern
aus zwei anderen Gründen: Saudi-Arabien hatte Beden-
ken wegen der in dieser Erklärung enthaltenen Reli-
gionsfreiheit und wegen der Gleichberechtigung von
Männern und Frauen in Bezug auf die Ehe. Das heißt, in
Saudi-Arabien hat sich etwas verschlimmert seit 1948.
Den Zivilpakt, in dem zentrale Artikel der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte im Hinblick auf persönli-
che Freiheitsrechte in einen völkerrechtlich verbindli-
chen Vertrag gegossen sind, hat Saudi-Arabien bis heute
weder ratifiziert noch in anderer Weise völkerrechtlich
verbindlich anerkannt. Dies ist ein echter Ausnahme-
tatbestand; denn von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten
Nationen haben immerhin 168 den Zivilpakt unterzeich-
net und ratifiziert.
Frau Höger, in einem Punkt bin ich mit Ihnen einer
Meinung. Ich hoffe sehr, dass sich die Presseinformatio-
nen, die wir in den letzten Tagen lesen konnten, nämlich
dass Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien bis auf Wei-
teres gestoppt sind, als wahr erweisen.
Was wir nachweisen können, ist, dass im ersten Halbjahr
2014 wesentlich weniger Waffen nach Saudi-Arabien
exportiert wurden als in den Jahren davor. Insofern hoffe
ich, dass wir dort den Anfang eines Trends sehen, der in
die Richtung weitergeht, die Sie skizziert haben.
Es wurde bereits erwähnt, dass wir es in Bezug auf
Saudi-Arabien nicht mit Einzelfällen zu tun haben, son-
dern mit einer ganzen Serie von Verurteilungen von
Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung
wahrgenommen haben. Wir haben auch schon gehört,
wie jung die Bevölkerung im Schnitt ist.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage derKollegin Keul?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7829
(C)
(B)
Ja, gerne.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Frage zulas-
sen. – Sie haben gerade gesagt, es sei deutlich, dass be-
reits 2014 weniger Waffen an Saudi-Arabien geliefert
worden sind als in den Jahren zuvor. Nun liegt uns der
Rüstungsexportbericht für 2014 noch gar nicht vor.
Alles, was wir haben, sind einzelne Erklärungen über
erteilte Genehmigungen im Bundessicherheitsrat, die
aber keinesfalls vollständig sind. Die ministeriellen
Genehmigungen sind nicht enthalten. Was das BAFA ge-
nehmigt hat, wissen wir nicht. Deswegen frage ich Sie:
Woher haben Sie diese Informationen?
Ich habe über das erste Halbjahr 2014 gesprochen,
und dafür liegt ein Zwischenbericht vor.
Ich komme zurück auf das Rechtssystem von Saudi-
Arabien. Seit 2011 nehmen dort Zensur, Einschüchte-
rungsmaßnahmen, Festnahmen wegen politischer Mei-
nungsäußerungen zu, und das in einem Land, wo ein
Großteil der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist. Das
heißt, dass ein Großteil der Bevölkerung dort wie in an-
deren Ländern auch, etwa in unserem Land, das Internet
nutzt. Zum Teil wird gebloggt; zum Teil gibt es Einträge
bei Facebook usw. Ich habe mich zwischendurch ge-
fragt, wie viele von uns angesichts der drakonischen
Strafen, die dort aufgrund bestimmter Meinungsäuße-
rungen verhängt werden, den Mut hätten, ihre Meinung
so frei zu äußern, wie es Raif Badawi getan hat.
Ein Punkt noch, der vielleicht für die weitere Diskus-
sion wichtig ist: Die drakonischen Strafen, die Unrechts-
tatbestände in Saudi-Arabien, die uns im Augenblick zu
Recht so empören, sind größtenteils Vorgänge, die in der
Vergangenheit auch in Deutschland üblich waren. Das
geht bis hin dazu, dass in Saudi-Arabien bis heute Men-
schen wegen Hexerei verurteilt werden – etwas, was in
Deutschland zum letzten Mal im 18. Jahrhundert vorge-
kommen ist. Die Hoffnung, die wir haben – Herr
Heinrich hatte erwähnt, dass es an manchen Stellen ganz
winzige Fortschritte gibt –, ist, dass Saudi-Arabien ge-
nauso, wie das Deutschland und viele andere Länder der
Welt in den letzten Jahrzehnten, zum Teil sogar Jahrhun-
derten getan haben, auch erkennt, dass bestimmte Stra-
fen, dass bestimmte Rechtssysteme nicht menschenwür-
dig sind und nicht aufrechterhalten werden sollten, dass
Saudi-Arabien auf diesem Weg weitergeht und sich in
die gleiche Richtung entwickelt wie fast alle Länder der
Welt, die den Zivilpakt und den Sozialpakt unterschrie-
ben und damit in ihren Ländern die Menschenrechts-
charta der Vereinten Nationen rechtsverbindlich gemacht
haben.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für
die CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Schicksal von Raif Badawi bewegt dieWelt. Seine Verurteilung und Bestrafung lösen Wut undEmpörung aus. Ihm gehören unsere Solidarität und Un-terstützung. Seine Geschichte ist aufrüttelnd, weil sieaufzeigt, wie zerbrechlich die Freiheit sein kann und wiemutig und verzweifelt Menschen wie Raif Badawi in sovielen Teilen der Welt für ihr Recht kämpfen, ihre Mei-nung frei äußern zu dürfen.Raif Badawi ist ein mutiger Mann mit einer klarenHaltung und starken Werten. Er gründete das Forum„Freie Saudische Liberale“, um eine, wie ich meine, sehrnotwendige und richtige Debatte über das Verhältniszwischen Religion und Staat in Saudi-Arabien zu führen.Sein angebliches Vergehen bestand in der Forderungnach der Gleichwertigkeit von Christen, Juden, Moslemsund Atheisten. Dafür wurde er bestraft.Damit ist in aller Deutlichkeit zu sagen: Saudi-Arabien pervertiert eine unumstößliche Wahrheit zumVerbrechen. Es gibt keine Gründe, die die Strafe für Ba-dawi erklären oder rechtfertigen könnten. Sie ist als daszu bezeichnen, was sie ist: grausame Folter.
Jeder der 50 bereits verabreichten Peitschenhiebe istauch ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die sich fürdie Freiheit und die Würde des Menschen einsetzen. Un-verständlich und zynisch ist in diesem Zusammenhang,dass der Vertreter Saudi-Arabiens in Paris für Meinungs-freiheit demonstriert, während in der gleichen WocheRaif Badawi ausgepeitscht wird.Der Protest gegen diesen Akt der Barbarei ist aber inTeilen erfolgreich. Ohne den Protest wären vermutlichweitere Auspeitschungen vollstreckt worden. Damit gehtder Dank auch an die Bundesregierung und unserenBundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der dendeutlichen Protest und die klare Haltung Deutschlandszum Ausdruck gebracht hat. Das ist ein gutes und ent-scheidendes Zeichen.
Wichtig ist aber auch: Für Raif Badawi und für denebenfalls verurteilten Rechtsanwalt Walid Abu al-Chairkann es nur einen Weg geben: den Weg der sofortigenBegnadigung und Freilassung.
Raif Badawi und Walid Abu al-Chair sind aber nurzwei aufrüttelnde Beispiele für die insgesamt erschüt-
Metadaten/Kopzeile:
7830 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Volker Ullrich
(C)
(B)
ternde Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien. Men-schen werden auf offener Straße geköpft, Gliedmaßenwerden amputiert, Frauen unterdrückt, Homosexuelleverfolgt, und die Äußerung von kritischen Gedankenwird hart bestraft. Das ist unter keinen Umständen hin-nehmbar.Wirtschaftlich nimmt Saudi-Arabien am freien Welt-handel teil und profitiert mit seinem Wohlstand von dengrundlegenden Ideen der Freiheitsrechte, ohne sie selbstin entsprechender Art und Weise im eigenen Land zu ga-rantieren. Hinter den hellen Glitzerfassaden von Riadund Dschidda verbirgt sich auch der Schatten einer un-freien und unterdrückten Gesellschaft. Saudi-Arabienhat die Pflicht, diesen Widerspruch aufzulösen und denWeg zur Geltung der Menschenrechte zu beschreiten.Das ist eindeutig zu formulieren; auch unsere Außen-politik muss sich daran messen lassen, wie wir diesesZiel einfordern.Die universelle Geltung der Menschenrechte kannniemals einem religiösen Gesetz untergeordnet werden.Vielmehr kann die Geltung von religiösen Geboten nurso weit reichen, wie diese mit den Menschenrechten undder Würde des Menschen in Einklang zu bringen sind.Nicht die Menschenrechte sind an den Vorgaben derScharia zu messen, wie es noch in der Kairoer Erklärungder Menschenrechte heißt, sondern die Scharia kann unddarf nur im Rahmen der Menschenrechte interpretiertund gelebt werden.
Diese Erkenntnis wird zum Inhalt eines großen und lan-gen Reformprozesses in Saudi-Arabien werden müssen.Wir fordern dabei nicht etwas, was uns nicht zusteht; wirmischen uns nicht unzulässigerweise in innere Angele-genheiten eines Staates ein. Die Geltung von Menschen-rechten ist keine innere Angelegenheit eines Staates.
Sie entfalten ihre Wirkung nicht, weil sie staatlicherseitszugestanden werden oder zum kulturellen Zusammen-hang passen. Menschenrechte gelten für alle Menschen,
gleich welcher Herkunft, Religion oder sozialen Stel-lung, weil wir Menschen sind – unbedingt und überall.
Johannes Rau hat es so formuliert – ich zitiere –:Kritik am Stand der Menschenrechte in anderenStaaten ist daher keine Einmischung in deren innereAngelegenheiten. Sie verletzt ihre Souveränitätnicht.… Man darf das Eintreten für Menschenrechtenicht dahin gehend missverstehen, dass es sich umein spezifisch „westliches“ Anliegen handele, mitdem „westliches“ Gedankengut der übrigen Weltaufgedrängt werden soll.Saudi-Arabien wird daher keinen anderen Weg be-schreiten können als den Weg des Umdenkens. Das Zielfür Saudi-Arabien entspricht der Idee von Raif Badawiselbst. Seine Ehefrau Ensaf Haidar hat es in der heutigenAusgabe der Zeit so formuliert:Seine Vision ist eine liberale Gesellschaft, die aufeinem friedlichen Zusammenleben aller Mitgliederfußt.Bevor Raif Badawi verhaftet wurde, hat er auf seinemBlog Albert Camus mit seinem berühmten Ausspruchzur Freiheit bemüht:Die einzige Möglichkeit, mit einer unfreien Weltumzugehen, ist, so absolut frei zu werden, dass dieeigene bloße Existenz ein Akt der Rebellion ist.Meine Damen und Herren, wir brauchen auf der Welteine Rebellion im Sinne eines mutigen Eintretens für dieFreiheit und die Würde des Menschen, für Blogger undfür freie Meinungsäußerungen. Der Erfolg wird am Endesicher sein, weil keine Gewalt, keine Unterdrückung undkein Terror den Menschen das Recht nehmen werden,ihre Meinung frei zu äußern.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Achim Post, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill einmal versuchen, die Debatte, die wir hier geradeführen, mit einem anderen wichtigen Ereignis zusam-menzubringen, nämlich dem Besuch von PräsidentObama vor zwei Tagen in Riad.Worüber haben wir hier geredet? Wir haben darübergeredet, dass es in Saudi-Arabien massive Menschen-rechtsverletzungen gibt. Da ist auch kein Ende abzuse-hen. Wir haben darüber geredet, dass es dort barbarischeStrafen gibt, und wir haben darüber geredet, welcheAuswirkungen das auf Deutschland haben könnte undhaben sollte. Ich finde, diese gute und kritische Debatteist notwendig.
Worüber hat Präsident Obama in Riad mit dem neuenKönig geredet? Auch über Menschenrechte, über ISIS,Syrien, Iran, die Lage im Nahen Osten und natürlichüber den Ölpreis.Zu den Menschenrechten. Ich kann nur hoffen, dassPräsident Obama in seinen Äußerungen genauso klarwar wie unser Außenminister, der zu der Verurteilungdes Bloggers gesagt hat, sie sei grausam, falsch und un-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7831
Achim Post
(C)
(B)
gerecht. Wenn ich mich in Europa umschaue, dann seheich nur wenige Parlamente und nur wenige Regierungenin anderen EU-Ländern, die die Menschenrechtsverlet-zungen in Saudi-Arabien klarer und deutlicher kritisie-ren, als wir es tun. Das wir das tun, ist gut so.Zu ISIS. Dies ist ein Problem, über das wir lange undintensiv geredet haben. Man muss sagen, dass Saudi-Arabien eine der wichtigsten Nationen im Kampf gegenISIS ist und einen großen Beitrag dazu leistet. Saudi-Arabien beteiligt sich an Bombardierungen und hat einewichtige Konferenz der Golfstaaten gegen ISIS ausge-richtet. Saudi-Arabien hilft nicht nur mit Taten, sonderngeht auch ideologisch gegen ISIS vor. Der verstorbeneKönig hat klipp und klar gesagt: Die größte Gefahr fürden Islam ist ISIS. ISIS sei geradezu eine Pervertierungdes Islam.Das erwähne ich nicht – verstehen Sie mich nichtfalsch –, um anzudeuten, dass das, was die Saudis ma-chen, auf der Grundlage einer werteorientierten Außen-politik und auf der Grundlage von Demokratie und Men-schenrechten passiert. Das hat damit nichts zu tun; dagibt es ganz andere Interessen, wie Sie alle wissen. VieleBeispiele zeigen, welche Interessen Saudi-Arabien mitseinen außenpolitischen Beziehungen verfolgt. Was denArabischen Frühling angeht, so kann man sagen, dassSaudi-Arabien von Anfang an jede Demokratisierungs-bewegung in der Region bekämpft hat. Saudi-Arabienhat die Militärs in Ägypten vorbehaltlos unterstützt. Ichkönnte noch weitere Beispiele anführen.Über andere Interessen dieser großen Mittelmacht inder Region sollten wir hingegen reden. Syrien: OberstePriorität für Saudi-Arabien hat der Kampf gegen Assad.Wenn ich das richtig sehe, bekämpfen auch wir ihn.
Flüchtlingshilfe: Saudi-Arabien ist einer der größtenGeldgeber, wenn es um Hilfe für Flüchtlinge aus demIrak und aus Syrien geht. Nahostkonflikt: Saudi-Arabienist eindeutig für die Zweistaatenlösung und hilft im Ga-zastreifen. Das alles sind Punkte, über die wir – bei allermassiven Kritik – mit Saudi-Arabien weiter im Gesprächbleiben sollten.Zusammengefasst sind für mich drei Punkte ganzklar: Erstens. Wir müssen mit unserer Kritik an der Men-schenrechtslage in Saudi-Arabien so weitermachen wiebisher, nämlich klar, eindeutig, umfassend und nachhal-tig.
Zweitens. Wir dürfen Dialoge und die entsprechendenStrukturen nicht abbauen, sondern müssen sie – im Ge-genteil – erweitern, und zwar nicht nur auf Regierungs-ebene, sondern auch und gerade auf der Ebene der Zivil-gesellschaft. Drittens. Unsere Haltung und unserHandeln werden in Saudi-Arabien wahrgenommen,nicht nur in der Führung, sondern auch im Volk. Deshalbist die Debatte hier im Deutschen Bundestag so wichtig.Ich bedanke mich ausdrücklich bei den beiden antrag-stellenden Fraktionen, den Linken und den Grünen, da-für, dass sie es ermöglicht haben, dass wir diese Debatteheute so führen konnten, wie wir das getan haben.Schönen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3835 und den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 18/3832. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünenund Die Linke wünschen jeweils Abstimmung in der Sa-che. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschenjeweils Überweisung zur federführenden Beratung anden Ausschuss für Menschenreche und humanitäre Hilfeund mitberatend an den Auswärtigen Ausschuss, an denAusschuss für Wirtschaft und Energie sowie an den Ver-teidigungsausschuss.Nach ständiger Übung stimmen wir zunächst über dieAnträge auf Ausschussüberweisung ab. Wer für die be-antragten Überweisungen stimmt, den bitte ich um einHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit sind die Überweisungen mit den Stimmenvon CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktio-nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen so beschlos-sen. Deshalb stimmen wir heute über die Anträge aufden Drucksachen 18/3835 und 18/3832 nicht in der Sa-che ab.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der Entsendung bewaffneterdeutscher Streitkräfte zur Verstärkung derIntegrierten Luftverteidigung der NATO aufErsuchen der Türkei und auf Grundlage des
sowie des Beschlusses des Nordatlantikratesvom 4. Dezember 2012Drucksachen 18/3698, 18/3859– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/3860Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Da sich keinWiderspruch erhebt, ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Niels Annen, SPD, das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
7832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
(C)
(B)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Der Deutsche Bundestag befasst sich heute zumdritten Mal mit der Verlängerung des Mandats ActiveFence, in dem es um einen Beitrag der NATO zur inte-grierten Luftverteidigung in der Türkei geht.Vor dem Hintergrund der dramatischen Lage in Sy-rien ist die NATO der Bitte ihres Bündnispartners Türkeinachgekommen, eine Lücke in der türkischen Luftvertei-digung zu schließen. Es geht hier also um die Solidaritätim Bündnis. Es geht aber auch um die Sicherheit derTürkei. Die Stationierung der Patriot-Raketen dient da-bei weder der Bekämpfung des Assad-Regimes noch derVorbereitung oder Durchsetzung einer Flugverbotszone.Die Kommandogewalt – darüber werden wir Sie in die-ser Debatte vermutlich wieder reden hören – liegt bei derNATO und nicht bei der Türkei. Es geht also nicht umeine militärische Einmischung in den Bürgerkrieg, son-dern um den Schutz für einen Bündnispartner, einenSchutz – das darf man an dieser Stelle erwähnen –, derübrigens auch den vielen Flüchtlingen dient, die wegender mörderischen Kriegsauseinandersetzung in der syri-schen Republik in die Türkei geflohen sind.
Die Zahl der Flüchtlinge, die von Syrien in die Türkeigeflohen sind, beläuft sich mittlerweile auf über 1,5 Mil-lionen Menschen. Die Türkei leistet hier Außergewöhn-liches. Die Hilfsbereitschaft und die Großzügigkeit dertürkischen Regierung, der türkischen Zivilgesellschaftund der türkischen Bevölkerung gegenüber den Flücht-lingen verdienen unsere Anerkennung.
Die Solidarität mit der Türkei innerhalb des NATO-Bündnisses bedeutet jedoch nicht – auch das will ich sa-gen –, dass wir uns mit allen Aspekten der türkischenSyrien-Politik identifizieren. Es gibt gute Gründe, diePolitik der türkischen Regierung kritisch zu betrachten.Es gibt leider zahlreiche Hinweise, Vorfälle und Zeugen-aussagen, die besagen, dass die türkischen Behörden einziemlich nachlässiges, wenn nicht gar zum Teil auchwohlwollendes Verhalten gegenüber ausländischenKämpfern an den Tag legen. Offenbar gelingt es auslän-dischen Kämpfern weiterhin, aus Europa nach Syrieneinzureisen. Offensichtlich ist auch der umgekehrte Wegrelativ problemlos möglich. Deswegen sei an dieserStelle daran erinnert, dass der Sicherheitsrat der Verein-ten Nationen am 24. September des vergangenen Jahreseine Resolution – die Foreign-Fighter-Resolution – ver-abschiedet hat, in der er bekräftigt – ich will daraus zitie-ren –: „… dass alle Staaten gehalten sind, Bewegungenvon Terroristen oder terroristischen Gruppen zu verhin-dern, indem sie wirksame Grenzkontrollen durchführen…“. Wir erwarten von der Türkei die komplette Umset-zung dieser Resolution.
So wie sich die Lage in Syrien derzeit darstellt – dasmuss man ganz nüchtern feststellen –, werden wir unsvermutlich auf einen langjährigen Konflikt mit weiterenunschuldigen Opfern einstellen müssen; denn bisherspricht nichts dafür, dass irgendjemand von dem Ziel ab-gerückt ist, diesen Krieg mit militärischen Mitteln fürsich zu entscheiden. Allerdings ist die Wahrscheinlich-keit, dass das gelingen kann, ausgesprochen gering.Außenminister Steinmeier hat zu Recht darauf hinge-wiesen, dass wir nicht nur einen Anlauf für eine politi-sche Lösung benötigen, sondern wir brauchen geradejetzt neue Ideen und neue Ansätze. Wir müssen denjeni-gen ausdauernde politische Unterstützung zukommenlassen, die sich darum kümmern.Wir wissen, dass Russland seit einigen Monaten ver-sucht, mit der syrischen Opposition ins Gespräch zukommen. Das ist erst einmal positiv. Die Verhandlungenverlaufen allerdings schleppend. Über die genauen Vor-schläge wissen wir relativ wenig. Ein wenig mehr Trans-parenz, Kooperation und Kommunikation an dieserStelle wären daher wünschenswert.
Der neuernannte Sonderbeauftragte der Vereinten Na-tionen, Staffan de Mistura, versucht – auch das wissenwir – etwas über eine neue Strategie zu erreichen. Ernennt das „incremental local freezes“, also ein lokalesEinfrieren des Konfliktes. Sie wissen vielleicht, meinelieben Kolleginnen und Kollegen, dass es die Versuchegibt, in der Stadt Aleppo einen lokalen Waffenstillstandauszuhandeln. Das ist in gewisser Weise das Eingeständ-nis, dass mit den Genfer Verhandlungen nicht der großeWurf gelungen ist. Vielleicht ist das jetzt der richtigeAnsatz. Ich bin jedenfalls froh darüber, dass diese Bun-desregierung die Bemühungen von Herrn de Misturanachhaltig unterstützt; dieses Parlament sollte das auchtun.
Staffan de Mistura hat den VN-Sicherheitsrat unter-richtet und entsprechende Empfehlungen vorgetragen,wie die Wiederaufnahme eines politischen Prozessesfunktionieren könnte. Ich glaube, dass er recht hat, wenner sagt – ich zitiere ihn –:Wir haben den Eindruck, dass niemand diesenKrieg gewinnen kann … Die einzigen, die derzeitden Krieg verlieren, sind die Syrer.
Zur Wahrheit gehört auch, dass sich die Türkei in ei-ner ausgesprochen schwierigen strategischen und auchgeografischen Situation befindet. In der heutigen De-batte ist auf die Befreiung von Kobane hingewiesen wor-den. Auch wir in der SPD-Fraktion freuen uns darüber.Es hat zum ersten Mal Kooperationen vonseiten der tür-kischen Regierung gegeben, Kämpfern aus den kurdi-schen Gebieten die Möglichkeit zu geben, sich amKampf in Kobane zu beteiligen. Jeder, der sich mit derPolitik in der Türkei beschäftigt, weiß, dass das innen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7833
Niels Annen
(C)
(B)
politisch hochbrisant und kompliziert ist, weil es einenungelösten Konflikt mit der PKK und den Kurden gibt.Lassen Sie mich zum Abschluss darauf hinweisen:Die Türkei ist und bleibt der zentrale Akteur in der Re-gion. Ja, wir haben Kritik am Verhalten der türkischenRegierung, aber wir brauchen die Türkei zur Lösung desSyrien-Konfliktes. Deswegen brauchen wir die Bereit-schaft zur Solidarität mit der Türkei.
Deswegen stimmen wir heute dem Antrag der Bundesre-gierung zu.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Katrin Kunert.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der Einsatz der Patriot-Abwehrraketen in der Tür-kei soll um ein weiteres Jahr verlängert werden. DieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler soll dieser Einsatzweitere 20,5 Millionen Euro kosten.Ich will hier noch einmal festhalten, wie es zu diesemEinsatz gekommen ist. Der Krieg in Syrien stellte nachAngaben der türkischen Regierung eine Gefahr für dieterritoriale Unversehrtheit des Landes dar. Einschlägefehlgeleiteter Granaten wurden als Grund genannt, dieNATO um Beistand zu bitten. Allerdings räumte dieTürkei selbst ein, dass die Granaten nicht gezielt auf ihrTerritorium abgefeuert wurden. Es gab also Anfang2013 keine Bedrohungssituation, die den Bündnisfall– auch nach Ihrer Logik – gerechtfertigt hätte.Heute, im Januar 2015, schätzt die Bundesregierungdie Bedrohungslage als niedrig ein; sie konstruiert aberGefahren wie einen Angriff mit eventuell noch vorhan-denen Chemiewaffen oder ballistischen Raketen. Wasdie Bundesregierung in der Öffentlichkeit allerdingsnicht sagt, ist, dass diese Patriot-Abwehrraketen beiChemiewaffen völlig wirkungslos sind. Deshalb sagenwir: Ihre Raketen haben bisher keine Entspannung undkeinen Frieden gebracht. Im Gegenteil: Sie riskieren,dass Deutschland in diesen Konflikt hineingezogenwird, und das lehnt die Linke ab.
Die Türkei wurde und wird von Syrien nicht bedroht.Syriens Präsident Assad hat doch ganz andere Probleme,als die Türkei anzugreifen und sich dann auch noch dieNATO zum Gegner zu machen. Das muss doch auch Ih-nen klar sein.
Die türkische Armee ist die zweitgrößte in der NATO.Und diese Armee soll nicht in der Lage sein, die eigenenGrenzen zu sichern?Die Türkei ist nach wie vor Teil des Konflikts. Sie un-terstützt islamistische Gotteskrieger und ermöglicht denWaffennachschub für den Krieg in Syrien. Schlimmernoch, nach türkischen Medienberichten wollte der Mili-tärgeheimdienst 2014 sogar eigene Waffen an islamisti-sche Terrorgruppen in Syrien liefern. Und dafür wollenSie der Türkei auch noch Rückendeckung geben? Fürden Krieg ist die Grenze zu Syrien geöffnet, für humani-täre Hilfe und für den Wiederaufbau bleibt sie geschlos-sen. Die Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung sindsystematisch abgeriegelt, und das sagt aus unserer Sichtwirklich alles.
Die kurdischen Verteidiger von Kobane haben jetztnach mehreren Monaten die Stadt vom „IslamischenStaat“ befreit. Hierfür gab es kaum Unterstützung vonder Türkei. Im Gegenteil: Die Versuche demokratischerSelbstverwaltung sind der Regierung in Ankara ein Dornim Auge. Sie möchte dieses demokratische Experimentam liebsten ersticken. Es ermutigt die Kurden und an-dere Minderheiten im eigenen Land dazu, mehr Demo-kratie zu fordern – und das ist dringend notwendig.
Wir halten es für völlig falsch, dass die Bundeswehrauch wegen einer angeblichen innerpolitischen Bedro-hungssituation in der Türkei bleiben soll, wie Ihr Kol-lege Mißfelder es in der ersten Lesung hier im Haus ge-sagt hat. Ich bitte Sie: Beenden Sie dieses Mandat, undziehen Sie die Raketen zurück!
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für ei-nen Waffenstillstand und Verhandlungen in Syrien ein-zusetzen.
– Sie sagen: „Machen wir doch!“ Aber mit welchem Er-folg? – Tragen Sie dazu bei, dass die Finanzquellen des„Islamischen Staates“ ausgetrocknet werden! Solange derIS sein Öl über die Türkei verkaufen kann, schwimmt erim Geld. Beenden Sie Ihre Kumpanei mit der türkischenRegierung! Fordern Sie sie auf, die Grenzen zu den syri-schen Kurdengebieten zu öffnen, um ganz normalenwirtschaftlichen Handel und humanitäre Hilfe zuzulas-sen, damit mit dem Wiederaufbau im Land begonnenwerden kann! Lassen Sie uns die 20,5 Millionen Euro,die der Patriot-Einsatz kosten würde, für die Versorgungder Bevölkerung und der Flüchtlinge, für Lebensmittel,für wichtige Medikamente und Unterkünfte ausgeben!Das wäre humanitäre Hilfe.
Was wir jetzt brauchen, sind Diplomatie und Ver-handlungen, um die Lage im Nahen Osten zu stabilisie-
Metadaten/Kopzeile:
7834 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Katrin Kunert
(C)
(B)
ren. Deshalb lehnen wir eine weitere Verlängerung die-ses Einsatzes ab.Schönen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege
Dr. Andreas Nick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Türkei ist in besonderer Weise von dem schrecklichen
Bürgerkrieg in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, in Sy-
rien, betroffen. In den letzten Jahren hat das Land über
1,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen und
trägt gemeinsam mit dem Libanon und Jordanien die
Hauptlast. Sie stellt sich dieser humanitären Verantwor-
tung in vorbildlicher Weise.
Das Mandat zur Mission Active Fence, über dessen
Verlängerung wir heute entscheiden, soll unserem
NATO-Partner Türkei weiterhin Schutz bieten – Schutz
seiner Bevölkerung, Schutz seines Territoriums, aber
auch Schutz der aufgenommenen Flüchtlinge –; denn
auch zwei Jahre nach Entsendung der ersten Patriot-Sys-
teme ist die Türkei weiterhin Bedrohungen ausgesetzt.
Syrische Kurzstreckenraketen können auch heute noch
Ziele auf nahezu dem gesamten türkischen Staatsgebiet
erreichen. Die Türkei selbst verfügt derzeit über keine
eigene Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Raketen und
ist somit zwingend auf die Unterstützung ihrer Verbün-
deten angewiesen. Im Bündnis ist es eine Selbstver-
ständlichkeit, dass wir im Bedrohungsfall einem Partner
notwendige militärische Fähigkeiten zum Schutz seines
Territoriums und seiner Bevölkerung zur Verfügung stel-
len.
Als Deutscher Bundestag stehen wir hier in einer be-
sonderen Verantwortung, zum einen gegenüber unseren
Bündnispartnern, die sehr genau darauf achten, wie wir
mit unserem Parlamentsvorbehalt im Rahmen von Bünd-
nisverpflichtungen umgehen. Dieses Thema beschäftigt
ja auch die Rühe-Kommission, weil Verlässlichkeit un-
bedingte Voraussetzung für mehr Pooling und Sharing
im Bündnis ist. Zum anderen stehen wir natürlich in der
Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Sol-
daten, denen ich herzlich für ihren engagierten Einsatz
danke.
Im Rahmen eines Türkeibesuchs im März werde ich vo-
raussichtlich die Gelegenheit haben, mich vor Ort bei
den Soldaten des Patriot-Einsatzes ebenso zu informie-
ren wie über die Situation der Flüchtlinge im Grenzge-
biet zu Syrien.
Der Patriot-Einsatz hat rein defensiven Charakter und
bedeutet keine Involvierung Deutschlands oder der
NATO in den syrischen Bürgerkrieg. Aber eine Stabili-
sierung der Region liegt nicht nur aus humanitären
Gründen – dies ganz überwiegend –, sondern natürlich
auch mit Blick auf die andauernde Notwendigkeit dieses
Einsatzes in unserem Interesse.
Im Hinblick auf die Tragödie des syrischen Bürger-
krieges gibt es sicher zwischen der Türkei und uns unter-
schiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen bezüglich
einzelner Akteure in dieser komplexen Lage. Der türki-
sche Ministerpräsident Davutoglu bemängelte bei sei-
nem Besuch in Berlin nicht ganz zu Unrecht eine man-
gelnde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft
bei der Beendigung des Assad-Regimes, das Krieg ge-
gen die eigene Bevölkerung führt.
Unabhängig davon erwarten wir jedoch künftig von
der Türkei eine unzweideutige Haltung gegenüber ISIS.
In jedem Fall brauchen wir eine verbesserte Zusammen-
arbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden, um den
Transit von Extremisten aus Europa nach Syrien und in
den Irak und zurück wirksamer kontrollieren und mög-
lichst unterbinden zu können.
Dass sich die Türkei mit kurdischen Autonomie-
bestrebungen schwertut, kann nicht überraschen. Aber
dass die Türkei eine konstruktive Rolle einnehmen kann,
hat sie bereits im Norden des Irak gezeigt, denn ohne
türkische Mitwirkung wäre die positive Entwicklung der
autonomen Region Kurdistan in Arbil nicht möglich ge-
wesen.
Herr Kollege Dr. Nick, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Dağdelen?
Bitte schön.
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident und Herr Kol-lege. – Ich wollte Sie etwas fragen, weil Sie sagten, manmüsse die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit derTürkei verstärken. Davutoglu habe sich beschwert. Siehaben gesagt, man müsse auf jeden Fall die Zusammen-arbeit verstärken, um gegen IS vorzugehen. In diesemZusammenhang möchte ich Sie gerne etwas fragen. Ges-tern Abend ging die Nachricht herum, dass Deutschlandgerade mit der Türkei in Verhandlungen über ein Ge-heimdienstabkommen ist. Der BND soll durch diesesAbkommen, über das verhandelt wird, mit dem türki-schen Geheimdienst enger zusammenarbeiten, um denTerror besser bekämpfen zu können.Ich möchte Sie gerne fragen: Nehmen Sie zur Kennt-nis, dass ein Whistleblower vor kurzer Zeit Dokumenteveröffentlicht hat, laut denen im Januar 2014 der türki-sche Geheimdienst, mit dem Deutschland jetzt ein Ab-kommen schließen möchte, eine Lkw-Ladung Waffendirekt an islamistische Terrormilizen an der Grenze ge-liefert hat? Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass es Un-terstützung nicht nur in Form von Waffen gibt, sondernzum Beispiel auch durch die Behandlung von verletzten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7835
Sevim Dağdelen
(C)
(B)
Dschihadisten in türkischen Krankenhäusern? Dies fin-det laut vielen Berichten, auch Bildberichten, statt.Glauben Sie ernsthaft, dass es wirklich ein Schritt indie richtige Richtung ist, mit dem Geheimdienst der Tür-kei, die den „Islamischen Staat“, aber auch andere Ter-rorgruppen wie die Al-Nusra-Front nachweislich mit un-terstützt hat, enger zu kooperieren und ein Abkommenabzuschließen, oder wird es bei diesem Abkommen eherdarum gehen, diejenigen, die gegen IS teilweise erfolg-reich gekämpft haben, zu bekämpfen, Stichwort PKK?
Frau Kollegin Dağdelen, ich darf zwei Dinge unter-
streichen – ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen –:
Erstens. Ich habe gesagt: Wir erwarten von der Türkei
eine unzweideutige Haltung, auch gegenüber ISIS. Zum
Zweiten. Es ist in unserem unmittelbaren und elementa-
ren Interesse, den Transit von Extremisten aus Deutsch-
land und Europa in die Kampfgebiete in Syrien und im
Irak, der über die Türkei führt, zu unterbinden. Es gibt
keinen anderen plausiblen Weg, dies zu tun, als in Zu-
sammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden,
nicht gegen sie. – Ich glaube, damit ist die Frage hinrei-
chend beantwortet.
Meine Damen und Herren, gerade mit Blick auf die
Brandherde im Mittleren Osten und in Nordafrika
kommt der Türkei eine entscheidende Rolle zu. Die Tür-
kei liegt darüber hinaus an einer geostrategischen
Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Durch ihre
NATO-Mitgliedschaft ist die Türkei eng an den Westen
gebunden. Seit Jahrzehnten hat sie sich als verlässlicher
Partner innerhalb des Bündnisses erwiesen. Aber es ist
richtig: Gerade als Freunde der Türkei beobachten wir
manche innenpolitischen Entwicklungen, etwa im Be-
reich der Meinungs- und Pressefreiheit, der Rechtsstaat-
lichkeit und des Umgangs mit Minderheiten, mit Auf-
merksamkeit und manchmal durchaus auch mit Sorge.
Manches an der politischen Rhetorik in der Türkei wirkt
auf uns befremdlich und gelegentlich leider auch verstö-
rend.
Aber die Türkei ist und bleibt für uns ein wichtiger
strategischer Partner. Dies gilt nicht nur im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch in den Fra-
gen von Wirtschaft, Handel und Energie. Es gilt nicht
zuletzt im Hinblick auf die Millionen Menschen mit tür-
kischen Wurzeln, die in unserem Land zu Hause sind. Es
ist daher in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse,
die strategische Partnerschaft mit der Türkei zu pflegen
und weiterzuentwickeln.
Ministerpräsident Davutoğlu hat bei seinem Besuch
in Berlin erneut bekräftigt, dass Europa zentraler Be-
zugspunkt türkischer Außenpolitik bleibt. Wir sollten in
diesem Zusammenhang aufmerksam zur Kenntnis neh-
men, dass die Türkei eine stärkere Anbindung an die Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäi-
schen Union sucht. Dabei kann es nicht darum gehen,
das Ergebnis von EU-Beitrittsverhandlungen vorwegzu-
nehmen, sondern es geht weitgehend um die Wiederher-
stellung eines Status, wie es ihn zu Zeiten der Westeuro-
päischen Union bereits gab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit un-
seren Partnern werden wir immer wieder neu zu prüfen
haben, wie lange eine Fortsetzung des Patriot-Einsatzes
noch notwendig und umsetzbar ist. Auf lange Sicht wäre
sicherlich der Aufbau eigener Fähigkeiten der Türkei zu
erwägen, um diesen Einsatz der Verbündeten abzulösen.
Heute gilt jedoch, dass die Mission weiterhin einen
wichtigen Beitrag zum Schutz unseres Verbündeten
leistet. Meine Fraktion stimmt der Verlängerung der
Mission Active Fence daher zu.
Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Omid Nouripour.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der kata-strophale Krieg in Syrien droht auch viele Nachbarstaa-ten des Landes ins Chaos zu ziehen. Nirgendwo ist dasderzeit so sichtbar wie im Irak. Wir wissen aber, dass esauch eine Bedrohungslage für die Türkei gibt. MeineFraktion hat diesem Mandat vor drei Jahren und seitdemimmer wieder mit Bauchschmerzen zugestimmt. Wir ha-ben das gemacht, weil wir immer wieder versichert be-kommen haben, dass die Patriots zu rein defensivenZwecken aufgestellt sind, dass es ein NATO-Kommandogibt, dass sie weit weg von der Grenze sind und nichtvon Agents Provocateurs auf der anderen Seite derGrenze beschossen werden können. Die Bedrohungslageist heute nicht wesentlich anders. Die ballistischen Rake-ten befinden sich weiterhin in Syrien. Es gibt mindestensfünf Anlagen, in denen Chemiewaffen produziert wer-den können, die bisher nicht zerstört worden sind. Arti-kel 4 des NATO-Vertrages ist gerade in diesen Zeiten einwichtiges Gut. Deshalb wird meine Fraktion auch dies-mal mehrheitlich zustimmen.Nichtsdestotrotz ist das Mandat das eine und dasganze Umfeld etwas anders; auch darüber muss mansprechen. Ja, wir haben einen Riesenrespekt davor, dassdie Türkei 1,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat.Das ist eine unglaubliche Leistung, die die Menschen inder Türkei erbringen.
Aber es ist auch Kritik notwendig. Es ist gerade gesagtworden, dass es einen Bericht gibt – von Hackern veröf-fentlicht; es ist bei weitem nicht der erste Bericht –, dassAnfang letzten Jahres Gendarmen einen Konvoi aufge-halten haben, der unter dem Schutz des damaligen
Metadaten/Kopzeile:
7836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Omid Nouripour
(C)
(B)
Ministerpräsidenten stand. Im Konvoi befanden sich Ra-keten, Munition und Waffen, wahrscheinlich für dieNusra-Front in Syrien. Darüber gibt es in der Türkei eineNachrichtensperre. Noch bemerkenswerter ist, dass die13 Gendarmen, die daran beteiligt waren, derzeit wegenSpionage angeklagt sind. Das ist eine ungeheuerlicheGeschichte. Deshalb ist es notwendig, dass man dort lautdie Stimme der Kritik erhebt und nicht – wie die Bun-desregierung in der Begründung des Mandatstextes – be-hauptet, die Politik der Türkei in Syrien wäre eine be-sonnene; das ist einfach nicht richtig.
Es gibt Krankenschwestern, die Briefe an die Parla-mentarier der Türkei schreiben, weil sie es nicht mehraushalten: Sie betreuen ISIS-Kämpfer – das ist Teil deshippokratischen Eides: dass man alle Versehrten betreut –,während die Flüchtlinge nicht in die Krankenhäuserkommen. Diese Kämpfer werden nach ihrer Entlassungnicht von Polizisten abgeführt und ins Gefängnis ge-bracht, sondern werden in den Krankenhäusern fit ge-macht, damit sie weiterkämpfen können. Das ist einwahrer Skandal.
Ich bin sehr froh, dass die Krankenschwestern trotz dergroßen Bedrohung bereit sind, über diese Ungeheuer-lichkeiten zu sprechen.Aber auch innenpolitisch gibt es einiges, worüberman wirklich laut reden muss. Die Pressefreiheit – dieserTage zu Recht ein großes Thema – steht in der Türkeimassiv unter Druck. Allein im Dezember sind dort25 Journalistinnen und Journalisten verhaftet worden.Freedom House sagt, die Pressefreiheit sei in der Türkeimittlerweile nicht mehr gegeben; die Einstufung ist: un-frei. Gleichzeitig stehen Fußballfans von Carsi, einemFanklub von Besiktas Istanbul, die bei den Demonstra-tionen zur Rettung der Bäume im Gezi-Park auf derStraße waren, jetzt vor Gericht und sind wegen Terroris-mus und Umsturz anklagt – das hat mit Rechtsstaat über-haupt nichts mehr zu tun –,
während gleichzeitig der Korruptionsskandal um denPräsidenten einfach ausgesessen wird. Da hat die Kolle-gin Dağdelen, mit der ich nicht häufig einer Meinungbin, einfach recht: Und das ist das Umfeld, in dem jetztein Geheimdienstabkommen verhandelt werden soll? –Es mag Gründe dafür geben, ein solches Abkommen an-zustreben; aber was nicht geht, ist, dass man in diesemUmfeld ein Abkommen verhandelt und über diese Miss-stände in der Türkei schlicht schweigt; das ist einfachnicht hinnehmbar.
Wir haben in den vergangenen Jahren immer wiederauch im Zusammenhang mit Bündnissolidarität über die-ses Mandat gesprochen. Bündnissolidarität hat einengroßen Wert – das sehen wir auch –; aber Bündnissolida-rität ist kein Automatismus. Vor diesem Hintergrund undbei diesem Umfeld, das ja täglich schlechter wird, kannich Ihnen nur sagen: Ich kann meiner Fraktion vielleichtein letztes Mal empfehlen, dem Mandat zuzustimmen;aber angesichts der Vorzeichen, die wir derzeit haben,wüsste ich nicht, ob das nächstes Jahr noch möglich ist.Ich kann nur hoffen, dass die Bundesregierung aus denGeschehnissen wirklich etwas lernt: Mit der Türkei – ja,ein Partner; ja, ein Bündnispartner – offen und geradehe-raus eine Aussprache zu suchen, ist so notwendig wieseit langer, langer Zeit nicht mehr. Bitte gehen Sie diesenWeg!Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Hellmich,
SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es gibt Situationen in der parlamentarischen Be-ratung, da nimmt man seine Blätter, legt sie zur Seiteund geht auf die Diskussion ein, die hier geführt wird.Vorab, um das von vornherein klar zu sagen: Wir wer-den der Verlängerung eines solchen Mandates – des Ein-satzes von Patriot-Raketen zur Verstärkung der integrier-ten Luftverteidigung – zustimmen. Es gibt an dieserStelle keine Alternative dazu, der Türkei als unseremPartner in der NATO die nötige Unterstützung zu geben,wohlwissend, dass dies in einer Zeit passiert, in der sichdie Situation in der Region bei weitem nicht verbessert,sondern im Wesentlichen verschlechtert hat.Es ist auf die Zahlen hingewiesen worden: Als wirvor etwas mehr als einem Jahr hier diskutiert und debat-tiert haben, redeten wir über 200 000 Flüchtlinge in derTürkei. Heute reden wir über 1,6 bis 1,7 MillionenFlüchtlinge in der Türkei. Die WHO und andere habendie Türkei sehr dafür gelobt, wie sie mit den Flüchtlin-gen aus Syrien umgeht, wie sie die Versorgung organi-siert, wie sie sich um die Flüchtlinge kümmert. Wir soll-ten zur Kenntnis nehmen, dass die Türkei an dieserStelle ihrer Verantwortung für die Menschen in der Re-gion nachkommt, indem sie in diesem gesamten Kon-flikt den Menschen als Fluchtort zur Verfügung steht undihnen den nötigen Schutz gibt.Diesen Flüchtlingen wollen wir genauso wie allen an-deren Menschen in der Türkei denselben Schutz vormöglichen syrischen Raketen – von wem auch immer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7837
Wolfgang Hellmich
(C)
(B)
abgeschossen – geben. Wir wollen den bedrohten Men-schen in der Türkei diesen Schutz geben, damit sie sichsicher fühlen können und damit sie an der Stelle auchwissen, dass wir an ihrer Seite stehen und wir mit zudenjenigen gehören, die ihnen helfen wollen, in der Re-gion für Frieden zu sorgen, für eine Entspannung der Si-tuation zu sorgen, dazu beizutragen, dass der Konfliktgelöst wird. Dabei spielt nach wie vor die Türkei eineganz wesentliche, eine ganz entscheidende Rolle.
Deshalb werden wir mit den uns zur Verfügung ste-henden Mitteln helfen, genauso wie nämlich die Türkeiauch anderen NATO-Partnern an anderen Stellen gehol-fen hat. Ich erinnere an das Engagement in Afghanistanim Rahmen von ISAF, als die Türkei eine wesentlicheStütze des Einsatzes war.
– Dass Sie den nicht wollen, das weiß ich ja; das könnenSie hier auch noch ein anderes Mal sagen. – Genausowie die Türkei mit 380 Soldatinnen und Soldaten beiKFOR im Kosovo unterwegs ist und dort hilft, für einesichere Situation im Kosovo zu sorgen, oder mit Fregat-ten bei UNIFIL, muss sie – jetzt vielleicht auch mit einergesteigerten, wieder höher werdenden Bedeutung – ih-ren Aufgaben im Rahmen der Regulierung eines Kon-flikts zwischen Israel und dem Libanon nachkommen.An dieser Stelle müssen wir auch mit der Türkei spre-chen, wie sie ihren Einfluss da einsetzt, damit es einensolchen Konflikt und eine Eskalation nicht gibt. DasGleiche gilt dafür, wie sie uns im Golf von Aden und amHorn von Afrika bei der Bekämpfung der Piraterie hilft.Es ist der Geist dieses Vertrages der NATO, den Tür-ken in der Situation, in der sie sind, zu helfen. Mit Fugund Recht können sie sagen, dass sie bedroht sind. DieZahlen sind genannt, die Strukturen sind genannt.Gleichzeitig wissen wir natürlich auch um die innereSituation, die in der Türkei herrscht und die hier vielfach– gerade am ausführlichsten von dem KollegenNouripour – beschrieben und bezeichnet worden ist.Sie von der Linken müssen sich entscheiden, was Siemit der Türkei machen wollen: reden und verhandeln,damit die Situation besser wird, oder sie herausschmei-ßen und gar nicht mehr mit ihr reden. Auf der einen SeiteGrenzen öffnen und auf der anderen Seite Grenzenschließen. Wenn Sie einmal zu einer konsistenten Posi-tion kommen würden, dann wären Sie an dieser Stellevielleicht auch ein Stück glaubwürdiger, als Sie das imMoment sind.
Die Türkei kann sich mit Fug und Recht bedroht füh-len, und an dieser Stelle werden wir ihr helfen. Die türki-sche Regierung hat trotz allem in diesem Konflikt beson-nen und verantwortungsvoll gehandelt. Sie hat in diesenKonflikt nicht offensiv eingegriffen, obwohl die Be-schlüsse des Parlaments das zugelassen hätten. Nein, siespielt da eine andere Rolle.Wir wissen um die schwierige Situation der Türkei,um ihre schwierige Rolle, die sie dort spielt, und wir sa-gen ihr das. Viele Parlamentarier waren da und habenvor Ort mit all denjenigen gesprochen, die beteiligt sind.Die haben auf den Plätzen gestanden und haben auch inder Türkei deutlich gemacht, dass das so nicht geht unddass man mit Menschenrechten, mit demokratischenRechten anders umgehen muss.Wir haben ein ureigenes Interesse, dass es in Ver-handlungen mit der Türkei dazu kommt, dass ForeignFighters über die Türkei nicht hinein- und nicht heraus-kommen können.Ich wünsche der Bundesregierung bei den Verhand-lungen nicht, dass sie scheitern, sondern den vollen Er-folg dieser Verhandlungen über Abkommen, um an die-ser Stelle dafür zu sorgen, dass wir auch beschütztwerden. Unser eigenes Interesse ist das, und deshalbgeht es auch um unsere eigenen Sicherheitsinteressen.Es geht auch darum, dass die Verhandlungen über dasAtomprogramm mit dem Iran, die unter Beteiligung derTürkei gerade in Istanbul laufen, zu einem guten Ergeb-nis kommen.Also: Wir brauchen die Türkei in der Region, wirbrauchen sie als unseren starken Partner an der Seite undim Bündnis der NATO. Wir sehen die Türkei als stabili-sierenden Faktor und werden beides tun: sagen, was ver-bessert werden muss, was anders werden muss, undgleichzeitig dieser Verlängerung des Mandats zustim-men, damit es in der Region vorwärtsgeht und wir einenguten Beitrag dazu leisten können.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl Lamers für
die CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Umes gleich vorweg zu sagen – insbesondere mit Blick aufdie Fraktion Die Linke –: Die Lage an der türkisch-syri-schen Grenze ist noch längst nicht so stabil, dass wir unsbereits jetzt aus dem Mandat Active Fence zurückziehenkönnten, erst recht dann nicht, wenn ein NATO-Partnerum Hilfe bittet und Bündnissolidarität gefordert ist.Seit Januar 2013 schützen amerikanische, niederlän-dische und deutsche Patriot-Staffeln die Bevölkerungund das türkische Territorium gegenüber möglichenAngriffen aus dem syrischen Luftraum. Anstelle derNiederländer, die sich in diesen Tagen aus dem Mandatzurückziehen, rücken jetzt spanische Soldaten nach. Ichstelle fest: Der Luftabwehrschirm an der türkischen Süd-grenze bleibt intakt. Das ist eine gute Nachricht.
Metadaten/Kopzeile:
7838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Karl A. Lamers
(C)
(B)
Der Einsatz hat sich seit Beginn als sehr effizient erwie-sen.Heute geht es darum, das Mandat um ein Jahr, biszum 31. Januar 2016, zu verlängern. Damit gehen wir indas dritte Jahr.Bei jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr stellensich uns die Fragen: Ist er notwendig? Warum sind wirda? – Sie alle kennen den Grund für den seinerzeit be-schlossenen NATO-Einsatz. Die Konflikte in Syrien undim Irak drohten damals die ganze Region zu destabilisie-ren. Es bestand die Gefahr, dass sie irgendwann auf dieTürkei übergreifen. Wir haben mit dieser Mission inschwierigster Zeit für ein Stück Stabilität in einer insta-bilen Region gesorgt, und genau das war unsere Absicht.
Und heute? Noch immer sieht der NATO-Oberbe-fehlshaber eine Bedrohung der Türkei als glaubhaft undbegründet an, und die Türkei selbst fühlt sich bedroht:durch die Kämpfe im benachbarten Syrien und im Iraksowie durch das Wüten und den Furor der IS-Miliz, überden wir heute ja schon so viel Schreckliches gehörthaben, durch das syrische Regime, das nicht nur eine ei-gene Luftwaffe hat, sondern auch über ballistische Flug-körper mit einer Reichweite von bis zu 700 Kilometernund über Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügt, diejederzeit nahezu das gesamte türkische Staatsgebiet er-reichen können, und durch ein mögliches Risiko durchRestbestände an chemischen Waffen. Ich meine, das al-les sind sehr nachvollziehbare Gründe.Seit Beginn des Einsatzes hat es in der Tat keinenLuft- oder Raketenangriff auf die Türkei mehr gegeben.Heißt das, dass wir den Luftabwehrschirm jetzt nichtmehr brauchen? Nein, im Gegenteil. Dass nichts passiertist, bedeutet: Die Abschreckung durch das Bündnis hatvoll funktioniert. Der Konflikt ist nicht auf den Nach-barn Türkei übergeschwappt.Übrigens: Wir beschränken uns auf rein defensiveWaffen, auf eine Luftverteidigung, die das Territoriumund vor allem die Menschen schützt, ohne über dieGrenze zu wirken. Das möchte ich hier einmal ausdrück-lich betonen.Die Türkei braucht weiterhin Sicherheit an ihrer Süd-grenze – aus eigenem Interesse, aber auch im Hinblickauf die 1,5 Millionen Flüchtlinge, die auf ihrem Territo-rium untergebracht sind. Frau Kunert, ich glaube, dassder deutsche Steuerzahler genau das akzeptiert. Hiergeht es nämlich darum, genau diese Flüchtlinge zuschützen, also um Menschlichkeit.
Es geht hier in der Tat aber auch – der KollegeNouripour hat es angesprochen – um Bündnissolidarität.Die Türkei hält ihr Ersuchen an die NATO, Flug- undRaketenabwehreinheiten an der Südgrenze des Landeszu stationieren, nach wie vor aufrecht. Bündnissolidari-tät ist ein Schlüsselwort. Jeder muss wissen, dass wirkeinen NATO-Partner im Stich lassen. Das sollen sichinsbesondere diejenigen merken, oder soll ich sagen:derjenige, der in diesen Tagen in anderen Teilen der Weltdie Kraft und Bündnisstärke der NATO testen und auslo-ten will? Wir sind hellwach!
Wir wissen: Für unsere Bundeswehrsoldaten ist dieserEinsatz nicht leicht zu schultern. Um die Durchhalte-fähigkeit sicherzustellen, werden sie bis an die Grenzeihrer Belastbarkeit gefordert. Deswegen möchte ich denam Einsatz beteiligten Soldatinnen und Soldaten an die-ser Stelle meinen tiefen Dank und meine Anerkennungaussprechen.
Wir alle, die gesamte NATO, bleiben gefordert, stetsaufs Neue die Grundlage und die Basis für die NATO-Operation Active Fence zu prüfen und zu evaluieren.Wir stimmen der Verlängerung des Mandats für die Ope-ration Active Fence unter Führung der NATO zu.Vielen Dank.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich war vergangenen Sommer in Kilis in der Türkei.
Herr Kollege, darf ich eine Bemerkung machen, die
vielen bekannt erscheint, weil sie regelmäßig beim letz-
ten Redner vor einer namentlichen Abstimmung erfolgt.
Ich bitte einfach die Kolleginnen und Kollegen, dem
Kollegen Brandl als letztem Redner zuzuhören und die
Gespräche, wenn sie notwendig sind, nach draußen zu
verlegen. – Jetzt haben Sie wieder das Wort.
Herr Präsident, vielen Dank. – Ich war letztenSommer in Kilis in der Türkei in einem Flüchtlingslager,in dem 14 000 Menschen untergebracht sind und dasetwa 50 Kilometer Luftlinie von Aleppo entfernt ist. DieMenschen in diesem Lager können die Kämpfe und dieRaketeneinschläge auf der syrischen Seite zum Teil hö-ren. Ich habe die Flüchtlinge und die Mitarbeiter der Lei-tung des Lagers gefragt, ob sie denn keine Angst haben,so nah an dem Konfliktort untergebracht zu sein. DieAntwort war immer die gleiche. Die Menschen habengesagt, sie haben keine Angst, weil es keine der Kon-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7839
Dr. Reinhard Brandl
(C)
(B)
fliktparteien wagen würde, einen NATO-Partner anzu-greifen.Wir reden hier viel über Beistandsverpflichtung, Arti-kel 5 des NATO-Vertrages, Abschreckung und Rückver-sicherung. Aber wenn man mit den Menschen vor Ortspricht und erlebt, wie beruhigend es für sie ist und wel-che Sicherheit sie daraus ziehen, in einem NATO-Landzu sein, dann merkt man erst, was das wirklich bedeutet.Das Ganze funktioniert aber nur, wenn die NATOglaubwürdig ist, wenn kein Zweifel daran besteht, dasswir im Falle eines Angriffs zu Hilfe eilen würden. MeineDamen und Herren, das gilt sowohl für die baltischenStaaten, in denen wir im Moment auch Rückversiche-rung betreiben, als auch für die Türkei. Das gilt unab-hängig davon, ob wir die türkische Regierung oder dieaktuelle Politik der türkischen Regierung gut finden. Ichfinde sie nicht gut. Aber das tut hier nichts zur Sache. Esgeht darum, dass wir klarmachen, dass wir in einer Kon-fliktsituation oder Bedrohungssituation zu unseren Part-nern in der NATO stehen.Meine Damen und Herren, deswegen muss man denEinsatz der Patriot-Raketen unter zwei Gesichtspunktenbeurteilen. Zum einen bieten die Raketen Schutz gegenballistische Raketen, zum anderen sind sie aber auch einElement der Rückversicherung mit Wirkung in die türki-sche Bevölkerung hinein. Dafür eignen sie sich gut. Wervor Ort ist und die Raketen auf Hügeln vor großen Städ-ten stehen sieht, dem wird klar sein, dass diese Raketender Bevölkerung Tag für Tag demonstrieren: Wir, eurePartner in der NATO, sind hier, um euch zu schützen.
Diese beruhigende Wirkung dürfen wir nicht unterschät-zen.Diese Wirkung kommt aber nur dann zustande, wennder erste Punkt, den ich vorhin angesprochen habe, näm-lich das Vorliegen einer Bedrohung, glaubhaft ist. Dasmuss man immer wieder neu beurteilen, das kann manauch hinterfragen. Mein Kollege Florian Hahn hat das inder letzten Lesung ausgeführt. Die NATO beurteilt dieBedrohungssituation alle 90 Tage. Sie kam bei ihremletzten Review zu dem Ergebnis: low but credible; nied-rig, aber dennoch glaubhaft. Ich halte diese Bewertungfür nachvollziehbar. Wir haben im letzten halben Jahr er-lebt, dass etwa 50 Raketen aus Damaskus in Richtungtürkische Grenze abgeschossen wurden. Keine dieserRaketen ist auf türkischem Gebiet eingeschlagen, allesind in Syrien niedergegangen. Aber jede dieser Raketenhätte theoretisch in der Türkei einschlagen können.Wir haben viel über die Chemiewaffen debattiert. Esist in der Debatte angesprochen worden: Es gibt natür-lich noch ein Restrisiko, dass die Chemiewaffen nichtvollständig vernichtet worden sind. Uns liegen zwar imMoment keinerlei Anzeichen vor, dass ein Konfliktpart-ner die Türkei angreifen will. Aber auch das müssen wirimmer wieder neu beurteilen.Wir verfolgen diese Entwicklung sehr aufmerksam,weil wir das auch unseren Soldatinnen und Soldatenschuldig sind. In der Bundeswehr gibt es nur noch einFlugabwehrraketengeschwader Patriot. Die Soldatenbleiben in der Regel in diesem Einsatz. Das heißt, bei70 Prozent der Soldaten halten wir es ein, dass sie in ei-nem Zeitraum von zwei Jahren nur vier Monate im Ein-satz sind. Bei 30 Prozent halten wir das nicht ein, weil esSpezialisten sind, die länger gebraucht werden; dennohne sie ist das System nicht durchhaltefähig bzw. be-treibbar.Uns ist das sehr wohl bewusst. Wir haben vor allemmit Blick auf die Soldatinnen und Soldaten auch inner-halb der CDU/CSU-Fraktion sehr um unsere Zustim-mung zu diesem Mandat gerungen. Wir halten gegen-wärtig den Einsatz für notwendig und gerechtfertigt. Wirwerden ihm auch zustimmen. Wir werden das aber auchin Zukunft aufmerksam verfolgen. Die Soldatinnen undSoldaten können sich sicher sein, dass wir sie nicht in ei-nem Einsatz belassen, den wir nicht für sinnvoll und not-wendig halten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierungzur Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscherStreitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftvertei-digung der NATO auf Ersuchen der Türkei. Dazu liegenmir mehrere persönliche Erklärungen nach § 31 unsererGeschäftsordnung vor.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/3859, den Antrag der Bundes-regierung auf Drucksache 18/3698 anzunehmen. Wirstimmen über diese Beschlussempfehlung namentlichab.Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze an den Abstimmungsurnen ein-zunehmen. – Jetzt sehe ich, dass alle Abstimmungsurnenvorschriftsmäßig besetzt sind. Damit eröffne ich die na-mentliche Abstimmung über die Beschlussempfeh-lung. – Gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen hierim Haus, die oder der abstimmen möchte, dies aber nochnicht getan hat? – Ich sehe, dass alle Kolleginnen undKollegen ihre Stimmkarte abgegeben haben. Ich schließedamit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. DasErgebnis der namentlichen Abstimmung wird später be-kannt gegeben.2)1) Anlagen 8 und 92) Ergebnis Seite 7842 C
Metadaten/Kopzeile:
7840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes SchuldrechtsanpassungsgesetzesDrucksache 18/2231Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Einen Än-derungswunsch kann ich nirgendwo entdecken. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Dr. Katarina Barley das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Das Schuldrechtsanpassungsgesetzist ein sehr emotionales Thema. Hinter diesem sperrigenTitel verbirgt sich das Anliegen, zwei sehr verschiedeneRechtssysteme zusammenzuführen. Das Gesetz stammtaus dem Jahr 1994 und hat ein klares Ziel. Es sollte dieNutzungsverhältnisse betreffend Grundstücke aus DDR-Zeiten in das Miet- und Pachtrecht des Bürgerlichen Ge-setzbuches überleiten. Das ist zugegebenermaßen eineziemlich schwierige, aber auch eine wichtige Aufgabe.Im 25. Jahr des vereinten Deutschlands sollten parallelbestehende Rechtsordnungen langsam der Vergangen-heit angehören.
Es ging 1994 im Wesentlichen um Datschengrundstü-cke, Garagen und Campinggrundstücke. Bezüglich derGaragen hat sich 1999 die Rechtslage erledigt. DenCampinggrundstücken wird sich nachher mein Kollegewidmen. Ich werde mich im Wesentlichen auf die Dat-schen beschränken. Wichtig ist, zu sagen, dass es dabeinicht um die ostdeutschen Kleingärten geht; das ist einweitverbreiteter Irrtum. Diese fallen schon lange unterdas Bundeskleingartengesetz. Hier geht es ausdrücklichum die sogenannten Datschen.Bei der Betrachtung dieses Gesetzes stehen sich na-turgemäß zwei Interessen gegenüber. Das sind auf dereinen Seite die Datschennutzer. Nach DDR-Recht warendie damaligen Pachtverhältnisse faktisch unkündbar. DiePächter haben viel Zeit und Arbeit in ihre Datschen ge-steckt. Deshalb ist dieses Thema logischerweise sohochemotional. Auf der anderen Seite stehen die Grund-stückseigentümer, deren Interessen sehr vielfältig seinkönnen. Im Vergleich zum Rechtssystem der DDR hatdas Eigentum im gesamtdeutschen Rechtssystem einenanderen, einen höheren Stellenwert. Es wird in Arti-kel 14 des Grundgesetzes garantiert. Seit der Wiederver-einigung gilt das grundsätzlich auch für die Erholungs-grundstücke auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz hat der Ge-setzgeber versucht, diese beiden widerstreitenden Inte-ressen in Ausgleich zu bringen. Ich finde, dass das sehrumsichtig gelungen ist. Es wurde ein weitgehender Kün-digungsschutz vereinbart. Bis zum 31. Dezember 1999waren ordentliche Kündigungen ausgeschlossen. Seitdem 1. Januar 2000 sind solche Kündigungen nur in ei-nigen Fällen zulässig, zum Beispiel bei Eigenbedarf oderdann, wenn eine geplante andere Nutzung nach Bebau-ungsplan erfolgen soll. Wer am 3. Oktober 1990 60 Jahreoder älter war, kann seine Datsche bis zum Lebensendenutzen. Nutzungsentgelte wurden begrenzt. Für die Ent-schädigung wurde eine sehr differenzierte Regelung ge-funden. Abbruchkosten müssen die Nutzer frühesten ab2022 tragen, also 32 Jahre nach der deutschen Einheitund 27 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes.Was wir auch haben, ist eine Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts aus dem Jahr 1999. Die spielt indiesem Zusammenhang eine ziemlich große Rolle; denndas Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass im Gro-ßen und Ganzen, mit einigen Ausnahmen, dieser Aus-gleich der Interessen gelungen ist, aber dass eben diePrivilegierung der Nutzer gegenüber den Eigentümernzeitlich befristet sein muss und dass diese Befristungauch verlässlich sein muss.Der Bundesrat möchte nun an zwei Stellen eine Ände-rung dieses Gesetzes erwirken. Erstens soll der Kündi-gungsschutz um drei Jahre, bis zum 3. Oktober 2018,verlängert werden. Dazu muss man jetzt natürlich sagen:Das heißt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt die Leute ihreDatschen verlassen müssen, sondern dass ab diesemZeitpunkt eine ordentliche Kündigung ausgesprochenwerden kann, natürlich nicht muss. Wir gehen deshalbdavon aus, dass bei den meisten ohnehin alles beim Al-ten bleiben wird; denn die Eigentümer, die Eigenbedarfgeltend machen wollten, oder die Eigentümer derGrundstücke, deren Nutzung sich insgesamt veränderthat, die konnten bereits seit dem Jahr 2000 kündigen.Zweitens möchte der Bundesrat die Regelungen zuden Abbruchkosten ändern. Er möchte, dass diese Kos-ten nur bei grober Unbilligkeit – das soll also auf Härte-fälle beschränkt werden – von den Nutzern getragenwerden sollen. Das soll generell auch nach 2022 gelten,im Unterschied zur bisherigen Rechtslage.Diese Sonderregelung gegenüber dem BürgerlichenGesetzbuch würde also fortgeschrieben. Dabei müssenwir aber wirklich berücksichtigen, dass viele Grund-stückseigentümer Kommunen sind. Wenn wir sehen, wieviele Grundstücke teilweise einzelnen Kommunen zufal-len, dann würden die ostdeutschen Kommunen damit fi-nanziellen Belastungen ausgesetzt, die wir heute nochgar nicht absehen können.Ich möchte deshalb festhalten, dass die Verschiebungdes Kündigungszeitpunkts um drei Jahre uns in drei Jah-ren wieder vor dasselbe Problem stellen würde, dieseVerschiebung also inhaltlich nicht wirklich etwas bringt.Daraus ergeben sich vor allen Dingen Zweifel an derVerfassungsmäßigkeit, weil gemäß der vom Bundesver-fassungsgericht geforderten verlässlichen Rechtspositionder Eigentümer irgendwann nach 25 Jahren wissen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7841
Dr. Katarina Barley
(C)
(B)
muss, wann er sein Grundstück wird nutzen können.Dieser Position kommt also ein verfassungsrechtlich ge-schützter Rang zu.
Alle Fristen im Schuldrechtsanpassungsgesetz sindseit 1994 bekannt. Sie haben die Ausgewogenheit der In-teressen zwischen Nutzern und Eigentümern sicherge-stellt. Deshalb sehen wir keine Notwendigkeit, dasSchuldrechtsanpassungsgesetz zu ändern.Vielen Dank.
Von der Fraktion Die Linke aus der Mitte des Bundes-
rats benannt, hat jetzt Herr Landesminister Dr. Helmuth
Markov das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf hat derBundesrat mit überwältigender Mehrheit – das möchteich Ihnen gerne sagen, weil hier Regierungen unter-schiedlichster Couleur vertreten sind – beschlossen, dasSchuldrechtsanpassungsgesetz neu auszutarieren. ImMittelpunkt – das hat meine Vorrednerin gesagt – stehtein Phänomen, das es nur in Ostdeutschland gibt. Es be-trifft die sogenannten Datschengrundstücke.Die Grundstückseigentümer und die Nutzer haben vorder Wende Vereinbarungen über Erholungsgrundstückegetroffen. Damit ist den Nutzern ein sehr weitreichendesRecht, eine schutzwürdige Position eingeräumt worden.Anders als bei den gewöhnlichen Miet- und Pachtverträ-gen der DDR war der nach diesen Regeln geschlosseneNutzungsvertrag im Prinzip nahezu unkündbar. Deswe-gen, weil es so war, war der Nutzer auch berechtigt, dasGrundstück mit eigenen Mitteln zu bebauen, und er er-warb an den Baulichkeiten sogar ein gesondertes Gebäu-deeigentum. Das darf man nicht vergessen. Regelmäßighaben dann die Nutzer, natürlich im Vertrauen darauf,dass sie im Prinzip unkündbar sind, mit hohem finanziel-lem und persönlichem Einsatz Bauten auf den Wochen-endgrundstücken errichtet. Das sind die sogenanntenDatschen.Die Aufgabe des Schuldrechtsanpassungsgesetzes –das ist schon gesagt worden – war und ist es, diese spezi-fischen, nach DDR-Recht begründeten Nutzungsver-träge in bundesdeutsches Recht überzuleiten. Dabei giltes – es stimmt –, den widerstreitenden Interessen zwi-schen Nutzern und Grundstückseigentümern zu einemgerechten Ausgleich zu verhelfen.Warum hat sich nun der Bundesrat 20 Jahre danachentschlossen, den Kompromiss, der 1994 vereinbartwurde, nachzubessern? Zum einen sollen die Kündi-gungsschutzfristen – das ist gesagt worden – um dreiJahre verlängert werden, nämlich bis zum 3. Oktober2018, und zum anderen ist die Frage der Abbruchkostenneu zu bewerten.Die Problematik, mit der wir es dabei zu tun haben,besteht ganz einfach darin, dass sich der damalige Ge-setzgeber – vielleicht waren einige von Ihnen nochdabei – hat von einer Prognose leiten lassen, die besagte,dass im Jahre 2015 der Bedarf an Datschennutzungennicht mehr in dem Maße bestehen wird, weil es ein ver-ändertes Freizeitverhalten der Bürger der ehemaligenDeutschen Demokratischen Republik gibt und weil na-türlich auch eine zunehmende berufliche Mobilität dazubeiträgt, dass viele Leute am Wochenende ihre Datschenicht mehr nutzen werden.Aber die Lebenswirklichkeit hat gezeigt: Es ist an-ders. Nach wie vor gibt es ungefähr eine halbe MillionNutzer von Datschengrundstücken in Ostdeutschland.Das bedeutet, dass die Nutzung dieser Grundstücke auchheute noch einen besonderen sozialen Stellenwert hat. InAnbetracht dessen hat der Bundesrat beschlossen, einenGesetzentwurf vorzulegen, nach dem der Kündigungs-schutz für drei Jahre verlängert werden soll.
In diesem Gesetzentwurf wird außerdem die Beteili-gung an den Abbruchkosten neu geregelt. Erinnern Siesich: Damals ist eine sehr fragwürdige Regelung getrof-fen worden; allein schon an den Zahlen kann man dasnachvollziehen. Diese Regelung besagt nämlich: Wennein Vertrag bis Anfang Oktober 2022 endet, dann trägtder Grundstückseigentümer alle Abbruchkosten. Wennein Vertrag zwischen Oktober 2022 und Ende Dezember2022 endet, dann werden die Abbruchkosten hälftig ge-teilt. Wenn ein Nutzer sein Grundstück ab 2023 abgibt,dann muss er ganz allein die Abbruchkosten tragen. –Das erscheint dem Bundesrat nicht nachvollziehbar undauch nicht begründbar.Diese Regelung ist misslungen. Deshalb sagt derBundesrat: Die Abbruchkosten sollen dem Grundstücks-eigentümer grundsätzlich übertragen werden. Es gibtAusnahmen, etwa für den Fall, dass ein Gebäude nichtmehr genutzt wird, da es in einem allzu schlechten Zu-stand ist. Das hat auch deswegen einen Sinn, weil mitdem Übergang des Grundstücks auch das Gebäude desNutzers, das er mit seinen eigenen Mitteln errichtet hat,auf den neuen Grundstückseigentümer übergeht. Er hatalso einen Wertzuwachs.Es ist angesprochen worden, dass es verfassungs-rechtliche Bedenken gibt. Ich glaube, diese verfassungs-rechtlichen Bedenken bezüglich der Privatnützigkeit desEigentums überzeugen nicht; denn die Privatnützigkeitbleibt auch in Zukunft gewährleistet; sie wird überhauptnicht angegriffen. Die bestehenden Kündigungsmöglich-keiten des Eigentümers, insbesondere für den Fall, dasser das Grundstück für den eigenen Bedarf, etwa zuWohnzwecken, nutzen will, bleiben bestehen; sie wer-den durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-wurfes nicht verändert. Darüber hinaus kann der Eigen-tümer, wenn er es will, auch heute schon dieNutzungsentgelte entsprechend den ortsüblichen Entgel-ten beanspruchen.Insofern bitte ich Sie, ernsthaft zu überprüfen, ob Siediesem Gesetzentwurf, der – ich wiederhole es – imBundesrat eine absolut überwältigende Mehrheit bekom-
Metadaten/Kopzeile:
7842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Minister Dr. Helmuth Markov
(C)
men hat, nicht doch Ihre Zustimmung geben können. Ichfinde, das wäre 25 Jahre nach dem Mauerfall ein Zei-chen für ein gutes Zusammenwachsen von Ost und West.Danke schön.
Herr Landesminister Dr. Markov, vielen Dank. – Be-vor der Kollege Steineke das Wort erhält, darf ich dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelteErgebnis der letzten namentlichen Abstimmung über denAntrag „Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deut-scher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luft-verteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und aufGrundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidi-gung“, Drucksachen 18/3698 und 18/3859, bekannt ge-ben: abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt503, mit Nein haben gestimmt 70, Enthaltungen 7. DieBeschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;davonja: 503nein: 70enthalten: 7JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannVeronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtReiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinJulia ObermeierFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois Rainer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7843
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Dr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenAlbert RupprechtAnita Schäfer
Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Patrick SchniederDr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblThomas StritzlMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeAngelika GlöcknerUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Marcus HeldWolfgang HellmichGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzJosip JuratovicThomas JurkJohannes KahrsChristina KampmannGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeAxel Schäfer
Marianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteEwald SchurerStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja Dörner
Metadaten/Kopzeile:
7844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
(C)
(B)
Katharina DrögeDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekKatja KeulSven-Christian KindlerTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischIrene MihalicBeate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnMarkus TresselJürgen TrittinDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsNeinSPDUlrike BahrKlaus BarthelDr. Ute Finckh-KrämerCansel KiziltepeHilde MattheisDr. Hans-JoachimSchabedothSwen Schulz
Waltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmWolfgang GehrckeNicole GohlkeDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachSusanna KarawanskijKerstin KassnerJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUwe KekeritzMonika LazarPeter MeiwaldLisa PausCorinna RüfferHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDMarco BülowPetra Hinz
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHarald EbnerMaria Klein-SchmeinkÖzcan MutluDr. Harald TerpeDr. Julia VerlindenIch erteile jetzt das Wort dem Kollegen SebastianSteineke, CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder ehemaligen DDR – wir haben es gehört – konntendie Bürgerinnen und Bürger nach den Regeln des ZGBNutzungsverträge über Bodenflächen zu anderen persön-lichen Zwecken als zu Wohnzwecken abschließen, dienahezu unkündbar waren. Wir reden hier allein vonGrundstücken, die zur kleingärtnerischen Nutzung oderzur Erholung oder Freizeitgestaltung dienen, den soge-nannten Datschengrundstücken.Im Zuge der Wiedervereinigung – Sie haben es gehört –musste man den Fortbestand dieser Rechtsverhältnisseselbstverständlich neu regeln. Ziel war es dabei, eine an-gemessene Überleitung in das Miet- und Pachtrecht desBGB der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten.Mit dem Schuldrechtsanpassungsgesetz ist das aus unse-rer Sicht hervorragend gelungen.Sinn und Zweck des Gesetzes war von Anfang an dieSchaffung eines geeigneten Interessenausgleichs zwi-schen den Rechtspositionen von Nutzer und Eigentümer.Ziel der Regelungen ist aber auch die schrittweise Her-stellung der Rechtseinheit in unserem Land für derartigeNutzungsverträge auf dem Gebiet des Miet- und Pacht-rechts. Hierfür sieht das Schuldrechtsanpassungsgesetz,wie mehrfach gehört, bislang eine 25-jährige Vertrauens-schutzregelung vor sowie eine 32-jährige Investitions-schutzregelung im Bereich der Tragung der Abrisskos-ten.Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates willzum einen die Kündigungsschutzfrist um drei Jahre ver-längern und zum anderen eine praktisch vollständige Be-freiung der Nutzer von der Beteiligung an den Abriss-kosten für die Bauwerke erreichen. Meine Damen undHerren, aus unserer Sicht sind die aktuellen Regelungenvöllig ausreichend, und daher können wir der Argumen-tation des Bundesrates auch nicht folgen.
Ich möchte aber gern noch ein paar Dinge im Detailerläutern. Erlauben Sie mir zuvor noch eine Bemerkungzu dem Hinweis des Landesministers zur Beschlussfas-sung des Bundesrates. Pünktlich vor den Landtagswah-len im letzten Jahr, pünktlich vor den Landtagswahlen in
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7845
Sebastian Steineke
(C)
(B)
Sachsen, Brandenburg und Thüringen – und damit inBundesländern, in denen die Bürger am meisten davonbetroffen sind –, kam dieser Gesetzentwurf wie Kai ausder Kiste; so könnte man sagen. Dieser Gesetzentwurfhatte also von Anfang an auch das klare Ziel, Wahl-kampf zu machen, nicht mehr und nicht weniger.
– Genau so ist es gewesen. Der Zeitpunkt spricht Bände.Natürlich ist das Anliegen der betroffenen Nutzer imGrunde nachvollziehbar; das ist gar keine Frage.
Jedoch gehören zu Vertragsverhältnissen immer zweiSeiten, nicht nur eine. Auch die Eigentümer mussten aufdie Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgesetzesvertrauen können, nicht nur die Nutzer.Mit Ablauf der Kündigungsschutzfrist in diesem Jahrist nunmehr ein Vierteljahrhundert vergangen. Nutzerund Eigentümer konnten sich in dieser Zeit auf das be-vorstehende Auslaufen der Frist einstellen und haben inder Regel auch Dispositionen und Vorbereitungen ge-troffen. Eine weitere Verlängerung der Kündigungs-schutzfrist würde insoweit für die Betroffenen auf bei-den Seiten negative Folgen nach sich ziehen.
Im Übrigen: Was verspricht sich der Urheber des Ent-wurfs, das Land Brandenburg, von einer weiteren Ver-längerung um drei Jahre? Warum sollten die jetzt herr-schenden Tatsachen in drei Jahren andere sein? Daserschließt sich aus der schlichten Begründung, dass die– ich zitiere – Interessenlage für den betroffenen Perso-nenkreis weitgehend fortbesteht, in keiner Weise. Auchin drei Jahren würden wir uns genau die gleichen Fragenwie heute stellen. Es drängt sich daher der Eindruck auf,dass schlussendlich eine andauernde Spaltung derRechtslage in Ost und West geplant ist.
Ein zweiter wesentlicher Punkt des Gesetzentwurfs– neben der Verlängerung der Kündigungsschutzfrist –ist die faktisch vollständige Befreiung der Nutzerinnenund Nutzer von den Abrisskosten für die von ihnen er-richteten Bauwerke. Bislang besteht für die Nutzergrundsätzlich keine Pflicht zur Beseitigung. Erst nachAblauf einer 32-jährigen Investitionsschutzfrist habendie Nutzer bei einer Kündigung durch den Eigentümernach dem 3. Oktober 2022 die Hälfte der Abrisskostenzu tragen. Zu diesem Zeitpunkt haben sich die Kostender Nutzer vollständig amortisiert, meine Damen undHerren.Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Befrei-ung der Nutzer von der Kostentragungspflicht vor. Le-diglich in Fällen unbilliger Härte soll eine Kostenbeteili-gung der Nutzer in Betracht kommen. Nach unseremheute geltenden Miet- und Pachtrecht müssen die Nutzerbei Vertragsbeendigung das Grundstück in dem Zustandzurückgeben, in dem sie es erhalten haben. Mit der vor-gesehenen Regelung würde allein der Eigentümer fürden Abriss aufkommen. Es drohen erhebliche finanzielleBelastungen für den Eigentümer, bei denen es sich imÜbrigen mehrheitlich um unsere Kommunen handelt.Wir beraten in diesem Hause regelmäßig, wie wir un-sere Kommunen entlasten, und das wird auch immerwieder gerade von den Linken gefordert. Dieses Gesetzhätte nun mitunter schwerwiegende finanzielle Folgenfür die Städte und Kommunen und würde unser weiteresBestreben nach kommunaler Entlastung vollständig kon-terkarieren.
Eine einseitige Kostenabwälzung auf die Grund-stückseigentümer kann und darf nicht der Ansatz sein.Das hat im Übrigen auch das Bundesverfassungsgerichtbereits im Jahr 1999 festgestellt. 25 Jahre nach der Wie-dervereinigung ist den Grundstückseigentümern einefreie wirtschaftliche Nutzung und Verwertung ihrerGrundstücke nach wie vor verwehrt. Dass dies ab dem3. Oktober 2015 wieder möglich sein wird, ist dahermehr als geboten.Der Gesetzentwurf sieht im Übrigen eine Ausnahmebei der Kostentragung durch den Eigentümer bei Vorlie-gen einer sogenannten unbilligen Härte vor. In der Ge-setzesbegründung werden beispielhaft genannt:Fälle …, in denen Abbruchkosten im Verhältniszum Verkehrswert … unverhältnismäßig hoch sindoder der Nutzer durch unterlassene Instandhaltungdes Bauwerks die Ursache für die erforderliche Be-seitigung der Anlage gesetzt hat …Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese Billigkeitsklauselwird in der Praxis schlicht ins Leere laufen.
Es wird zu zahlreichen Prozessen kommen, die eine Klä-rung bezüglich Vorliegen einer unbilligen Härte herbei-führen sollen. Das bedeutet nicht nur eine zu erwartendeFlut an entsprechenden Klagen, sondern gefährdet auchden inneren sozialen Frieden in den betroffenen Gebie-ten, den Sie mit diesem Gesetzentwurf gerade fördernwollen.
Auch diese Ausnahmeregelung führt nicht zu einem an-gemessenen Interessenausgleich.Schon nach jetziger Rechtslage sind die Nutzer imVerhältnis zu anderen privilegiert. Das Tragen der hälfti-gen Abbruchkosten tritt erst ab dem 3. Oktober 2022 ein.Dies war schon während der Gesetzesberatungen 1994lediglich ein Kompromiss. Hinzuweisen ist auch auf denvielfach stattgefundenen Nutzerwechsel in den vergan-genen Jahren. In Bezug auf die neuen Nutzer besteht erstrecht kein Handlungsbedarf. Gerade diese konnten sichauf die aktuelle und geltende Rechtslage bestens einstel-len.
Metadaten/Kopzeile:
7846 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Sebastian Steineke
(C)
(B)
Wir haben natürlich alle im Vorfeld unserer parlamen-tarischen Beratungen viele Gespräche zu diesem nichteinfachen Thema geführt, auch mit Nutzerinnen undNutzern. Hier gibt es interessante Aussagen, die mansich durchaus anhören sollte.Es gibt durchaus Nutzer – und das sind nicht wenige –,die, sei es aus Alters- oder aus wirtschaftlichen Gründen,ein erhebliches Interesse daran haben, dass das Nut-zungsverhältnis jetzt beendet wird. Bei einer eigenenKündigung müssten sie sich nach der geltenden Rechts-lage an den Abrisskosten beteiligen. Werden sie aller-dings vom Eigentümer nach dem 3. Oktober 2015 ge-kündigt, trägt der Nutzer nach der jetzigen Rechtslagekeine Abbruchkosten. Mit der vom Bundesrat vorge-schlagenen Billigkeitsklausel könnte dies jedoch auf ein-mal der Fall sein. Insbesondere drohen zusätzlich unge-wollte Gerichtsprozesse, die zeitaufwendig und teuerwerden, um in diesen Fällen das Vorliegen einer unbilli-gen Härte feststellen zu lassen. Das ist insoweit eineklare Schlechterstellung im Vergleich zur bisherigenRechtsprechung. Sie tun demnach mit diesem Gesetzent-wurf vielen Nutzerinnen und Nutzern keinen Gefallen.Zuletzt sollte man – es ist schon darüber gesprochenworden – noch einmal deutlich darauf hinweisen, dasswir auch starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit desEntwurfs haben.
Wir haben hier einen sehr hohen Eingriff in das Eigen-tumsrecht nach Artikel 14 Grundgesetz, durch den diesoziale Bindung des Eigentums massiv gedehnt wird.Das Bundesverfassungsgericht hat sich vor 16 Jahren,1999, in einer Entscheidung bereits mit dem Gesetz be-fasst. Es hat damals klar zum Ausdruck gebracht, dassdie Kündigungsschutzregelungen, insbesondere die Ein-schränkungen des Kündigungsschutzrechts durch denEigentümer, bis zu dem heutigen Zeitpunkt gerade nochmit dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Pri-vatnützigkeit und Verfügungsfreiheit des Eigentums ver-einbar sind. Daraufhin sind abgestufte Kündigungsmög-lichkeiten in Kraft getreten; Kollegin Barley hat daraufhingewiesen. Weiterhin hat das Bundesverfassungsge-richt verfassungskonforme Auslegungen angemahnt.Wenn man dies im Zusammenspiel mit den im Gesetz-entwurf geplanten Abbruchkostenregelungen sieht, istaus unserer Sicht erkennbar, dass ein solches Gesetznicht verfassungsgemäß wäre. Wir können auch dahernicht zustimmen.Im vergangenen Jahr haben wir das 25-jährige Jubi-läum des Mauerfalls gefeiert. 2015 jährt sich auch diedeutsche Wiedervereinigung zum 25. Mal. Die Über-gangsregelungen waren richtig und notwendig, doch ir-gendwann ist es weder sachgerecht noch zeitgemäß, dieHerstellung der Rechtseinheit zu blockieren.
Aus den vorgenannten Gründen können wir dem Gesetz-entwurf nicht zustimmen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als am 20. September 1990 der Einigungs-vertrag durch Volkskammer und Deutschen Bundestagangenommen wurde, haben wohl nur die wenigsten Dat-schenbesitzer in der ehemaligen DDR darüber nachge-dacht, wem das kleine Stück Land gehört, auf dem sieihre Feierabend- oder Wochenendidylle geschaffen hat-ten. Noch weniger dieser Datschenbesitzer werden sichausgemalt haben, dass die Frage sie auch noch über dasJahr 2015 hinaus beschäftigen wird.Die Eigentumsordnungen von DDR und Bundesrepu-blik waren und sind nicht leicht zusammenzuführen. ImGrundgesetz und im Bürgerlichen Gesetzbuch ist das Ei-gentumsrecht als starke individuelle Rechtsposition aus-gestaltet. Dies kann man von den in der Rechtsordnungder damaligen DDR vorherrschenden Eigentumsvorstel-lungen nicht gerade sagen. Vorrang hatte nach der Ver-fassung der Deutschen Demokratischen Republik immerdas sozialistische Eigentum. Alle anderen Eigentumsfor-men mussten sich dem unterordnen.
Die Erbauer der Datschen hatten das Grundstück, aufdem ihr kleines Wochenendhaus stand, in der Regelnicht eigentumsrechtlich erworben, sondern lediglichzur Nutzung überlassen bekommen. Das bedeutete imreal existierenden Sozialismus jedoch eine de facto ei-gentumsrechtliche Stellung. Im Vertrauen auf den Fort-bestand des Sozialismus oder zumindest der DDR habensie daher mitunter viel Mühe und vergleichsweise hoheInvestitionen in ihre Wochenendhäuser gesteckt. Mit derEinheit wurde dieses stark ausgeprägte Nutzungsrecht,zumindest aus der Perspektive des BGB, vom Kopf aufdie Füße gestellt. Der Eigentümer einer Sache oder einesGrundstückes konnte jetzt mit diesem grundsätzlich soverfahren, wie es ihm beliebt.Den Übergang von der starken Stellung des Nut-zungsrechts hin zum übergeordneten Eigentumsrecht zuvollziehen, ist Aufgabe des Schuldrechtsanpassungsge-setzes von 1994. Der dort vorgesehene Kündigungs-schutz in § 23 endet allerdings am 3. Oktober 2015.Dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesratesliegt die Befürchtung zugrunde, dass mit dem Ablauf derKündigungsschutzfrist viele Eigentümerinnen und Ei-gentümer von ihrer Kündigungsmöglichkeit Gebrauchmachen werden und damit auf die Datschenerrichter dievon ihnen als ungerecht empfundene Kostentragungs-pflicht zukommen könnte. Entschließt sich nämlich derEigentümer nach der Beendigung des Nutzungsverhält-nisses zur Beseitigung des einst vom Nutzer errichteten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7847
Katja Keul
(C)
(B)
Gebäudes, so kann er von diesem unter bestimmten Vo-raussetzungen die Hälfte der Abbruchkosten verlangen.Die besondere Kündigungsschutzfrist soll um dreiJahre bis zum 31. Oktober 2018 verlängert werden, unddie Pflicht des Nutzers zur Übernahme der Abbruch-kosten soll generell nur noch auf Härtefälle, sogenanntegrobe Unbilligkeiten, beschränkt sein. Da fragt man sichnatürlich schon, ob das nicht zu mehr Rechtsunsicherheitführt als bisher.
Was ein Härtefall und was eine Unbilligkeit ist – damuss ich dem Kollegen von der Union recht geben –,werden wohl in der Regel erst die Gerichte entscheidenmüssen.Eine ausgewogene Regelung zu haben, die die Rechteund Pflichten der Eigentümer und Nutzer gut ausbalan-ciert, ist zweifelslos erstrebenswert. Jedoch muss mansich auch bewusst sein, dass es nicht möglich ist, sowohlEigentümer – in dem Fall häufig die Kommunen – alsauch Nutzer zu begünstigen. Eine endgültige Regelungwird zwangsläufig irgendwann irgendjemand belasten.Die Frage ist nur, wann dieser Zeitpunkt eintreten soll.Es ist ja richtig, dass den hohen finanziellen Aufwen-dungen bei der Datschenerrichtung Rechnung getragenwerden muss. Deswegen gibt es ja das Schuldrechtsan-passungsgesetz. Die Nutzer werden aber auch in dreiJahren höchstwahrscheinlich noch dieselben sein. Esstellt sich dann die Frage, wie oft die Frist in Zukunft er-neut verlängert werden muss, um den getätigten Investi-tionen der Nutzer ordnungsgemäß Rechnung zu tragen.Es ist wichtig, eine endgültige Regelung zu schaffen,auf die sich die Datschennutzer einstellen können, umRechtssicherheit und Rechtsklarheit zu schaffen. Dieverschiedenen Fristen, die für die Frage der Übernahme-pflicht von Abbruchkosten gelten sollen, sind in der Tatnur für Spezialisten aus dem Gesetz herauszulesen. Hierwäre durchaus mehr Rechtsklarheit wünschenswert.Wir werden diesen Fragen in den anstehenden Aus-schussberatungen nachgehen und prüfen, ob der hiervorgelegte Vorschlag wirklich der Weisheit letzterSchluss ist. Aber die Härte, mit der die Union den Ge-setzentwurf heute an dieser Stelle ablehnt, überraschtmich schon ein bisschen; denn die Bundesregierung hatdem Gesetzentwurf des Bundesrates eine Stellungnahmebeigefügt, in der eigentlich eine relativ offene Positionvertreten wird. Dort wird zumindest betont:Die Bundesregierung ist sich des Stellenwertes be-wusst, den diese der Erholung dienenden Grund-stücke im Beitrittsgebiet für die Nutzerinnen undNutzer haben. Die Grundstücke wurden mit hohemfinanziellem und persönlichem Einsatz bebaut undgepflegt. Dem Interesse der Nutzerinnen und Nut-zer am Fortbestand dieser Nutzungsverhältnissestehen die schutzwürdige Rechtsposition derGrundstückseigentümerinnen und -eigentümer …gegenüber. Vor diesem Hintergrund wird die Bun-desregierung prüfen, ob und inwieweit dem Begeh-ren … Rechnung getragen werden kann.Ich frage Sie an dieser Stelle, ob das alles schon erle-digt ist und Sie sich schon entschieden haben. So hat essich vorhin jedenfalls angehört. Wir werden die Sachejedenfalls noch einmal ergebnisoffen prüfen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Stefan Zierke, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Reiseverhaltenhat sich geändert. Da gebe ich Ihnen recht. Ich möchteIhnen auch erläutern, wie es sich gerade hier in diesemBereich geändert hat. Früher sind viele aus Sachsen,Thüringen und dem heutigen Sachsen-Anhalt zu Cam-pingplätzen nach Brandenburg und Mecklenburg-Vor-pommern gefahren, um dort Erholung zu finden. Sie ha-ben dort Dauercampingplätze – damals mit Verträgenaus der DDR – gemietet und konnten da das ganze Jahrlang Urlaub machen. Das Reiseverhalten hat sich geän-dert. Heute kommen deren Kinder auf diese Camping-plätze.Wie ist die Situation heute auf den Campingplätzen?Das Reiseverhalten hat sich so geändert, dass meistensdie Kinder wirklich dorthin reisen, wo ihre Eltern Urlaubmachten. So finden sie heute auf unseren Campingplät-zen eine Zweiklassengesellschaft vor. Es gibt nämlichdie Dauercampingplatzbesitzer, die diesen Dauercam-pingplatz zu DDR-Recht, zu DDR-Mark und zu DDR-Konditionen erworben haben, und es gibt die Dauercam-pingplatzbesitzer, die ihn nach neuem Recht, nach demBGB, gemietet haben: schnell kündbar und zu anderenKonditionen.
– Ja, Sie rufen „Datschen“ herein, liebe Kollegin vonden Linken; da müssen Sie einmal genau schauen. Auchdiese Campingplätze sind im Sinne des Gesetzes „Dat-schen“. Ich will nur die Betroffenheit in diese Richtunglenken, damit Sie wissen, wem Sie mit diesem Gesetzauch wehtun.Diese Datschen – ich nenne es jetzt Datschen; dieKollegen wissen ja, dass wir über Dauercampingplätzereden –
sind der Punkt, an dem Ungerechtigkeit herrscht undkeine Rechtssicherheit besteht. Campingplätze müsseneigenwirtschaftlich geführt werden, sie sind im kommu-
Metadaten/Kopzeile:
7848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Stefan Zierke
(C)
(B)
nalen Besitz, sie sind in privatem Besitz. Die Camping-platzbesitzer wissen, dass sie nach 25 Jahren mit diesenDauercampingplätzen neu wirtschaften können. Für Siezur Information: Dauercampingplätze sind kleineGrundstücke, auf denen kleine Wagen stehen. Zugleichkann man die Infrastruktur des Campingplatzes nutzen:Toilette, Sicherheit, Bäder – all diese Einrichtungen.Dauercampingplatzbesitzer, die noch unter dieses Gesetzfallen, bezahlen heute im Durchschnitt 100 Euro. Dauer-campingplatzbesitzer, die nicht unter dieses Gesetz fal-len, zahlen circa 1 000 Euro. Das heißt also: Die eineGruppe subventioniert für die andere Gruppe all die ge-nannten Einrichtungen. „Ist das gerecht?“, frage ich jetztdie Linke. Ich finde, es ist nicht gerecht und auch nichtrechtssicher.
Was soll man einem Campingplatzinhaber sagen? Bisheute war das Recht, dass er eine Investition tätigenkonnte. Er konnte überlegen: Okay, bis zu dem Zeit-punkt ist Rechtssicherheit durch Bundesgesetz gegeben,und dann kann ich neu verhandeln. – Wenn wir dem Ge-setzentwurf zustimmen, sagen wir: Lieber Camping-platzbesitzer, Pustekuchen, wir verlängern noch einmaldrei Jahre. Drei weitere Jahre finanzieren die einen dieanderen mit.Jetzt zur Betroffenheit. Wir können gemeinsam zu ei-nem Campingplatz gehen und zwei Campingstellplätzeähnlicher Couleur betrachten.
– Richtig, danke schön der Kollegin von den Grünen:Das ist Zweiklassengesellschaft. – Wir können zusam-men auf den Campingplatz gehen und uns fragen, ob esgerecht ist, dass das gut situierte Rentnerpaar für denCampingplatz 100 Euro im Jahr bezahlt und die vierköp-fige Familie mit einem Einkommen, die sich davon Ur-laub leistet, 1 000 Euro bezahlt. Ist das gerecht, dass dievierköpfige Familie 1 000 Euro zahlt und das Rentner-paar 100 Euro? Wenn Sie der Meinung sind, dass das ge-recht ist, dann müssen wir das Gesetz ändern. Wenn Sieder Meinung sind, dass es nicht gerecht ist, sollten Sie indem Fall die Finger davon lassen und damit Rechtssi-cherheit herstellen, Betriebswirtschaftlichkeit für Cam-pingplätze sichern und Gerechtigkeit im Blick auf dasReiseverhalten der ostdeutschen Bürger wiederherstel-len. Dann wären wir zusammen. Das wäre die Lösung.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Hinter dem Titel „Änderung des Schuld-rechtsanpassungsgesetzes“ verbirgt sich in der Tat dierechtliche Abwicklung von Tausenden Wochenend- oderDatschengrundstücken auf dem Gebiet der ehemaligenDDR.Es geht aber um viel mehr als nur um Freizeitgrund-stücke. Es geht bei der heutigen Debatte um zwei zen-trale Fragen der Rechtspolitik. Diese möchte ich aufzei-gen. Die erste Frage ist: Wie geht der Gesetzgeber imEigentumsgrundrecht mit dem Spannungsfeld zwischendem Anspruch des Nutzers auf weitere Nutzung unddem Wunsch des Eigentümers auf wirtschaftliche Ver-wertung des Grundstücks um? Die zweite Frage ist: Wiegelingt es uns im Jahre 25 nach Vollendung der deut-schen Einheit, Rechtssicherheit und Rechtseinheit in ei-nem Bereich zu erlangen, in dem sie noch nicht erlangtwurden?
Ich verhehle nicht, dass im Bereich der Datschen-grundstücke die Lebenswirklichkeit der ehemaligenDDR abgebildet wurde. Aber zur rechtlichen Lebens-wirklichkeit der DDR gehörte auch eine sozialistischorientierte Bodenpolitik, die durch den Einigungsvertragrevidiert wurde. Es ging darum, sozialistische Bodenver-hältnisse in Verhältnisse des bürgerlichen Rechts zuüberführen. Dies ist ein wichtiges Ziel.
Die lange Kündigungsfrist von 25 Jahren dient dazu,diesen Übergang sozial abgemildert und in Form einesInteressenausgleichs zwischen allen Beteiligten zu er-möglichen.Der Bundestag selbst hat sich in den vergangenen Le-gislaturperioden mit diesen Kündigungsfristen beschäf-tigt. Der Bundestag hat sich sehr wohl Gedanken überdie Frage gemacht: Wie kann dieses Spannungsverhält-nis aufgelöst werden? – Die getroffene Regelung, die ei-nen Kündigungsschutz von 25 Jahren nach der deut-schen Einheit vorsieht, ist eine sehr gute Regelung. Ichmeine, das ist eine Regelung, an der wir nichts ändernsollten.Das Verfassungsgericht hat selbst gesagt: Die Kündi-gungsfristen dürfen nicht überspannt werden. Mit IhrerRegelung überspannen Sie diese Kündigungsfristen. Esgibt, meine Damen und Herren, auch keinen sachlichenGrund, ausgerechnet drei Jahre anzunehmen. Wiesonicht zwei oder vier Jahre?
Wenn man neun Monate vor Ablauf einer Frist ohnesachlichen Grund durch eine rechtliche Regelung in be-stehende Rechtsverhältnisse eingreifen will, dann führtdas zu Rechtsunsicherheit. Das ist mit uns nicht zu ma-chen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7849
Dr. Volker Ullrich
(C)
(B)
Auch die Neuregelung bei den Abbruchkosten wecktjuristische Bedenken. Die bisherige Regelung sieht eineArt Schutzfrist von 32 Jahren vor; das ist, wie ich meine,eine ausreichende und ordentliche Frist. Sie müssen sichvor Augen führen, dass das bürgerliche Recht eine abso-lute Verjährungsfrist von 30 Jahren vorsieht. Hier habenSie sogar eine Kostentragungspflicht von 32 Jahren. Wa-rum wollen Sie noch weiter über diese Frist von 30 Jah-ren hinausgehen? Das ist mit Rechtssicherheit nicht zuvereinbaren.Sie setzen unbestimmte Rechtsbegriffe an die Stelleeiner klaren Regelung. Wer soll denn entscheiden, was„angemessen“ bedeutet? Wer soll entscheiden, was„grobe Unbilligkeit“ ist? Das sind Fragen, die Sie denGerichten anheimstellen. Sie treiben so die Bürger derehemaligen DDR, die ein entsprechendes Grundstückhaben, in Gerichtsverfahren. Sie schaffen für diese Bür-ger Rechtsunsicherheit. Das hat mit sozialem Friedenund mit deutscher Einheit nichts zu tun. Sie spalten; Sieführen nicht zusammen.
Meine Damen und Herren, die Verwirklichung derdeutschen Einheit im Bereich des Zivilrechts ist einStein im Gesamtgefüge der gelungenen Geschichte derdeutschen Wiedervereinigung der letzten 25 Jahre. Wirsollten in den Bereichen, zum Beispiel im Zivilrecht, indenen es Rechtsunterschiede gibt, diese Unterschiedeaufheben und zu einer einheitlichen Regelung kommen.Diesem Anspruch trägt der Gesetzentwurf nicht Rech-nung. Deswegen werden wir ihn ablehnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2231 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Regionalisierungsgesetzes
Drucksache 18/3785
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Regionalisierungsgesetzes
Drucksache 18/3563
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner für die Bundesregierung der Parlamentarische
Staatssekretär Enak Ferlemann. – Bitte schön, Herr
Staatssekretär.
E
Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Verehrte Landesminister, schön, dass Sieauch einmal an einer Debatte des Deutschen Bundesta-ges teilnehmen.
Wir bringen als Bundesregierung heute den Entwurf ei-nes Dritten Gesetzes zur Änderung des Regionalisie-rungsgesetzes ein.Bevor wir uns nachher wahrscheinlich wie die Kes-selflicker um das Geld streiten, möchte ich für die vielenZuschauerinnen und Zuschauer ein wenig erläutern, wo-rum es bei dem Regionalisierungsgesetz inhaltlich geht.Im vergangenen Jahr haben wir das 20-jährige Jubiläumder Bahnreform gefeiert. Die Bahnreform war – das lässtsich wohl ohne Übertreibung behaupten – eines dergrößten Reformprojekte in der Geschichte der Bundesre-publik Deutschland. Neben der Änderung des Grundge-setzes wurden damals sieben neue Gesetze erlassen so-wie sage und schreibe 130 weitere Gesetze geändert.Inhaltlich fußte die Bahnreform auf drei Grundprinzi-pien: Umwandlung von Bundes- und Reichsbahn in eineprivatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft desBundes, die DB AG, Schaffung eines diskriminierungs-freien Zugangs zum Eisenbahnnetz für private Eisen-bahnunternehmen, die sogenannte Öffnung des Marktes,und Übertragung der Zuständigkeit für den Schienenper-sonennahverkehr auf die Bundesländer, einschließlichder finanziellen Verantwortung, die sogenannte Regio-nalisierung.Die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre hat ge-zeigt, dass sich dieser politische und organisatorischeKraftakt wahrlich gelohnt hat. Nach Jahren des Nieder-gangs mit kontinuierlich sinkenden Marktanteilen erlebtder Schienenverkehr seitdem einen enormen Auf-schwung. Ohne die anderen Teile der Bahnreformgeringschätzen zu wollen, behaupte ich, dass die Über-tragung der Planungs-, Organisations- und Finanzie-rungsverantwortung für den Schienenpersonennahver-
Metadaten/Kopzeile:
7850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
(C)
(B)
kehr auf die Bundesländer zum 1. Januar 1996 und dieSchaffung einer finanziellen Grundlage durch die Regio-nalisierungsmittel zentrale Elemente der Erfolgsge-schichte der Bahnreform sind.
Aus dem Mineralölsteueraufkommen des Bundes er-halten die Länder seitdem auf Grundlage des Regionali-sierungsgesetzes jährliche Beiträge zur Finanzierung derVerkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr, diesie aber zum Teil auch investiv zur Verbesserung des öf-fentlichen Personennahverkehrs einsetzen können. Al-lein im Zeitraum von 2008 bis 2014 erhielten die Länderauf diesem Weg knapp 50 Milliarden Euro. Allein 2014flossen insgesamt rund 7,3 Milliarden Euro vom Bundan die Länder – eine sagenhafte Summe.Der Bund schafft also die Voraussetzungen, indem erdie finanziellen Mittel zur Verfügung stellt. Auf Landes-ebene bzw. in der Region wird dann entschieden, wiediese Mittel sinnvoll eingesetzt werden können, wie deröffentliche Verkehr vor Ort, in der Region oder auch län-derübergreifend bedarfsgerecht gestaltet werden kann.Darüber hinaus wird die Verwendung der Mittel über dieTransparenznachweise
– na ja, im weitestgehenden Sinne sind es Transparenz-nachweise –, die die Länder seit 2008 erbringen, belegt.
Meine Damen und Herren, die durch die Regionali-sierung eingeführte Arbeitsteilung zwischen Bund undLändern hat sich bewährt. Die Zugkilometer im Schie-nenpersonennahverkehr konnten um über 28 Prozentund die Verkehrsleistung in Personenkilometern um über50 Prozent gesteigert werden. Besseres Material, neueFahrzeugflotten sowie integrierte Taktfahrpläne habenzudem dafür gesorgt, dass es beim Komfort und bei derQualität des Angebots einen Quantensprung gegebenhat.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-regierung – das betone ich ausdrücklich – hat ein ele-mentares Interesse daran, die mit der Regionalisierungverbundene Erfolgsgeschichte weiter fortzuschreiben.Zum einen ist und bleibt ein bedarfsgerechtes Angebotim Schienenpersonennahverkehr ein zentrales Elementder Daseinsvorsorge, zu dem sich die Bundesregierungganz ausdrücklich bekennt. Zum anderen ist ein bedarfs-gerechtes Angebot im Schienenpersonennahverkehrauch aus ökonomischen und ökologischen Gesichts-punkten ein Gebot der Stunde. Unsere Gesellschaft undauch das Mobilitätsverhalten der Menschen haben sichdeutlich verändert. Von den Menschen wird heute mehrberufliche Mobilität erwartet, gleichzeitig können undwollen viele Menschen diesen gesteigerten Erfordernis-sen nicht mehr ausschließlich mit dem Auto nachkom-men. Deswegen ist ein attraktiver Schienenpersonennah-verkehr in den Ballungsräumen und genauso natürlich inder Fläche ein unverzichtbarer Bestandteil für den Wirt-schaftsstandort Deutschland.Um die Mittel auf den zukünftig zu erwartenden Be-darf ausrichten zu können, ist gemäß § 5 Absatz 5Regionalisierungsgesetz für den Zeitraum ab 2015 eineNeufestsetzung vorgesehen. Diese anstehende Revisionder Regionalisierungsmittel tangiert nach Auffassungder Bundesregierung aber auch in erheblichem Maße dieBund-Länder-Finanzbeziehungen auf grundsätzliche Artund Weise. Daher ist die Bundesregierung der Auffas-sung, dass diese Revision im Rahmen der Reform derBund-Länder-Finanzbeziehungen beraten und beschlos-sen werden soll.Mit der heutigen Vorlage eines Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzessollen die bisher geltenden Regelungen des Gesetzes umein Jahr fortgeschrieben werden. Damit ist sichergestellt,dass die Mittel auch 2015 um 1,5 Prozent dynamisiertwerden. Den Ländern steht unter diesen Voraussetzun-gen für 2015 insgesamt ein Betrag von rund 7,4 Milliar-den Euro zu. Das sind rund 100 Millionen Euro mehr, alsursprünglich im Haushaltsgesetz 2015 vorgesehen.
Die Bundesregierung demonstriert damit ihre Bereit-schaft, den schienengebundenen Personennahverkehrweiterhin bedarfsgerecht auszustatten, ohne den laufen-den Beratungen und Verhandlungen über die Bund-Län-der-Finanzbeziehungen entscheidend vorgreifen zu wol-len.Nun hat auch der Bundesrat einen Gesetzentwurf vor-gelegt. Dazu kann man sagen: Wenn ich unter den Bun-desländern Streit über die Verteilung der Mittel habe, istes einfach, dem Bund links tief in die Tasche zu greifenund rechts tief in die Tasche zu greifen, sodass alle mitdem Mehr, was verteilt wird, zufrieden sind.
Das ist nicht besonders intelligent. Für die Länder ist esvielleicht gut, aber es ist sehr teuer für den Bund. Vondaher werden wir das Problem so nicht lösen können.Gleichwohl wollen wir uns gerne an den Diskussionenbeteiligen.Ich hoffe, dass wir den Entwurf, den wir vorgelegt ha-ben und der ein gutes Gesetz beinhaltet, zügig im Parla-ment beraten, damit die Verkehrsdienstleister in diesemJahr das ihnen zustehende Geld und auch die Erhöhungder Mittel bekommen. Ich hoffe auch, dass wir in diesemJahr eine Regelung finden, die eine dauerhafte Finanzie-rung des schienengebundenen Personennahverkehrs inDeutschland zur Freude aller Beteiligten sicherstellt.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7851
(C)
(B)
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Sabine Leidig, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Wir reden heute über die Finanzierung des
öffentlichen Nahverkehrs. Das ist ein wirklich bedeuten-
der volkswirtschaftlicher Sektor: Ein Drittel der Bevöl-
kerung nutzt täglich Bus oder Bahn, und 500 000 Be-
schäftigte sind im Einsatz, damit die Bürgerinnen und
Bürger auf diese Weise mobil sein können. Hohe Le-
bensqualität in den Städten, Klimaschutz und Mobilität
für alle sind Ziele, die nur mit mehr und besserem
ÖPNV erreicht werden können.
Eine ganz wesentliche Säule zur Finanzierung sind
die Regionalisierungsmittel, über die jetzt hier gestritten
wird, die der Bund an die Länder überweist und die sie
insbesondere – das ist im Gesetz so festgelegt – für den
Schienennahverkehr zu verwenden haben. 20 Jahre lang
galt das Regionalisierungsgesetz fast unverändert. Es ist
2014 planmäßig ausgelaufen. Jetzt ist immer noch un-
klar, wie es weitergehen soll. Die ganze künftige Finan-
zierung des ÖPNV ist unsicher. Ich finde, dies ist ein
echtes Armutszeugnis für den amtierenden Verkehrs-
minister Dobrindt, aber auch für seinen Vorgänger Herrn
Ramsauer. Sie haben sich wahlweise mit Nummernschil-
dern, mit Flensburg-Punkten oder mit einer Auslän-
dermaut beschäftigt, aber diese zentrale verkehrspoliti-
sche Aufgabe haben Sie bis heute nicht gemeistert.
Die Beschäftigten, die Kommunen und rund 11 Mil-
liarden Fahrgäste pro Jahr erwarten eine dauerhafte und
auskömmliche Finanzierung des gesamten ÖPNV, und
das mit Recht. Die Bundesländer haben einen Vorschlag
vorgelegt, wie die Verteilung der Mittel sinnvoller orga-
nisiert werden kann, und das ist gut so. Der große Streit
zwischen Bund und Ländern geht allerdings um die Er-
höhung der Regionalisierungsmittel und um die Zuver-
lässigkeit. Darüber werden die anwesenden Minister si-
cherlich gleich noch mehr erzählen. Nur so viel: Die
Regierung will 7,4 Milliarden Euro zahlen – das haben
Sie gerade gesagt –, aber in dem Gutachten, dass der
Bund selber in Auftrag gegeben hat, wird ein Bedarf von
7,7 Milliarden Euro festgestellt. Das sind 300 Millionen
Euro mehr. Die Länder weisen in ihrem Gutachten nach,
dass 8,5 Milliarden Euro nötig sind, damit die Preisstei-
gerungen ausgeglichen werden können und Geld für
dringend notwendige Investitionen da ist. Mit diesen
Fragen werden wir uns in der Anhörung im Verkehrsaus-
schuss am 23. Februar dieses Jahres intensiv beschäfti-
gen.
Wir als Linke sind der Meinung: Das reicht nicht.
Mehr Geld ist notwendig. Es ist nötig, dass Geld in den
Regionen vorhanden ist, damit der Schienenverkehr er-
halten und ausgebaut werden kann. Aber wir brauchen
auch Qualitätsstandards und -kriterien für einen guten
öffentlichen Nahverkehr für alle und dafür, wie gute Ar-
beitsbedingungen für die Beschäftigten verankert wer-
den können.
Die Allianz pro Schiene hat eine schöne Broschüre
veröffentlicht, in der sie 13 Beispiele für im Nahverkehr
sehr erfolgreiche Bahnen vorstellt. Darin werden die Zu-
taten für Erfolgsrezepte ganz explizit genannt: Investi-
tionen in Haltestellen, Gleise und Bahnhöfe, ein dichter
Fahrplan, gute Anschlüsse, hochwertige Fahrzeuge, ein-
fache Preis- und Tarifsysteme, Kundenorientierung, re-
gionale Verankerung der Unternehmen und – das möchte
ich ergänzen – gute Arbeitsbedingungen für die Beschäf-
tigten. Daran sollte die Politik anknüpfen und solche
Qualitätsstandards vereinbaren, wenn wieder über die
Regionalisierungsmittel gesprochen wird.
Schließlich möchte ich noch etwas zu der Frage, wo-
her das Geld kommen soll, sagen. Ich teile ja nicht das
Mantra von der sogenannten Schwarzen Null. Denn
wenn Sie heute nicht die U-Bahn-Tunnel in Berlin sanie-
ren, weil Geld gespart werden soll, dann werden Sie in
10 oder 20 Jahren gar nicht mehr U-Bahn fahren können,
weil das ganze System abrissreif ist. Allerdings könnten
Sie auch einfach mehr Geld einnehmen. Herr Schäuble
verzichtet jedes Jahr auf 7 Milliarden Euro, weil Diesel
und damit der Lkw-Verkehr steuerlich begünstigt wer-
den. Hinzu kommen rund 10 Milliarden Euro, die nicht
eingenommen werden, weil der Flugverkehr im Hinblick
auf Kerosin und Mehrwertsteuer begünstigt wird. Wa-
rum das? Warum immer noch so viele klimaschädliche
Subventionen? Das ist völlig unverständlich.
Die Linke steht für Umverteilen und Gerechtigkeit,
auch im Verkehrsbereich. Deshalb schlagen wir vor, den
Lkw- und Flugverkehr schrittweise so zu besteuern, wie
es bei der Bahn schon heute der Fall ist, und zwar zu-
gunsten von öffentlicher Mobilität, zugunsten von Um-
welt- und Klimaschutz.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Lan-
desminister von Schleswig-Holstein, Reinhard Meyer. –
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Bun-destag liegen zwei Gesetzentwürfe zur Revision der Re-gionalisierungsmittel vor: der Gesetzentwurf der Bun-desregierung und der Gesetzentwurf der Länder. Es wirdSie kaum verwundern, welchen Vorschlag ich für denbesseren halte, nämlich den der Länder.
Metadaten/Kopzeile:
7852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Minister Reinhard Meyer
(C)
(B)
Die Länder haben dem Gesamtkompromiss zur Bahn-reform vor mehr als 20 Jahren nur unter der Bedingungzugestimmt, dass die mit der Regionalisierung verbun-denen Lasten voll ausgeglichen werden. Dies ist aberschon lange nicht mehr der Fall. Besonders die Stations-und Trassenpreise der Deutschen Bahn AG steigen seitJahren deutlich stärker als die Dynamisierung der Regio-nalisierungsmittel.Aus gutem Grunde beinhaltet das Regionalisierungs-gesetz eine Revisionsklausel. So kann in regelmäßigenAbständen überprüft werden, ob die bisherigen Mittelnoch auskömmlich sind. Seit 2008 – Herr Ferlemann hatdarauf hingewiesen – liefern die Länder zudem Transpa-renznachweise. Deswegen geht der Vorwurf, der gele-gentlich aus dem BMF zu hören ist, ins Leere: Wir alsLänder legen alles offen.Die Länder haben sich frühzeitig mit der anstehendenRevision auseinandergesetzt. Sie haben in einem Gut-achten transparent und nachvollziehbar dargestellt, wel-che Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr inDeutschland zukünftig zur Verfügung stehen müssen,damit Umfang und Qualität des Angebots erhalten blei-ben. Ergebnis: Wir benötigen eine Aufstockung auf8,5 Milliarden Euro jährlich. Um Planungssicherheit imHinblick auf die langfristigen Verträge und Investitionenzu bekommen, brauchen wir eine Festschreibung dieserMittel für die nächsten 15 Jahre sowie angesichts weite-rer Kostensteigerungen einen jährlichen Aufwuchs ummindestens 2 Prozent. Darüber hinaus benötigen wiraber – das dürfte unser gemeinsames Interesse sein –eine gemeinsame Anstrengung, um bei den Stations- undTrassenpreisen mehr Kosteneffizienz zu erreichen.Die Länder haben sich auch mit der horizontalen Ver-teilung intensiv befasst; denn wir wollen die Mittel dentatsächlichen Bedarfen anpassen. Dazu mussten einigeLänder etwas abgeben, andere gewannen etwas hinzu.16 berechtigte Einzelinteressen mussten in der Verkehrs-ministerkonferenz unter einen Hut gebracht werden.Deswegen sind wir als Verkehrsminister der Länder stolzdarauf, dass es uns gemeinsam geglückt ist, als Kompro-miss den sogenannten Kieler Schlüssel zu finden. Ichglaube, manche – auch von Ihnen hier im Bundestag –haben immer darauf gehofft, dass die Länder sich nichtüber den horizontalen Verteilungsschlüssel einigen wer-den; aber dies ist geschehen.Umso unverständlicher ist es, meine Damen und Her-ren, dass die Bundesregierung so lange braucht, um ihreHausaufgaben zu machen. Die im Koalitionsvertrag ver-sprochene zügige Einigung mit den Ländern hat leidernicht begonnen. Ein Gutachten des Bundes ließ langeauf sich warten, jetzt liegt es vor. Vielmehr beabsichtigtdie Bundesregierung mit dem von ihr eingebrachten Ge-setzentwurf, die Revision der Regionalisierungsmittel,wie ich es formulieren muss, ein wenig auf die langeBank zu schieben und die Finanzierung des Nahverkehrserst im Rahmen der Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu zu ordnen. Ich sage sehr deut-lich: Die Bahnreform hatte nie etwas mit der Bund-Län-der-Finanzordnung zu tun. Es ist falsch, zu warten – dasdauert auch zu lange –; denn die Länder brauchen jetztPlanungssicherheit.Wir reden bei den Regionalisierungsmitteln über eineErfolgsgeschichte: Die Betriebsleistung im Schienenper-sonennahverkehr wurde in 18 Jahren bundesweit voneinst rund 490 Millionen auf heute 650 Millionen Zug-kilometer gesteigert – ein Zuwachs um ein Drittel. Vorallem qualitativ hat sich einiges getan. Diese Erfolgsge-schichte der Regionalisierungsmittel sollte unbedingtfortgeschrieben werden.Stattdessen droht Folgendes: Einige Länder werdenbald Verkehrsleistungen abbestellen müssen, wenn dienötigen Mittel nicht vorhanden sind. Viele Länder stehenzudem unmittelbar davor, neue langfristige Verkehrsver-träge auszuschreiben. Aber wie soll das gehen ohne dienotwendige Planungssicherheit? Eine Verschlechterungdes Bahnangebots führt automatisch zu einer Verlage-rung hin zum motorisierten Individualverkehr, geradewenn die Benzin- und Dieselpreise so niedrig bleiben.Ich frage Sie: Wollen wir das? Ich sage ganz klar: Nein,meine Damen und Herren.
Der Bundesverkehrsminister verweist auf das BMF.Gleichzeitig hören wir, es soll in allen Zügen WLAN ge-ben. Das können wir gerne machen, meine Damen undHerren – wenn es denn auch mehr Regionalisierungsmit-tel gibt. Insofern ist dieser Wunsch sicherlich ein gutesArgument, mehr Regionalisierungsmittel zur Verfügungzu stellen.Zum Thema „Schwarze Null“ muss ich sagen: Siewerden die Schwarze Null halten können, weil das, washier finanziert wird, wie ursprünglich bestimmt, ja auchaus dem Energiesteueraufkommen bezahlt wird. Ichhalte das für finanzierbar, auch was die Wünsche derLänder angeht.Meine Damen und Herren, ich glaube, dass der bun-desdeutsche Föderalismus immer dann stark ist, wenn erauf Kooperation setzt. Bei den Regionalisierungsmittelnliegen alle Fakten auf dem Tisch. Lassen Sie uns also so-fort anfangen – ich sage: sofort –, miteinander zu reden,miteinander zu verhandeln! Wir Länder sind dazu bereit.Wir wollen die Erfolgsgeschichte des Nahverkehrs inDeutschland fortschreiben.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Lan-
desminister Winfried Hermann, Baden-Württemberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich freue mich, dass ich nach dreieinhalb Jahrenhier zum ersten Mal wieder sprechen darf. Es ist ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7853
Minister Winfried Hermann
(C)
(B)
wichtiges Thema: Es geht nicht nur, wie angekündigt,um Länderinteressen, sondern es geht um die Zukunftdes Schienenpersonennahverkehrs – um nicht mehr undauch nicht weniger. Es geht auch nicht darum, ob dieLänder mehr Geld haben wollen, sondern es geht darum,wie viel Geld wir zur Finanzierung des Schienenperso-nennahverkehrs einsetzen.Mein Kollege hat es soeben angesprochen: Die Bahn-reform war insgesamt ein Erfolgsprojekt. Aber dasgrößte Erfolgsprojekt der Bahnreform war die Regiona-lisierung, die Übertragung der Zuständigkeit für denNahverkehr auf die Länder. Die Länder haben mit demGeld, das über Jahre sehr auskömmlich vom Bund ge-kommen ist, ein gutes Angebot im Nahverkehr gemacht.Das hat dazu geführt, dass zunehmend mehr Menschenmit dem Zug zur Arbeit fahren, dass man also denÖPNV wirklich nutzt. Wir haben bessere Züge, wir ha-ben bessere Takte, es ist wirklich ein deutlich besseresAngebot als vor zwanzig Jahren.Deswegen können wir auch sagen: Wir haben einengroßen Erfolg zu vermelden. Beispielsweise Baden-Württemberg hat 60 Prozent mehr Fahrgäste als nochvor 15 Jahren.
Alle Länder – Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen,wo auch immer – können diese Belege vorweisen. Aberdas ist natürlich nicht aus dem Nichts gekommen, son-dern kommt daher, dass wir investiert und auskömmli-che Mittel bekommen haben, um Züge zu bestellen.Genau das ist jetzt gefährdet. Das betrifft nicht nurden Bestand, sondern auch die Chance auf Ausbau.Auch der Bund bzw. auch diese Koalition will ja etwasfür den Klimaschutz und zur Staubekämpfung tun. Wennman dies will, dann muss man auch den öffentlichenPersonennahverkehr, insbesondere den Schienenperso-nennahverkehr, ausbauen.
Meine Damen und Herren, die Große Koalition, ins-besondere der Finanzminister, verweist dieses Projektimmer in die Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Das ist,mit Verlaub, grottenfalsch.
In den 90er-Jahren ist die Bahnreform durchgeführtund zugleich das Grundgesetz geändert worden, undzwar unabhängig von den Bund-Länder-Finanzbezie-hungen. Man hat eine neue Zuständigkeit und eine neueFinanzierungsgrundlage geschaffen; ich verweise aufArtikel 106 a Grundgesetz. In diesem Zusammenhangist der Bund verpflichtet, den Ländern eine auskömmli-che Finanzierung zur Verfügung zu stellen. Das ist dieWahrheit, das ist der Punkt, um den es geht, und ebennicht um die Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Ich erspare mir jetzt verfassungsrechtliche Texte, diedas noch einmal untermauern; aber ganz eindeutig ist derBund verpflichtet, die Länder auskömmlich auszustat-ten. Dessen sind Sie sich ja durchaus bewusst. Nur, Siepokern. Aber Sie pokern nicht gegenüber den Ländern,sondern Sie pokern gegenüber den Kunden des Nahver-kehrs, gegenüber den Menschen, die im Alltag pendelnmüssen. Die Züge sind übervoll oder müssen abbestelltwerden.
Das, was der Bund jetzt den Ländern anbietet – eineVerlängerung der bisherigen Regelung um ein Jahr beigleichen Bedingungen –, das ist für manche der Spatz inder Hand. Ich sage Ihnen aber: Das ist Spatzendreck inder Hand. Denn die Situation für die Länder ist ja völliganders. Wir sind in einer ganz prekären Situation.Nur damit Sie sich das einmal klarmachen, beschreibeich Ihnen die Situation in Baden-Württemberg – andereLänder haben vergleichbare Situationen –: Wir müssenim Laufe des nächsten Jahres im Volumen von etwa10 Milliarden Euro Nahverkehrsnetze ausschreiben –10 Milliarden Euro! Wir müssen Verträge machen, diemindestens 8, 10, 15 Jahre laufen; denn Kurzverträgesind extrem teuer, sie würden uns und den Bund sehrteuer zu stehen kommen. Wir können doch jetzt nichteinfach die Ausschreibung abbrechen. Übrigens: DieCDU im Land treibt mich, dass ich noch schneller ma-che. Eigentlich müsste ich sagen: Stillhalten. Ich weißgar nicht, ob ich Geld bekomme. Welche prekäre Situa-tion haben Sie geschaffen, obwohl Sie seit 15 Jahrenwissen, dass dieses Gesetz rechtzeitig hätte novelliertwerden müssen!
Der Bund selbst ist sich offenbar gar nicht bewusst,was er tut. Denn auf der einen Seite sagen Sie, es istrechtlich alles in Ordnung. Wir haben aber diese Wochevom Finanzministerium den Hinweis bekommen: Siebekommen Geld, aber wir zahlen nur unter Vorbehalt. –Stellen Sie sich einmal vor, wir würden als Länder dieDB unter Vorbehalt bezahlen. Dann würde die sagen:Pfeifendeckel, dann fahren wir nicht mehr!Also, welche Situation haben Sie geschaffen – das istdoch völlig absurd –, nur weil Sie pokern wollen, weilSie glauben, wenn Sie alles in einen Topf schmeißen,werden Sie am Ende weniger bezahlen müssen! Aberdas können die Länder nicht akzeptieren. Wir könnendas nicht puffern. Die Länder haben nicht die Möglich-keit, das auszufinanzieren, was Aufgabe des Bundes ist.Dazu sind wir nicht in der Lage.
Metadaten/Kopzeile:
7854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Minister Winfried Hermann
(C)
(B)
Das hat übrigens auch etwas mit den Kosten zu tun.
Beim Bund haben manche noch das Bewusstsein, esherrschten bei den Regionalisierungsmitteln die Zu-stände wie vor Jahren. Da war es so: Man hatte phasen-weise auskömmlich viel Mittel. Aber dann sind im Rah-men der Koch/Steinbrück-Liste die Mittel über fünfJahre gekürzt worden. Darunter leiden wir heute noch.Die Mittel sind schon lange nicht mehr auskömmlich.Wir haben Preissteigerungen beim DB-Infrastrukturun-ternehmen von fast 40 Prozent. Das, was wir zusätzlichbekommen haben, war deutlich weniger.Wir zahlen heute – das müssen Sie sich einmal vor-stellen – 55 Prozent der Regionalisierungsmittel direktan das DB-Unternehmen für Infrastruktur. Mit anderenWorten: Nicht die Länder greifen dem Bund in die Ta-sche, sondern die Länder finanzieren die Infrastrukturdes Bundes.
Daraus nimmt der Bund übrigens in den letzten Jahrennoch die Rendite für seinen Haushalt. Das ist die Wahr-heit; so ist die Situation.
Wenn wir als Länder mit einem eigenen Gutachtenbelegen, was wir brauchen, dann tun wir das nicht, weilwir einfach mehr Geld wollen, sondern dann tun wir das,weil wir meinen, der Verkehr muss zukunftsfähig ausge-baut werden. Wir brauchen mehr Züge, bessere Züge,bessere Qualität, wenn wir in der Konkurrenz mit demAuto mithalten wollen.Insofern haben die Länder einen guten und gut be-gründeten Gesetzentwurf vorgelegt, der übrigens nichtüber die Maßen ausgestaltet ist. Übrigens: Der Vorschlagdes Bundes wird noch nicht einmal mit dem eigenenGutachten begründet. In dem eigenen Gutachten werdenja mehr Ausgaben gefordert, als der Bund uns vor-schlägt.Meine Damen und Herren, Sie haben hier also nocheiniges zu tun. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Länderkönnen Ihr Angebot nicht annehmen. Wenn Sie wollen,dann werden wir das Vermittlungsverfahren suchen. Wirkönnen aber auch gerne zusammen eine bessere Lösungfinden.Ich sage Ihnen: Die Forderung von 8,5 MilliardenEuro nach 15 Jahren ist kein übergriffiger Wunsch, son-dern gut begründet. Dass wir uns zusammengeschlossenund gesagt haben: „Wir verteilen unter den Ländernneu“, war solidarisch. Sie müssen wissen: Wir wolltennicht, dass Länder im Osten Züge abbestellen müssen.Das wäre die Konsequenz, wenn wir hierfür nicht mehrMittel bekommen würden. Das ist eben so!Das Land Baden-Württemberg zahlt schon in diesemJahr 100 Millionen Euro drauf, damit wir keine Züge ab-bestellen müssen. Verlangen Sie das einmal von armenostdeutschen Ländern! Diese können dann nur Züge ab-bestellen.Wer also Verantwortung hat, der muss jetzt springenund endlich etwas für den Schienenpersonennahverkehrtun. Sie hatten jahrelang Zeit dafür. Mindestens zweiKoalitionen haben dieses Thema verpennt. Jetzt wird esallerhöchste Zeit. Regeln Sie das!Wir, die Länder, sind bereit. Wir wollen eine gute Lö-sung, und ich glaube, wir haben einen guten Vorschlaggemacht.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Im Dezember haben wir über die 20-Jahres-Bilanz derBahnreform debattiert. In dieser Debatte hier knüpfenwir mit den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen un-mittelbar an die Debatte im Dezember an.Auf die Inhalte der Reform ist ja schon hingewiesenworden: Die Verantwortung für den Schienenpersonen-nahverkehr ging vom Bund auf die Länder über. Sie warbeim Bund ordnungspolitisch eigentlich immer falschangesiedelt. Das hatte etwas mit der Bundesbahn als mo-nopolistisches Unternehmen zu tun. Ich erinnere michdaran, dass schon Hans Matthöfer als Finanzminister ge-sagt hat, dass es eigentlich ein Unding sei, wie das gere-gelt ist. Das haben wir dann mit der Bahnreform korri-giert.
Aber natürlich haben die Länder die Verantwortungnicht ohne finanzielle Begleitmusik übernommen. Manmuss für jeden Verständnis haben, der für seine Sachemit Leidenschaft eintritt, vor allem dann, wenn es darumgeht, die finanziellen Mittel zu erhöhen.Viele sagen – das ist heute schon gesagt worden –, dieRegionalisierung des SPNV sei im Ergebnis der erfolg-reichste Teil der Bahnreform gewesen. Das sehe ich ähn-lich, aber natürlich sehe ich noch weitere positive Ef-fekte der Bahnreform.Die bestellten Zugkilometer im SPNV konnten bisheute um 28 Prozent und die Verkehrsleistung, also diePersonenkilometer, um über 50 Prozent gesteigert wer-den. Nutzten vor 20 Jahren 4 Millionen Fahrgäste täg-lich die Nahverkehrszüge, so sind wir im Moment bei7 Millionen. Das ist eine dynamische Entwicklung undeine höchst erfreuliche Steigerung.Die Veränderungen kommen bei den Fahrgästen an:verbesserte, ausgeweitete Angebote bei Bahnen und Bus-sen, vernetzte Taktsysteme, neue Strecken und Stationen,modernere Fahrzeuge, regional integrierte Tarifsysteme,ein verbesserter Service, kundengerechtere Informatio-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7855
Dirk Fischer
(C)
(B)
nen und inzwischen auch immer mehr elektronische undmobile Ticketangebote.Zur Finanzierung gibt der Bund einen hohen Milliar-denbetrag aus, der jährlich um 1,5 Prozent gesteigertworden ist. So war die bisherige Regelung. Wir wissen,wo wir im Moment sind, nämlich bei 7,3 MilliardenEuro.Von der letzten Anpassung des Regionalisierungsge-setzes im Jahr 2008 bis 2012 hat der Bund hierfür insge-samt 34,5 Milliarden Euro ausgegeben. Dies ist ausSicht des Bundes sicherlich ein sehr starkes Engagementin diesem Bereich.
Damit die Länder ihre Aufgaben als Besteller desNahverkehrs auch zukünftig erfüllen können, brauchensie natürlich weiterhin eine verlässliche finanzielle Un-terstützung. Ich denke, in diesem Punkt sind wir uns alleeinig.Natürlich sollte das Gesetz bis 2014 reformiert wer-den. Dazu ist es nicht gekommen, weil es im Bund-Län-der-Finanzverhältnis mehrere Baustellen gibt. Auf deranderen Seite muss man natürlich auch sehen, dass derFinanzminister sagt, er müsse alles verhandeln. Der einegibt hier mal nach, der andere ist dort weiter vorn. Auchandere zur Verhandlung stehende Dinge, die, Herr Kol-lege Hermann, genauso berechtigt sind, können von ih-rer Entwicklung und von ihrer Verpflichtung her als be-sonders begründet dargestellt werden.
Lieber Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Abgeordneten Hajduk von Bündnis 90/
Die Grünen?
Jederzeit, natürlich.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Kollege Fischer, Sie kennen ja die
äußerst positive Entwicklung in Form einer enormen
Auslastung im öffentlichen Nahverkehr bei uns in Ham-
burg, aber auch – das ist dargestellt worden – in den an-
deren Regionen. Sie haben gerade gesagt: „Ich denke,
wir sind uns da alle einig“, als Sie über die Entwicklung
der Regionalisierungsmittel gesprochen haben.
Darf ich diese Einigkeit so verstehen, dass Sie den
Antrag der Länder plausibel finden? Darf ich Sie auch so
verstehen, dass die schon abgelaufene Frist zur Anpas-
sung des entsprechenden Gesetzes nahelegt, dass wir für
die Entwicklung in diesem Bereich bei den Regionalisie-
rungsmitteln schnell eine Zusage brauchen und dass vom
materiellen Kern her eine deutliche Erhöhung angemes-
sen ist?
Frau Kollegin Hajduk, natürlich hat der Bund die For-derung nach 8,5 Milliarden Euro nicht akzeptiert. Da-rüber wird jetzt verhandelt. Da muss ein Weg gefundenwerden, sich zu verständigen.Die Länder haben gesagt – das hat der Staatssekretärdargestellt –: Wir wollen ein System, bei dem im Rah-men der horizontalen Prüfung niemand etwas verliert,sondern alle gewinnen. Dann hat man zusammengerech-net und ist auf die Zahl von 8,5 Milliarden Euro gekom-men. Das kann aber aus der Sicht des Bundes nicht dasEntscheidende sein, sondern der Bund muss seine eigenePosition vertreten. Das wird in den Verhandlungen zwi-schen Bund und Ländern auch geschehen müssen.
– Dass wir als Verkehrspolitiker ein gutes und schnellesErgebnis positiv bewerten würden, braucht man nicht zuunterstreichen. Aber die Verhandlungen müssen geführtwerden.
Ich will darauf hinweisen, dass die Länder ihre Wün-sche im Gesetzentwurf des Bundesrates formuliert ha-ben; das haben wir zur Kenntnis genommen. Dabei ginges um die Anpassung des Betrags auf 8,5 MilliardenEuro, die Erhöhung der Dynamisierungsrate, die Über-nahme des Risikos von Steigerungen der Stations- undTrassenpreise zusätzlich durch den Bund über die Dyna-misierungsrate hinaus, eine Laufzeit der Neuregelungbis 2030 und die Vereinbarung einer notwendigen Revi-sion im Jahre 2026.Ich denke, dass aus der Sicht des Bundes erheblichefinanz- und haushaltspolitische Bedenken gegen den Ge-setzentwurf des Bundesrates bestehen. Für den Bundwürde das eine jährliche Mehrbelastung von über 1 Mil-liarde Euro bedeuten, ein Betrag, bei dem die Dynami-sierung noch gar nicht eingerechnet worden ist. Daswürde die Finanzplanung des Bundes sicherlich ein biss-chen durcheinanderbringen.
Die Länder sollten im Hinblick auf eine Einigung na-türlich auch bedenken, dass der Bund in der Verantwor-tung steht, Haushalte ohne neue Schulden zu machen.Diese Vorgabe verfolgen wir alle mit großem Ernst, unddabei muss es bleiben.
Deswegen, Herr Minister Meyer: Kooperation ja, selbst-verständlich; aber bitte immer in beide Richtungen undnicht nach dem Motto: Beim Geld hört die Freundschaftauf. Ich glaube, da müssen wir im Sinne von Geben undNehmen vernünftig miteinander umgehen und uns aufei-nander zu bewegen.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesre-gierung soll die Gültigkeit des bestehenden Gesetzes nurals eine Zwischenlösung um ein Jahr verlängert werden.Damit wird die notwendige Zeit gewonnen, um eine
Metadaten/Kopzeile:
7856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dirk Fischer
(C)
(B)
langfristige Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten le-ben können. Außerdem erhöhen wir – das ist dargestelltworden – für 2015 auf der Grundlage der jetzigen Dyna-misierungsrate von 1,5 Prozent die Mittel um 109 Mil-lionen Euro. Ich kann den Ländern nur empfehlen, demGesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.Diese Summe wäre für die Länder deutlich vorteilhafter,als auf die 109 Millionen Euro zu verzichten und damit,Herr Minister Hermann, die Not der Länder, die Sie be-schrieben haben, durch Ihre Blockade noch zu verstär-ken.Deswegen kann ich nur sagen: Sagen Sie Ja zu einerZwischenlösung. Dann haben wir Zeit und Raum,
um für eine gute und langfristige Lösung Verhandlungenzu führen: im Sinne des Bundes, der Länder und unsererFahrgäste.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Sören Bartol, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfinde es immer beeindruckend, wenn der KollegeFischer als absolut Dienstältester in diesem Hause – erist seit 1980 im Bundestag und hat die ganze Bahn-reform mitgestaltet – eine Rede hält. Herzlichen Dank!Ihr habt euch damals gemeinsam sehr gut entschieden.Das war übrigens auch eine Meisterleistung zusammenmit den Ländern. Ihr habt damals eine gute Arbeit ge-macht.
– Genau, da kann man auch mal klatschen. Der Bei-fall ist für dich, Dirk.Der Regionalverkehr auf der Schiene, meine Kolle-ginnen und Kollegen, ist für Millionen von Pendlern aufihrem täglichen Weg zum Arbeitsplatz unverzichtbar.Regionalbahnen sichern die Anbindung des Umlands andie Ballungsräume. Sie entlasten die Straßen und sinddamit auch aktiver Umwelt- und Klimaschutz.Regionalbahnen sichern auch die Erreichbarkeit vonRegionen, in denen es keinen starken Fernverkehr gibt,und sind damit das unverzichtbare Rückgrat des öffentli-chen Verkehrsangebots. Der öffentliche Nahverkehr isteine staatliche Aufgabe der Daseinsvorsorge.
Genau so definiert es auch das Regionalisierungsge-setz, über dessen Novellierung wir heute beraten. MitBahnreform und Regionalisierungsgesetz – das wurdeschon gesagt – ist die Verantwortung für die Finanzie-rung und Organisation des SPNV an die Länder überge-gangen. Der Bund schafft die Grundlage, indem er denLändern die Regionalisierungsmittel gibt. Das ist verfas-sungsrechtlich auch so verbrieft.Die Revision der Mittel hätte, so will es das Gesetz,schon zu Jahresbeginn 2015 erfolgen müssen. Die Ver-handlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungenlaufen aber noch, und es zeichnet sich bisher auch zu denRegionalisierungsmitteln noch keine Einigung ab.Die Regionalisierungsmittel waren schon immer zwi-schen Bund und Ländern, Verkehrspolitikern und Haus-hältern heftig umstritten. In den 2000er-Jahren habenzwei Ministerpräsidenten zum Leidwesen aller Ver-kehrspolitiker Subventionen identifiziert und Kürzungs-potenzial ausgemacht. Nach den Einschnitten 2007 und2008 sind aber die Regionalisierungsmittel seit 2009wieder gestiegen, mit dem Faktor 1,5 Prozent jährlichdynamisiert, und lagen 2014 bei 7,3 Milliarden Euro.Diese 7,3 Milliarden Euro hatte der Bundesfinanzminis-ter im Haushalt 2015 ohne Dynamisierung schlicht fort-geschrieben. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf sichertzum einen die Rechtsgrundlage für 2015 und zum ande-ren die Dynamisierung um 1,5 Prozent. Ich finde, damitgehen wir einen kleinen, aber unverzichtbaren erstenSchritt.
Ich bin sicher, uns allen ist klar: Die grundlegendeRevision ist damit nicht erledigt. Die vom Bund und vonden Ländern vorgelegten Gutachten kommen überein-stimmend zu dem Ergebnis, dass eine Erhöhung der Mit-tel und eine höhere Dynamisierung erforderlich sind,wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung.
Ich füge hinzu: Die grundlegende Revision muss zügigerfolgen, um endlich Planungssicherheit zu schaffen. Esdarf keine weitere Hängepartie geben.
Man muss auch wissen: Nur wenn der Bund die Regi-onalisierungsmittel weiter gewährt, kann er sicherstel-len, dass die Länder weiterhin überall in DeutschlandZüge auch für den Nahverkehr bestellen. Es ist auch dieVerantwortung des Bundes, dass in allen Regionen – vonKiel bis München, von Köln bis Frankfurt an der Oder –die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und diewirtschaftliche Entwicklung gesichert werden. Ein leis-tungsfähiger Nahverkehr ist dafür unverzichtbar.Die Regionalisierungsmittel sind deshalb mehr alseine finanzpolitische Verschiebemasse. Deswegen istmein Appell an alle Beteiligten auf Bundes-, aber auchauf Länderseite: Suchen wir endlich einen Weg für eineLösung bei den Regionalisierungsmitteln unabhängigvon den Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7857
Sören Bartol
(C)
(B)
Die Länder haben schon im letzten Jahr einstimmigeinen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Erhöhung auf8,5 Milliarden Euro, eine Dynamisierung um 2 Prozentund die Übernahme der Trassen- und Stationspreisedurch den Bund vorsieht. Das ist sehr leicht, wenn an-dere bezahlen müssen – das wurde schon mehrfach ge-sagt –, und selbstverständlich müssen wir darüber nochreden.Aber, Kollege Ferlemann, in schwierigen Diskussio-nen haben sich die Länder auch auf eine Neuverteilungder Mittel untereinander geeinigt. Bei allem, was manvielleicht auch lustig gemeint sagen kann, finde ich: Dasverdient große Anerkennung.
Denn der sogenannte Kieler Schlüssel berücksichtigt so-wohl die Region mit deutlich gestiegener Verkehrsnach-frage als auch den Bestandsschutz in Regionen mit sin-kender Bevölkerungszahl.Jetzt liegt uns auch das Gutachten im Auftrag desBundesverkehrsministeriums vor, das einen Bedarf von7,7 Milliarden Euro und eine Dynamisierung um2,7 Prozent ermittelt hat, um auch Trassen- und Stations-preise zu berücksichtigen. Ich finde, liebe Kolleginnenund Kollegen, der Rat dieser Fachexperten sollte unshelfen, zügig über die zukünftige Höhe der Regionalisie-rungsmittel zu verhandeln und zu entscheiden. Wichtigist doch am Ende, dass wir in Deutschland weiterhin ei-nen guten Nahverkehr haben.Seit der Bahnreform und der Regionalisierung desSPNV haben Regionalzüge massiv an Attraktivität unddeutlich messbar Fahrgäste hinzugewonnen; das wurdeschon gesagt. So ist bei den Zugkilometern eine Zu-nahme von 28 Prozent und bei der Verkehrsleistung, alsobei den Personenkilometern, sogar eine Zunahme vonüber 50 Prozent zu verzeichnen. Unverzichtbar für die-sen Erfolg ist eine gesicherte Finanzierungsgrundlage.Bund und Länder sind aufgefordert, sich schnell zusam-menzusetzen und sich endlich zu einigen. Ansonsten be-kommen wir sehr große Probleme in diesem Land.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Eckhardt Rehberg, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren Abgeordneten! Herr Minister Meyer, der Koali-tionsvertrag hat zwei Teile. Der eine Teil besagt, dasswir sobald wie möglich – eigentlich schon 2014 – einezügige Einigung mit den Ländern bei der Revision derRegionalisierungsmittel anstreben. Der zweite Teil be-sagt:Um die Finanzierung des Schienenpersonennahver-kehrs langfristig zu sichern, werden wir die Regio-nalisierungsmittel für den Zeitraum ab 2019 in derBund-Länder-Finanzkommission auf eine neueGrundlage stellen.Nach meiner Information saß Ihr Ministerpräsident, HerrAlbig, mit in der Arbeitsgruppe „Verkehr“. Für uns istder Koalitionsvertrag zumindest an dieser Stelle nochbindend.
– Herr Kollege Bartol, wenn das die Großkopferten be-schlossen haben, dann waren auch die SPD-Ministerprä-sidenten mit dabei. Insoweit hat dieses Dokument für dieKoalition verbindlichen Charakter. Zumindest für dieUnion ist das so.
Sie haben von Kooperation geredet und legen einenGesetzentwurf vor, der einen Aufwuchs von 1,2 Milliar-den Euro vorsieht. Sie gehen offenbar leicht über dieSchwarze Null hinweg. Wir tun das nicht; denn dieSchwarze Null stellt für uns die Basis dar. Wir haben unsdamit Spielräume für die Zukunft erarbeitet. Ich will ein-mal die Entwicklung für die nächsten drei bzw. vierJahre skizzieren: 8 Milliarden Euro mehr für die Kom-munen – Stichworte: „Eingliederungshilfe“, „Erhöhungdes kommunalen Mehrwertsteueranteils“, „KdU-Bun-desbeteiligung“; im Rahmen des BAföG für die Länderzusätzlich 1,7 Milliarden Euro für Hochschulen undSchulen. Allein in der letzten Legislaturperiode habenwir Ländern und Kommunen 60 Milliarden Euro zusätz-lich zur Verfügung gestellt. Vor diesem Hintergrund darfman eine Lösung bei den Regionalisierungsmitteln fürdie nächsten 15 Jahre nicht isoliert betrachten. Das mussin den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanz-beziehungen berücksichtigt werden.
Da es hier um Kooperation geht, kann man auch fra-gen: Gehörte die Verlängerung bei den Entflechtungs-mitteln sachlich und inhaltlich zum Fiskalvertrag? Siehaben sich das erstritten, abgetrotzt und erkauft. Aber inder Föderalismuskommission war ursprünglich verein-bart worden, die degressive Ausgestaltung der Entflech-tungsmittel bis 2019 auslaufen zu lassen. Nun ist etwasanderes vereinbart worden. Ich habe nachgesehen, wiedie Mittel für den ÖPNV in den Jahren von 2010 bis2012 eingesetzt wurden, als die ursprüngliche Verein-barung noch Bestand hatte. Nur zwei kleine Länder, dasSaarland und Mecklenburg-Vorpommern, haben 50 Pro-zent der Mittel für den ÖPNV eingesetzt. Alle anderen14 Länder haben noch nicht einmal 50 Prozent für denÖPNV eingesetzt.
Metadaten/Kopzeile:
7858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Eckhardt Rehberg
(C)
(B)
Das ist die Realität, liebe Kolleginnen und Kollegen aufder Bundesratsbank.
– Herr Kollege, das ist das, was auf Nachfrage der Bun-desregierung offiziell verwendet worden ist.Es stimmt zwar, dass die Länder seit 2008 Verwen-dungsnachweise erbringen müssen. Aber die Regionali-sierungsmittel sind weitestgehend der parlamentarischenKontrolle entzogen.
Schauen Sie sich einmal die Haushalte der Landtage an.Dann stellen Sie fest, dass es Einnahmetitel und Ausga-betitel gibt. In aller Regel werden die Mittel aber nichtdurch das Verkehrsministerium, sondern durch Ver-kehrsverbünde verwaltet und verwendet. In den Beirätendieser Verbünde sitzen nach meiner Kenntnis keineLandtagsabgeordneten.Jetzt sage ich es einmal etwas derb: Die Länder kön-nen uns aufschreiben, was sie wollen. Wir können esnicht kontrollieren, geschweige denn sanktionieren. Dasist aus meiner Sicht ein großes Manko der Regionalisie-rungsmittel. Das heißt, hier werden von uns 8,5 Milliar-den Euro, aufwachsend für die nächsten 15 Jahre gefor-dert. Es wird gefordert, diese Mittel unkontrolliert an dieLänder zu geben. Auch in den Ländern ist die Kontrollerelativ mangelhaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kol-lege Hermann, lassen Sie mich ein letztes Wort zu demKompromiss sagen. Herr Minister Meyer, ich schließeSie dabei ein. Ja, das ist eine 16: 0-Entscheidung. Das istrichtig. Wenn Sie aber in den Vertrag schauen, stellenSie fest, dass das ein Vertrag zulasten eines Dritten, desBundes – Stichwort: vertikale Verteilung –, ist. Und dasist eine Vereinbarung zulasten von fünf neuen Ländern.Mecklenburg-Vorpommern bekommt heute 242 Mil-lionen Euro und soll im Jahr 2030 258 Millionen Eurobekommen. Sie können mir doch nicht erzählen, dass da-mit grob das Angebot von heute gehalten werden kann.Wenn Sie die Trassenpreise und die Inflationsrate inRechnung stellen, dann sind die 258 Millionen Eurodeutlich weniger wert als die 242 Millionen Euro heute.
Meine letzte Bemerkung: Es ist sehr einfach, Verträgeund Vereinbarungen zulasten Dritter und Vierter zuschließen. Fünf Länder bleiben dabei auf der Strecke.Ein bisschen mehr Solidarität hätte ich mir als Vertretereines neuen Bundeslandes, der den größten Flächen-wahlkreis in Deutschland hat, schon gewünscht.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 18/3785 und 18/3563 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Katja Keul, Dr. ThomasGambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Betriebsrätinnen und Betriebsrätebraucht das LandDrucksache 18/2750Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Es wäre nett, wenn sich die Kollegen jetzt bitte hin-setzen und der Debatte folgen würden. Wer zwingenddaran gehindert ist, möge bitte den Saal verlassen. Es istnicht nett, bei einem neuen Tagesordnungspunkt dieRednerin daran zu hindern, ihre Argumente darzulegen.Jetzt können wir beginnen. Als erster Rednerin erteileich der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Bünd-nis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Mitbestimmung bedeutet für dieBeschäftigten Augenhöhe im Betrieb und für die Arbeit-geber entsteht Vertrauen in die Belegschaft. Die Mit-bestimmung ist gelebte Partizipation und Demokratie.Auch der Gesetzgeber hat sich im Betriebsverfassungs-gesetz ganz eindeutig positioniert. Dort steht nicht „sol-len“ oder „können“, nein, Betriebsräte „werden“ ge-wählt. Die Mitbestimmung ist anerkannt, und darüberbesteht auch ein breiter gesellschaftlicher Konsens.Wenn dieser Konsens aber brüchig wird, dann mussPolitik handeln – und deshalb heute unser Antrag.
„Brüchig“ meint, dass die Arbeit oder die Wahlen vonBetriebsräten immer häufiger behindert werden. EinBeispiel zeigte das ARD-Magazin Report. Da ging esum einen Mann, der 26 Jahre im gleichen Betrieb gear-beitet hat. Das war seine Lebensaufgabe. Dann war vonheute auf morgen Schluss. Ihm wurde gekündigt, nurdeshalb, weil er zusammen mit Kollegen einen Betriebs-rat gründen wollte. Das ist nicht die Regel, aber das ist
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7859
Beate Müller-Gemmeke
(C)
(B)
auch kein Einzelfall. Fakt ist aber: Manche Arbeitgeberverhindern Betriebsratswahlen. Das geht nicht. Deshalbfordern wir mehr Schutz für die Beschäftigten; denn diebetriebliche Mitbestimmung ist immerhin ihr verbrieftesRecht.
Auf drei Forderungen möchte ich ganz kurz eingehen.Erstens. Die schwierigste Phase ist, wenn sich Beschäf-tigte auf den Weg machen, um einen Betriebsrat zu grün-den, insbesondere in einem mitbestimmungsfeindlichenBetrieb. In dieser Zeit brauchen die Beschäftigten Unter-stützung. Deshalb sollen sie die Möglichkeit erhalten,ihre Absicht bei einer neutralen Stelle zu melden. Dannerhalten sie auch den besonderen Schutz nach § 78 Be-triebsverfassungsgesetz. So werden die Beschäftigtenvor Benachteiligungen und Schikanen geschützt. WennArbeitgeber Betriebsräte tatsächlich verhindern wollen,dann müssen wir ganz eindeutig an der Seite der Be-schäftigten stehen.
Zweitens. Es ist bekannt: Heute stellen viele Betriebeund sogar manche Branchen in großer Zahl nur noch be-fristet ein. Häufig werden die Befristungen genutzt, umunerwünschte Betriebsräte zu zerschlagen. In diesen Be-trieben muss häufig schon nach kürzester Zeit wiederneu gewählt werden, weil die befristet beschäftigten Be-triebsräte die Ersten sind, die wieder gehen müssen, unddas ist nicht akzeptabel. Deshalb sollen diese Betriebs-räte übernommen werden wie Auszubildende auch,wenn keine triftigen Gründe dagegen sprechen. Der be-sondere Schutz nach § 78 a Betriebsverfassungsgesetzfunktioniert bei den Auszubildenden gut. Dann geht dasauch bei Befristungen; denn die Arbeit von Betriebsrätenbraucht Kontinuität.
Drittens. Wenn Betriebsräte nicht erwünscht sind,dann gibt es Kündigungen. Die Beschäftigten werdengemobbt, es hagelt Abmahnungen. Es gibt Schikane undBenachteiligungen. Das alles sind Straftaten nach § 119Betriebsverfassungsgesetz. Dazu sagte ein Fachanwaltin der besagten Report-Sendung – ich zitiere –:Verfahren verlaufen im Sande, werden eingestellt… So … haben Arbeitgeber eigentlich gar nichts zubefürchten.Hier läuft wirklich etwas gewaltig schief. Es mussendlich geprüft werden, welche strukturellen Defizitebei der Verfolgung von Straftaten nach § 119 Betriebs-verfassungsgesetz bestehen. Hier brauchen wir dringendLösungen. Das sind keine Kavaliersdelikte. BestehendesRecht muss endlich durchgesetzt werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt ein-deutige Hinweise, dass die Mitbestimmung mittlerweilestrategisch bekämpft wird. Diese Hinweise bezeichnendie Autoren einer WSI-Studie als „Spitze des Eisbergs“.Deshalb muss die Politik vorausschauend tätig werden.Die Beschäftigten brauchen mehr Schutz und auch mehrUnterstützung; denn wir brauchen mehr und nicht weni-ger Demokratie in den Betrieben.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Uwe Lagosky, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es gibt sicherlich immer noch Menschen, diedie betriebliche Mitbestimmung für einen Irrtum der Ge-schichte halten. Das ist falsch.
Denn unter anderem während der Finanz- und Wirt-schaftskrise 2008 bis 2010 wurde besonders deutlich,dass Betriebsräte verlässliche, kompetente Sozialpartnersind. Da ich selbst einige Jahre Betriebsratsvorsitzendersein durfte, ist es mir eine Herzensangelegenheit, für Be-triebsratsgründungen bei Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern wie auch bei Arbeitgebern zu werben.Denn ich bin überzeugt davon, dass Betriebsräte einewichtige Rolle in unserer sozialen Marktwirtschaft spie-len. Mit dieser Überzeugung fühle ich mich in unsererUnion gut aufgehoben. Es waren nämlich Christdemo-kraten und von ihnen geführte Bundesregierungen, diedie deutsche Mitbestimmung entscheidend prägten.
Aber zu Ihrem Antrag. Der prozentuale Anteil der Be-triebe mit Betriebsrat nimmt bei steigender Betriebs-größe zu. Nach den aktuellsten Daten wiesen Betriebemit 5 bis 50 Beschäftigten eine Quote in Ost- und inWestdeutschland von 6 Prozent auf. Bei Großbetriebenmit über 500 Beschäftigten sind es im Westen 86 Pro-zent und im Osten 92 Prozent. Generell ist ein Strebennach mehr Betriebsräten daher sinnvoll.Die Frage ist: Erreicht man das auf der Grundlage Ih-res Antrags, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen? Die von Ihnen herangezogene Studie des Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, die dieGrundlage Ihres Antrags ist und Behinderungen von Be-triebsratswahlen untersucht, stellt wichtige Fragen, hataber leider eine recht dünne Datenbasis: Von 347 Frage-bögen wurden 184 beantwortet, also 53 Prozent. In59 Prozent dieser Fragebögen wurde angegeben, dassman von Be- oder Verhinderungsversuchen bei Betriebs-ratswahlen weiß.
– Immerhin.
Metadaten/Kopzeile:
7860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Uwe Lagosky
(C)
(B)
Im ersten Moment gut klingt hingegen Ihre Forde-rung, das vereinfachte Wahlverfahren bei Erstwahlenvon Betrieben mit bis zu 50 wahlberechtigten Mitarbei-tern auf Betriebe mit bis zu 100 wahlberechtigten Mitar-beitern auszuweiten. Möglich ist das nach Vereinbarungmit Wahlvorstand und Arbeitgeber heute schon. Genaudiese Regelung wollen Sie ändern.Trotz des vereinfachten Wahlverfahrens bei Kleinbe-trieben blieb der Anteil der Betriebsräte in dieser Gruppein den letzten Jahren konstant. Es ist daher fraglich, obdurch die Ausweitung des vereinfachten Wahlverfahrensmehr Betriebsräte gegründet werden.Dann wollen Sie die Mitglieder des Wahlvorstandsund Beschäftigte, die erstmals die Wahl eines Betriebs-rats einleiten, unter die Schutzbestimmung des § 78 Be-triebsverfassungsgesetz stellen. Dieser Paragraf regeltim Wesentlichen, dass die hier aufgeführten Gruppenweder benachteiligt noch bevorteilt werden dürfen.Darüber hinaus sollen die gleichen Gruppen unter denSchutz des § 119 Betriebsverfassungsgesetz – Straftatengegen Betriebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder –gestellt werden. Meines Erachtens sind Beschäftigte, dieWahlen einleiten oder in Wahlvorständen arbeiten, überdas Betriebsverfassungsgesetz bereits heute geschützt:§ 20 Betriebsverfassungsgesetz in Verbindung mit § 119.
Darüber hinaus fallen die Beschäftigtengruppen unter ei-nen besonderen Kündigungsschutz nach § 15 Kündi-gungsschutzgesetz.Sie wollen weiterhin befristet Beschäftigte, die in denBetriebsrat gewählt wurden, unter den Schutz des § 78 aBetriebsverfassungsgesetz stellen, um damit einen An-spruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu begrün-den. Ob das der richtige Weg ist, darf angezweifelt wer-den, da Betriebsräte nicht benachteiligt oder – wie indiesem Fall – begünstigt werden dürfen.
Zusammenfassend können wir feststellen, dass Be-triebsräte in Deutschland gut geschützt sind. Dort, wo esnoch keine gibt, werden wir dafür werben.Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am 21. Januar fand vor dem Arbeitsgericht inMagdeburg ein Kündigungsschutzprozess gegen den Be-triebsratsvorsitzenden einer Tochterfirma von Enerconstatt. Nils-Holger Böttger hat sich für Leiharbeitnehmerin seiner Firma eingesetzt. Er hat das gemacht, was Be-schäftigte von ihrem Betriebsrat erwarten. Deshalb ha-ben sie ihn gewählt, auch die Leiharbeitnehmer.Die Firma sieht das anders. Sie will seine Kündigung.Enercon ist Hersteller von Windkraftanlagen, verbundenmit einem Saubermann-Image. Dabei hat Enercon offen-sichtlich ein Demokratiedefizit. Wer Betriebsräten kün-digt, ist im Grunde nichts anderes als ein Vertreter einerSchmuddelbranche.Wir Linken begrüßen den Antrag der Grünen. Er lösteine längst überfällige Debatte über die Stärkung derRechte von Betriebsräten aus.
So finde ich richtig, dass befristet Beschäftigte, die in ei-nen Betriebsrat gewählt werden, dem besonderen Kündi-gungsschutz unterliegen sollen.Heute ist es keine Selbstverständlichkeit, in BetriebenBetriebsräte zu wählen. Die Ausweitung des vereinfach-ten Wahlverfahrens kann in Zukunft eine Hilfe sein. AlsGewerkschaftssekretärin weiß ich, dass in jedem Betriebein Betriebsrat zu bestehen hat. Schwierig wird es, wennman mit Chefs konfrontiert wird, die sich mit Händenund Füßen gegen Betriebsräte wehren. Aktive Beschäf-tigte werden zu Opfern einer knallharten Arbeitgeber-strategie. Damit muss endlich Schluss sein!
Ganz schwierig wird es, wenn Firmen sich Rechtsan-wälte nehmen, deren erklärtes Ziel es ist, einzelnen Be-triebsräten zu kündigen. Ärzte leisten den hippokrati-schen Eid, dass sie ihre Qualifikation einsetzen, umLeben zu erhalten. Diese Juristen aber nutzen ihre Quali-fikation dazu, Gesetze zu brechen, zu umgehen oder zumissachten. Solchen Juristen gehört die Zulassung ent-zogen!
Die systematische Bekämpfung von Betriebsräten istmittlerweile eine professionelle Dienstleistung inDeutschland geworden. Betriebsräte werden gemobbtund mit Kündigungen bedroht. Sie sollen mürbe ge-macht und gebrochen werden. Das ist im Grunde uner-träglich. Die Forderung nach einer Prüfung durch dieBundesregierung, ob strukturelle Defizite bei der Verfol-gung von Straftaten gegen Arbeitgeber bestehen, ist ausmeiner Sicht überflüssig, liebe Grüne. Offensichtlichesmuss nicht noch einmal geprüft werden, sondern es mussendlich gehandelt und bestraft werden.Ja, mehr Betriebsräte braucht das Land, aber die For-derung nach mehr Betriebsräten allein reicht uns Linkenim Grunde nicht.
Wir müssen endlich die Durchführung von Betriebsrats-wahlen wirklich erleichtern, und wir müssen bestehende
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7861
Jutta Krellmann
(C)
(B)
Betriebsräte effektiv vor Bedrohungen schützen. UnsLinken geht es um Anforderungen an eine kämpferischeMitbestimmung in den Betrieben; eine Mitbestimmungvon unten, weg von Stellvertreterpolitik.
Die Linke will die Mitbestimmung auf betrieblicherEbene durch Elemente direkter Beteiligung ergänzenund weiterentwickeln. Es geht um die Demokratisierungin der Arbeitswelt. Gute Arbeit verlangt demokratischeBedingungen. Demokratie darf nicht am Werkstorenden. Das muss drin sein.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Bernd Rützel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sie von den Grünen wollen Betriebsrätestärken, da sind Sie bei mir genau an der richtigen Stelle.
Ich freue mich, dass wir heute darüber reden,
und ich stelle hier eine breite Übereinstimmung fest. Ichbin gespannt, wie sich das entwickelt.
Tarifpolitisch, gesellschaftlich und auch für die Be-triebe selbst ist die Mitbestimmung von enormer Bedeu-tung. Ich war selbst lange Jugend- und Auszubildenden-vertreter. Ich war freigestellt, später war ich freigestellterBetriebsrat, und ich weiß um die gesetzlichen Regelun-gen und um die Schutzmöglichkeiten für Betriebsräte.Aber ich weiß aus der Praxis auch, dass diese oft nichtausreichen. Wir brauchen einen Kündigungsschutz be-reits für die Beschäftigten, die sich in der Kaffeeküchetreffen und über die Bildung eines Betriebsrats nachden-ken. Wir haben das heute schon gehört. Da muss derKündigungsschutz schon ansetzen;
denn nicht selten ist es so, dass der Arbeitgeber, wenn erdavon Wind bekommt, versucht, die Wahl zu verhin-dern.Liebe Grüne, das Wahlverfahren haben wir 2001 mitRot-Grün eingeführt. 2001 war dies ein wichtiges Anlie-gen, als wir das Betriebsverfassungsgesetz veränderthaben. Ziel war hauptsächlich, die Wahl schneller durch-führen zu können, damit die Reaktionszeiten der Arbeit-geber kürzer wurden, um Steine in den Weg zu legen.Ich will an dieser Stelle aber auch einmal für die Ar-beitgeber sprechen. Viele Arbeitgeber wissen zu schät-zen, dass sie einen Betriebsrat haben. Er ist sozusageneine interne Beratungsfirma, ein Verbindungselementund -instrument, eine Konfliktlösungsstelle. Sie wissen,dass sie mit Betriebsräten produktiver sind und dann,wenn es Krisen gibt, auch besser über die Runden kom-men. Betriebsräte hängen an ihren Unternehmen. Siewollen das Beste für das Unternehmen, aber natürlichauch für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und siesind oft viel länger im Unternehmen als mancher Mana-ger.Dass manche Betriebe den Betriebsrat fürchten wieder Teufel das Weihwasser, liegt in der Natur der Sache,auch wenn ich dies natürlich nicht nachvollziehen kann.Wir haben es gehört: Dass manche Unternehmen vielGeld in die Hand nehmen, viel Aufwand betreiben undKanzleien mit Betriebsratskillern beauftragen, die ihnenden Betriebsrat vom Hals schaffen sollen, verurteile ichscharf. Ich habe dies letztes Jahr in meinem Wahlkreismiterlebt, als eine Großbäckerei ihren gewählten Be-triebsratsvorsitzenden entlassen hat. Trotz Unterstützungdurch die Gewerkschaft NGG, durch viele Mandatsträ-gerinnen und Mandatsträger und aus der Öffentlichkeit– die Zeitungen waren wochenlang voll –, hat sich derFirmeninhaber letztendlich im Gerichtsverfahren durch-gesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Herz ist voll,meine Redezeit aber fast vorbei. Lassen Sie mich des-halb ganz kurz und auch nicht vollumfassend auf einpaar Punkte eingehen, die uns Sozialdemokraten sehr amHerzen liegen.Leiharbeitnehmer müssen hinsichtlich der Betriebs-ratsgröße Berücksichtigung finden. Das entspricht demBundesarbeitsgerichtsurteil, das im letzten Jahr bereitsbei vielen Betriebsratswahlen umgesetzt worden ist.Ein Betriebsrat darf nicht nur ein Informationsrechtnach § 80 des Betriebsverfassungsgesetzes erhalten, son-dern er braucht weitergehende Informations- und Unter-richtungsrechte. Das heißt, dass er nicht wie ein Detektivdurch seinen Betrieb laufen muss und in der Einkaufsab-teilung nachfragen muss, wie viele Leiharbeiter einge-kauft werden – Leiharbeiter werden eingekauft, manfindet sie nicht auf der Payroll – und wie viel Fremdper-sonal tätig ist. Der Arbeitsschutz muss auch im psychi-schen Bereich ausgeweitet werden. Wir müssen beiWerkverträgen viel unternehmen.Die Babyboomer – um den Jahrgang 1964 – gehen ingut zehn Jahren in Rente. Wir wissen von unserem Fach-kräftemangel, den wir immer wieder wie eine Monstranzvor uns hertragen. Insofern brauchen wir Mitbestim-mung. Mitbestimmung ist wichtig. Deutschland geht esgut – nicht trotz der Mitbestimmung, sondern wegen derMitbestimmung.
Metadaten/Kopzeile:
7862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Bernd Rützel
(C)
(B)
Ganz zum Schluss will ich sagen: Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, weisenzu Recht darauf hin, dass die Quote derjenigen Beschäf-tigten, die nicht durch einen Betriebsrat vertreten wer-den, erschreckend hoch ist. Hierüber brauchen wir einebreite politische, aber auch gesellschaftliche Debatte.Nur mitbestimmte Arbeit ist gute Arbeit.Vielen Dank.
Es ist eine beliebte Technik, den Schluss anzukündi-
gen und dann nicht zum Schluss zu kommen.
Wir haben es jetzt noch mal akzeptiert. Aber ich bitte
doch alle, sich an die Redezeit zu halten.
Der nächste Redner ist Matthäus Strebl, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Vor gut einem Dreivierteljahr waren die Be-schäftigten in unserem Land zu Betriebsratswahlen auf-gerufen, und sie haben sich daran zahlreich beteiligt. DieWahlbeteiligung lag bei durchschnittlich 77 Prozent undwar damit zufriedenstellend. Dabei fiel auf: In Betrie-ben, die unternehmens- oder gesellschaftsnahe Dienst-leistungen anbieten, war die Beteiligungsquote erheblichniedriger als in der Industrie. Vor diesem Hintergrund istdie Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nachmehr Betriebsrätinnen und Betriebsräten durchaus nach-vollziehbar. Auf den ersten Blick könnte man also demAntrag etwas abgewinnen, doch der Teufel steckt wie sooft im Detail.Zweifellos ist das deutsche Betriebsverfassungsgesetzeine Errungenschaft, die ganz wesentlich zum sozialenFrieden in unserem Land beiträgt. Es ist ohne Abstricheein Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft. Auch fürdie meisten Arbeitgeber, so möchte ich behaupten, sindBetriebsräte kein rotes Tuch; denn sie garantieren dieStabilität innerhalb des Unternehmens. Umso erstaunli-cher ist es, dass von knapp 16 000 Arbeitgebern nur rund4 300 die Frage, ob es in ihrem Unternehmen einen Be-triebs- oder Personalrat gibt, mit Ja beantworteten. Dasjedenfalls haben Untersuchungen im Rahmen des Be-triebspanels 2011 des Nürnberger Instituts für Arbeits-markt- und Berufsforschung ergeben, und die Zahlen,werte Kolleginnen und Kollegen, dürften sich seitdemnicht wesentlich verändert haben. Insofern hat die For-derung nach mehr Betriebsrätinnen und Betriebsräten si-cherlich ihre Berechtigung.Die Frage ist jedoch, auf welchem Weg ein solchesZiel erreicht werden könnte. Die Grünen machen es sicheinfach und stellen ganz auf die §§ 78 und 119 des Be-triebsverfassungsgesetzes ab. Mit ihnen sollen die Schutz-bestimmungen für die Betriebsräte bzw. für die Betriebs-ratskandidatinnen und -kandidaten noch detaillierter alsbisher geregelt werden.In den Genuss der Regelungen des § 78 sollen gemäßdem Antrag Wahlvorstände und auch diejenigen kom-men, die erstmalig die Wahl eines Betriebsrates einleiten –so, wie Sie es vorgetragen haben. Gleiches soll für diebefristet Beschäftigten gelten, sofern sie für einen Be-triebsrat kandidieren oder ihm angehören.
Damit nicht genug: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, die sonst gegen den Bürokratismuswettern, wollen nun im Betriebsverfassungsgesetz eineMeldepflicht einführen. Damit wollen Sie – ich zitiereaus Ihrem Antrag –:„betriebliche Interessenvertretungen statistisch angeeigneter Stelle erfassen“.Diese neuen Meldestellen sollen unter anderem Be-hinderungen der Betriebsratsarbeit oder Fälle, in denenBetriebsratswahlen verhindert wurden, registrieren. Bei-des ist ohnehin nicht zulässig, und Verstöße können jetztschon gemeldet werden. Dafür braucht man aber keineneuen Meldestellen.
Und überhaupt – so frage ich –: Wo sollen denn die Mel-destellen eingerichtet werden? Mit wie vielen Planstel-len? Wer trägt die Kosten? Welche Kompetenzen sollendie Meldestellen erhalten? – Die bloße Erfassung vonBehinderungen der Betriebsratsarbeiten zu statistischenZwecken ohne Konsequenzen hat daher wenig Sinn.Bei jedem Gesetz müssen wir uns überlegen: Wemnützt es? Wir brauchen kein neues Gesetz, sondern wirsollten gemeinsam in unserer Gesellschaft ein Denkenfördern, das Betriebs- und Personalräte als Selbstver-ständlichkeiten ansieht. Arbeitgeber und Betriebsrätemüssen sich als natürliche Verbündete betrachten, vondenen jeder für sein eigenes Wohlergehen den jeweilsanderen braucht. Mein Kollege Uwe Lagosky hat bereitsdarauf aufmerksam gemacht, dass etliche Forderungeninsofern hinfällig sind, als die Gruppen, die Sie schützenwollen, nach dem Kündigungsschutzgesetz ohnehin be-reits geschützt sind.Jede Initiative, meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen, die Arbeitnehmerinteressen fördert, ist zu be-grüßen und unterstützen wir von der Union. Mit demAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird diesesZiel allerdings verfehlt. Ich sage sogar: Bürokratie wirddamit aufgebaut. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7863
(C)
(B)
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Markus Paschke, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im-
mer mal wieder hört man von Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern: Betriebsrat? Brauchen wir nicht, bei uns läuft
es gut. – Ich sage dann immer: Ja, das finde ich super,
aber mit einem Betriebsrat läuft es nicht schlechter. – Im
Gegenteil, man ist viel besser aufgestellt, wenn es mal
nicht so läuft. Meine Erfahrung als langjähriger Gewerk-
schaftssekretär: Mit einem Betriebsrat gibt es immer ei-
nen Interessenausgleich zum Vorteil von Unternehmen
und Beschäftigten.
In einigen Branchen, wie zum Beispiel der Leiharbeit,
im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Landwirtschaft
oder im Einzelhandel gibt es kaum Betriebsräte, weil
diese von kurzfristiger Beschäftigung oder prekären Be-
schäftigungsformen wie 450-Euro-Jobs oder Saisonar-
beit geprägt sind. Wer da nicht das Glück hat, einen ver-
antwortungsvollen Arbeitgeber zu haben, hat häufig
Nachteile. Für mich ist klar: Wir dürfen nicht zulassen,
dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim
Arbeitsschutz und vielen anderen Dingen Beschäftigte
zweiter Klasse sind.
Und dann gibt es noch Betriebe, die aktiv die Arbeit
oder sogar die Wahl eines Betriebsrates behindern. Sie
sind leider keine Randerscheinung. Sogar große Unter-
nehmen aus Zukunftsbranchen wie den erneuerbaren
Energien benehmen sich wie kleine Feudalherren aus
dem Mittelalter.
– Genau. – Sie weigern sich komplett, überhaupt Ge-
spräche mit Betriebsräten oder Gewerkschaften zu füh-
ren, oder behindern mehr oder weniger offen freie Wah-
len. Ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: Das
dürfen wir in der Politik nicht ignorieren.
Es geht um nichts Geringeres als ein Grundrecht in
Deutschland: das Recht, sich zu organisieren und ge-
meinsam Interessen zu vertreten. Viele Beispiele zeigen,
dass Betriebe mit gelebter Mitbestimmung mittelfristig
auch wirtschaftlich erfolgreicher sind. Mitbestimmung
ist also ein Standortvorteil. Das ist in einigen Köpfen lei-
der noch nicht verankert. Die soziale Marktwirtschaft
und die gelebte Sozialpartnerschaft in Betrieben haben
uns so erfolgreich gemacht. Wer will, dass Deutschland
auch zukünftig erfolgreich ist, der muss sagen: Ja, mehr
Betriebsrätinnen und Betriebsräte braucht das Land!
Mein Fazit, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen: Ihr Antrag geht inhaltlich in die richtige
Richtung.
– Er geht in die richtige Richtung. Es gibt ja nichts, was
man nicht noch verbessern könnte.
Wir sollten ihn zum Anlass nehmen für den Start einer
breiten gesellschaftlichen Debatte zum Thema: Wie wol-
len wir Deutschland gemeinsam für die Zukunft aufstel-
len?
In dieser Debatte würde ich noch gerne einige Punkte
ergänzen, die mir in dem vorliegenden Antrag fehlen.
Herr Paschke, bedenken Sie bitte, dass Sie Ihre Rede-
zeit überzogen haben. Ihr Kollege Rützel hat seine Rede-
zeit bereits dramatisch überzogen, aber wir haben Ihnen
die Überschreitung nicht von Ihrer Redezeit abgezogen,
sonst wären Sie schon lange nicht mehr am Pult. Kom-
men Sie also bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Unsere Stärken in Deutsch-
land waren immer Innovation, Beteiligung und sozialer
Ausgleich. Lassen Sie uns Deutschlands Stärken aus-
bauen. „Gemeinsam sind wir stark“ ist nicht nur das
Motto der Gewerkschaften, sondern auch das Motto ei-
ner zukunftsfähigen Gesellschaft.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 18/2750 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.
Metadaten/Kopzeile:
7864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Vizepräsident Peter Hintze
(C)
(B)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 5. Dezember 2014 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Polen zum Export besonderer Leistungenfür berechtigte Personen, die im Hoheitsge-biet der Republik Polen wohnhaft sindDrucksache 18/3787Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-regierung das Wort der Parlamentarischen Staatssekretä-rin Gabriele Lösekrug-Möller. Bitte schön, Frau Staats-sekretärin.
G
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vor zwei Tagen haben wirhier im Deutschen Bundestag in einer beeindruckendenGedenkstunde der Befreiung des KonzentrationslagersAuschwitz vor 70 Jahren und der Millionen von Opferngedacht, die aus einer verbrecherischen Ideologie herausim Namen unseres Volkes ermordet, gepeinigt und ver-folgt wurden. Das sind Momente, in denen uns unsereGeschichte und die Verantwortung, die wir Deutsche tra-gen, ganz besonders nahe und bewusst sind.Dieses Bewusstsein hat auch getragen, als wir am5. Juni des vergangenen Jahres in diesem Haus einstim-mig den Beschluss gefasst haben, das Ghettorentenge-setz zu ändern. Wir haben den Weg freigemacht, damitMenschen, die in der Zeit der nationalsozialistischenTerrorherrschaft Arbeit in Ghettos verrichtet haben, ihreRente ohne Einschränkungen rückwirkend ab Juli 1997erhalten können.Das neue deutsch-polnische Abkommen ergänzt dasAbkommen von 1975 und ermöglicht es, dass eine deut-sche Rente aufgrund von Beschäftigung in einem Ghettoauch an Personen ausgezahlt werden kann, die in der Re-publik Polen leben.Die letzten Berechtigten sind hochbetagt, und unserfestes Ziel ist es, den Betroffenen schnell zu ihren An-sprüchen zu verhelfen.
Zwei von ihnen durfte ich unlängst bei der Vertragsun-terzeichnung des Abkommens in Warschau kennenler-nen. Sie stehen an der Spitze von zwei Verbänden ehe-maliger Ghettoopfer. Die Begegnung mit ihnen hat michtief berührt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun bitte ich Sieherzlich, dem Gesetz zum Abkommen in einem be-schleunigten parlamentarischen Verfahren zuzustimmen.Wir haben diese Bitte auch an den Bundesrat gerichtet,um so möglichst bald mit unseren polnischen Partnerngleichziehen zu können; denn dort genügt für den Ab-schluss des Ratifizierungsverfahrens ein Kabinettsbe-schluss. Dieser ist für Ende Februar terminiert. Unser ge-meinsames Ziel sollte es also sein, dafür zu sorgen, dassdas Abkommen zügig in Kraft treten kann.Die Rentenversicherungsträger sind schon jetzt mitgroßem Engagement dabei, alles in die Wege zu leiten,damit die Berechtigten in Polen nach dem Inkrafttretenumgehend ihre rückwirkenden und laufenden Renten er-halten können. Ich füge hinzu: Neben Informationen undAntragsformularen in polnischer Sprache im Internetwollen die Rentenversicherungsträger beider Länder ge-meinsam aktiv auf potenziell Berechtigte zugehen undauf mögliche Ansprüche nach dem neuen Abkommenhinweisen. Kein Anspruch und keine Zeit sollen mehrverloren gehen.Für dieses große Engagement danke ich den Mitarbei-tern und Mitarbeiterinnen der deutschen und polnischenRentenversicherung sehr herzlich. Ich möchte an dieserStelle auch unseren polnischen Partnern und Freundenaus dem polnischen Arbeitsministerium ganz herzlichDank sagen. Ich freue mich außerordentlich, dass zu un-serer Debatte der Gesandte der Botschaft Polens, HerrJanusz Styczek, in den Bundestag gekommen ist. – Wirfreuen uns alle miteinander sehr, dass Sie hier sind.
Die kooperativen, schnellen und freundschaftlichen Ver-handlungen reihen sich ein in die vielen wegweisendenAktivitäten unserer praktizierten guten Nachbarschaft.Der Ort der Unterzeichnung hätte nicht besser ge-wählt werden können. Im vor wenigen Monaten eröffne-ten Museum der Geschichte der polnischen Juden, dassich unmittelbar neben dem Denkmal für den War-schauer Ghettoaufstand befindet, wird auf beeindru-ckende Weise augenfällig, wie eng jüdische, polnischeund deutsche Geschichte miteinander verwoben sind.Gleichzeitig ist es ein Ort, der auf beeindruckende Weiseins Gedächtnis ruft, dass es bei diesem Abkommen mitdem etwas sperrigen Namen nicht um einen Verwal-tungsakt, sondern um Menschen geht, die bald endlichdie verdiente Anerkennung für geleistete Arbeit erhaltenkönnen.
Das ist ein Stück Gerechtigkeit, auf deren Grundlage un-sere Partnerschaft weiter gedeihen soll, ohne jemals dieVergangenheit zu vergessen.Herzlichen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7865
Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
(C)
(B)
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Azize Tank von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorgestern haben wir an den 70. Jahrestag der Befreiung
des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau
durch die Rote Armee erinnert. Wir gedachten damit al-
ler Opfer des deutschen Faschismus. Wir gedachten der
Schoah, der industriellen Vernichtung von mehr als
6 Millionen europäischen Jüdinnen und Juden. Wir erin-
nerten gleichzeitig an Hundertausende ermordete Sinti
und Roma, ebenso an die lange vergessenen Opfergrup-
pen, die als sogenannte Asoziale verleumdeten Men-
schen, die Homosexuellen und andere.
Wenn wir an die Opfer der Massenmorde von Birke-
nau, Sobibor oder Treblinka erinnern, dürfen wir jedoch
eines nicht vergessen: Vor der Vernichtung wurden diese
Menschen rassistisch diskriminiert, entrechtet, misshan-
delt, beraubt und ausgebeutet.
Nun zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. Erst dank
dem Einsatz engagierter Überlebender, Historiker, Rich-
ter und Rechtsanwälte wissen wir, was lange nicht aner-
kannt wurde: Für Ghettoarbeit wurden Beiträge zur So-
zialversicherung eingezogen. Das Bundessozialgericht
hat diese Rentenansprüche erst infolge der Bemühungen
von Überlebenden anerkannt. Dafür gebührt den Überle-
benden unser höchster Respekt.
Beschämen sollte uns, dass anfangs 90 Prozent der
Anträge auf Ghettorenten abgelehnt wurden. Beschämen
sollte uns, dass Ghettobeschäftigte mit Wohnsitz in Po-
len von Anfang an ausgeschlossen wurden. Erst das neue
Abkommen beendet diesen Zustand. In enger Zusam-
menarbeit mit den Betroffenen hat die Fraktion Die
Linke das Thema in den Bundestag getragen.
Erlauben Sie mir, Tomasz Miedziński aus Warschau
zu zitieren, worum er mich gebeten hat. Als Vorsitzender
der Vereinigung der Jüdischen Kombattanten und Ge-
schädigten des Zweiten Weltkriegs kämpfte er seit mehr
als zehn Jahren für die Rechte der Ghettobeschäftigten
aus Polen, unterstützt wurde er dabei von Herrn Marian
Kalwary, dem Vorsitzenden der Vereinigung Kinder des
Holocaust in Polen. Am Tag der Unterzeichnung des
vorliegenden deutsch-polnischen Abkommens in War-
schau erklärte Herr Miedziński – ich zitiere –: „Ich sollte
Freude empfinden über dieses Abkommen. Aber Freude
empfinde ich nicht. Während der vielen Jahre des
Kampfes gegen den Widerstand der deutschen Behörden
und ihre Bürokratie ist mehr als die Hälfte der Berechtig-
ten verstorben.“
Zehn Jahre! Eine Lösung wurde immer wieder als
rechtlich nicht umsetzbar abgelehnt.
Durch gemeinsame Anstrengungen im Bundestag ge-
lang es uns, in acht Monaten den Abschluss eines Ab-
kommens herbeizuführen. Die Diskriminierung konnte
dadurch beendet werden.
Mit Freude habe ich gehört, dass unsere Staatssekretärin
eine ebenso zügige Umsetzung des Abkommens fordert.
Wir alle wissen: Es geht hier nicht um eine Drucksache,
sondern um die Wiedererlangung von Würde, um Ge-
rechtigkeit.
Erlauben Sie mir, dabei etwas zu unterstreichen, was
in Deutschland oft ausgeblendet wird. Ja, auch Jüdinnen
und Juden waren aktiv an dem bewaffneten Widerstand
gegen deutschen Faschismus beteiligt. Auch sie haben
ihren Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Fa-
schismus. Ihnen gebührt nicht nur Respekt für das erlit-
tene Leid, sondern auch Dankbarkeit für ihren Wider-
stand. Sie haben sich um einen demokratischen
Neuanfang verdient gemacht.
Angesichts des Alters der letzten Zeugen der Schoah
sind wir verpflichtet, deren Vermächtnis weiterzutragen:
Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Unser Bundestagspräsident Nobert Lammert hat amDienstag die Gedenkstunde anlässlich des 70. Jahrestagsder Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz miteiner bemerkenswerten Rede eingeleitet, in der er daranerinnert hat, dass zur nationalsozialistischen Vernich-tungsmaschinerie nicht nur die Konzentrationslager ge-hörten, sondern auch eine ganze Reihe von Maßnahmenund Einrichtungen, insbesondere auch die Einrichtungvon Ghettos. In den Ghettos wurden die Menschen mitdem Willen, sie zu vernichten, zusammengepfercht. DieMenschen in den Ghettos, die die Nationalsozialisteneingerichtet haben, haben dort in vielfältiger Weise ver-sucht, ihr Leben, ihr Überleben zu sichern.Deswegen war es wichtig, dass der Deutsche Bundes-tag mit dem Instrument der Ghettorente eine eigene Ren-tenart geschaffen hat. Endlich haben wir die Arbeit, dieBürgerinnen und Bürger dort im Kampf ums Überlebengeleistet haben, mit einem eigenen Rentenanspruch aus-gestattet. Am 14. Juni vergangenen Jahres haben wir dasGhettorentengesetz verändert und reformiert. Nun gibt
Metadaten/Kopzeile:
7866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Peter Weiß
(C)
(B)
es die Möglichkeit – die Frau Staatssekretärin hat es dar-gestellt –, dass weitere Berechtigte noch Ghettorente be-antragen können und dass vor allem diejenigen, die be-reits eine Ghettorente beziehen, die Möglichkeiterhalten, sich zwischen zwei Formen zu entscheiden, jenachdem, was ihnen geeigneter erscheint, und dass Be-rechtigte eventuell auch einen rückwirkenden Ghettoren-tenbezug ab dem Jahr 1997 erhalten können.Ich glaube, das war ein wichtiger Akt, mit dem wirzeigen: Jawohl, wir stehen zu unserer historischen Ver-antwortung. Wir wollen, dass Arbeit, die in einemGhetto geleistet wurde, so bewertet wird wie Arbeit ir-gendwo anders und einen eigenen Rentenanspruch be-gründet.
Uns war schon früher und ist auch heute klar, dassaufgrund des Sozialversicherungsabkommens, das be-reits im Jahr 1974 zwischen Polen und Deutschland ab-geschlossen worden ist, gilt, dass der jeweilige Renten-anspruch nur an das jeweilige Land, also in Polen nur andie polnischen Behörden und in Deutschland nur an diedeutschen Behörden, gerichtet werden kann. Dies isteine an und für sich nicht unkluge Regelung in einemSozialversicherungsabkommen. Aber das hat zur Folgegehabt, dass jemand, der in Polen lebt, aufgrund diesesSozialversicherungsabkommens bei der Deutschen Ren-tenversicherung keine Ghettorente beantragen kann.Wir haben dieses Problem anlässlich der Beratungender Änderung des Ghettorentengesetzes miteinander be-sprochen und es auch in den Berichterstattergesprächenmit der Bundesregierung für sinnvoll erachtet, nicht zuversuchen, das alte Sozialversicherungsabkommen zuverändern – es hat seine Berechtigung –, sondern zu ver-suchen, mit einem zusätzlichen Sozialversicherungsab-kommen diese Frage so zu lösen, dass auch ein in Polenlebender Bürger einen Anspruch an die Deutsche Ren-tenversicherung stellen kann.Am 14. Juni letzten Jahres haben wir den entspre-chenden Gesetzentwurf verabschiedet. Ich möchte michbei den Fachbeamten des Bundesministeriums für Arbeitund Soziales herzlich dafür bedanken, dass sie so schnellüber dieses zusätzliche Sozialversicherungsabkommenverhandelt haben, sodass es dem Parlament heute vorge-legt werden kann. Ein herzliches Dankeschön dafür, dasshier ein so außergewöhnlich schnelles Verhandlungser-gebnis erzielt worden ist!
Ich hoffe – Frau Staatssekretärin, Sie haben es ange-kündigt –, dass die Rentenversicherungen in Polen undin Deutschland nach der Ratifizierung für eine schnelleUmsetzung sorgen und die Texte auch in polnischerSprache vorgelegt werden können, sodass diejenigen,die einen Anspruch auf eine Ghettorente haben, sieschnellstmöglich beantragen können. Ich glaube, auchdas ist wichtig. Unmittelbar nach der Ratifizierung mussmit der Umsetzung begonnen werden. Darum bitte ichherzlich.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir,daran zu erinnern, dass im November dieses Jahres der50. Jahrestag eines bemerkenswerten Briefwechsels be-gangen wird. Ich meine den Brief der polnischen Bi-schöfe an ihre deutschen Mitbrüder, in dem der be-rühmte Satz „Wir vergeben und bitten um Vergebung“stand. Damals, 20 Jahre nach dem Ende des ZweitenWeltkriegs und nach einer schlimmen, gewaltbelastetenVergangenheit zwischen Polen und Deutschland, wardies ein mutiger und von der Kraft der Versöhnungs-bereitschaft getragener Schritt. Übrigens werden am18. November dieses Jahres aus diesem Anlass sowohlin Berlin als auch zeitgleich in Breslau Ausstellungeneröffnet, in denen dieses Ereignisses gedacht wird, in de-nen aber auch der gesamte Prozess der deutsch-polni-schen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg darge-stellt wird.Wir sind heute froh, dass uns die Aussöhnung zwi-schen Deutschen und Polen gelungen ist und wir guteNachbarn sind. Das heute vorgelegte zusätzliche Sozial-versicherungsabkommen ist für diese Politik der Versöh-nung und der Aussöhnung ein weiterer wichtiger Beweisund Baustein.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Gesandter! Meine Da-men und Herren! Lassen Sie mich mit einem Wort desDankes an die Bundesregierung beginnen, dass diesesSozialversicherungsabkommen auf dem Tisch liegt. Esist alles verdammt spät. 13 Jahre nachdem wir das Ghet-torentengesetz unter Rot-Grün verabschiedet haben,wird dem gesetzgeberischen Willen von damals nunendlich Rechnung getragen. Das ist aber auch ein Grund,zu trauern, nicht nur um die Opfer von damals, sondernauch um die vielen Opfer, die in der Zwischenzeit ver-storben sind und die von den Leistungen, die dieses Ab-kommen heute ermöglicht, nichts mehr haben, weil siediesen Tag nicht erlebt haben.Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das Entschädi-gungsrecht der Bundesrepublik Deutschland insgesamt.Wenn wir auf das Abkommen mit Israel unter Adenauerzurückblicken, wenn wir an das Bundesentschädigungs-gesetz denken, das damals gegen Widerstände in der Ko-alition nur mit Unterstützung der SPD-Fraktion eineMehrheit im Deutschen Bundestag fand, wenn wir unsan die Diskussionen der 80er-Jahre über die vergessenenOpfer des Nationalsozialismus erinnern, deren Anliegenman in Regelungen zum Allgemeinen Kriegsfolgenge-setz mühsam in Härtefonds aufgenommen hat, dann stel-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7867
Volker Beck
(C)
(B)
len wir fest: Die ganze Entschädigungsgesetzgebung istim Hinblick auf unsere Haltung gegenüber den vielenMillionen Opfern des Nationalsozialismus kein Ruhmes-blatt.
Ich bin zufrieden, dass wir heute einen Schritt nach-holen. Trotzdem ist das Ganze nicht ohne Bitternis.
Deshalb sichere ich Ihnen zu: Unsere Fraktion wird allestun, damit das hier schnell über die Bühne geht. AufFristeinreden und Anhörungsrechte verzichten wirgerne. Wir wollen, dass die Leistungen nun so schnellwie möglich bei den Opfern in Polen ankommen.
Wir haben diese Woche, am 70. Jahrestag, der Befrei-ung des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht. Ichwar mit dem Bundespräsidenten selbst in Auschwitz beider Gedenkfeier. Wir werden dieses Jahr auch noch des70. Jahrestages der Befreiung des europäischen Konti-nents vom nationalsozialistischen Terror gedenken. Ichwill Ihnen sagen, auch da gibt es noch offene Fragen– das beschämt mich –, derer wir uns dringend anneh-men sollten.
Bis zum heutigen Tag sind die sowjetischen Kriegs-gefangenen nicht als Opfer des Nationalsozialismus an-erkannt. Bis zum heutigen Tag haben sowjetischeKriegsgefangene, die den Terror der Russenlager über-lebt haben, keinen Cent von Deutschland gesehen. Ichfinde, es wäre gerade in diesen Tagen – mit dem Kon-flikt, den es mit Putin gibt – ein Zeichen der Völkerver-ständigung und der Annahme der historischen Verant-wortung, wenn wir den Völkern der ehemaligenSowjetunion – den Russen, den Weißrussen und denUkrainern, den Kasachen und allen anderen Völkern –sagen: „Die, die in Deutschland gelitten haben, warenOpfer des Nationalsozialismus, sie sollten vernichtetwerden; wir erkennen das als Verbrechen an“, und die-sen Menschen, die es überlebt haben, mit einer humani-tären Geste und der Bitte um Verzeihung und Vergebungdie Hand geben.
Für die sowjetischen Kriegsgefangenen galt das gesamteKriegsvölkerrecht der Genfer Konvention nicht – durchSonderbefehle war außer Kraft gesetzt, was für westalli-ierte Gefangene galt –, sie sind zu Millionen – 2 bis3 Millionen Opfer gab es, wird geschätzt – in Deutsch-land verhungert, an Krankheiten gestorben, elendig zu-grunde gegangen, weil die nationalsozialistische Ver-nichtungspolitik es darauf abgesehen hatte. Lassen Sieuns in diesem 70. Jahr der Befreiung diese Frage imDeutschen Bundestag gemeinsam zwischen allen Frak-tionen klären!Noch einen Satz zu einer anderen Frage der histori-schen Verantwortung, die auch mit dem Ende des Zwei-ten Weltkriegs zusammenhängt: Nach Deutschland ka-men viele Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten. Eskamen viele Deutsche aus den Staaten Osteuropas, weilsie als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teilfür die Verbrechen des Hitlerfaschismus verantwortlichgemacht wurden und deshalb fliehen mussten. 1990 ha-ben wir aus ähnlichen historischen Gründen – wegen desAntisemitismus in den Staaten der ehemaligen Sowjet-union – uns entschieden, jüdische Kontingentflüchtlingehier in Deutschland aufzunehmen – ein Grund, warumwir wieder ein blühendes jüdisches Leben in Deutsch-land haben.Aber anders als bei den deutschen Aussiedlern, die zuuns kommen, werden die Rentenansprüche, die dieseMenschen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunionerworben haben, in unserem Rentensystem nicht berück-sichtigt. Aussiedler bekommen diese Zeiten nach demFremdrentengesetz anerkannt. Lassen Sie uns endlichdie jüdischen Kontingentflüchtlinge wie die Aussiedlerin das Fremdrentengesetz aufnehmen! Das kostet amEnde nicht viel Geld; aber es macht einen Unterschiedgerade für diese Menschen mit ihren schweren Schicksa-len, ob sie Grundsicherung im Alter beziehen müssenoder eine Rente bekommen, die würdigt, was sie in ih-rem Leben geleistet haben, und ihnen aus eigenem Rechtzugesprochen wird.Frau Staatssekretärin, es wäre schön, wenn Sie das inIhrem Haus erwägen könnten, sodass wir diese Fragebald lösen; denn das sind hochbetagte Menschen, dieschwer gearbeitet haben, oftmals Verfolgungen ausge-setzt waren und mit ihren Familien vor dem Hitler-faschismus geflohen sind. Denen ging es auch in derSowjetunion und im späteren Russland oder der Ukrainenicht immer gut: weil sie Juden waren. Wir haben siedeshalb aufgenommen. Lassen Sie sie uns im Renten-recht endlich deutschen Aussiedlern gleichstellen! Siesind Deutsche oder gehören zum deutschen Volk, sie ge-hören zu uns, sie sollen gleichberechtigt werden.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vor 70 Jahren wurde dasVernichtungslager Auschwitz befreit; wir hatten amDienstag die Gedenkstunde hier im Deutschen Bundes-tag. Auschwitz steht für die Ausrottung von Menschen –nur weil sie Juden waren, Kommunisten, Homosexuelleoder weil sie mit einer Behinderung lebten.Auschwitz ist nicht nur für mich, sondern sicherlichauch für Sie das Symbol für die systematische Vernich-tung von Menschen, denen letztendlich das Menschsein
Metadaten/Kopzeile:
7868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Waltraud Wolff
(C)
(B)
abgesprochen worden ist. Ich bin glücklicherweise nach1945 geboren, und ich könnte sagen: Ich persönlichtrage keine Schuld. – Aber mir geht es immer wieder so,dass ich diese Fassungslosigkeit fühle über das, was indem Land unserer Mütter und Väter passiert ist.Wir alle – darüber bin ich auch besonders froh – sindheute einig darin, dass wir schnell auf den Weg bringen,dass Menschen, die in Ghettos gearbeitet und unter denNazis gelitten haben, zu ihrem Recht verholfen wird.Das sind Menschen, die heute in Polen leben.Wir haben schon gehört, wie schwierig das in derletzten Zeit gewesen ist. Nach mehreren Anläufen undRückschlägen haben wir im Sommer diese Veränderunghinbekommen, die Rückwirkungsfrist ab Juli 1997 be-schlossen. Das erforderliche Sozialabkommen mit Polen– dafür bedanke ich mich auch ganz besonders bei FrauStaatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller, die heutedazu Stellung genommen hat – wurde schnell auf denWeg gebracht, und wir können heute mit der ersten Le-sung hier auch zu einem Abschluss kommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Uri Chanoch hat ineiner Stellungnahme an den Bundestag aus Sicht der Be-troffenen Folgendes formuliert – Zitat –:Für mich und jeden Ghettoüberlebenden bedeutetdie Anerkennung der Arbeitsleistung im Ghetto,dass endlich auch dieser Teil der Geschichte zurKenntnis genommen … wird.Dieses Abkommen, liebe Kolleginnen und Kollegen, istein Zeichen dafür. Uri Chanoch wurde 1941 ins GhettoKauna und später über das Konzentrationslager Stutthofins Außenlager Landsberg/Lech deportiert. Wir könnendas Leid, das ihm und vielen, vielen anderen zugefügtwurde, nicht ungeschehen machen, wir müssen es aberals Teil unserer Geschichte anerkennen.Es kann unter die Unmenschlichkeit des Holocausteinfach kein Schlussstrich gezogen werden. Geschichtekann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber nur,wenn wir uns aktiv mit ihr auseinandersetzen, könnenwir dazu beitragen, dass Geschichte so nicht noch ein-mal passiert.
Die Ghettos, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibenTeil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Wirzeigen heute, dass wir den Menschen, die noch am Le-ben sind, den wenigen Überlebenden – da schließe ichnoch einmal an Herrn Beck an; ich war auch schon imBundestag, als wir unter Rot-Grün dieses Gesetz be-schlossen haben –, zum Recht verhelfen – darüber kön-nen wir froh sein –, spät, aber hoffentlich nicht zu spät.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Astrid Freudenstein für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Herr Gesandter! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Einekleine Delegation der CSU-Landesgruppe war vor vierMonaten zu Gast in Polen – ich war auch dabei –, und inden Gesprächen mit dem deutschen Botschafter in War-schau, Rolf Nikel, und mit dem polnischen Staatssekre-tär für Arbeit und Soziales, Marek Bucior, waren dieGhettorenten immer auch ein Thema. Es wurde sehrdeutlich, wie sehr es der polnischen Regierung daranliegt, die Auszahlung der Ghettorenten an Polen möglichzu machen. Ich möchte mich deshalb auch ausdrücklichbei unserem Arbeits- und Sozialministerium dafür be-danken, dass die Sache angepackt und jetzt auch zu ei-nem guten Abschluss gebracht wurde.Das Warschauer Ghetto war gerade einmal 3 Quadrat-kilometer groß. Auf dieser Fläche wurden von 1940 anzeitweise mehr als 400 000 Menschen unter katastropha-len Bedingungen eingepfercht – mehrheitlich deutscheund polnische Juden, aber auch Roma. Eine ganze Groß-stadtbevölkerung lebte also auf einer Fläche, die unge-fähr so groß war wie der ehemalige Berliner FlugplatzTempelhof. Der Alltag war von Unterversorgung, Dis-kriminierung und Gewalt geprägt.Die Menschen waren im Ghetto eingesperrt. Ihren Le-bensunterhalt mussten sie dennoch selbst bestreiten. Ih-nen blieb also meist gar nichts anderes übrig, als unterunwürdigen Bedingungen für die örtlichen Firmen zu ar-beiten.Viele wurden ab 1942 in ein Vernichtungslager depor-tiert und dort umgebracht. Nur wenige Tausend überleb-ten. Einer von ihnen, den wir alle kennen, war MarcelReich-Ranicki. Er war damals Anfang 20. Seine Elternjedoch wurden ebenso ermordet wie sein Bruder. Vordrei Jahren hat Marcel Reich-Ranicki seine Erinnerun-gen an das Warschauer Ghetto ja auch in diesem Hauseindrucksvoll geschildert.Erst am Dienstag haben wir hier in einer gemeinsa-men Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismusgedacht. Auch 70 Jahre später bleibt das Leid, das vondeutschem Boden ausging, unvorstellbar. Aber wir ha-ben uns ebenso eindeutig zur historischen Verantwor-tung Deutschlands gegenüber den Opfern bekannt –auch im Hinblick auf die Wiedergutmachung.Das Leid kann natürlich nicht durch Geld- oder So-zialleistungen abgegolten und schon gar nicht im eigent-lichen Sinne in irgendeiner Form wiedergutgemachtwerden. Unsere Bemühungen gehen dahin, zumindestdie Folgen des erlittenen Unrechts etwas zu mildern. Essind insofern Gesten, und auch der vorliegende Gesetz-entwurf ist eine solche Geste an die Arbeiter aus denGhettos.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7869
Dr. Astrid Freudenstein
(C)
(B)
Die allermeisten, die die Schoa überlebten, wandertendanach nach Israel oder in die USA aus. Ghettorentenkönnen an sie seit mehr als zehn Jahren grundsätzlichausbezahlt werden. Einige aber blieben in Polen odergingen dorthin zurück, und das Sozialversicherungsab-kommen zwischen Polen und Deutschland von 1975 hates bisher unmöglich gemacht, auch an sie eine Rente ausDeutschland zu zahlen. Der Rentenexport war also aus-gerechnet in jenes Land unmöglich, in dem die deut-schen Besatzer die größten Ghettos errichtet hatten.Das jetzt vorliegende Abkommen zum Export beson-derer Leistungen an Berechtigte in Polen macht es derRentenversicherung möglich, Renten an Überlebendeaus polnischen Ghettos zu exportieren. Das ist keineEntschädigung, sondern eine Rente für geleistete Arbeit.Für viele – das wurde schon erwähnt – kommt dieserSchritt zu spät – für die allermeisten sogar. Es sind wohlnur noch wenige Hundert, die diese Rente nun beziehenkönnen, und ich würde mir deswegen wünschen, dassdie Auszahlung rasch erfolgen kann.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/3787 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zu-
satzpunkt 6 auf:
13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Bundestagsmehrheit nutzen – Pille danach
jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann , weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht
entlassen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Cornelia Möhring, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreien
Pille danach schnell umsetzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kordula
Schulz-Asche, Ulle Schauws, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Selbstbestimmung bei der Notfallverhü-
tung stärken – Pille danach mit Wirkstoff
Levonorgestrel schnell aus der Verschrei-
bungspflicht entlassen
Drucksachen 18/1617, 18/2630, 18/303, 18/492,
18/3825
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlas-
sung der Pille danach aus der Verschrei-
bungspflicht und zur Ermöglichung der
Drucksache 18/3834
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen zügig
vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben uns nun ja schon seit längerer Zeit und in vie-len Debatten und Anhörungen mit der sogenannten Pilledanach
und vor allen Dingen mit der Entlassung aus der Rezept-pflicht für das in Deutschland zugelassene Präparat be-schäftigt.Mir persönlich ist die Beibehaltung der Rezeptpflichtfür das in Deutschland zugelassene Präparat ein Anlie-gen, und zwar aus mehreren Gründen. Ich habe mich im-mer für eine Beratung dahin gehend stark gemacht, obüberhaupt ein und gegebenenfalls welches Notfallkon-trazeptivum im konkreten Fall passt. Mir war immer dieinformierte Entscheidung wichtig. Die Anhörungen– auch darauf habe ich an dieser Stelle schon mehrfachhingewiesen – haben ergeben – das haben viele Einzel-sachverständige, aber auch die Vertreter der Bundesärz-tekammer und des GKV-Spitzenverbandes so erläutert –,dass gerade die Beratung sehr wichtig ist.
Metadaten/Kopzeile:
7870 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Karin Maag
(C)
(B)
Dabei geht es mir zuerst darum, die Gesundheit derFrauen zu schützen, nicht um irgendeine vermeintlicheEinschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Zum an-deren habe ich an dieser Stelle immer darauf verwiesen,wie wichtig es ist, dass wir für beide Notfallkontrazep-tiva die gleichen Rahmenbedingungen erreichen, alsonicht für das EU-Präparat die Rezeptpflicht und für dasdeutsche Präparat den freien Verkauf haben.Wenn nun das effektivere Arzneimittel – das Wort„effektiv“ kommt nicht von mir, sondern das hat derSachverständige Professor Wallwiener bei der letztenAnhörung verwendet – nur verschreibungspflichtig er-hältlich wäre und das weniger effektive aber rezeptfrei inder Apotheke, dann würden wir den betroffenen Frauenden falschen Weg weisen, nämlich hin zum schnell ver-fügbaren, aber im jeweiligen Einzelfall möglicherweiseweniger wirksamen Präparat.Genau darum haben wir in den letzten Monaten undin den vergangenen Wochen gerungen. Nehmen wirdiese ungleichen Rahmenbedingungen in Kauf? Legenwir weiterhin Wert auf die informierte Entscheidung?Wie können wir gegebenenfalls die Beratung auch ohneRezeptpflicht sicherstellen? Diese Überlegungen mögennun manche als überflüssig ansehen. Für mich jedenfallswar die schnellere Lösung nicht immer die bessere.Genau deswegen bin ich heute umso zufriedener, dasssich dieses Ringen gelohnt hat. Die Entscheidung derEuropäischen Kommission, ellaOne mit dem WirkstoffUlipristalacetat aus der Verschreibungspflicht zu entlas-sen, hat uns natürlich die Entscheidung erleichtert.
Jetzt haben wir für das in Deutschland zugelassene Prä-parat eine neue Ausgangslage.Eines war für mich immer klar: Selbstverständlichbrauchen die Frauen in Deutschland einheitliche Rah-menbedingungen für beide Notfallkontrazeptiva. Nach-dem die Gefahr, dass das schneller verfügbare Präparatgekauft wird, gebannt ist, ist uns auch die Entscheidungleichter gefallen. Wir werden selbstverständlich auch dasdeutsche Präparat mit dem Wirkstoff Levonorgestrel ausder Verschreibungspflicht entlassen.Das BMG hat dafür die notwendigen Änderungen derArzneimittelverschreibungsverordnung veranlasst. Diese14. Änderungsverordnung wurde sehr zügig auf denWeg gebracht. Herzlichen Dank übrigens an das BMGfür dieses schnelle Vorgehen.
In der Sitzung des Bundesrats am 6. März wird hierüberabschließend beraten. Mit dem Inkrafttreten dieser Ver-ordnung können dann Frauen beide Notfallkontrazeptivakostenpflichtig in der Apotheke beziehen, und zwarohne zuvor den Arzt konsultiert zu haben. Bis dahin istellaOne mit einer OTC-Packungsbeilage im Handel;auch dafür hat das BMG bereits gesorgt.Jetzt noch einmal zum Thema Beratung. Frauen, diebefürchten, nach ungeschütztem Geschlechtsverkehrschwanger geworden zu sein, brauchen natürlich einekompetente Beratung; das haben auch die Grünen in ih-rem Gesetzentwurf so gesehen. Vor allen Dingen bin ichfroh, dass wir uns in der Koalition einig sind. Uns ist ge-meinsam wichtig, dass für alle betroffenen Frauen einhohes Beratungsniveau beibehalten wird.Genau deswegen haben sich das BMG und viele Gre-mien wie das BfArM, die Bundesärztekammer, die Arz-neimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dieDeutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts-hilfe, der Berufsverband der Frauenärzte, die ABDA, dieArzneimittelkommission der Deutschen Apotheker undder Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller zusam-mengesetzt, um das weitere Vorgehen zu erörtern, undzwar unmittelbar und direkt nach der Freigabe des einenMittels durch die EU. Schneller geht es nicht.Kurz das Ergebnis: Es wird auch künftig auf der Basiseiner Leitlinie, die von der Apothekerschaft erarbeitetwird, eine standardisierte Beratung in den Apothekengeben. Die ABDA hat zugesagt, dass sie die entspre-chenden Handlungsempfehlungen möglichst zeitnah er-stellt. Sie hat den Entwurf bereits geliefert, und sie wirdin den nächsten Wochen mit der Schulung beginnen. Diekünftige Leitlinie wird selbstverständlich mit den ge-nannten Gremien und vor allen Dingen mit dem BMGabgestimmt.Genauso selbstverständlich wird übrigens die Exper-tise der qualifizierten Schwangerschaftsberatung einbe-zogen.Ich gehe davon aus, dass ebenfalls im März die quali-fizierte und standardisierte Beratung in der Apotheke si-chergestellt ist, und ich hoffe, dass diese Beratung wei-terhin auf so hohem Niveau erfolgt wie bisher bei denÄrzten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entlassung ausder Verschreibungspflicht hätte auch grundsätzlich Fol-gen für die Kostenübernahme durch die gesetzlicheKrankenversicherung. Denn bisher haben die Versicher-ten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr auch Anspruchauf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln,aber nur dann, wenn sie ärztlich verordnet werden. Da-mit, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,bin ich bei Ihrem Gesetzentwurf. Sie wollen verständli-cherweise weiterhin die kostenlose Abgabe der Pille da-nach an die jungen Frauen ermöglichen. Auch wenn dieBegründung holprig ist: Das Anliegen eint uns. In derZielsetzung sind wir uns fast einig. Dennoch werden wirIhren Gesetzentwurf ablehnen, weil wir die schnellereund bessere Lösung haben.
Mit einer Änderung des § 24 a Absatz 2 SGB Vschaffen wir eine Ausnahmeregelung für die nicht ver-schreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva. Auch Kos-ten für diese nicht verschreibungspflichtigen Präparatemüssen künftig für die unter 20-jährigen Frauen von denKrankenkassen übernommen werden, sofern eine ärztli-che Verordnung vorliegt. Damit helfen wir den jungen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7871
Karin Maag
(C)
(B)
Frauen, die vielleicht auch weniger Geld zur Verfügunghaben und sich den direkten Kauf in der Apotheke nichtleisten können. Den notwendigen Änderungsantrag ha-ben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales mit dem5. Änderungsgesetz zum SGB IV als Omnibus bereitseingebracht.Auch diese Regelung wird voraussichtlich noch imMärz vorliegen. Damit sind wir deutlich schneller, alsdies mit einer Richtlinienanpassung über den G-BA, wieSie es vorschlagen, zu bewältigen gewesen wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin zuversicht-lich, dass wir mit den neuen Regeln bzw. unseren Ände-rungen die für die Frauen bestmögliche Lösung schaffen.Anträge und Gesetzentwürfe der Opposition brauchenwir dazu, wie immer, nicht.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es gibt ja in Zeiten der Großen Koalitionnicht sehr häufig gute Nachrichten für die Bürgerinnenund Bürger, aber ich bin sehr froh, dass wir heute eineAusnahme machen können: Die Pille danach wird end-lich rezeptfrei.
Damit werden unnötige Hürden für Frauen abgebaut,die sich nach einer Verhütungspanne vor einer Schwan-gerschaft schützen wollen. Künftig müssen sie in sol-chen Fällen nicht mehr zuerst in eine Arztpraxis oder insKrankenhaus, sondern können gleich in die Apothekegehen. Damit kehrt in Deutschland endlich ein Stück eu-ropäischer Normalität ein, das von den Unionsparteienleider lange verhindert wurde.
Das ist wirklich eine gute Nachricht für die Frauen;denn die Pille danach wirkt umso sicherer, je eher sieeingenommen wird. Gerade am Wochenende oder aufdem Land war es für Frauen manchmal schwierig, recht-zeitig erst ein Rezept und dann auch noch das Medika-ment zu bekommen. Es gibt also Grund zur Freude.Traurig ist nur, dass die Frauen so lange auf diese Ent-scheidung warten mussten. Das war auch völlig unnötig.Schon vor über zwei Jahren, am 16. Januar 2013 – alsonoch in der alten Wahlperiode –, hat die Linke einen An-trag dazu in den Bundestag eingebracht. Damals gab esbereits seit zehn Jahren eine entsprechende wissen-schaftlich begründete Empfehlung des zuständigen Aus-schusses beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Me-dizinprodukte. Im Februar 2014 erneuerte das Institutseine Entscheidung. Doch keine Bundesregierung bisherhat diese Empfehlung aufgegriffen, weder Ulla Schmidtvon der SPD noch Philipp Rösler oder Daniel Bahr vonder FDP und natürlich erst recht nicht Hermann Gröhevon der CDU.
Im Bundestag gibt es zwar schon lange eine Mehrheitfür die Verschreibungsfreiheit der Pille danach. Dennnicht nur die Linke und die Grünen, die heute Anträgevorgelegt haben, sondern auch die SPD hat sich immerwieder deutlich dafür ausgesprochen. Aber leider wer-den Sie auch heute unseren Anträgen erneut nicht zu-stimmen; denn das dürfen Sie wegen der Koalitionsdis-ziplin nicht.
Schade! Dabei mussten die Sozialdemokratinnen daseine oder andere Mal wohl die Faust in der Tasche bal-len,
etwa als der Kollege Jens Spahn von der Union denFrauen unterstellt hat, sie würden diese Notfallkontra-zeptiva wie Smarties schlucken, wenn diese Arzneimit-tel nicht mehr verschreibungspflichtig wären. DerartigeFrauenfeindlichkeit und Frauenverachtung kann mankaum ertragen.
Der plötzliche Erkenntniszuwachs beim Gesundheits-minister ist nicht vom Himmel gefallen. Das kam ganzeinfach: Gegen den Widerstand aus Berlin hat die EU-Kommission den Wirkstoff Ulipristal europaweit aus derVerschreibungspflicht genommen. Dieser Wirkstoff be-wirkt dasselbe wie Levonorgestrel, über den wir heutedebattieren und für den noch allein die Bundesregierungzuständig wäre. Unterschiedliche Regelungen für diesebeiden Wirkstoffe? Das kann selbst ein Herr Gröhe derÖffentlichkeit nicht mehr verkaufen. So hat er nun nachlangem Widerstreben endlich aufgegeben und die nötigeVerordnung auf den Weg gebracht, übrigens genau andem Tag in der letzten Sitzungswoche, an dem unsereAnträge im Gesundheitsausschuss zur abschließendenDebatte standen. Ich freue mich, dass wir diese Entschei-dung endlich erleben dürfen; denn diese Entscheidungstärkt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Sie ent-spricht wissenschaftlichen Erkenntnissen und hilft viel-leicht sogar, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern.Deswegen begrüßen wir sie.
Auch unsere zweite Forderung haben Sie aufgegrif-fen, nämlich dass jüngere Frauen unter 20 weiterhin auf
Metadaten/Kopzeile:
7872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Kathrin Vogler
(C)
(B)
Kosten der Krankenkassen mit diesen Verhütungsmittelnversorgt werden können, wenn sie ärztlich verordnetwerden. Auch das ist gut und das unterstützen wir. Daszeigt wieder einmal, dass sich beharrliche Oppositions-arbeit doch lohnt.
Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Martina
Stamm-Fibich das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der lange Atem, den wir als SPD-Bundes-tagsfraktion beim Thema Pille danach bewiesen haben,hat sich gelohnt.
Er hat sich gelohnt vor allem für die Frauen in Deutsch-land. Sie werden die Pille danach schon bald ohne Re-zept in der Apotheke erhalten. Gut, dass wir so beharr-lich waren. 2012 haben wir als SPD-Fraktion den erstenAntrag gestellt und damit als erste Fraktion im Deut-schen Bundestag die Rezeptfreiheit der Pille danach ge-fordert.
Mit dieser Forderung standen wir schon damals nichtallein. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin-produkte hat schon 2003 empfohlen, die Verschrei-bungspflicht aufzuheben. Auch die Europäische Arznei-mittel-Agentur vertritt seit Jahren die Meinung, dass diePille danach auch ohne ärztliche Verschreibung sicherund effektiv ist. Die Weltgesundheitsorganisation rät seit2010 dazu, die Pille danach rezeptfrei abzugeben. DiePille danach ist gut erforscht und weitgehend frei vonNebenwirkungen, und zwar unabhängig vom Wirkstoff.Alle bisherigen Studien kommen zu dem Ergebnis, dassdie beiden Wirkstoffe Ulipristal und Levonorgestrel einvergleichbares Sicherheitsprofil haben.Es gibt also gute Gründe dafür, dass in rund 80 Staa-ten der Welt die Pille danach ohne Rezept erhältlich ist.Auch in den meisten europäischen Staaten ist die Pilledanach bereits rezeptfrei zu bekommen. Viele unsererNachbarländer wie zum Beispiel Belgien, Frankreichund die Niederlande machen damit gute Erfahrungen.Dass jetzt endlich auch in Deutschland unsere Forderungerfüllt wird, dass die Pille danach schon bald auch hier-zulande rezeptfrei abgegeben wird, freut mich sehr.
Ein längst überfälliger und wichtiger Schritt für dasSelbstbestimmungsrecht moderner Frauen ist damit voll-zogen. Ich hoffe, dass bereits im Frühjahr Frauen vonder getroffenen Entscheidung profitieren. Künftig kom-men sie bei Bedarf unkompliziert und schnell an diePille danach. Die meisten Verhütungspannen passierenschließlich am Wochenende oder dann, wenn der ver-traute Frauenarzt gerade keine Sprechstunde hat. Bislangwar der Gang in die Notaufnahme dann der einzige Weg,um rechtzeitig die Pille danach zu erhalten. Dieser Gangin die Notaufnahme bedeutete oft enorme Wartezeitenund konnte durchaus zu einem Spießrutenlauf geraten,bei dem sich die betroffenen Frauen unangemessene Be-merkungen anhören mussten. Das alles gehört nun, sohoffe ich, der Vergangenheit an.
Die Befreiung der Pille danach von der Rezeptpflichtist ein Erfolg unserer Hartnäckigkeit, und dieses Eigen-lob, liebe Genossinnen und Genossen, haben wir unsredlich verdient.
Im jahrelangen politischen Tauziehen haben wir alsSPD-Bundestagsfraktion einen kühlen Kopf bewahrt, fürunseren Standpunkt geworben und die Skeptiker über-zeugt. Dem einen oder anderen Skeptiker half – das willich hier nicht verschweigen – zu guter Letzt noch ein Im-puls aus Brüssel auf die Sprünge.Am 7. Januar 2015 entschied die EU-Kommission,die Pille danach mit dem Wirkstoff Ulipristal aus der Re-zeptpflicht zu entlassen. Damit markierte die Kommis-sion einen Wendepunkt im Kampf für die Rezeptfreiheitund hat im Gesundheitsministerium ein erfreuliches Um-denken bewirkt. Das Gesundheitsministerium will dieseeuropäische Entscheidung jetzt im Rahmen der 14. Ver-ordnung zur Änderung der Arzneimittelverschreibungs-verordnung zügig umsetzen. Ich begrüße dies ausdrück-lich. Die neue Verordnung sieht auch vor, dass die Pilledanach mit dem Wirkstoff Levonorgestrel künftig nichtmehr verschreibungspflichtig ist.Ich begrüße auch die Regelungen zur Erstattung. Hierist Folgendes vorgesehen: Für unter 20-jährige Frauensoll die Pille danach weiterhin kostenlos sein. Bisher ha-ben Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherungbis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf Ver-sorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln, wenn sieärztlich verordnet werden. Um auch nach der Entlassungder Pille danach aus der Verschreibungspflicht sicherzu-stellen, dass für Frauen, die das 20. Lebensjahr nochnicht vollendet haben, die Kosten nicht nur für her-kömmliche empfängnisverhütende Mittel, sondern auchfür Notfallkontrazeptiva durch die GKV übernommenwerden, wird der Artikel 1 § 24 a SGB V entsprechendgeändert. Der neue Satz 2 dieses Paragrafen sieht eineentsprechende Ausnahmeregelung für die nicht ver-schreibungspflichtigen Notfallkontrazeptiva vor. DieRegelung bestimmt, dass die Kosten für diese nicht ver-schreibungspflichtigen empfängnisverhütenden Mitteldurch die Krankenkassen zu tragen sind, sofern eineärztliche Verordnung vorliegt.Uns allen ist klar: Die Pille danach ist ein Notfallme-dikament. Sie ist kein Ersatz für die Antibabypille. Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7873
Martina Stamm-Fibich
(C)
(B)
wirkt nicht, wenn sich die befruchtete Eizelle bereits ein-genistet hat. Die Pille danach ist demnach kein Präparat,das einen Schwangerschaftsabbruch zur Folge hat. DiePille danach ist ein wichtiges Mittel zur Prävention un-gewollter Schwangerschaften und ihre Freigabe damiteine große Erleichterung für Frauen.Mit der Aufhebung der Rezeptpflicht stellt sich aller-dings auch die Frage der medizinischen Beratung undAufklärung neu. Beides darf auf keinen Fall vernachläs-sigt werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass Frauenauch in Apotheken fachkundig beraten und ausführlichüber mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt werden.
Auf keinen Fall darf der Eindruck aufkommen, die Pilledanach könne man so bedenkenlos wie eine Kopf-schmerztablette einnehmen.
Eine gute Beratung bei der Abgabe der Pille danachmuss also auf jeden Fall sichergestellt werden. In diesemPunkt besteht weithin Einigkeit. Wie die Dokumentationim Einzelnen ausgestaltet werden soll und wie Beratungund Aufklärung vergütet werden können, ist dagegennoch offen.Ich bin der festen Überzeugung, dass Apotheker einequalitativ gute Beratung leisten können. Schließlich istdie Beratung zur Einnahme von Arzneimitteln für dieApotheker kein Neuland, sondern eine Kernkompetenz.
Sie beweisen tagtäglich, dass sie die nötige Fachkenntnisund auch das wünschenswerte Fingerspitzengefühl ha-ben.Gemeinsam mit Frauenärzten, Apothekern und demBfArM werden derzeit fachliche Kriterien dafür entwi-ckelt, wie Beratungsgespräche diskret gestaltet werdenkönnen. Von allen Seiten höre ich, dass diese Gesprächesehr konstruktiv verlaufen. Ob am Ende nun ein standar-disierter Dokumentationsbogen oder eine Art Checklistemit Fragen stehen wird, ist gegenwärtig noch offen.Zu klären sind auch noch einige offene Fragen, wiezum Beispiel die, ob auch Versandapotheken der Ver-sand erlaubt werden kann und ob es eine Mindestalters-grenze für die Abgabe für die Pille danach geben kann.Ich hoffe, dass diese Fragen rasch geklärt werden, damitfür die betroffenen Frauen keine unnötigen Unsicherhei-ten entstehen.Die Rezeptfreiheit der Pille danach war von Anfangan ein Herzensthema der SPD-Bundestagsfraktion. Ge-sundheitsminister Gröhe hat mit der Eilverordnungschnell und richtig reagiert und kommt damit den Forde-rungen nach, die wir als SPD-Bundestagsfraktion seitlanger Zeit stellen.
Kollegin Stamm-Fibich, Sie müssen zum Schluss
kommen.
Ich komme zum Ende. – Die Anträge von Linken und
Bündnis 90/Die Grünen sowie deren Gesetzentwurf ha-
ben sich mit der Eilverordnung erübrigt und werden da-
her von uns abgelehnt.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Ulle Schauws das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gesundheitsminister Hermann Gröhe hat end-lich angekündigt – wir haben es mittlerweile mehrfachgehört –, die Pille danach aus der Rezeptpflicht zu ent-lassen. Das ist eigentlich eine gute Nachricht für dieFrauen in diesem Land. Aber ich finde, es bleibt ein bit-terer Nachgeschmack; denn die Entscheidung war keinefreiwillige. Die EU-Kommission musste den Ministererst zur Vernunft zwingen. Sie hat klar entschieden, diePille danach mit dem Wirkstoff Ulipristalacetat europa-weit ohne Verschreibung freizugeben. Ohne das wäremeiner Ansicht nach nichts passiert.
– Ja, das mag sein. Aber sonst wäre nichts passiert. AuchSie hätten daran nicht viel geändert.Dass er jetzt auch den zweiten, weitaus besser geprüf-ten Wirkstoff Levonorgestrel aus der Verschreibungs-pflicht entlassen will, ist mehr als folgerichtig. Das warseit langem eine grüne Forderung.
Für dieses unnötige Geziehe und Gezerre kann MinisterGröhe von uns keinen Applaus erwarten.
Die Aufhebung der Rezeptpflicht war längst überfäl-lig. Sie von der Union haben mehr als zehn Jahre verhin-dert, dass es dazu kam, erst zu rot-grünen Zeiten durchIhre Blockade im Bundesrat und in den letzten Jahren alsRegierungsfraktion. Sie blieben bei dem Kurs; auch Sieignorierten den ausdrücklichen Rat der zuständigen Be-hörden. Warum? Dafür gibt es aus meiner Sicht zweiGründe: Zum einen waren Sie von der Union aus ideolo-gischen Gründen dagegen, die Pille danach freizugeben.
Metadaten/Kopzeile:
7874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Ulle Schauws
(C)
(B)
Mir scheint, Sie haben nach wie vor ein Problem damit,die reproduktiven Freiheiten von Frauen ohne Wenn undAber zu stärken.
Zum anderen – das finde ich genauso fatal – haben Siesich dem Druck der Ärztelobby gebeugt. Die Gynäkolo-gen haben nämlich kein Interesse daran, dass die Pilledanach direkt in Apotheken verkauft wird. Sie wollen,dass die Frauen in ihre Praxis kommen und sie Rezepteverschreiben können. Damit verdienen sie ihr Geld.Ich muss hier einmal anmerken – ich habe mir dieletzte Debatte noch einmal sehr genau angesehen –: Eswar wirklich schwer erträglich, wie Sie von der Unionsich ausschließlich für die Interessen der Ärzteschaftstarkgemacht haben. Sie haben das Selbstbestimmungs-recht der Frauen diesen untergeordnet. Nun hat derMinister erfreulicherweise die Seite gewechselt, und Siemüssen jetzt zusehen, wie Sie auf die neue Linie kom-men.
Sie, Kollegin Maag, haben das heute schon ganz gut un-ter Beweis gestellt.
Ich finde, der Minister hätte die Urteile der Expertin-nen und Experten von vornherein ernst nehmen müssen.Der Sachverständigenausschuss für Verschreibungs-pflicht sprach sich wiederholt für die Rezeptfreiheit aus;aber der Minister hielt viel zu lange daran fest, und zwargegen die Vernunft und auch gegen Lösungen für Frauenin Notsituationen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich betone nocheinmal ausdrücklich: Bei einer Verhütungspanne odergar nach einer Vergewaltigung zählt für die Frau jedeStunde, vor allem am Wochenende. Ich bin davon über-zeugt, dass Frauen verantwortungsvoll mit dem Präparatumgehen. Es wäre gut, wenn Sie von der Union das end-lich auch so sähen.
Außerdem geht es jetzt darum, dass junge Frauen dieMöglichkeit erhalten, wie bisher die Pille danach kosten-frei bzw. gegen Zuzahlung zu bekommen. Mit unseremGesetzentwurf wollen wir das Sozialgesetzbuch V än-dern, damit junge Frauen entscheiden können: Pille da-nach entweder kostenlos mit ärztlicher Verschreibungoder selbst zahlen direkt in der Apotheke.
– Ja, jetzt machen Sie es. Aber unser Gesetzentwurf lagein bisschen eher vor. – Das nenne ich Selbstbestimmt-heit und echte Wahlfreiheit für junge Frauen.Weiterhin setzen wir darauf, die qualifizierte Bera-tung durch die gut ausgebildeten Apothekerinnen undApotheker zu stärken. Wir wollen auch Entscheidungs-hilfen im Internet anbieten. Wir wollen den Frauen er-möglichen, eine informierte Entscheidung zu treffen.
Ich meine, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ei-gentlich ganz einfach. Sie haben jetzt einen Vorschlagvorgelegt. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Siekönnen dem eigentlich zustimmen. Wir sind dann ge-meinsam auf der Zielgeraden. Für die Frauen ist das aufjeden Fall eine gute Entscheidung.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck-sache 18/3825. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1617mit dem Titel „Bundestagsmehrheit nutzen – Pille da-nach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktiongegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe bseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2630 mit demTitel „Pille danach jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-nommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/303 mitdem Titel „Den Bundesratsbeschluss zur rezeptfreienPille danach schnell umsetzen“ für erledigt zu erklären.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist einstimmig angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 18/492 mit dem Titel „Selbstbestimmung bei derNotfallverhütung stärken – Pille danach mit WirkstoffLevonorgestrel schnell aus der Verschreibungspflicht ent-lassen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen derFraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7875
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Zusatzpunkt 6: Interfraktionell wird Überweisung desGesetzentwurfs auf Drucksache 18/3834 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nichtder Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung gemäß § 56 a der Ge-schäftsordnungTechnikfolgenabschätzung
Climate EngineeringDrucksache 18/2121Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich nehme an,dass der Geräuschpegel keinen Widerspruch zu dieserVereinbarung bedeutet, sondern nur das Bemühen aus-drückt, möglichst zügig die Weiterführung der Verhand-lungen zu ermöglichen.Es fällt mir auf, Kollege Lengsfeld, dass wir öfter dieSituation haben, dass ich erst einmal für Ruhe sorgenmuss, damit Sie hier sprechen können.
– Ja, auch aus der eigenen Fraktion.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Philipp Lengsfeld.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vor uns liegt ein besondersinteressanter Bericht des Büros für Technikfolgen-Ab-schätzung. Er handelt vom Aufregerthema Klimawandelund ist aus meiner Sicht Technikfolgenabschätzung imbesten Sinne.Die momentane Grundstrategie beim Thema Klima-wandel fokussiert auf die Minderung des Ausstoßes vonTreibhausgasen. Diese Strategie ist die Mitigation, alsoDämpfung. Sie steht auch im Zentrum unserer aktuellenpolitischen Diskussion in Deutschland. In dem vorlie-genden Bericht geht es dagegen um Intervention, alsoum ein aktives großtechnisches globales Gegensteuern.Die international üblichen Fachtermini heißen Climateoder Geoengineering. Der Bericht behandelt die mögli-chen Wirkungen und Nebenwirkungen von solchen In-terventionstechniken, die momentan aber nur diskutiertund noch nicht angewendet werden. Technikfolgenab-schätzung ist hier so wichtig;
denn wir reden von hochmanipulativen globalen Eingrif-fen des Menschen in die Natur mit dem Ziel, befürchteteKlimaveränderungen zu verhindern.Mein Fazit aus dem Bericht möchte ich gleich an denAnfang stellen: Wir sollten vom Climate Engineeringauf jeden Fall die Finger lassen. Ich will dies natürlichkurz begründen.Was wird konkret unter dem Terminus Climate Engi-neering diskutiert? Zunächst einmal gibt es eine ganzzentrale Grundannahme, die man verstehen muss. Diesezentrale Grundannahme besagt, dass der CO2-Ausstoß indie Luft und die damit verbundene Erderwärmung einenPunkt erreicht haben oder bald erreichen werden, an demnur durch manipulative Eingriffe, also durch ClimateEngineering, der gewünschte stabile klimatische Zu-stand bewahrt werden kann.Die diskutierten manipulativen Maßnahmen gliedernsich in zwei Hauptgruppen. Eine Hauptgruppe sind di-rekte Interventionen zur Dämpfung der Erderwärmungdurch Temperaturmanipulation, zum Beispiel – und dasist kein Witz – durch die Anbringung großer Spiegel imAll oder durch großflächige Aufhellung der Wolkendurch Aerosole, um deren Reflexionseigenschaften zuerhöhen. Ziel ist es natürlich, den Wärmeeintrag in dieAtmosphäre zu verringern und so die Erdtemperatur zusenken. Hier ist eigentlich intuitiv schon klar, dass dieseArten der Manipulation zu gefährlich, zu teuer und in ih-rer Wirkung äußerst zweifelhaft sind.
Insgesamt etwas gefälliger wirken die indirekten In-terventionen. Dies sind Vorschläge zum Entzug von CO2aus der Atmosphäre. Ich will ein größeres Beispiel kurznäher diskutieren: Eine Idee, die, wie ich finde, zumin-dest oberflächlich betrachtet relativ attraktiv wirkt, istdie großflächige Aufforstung von Wüstenflächen, zumBeispiel die Aufforstung der Sahara. Bei näherer Be-trachtung sind aber auch hier ungeheure lokale und glo-bale Risiken verborgen; denn für eine großflächige Wüs-tenaufforstung braucht man Unmengen von Wasser. Hiermöchte ich an ein warnendes historisches Beispiel fürGeoengineering erinnern, unter dessen Folgen die be-troffene Region noch heute ganz massiv leidet. Ich redevom Aralsee. Das ist ein Beispiel für menschgemachteNaturmanipulationen mit katastrophalen Folgen. Damalsging es zwar nicht um die Rettung des Weltklimas, son-dern um den Siegeszug des Kommunismus; aber die Me-thoden waren ähnlich. Man hat riesige Mengen Wasserin die Wüste umgeleitet, um eine extensive Baumwoll-produktion zu ermöglichen. Leider ging darüber derAralsee kaputt, wurde das Herz einer großen Region zer-stört.Damit könnten wir es bewenden lassen. Wir haben,was die Kommunisten nicht interessiert hat, nämlich
Metadaten/Kopzeile:
7876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Philipp Lengsfeld
(C)
(B)
eine Abschätzung der Technikfolgen. Der Bericht zeigtuns, dass die Technologien zu unkontrollierbar sind, alsolassen wir es. Climate Engineering zur Klimarettung istkeine Option.
Das heißt ja nicht, dass wir auf dem Gebiet nicht mehrforschen sollen. Aber wir können und müssen vielleichtnoch mehr lernen; denn der Bericht macht deutlich, dassdie momentanen Vorgaben in der internationalen Klima-forschung durch Mitigation vermutlich gar nicht mehr zuerreichen sind.Darüber muss man aber aus meiner Sicht nicht ver-zweifeln. Vielmehr sollten wir daraus die richtigenSchlüsse ziehen; denn es gibt eine dritte Strategie, unddas ist die Adaption. Wir konzentrieren global mehrKräfte auf das Verständnis der kommenden Veränderun-gen und die Entwicklung nachhaltiger Strategien zur An-passung, zur Adaption an diese Veränderungen. Hiersind unsere Kräfte richtig verwendet. Darauf sollten wiruns konzentrieren, meine Damen und Herren. DiesenWeg weist uns dieser Bericht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst möchte ich mich bei den Wissenschaftlern desBüros für Technikfolgen-Abschätzung für den Berichtbedanken,
einen Bericht, der sehr lesenswert ist, für alle Klimabe-wegten ein Muss.Worum geht es bei Climate Engineering? Ich denke,das ist ganz schnell erklärt: Mit technischen Eingriffenin das globale Klima soll die Erderwärmung gestopptwerden. Diese einfache Idee steckt hinter dem Begriff.Für manche Wissenschaftler, Politiker und Manager vonEnergiekonzernen ist das anscheinend ein sehr betören-der Gedanke. Mit technischen Eingriffen, nämlich durchdas Versprühen von Schwefelpartikeln in der Atmo-sphäre, soll die Sonne verdunkelt und dadurch die Erdeabgekühlt werden. Und mit technischen Eingriffen, näm-lich durch das Einleiten von Chemikalien in die Ozeane,soll das Wachstum von Algen beschleunigt werden, da-mit diese mehr klimaschädliches CO2 aufnehmen. EineJournalistin des RBB hat es so kommentiert:Die Idee scheint verlockend. Anstatt seine Ge-wohnheiten zu verändern, um die Erderwärmung zustoppen, könnte der Mensch das Klima einfachkünstlich überlisten. Ein bisschen Gott spielen.Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass sich dieÖffentlichkeit, genau wie die Linke, vor diesenFrankenstein-Klimaingenieuren gruselt.
Wir werden uns aber nicht nur fürchten. Die Linke wirdsich auch in Zukunft gegen das Rumschrauben am Welt-wetter stellen, Vorhaben beobachten und sich notfalls fürVerbote einsetzen – auch bei CCS, das Frau Umweltmi-nisterin Hendricks jüngst leider wieder ins Spiel ge-bracht hat.
Eigentlich reden wir heute nicht über Klima; es gehtum die Beherrschbarkeit von Technik. Ich kann Ihnensagen: Ich bin keine Technikfeindin; Umweltschützerin-nen und Umweltschützern wird das ja ständig vorgehal-ten. Ich habe in einem hoch technisierten Unternehmengearbeitet, für einen Maschinenbauer aus meiner HeimatIngolstadt, der Baumwollspinnereimaschinen herstellt.
Wir alle sind von Technik, die unser Leben erleichtert,umgeben. Aber lassen Sie es mich auf den Punkt brin-gen: Climate Engineering birgt zu viele Risiken. Wa-rum? Es gibt zu viele unbekannte Variablen im Hinblickauf das Klima, das Wasser, die Luft, den Untergrund,den Menschen, für Flora und Fauna. Das Klima ist einhochkomplexes System. Es ist keine Klimaanlage, dieman einfach an- und abstellt.Ich möchte zwei Stimmen zu Wort kommen lassen.Erstens, zur Vorhersagbarkeit. Sie kennen die Fragestel-lung des US-Meteorologen Edward Lorenz – es ist eineinteressante Frage –: Kann der Flügelschlag einesSchmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas aus-lösen? Ja, er kann. Das Weltklima ist kein linearesSystem wie eine Maschine oder ein Lichtschalter. DieVerfechter der Sonnenstrahlungsbeeinflussung durchSchwefelpartikel setzen vor allem auf Computermo-delle. Lorenz würde darüber den Kopf schütteln. Klimaund Wetter sind chaotisch, Eingriffe nicht berechenbar.Alles andere ist gefährliche Hybris.Zweitens, zur Zielstellung. Statt, wie es die Linke for-dert, einen Kohleausstieg einzuleiten und auf Erneuer-bare umzusteigen, bliebe unsere fossile Lebensweise un-angetastet. Darum schließe ich mit Albert Einstein. Inseinem gerne vergessenen Aufsatz „Warum Sozialis-mus?“
erklärt der vielleicht wichtigste Wissenschaftler der Mo-derne, man solle sich davor hüten, „die Wissenschaftund wissenschaftliche Methoden zu überschätzen, wennes um Menschheitsprobleme geht“. An anderer Stelleschreibt er:Probleme kann man niemals mit derselben Denk-weise lösen, durch die sie entstanden sind.Danke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7877
Eva Bulling-Schröter
(C)
(B)
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe vier Vertreter des deutschen Volkes aufder Besuchertribüne!
Seien Sie herzlich gegrüßt! Der französische Romanau-tor Jules Verne – die Älteren unter uns kennen nochKapitän Nemo und die Nautilus – hat 1889 den RomanDer Schuss am Kilimandscharo veröffentlicht. Dort be-schreibt er im Prinzip das erste Geoengineering-Projektder Welt. Seine Protagonisten versprechen den Men-schen, die Jahreszeiten abzuschaffen, damit man es im-mer schön warm hat, jedenfalls auf der Nordhalbkugel.Sie arbeiten an einem Plan, den sie auch ausführen. Siebauen eine große Kanone am Kilimandscharo und hof-fen, dass sie mit dem Rückstoß beim Abschuss die Erd-achse verschieben, sodass die Nordhalbkugel immer inder Sonne liegt. Das geht alles schief. Am Ende heiratetder Held wenigstens.
Das kann auch schief gegangen sein. Aber soweit ichmich erinnere, ist es das erste Mal, dass ein Romanautoreinen technischen Eingriff in das Klima beschreibt.Es hat mehr als 100 Jahre gedauert, bis die Überle-gung von Climate Engineering, also die Veränderung desKlimas, durch eine Umweltkatastrophe wieder Eingangin die öffentliche Diskussion fand. 1991 – auch daran er-innern sich vielleicht die Älteren unter uns – brach derVulkan Pinatubo auf den Philippinen aus. Dadurch wur-den 17 Millionen Tonnen Schwefeldioxid in die Stratos-phäre getragen. Dies führte dazu, dass die Sonnenstrah-len in Teilen reflektiert wurden und die Erde sichweniger stark erwärmte. In den darauffolgenden zweiJahren hat man tatsächlich eine Absenkung der globalenTemperatur um fast ein halbes Grad gemessen. Dasheißt, die Partikel, die sich in der Stratosphäre infolgedes Vulkanausbruches befanden, haben dazu geführt,dass weniger Sonnenlicht den Boden erreichte und er-wärmte.Der Nobelpreisträger für Chemie Paul Crutzen hatdas im Jahr 2006 in einer wissenschaftlichen Arbeit auf-gegriffen und überlegt, ob man den Klimawandel, derschon damals diskutiert wurde, nicht über eine solcheMethode beeinflussen könnte. Er hat vorgeschlagen,Schwefeldioxid in großen Mengen in die Stratosphäreeinzubringen, um die Erderwärmung zu reduzieren.In Deutschland hat 2009 ein deutsch-indisches Pro-jekt die Diskussion um Climate Engineering öffentlichgemacht und beschleunigt, nämlich das deutsch-indischeEisendüngungsprojet Lohafex. Das deutsche For-schungsschiff „Polarstern“ hat im südatlantischen Raum20 Tonnen Eisensulfat ausgebracht. Eisensulfat ist einMikronährstoff für Algen, den sie zum Wachstum brau-chen. Man hat über die Ausbringung in einem begrenz-ten Gebiet versucht, das Algenwachstum anzuregen mitdem Hintergedanken: Wo Algen wachsen – das ist einnatürlicher Prozess –, binden sie Kohlendioxid aus demWasser und damit indirekt aus der Atmosphäre; wenn siezu Boden sinken, nehmen sie das gebundene CO2 mitund reduzieren so den Kohlendioxidgehalt in der Atmos-phäre.Damals erschien ein Spiegel-Artikel dazu. Sowohl dieWissenschaft als auch die Politik waren von dieser Me-thode sehr überrascht, und in der Gesellschaft beganneine Diskussion darüber, ob man so etwas darf und wel-che Auswirkungen es hat. Dies führte am Ende zur Be-auftragung des Büros für Technikfolgen-Abschätzungdes Deutschen Bundestages, das ein sehr bewährtes In-strument ist. Ich bedanke mich für die Gelegenheit, dasserstmals in den letzten Jahren ein TAB-Bericht einzelndiskutiert wird und nicht angehängt an ein anderesThema. Dieser TAB-Bericht zeigt, welche Auswirkun-gen, welche Folgen und welche Potenziale ClimateEngineering haben kann bzw. hat.Neben den beiden genannten Beispielen möchte ichdie beiden Methoden ansprechen, die im Vordergrundstehen: Das eine ist die Strahlungsabschirmung, Radia-tion Management, also Strahlungsmanagement. Das an-dere ist das Einfangen von Kohlendioxid, wie es beiLohafex geplant war, dass man also versucht, Kohlendi-oxid aus der Atmosphäre oder dem Wasser zu bindenund dann zu entfernen. Bei beiden Arten von ClimateEngineering wissen wir, bestätigt durch den TAB-Be-richt, dass die Auswirkungen völlig unklar sind.Es gibt zwar keine Anwendung solcher Ideen bzw.Projekte. Aber wir wissen überhaupt nicht, was passiert,wenn wir in großem Maße Kohlendioxid, beispielsweiseüber Eisendüngung im Ozean, binden. Wir verzeichnenseit dem Klimawandel, seit dem Anstieg der Temperatureine zunehmende Versäuerung der Ozeane. Wir wissennicht, welche ökologischen Katastrophen es nach sichzieht, wenn die Ozeane nicht mehr als Brutstätte, als Ge-burtsort für Fische und andere Lebewesen zur Verfügungstehen, weil die natürlichen Bedingungen nicht mehrexistieren.Beim Radiation Management vermuten wir, dass eineder Auswirkungen sein könnte, dass zum Beispiel diemittleren Niederschläge nachlassen. Das wird einige Re-gionen freuen – Lüdenscheid wird sich freuen, weil esim Sauerland weniger regnen wird –, aber in anderenBreitengraden wird es katastrophale Folgen haben, wennweniger Regen fällt.Eine Schlussfolgerung des vorliegenden Berichtes ist,dass die Fragen, die wir haben, völlig ungeklärt sind.Wir wissen nicht, was im internationalen Kontext pas-siert, wenn ein Land Climate Engineering betreibt, aberdie Auswirkungen in einem anderen Land zutage treten.Was bedeutet das völkerrechtlich? Wie ist das zu regeln?Im vorliegenden TA-Bericht werden entsprechende Vor-
Metadaten/Kopzeile:
7878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
René Röspel
(C)
(B)
schläge aufgeführt. Wir sollten uns überlegen, wie wiruns in Deutschland gegenüber Anwendungen wappnenkönnen, und Verhandlungen auf internationaler Ebeneaufnehmen, um dies endlich zu regeln.Im TA-Bericht wird dazu aufgefordert, dass Deutsch-land im Bereich Climate Engineering weiter forschensollte, aber nicht, um Anwendungen voranzutreiben.Vielmehr geht es darum, die Auswirkungen besser beur-teilen zu können, um bei Diskussionen im internationa-len Kontext kompetent mitreden zu können. Diese Auf-forderung nehmen wir an.Die größte Gefahr von Climate Engineering, die ichsehe, ist allerdings – damit komme ich zum Schluss –,dass wir uns in Sicherheit wiegen könnten, dass es ir-gendwann eine Anwendung gibt, mit der wir den Klima-wandel, der sich bereits vollzieht, beherrschen können.Das Konzept, dass man für den Notfall gewappnet seinund bestimmte Technologien vorhalten sollte, ist der fal-sche Weg.Uns allen sollte klar sein, dass es nur eine Lösung zurBegrenzung des Klimawandels gibt: die Vermeidung vonKohlendioxid und die Vermeidung von Treibhausgasen.Das heißt, mehr Investitionen in erneuerbare Energien,in Energieeffizienz und einen Umstieg in eine andereEnergiepolitik. Das sind wir den künftigen Generationenschuldig. Das ist auch die Schlussfolgerung aus diesemBericht.Vielen Dank.
Der Kollege Harald Ebner hat für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Zahllose Krisenherde zwingen derzeit soviele Menschen wie nie zuvor, ihre Heimat zu verlassen.Unbemerkt davon wächst sich eine globale Krise zu ei-nem Haupttreiber von Flucht aus, und das ist die Klima-krise.
Wetterkatastrophen wie Fluten und Stürme habendazu geführt, dass seit dem Jahr 2008 mehr als 140 Mil-lionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, so derUNHCR. Im Jahr 2050 müssen wir mit bis zu 1 Mil-liarde an Klima- und Umweltflüchtlingen rechnen. Wennwir das Aufheizen der Welt um 2 Grad und damit dasFlüchtlingsleid begrenzen wollen, muss mehr als dieHälfte der fossilen Ressourcen in der Erde bleiben. Daswar in Lima Konsens der Weltgemeinschaft.Um sein Klimaziel zu erreichen, muss Deutschlandbeispielsweise seine Emissionen bis 2050 auf 5 bis7 Prozent seines heutigen Niveaus zurückfahren. Vor un-serem grünen Fraktionssaal – Sie alle können einmalvorbeischauen – befindet sich eine Klima-Uhr,
die sekündlich den Ausstoß an Treibhausgasen inDeutschland aufsummiert. Sie zeigt: Schon in den erstendrei Wochen dieses jungen Jahres hat Deutschland be-reits die Menge an Treibhausgasen emittiert, die wir2050 während des gesamten Jahres ausstoßen dürfen,wenn wir das Klimaziel nicht verfehlen wollen. – Das istnicht zukunftsfähig.Keine Frage, die Herausforderung ist gewaltig undverlangt uns unbequeme Veränderungen ab. Aber geradeweil es sich um eine solch große Aufgabe handelt, er-scheint die Idee des Climate Engineering – es wurdeschon erklärt – auf den ersten Blick sehr verlockend:eine gezielte Beeinflussung des Klimas, ohne mühsamTreibhausgase zu reduzieren. Aber der TA-Bericht zeigt,das ist eine Seifenblase. Eine einfache technologischeWeltrettung wird so nicht möglich sein. Wir wissen bis-lang noch viel zu wenig darüber, ob das jemals in derPraxis funktionieren könnte und welche Risiken, welcheNebenwirkungen und welche Kosten dadurch entstehen.Wir brauchen natürlich – Kollege Röspel hat es gesagt –eine umfassende Risikoabschätzung. Die heutige De-batte mag dazu ein Anfang sein.Gerade angesichts dieser großen Fragezeichen dürfenwir bei den Klimaschutzanstrengungen auf keinen Fallnachlassen. Ich bin froh, dass sich in diesem Punkt, wieich gehört habe, hier alle einig sind. Ich möchte das Ge-sagte bestätigen: Wir brauchen auch international eineVerständigung darüber, wie wir mit diesen Risikotechno-logien umgehen. Laut Bericht lassen sich unerwünschteEntwicklungen nur anhand völkerrechtlicher Vorgabeneffektiv vermeiden. Und da, glaube ich, dürfen wirschon erwarten, dass die Bundesregierung tätig wird;denn wir dürfen nicht zulassen, dass irgendwer beginnt,am Klima herumzupfuschen.
Der Bericht macht auch Folgendes deutlich: Selbstwenn diese Technologie jemals ohne erhebliche Neben-wirkungen zuverlässig und zu vertretbaren Kosten funk-tionieren könnte, wird es noch viele Jahrzehnte dauern,bis sie überhaupt einsatzbereit wäre. Unsere Klima-Uhrzeigt aber: Wir haben keine Zeit.Ministerin Hendricks – sie ist, glaube ich, gar nichtanwesend; das wäre aber gar nicht schlecht gewesen –hat in Lima zu Recht den Appell: „Act now!“, an dieStaatengemeinschaft gerichtet; aber leider liegen bei derBundesregierung – es sei mir erlaubt, das hier zu sagen –Worte und Taten so weit auseinander wie die schmelzen-den Polkappen.
– Natürlich kommt hier Widerspruch von Ihnen. – Eswiderspricht klar dem Klimaschutzziel, wenn die Kanz-lerin in Brüssel strengere Verbrauchsvorgaben für Pkwsuntergräbt und Bundeswirtschaftsminister Gabriel denAusbau der erneuerbaren Energien deckelt und Werbungfür Braunkohletagebaue macht, und es passt auch nicht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7879
Harald Ebner
(C)
(B)
zum Klimaschutz, wenn Fracking in Deutschland er-möglicht wird und nach wie vor jedes Jahr 50 MilliardenEuro umweltschädliche Subventionen verteilt werden.
Klimafreundliches Wirtschaften darf eben nicht alsLast, sondern muss als Chance begriffen werden. Des-halb sollten wir uns, wenn wir unserer globalen Verant-wortung gerecht werden wollen, davon verabschieden,als einzelnes Land das Klima jedes Jahr stärker aufzu-heizen als die 105 ärmsten Länder dieser Welt. Wir kom-men deshalb nicht darum herum, beim Klimaschutzunsere Hausaufgaben zu machen. Weder die Wunsch-vorstellung Climate Engineering noch die Schönrechne-rei und auch die Mutlosigkeit der Bundesregierung brin-gen uns hier weiter.Wir haben einen Aktionsplan zum Klimaschutz vor-gelegt. Sie dürfen gerne daraus abschreiben. Das Klimain diesem Haus wird es nicht stören.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Sybille
Benning des Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Zum Ende dieser technischen, wissen-schaftshistorischen und literarischen Debatte jetzt nochein Beitrag: Climate Engineering und die Klimapolitik.Oder: Steht die Büchse der Pandora in Mutters Porzel-lankiste?Manche Analysten wie die Verfasser des sogenanntenHartwell Papers plädieren für eine völlige Umkehr in derKlimapolitik. Noch immer wird kontrovers darüber dis-kutiert, wie die Staatengemeinschaft das angestrebte2-Grad-Ziel noch erreichen kann. Eine Verengung aufdie CO2-Reduktion halte auch ich für falsch, weil dasnicht sachgerecht ist. Langfristig darf man sich nicht aufCO2-Reduktion beschränken, sondern man muss zumBeispiel auch deutlich machen, dass Wirtschaft undNachhaltigkeit kein Widerspruch sind. Eine unsererwichtigsten Aufgaben ist es darum, Wege zu einer GreenEconomy zu finden. So viel zu „Act now!“: We do.
Jetzt könnte man auch klatschen.
Das neue Forschungsprogramm zur Green Economyhat unsere Ministerin gerade erst vorgestellt. Es geht umNachhaltigkeit, und Nachhaltigkeit heißt Verantwortungfür die nächste Generation übernehmen. Wenn PaulCrutzen, der eben schon erwähnt wurde, der Träger desNobelpreises für Chemie, vom Anthropozän spricht, alsovom Menschenzeitalter, dann stellt er damit den bedeu-tenden Einfluss des Menschen auf die Umwelt heraus.Damit verbunden ist die besondere Pflicht zum verant-wortlichen Handeln. Für die Forschung zum Climate En-gineering ergeben sich für mich daraus drei zentrale Fra-gen:Erstens. Inwieweit ersticken wir die Bemühungen umEnergieeffizienz und CO2-Reduktion, wenn wir in CEinvestieren? Würde ein Aktionsprogramm Klimaschutznoch mit gleicher Energie verfolgt, wenn die Aussichtdarauf bestünde, CO2 wieder aus der Atmosphäre oderden Ozeanen zu filtern?Der TA-Bericht bemängelt hier, dass die wissen-schaftlichen Diskurse über Klimaschutz und CE-Tech-nologien getrennt voneinander ablaufen und empfiehlteine „niedrig dosierte CE-Intervention“, so wie es auchim letzten IPCC-Bericht steht. Ich bin aber der Meinung,dass wir über Climate Engineering zu wenig wissen, umes zu diesem Zeitpunkt im Kontext der gesamten Klima-debatte zu diskutieren. Die Gefahr besteht nämlich auchdarin, dass dadurch falsch Signale ausgesendet würden,zum Beispiel, eine Emissionsreduktion sei wenigerwichtig.Manche sagen ja: Wenn sich die internationale Staa-tengemeinschaft doch so schwer tut, die Klimaziele zuerreichen, sollte man dann nicht doch besser über einenPlan B verfügen, über eine Technologie, die man wie einNotfallkit gebrauchsfertig in der Tasche hat, wenn dieLuft im wahrsten Sinne des Wortes zu dünn wird? DieserTA-Bericht empfiehlt dazu mehr Wissen und mehr For-schung, um eine bessere Bewertung vornehmen zu kön-nen.Wir sollten dabei auch nicht vergessen, uns die wis-senschaftlichen Schwierigkeiten von Climate Enginee-ring vor Augen zu führen. Die zweite zentrale Fragelautet darum: Ist eine adäquate Bewertung der CE-Tech-nologien allein mit Modellen und Szenarien überhauptmachbar, oder kann man ohne empirische Forschungnicht alle Aspekte und Folgen einer Anwendung vonCE-Technologien genau bestimmen? Hier habe ich aller-dings die Befürchtung, dass durch den Einsatz von groß-skaliger Feldforschung eine Infrastruktur geschaffenwerden könnte und Netzwerke entstehen könnten, ausdenen sich eine gewisse Pfadabhängigkeit ergebenwürde. Es wäre der falsche Weg, auf diese Weise Faktenschaffen zu wollen. Und: Einmal geöffnet – die Büchseder Pandora schließt nicht mehr so leicht.Das führt mich zu meiner dritten Frage: Wie kannman politische Regelungen für Forschung und Einsatzvon CE-Technologien finden? In Anbetracht der Zeitmache ich es kurz: Wir leben nicht auf einer Insel, son-dern auf einer schützenswerten Kugel. Wir wissen: An-dere Staaten erforschen diese Technologien, die keineStaatsgrenzen kennen. In der Arena der internationalen
Metadaten/Kopzeile:
7880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Sybille Benning
(C)
(B)
Klimapolitik drängen Länder wie Russland und Chinaauf eine stärkere Einbeziehung der CE-Technologien.Meine Damen und Herren, im Ergebnis sehe ich alledrei Fragen ungenügend beantwortet, eben weil ClimateEngineering nicht ausreichend erforscht ist, weder wasdie Effektivität betrifft noch was die Risiken betrifft.Auch ethische und gesellschaftliche Implikationen sindnicht absehbar. Hier sollten wir darum ansetzen – aufdass die Büchse der Pandora gut bewacht bleibt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/2121 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Meiwald, Nicole Maisch, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Freisetzung von Mikroplastik beenden
Drucksache 18/3734
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Meiwald für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Stellen Sie sich vor, Sie essen genüsslich einen Fisch.Der Fisch sieht gut aus, doch er hat einen komischenBeigeschmack, einen Plastikbeigeschmack. Der Fisch istmöglicherweise – mittlerweile sogar recht wahrschein-lich – voller Acrylate, Polyethylen und anderer Mikro-plastikstoffe. Wir haben das Glück, dass die meisten die-ser Stoffe im Moment diesen fiesen Beigeschmack nichtproduzieren. Das ist aber auch das einzige Glück, daswir dabei haben. Letztlich sind diese Stoffe dort drin.Drei Viertel des Meeresmülls besteht nach Erkennt-nissen des UBA mittlerweile aus Kunststoffen. Davonist Mikroplastik – das ist ganz klar – nur ein kleiner Teil.Aber Mikroplastik wird überflüssigerweise Produktenkünstlich hinzugefügt, bei denen man es eigentlich nichtbraucht. Mikroplastik wird Peelings, Shampoos undDuschgel ganz bewusst beigemischt. Wir Grünen wollendies stoppen. Deswegen haben wir den Antrag einge-bracht und hoffen, hier eine große Mehrheit dafür zu fin-den.
Die kleinen Plastikkügelchen landen am Ende des Ta-ges in unseren Flüssen und dann im Meer. Dortschwimmt bereits viel zu viel Plastik herum, das nichtoder erst nach sehr langen Zeiträumen abgebaut wird –ein vermeidbares Umweltproblem. Mikroplastik ausSonnencreme und Lippenstiften landet nach Gebrauchim Abwasser, kann aber in unseren Kläranlagen, zumin-dest mit der heutigen Technologie, nur unter sehr gro-ßem Aufwand und hohen Kosten entfernt werden. Dasheißt, der größte Teil des Plastiks bleibt im Wasser, ge-langt in die Flüsse und ins Meer. Der andere Teil, der ab-gesondert wird, landet im Klärschlamm; das ist letztlichauch nicht besser. Auch aktuelle Untersuchungen desAWI belegen: Wir haben hier einen großen Bedarf, et-was zu tun.Warum? Tiere verwechseln die kleinen Plastikkügel-chen mit Nahrung. Nachgewiesen ist, dass Tiere deshalbverenden. Sie haben zwar ihr Hungergefühl bekämpft– es ist ja etwas in ihrem Bauch –, ihnen fehlen aber dieNährstoffe. Giftstoffe lagern sich an den kleinen Plastik-partikeln ab und gelangen dann in unsere Nahrungskette.In Honig, Trinkwasser und Bier lassen sich diese Plastik-partikel mittlerweile nachweisen. Welche gesundheitli-chen Auswirkungen das auf uns Menschen hat, ist nochviel zu wenig erforscht.Was unternimmt die Bundesregierung dagegen? DasProblem ist seit einigen Jahren bekannt. Wir Grüne ha-ben bereits im November 2012 kritische Fragen dazu ge-stellt und im Oktober 2014 eine Kleine Anfrage gestellt.Das Umweltministerium hat uns darauf geantwortet,dass Mikroplastik mittlerweile in mehr als 250 marinenLebewesen gefunden wurde. Einige davon werden auchvon uns gegessen. Es ist also kein Horrorszenario, son-dern es ist schon Realität: Das Plastik landet am Endedes Tages auf unseren Tellern. Trotz immer mehr Plastikin Kosmetik und Reinigungsmitteln – das Umweltminis-terium nennt allein für PE eine Menge von 500 Tonnenin Deutschland – unternimmt die Regierung zu wenig,die Umwelt davor zu schützen.
Wir hören: Unsere Regierung führt Gespräche mitden Herstellern. Das haben auch wir im vergangenenMai getan. Es ist in der Tat ganz erfreulich, dass es deneinen oder anderen Hersteller gibt, der aus dieser Tech-nologie schon ausgestiegen ist. Aber es gibt, gerade imWeihnachtsgeschäft, immer noch Hersteller, die neueProdukte auf den Markt bringen, bei denen sie wiederummit primärem Mikroplastik arbeiten. Das heißt, offen-sichtlich ist Freiwilligkeit nicht ausreichend.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7881
Peter Meiwald
(C)
(B)
Wir beobachten, um es in ein einfaches Bild zu brin-gen, bei ganz vielen Umweltfragen immer wieder dengleichen Effekt. Wenn wir fragen: „Who wants change?“,dann sagen alle: „We“ oder „us“ oder „wir“ oder „wiralle“ und „selbstverständlich“. Aber wenn man die Fragestellt: „Who wants to change?“ – wer will wirklich etwasverändern? –, dann wird man sehr kleinlaut. Das ist,glaube ich, ein Teil unseres Problems, auch wenn es umMikroplastik geht.Was können wir tun? Auf der EU-Ebene können wirInitiativen ergreifen, um die Abfallgesetzgebung zu ver-ändern, Kosmetika in die Rahmenrichtlinien aufzuneh-men – Stichwort „Kreislaufwirtschaft“ – und ähnlicheDinge. Es ist an der Zeit, zu handeln, und nicht nur zu re-den.
Es ist an der Zeit, dieses sinnlose Einbringen umwelt-schädlicher Stoffe einfach an der Quelle zu bekämpfen,statt uns hinterher unter Einsatz von sehr viel Geld daranabzuarbeiten, das Mikroplastik wieder aus der Umweltherauszubekommen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gebhart für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir sind uns sicherlich alle einig: Wir wollensaubere Gewässer, Meere und Strände. Wir alle wollen,dass von solchen Kunststoffabfällen, die sich nur lang-sam abbauen, so wenig wie möglich in der Umwelt undim Meer landen. Das gilt selbstverständlich auch für diekleinen, festen Kunststoffpartikel, über die wir heuteAbend diese Debatte führen. Wir sehen: Es gibt in die-sem Bereich erheblichen Forschungsbedarf. Es ist gut,dass dies erkannt ist. Es ist auch gut, dass inzwischenvon privater wie von staatlicher Seite viele Forschungs-aktivitäten betrieben werden.Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Welchen Hand-lungsbedarf haben wir heute? Um diese Frage sauber be-antworten zu können, müssen wir zunächst einmal wis-sen: Woher kommen die sogenannten Mikrokunststoffe?Was ist die Quelle dieser Mikrokunststoffe? Hier müssenwir zwei Bereiche klar voneinander unterscheiden: Dererste Bereich – er betrifft den weitaus kleineren Teil, diekleinere Menge – umfasst kleine Kunststoffpartikel, dieals Bestandteil von Produkten eingesetzt werden, zumBeispiel in Reinigungspasten im kosmetischen Bereich.Die werden für diese Produkte gebraucht und landendann mit dem Abwasser in den Flüssen und zum Teil imMeer. Das Ziel ist es, diese Kunststoffpartikel möglichstzu ersetzen. Das Umweltministerium war hier bereitsaktiv – schon in der Zeit von Umweltminister PeterAltmaier –, man ist ins Gespräch eingetreten mit derKosmetikindustrie mit dem Ziel eines Ausstiegs aus derVerwendung dieser Stoffe im Bereich der Kosmetik.Eine ganze Reihe von Herstellern hat erklärt, sie suchennach Alternativen. Andere haben erklärt, sie werden um-stellen. Wiederum andere haben erklärt, sie haben umge-stellt. Auch ist bekannt geworden: In unserer Zahnpastasind diese Mikrokunststoffe nicht mehr drin. Sie könnenalso, meine Damen und Herren, mit gutem Gewissenweiterhin regelmäßig Ihre Zähne putzen.
Aber im Ernst: Tatsächlich sind wir viel weiter, als die-ser Grünenantrag den Anschein erweckt.
Meine Damen und Herren, ich komme zurück zu derFrage: Woher kommen diese Mikrokunststoffe in derUmwelt, im Meer, was ist die Quelle? Ich habe einenBereich genannt; dieser Bereich ist für den weitaus klei-neren Teil verantwortlich. Kommen wir also zu demzweiten Bereich, der für den weitaus größeren Teil ver-antwortlich ist: Das sind Abfälle, die unsachgemäß ent-sorgt werden und über Umwege dann zum Teil im Meerlanden. Mit der Zeit entstehen aus diesen größerenKunststoffteilen kleinere und kleinste Kunststoffteile.Darüber trifft dieser Grünenantrag überhaupt keine Aus-sage.
Das verwundert total; denn natürlich gehört das in dieDebatte hinein.Deswegen will ich wenigstens an dieser Stelle zweiPunkte dazu sagen: Erstens. Wir brauchen effektiv funk-tionierende Abfallwirtschaftssysteme, und zwar nichtnur in Deutschland, sondern in ganz Europa und mög-lichst über Europa hinaus, weltweit.
Wir haben in Deutschland ein funktionierendes Abfall-wirtschaftssystem.
Wir brauchen uns an dieser Stelle überhaupt nicht zuverstecken. Dennoch wollen wir dieses Abfallwirt-schaftssystem weiterentwickeln, wir wollen es noch bes-ser machen.Das führt mich zu dem zweiten Punkt: Wir haben unsaufgemacht, ein neues Wertstoffgesetz hier in Deutsch-land auf den Weg zu bringen und umzusetzen. Wir wol-len noch stärker als heute Abfälle vermeiden.
Metadaten/Kopzeile:
7882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Dr. Thomas Gebhart
(C)
(B)
Wir wollen Kreisläufe besser schließen, mehr Recycling,besseres Recycling. Wir wollen über Technologie, überInnovation neue Verfahren, neue Produkte anreizen. Wirwollen mehr Produktverantwortung nach dem markt-wirtschaftlichen Prinzip, dass die Hersteller Verantwor-tung für den gesamten Lebensweg ihres Produktes über-nehmen. Meine Damen und Herren, dafür steht dieUnion: soziale Marktwirtschaft und Umweltschutz ver-nünftig miteinander zusammenbringen, in Einklangbringen. Ich kann mich nur wundern, dass die Grünendiesen Punkt völlig ignorieren
und dass das bei Ihnen überhaupt keine Rolle spielt.
Hier müssen wir ansetzen, das ist eine echte Herausfor-derung, aber auch eine Riesenchance; dann kommen wirlangfristig wirklich voran.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Stellen Sie sich vor, dieser Plenarsaal bis zur Kuppel kom-
plett gefüllt mit Plastikmüll, und dann multiplizieren Sie
das mit 24: Das allein ist die Menge Plastikmüll, die
Schätzungen zufolge in der Nordsee treibt: 600 000 Ku-
bikmeter. Dieser Müll wird kleingerieben, zerfetzt und
landet als Mikroplastikpartikel in der maritimen Nah-
rungskette, also in Fischen usw. Hinzu kommen tonnen-
weise Mikroplastikpartikel, Kosmetika, die über geklärte
Abwässer in Flüssen landen und in die Meere fließen.
Wenn Tiere diese Mikroplastikkügelchen aus Kosme-
tika und die Kleinstplastikteile aus Müll in sich aufneh-
men, führt dies zu entzündlichen Veränderungen. Denn
Mikroplastik kann toxische, krebserregende und hor-
monverändernde Substanzen enthalten, in sich aufneh-
men und an seiner Oberfläche anlagern, allen voran
Weichmacher, Kohlenwasserstoffe, Flammschutzmittel
und Insektizide. Alles das befindet sich wie gesagt in der
Nahrungskette und landet auch wieder auf dem Teller
oder in den Mägen von Meerestieren. Wer einen Vogel,
der solche Nahrung hatte, schon einmal auf einem Foto
gesehen hat, der weiß, worum es da geht. Aber es ist ein
jahrzehntelanges Prinzip: Probleme, die man nicht sehen
kann, werden so lange ignoriert, bis sie existenziell oder
irreversibel werden.
Mikroplastikpartikel in Kosmetika? Was haben die da
eigentlich zu suchen? Als Schleifmittel, Füllstoffe oder
Filmbildner gibt es seit geraumer Zeit ökologisch unbe-
denkliche Alternativen, und die gibt es schon lange.
Trotzdem werden sie weiter verwendet, weil das eben
wieder billiger ist.
Bei den großen Kosmetikkonzernen findet halt nur
allmählich ein Umdenken statt. Das beruht weniger auf
Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Umwelt als
vielmehr auf der Angst vor Boykottaufrufen gegen ihre
Produkte. Ich habe den Eindruck: Nur das hilft über-
haupt. Es ist nämlich erst Umweltorganisationen und
Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern zu
verdanken, dass es bei den Kosmetikherstellern allmäh-
lich zu einem Umdenken kommt. Da frage ich mich halt,
warum dieses Problem wieder einmal nur über die Frei-
willigkeit der Konzerne gelöst werden soll.
Ich meine, es muss Verbote geben. Wir wissen das.
Ich kann mich erinnern, vor zwanzig Jahren haben wir
hier die Debatte über hormonelle Einträge ins Grund-
wasser gehabt. Da ist auch nur über Freiwilligkeit ge-
sprochen worden. Sehr viel passiert ist bis jetzt nicht.
Also, da müssen wir eben Boykottaufrufe machen.
Während die Verbraucherinnen und Verbraucher auf-
gefordert sind, nur Kosmetika zu kaufen, in denen kein
Polyethylen oder Polypropylen oder andere Kunststoffe
enthalten sind, wäre das Problem – ich sage es noch ein-
mal – ordnungsrechtlich wirklich lösbar. Denn man kann
Dinge wirklich per Gesetz verbieten, dafür sind wir doch
eigentlich auch gewählt worden. Das sagen uns unsere
Wähler. Über alle Parteien hinweg wollen die das. Wir
sagen: Wir wollen dieses Verbot, wir unterstützen euren
Antrag.
Wenn Herr Gebhart sagt, das sei zu wenig, dann sage
ich: Dann legt doch etwas anderes vor!
Ich glaube, dafür gibt es sicherlich Mehrheiten, für Plas-
tiktütenverbot und so weiter. Da immer zu sagen: „Ja, da
müssen wir auf Europa schauen, auf die Welt schauen“
und so weiter, immer zu warten, bis die anderen etwas
machen, damit werden wir unserer Verantwortung, die
wir haben, nicht gerecht. Dieser Verantwortung müssen
wir jedoch wirklich gerecht werden.
Unsere Wählerinnen und Wähler erwarten das.
Glauben Sie mir, ich kenne viele CSU-Wähler, die
das genauso wollen wie die Linken-, die Grünen- und
die Sozi-Wähler.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege – Entschuldi-gung –, die Kollegin Ulli Nissen das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7883
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin, das „Ulli“ irritiert im-mer wieder. Ich fand es immer spannend, wenn ich Postmit „Herrn Ulli Nissen, Bankkauffrau“ bekommen habe;denn dabei war ja besonders viel nachgedacht worden.Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst einmal einen herzlichen Dank an dieGrünen für ihren Antrag. Es ist gut, dass wir diesesThema heute debattieren. Das Thema hat es zwar nichtin die Kernzeit geschafft, aber immerhin haben wir Zeit,heute den Antrag „Freisetzung von Mikroplastik been-den“ zu besprechen. Ich fand es auch wirklich sehr inte-ressant: Ich habe mich gestern Abend, als es so doll ge-regnet hat, doch entschlossen, mit dem Taxi nach Hausezu fahren und nicht mit dem Fahrrad. Ich habe dem Taxi-fahrer gesagt, wozu ich heute rede. Da hat er gesagt: Oh,darf ich überhaupt noch Fleecejacken tragen? – Dennauch das ist ja ein Problem. Ich fand es wirklich sehrspannend, wie viele Menschen bei diesem Thema schonsensibilisiert sind. Deshalb ist es gut, dass wir darüberreden.Was ist denn überhaupt Mikroplastik? Plastik inMakroform, also große Plastiktüten, sind uns bekannt,auch die damit verbundenen Probleme. Plastiktüten,Kunststoffflaschen und -verpackungen sind sichtbar. ImGegensatz dazu ist Mikroplastik kaum zu erkennen. Dassind winzige Kunststoffpartikel, kleine Kunststoffkügel-chen, Kunststofffasern, die kleiner als 5 Millimetersind. Das sind so kleine Teile, dass wir oft gar nichtwissen, wo sie verwendet werden und – vor allem –was für Folgen sie haben. Auch meine Kollegen habengesagt, als wir darüber gesprochen haben: Uff, wussteich gar nicht.Diese kleinen Teilchen werden beispielsweise in Kos-metik- und Körperpflegeprodukten verwendet, also Din-gen des täglichen Gebrauchs. Sie befinden sich in Haar-shampoos, Spülungen, Duschgels und auch indekorativer Kosmetik. Wenn wir uns also die Haare wa-schen oder duschen, dann spülen wir die Inhaltsstoffeund damit auch die kleinen Plastikteilchen ab. So gelan-gen sie in den Abfluss und eben auch in den Wasser-kreislauf. Dieses Problem sehen wir wirklich auch.Die meisten Kläranlagen haben keine Filter, die diesekleinen Partikel zurückhalten könnten. Das heißt, dassdie Teilchen, wie schon gesagt, in die Flüsse und amEnde in die Meere gelangen. Das bedeutet – wie für soviel Plastikmüll –: Endstation Meer, Endstation auf dergrößten Müllkippe der Welt.Je kleiner die Plastikteile sind, desto eher gelangen siein die Nahrungskette. Der Fisch ist schon angesprochenworden, und ich denke, auf solche Fische haben wir allekeinen Appetit. Sie sind aber auch in Seehunden und inMuscheln nachgewiesen worden. Welche Folgen das al-les haben wird, ist noch gar nicht endgültig erforscht.Wir müssen aber auch beachten, dass es sowohl pri-märe Mikroplastik – das sind die kleinen Teile, die inReinigungs- und Körperpflegeprodukten aktiv zugesetztwerden – als auch sekundäre Mikroplastik – das ist ganzwichtig, Herr Meiwald – gibt, die durch Abrieb und auchbei der Zersetzung und dem Zerfall von Makroplastikentsteht. Die Auswirkungen sind aber die gleichen. Ichdenke, deshalb sind wir uns alle einig: Mikroplastik istein Problem.In Ihrem Antrag geht es aber eben nur um die Redu-zierung von Mikroplastik in Reinigungs- und Kosmetik-produkten. Das ist mir zu wenig.In Bezug auf die Reduzierung von Mikroplastik inKosmetik sehe ich allerdings schon Erfolge. Es ist schonangesprochen worden, dass es diverse Unternehmengibt, die darauf verzichten. dm und Rossmann sagenzum Beispiel, dass sie das in ihren eigenen Produktennicht mehr wollen, und die sind auch gut. Sie sagenauch: Wir machen keine Tierversuche. Diese Dinge kön-nen wir also durchaus annehmen.Ich bin dem BUND sehr dankbar dafür, dass er eineklare Negativliste aufgestellt hat, die man sich im Inter-net anschauen kann. Ich fordere Sie alle auf: Gucken Sieeinmal nach. Ich denke, auch die lieben Kolleginnen undKollegen von den Grünen und von den Linken werdennoch zig Produkte zu Hause haben, die entsprechendeInhaltsstoffe haben.
Ich sage es ganz deutlich: Mir wäre der freiwilligeVerzicht natürlich am liebsten, und es ist gut, dass dasBMUB Gespräche mit den Herstellern und den Verbän-den führt. Ich mache hier aber eine ganz klare Ansage:Wenn nicht umgehend etwas passiert, dann bin ich füreine gesetzliche Regelung.Mikroplastik in Kosmetikprodukten ist aber nur einkleiner Teil dieser Gesamtproblematik, und ich möchtenicht, dass wir dabei das große Ganze aus den Augenverlieren. Wir müssen natürlich lokal handeln, wo wirkönnen, aber die Vermüllung der Meere geschieht nichtallein durch die Mikroplastik. Die Makroplastik ist einsehr viel größeres Problem. Deshalb müssen wir dasauch zusammen behandeln.Wenn ich die Zahlen betrachte, dann sehe ich einedeutliche Relation. Wir sprechen von jährlich 500 Ton-nen Mikroplastik in Deutschland, die durch Kosmetik-produkte auf den Markt kommen. Was ist aber mit derMikroplastik, die in der Industrie eingesetzt wird? DieEinsatzmenge von Mikropartikeln in Kunststoffwachsenzum Beispiel wird auf ungefähr 100 000 Tonnen ge-schätzt. Das ist das 200-Fache. Deshalb steht mir in Ih-rem Antrag an dieser Stelle zu wenig.
– Ich kann Ihnen sagen: Ich werde mich mit meinen Kol-leginnen und Kollegen von der CDU/CSU zusammen-setzen, und wir werden Ihnen einen Entwurf vorlegen.
Metadaten/Kopzeile:
7884 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015
Ulli Nissen
(C)
(B)
Auf 100 Millionen Tonnen wird der Meeresmüll ge-schätzt. 75 Prozent davon sind Kunststoffe, und jährlichkommen 6,4 Millionen Tonnen dazu. Das muss uns allenklar sein. Hier müssen wir wirklich dringend handeln,und ich freue mich darauf, dass wir Ihnen, wie ichdenke, in Bälde etwas dazu vorlegen werden.Das Umweltbundesamt wird in Kürze eine Studiedazu vorlegen. Ich denke, auch das werden wir nutzen,um daraus etwas zu machen.
Für uns gehört auch die EU-Meeresstrategie-Rahmen-richtlinie dazu. Sie soll bis 2020 umgesetzt werden. Mirwäre es lieb, wenn wir dies noch deutlich schnellerschaffen würden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns derProblematik bewusst und gehen sie auch an. Ihr Antragwar auf jeden Fall ein guter Anlass, einen weiteren Auf-schlag zu machen. Es hilft der Sache aber nicht weiter,wenn wir uns auf einen Teilaspekt konzentrieren und le-diglich eine einzelne Branche herausgreifen.
– Ich habe Ihnen ja zugesagt, dass etwas kommt.
Ich bin Ihnen aber wirklich dankbar, dass Sie das zumThema gemacht haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen keinkleines Plastik und kein großes Plastik im Meer. Wirwollen dort Plastik überhaupt nicht mehr haben.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freuemich auf eine gute Zusammenarbeit.
Das Wort hat der Kollege Josef Göppel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Mikro-plastik berührt und beschäftigt inzwischen MillionenMenschen in Deutschland. Ich denke, wir sind jetzt aneinem Punkt, an dem wir uns an der Bekämpfung desOzons in der Atmosphäre ein Beispiel nehmen müssen.Ich kann mich als einer der Älteren hier in der Rundenoch gut daran erinnern, wie diskutiert wurde: Mussdenn da hoheitlich vorgegangen werden? Ab einem be-stimmten Moment hat man dann gemerkt: Ohne ein ho-heitliches Vorgehen geht es nicht.
Ich meine, die Gesundheitsgefahren für die Men-schen, für die Lebewelt und für unsere gesamte Bio-sphäre liegen so klar auf der Hand, dass wir hier eine Al-ternative finden müssen. Ich möchte konkret etwasvorschlagen. Wir beraten zurzeit das Wertstoffgesetz,und der entsprechende Gesetzentwurf soll noch in dieserLegislaturperiode verabschiedet werden. Da ist noch einbisschen Zeit für freiwilliges Handeln. Frau Staatssekre-tärin, ich erwarte namens der Union, dass die Gesprächemit den Herstellern in der Richtung mit Nachdruck fort-geführt werden, dass das Parlament dann eventuell Re-gelungen hierzu im Wertstoffgesetz verankert.Das betrifft zu einem noch größeren Teil – das wurdehier schon mehrfach angesprochen – die Plastiktüten.Von den 76 Plastiktüten, die ein Deutscher im Jahr ver-wendet, sind 64 Tüten Tragetaschen. All die Leute, diesich darüber empören, vergessen oft, zum Einkaufeneine eigene Tasche mitzunehmen.
Also, das Handeln ist im Leben eben sehr viel schwererals die Erkenntnis.Deswegen brauchen wir da eine gewisse Richtschnur.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal dasWertstoffgesetz ansprechen. Man könnte sagen: Wennwir es nicht schaffen, dass kein Geschäft mehr eine Tütekostenlos abgibt, dann müssen wir im Wertstoffgesetzdie Regelung für eine Abgabe verankern.
Ich habe gar nichts dagegen, wenn die Geschäfte dasfreiwillig machen; dieses Geld dürfen sie behalten. Aberich habe erst jetzt wieder in Berlin beim Einkaufen vonLebensmitteln jemanden an der Kasse vor mir ohne Ta-sche gesehen. Als die Kassiererin sagte: „Eine Taschekostet 20 Cent“, hat dieser Mensch geantwortet: „Ichbrauche sie nicht.“Eine solche Abgabe von 20 Cent haben zum Beispieldie Iren eingeführt. Das hat dazu geführt, dass die Zahlvon 328 Tüten pro Einwohner auf 16 Tüten pro Einwoh-ner im Jahr gesunken ist. Übrigens sind in der Debatte jaschon andere Länder dieser Welt angesprochen worden.Hier ist Ruanda zu nennen, das uns in diesem Bereichbeschämt: Ruanda hat Plastiktüten verboten.Mir ist das vor kurzem richtig deutlich geworden, alseine kirchliche Jugendgruppe aus meinem Wahlkreis ausRuanda zurückkam und die Jugendlichen gesagt haben:In der ganzen Hauptstadt fliegt keine einzige Plastiktüteauf den Straßen herum. – Das haben die jungen Leutegemerkt. Ich denke, wir müssen auf jeden Fall in Aus-sicht stellen, im Rahmen des Wertstoffgesetzes zu han-deln.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 82. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2015 7885
Josef Göppel
(C)
Ich darf abschließend das Thema Pfand erwähnen. Esgehört auch dazu, dass wir die Ausnahmen beim Pfand,also Fruchtsäfte, Nektare und milchhaltige Produkte, zu-rückführen.
Weil ich jetzt die Grünen so schön im Auge habe,
darf ich daran erinnern, dass 2003 der Freistaat Bayernunter der Regierung von Edmund Stoiber der Einführungdes Pfandes mit der ausschließlichen Begründung zuge-stimmt hat: Wir wollen weniger Weggeworfenes in derLandschaft.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3734 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2015,
9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen bis
dahin alles Gute. Danke für die Zusammenarbeit in den
letzten anderthalb Stunden bei diesen letzten sehr le-
bensnahen Themen.