Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Ich beginne mit der erfreulichen Mitteilung, dass dieKollegen Rudolf Henke und Robert Hochbaum heuteihren 60. Geburtstag feiern.
Sie haben sich dafür die bestmögliche Kulisse ausge-sucht.
Jedenfalls nutzen wir diese Gelegenheit gerne, Ihnenbeiden unsere herzlichen Glückwünsche für das neueLebensjahr zu übermitteln. Das gilt auch für den Kolle-gen Herbert Behrens, der vor wenigen Tagen seinen60. Geburtstag gefeiert hat.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesord-nungspunkt 11 abzusetzen. Statt dieses Tagesordnungs-punktes soll der Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf der Drucksache 18/1460 mit dem Titel„Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalenFriedenseinsätzen“ als Zusatzpunkt aufgerufen werden.Auch der Tagesordnungspunkt 12 soll abgesetzt werden;an dieser Stelle soll die Beratung des Tagesordnungs-punktes 21 erfolgen. Sind Sie mit diesen Verabredungeneinverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ver-fahren wir so.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
Drucksache 18/1558Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Ernährung und LandwirschaftAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GOHierzu ist nach einer interfraktionellen Vereinbarungeine Aussprache von 96 Minuten vorgesehen. – Auchdazu erkenne ich keinen Widerspruch. Dann verfahrenwir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin für Arbeit und Soziales, AndreaNahles.
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit undSoziales:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten heute ein Gesetzesvorhaben, das eine tiefe undgrundlegende Bedeutung für unser Land hat: das Tarif-paket. Nicht ohne Grund haben wir das Gesetz „Gesetzzur Stärkung der Tarifautonomie“ genannt. Denn dassDeutschland wirtschaftlich stark ist, verdanken wir ge-rade auch der guten Tradition verlässlicher Tarifpartner-schaft und Tarifautonomie.Dass wir besser als andere in Europa durch die Krisegekommen sind, dazu hat das gemeinsame verantwortli-che Handeln von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einenwesentlichen Beitrag geleistet. Die Tarifautonomie istvon zentraler Bedeutung für unser Arbeits- und Wirt-schaftsleben. Sie ist ein Eckpfeiler der sozialen Markt-wirtschaft.
Zwei gleich starke Partner handeln den Wert der Arbeitin ihrer Branche aus. Damit sind wir über viele Jahr-zehnte gut gefahren. Die Tarifautonomie sichert verant-wortliche Abschlüsse und hat eine partnerschaftlichekompromiss- und konsensorientierte Wirtschaftstradi-tion begründet. Sie hat sozialen Frieden im Land und da-mit auch Stabilität für die gesamte Wirtschaft gesichert.Sie hat den Arbeitgebern Wettbewerbssicherheit gege-ben, da in den Branchen für alle die gleichen Lohnbedin-
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Bundesministerin Andrea Nahles
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gungen gelten, und sie hat für Friedenspflicht gesorgt.Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bietet sieSchutz, Einkommenssicherheit und gleichzeitig dieChance zur Mitbestimmung.Gerade wegen dieser Erfolge dürfen wir die Augenaber nicht vor den Problemen verschließen, die in denletzten Jahren parallel zu den genannten Erfolgen immerdeutlicher geworden sind. Die Tarifautonomie hat Rissebekommen.Gestatten Sie mir, einige Zahlen dazu zu nennen:Lag der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenenBetrieben in Westdeutschland 1980 noch bei 91 Prozent,so waren es 1998 nur noch 76 Prozent, und heute liegenwir in Westdeutschland bei 60 Prozent, während es inOstdeutschland sogar nur 48 Prozent sind. Betrachtetman die Betriebe, dann stellt man fest, dass im Osten nurnoch jeder fünfte Betrieb einem Tarifvertrag unterliegt.Das ist eine dramatische Entwicklung.
Im europäischen Vergleich ist Deutschland von einerSpitzenposition ins Mittelfeld zurückgefallen. Österreichetwa, die skandinavischen Staaten, Frankreich und Ita-lien verzeichnen auch weiterhin eine hohe Tarifbindungvon 85 bis 97 Prozent. In diesen Staaten gibt es, wie esin Deutschland traditionell auch der Fall ist, meist kei-nen nationalen, sondern lediglich auf einzelne Wirt-schaftszweige beschränkte Mindestlöhne. In Ländernmit einer niedrigeren Tarifbindung hingegen wird über-wiegend über ein allgemeines nationales Mindestlohnre-gime eine Lohngrenze nach unten verbindlich festgelegt.Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit sinkenderTarifbindung in Deutschland auch die Debatte über ei-nen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn begann.Der Weg sollte – darüber waren wir uns in der letztenGroßen Koalition einig – zunächst über branchenbezo-gene Mindestlöhne gehen. Inzwischen sind durch Bran-chenmindestlöhne über 3 Millionen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer vor Lohndumping geschützt – übri-gens ohne dass es zu dem von manchen im Land be-fürchteten Verlust von Arbeitsplätzen gekommen ist.
Bei allen Erfolgen von branchenbezogenen Mindest-löhnen: Es bleiben große weiße Flecken. Dort habenbranchenbezogene Mindestlöhne nicht gegriffen, und siewürden auch in Zukunft nicht greifen.2012 arbeiteten mehr als 5 Millionen Menschen füreinen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Was istunsere Antwort darauf? Ich meine, eine ausgewogeneAntwort hat aus zwei Teilen zu bestehen: Zum einenmüssen wir alles dafür tun, dass wir aus dem Mittelfeld,in das wir bei der Tarifbindung zurückgefallen sind, wie-der zur Spitzengruppe aufschließen.
Zum anderen brauchen wir eine klare Grenze nach un-ten, und das geht nur mit dem flächendeckenden gesetz-lichen Mindestlohn. Das Tarifpaket, das wir hier heutevorlegen, verbindet vernünftig und wirksam genau diesebeiden Teile der Antwort.
Die Stärkung der Tarifautonomie und der Sozialpart-nerschaft erreichen wir, indem wir die Allgemeinver-bindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern. Da-durch geben wir den Sozialpartnern wieder das Heft desHandelns in die Hand. Wir sorgen dafür, dass sie wiedermehr Einfluss bekommen und die Arbeitswelt wiederwirksam gestalten können. Die Regeln, die sie ingemeinsamer Verantwortung für Betrieb und Brancheaushandeln, werden künftig verstärkt wieder für alle Un-ternehmen gelten, auch die, die ansonsten nicht tarifge-bunden sind. Die Aushöhlung der Tarifpartnerschaftwird unterbunden, die Flucht aus gemeinsam festgeleg-ten vernünftigen Mindeststandards wird erschwert. Dasist Verantwortung und Gestaltungswille.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der am meisten be-achtete und diskutierte Teil des Tarifpaketes ist zweifels-ohne der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Auf denersten Blick sieht es wie ein Eingriff in die Tarifautono-mie aus, wenn wir den Mindestlohn gesetzlich festlegen.Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Widerspruch zudem, was ich vorhin gesagt habe und was wir mit derStärkung der Tarifautonomie in diesem Gesetz erreichenwollen. Die weißen Flecken, von denen ich gesprochenhabe, zwingen uns aber dazu, diesen Eingriff vorzuneh-men.
5 Millionen Menschen arbeiten zu Dumpinglöhnen.Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn würden sie esnicht schaffen, aus diesem Niedriglohnbereich herauszu-kommen und einigermaßen anständig bezahlt zu werden,und wir könnten ihnen nicht helfen. All diesen Men-schen sagen wir: Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehal-ten.
Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Aus-nahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohnvon 8,50 Euro.
Ja, wir müssen eingreifen. Aber auch hier gilt die Prä-misse der Tarifautonomie. Mit dem Gesetz sorgen wirdafür, dass die Tarifpartner das Heft des Handelns auchbei der Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in der
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Bundesministerin Andrea Nahles
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Hand behalten. Für die Übergangszeit bis Ende 2016liegt es eben in der Hand der Tarifparteien, mit spezifi-schen Übergangsregelungen eine vernünftige Einpha-sung in den Mindestlohn für ihre Branche auszuhandeln.Auch die künftige Entwicklung des Mindestlohns sol-len Gewerkschaften und Arbeitgeber bestimmen. Siekennen die Lage in den Betrieben und Branchen undkönnen so am besten tragfähige und verantwortlicheEntscheidungen treffen. Dafür haben wir das Instrumenteiner unabhängigen Mindestlohnkommission geschaf-fen. Sie entscheidet in Zukunft über die Erhöhung desMindestlohns, und die Bundesregierung ist an diese Ent-scheidung gebunden. Die zukünftige Festlegung desMindestlohns werden wir nicht der Politik, sondern, wiees in unserem Land gute Tradition ist, den Tarifpartnernüberlassen.
Insoweit ist der Mindestlohn ein neuer Schritt, denwir aber konsequent in der alten bewährten Tradition ge-hen. Alte bewährte Tradition – ich habe es schon mehr-fach gesagt – heißt für mich soziale Marktwirtschaft.Nach der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes1969, nach der Neufassung des Betriebsverfassungsge-setzes 1972, nach der Einführung des Arbeitssicherheits-gesetzes 1973 und nach der Zusammenlegung von Ar-beitslosenhilfe und Sozialhilfe 2003 setzt jetzt in diesemJahr, 2014, der Mindestlohn eine weitere wesentlicheLeitplanke für Arbeit in Deutschland.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben den So-zialpartnern wieder mehr Einfluss und Gestaltungs-macht. Und wir geben der Arbeit ihren Wert zurück. DerWert der Arbeit bemisst sich nicht nur, aber vor allemam Lohn.
Am Lohn kann ich ablesen, ob meine Arbeit gewürdigtund wertgeschätzt wird.Mit dem Tarifpaket setzt die Große Koalition ein kla-res Zeichen: Arbeit hat in Deutschland ihren Wert.
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es gibt tatsächlich vier Punkte, über die ichmich heute ganz besonders freue.
– Ja, da könnt ihr durchaus klatschen.
Der erste Punkt ist: Es ist tatsächlich ein Gesetzent-wurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnsvorgelegt worden. Das ist ein großer Fortschritt inDeutschland.
Das Zweite, das mich freut – ich hätte gar nicht darangeglaubt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU –,ist die Einsicht in die Realität, dass wir diesen Mindest-lohn brauchen. Ich finde es toll, wie Sie Ihre Meinung indiesem Punkt geändert haben.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass das früher an-ders klang. Ich zitiere Herrn Lehrieder: „Ein flächende-ckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht.“Max Straubinger hat gesagt: „Die Auswirkungen gesetz-licher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Ar-beitslosigkeit.“ Und so weiter.Dass Sie sich jetzt, kurz vor Pfingsten – da kommt jader Heilige Geist –, dazu durchringen konnten, Ihre Mei-nung zu ändern, ist klasse.
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es – unddas freut mich sehr; ich zitiere –:Die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträgeist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.… Dies hat den Tarifvertragsparteien die ihnendurch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes über-antwortete Ordnung des Arbeitslebens strukturellerschwert.Das ist die Anerkennung dessen, dass Ihr in den letz-ten Jahren üblicher Verweis darauf, dass die Tarifver-tragsparteien das Problem regeln sollen, schlichtwegnicht mehr reicht. Sie erkennen mit diesem Gesetzent-wurf an, dass Sie damit falsch gelegen haben. Wenn dieTarifvertragsparteien das regeln sollen, dann muss mansie stärken. Ich freue mich über Ihren Gesinnungswan-del. Bravo, meine Damen und Herren!
Das Dritte, das mich sehr freut – ich kann es nicht an-ders sagen –, ist, dass die Partei, die sich seit Jahren indiesem Land als sozialer Bremser dargestellt
und den Mindestlohn konsequent abgelehnt und verhin-dert hat, diese Debatte von der Tribüne oder vor dem
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Fernsehgerät verfolgen kann. Auch das freut mich sehr,meine Damen und Herren.
Der vierte Punkt ist: Mich freut, dass an diesem Ge-setzentwurf deutlich wird, dass sich Hartnäckigkeitlohnt. Steter Tropfen holt den Stein.
– Was habe ich gesagt?
– Er holt ihn auch. Er holt den Stein.Herr Wadephul, Sie haben im Dezember 2010 gesagt– Zitat –:Diskutieren Sie mit uns über andere sozialpolitischeThemen als jede Woche über denselben Aufguss al-ter Themen.Diese Hartnäckigkeit der Linken hat sich gelohnt.
Inzwischen haben auch Sie es begriffen. Sie können sichaufführen, wie Sie wollen: Das Thema Mindestlohn istein ursächliches Thema der Linken.
Wir haben das schon eingebracht, als Sie alle noch dage-gen waren. Jetzt freuen Sie sich wieder. 2006 haben wirdas Thema zum ersten Mal eingebracht. Alle waren da-gegen, und die Einzige, die das Thema konsequent imParlament vertreten hat, war die Linke. Deshalb lassenwir uns das Thema von Ihnen nicht nehmen, meine Da-men und Herren. So ist die Welt.
Die Zweiten, die den Mindestlohn als Erfolg verbu-chen können, sitzen nicht im Parlament. Das sind diedeutschen Gewerkschaften. Sie haben durch ihre Aktivi-täten wesentlich dazu beigetragen, dass auch Sie sich ei-nem Meinungswandel unterzogen haben. Auch das freutmich ganz besonders, meine Damen und Herren.
Mich freut auch, dass Sie inzwischen unsere Begrün-dung übernehmen.
Herr Kollege Ernst, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Ja, selbstverständlich!
Na also. – Bitte schön.
Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie als Linke be-
reits 2006 für einen Mindestlohn gekämpft haben. Sie
sind auch Mitglied der IG Metall.
Wenn ich mich richtig erinnere, war die IG Metall insbe-
sondere in ihren Führungsgremien deutlich gegen einen
Mindestlohn. Sie hat dieses Projekt damals noch be-
kämpft. Ich frage Sie ganz persönlich: Hat das bei Ihnen
eigentlich zu schizophrenen Gefühlen geführt?
Das ist eine sehr nette Frage. Dass Sie diese Fragestellen, ist in gewisser Weise verwunderlich.
Wir haben hier über die Erodierung der Tarifverträgediskutiert. Wir lösen nun durch die Einführung eines ge-setzlichen Mindestlohns ein Problem, das Sie in der Ko-alition mit der SPD selbst verursacht haben, und zwardurch die Hartz-Gesetze, durch die die Tarifverträge un-ter Druck geraten sind. Das ist die Wahrheit, FrauPothmer.
Wenn Sie schon damals, als Sie regiert haben, auf dieGewerkschaften gehört hätten,
dann hätten wir dieses Problem nicht; denn die Gewerk-schaften waren gegen die Hartz-Gesetze. Sie waren da-gegen, dass die Leistungen für Arbeitslose gekürzt wer-den.
Hätte Sie damals auf die Gewerkschaften gehört, hättenSie diese Frage nicht stellen müssen.Ich bin im Übrigen überhaupt nicht schizophren. Ichhabe schon damals innerhalb der Gewerkschaften undinsbesondere innerhalb meiner Organisation durchauszur Kenntnis nehmen müssen, dass wir auch in derIG Metall Bereiche haben, die nicht mehr dem Tarifver-trag unterliegen, weil wir nicht mehr die Stärke hatten,dort Tarifverträge durchzusetzen. Deshalb sage ich Ih-nen: Es ist vollkommen richtig, was in dem vorliegendenGesetzentwurf steht. Man muss die Tarifautonomie wie-der stärken und darf nicht nur auf sie verweisen, in derHoffnung, dass diese dann das Problem löst. Ohne starkeGewerkschaften sind die Probleme nicht lösbar. Sie ha-ben die Tarifautonomie in Ihrer Regierungszeit ge-schwächt.
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Nun zu den Bereichen, in denen wir Probleme mitdem vorliegenden Gesetzentwurf haben. Sie überneh-men unsere Begründung und sagen: Die Würde desMenschen gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer. Es hat etwas mit Würde zu tun, ob ein Ar-beitnehmer von seinem Lohn leben kann oder nicht.Diese Begründung höre ich inzwischen auch von Ihnenimmer öfter. Aber Sie nehmen in Ihrem Gesetzentwurfdie unter 18-Jährigen aus; sie sollen vom Mindestlohnnicht profitieren. Da frage ich Sie natürlich: Gilt fürdiese nicht der Satz von der Würde? Hat nicht auchschon ein 18-Jähriger so viel Würde, dass er vernünftigentlohnt werden soll? Warum eigentlich? Glauben Sietatsächlich, dass viele junge Menschen in letzter Zeitdeshalb keinen Ausbildungsplatz hatten, weil sie woan-ders zu hohe Löhne bekommen haben und deshalb kei-nen Ausbildungsplatz angenommen haben? So einUnfug! Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, solche Ausnah-meregelungen für unter 18-Jährige zu schaffen! Sie wol-len solche Ausnahmeregelungen, weil Sie doch nochnicht alles begriffen haben. Das ist die Einschränkungmeines Lobes von vorhin.
Ich halte es genauso für vollkommen falsch, Ausnah-meregelungen für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Ha-ben denn die Langzeitarbeitslosen keine Würde? WennSie sagen, dass es etwas mit Würde zu tun hat, dass manvon seiner Arbeit leben kann, dann muss das auch fürLangzeitarbeitslose gelten. Hören Sie mit diesen Aus-nahmeregelungen auf!
Der nächste Punkt, der dabei eine Rolle spielt, ist dieAltersregelung. Frau Nahles hat dazu am 3. April in derLeipziger Volkszeitung gesagt:Das beste Gesetz gegen Altersarmut ist der flächen-deckende gesetzliche Mindestlohn für alle.Für alle, also auch für Langzeitarbeitslose!Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie hoch dieNettorente sein müsste, damit jemand, der sein ganzesLeben gearbeitet hat, eine Rente bezieht, die über derGrundsicherung im Alter liegt. Die Antwort möchte ichIhnen nicht vorenthalten – ich zitiere –:Um eine Nettorente … über dem durchschnittlichenBruttobedarf in der Grundsicherung im Alter … beieiner wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stundenüber 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäfti-gung hinweg zu erreichen, wäre rechnerisch einStundenlohn von rd. 10 Euro erforderlich.Mit 8,50 Euro lösen Sie das Problem der Altersarmut indiesem Land überhaupt nicht.
Dann frage ich Sie: Was ist das für eine Regelung, dieerste Erhöhung zum 1. Januar 2018 stattfinden zu las-sen? Gilt denn die Würde erst ab dem 1. Januar 2018wieder? Im Übrigen sind die 8,50 Euro von heute imJahre 2017 nur noch 8,16 Euro wert. Das heißt, dass imJahr 2017 sich die meisten Mindestlohnempfänger in derBedürftigkeit wiederfinden und Sie somit mit der niedri-gen Marge des Mindestlohns Ihre eigenen Ziele verfeh-len. Das ist das Problem in diesem Zusammenhang.
Mein letzter Punkt: Durch einen Tarifvertrag kann derMindestlohn – Frau Nahles, Sie selber haben es ange-sprochen – bis 2017 unterlaufen werden. Was ist denndas für eine Regelung, dass man Gewerkschaftsmitglie-der per Tarifvertrag schlechterstellen darf als die, dienicht gewerkschaftlich organisiert sind? Haben denn diegewerkschaftlich Organisierten weniger Würde als dieanderen? Hören Sie auf mit diesen Ausnahmeregelun-gen, meine Dame! Legen Sie vielmehr einen Mindest-lohn für alle fest, wie Sie es angekündigt haben, und be-stimmen Sie eine vernünftige Höhe! Damit erreichen SieIhre eigenen Ziele.
Noch eine letzte Bemerkung. Ich habe die Äußerun-gen von Herrn Schweitzer und anderen von der Indus-trie, dem Handwerk und der Hotelbranche gelesen, diesich massiv über diese Regelungen beschweren. Ichhabe gedacht, ich traue meinen Augen nicht. HerrSchweitzer vom DIHK verweist auf die Chinesen unddie Amerikaner, die übrigens in einigen Städten teil-weise einen Mindestlohn von 14 Dollar einführen. Dazusage ich nur: Lassen Sie sich – da muss ich Sie jetztwirklich in Schutz nehmen – davon nicht beirren! HerrSchweitzer weiß doch genau, wo der Mindestlohn wirkt,nämlich in Branchen, in denen hauptsächlich Frauen ar-beiten, und im Dienstleistungsbereich.Jetzt wird gesagt, die Chinesen seien billiger. Glaubtdenn wirklich einer, dass die Fenster, die geputzt werdenmüssen, nach China zum Putzen und dann wieder zu-rückgeschickt werden, weil es in China niedrigere Löhnegibt? Sind die denn von allen guten Geistern verlassen?Wie kann man denn die chinesischen Löhne im Dienst-leistungsbereich, der ortsgebunden ist, mit unseren Löh-nen vergleichen?Deshalb sage ich Ihnen: Bitte bleiben Sie an der Stellehartnäckig! Machen Sie vor allem das, was Sie angekün-digt haben, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohn füralle ohne Ausnahme!
Herr Kollege Ernst, da Sie vorhin mit Blick auf dasbevorstehende Pfingstfest den Heiligen Geist für dieseAuseinandersetzung bemüht haben, erlaube ich mir denHinweis, dass die Frage, ob der Heilige Geist im Him-mel Mindestlöhne eingeführt hat, bis heute unter denTheologen nicht restlos geklärt ist.
Der Kollege Schiewerling hat nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir müssen schon aufpas-sen, dass die Diskussion über den Mindestlohn und überdie Frage der Zukunft der Arbeitswelt in unserer Gesell-schaft nicht in einem Klamauk endet.
Wissen Sie, Herr Kollege Ernst: Sie können gerne IhrMütchen an früheren politischen Auseinandersetzungenkühlen. Die Union hat von Anfang an in der letzten Le-gislaturperiode an einem Mindestlohnkonzept – ich ge-stehe zu: etwas länger – gearbeitet und dabei konsequentdie Frage gestellt, wie wir die Tarifautonomie stärkenkönnen. Deswegen hat sie das Konzept entwickelt, dassin Zukunft eine Kommission einen Mindestlohn findetund nicht der Deutsche Bundestag.
Deswegen werden wir hier im Hohen Hause jetzt zumersten und zum letzten Mal einen Mindestlohn von8,50 Euro festlegen; danach ist die Kommission zustän-dig. Sie gehört dahin, wo die Verantwortung für dieLöhne liegt, und die liegt bei den Tarifpartnern. Wir wer-den diese nicht aus der Verantwortung entlassen.
Das vorliegende Gesetz trägt nicht umsonst die Über-schrift „Stärkung der Tarifautonomie“. In der Tat stehtdie Tarifautonomie für uns im Mittelpunkt, bei allerSorge, die wir haben, dass die Tarifbindung abnimmt,was zu ganz schwierigen Entwicklungen geführt hat.Das hat zu einem großen Teil auch dazu geführt, dasswir heute über Mindestlöhne reden müssen; denn dort,wo Tarifautonomie vernünftig funktioniert, haben wirmit der Zahlung von Mindestlöhnen überhaupt keineProbleme. Nur dort, wo es keine Tarifautonomie gibtund die Bindungskraft der Unternehmen nachlässt, weilsie nicht Mitglied in einem Arbeitgeberverband sind,dort, wo Arbeitnehmer einen schwachen Organisations-grad in ihrer jeweils zuständigen Gewerkschaft haben,genau dort haben wir die Probleme und die Schwierig-keiten. Genau dort wollen wir ansetzen, damit wir zu ge-rechten und ordentlichen Lösungen kommen. Dem dientdieses Gesetz. Aber im Mittelpunkt steht die Tarifauto-nomie. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird diesesZiel mit großer Konsequenz, auch bei den jetzt anstehen-den Beratungen, zusammen mit ihrem Koalitionspartnerverfolgen.
Weil wir in vielen Bereichen eine schwache Tarifbin-dung haben, wird jetzt der Ruf nach dem Staat laut. Ichhalte es für eine ganz schwierige Entwicklung in unse-rem Land, dass überall da, wo etwas nicht mehr gelingt,wo Subsidiarität nicht mehr funktioniert, weil die, diedafür zuständig sind, die Verantwortung nicht überneh-men können oder nicht übernehmen wollen, der Rufnach dem Staat laut wird. Ich sage Ihnen sehr deutlich:Es ist nicht garantiert, dass dann automatisch alles besserwird. Aber wir sind gezwungen und aufgerufen, für Ord-nung am Arbeitsmarkt zu sorgen. Daran arbeiten wir.Folglich wird dieses Gesetz auf den Weg gebracht.Dies geschieht mit mehreren Waggons, die wir aufdieses tarifpolitische Gleis gesetzt haben:Es geht zunächst einmal um die Reform der Allge-meinverbindlicherklärung. Es geht darum, dass Tarifver-träge – auch solche mit einer Tarifbindung von unter50 Prozent – dann, wenn ein besonderes öffentliches In-teresse vorhanden ist, leichter auf diejenigen Gebieteeiner Branche, in denen keine Tarifbindung besteht, aus-geweitet werden können. Das ist eine konsequente An-wendung von Tarifautonomie im Hinblick auf die Stär-kung von Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Wir werden – das ist der zweite Waggon, der auf demtarifpolitischen Gleis steht – die Ausweitung des Arbeit-nehmer-Entsendegesetzes vornehmen. Wir werden alsoeine Ausweitung insbesondere auf diejenigen Branchenvornehmen, in denen ausländische Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer tätig sind. Auf diese Branchen wirdsomit dahin gehend Druck ausgeübt, dass dort faire undvernünftige Bedingungen herrschen. Wir werden ermög-lichen, dass noch mehr Branchen dem Geltungsbereichdes Arbeitnehmer-Entsendegesetzes unterliegen. Auchdort gelten dann zuvörderst die zwischen Arbeitgebernund Gewerkschaften ausgehandelten Tarife.Zum gesetzlichen Mindestlohn. Ich habe vorhin schongesagt: Der Deutsche Bundestag wird einmal einen Min-destlohn festlegen, 8,50 Euro, dadurch eine Marke set-zen und danach die Verantwortung einer Tarifkommis-sion übertragen, die paritätisch mit Arbeitgebern undGewerkschaftsvertretern besetzt ist.Ich kenne mittlerweile den Wunsch aus diesem Be-reich, dass man möglichst genau beschreibt, was dieseKommission zu tun hat, dass man möglichst eng ein-grenzt, welche Aufgaben sie hat. Ich sage Ihnen: Da ha-ben wir eine gänzlich andere Vorstellung. Wenn Arbeit-geber und Gewerkschaften für die Findung von Löhnenin unserem Land zuständig sind, dann haben sie auch dieVerantwortung dafür zu übernehmen. Deswegen werdenwir im Gesetzentwurf einige Kriterien formulieren, andenen man sich zu orientieren hat.
Dazu gehört die allgemeine wirtschaftliche Entwicklungin unserem Land. Dazu gehört die Bruttolohnentwick-lung in unserem Land. Dazu gehört die Auswirkung ei-nes Mindestlohnes auf Branchen und Regionen. Dazugehört natürlich auch die Frage der Auswirkungen einesMindestlohnes auf bestimmte Altersgruppen. Alle dieseFragen sollen von dieser Kommission mit bearbeitetwerden. Diese Kommission soll auch regelmäßig da-
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Karl Schiewerling
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rüber berichten und eine Analyse dazu abgeben, wie wasgewirkt hat.In der Tat, es ist richtig: Wir beschreiten mit der Im-plementierung des Mindestlohnes, mit der Flexibilisie-rung der Allgemeinverbindlicherklärung und der Ände-rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes einen neuenWeg, dessen sämtliche Auswirkungen wir letztendlichnoch nicht überblicken können. Das gilt insbesonderefür die Frage der Altersgrenze. Das gilt insbesondere fürdie Frage, wie sich das Ganze auf die Älteren nun wirk-lich auswirkt. Diesen Prozess haben wir nämlich jetzterst eingeleitet. Insofern ist es gut, wenn wir von derStunde null an die Entwicklungen beobachten und ge-meinsam auswerten, um die Frage beantworten zu kön-nen, wie das Ganze gewirkt hat.Eines wollen wir erreichen: Wir wollen, dass derMindestlohn und das andere, was wir auf den Weg brin-gen, den Menschen dient, Arbeitsplätze schafft undkeine vernichtet, Menschen hilft, zu faireren und gerech-teren Bedingungen ihre Arbeit erledigen zu können.Wenn wir gemeinsam dieses Ziel verfolgen, kann es unsgelingen, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen,dies auf Dauer gesehen zu bewerkstelligen.
Meine Damen und Herren, wir werden noch einigePunkte miteinander zu diskutieren und zu klären haben.Das wird wie immer in einer guten Form in den nächstenWochen passieren. Unser Wunsch als Fraktion ist, dasswir auf jeden Fall schauen, dass die Wirtschaft nicht mitunnötiger Bürokratie überzogen wird. Unser Wunsch ist,auf jeden Fall darauf zu schauen, dass Branchen, diejetzt noch besondere Beschwer sehen, Übergangsfristenbekommen, mit denen wir ihnen helfen, auf den Weg zukommen. Wir sind darüber miteinander im Gespräch.Ich bin sicher, dass wir miteinander zu einvernehmlichenLösungen kommen.Unser Ziel bleibt – das gilt auch für die Unionsfrak-tion –: Es muss fair am Arbeitsmarkt zugehen. Wir wol-len alles dafür tun, dass die Tarifpartner die Rahmenbe-dingungen haben, um dieses leisten zu können. Wirwerden den Menschen helfen. Wir sind für die Einfüh-rung des Mindestlohns, so wie es das Konzept jetzt vor-sieht. Ich bin ganz sicher, dass wir damit unser Landweiter voranbringen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schlecht
das Wort.
Herr Schiewerling, es ist ja begrüßenswert, dass Sie
sich so viele Gedanken über die Stärkung der Tarifauto-
nomie machen, nachdem die Tarifautonomie seit zehn
Jahren durch politische Rahmenbedingungen, durch
politische Rahmensetzung unterminiert worden ist. Aber
wenn Sie es mit diesem Gesetz ernst meinen und nicht
nur ein Gesetz machen würden, das über weite Strecken
einen Etikettenschwindel darstellt, dann hätte in dieses
Gesetz über das hinaus, was drinsteht, ein Verbot der
Leiharbeit gehört. Dann hätte drinstehen müssen eine
Neuregulierung der Befristung; die Befristung hat eine
ganz verheerende Auswirkung auf die Tarifautonomie.
Dann hätte eine Regelung hineingemusst zu den Mini-
jobs, nämlich dass die Minijobs ab der ersten Stunde so-
zialversicherungspflichtig sind. Dann hätten hineinge-
musst Veränderungen zu Werkverträgen, nämlich dass
die Betriebsräte Mitbestimmungsrechte erhalten, wenn
Werkverträge in den Unternehmen geschlossen werden
sollen. Dann hätte hineingemusst ein Verbandsklage-
recht für die Gewerkschaften. Zur AVE, zur Allgemein-
verbindlicherklärung, hätte nicht eine Regelung hinein-
gehört, die nur eine sehr homöopathische Wirkung hat,
sondern eine Regelung, nach der Gewerkschaften allein
verlangen können, dass in einer Branche eine Allge-
meinverbindlichkeit hergestellt wird.
Mit diesen Maßnahmen könnte man die verheerenden
Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Tarifbindung,
auf das Tarifsystem zurückführen. Aber das sehen Sie
nicht vor, weil Sie es nicht wollen. Insofern stellt das
Ganze in der Tat einen Etikettenschwindel dar. Es ist ein
bisschen das Vergießen von Krokodilstränen, wenn man
heute feststellt: Die Tarifbindung geht zurück. – Es ist
aber die eigene Politik – Sie haben die Politik von Rot-
Grün in dieser Frage immer unterstützt; es ist die Politik,
die man vor zehn Jahren gemacht hat –, die dazu geführt
hat, dass es überhaupt zu dieser Verschlechterung der
Tarifbindung gekommen ist.
Danke schön.
Zur Erwiderung: Herr Kollege Schiewerling.
Kollege Schlecht, ich danke Ihnen herzlich für dieKurzintervention. – Dass Sie die nutzen, um das gesamteProgramm der Linken vorzustellen,
ist Ihnen sicherlich nicht zu verwehren. Sie haben genaudie Argumente dafür genannt, dass es unserem Landbesser geht als anderen Ländern und es uns besser geht,als wenn Sie regieren würden.
Wenn Sie Ihren Katalog durchgesetzt hätten, ginge esden Menschen schlechter, weil Sie Ihnen etwas vorma-chen würden. Deswegen ist der Katalog, den Sie vorge-tragen haben, nicht dazu geeignet, den Menschen zu die-nen.
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3322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Karl Schiewerling
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Wir haben miteinander überhaupt nicht vor, alles zu-rückzudrehen, sondern es geht bei diesem Gesetz, daswir jetzt auf den Weg bringen, darum, einen gewissenAusgleich für die Verwerfungen zu schaffen, die in man-chen Bereichen in den vergangenen Jahren entstandensind. Es geht nicht darum, grundsätzlich den großen Er-folg, den wir in der Bundesrepublik Deutschland habenund um den wir beneidet werden, nicht nur in Europa,sondern weltweit – niedrigste Arbeitslosigkeit, höchsteBeschäftigung, auch höchste sozialversicherungspflich-tige Beschäftigung –, durch so einen Blödsinn zu gefähr-den, wie Sie ihn vorschlagen. Deswegen werden wir soeinen Quatsch nicht mitmachen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Andreae das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Füruns Grüne ist es ein großer Fortschritt, dass wir nichtmehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie undWann sprechen. Fast alle wollen diesen Mindestlohn:Gewerkschaften, Kirchen, über 80 Prozent der Bevölke-rung und zunehmend auch die Arbeitgeber. Der Vize-kanzler hatte recht, als er auf dem Katholikentag sagte,der Mindestlohn sei kein Instrument der Glückseligkeit.Aber der Mindestlohn ist ein Instrument der Notwendig-keit. Mit unwürdigem Lohndumping muss Schluss sein.
„Arm trotz Arbeit“ darf es nicht weiter geben. 8 Mil-lionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, zumTeil für unter 5 Euro die Stunde. Diese Menschen müs-sen aufstocken. Das heißt, der Steuerzahler subventio-niert Dumpinglöhne. Dass hier ein Riegel vorgeschobenwird, ist gut;
denn Dumpinglöhne behindern fairen Wettbewerb. Ichkenne viele Handwerker, die sagen, dass für sie der Min-destlohn richtig ist, weil sie sich dann nicht mehr mit denPreisdrückern auseinandersetzen müssen, die normaler-weise die Ausschreibungen gewinnen.
Andere europäische Länder haben bereits entspre-chende Regelungen und gute Erfahrungen mit dem Min-destlohn. Deutschland zieht jetzt nach. Das ist keine Re-volution, sondern eine Selbstverständlichkeit.
Was wir jetzt erleben, ist, dass der Wirtschaftsflügelder Union noch gründlich überarbeiten will. Das habenSie beim Rentenpaket auch gesagt; da hätten wir Ihnenviel Erfolg gewünscht. Dort ist es leider nicht gelungen.Auch hier werden die Backen wieder weit aufgeblasen.Ich glaube, die Arbeitsministerin kann ganz ruhig schla-fen. Auch dieser Tiger wird wieder als Bettvorleger lan-den. Dabei wird nichts herauskommen.
Dabei muss das Gesetz an entscheidenden Punktenverbessert werden; denn ein Sicherheitsnetz mit lauterLöchern ist eben kein Sicherheitsnetz.
Wenn Sie 2 Millionen Erwerbstätige aus dieser Rege-lung herausnehmen, führt das zu großen Lücken beimMindestlohn; es höhlt ihn aus.Ohne wirksame Kontrolle bleibt es eine Showveran-staltung. Wir wissen, dass ungefähr 340 Milliarden Europro Jahr in der Schwarzarbeit umgesetzt werden. Abernur 770 Millionen Euro konnten letztes Jahr aufgedecktwerden. Sie brauchen also mehr Personal. Die Finanz-kontrolle Schwarzarbeit muss personell aufgestockt wer-den.
Die Zollverwaltungen brauchen mehr Stellen. Das habenSie aber nicht eingeplant. Wir haben beantragt, im Haus-halt Mittel für die Personalaufstockung einzustellen, da-mit die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert wirdund man nachprüfen kann, ob das, was heute beschlos-sen wird, auch umgesetzt wird. Darum geht es.
Wo müssen Sie noch nacharbeiten? Die Bundesregie-rung traut sich nicht, eine unabhängige wissenschaftli-che Evaluation zuzulassen. Das ist falsch. Der Mindest-lohn ist keine Sozialromantik, sondern eine großesozialpolitische Reform, die Auswirkungen hat. Es ist al-lenthalben über die Frage diskutiert worden, was das be-deutet. Diese Auswirkungen muss man sehr genau prü-fen.Wie sieht es jetzt aus? Im Gesetz steht, dass die Bun-desregierung in sechs Jahren irgendwie prüfen will. Dasreicht nicht. Können Sie sich noch an die Handwerksno-velle 2004 erinnern? Auch damals wurde ins Gesetz hi-neingeschrieben, dass man irgendwann prüfen wolle.Aber das hat man bis heute noch nicht gemacht.Lassen Sie eine unabhängige wissenschaftliche Eva-luation zu, und nehmen Sie die Wissenschaft mit insBoot! Das sollte auch für die Mindestlohnkommissiongelten, und zwar mit Stimmrecht. Die Wissenschaftbraucht ein Stimmrecht in der Mindestlohnkommission.
Wir brauchen eine starke und unabhängige Kommis-sion, und zwar aus folgendem Grund: damit Akzeptanzfür die getroffenen Regelungen geschaffen wird, damitder Mindestlohn nicht zum Zankapfel in Wahlkämpfen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3323
Kerstin Andreae
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und hier im Bundestag wird, damit Ruhe, Stetigkeit undPlanbarkeit in dieses Instrument hineinkommen. Dafürbrauchen Sie eine unabhängige Mindestlohnkommis-sion.
Die Einführung des Mindestlohns war lange überfäl-lig. Es ist gut, dass heute der erste Schritt getan wird.Der Mindestlohn ist gut gegen Lohndumping, und er istgut für fairen Wettbewerb. Da darf man sich nicht dieButter vom Brot nehmen lassen. Der Mindestlohn nutztden Menschen und den Unternehmen gleichermaßen. Erist keine Fürsorgeleistung. Armutsbekämpfung brauchtandere Instrumente. Der Mindestlohn ist ein Mindest-standard und hat mit der Würde der Arbeit der Menschenzu tun.
Der Mindestlohn ist für uns von Bündnis 90/Die Grü-nen wie für einen großen Teil der Bevölkerung elemen-tare Grundlage sozialer Gerechtigkeit, die diesem Landgut ansteht. Bringen Sie ihn auf den Weg. Sorgen Sie fürdie Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Ver-bessern Sie die Evaluation. Lassen Sie die Ausnahmenweg. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Dann be-kommen Sie unsere Unterstützung.Vielen Dank.
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ha-ben 21 branchenübergreifende gesetzliche Mindest-löhne. Worüber wir seit Jahren streiten, ist in Ländernwie Frankreich, Großbritannien und den Niederlandenlängst Normalität. Ich freue mich, dass wir heute mit derersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs diesemeuropäischen Standard einen Schritt nähergekommensind; denn es wird höchste Zeit, dass das, was in Europalängst Realität ist, auch in Deutschland zur Selbstver-ständlichkeit wird,
nämlich dass man nicht duldet, wenn unanständig nied-rige Löhne gezahlt werden.Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, trotz europäi-scher Normalität ist die Einführung des gesetzlichenMindestlohns in Deutschland ein bedeutender Schritt,ein Meilenstein, für den wir Sozialdemokraten seit überzehn Jahren kämpfen; Herr Ernst, hier muss ich IhrLangzeitgedächtnis bemühen. Gegen viele Widerständehaben wir ihn jetzt durchgesetzt. Es wurde viel darüberdiskutiert, ob wir und ob sich die Unternehmen den Min-destlohn leisten können und wie sich dieser auf die wirt-schaftliche Entwicklung auswirkt. Das sind zweifelloswichtige Fragen.Genauso wichtig ist aber die Frage, ob es sich eineGesellschaft leisten kann, dass Millionen von Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern nicht an der wirtschaftli-chen Entwicklung teilhaben. Ich finde, wir können unsdas nicht leisten, weil es den sozialen Zusammenhalt inunserer Gesellschaft gefährdet, wenn wir Menschen mitBilliglöhnen ausgrenzen. Es ist deshalb Zeit, dass wirdem endlich mit dem gesetzlichen Mindestlohn einenRiegel vorschieben; hier sind wir, Kollegin KerstinAndreae, ganz dicht beieinander. In einem Land, daswirtschaftlich so gut aufgestellt ist – besser als viele an-dere EU-Länder, die ich gerade genannt habe –, mussdas eine Selbstverständlichkeit werden. Deshalb werdenwir dafür sorgen, dass der Mindestlohn, wie im Koali-tionsvertrag verabredet und schon im Kabinett beschlos-sen, auch zügig umgesetzt wird.
Wir werden auch dafür sorgen, Frau Andreae, dass dieUmsetzung durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeitkontrolliert wird und Verstößen stringent nachgegangenwird.Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver-ständlich nehmen wir die Sorgen einzelner Branchensehr ernst. An dieser Stelle möchte ich unserer Ministe-rin ausdrücklich dafür danken, dass sie sehr frühzeitigauf einen konstruktiven und intensiven Dialog mit deneinzelnen Branchen gesetzt hat und nach wie vor dafürsorgt, dass diese bei der Anpassung an den gesetzlichenMindestlohn die notwendige Unterstützung erhalten.
Ich finde, das Verfahren der Ministerin Nahles ist vor-bildlich. Ich würde mir wünschen, dass das auch in ande-ren Bereichen Schule macht.
Dazu gehört auch, dass wir beim Übergang auf tarifver-tragliche Lösungen setzen – das ist hier schon gesagtworden –, um einen vernünftigen, gangbaren Weg fürdie Unternehmen, die Probleme haben, zu schaffen.Kolleginnen und Kollegen, wir haben also Regelun-gen mit Augenmaß gefunden; ich bin sicher, dass siesich in der Praxis bewähren werden. Ich sage allen, diejetzt zum wiederholten Male – das ist auch schon ange-klungen – schwere Geschütze gegen den gesetzlichenMindestlohn auffahren wollen: Es wird Zeit, abzurüsten.Der Mindestlohn kommt, und er wird für viele MillionenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut sein, aber erwird auch unserem Land guttun.
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3324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Carola Reimann
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Vom Mindestlohn wird besonders eine Gruppe profi-tieren: die Arbeitnehmerinnen. Das ist gut, aber es zeigtauch, dass nach wie vor insbesondere Frauen von Lohn-ungerechtigkeiten betroffen sind. Sieben von zehn Be-schäftigten im Niedriglohnbereich sind Frauen. Hier istder gesetzliche Mindestlohn ein ganz wichtiger Schritt.Weitere Schritte müssen folgen; das ist klar. Dazu gehö-ren konkrete Maßnahmen gegen Lohndiskriminierung,Regelungen für Frauen in Führungspositionen und natür-lich das große Thema der Familienarbeitszeiten.Zum Schluss will ich ansprechen, dass der Mindest-lohn auch Schluss machen wird mit den Auswüchsen,die wir in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort„Generation Praktikum“ in der Praxis erleben mussten.Sich nach der Ausbildung, häufig nach sehr guter Aus-bildung, von einem Langzeitpraktikum zum nächstenhangeln zu müssen und dabei noch schlecht oder garnicht bezahlt zu werden – diese Praxis muss der Vergan-genheit angehören.
Praktikum heißt für uns Qualifizierung und Orientie-rung, aber nicht Ausbeutung. Dazu gehört für uns auchmehr Rechtssicherheit durch einen schriftlichen Vertragsowie eine Mindestvergütung, insbesondere für freiwil-lige Praktika von bis zu sechs Wochen, die im vorliegen-den Gesetzentwurf vom Mindestlohn ausgenommensind.
Kolleginnen und Kollegen, das Tarifpaket wird fürmehr Ordnung und Gerechtigkeit im Wirtschafts- undArbeitsleben sorgen. Wir führen mit dem Mindestlohnein neues Ordnungsinstrument ein und stärken vor allemmit der Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes füralle Branchen – das gilt dann auch für alle Beschäftigten,Herr Kollege Ernst – und durch die Reform der Allge-meinverbindlicherklärung die Tarifautonomie und diebewährte Sozialpartnerschaft in Deutschland. Das istnicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch ver-nünftig.Danke fürs Zuhören.
Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damenund Herren! Auch ich möchte wie mein Kollege KlausErnst allen gratulieren, die seit über zehn Jahren für ei-nen Mindestlohn gekämpft haben, und dabei meine ichinsbesondere meine Kolleginnen und Kollegen von denGewerkschaften, die nicht nachgelassen haben, für die-ses Thema immer wieder neu zu streiten.
Seit 2006 legt die Linke Anträge zum Mindestlohnvor. Ich erinnere mich, dass die SPD unsere Anträge zumMindestlohn seit diesem Zeitpunkt abgelehnt hat. Vondaher müssen wir nicht streiten, wer welche Anträge ein-gebracht hat. Wenn Sie uns zugestimmt hätten, hättenwir schon seit 2006 einen Mindestlohn.
Ich würde auch gerne der SPD an dieser Stelle gratu-lieren, aber irgendwie kriege ich das nicht hin. Sie hattendie Chance, die verheerenden Folgen der Agenda 2010abzufedern. Wie ich der Rede von Frau Nahles entnom-men habe, ist die Agenda 2010 der Grund dafür, warumwir überhaupt einen Mindestlohn in Deutschland brau-chen. Wegen der Agenda 2010 musste entsprechend kor-rigiert werden.Den Wert und die Würde der Arbeit in Deutschlandzu verteidigen, und das flächendeckend, das ist die Auf-gabe, die wir unbedingt wahrnehmen müssen.
Diese Chance haben Sie aus unserer Sicht durch das un-selige Gefeilsche um die Ausnahmen beim ohnehin zuniedrigen Mindestlohn verpasst.Die Wahrheit ist, dass dem Gejammer der Arbeitge-berseite nachgegeben wurde. Sie haben dem nichts ent-gegengesetzt. Das Resultat ist, dass wir es jetzt mit ei-nem Flickenteppich von Ausnahmen zu tun haben,einem Flickenteppich im Hinblick auf Personengruppen,denen gesagt wird: Eure Arbeit ist weniger wert als dieArbeit eurer Kolleginnen und Kollegen.Können Sie sich eigentlich vorstellen, was das für ei-nen 17-Jährigen oder eine 17-Jährige bedeutet, wenn derein Jahr ältere Kollege oder die Kollegin mehr Geld be-kommt als er oder sie selbst? Das ist doch nicht in Ord-nung!
Können Sie sich vorstellen, was es für einen Beschäftig-ten, der aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt, bedeu-tet, wenn ihm per Gesetz vom ersten Tag an mitgeteiltwird, dass seine Arbeit weniger anerkannt wird und we-niger wert ist? Das geht doch nicht!
Das hat mit der guten Idee eines Mindestlohns nichts zutun. Mich ärgert das total.Auch die Tatsache, dass Arbeitgebervertreter jetzttagtäglich auf der Matte stehen und eine Ausnahme nachder nächsten fordern, macht mich unglaublich ärgerlich.Niemand von der Regierungskoalition haut auf denTisch und sagt: Leute, damit ist jetzt Schluss! Wir führendas ein, ohne Wenn und Aber! – Aber genau das machenSie nicht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3325
Jutta Krellmann
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Durch Ihre Haltung, dadurch, dass Sie einfach nichtstun, geben Sie die Interessen der Beschäftigten preis,und das ist absolut nicht in Ordnung.Als Linke können wir die geplanten Ausnahmen nichthinnehmen.
Die Würde der Menschen kennt keine Ausnahmen. FürIhren Flickenteppich gibt es keine wirtschaftliche undauch keine juristische Rechtfertigung. Ich fordere Sieauf: Nehmen Sie Abstand von der Diskriminierung derLangzeitarbeitslosen und der Jugendlichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, während wir hierim Bundestag über dieses Mindestlohngesetz streiten,stehen am Brandenburger Tor Kolleginnen und Kollegender Gewerkschaften und vom DGB, die unter dem Motto„Mindestlohn für alle, jetzt. Würde kennt keine Ausnah-men“ darauf aufmerksam machen wollen, dass sie mitden Ausnahmeregelungen nicht einverstanden sind.Wir von der Linken können uns dem nur anschließen.Auf Ihren Flickenteppich Mindestlohn können sich dieMenschen da draußen nicht verlassen, aber daraufschon: Wir, die Linke, werden nicht lockerlassen, bis alleBeschäftigten zu ihrem Recht gekommen sind, und zwarflächendeckend.Vielen Dank.
Matthias Zimmer erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA,veröffentlichte der Schotte Adam Smith sein wohl be-kanntestes Werk über den Wohlstand der Nationen. Eswurde zum wirtschaftspolitischen Grundmanifest einerganzen Epoche. Smith begründete die politische Ökono-mie, und er wurde zum Stammvater des wirtschaftlichenLiberalismus. Umso überraschender ist es, dass wir indiesem Buch auch eine Passage über den gerechten Lohnfinden. Es sei der Lohn, der einem Arbeiter zustehe, umsich und seine Familie zu ernähren. Nein, überraschendwar das eigentlich nicht; denn Smith war Moralphilo-soph und sah die Wirtschaft in einer auf den Menschenbezogenen, dienenden Funktion. Nur so viel, Herr Kol-lege Ernst: Wer hat’s erfunden? Die Liberalen waren Ih-nen da 230 Jahre voraus.
Meine Damen und Herren, etwas mehr als 100 Jahrespäter, im Jahre 1891, griff Papst Leo XIII. in der erstenSozialenzyklika Rerum Novarum den Begriff des ge-rechten Lohns wieder auf. Er ist seither fester Bestand-teil der katholischen Soziallehre. So nahe wie damalswaren sich Liberalismus und katholische Soziallehrevermutlich nie wieder.Wer dagegen heute den „Sinn“-Spruch eines gleich-namigen Münchener Ökonomen vernimmt, die Löhnemüssten nur weit genug fallen, damit jeder Arbeit be-kommt, vermisst schmerzlich jene normative Dimen-sion, die einmal die Attraktivität des Liberalismus aus-gemacht hat.
Wir haben in der sozialen Marktwirtschaft viele Ant-worten auf die Frage des gerechten Lohns gegeben. Eineüber lange Jahre gebräuchliche Antwort war: Die Lohn-findung überlassen wir den Sozialpartnern, also den Ar-beitnehmern und den Arbeitgebern. Der Staat soll sichaus der Lohnfindung heraushalten, dann wird es gerecht.Das setzt aber starke Arbeitgeberverbände und Gewerk-schaften voraus, und diese Voraussetzung – die Ministe-rin hat es erwähnt – ist seit den 90er-Jahren zunehmenderodiert.
Wir haben dann gesagt: „Lasst uns nicht über den ge-rechten Lohn, sondern über Einkommen diskutieren“,und haben zu niedrige Löhne durch den Staat aufge-stockt. Das war in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit durch-aus eine breit akzeptierte Vorgehensweise. Wahr ist aberauch: Diese Aufstockung ist eben auch eine Subventionwirtschaftlicher Tätigkeit, und zwar in doppelter Weise;denn zum einen stockt der Staat nicht hinreichendeLöhne auf, zum anderen muss er dann nach dem Arbeits-leben nicht auskömmliche Renten durch die Grundsiche-rung im Alter finanzieren. Ob das alles im Zeitalter einesFachkräftemangels noch sinnvoll ist, mag man füglichbezweifeln.
Wir haben über viele Jahre – recht erfolgreich, wieich finde – branchenbezogene Mindestlöhne für allge-meinverbindlich erklärt und damit in vielen Branchenden Wettbewerb sinnvoll geregelt. Aber es gibt nochviele weiße Flecken in der Tariflandschaft. Deshalb istes gut und richtig, wenn wir als Schlussstein der Ord-nung der Lohnfindung in Deutschland heute den Gesetz-entwurf zur Einführung eines allgemeinen Mindestlohnsdiskutieren, mit dem ein angemessener Mindestschutzfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestelltwerden kann. Der Mindestlohn soll künftig verhindern,dass der Wettbewerb über die Fähigkeit definiert wird,Löhne zu drücken. Wir erkennen damit an, dass der Ar-beitsmarkt ein abgeleiteter Markt ist und anders behan-delt werden muss als Märkte, die vollkommen vom Spielvon Angebot und Nachfrage geleitet werden.
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3326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Matthias Zimmer
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Das sind wir als Christdemokraten unserem Bild von Ar-beit und unserem Bild des Menschen auch schuldig.Wenn wir nun in die parlamentarischen Beratungenüber den Gesetzentwurf einsteigen, so habe ich einigeWünsche dazu. Es ist nur fair, diese am Anfang der Be-ratungen auszusprechen. Ich will nur drei nennen:Erstens glaube ich nicht, dass wir uns mit der vorlie-genden Form der Generalunternehmerhaftung wirklicheinen Gefallen tun.
Zwar ist es ja durchaus ein biblisches Motiv, Haftung bisins sechste oder siebte Glied – das sagt einiges über dieBibelfestigkeit der Ministerin aus –, aber ich halte das inder Praxis gerade im Mittelstand für nicht wirklich hilf-reich. Darüber müssen wir noch einmal intensiv nach-denken.Zweitens finde ich die Regelung bei Praktika – FrauKollegin Reimann, ich stimme Ihnen da vollkommen zu;die Generation Praktikum wollen wir nicht –
noch nicht wirklich überzeugend. Wir nehmen zwarPflichtpraktika von Studierenden vom Mindestlohn aus,aber häufig sind gerade in geisteswissenschaftlichen Stu-dienfächern längere Praktika während des Studiums eineBrücke in die Beschäftigung nach dem Studium. Dassind aber in aller Regel, weil die Geisteswissenschaftenkeine Pflichtpraktika kennen, freiwillige Praktika. Ver-sperren wir hier nicht Möglichkeiten, anstatt zu helfen,Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen? Mir fehlt im Üb-rigen auch eine genaue Definition des Praktikums, etwain Abgrenzung zu einem Volontariat oder zu einem Trai-nee-Programm.Ein Drittes; dies regt mich ein wenig auf. Das Gesetzsoll den schönen Namen Tarifautonomiestärkungsgesetztragen. Dann sollten wir das auch tun. Wir haben eineMindestlohnkommission vorgesehen, die einen Vorschlagzum Mindestlohn erarbeiten soll. Nun höre ich von derBDA und dem DGB, dass man sich dieser Arbeit entzie-hen und einfach den Tarifindex nachgehend zum Maß-stab für die Festlegung des Mindestlohns machen will.Ich finde das einigermaßen abenteuerlich.
Mir scheint, da will sich jemand die Hände in Unschuldwaschen und sagen: Mit dem Mindestlohn habe ichnichts zu tun, das ist Sache der Politik. – Nein, meineDamen und Herren vom DGB und von der BDA, das istSache der Tarifparteien in der Kommission. Ich willschon, dass sich die Mindestlohnkommission die Arbeitmacht, ihren Vorschlag genau zu begründen, sich dabeian bestimmten Kriterien ausrichtet und dann auch aus-führlich berichtet; denn das hilft uns am Ende bei derEvaluation des Mindestlohns.
Es ist gerade in ersten Lesungen eines Gesetzentwur-fes schon beinahe parlamentarische Folklore, auf dasStruck’sche Gesetz hinzuweisen, wonach kein Gesetzden Bundestag so verlässt, wie es in ihn hineingekom-men ist. Ich will das Struck’sche Gesetz heute um eineVermutung ergänzen, dass nämlich dann, wenn beideRegierungsfraktionen der Großen Koalition konstruktivzusammenarbeiten, das Gesetz nicht nur anders, sondernbesser den Bundestag verlässt.
Auf eine erste empirische Überprüfung dieser Vermu-tung freue ich mich.
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrZimmer, Sie haben gerade gesagt: Schön, dass wir heuteüber den Mindestlohn diskutieren. Ich habe einmal nach-gezählt: In den letzten Jahren haben wir hier in diesemParlament mehr als 22-mal über den Mindestlohn disku-tiert.
Ich gestehe hier ganz offen: Manchmal hatte ich, insbe-sondere was die rechte Seite des Hauses angeht, das Ge-fühl, dass ich auf ein totes Pferd einrede.
Dass dieser Gaul jetzt doch in Trab kommt,
halte ich für einen extremen gesellschaftlichen Fort-schritt. Ich finde, das sollten wir deutlich sagen.
Aber ich finde, wir sollten auch sagen, dass wir dieZiellinie leider noch lange nicht erreicht haben. DieMindestlohngegner haben noch lange nicht aufgegeben.Dabei fällt mir die folgende Frage ein: Wo ist eigentlichHerr Linnemann? Herr Linnemann, der über die Presseimmer Neues fordert, ist hier als Redner nicht vorgese-hen.
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Brigitte Pothmer
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Sie arbeiten weiter mit Hochdruck daran, den Mindest-lohn immer weiter auszuhöhlen. Wenn Sie sich durchset-zen und nur ein Teil der vorgesehenen Ausnahmen imGesetz steht, dann werden wir es nicht mit einem flä-chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu tun haben.Dann werden wir es mit einem Niedriglohnsektor unter-halb des Mindestlohns zu tun haben.
Das hätte zur Konsequenz, dass die Niedriglöhner inKonkurrenz zu den Mindestlöhnern träten. Dann würdeder Mindestlohn zu einem Konkurrenznachteil gegen-über den Niedriglöhnern. Das können wir auf gar keinenFall wollen.
Deswegen, liebe Frau Nahles, betrachten wir die Aus-nahmen, die der Gesetzentwurf vorsieht, voller Skepsis.Ich nenne die Ausnahme für die unter 18-Jährigen. Siewissen, dass ich ganz persönlich – daraus habe ich nieeinen Hehl gemacht – die Sorge sehr ernst nehme, dassder Mindestlohn tatsächlich für Jugendliche den Anreizsetzen könnte, auf eine Ausbildung zu verzichten undstattdessen jobben zu gehen. Deswegen hat meine Frak-tion ein sehr hochkarätig besetztes Fachgespräch dazudurchgeführt. Nach diesem Fachgespräch kann ich Ihneneines klipp und klar sagen: Ihr Vorhaben taugt nichts.
Das ist weniger als ein Placebo. Ihre Regelung trifft ge-nau 9 000 Personen. 9 000 unter 18-Jährige sind sozial-versicherungspflichtig beschäftigt. Das ist Ihre Ziel-gruppe. Von Ihrer Regelung betroffen sind am Ende aber320 000 unter 18-Jährige, die neben der Schule und ne-ben der Ausbildung jobben gehen. 9 000 Personen wol-len Sie treffen, aber 320 000 treffen Sie in Wirklichkeit.Das ist ein Kollateralschaden, der sich gewaschen hat.
Wenn Sie wirklich etwas für junge Leute tun wollen,dann müssen Sie dafür sorgen, dass attraktive Ausbil-dungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und die inIhrer Koalitionsvereinbarung vorgesehene Ausbildungs-platzgarantie endlich umsetzen.Frau Nahles, richtig übel nehme ich Ihnen die Aus-nahmen für die Langzeitarbeitslosen.
Sie wollen uns das hier verkaufen als eine Starthilfe fürLangzeitarbeitslose, um in Arbeit zu kommen. Das istkeine Starthilfe, das ist Stigmatisierung. Die Botschaft,die Sie aussenden, lautet: Die können doch nichts, diekriegt ihr billiger. Wenn das keine Stigmatisierung ist,dann weiß ich nicht, was Stigmatisierung ist.
Sie wissen sehr genau, dass es sich bei den Langzeit-arbeitslosen um eine sehr heterogene Gruppe handelt.Ich bestreite überhaupt nicht, dass es darunter auch Men-schen gibt, die erhebliche Leistungseinschränkungen ha-ben. Für diese Gruppe haben wir aber ein sehr zielge-naues Instrument, nämlich die Lohnkostenzuschüsse.Statt dieses Instrument fortzuentwickeln, stigmatisierenSie über 1 Million Menschen als nicht leistungsfähig.Ihnen geht es im Übrigen gar nicht um die Integrationvon Langzeitarbeitslosen. Die Langzeitarbeitslosen sinddas Bauernopfer, das die SPD der Union in Sachen Min-destlohn geben musste.
Das ist der Skalp, den die Union gefordert hat, um zu de-monstrieren, dass die Sozialdemokratisierung der Unionnoch nicht vollends abgeschlossen ist. Ich sage Ihnenaber: Hier geht es ausdrücklich nicht um politische Ge-ländegewinne in der Koalition; hier geht es um denSchutz vor Lohndumping, und zwar für alle Beschäftig-ten.
Noch eine Bemerkung: Dieses Gesetz heißt ja Gesetzzur Stärkung der Tarifautonomie. Von dieser Ausnahmebei den Langzeitarbeitslosen profitieren übrigens auchnur die Betriebe, die keinen Tarifvertrag haben, weil die,die einen Tarifvertrag haben, diese Ausnahme nicht ma-chen können. So weit zur Stärkung der Tarifautonomie.
Meine Damen und Herren, wir werden in den Bera-tungen noch eine Menge Themen ansprechen müssen.Auf die Konstruktion der Mindestlohnkommission isthingewiesen worden, auf die Evaluierung, die erst 2020beginnen soll, ebenfalls. Auf die geplanten Ausnahmenund ihre Folgen müssen wir ebenso eingehen wie auf dasEinfrieren des Mindestlohns bis 2018. Wissen Sie, wasdas bedeutet? Das bedeutet, dass die Politik bis 2018 denMindestlohn festlegt, also genau das passiert, wogegenSie sich hier immer wieder zur Wehr setzen.
Dann müssen wir auch einmal darüber reden, ob die-jenigen, die nicht vom Mindestlohn profitieren, eigent-lich überhaupt geschützt werden –
Frau Kollegin.
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3328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
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– ich komme zum Schluss – und ob deren Löhne nicht
die Grenze der Sittenwidrigkeit unterschreiten. Das kön-
nen Sie doch nicht ernsthaft wollen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das alles sind
keine Petitessen. Es geht um mehr als 5 Millionen Men-
schen hier in Deutschland. Es geht um die Bekämpfung
des Niedriglohnsektors. Ich finde, das ist des Schweißes
der Edlen wert.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Deutschland ist wirtschaftlich und sozialerfolgreich. Diesen Weg des Erfolgs wollen wir fortset-zen. Unser Erfolgsrezept lautet dabei soziale Marktwirt-schaft. Soziale Marktwirtschaft ist immer eine Wettbe-werbsordnung, die den sozialen Ausgleich aber niemalsbeiseitelässt. Keiner darf verloren gehen; das ist unserAnspruch. Natürlich umfasst soziale Marktwirtschaftauch Wettbewerb: Wettbewerb um innovative Ideen, umbeste Produkte, um den Vorsprung an Wissen und Kön-nen. All das zeichnet unser Land aus. Das wollen wirauch unterstützen, beispielsweise in den Bereichen For-schung und Wissenschaft, Infrastruktur und duale Aus-bildung. In diesen Bereichen wird Zukunft gewonnen.Deshalb geben wir hier auch in Zukunft mehr Geld aus.Soziale Marktwirtschaft beinhaltet nach unserem Ver-ständnis aber nicht Dumpinglöhne und Wettbewerb umdie niedrigsten Löhne und die schlechteste Bezahlung.Wir wissen: Gute Arbeit muss sich lohnen.
Wo Vollzeit gearbeitet wird, da sollen die Menschen, dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch angemessenbezahlt werden. Leistung muss fair bezahlt werden.Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe un-serer Sozialpartner, der Arbeitgeber und Arbeitnehmerin unserem Land, und nicht des Staates – nicht in ersterLinie. Die Sozialpartnerschaft hat über Jahrzehnte hin-weg für Wohlstand und sozialen Frieden gesorgt. GuteTarifverträge sind die Garantie dafür, dass Leistung fairbezahlt wird. Davon profitieren im Übrigen auch die un-tersten Lohngruppen. Wir haben in großzügiger Art undWeise die branchenbezogenen Mindestlöhne ausgewei-tet. 4 Millionen Menschen profitieren derzeit davon,doppelt so viele wie 2009. Wenn man sich die tariflichenMindestlöhne ansieht, dann stellt man fest, dass diese zufast 90 Prozent über 8,50 Euro liegen. Das ist der Erfolgvon tariflichen Mindestlöhnen. 79 Prozent liegen im Üb-rigen bei 10 Euro und mehr. Deswegen wollen wir dieTarifbindung in diesem Land stärken und hier auch un-terstützen.
Soziale Marktwirtschaft funktioniert aber nur dann,wenn wir starke Sozialpartner haben. Deswegen müssenwir das Interesse an der Sozialpartnerschaft hochhalten,zum einen auf der Arbeitnehmerseite, indem wir sagen:„Geht in die Gewerkschaften, kämpft für eure Interes-sen“, zum anderen auf der Seite der Unternehmen, damitdiese sagen: „Ja, ich möchte Mitglied in einem Arbeitge-berverband werden und damit auch Einfluss auf die Ta-rifgestaltung in diesem Land nehmen.“Tatsache ist aber auch: Die Tarifbindung hat sowohlin Ostdeutschland als auch in Westdeutschland abge-nommen, in den letzten 16 Jahren um rund 20 Prozent.Die Anzahl der Betriebe mit Branchentarifbindung liegtim Westen derzeit bei 53 Prozent, im Osten bei 36 Pro-zent. Das ist eine Entwicklung, die wir stoppen wollen.Deswegen werden wir dafür sorgen, dass wir das Netzan Tarifverträgen weiter ausbauen, indem wir die Allge-meinverbindlichkeitserklärung stärken und auch den Zu-gang zu den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Ent-sendegesetz bietet, entsprechend erleichtern.Aber dort, wo die Lohnfindung auf tarifvertraglicherEbene nicht funktioniert, weil die Tarifbindung nichtgegeben ist oder weil sich die Arbeitnehmer in diesemBereich unzureichend organisieren, da bedarf es einerLohnuntergrenze. Deswegen kommt der gesetzlicheMindestlohn von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015.
Wir sagen auch: Einmal werden wir den gesetzlichenMindestlohn hier im Rahmen des Gesetzgebungsverfah-rens festlegen, aber in Zukunft werden bezüglich derEntwicklung des Mindestlohns die Tarifvertragsparteieneine entscheidende Rolle spielen. Sie sind es, die in derMindestlohnkommission Verantwortung dafür zu tragenhaben, wie sich die Entwicklung des Mindestlohns inZukunft gestaltet. Da hat Automatismus keinen Platz.
Platz hat hier nur eine Gesamtabwägung; denn es ist er-forderlich, dass gut begründet wird, wie denn die Aus-wirkungen von Mindestlohnregelungen auf Beschäf-tigung, auf Branchen, auf Regionen sind. DieseAuswirkungen sollen dezidiert und genau begutachtetwerden. Dann soll im Rahmen einer Gesamtabwägungentschieden werden, welche Höhe des Mindestlohns inZukunft angemessen ist.Wir haben – das müssen wir konstatieren – derzeitkeine Erfahrung mit gesetzlichen Mindestlöhnen. Wirhaben Erfahrung mit Branchenlöhnen. Hier haben wirderzeit keine feststellbar negativen Beschäftigungsef-fekte. Aber wir steigen sehr hoch ein – international ge-sehen –, und wir gehen auch nicht so vorsichtig vor, wiedies beispielsweise andere Länder gemacht haben. Des-wegen müssen wir darauf achten, dass der Schuss fürEinzelne nicht nach hinten losgeht.
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Stephan Stracke
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Wir müssen darauf achten, dass wir nicht in großemAusmaß negative Beschäftigungseffekte kreieren. Des-wegen war uns von Anfang an wichtig: Wenn wir jetztden Mindestlohn einführen, dann müssen wir das Gesetzauch entsprechend evaluieren, damit wir tatsächlich dieKontrolle haben, wie sich das auf die Lebenswirklichkeitauswirkt.Deswegen haben wir uns auch für Ausnahmen einge-setzt. Ausnahmen gebieten die Vernunft und die Verant-wortung beispielsweise auch gegenüber denjenigen, dieschwächer aufgestellt sind, die gering qualifiziert sindoder langzeitarbeitslos sind. Das hat, Frau Pothmer,nichts mit Stigmatisierung zu tun,
sondern es hat ausnahmslos damit zu tun, dass wir hierdie Chancen auf den Einstieg in das Arbeitsleben bei-spielsweise für diejenigen, die langzeitarbeitslos sind,die gering qualifiziert sind, hochhalten müssen undkeine neuen, keine zusätzlichen Hürden aufbauen dür-fen.
Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass Langzeit-arbeitslose in den ersten sechs Monaten von dem Min-destlohn ausgenommen werden. Ich glaube, das erhöhtdie Chancen für Langzeitarbeitslose, in den ersten Ar-beitsmarkt zu kommen.
Wir haben sichergestellt, dass Auszubildende, die bei-spielsweise eine duale Ausbildung machen, vom Min-destlohn ausgenommen werden.
Denn wir wollen die duale Ausbildung hochhalten; sieist ein Erfolgsgarant für unsere hohe Beschäftigung inDeutschland. Deswegen ist es richtig, dass wir auch hiereine Ausnahme machen.Es ist genauso richtig, dass wir eine Altersgrenze ein-führen. Beides hat miteinander zu tun. Wenn ich einengesetzlichen Mindestlohn für einen Ungelernten ein-führe, dann wird es attraktiver sein, nicht in eine Ausbil-dung zu gehen. Deswegen ist die Altersgrenze von18 Jahren bereits ein Erfolg, und wir müssen dann imRahmen der Evaluation des Gesetzes sehen, wie hier dieWirkungen sind.Im Übrigen haben wir auch klargestellt, dass Ehren-amtlichkeit nichts mit Mindestlohn zu tun hat. Auch dasgehört in eine Gesamtordnung mit hinein.Wir wissen auch, dass manche Branchen einen beson-deren Anpassungsbedarf haben werden. In der Koali-tionsvereinbarung wird bereits die Landwirtschaft ge-nannt. Wir haben diesbezüglich zwei Regelungenvorgesehen: zum einen, dass wir Ausnahmen für Tarif-verträge bis Ende 2016 machen, und zum anderen hatdie Ministerin in ihrem Zuleitungsschreiben an diesesHohe Haus auch deutlich gemacht, dass sie in bestimm-ten Branchen keine Verwerfungen will, insbesonderewas die Saisonarbeit angeht. Die Ministerin hat verspro-chen, zu liefern. Wir sehen dem, was sie hier auf denWeg bringt, mit großer Sympathie entgegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir beratenheute in erster Lesung das Mindestlohngesetz, das aucheine Veränderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzesund der Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit sichbringt. Es handelt sich insgesamt um ein Tarifpaket, dasdie Tarifautonomie stärkt. Ich wünsche uns in der nächs-ten Zeit gute Beratungen und hoffe, dass letztlich ein Pa-ket herauskommt, von dem wir tatsächlich in Gänze sa-gen können: Das bringt Deutschland weiter voran.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerMindestlohn kommt nun endlich. Er wird für mehr Ord-nung am Arbeitsmarkt sorgen, er wird vor Niedriglöh-nen schützen und damit für mehr Gerechtigkeit für mehrals 5 Millionen Menschen in Deutschland sorgen. Ichbin stolz darauf. Wir können froh sein, dass sich die vie-len Jahre sozialdemokratischer, aber auch gewerkschaft-licher Anstrengung gelohnt haben.
Ich will ganz klar sagen – weil einige das in derDebatte angesprochen haben –: Der Mindestlohn wirdkein stumpfes Schwert. Wir werden die Einhaltung kon-trollieren. Wir werden nicht dulden, dass es Schlupflö-cher gibt, zum Beispiel durch Subunternehmen. Die8,50 Euro sind gesetzlich verankert, und sie gelten flä-chendeckend, für alle Menschen in Ost und West, füralle Branchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem gesetzli-chen Mindestlohn betreten wir in Deutschland tatsäch-lich Neuland. Das machen wir, weil die Auswüchse imNiedriglohnsektor in den letzten Jahren die Politik zumHandeln zwingen. Ich sage durchaus selbstkritisch– nicht alle haben nämlich immer bei allem recht, wieSie es von sich denken, Herr Ernst –: Die Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes hat für viele Menschen neueChancen mit sich gebracht. Aber es hätte sich am An-fang auch niemand vorstellen können, wie sehr Unter-nehmen sie ausnutzen, durch Dumpinglöhne und durch
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Kerstin Griese
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Aufstocker, und das auf Kosten der Beschäftigten unddamit auf unser aller Kosten. Deshalb ist es notwendigund richtig, jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn einzu-führen.
Der Mindestlohn ist kein Allheilmittel. Aber er istnotwendig, um eine Spaltung des Arbeitsmarktes unddamit auch eine Spaltung der Gesellschaft zu verhin-dern. In Europa betreten wir damit übrigens kein Neu-land. 21 der 28 EU-Staaten haben schon einen Mindest-lohn.Der Mindestlohn ist eine Untergrenze, eine Haltelinienach unten. Noch besser sind immer gute Tariflöhne.Deshalb ist unser Gesetz auch ein Gesetz zur Stärkungder Tarifautonomie. Wir sorgen dafür, dass Tarifverträgeleichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können.Wir schaffen eine Übergangsregelung von zwei Jahren,die dazu führt, dass mehr Branchen Tarifverträge ab-schließen. In den Bereichen, in denen bisher überhauptkeine Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herrschte – ichnenne nur die Fleischindustrie, die wir in diesem Hauserst vor kurzem einstimmig ins Arbeitnehmer-Entsende-gesetz aufgenommen haben –, werden endlich Tarifver-träge geschlossen, die dann übrigens für die kompletteBranche gelten, wenn für sie das Arbeitnehmer-Entsen-degesetz gilt, und nicht nur für einige Unternehmen. Dasist ein guter und wichtiger Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mindestlohn istein Stück mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer. Aber er ist auch ein Stück mehr Ge-rechtigkeit für Arbeitgeber, nämlich für die Unterneh-mer, die anständig zahlen und ehrlich wirtschaften.
Denn ein Arbeitgeber, dessen Geschäft nur funktioniert,wenn er so niedrige Löhne zahlt, dass der Staat sie auf-stocken muss, hat kein gutes Geschäftsmodell. Das wol-len wir nicht haben. Das belastet die Allgemeinheit, unddas belastet auch die Steuerzahler.
Insofern wird es auch für die Arbeitgeber in Zukunftgerechter werden. Der Mindestlohn ermöglicht Wettbe-werbsgerechtigkeit. Dabei geht es nicht darum, wer dieniedrigsten Löhne zahlt und dann auf dieser Basis mitanderen konkurriert, sondern es wird um gute Arbeitsbe-dingungen, gute Löhne, gute Produkte und Dienstleis-tungen gehen. Das ist eine sinnvolle Sache.Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz insgesamt gu-ter Arbeitsmarktdaten befinden sich weiterhin 1 MillionMenschen in Langzeitarbeitslosigkeit; ich will auf dieseGruppe eingehen, weil ich die Kritik, die Sie an der vor-gesehenen Ausnahme geübt haben, durchaus nachvoll-ziehen kann. Es ist schwierig, Menschen, von denen vie-len eine Ausbildung fehlt, die vielfach persönliche,gesundheitliche oder – das nimmt immer mehr zu – psy-chische Probleme haben, in den ersten Arbeitsmarkt zuvermitteln. Deshalb sage ich ganz klar: Wir müssen undwollen mehr tun, damit Langzeitarbeitslose eine Per-spektive bekommen, damit sie begleitet werden, undzwar länger als bisher, wenn sie einen Job bekommen,damit mehr aktive Leistungen statt passiver Leistungenfinanziert werden. Wir werden mittel- und langfristig si-cherlich auch einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, indem diese Menschen besonders unterstützt werden.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einfüh-rung eines Mindestlohnes ist für Langzeitarbeitslose,also für Menschen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind,eine befristete Ausnahme von sechs Monaten vorgese-hen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass meine Fraktionvon dieser befristeten Ausnahme beim Mindestlohn fürLangzeitarbeitslose nicht begeistert ist. Man hat sich in-nerhalb des Kabinetts aber darauf geeinigt.Deshalb ist es so wichtig, dass wir festgehalten haben,dass es schon zum 1. Januar 2017 eine Evaluation gebenwird, damit wir sehen, ob diese Regelung eine Wieder-eingliederung in den Arbeitsmarkt verhindert oder beför-dert hat. Wir werden dann auch sehen, ob es sinnvoll ist,sie beizubehalten. Ich glaube, es ist wichtig, dass wiraufpassen, dass wir nicht eine bestimmte Gruppe stigma-tisieren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Rege-lung sehr genau überprüfen.Im Zuge der Beratung des Gesetzentwurfes, die wirjetzt vor uns haben, sollten wir auch darauf achten, dassdiese Ausnahme nicht ausgenutzt wird und dazu führt,dass zum Beispiel ein Arbeitgeber immer wieder Lang-zeitarbeitslose für sechs Monate einstellt. Ein solches„Hire und Fire“ werden wir nicht dulden.
Es darf auch nicht passieren, dass ein Langzeitarbeits-loser immer nur für sechs Monate einen Job erhält. Auchdagegen kann man eine Regelung einbauen, sodass daszum Beispiel nur einmal innerhalb mehrerer Jahre mög-lich ist. Bei der Evaluation werden wir dann sehen, wiesich das auswirkt. Uns geht es um echte Teilhabeange-bote für Langzeitarbeitslose. Deshalb ist es gut, dass wirdie Gelder für Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeitbzw. zur Vermittlung in Arbeit nach vielen Jahren desSparens jetzt endlich wieder deutlich aufstocken.350 Millionen Euro pro Jahr, also insgesamt 1,4 Milliar-den Euro in dieser Wahlperiode: Das ist eine richtige Sa-che.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Wir werdenden flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Ostund West für alle Branchen und ohne jede Ausnahmeeinführen. Damit stärken wir auch die Tarifautonomie.Nach vielen Diskussionen mit Gewerkschaften undArbeitgebern beginnen heute die Beratungen im Bundes-
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tag, und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es noch vorder Sommerpause schaffen werden, den gesetzlichenMindestlohn, beginnend mit 8,50 Euro, einzuführen. Wirsind stolz darauf, dass wir das in dieser Regierungskoali-tion schaffen und damit vielen Menschen wirklich hel-fen.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Wilfried Oellers für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir beraten heute in der ersten Lesung den Entwurfdes Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Das verfassungs-rechtlich verankerte hohe Gut der Tarifautonomie hat inder Vergangenheit dazu geführt, dass die Tarifvertrags-parteien in allen Bereichen stets erfolgreich gemeinsameRegelungen und Lösungen erarbeitet haben. Dies warzum Teil mit harten Verhandlungen verbunden, die zuKompromissen führten, in denen die Interessen beiderTarifvertragsparteien akzeptabel berücksichtigt wordensind – und das auch in schwierigen Zeiten.
Daher ist es nur konsequent, dass die Tarifautonomiedurch das hier vorliegende Tarifpaket weiter gestärktwerden soll.Bei der näheren Betrachtung des Gesetzentwurfs giltes jedoch, einige Aspekte nochmals zu bedenken. Ichkomme zunächst zur Öffnung des Arbeitnehmer-End-sendegesetzes für alle Branchen: Diese ist grundsätzlichzu begrüßen, da sie die Tarifautonomie stärkt. Ich bittejedoch, auf die Bestimmungen zur Definition der einzel-nen Branchen ein gewisses Augenmerk zu legen, umklare Trennungen zu regeln, damit es hier zu keinenÜberschneidungen kommt. Zur Klarstellung sollte hierinsbesondere auch eine gesetzliche Regelung erfolgen.Zur Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitser-klärungen von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsge-setz sei Folgendes erwähnt: Die Allgemeinverbindlich-keitserklärung nach dem Tarifvertragsgesetz ist einbewährtes Instrument, mit dem einheitliche Standardsbranchenbezogen geregelt werden können. Allerdingsstellt das Erreichen der erforderlichen starren Quote inHöhe von 50 Prozent der in den Geltungsbereich des Ta-rifvertrags fallenden Arbeitnehmer zunehmend ein Pro-blem dar, wenn es darum geht, auf der Arbeitgeberseitedie Voraussetzungen zu erfüllen.Diese starre Grenze wird nun aufgehoben. Durch dennunmehr erforderlichen gemeinsamen Antrag der Tarif-vertragsparteien und das damit verbundene gemeinsameHandeln wird die Tarifautonomie gestärkt. Das vomBundesministerium für Arbeit und Soziales zu prüfendeöffentliche Interesse sollte allerdings im besonderenMaße vorliegen, um zu verhindern, dass bereits eine re-lative überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrages zudessen Allgemeinverbindlichkeit führen kann.
Das besondere öffentliche Interesse sollte weiterhinals Korrektiv gegeben sein. Dies gilt auch für die AVEvon Tarifverträgen über eine gemeinsame Einrichtung.Diese sollten im Übrigen auch nicht in Konkurrenz zuanderen Tarifverträgen stehen, an die ein Arbeitgeberbereits gebunden ist, damit die Tarifautonomie an dieserStelle weiterhin gestärkt bleibt.
Zum Mindestlohngesetz sei Folgendes erwähnt: Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen einen aus-kömmlichen Lohn erhalten. Hierfür hat sich die Unionbereits in der Vergangenheit durch die Aufnahme von14 Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz einge-setzt und damit jeweils bundesweit einheitliche Mindest-löhne eingerichtet, zuletzt für die Fleischindustrie. Damitkonnten die Tarifpartnerschaft gestärkt und branchenbe-zogene Besonderheiten berücksichtigt werden. Letzte-res war insbesondere deswegen wichtig, um dem Um-stand Rechnung zu tragen, dass ein Lohn erwirtschaftetwerden muss.In einigen Bereichen besteht noch ein Lohnniveauvon unter 8,50 Euro. Um in diesen die Lohnhöhe von8,50 Euro zahlen zu können, ist es erforderlich, gewisseÜbergangszeiten einzuräumen, damit sich das Marktni-veau und damit das Erwirtschaften von Löhnen derLohnsteigerung anpassen können. Eine Möglichkeit ist,alle bestehenden Tarifverträge für eine Übergangszeitweiter gelten zu lassen. Für den stark betroffenen Be-reich der Saisonarbeit sollte ebenfalls eine Übergangsre-gelung geschaffen werden.
Darüber hinaus sollte auch berücksichtigt werden,dass die Lohngestaltung in Deutschland sehr vielschich-tig ist: Bei den Zeitungszustellern wird ein Stücklohn ge-zahlt. Beim Taxigewerbe liegt die Besonderheit vor, dassEinnahmen bzw. Preise durch die Kommunen festgelegtwerden. Hier sollten Lösungen gefunden werden.Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens sindnoch weitere Bestandteile des Mindestlohngesetzes zuüberdenken. Gewollt ist, einen Mindestlohn in Höhe von8,50 Euro einzuführen. Hierzu steht die Union. Nichtvereinbart ist allerdings, dass mit dem Mindestlohnge-setz weitere allgemein geltende Regelungen hinsichtlichder Handhabung von Überstunden oder Dokumenta-tionspflichten eingeführt werden sollen. Dies führt zumehr Bürokratie, was gerade nicht beabsichtigt ist.Beide Themenbereiche sollten genauso wie die The-matik der Verwirkung wie bisher im Regelungsbereichder Tarifvertragsparteien liegen. Ebenso wenig ist dasMindestlohngesetz dafür da, strengere Haftungsregelun-gen einzuführen. Die Unternehmerhaftung ist derart
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Wilfried Oellers
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weitgehend angelegt, dass sie eine Haftungskette ermög-licht, die unverhältnismäßig ist.
Begrüßenswert ist, dass der gemeinsame Wunsch be-steht, eine Altersgrenze für die Inanspruchnahme desMindestlohns einzuführen, damit kein Anreiz geschaffenwird, nach dem Schulabschluss eher ohne Ausbildungein Arbeitsverhältnis mit einem Stundenlohn von8,50 Euro einzugehen als eine Ausbildung zu absolvie-ren, in der man zunächst weniger verdient. Ob eine Al-tersgrenze von 18 Jahren an dieser Stelle allerdings rich-tig gewählt ist, muss infrage gestellt werden, wenn manberücksichtigt, dass die meisten Schulabsolventen ihreAusbildung im Alter von über 18 Jahren beginnen. EineAnpassung erscheint mir hier geboten zu sein, um daserfolgreiche duale Ausbildungssystem in Deutschland zustärken.Zur Arbeit der Mindestlohnkommission ist zu erwäh-nen, dass diese hinsichtlich der Entwicklung des Min-destlohns keine starre gesetzliche Vorgabe erhaltensollte. Eine Orientierung an dem Tariflohnindex ermög-licht keine uneingeschränkte Gesamtbetrachtung allerzur Neuberechnung des gesetzlichen Mindestlohns he-ranzuziehenden Umstände.Nach einer ersten Festlegung des Mindestlohns durchden Gesetzgeber soll es im Weiteren die gemeinsameAufgabe der Tarifvertragsparteien sein, den Mindestlohnweiterzuentwickeln, und zwar unter Berücksichtigungeiner wirtschaftlichen und sozialen Gesamtbetrachtung.Da der gesetzliche Mindestlohn eine Neugestaltung desbisherigen Lohnsystems darstellt, sollte eine Evaluie-rung möglichst zeitnah nach Inkrafttreten erfolgen.Auch wenn noch über Einzelheiten gesprochen werdenmuss, so sind wir uns einig, dass die Tarifautonomie ge-stärkt werden muss und der Mindestlohn in Höhe von8,50 Euro kommt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Für mich ist heute wirklich ein ganz besonde-rer Tag: Wir beraten heute einen guten und für mich undviele hier im Raum extrem wichtigen Gesetzentwurf.Das Gesetz wird das Leben von Millionen Menschen indiesem Land ganz konkret verbessern. Wir reden vonLeistungsträgern, die mit ihrer Hände Arbeit mit dazubeitragen, dass unser Land so gut dasteht. Dieser Arbeitgeben wir mit dem Gesetzentwurf die Würde zurück, diesie verdient.
Wir reden über einen konsistenten und guten Gesetz-entwurf – ich würde fast sagen: über einen schönen Ge-setzentwurf –, der komplett ohne Branchenausnahmenauskommt und stattdessen – großes Kompliment an dieMinisterin und ihr Haus! – Branchengespräche anbietet,um real existierende Herausforderungen, die es in man-chen Branchen in der Tat gibt, außergesetzlich zu lösen.Den Unternehmern, die jetzt noch zweifeln, kann ich zu-rufen: Ihre Sorgen werden in Berlin von Andrea Nahlesernst genommen und in diesen Branchengesprächen an-gegangen. Ich finde, das ist exakt der richtige Weg, da-mit umzugehen.
Wir als Parlament setzen den konkreten Willen derMenschen in diesem Land um. 86 Prozent – das ist derüberwiegende Teil der Menschen in Deutschland – wol-len den gesetzlichen Mindestlohn, übrigens auch 82 Pro-zent der Unionsanhänger. Kluge Leute!
Nach einer Forsa-Umfrage wollen ihn sogar 57 Prozentder befragten deutschen Manager. Er scheint auch öko-nomisch sehr viel Sinn zu machen.Es ist kein neues Thema, Herr Ernst. Damit haben Sievöllig recht. Gerade für die ostdeutsche Sozialdemokra-tie – das kann ich als einzige Ostdeutsche in der Debattefeststellen – ist heute ein ganz besonderer Tag. Ostdeut-sche Sozialdemokraten wie Thomas Jurk oder ChristophMatschie haben bereits im August 2004 die Einführungvon Mindestlöhnen gefordert, um Niedriglöhne, die esschon damals in Ostdeutschland massiv gab, einzudäm-men und den Menschen ihre Würde zurückzugeben.
Gerade die geringe Tarifbindung hat dafür gesorgt,dass schon damals viele Menschen nicht von ihrerHände Arbeit leben konnten. Ein Mindestlohn ist keineelegante Lösung. Aber aufgrund der massiven Betroffen-heit ist er die einzig mögliche Maßnahme, die wir treffenkönnen. Wir als Sozialdemokraten haben die Forderungschon sehr früh aufgenommen, und nach langem Kampfund vielen Diskussionen können wir heute sagen: Dereinheitliche gesetzliche Mindestlohn kommt.
Der Mindestlohn ist wichtig für das gesamte Land,aber ganz besonders für den Osten der Republik. In Ost-deutschland haben 2012 fast 2 Millionen Menschen we-niger als 8,50 Euro pro Stunde verdient. Das sind fast30 Prozent der Beschäftigten. Gerade die extrem niedri-gen Stundenlöhne sind in Ostdeutschland besonders ver-breitet. 11,1 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten ha-
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Daniela Kolbe
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ben 2012 weniger als 6 Euro brutto pro Stunde verdient.Gerade diese Menschen brauchen den Mindestlohn drin-gend, und er kommt.
Den Rest meiner Redezeit – sie ist für dieses Themaeindeutig zu kurz –
möchte ich der Frage der Altersgrenze beim Mindest-lohn widmen. Ich war immer ein bisschen verwundertdarüber, wie über junge Leute geredet wurde, die angeb-lich keine Ausbildung antreten, wenn es einen gesetzli-chen Mindestlohn gibt. Ich habe deshalb an die Berufs-schulen in meinem Wahlkreis in Leipzig geschriebenund die jungen Leute gebeten, mir zu schreiben, ob sieeine Ausbildung begonnen hätten, wenn es bereits einenMindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gegeben hätte,oder ob sie dann lieber gejobbt hätten. Der übergroßeTeil der Menschen hat geantwortet, natürlich hätten sieeine Ausbildung gemacht.Die jungen Menschen sollen das letzte Wort in derRede haben. Vielleicht ändert das ein bisschen das Bild,das wir von der Jugend haben. Ich habe einen ganzenStapel Zitate mitgebracht.
Nein, das geht leider nicht, weil wir in unserer De-
batte keine Mindestredezeiten, sondern Höchstredezei-
ten haben.
Aber Sie wollen als Präsident des Bundestages sicher-
lich auch die jungen Menschen zu Wort kommen lassen.
Zum Beispiel hat jemand geschrieben: „800 Euro
netto ohne Ausbildung mein Leben lang? – Nein danke.“
Jemand anders schreibt: „Ich übe meinen Job leiden-
schaftlich aus, habe mich bewusst für ebendiese Ausbil-
dung entschieden.“ Oder: „Man braucht eine Ausbil-
dung, um im Leben etwas erreichen zu können.“ Und
schließlich: „Ausbildung ist Pflicht. Ohne geht es nicht.“ –
In diesem Sinne!
Das ist doch ein schöner Schluss.
Albert Stegemann erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Heute beraten wir in erster Lesung über den Ent-wurf eines Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Hierbeigeht es nicht nur um den viel diskutierten Mindestlohn.Das Gesetz zielt vielmehr auf die Zukunft der Tarifland-schaft in unserem Land. So wollen wir unter anderemdas Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen Branchen zu-gänglich machen und die Hürden senken, um einen Ta-rifvertrag allgemeinverbindlich erklären zu können.Schaut man sich die geplanten Maßnahmen an, dannstellt man fest, dass der Titel des Gesetzentwurfs teil-weise für Verwirrung sorgt. Inwieweit Eingriffe seitensdes Staates die Autonomie der Tarifvertragsparteien stär-ken sollen, erscheint auf Anhieb nicht jedem logisch.Um allerdings die tarifstärkende Wirkung verstehen zukönnen, sollte getreu dem Motto „Zukunft braucht Her-kunft“ erst der Blick auf unsere arbeitsmarktpolitischeVergangenheit gehen, bevor man den Blick in die Zu-kunft richtet.Das Tarifvertragsgesetz gehört zu den Gründungsdo-kumenten der Bundesrepublik. Im Grundgesetz steht ge-schrieben, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Tarif-verträge eigenständig aushandeln können. Der Staat hältsich dabei heraus. Diese gelebte Sozialpartnerschaft hatsich jahrzehntelang bewährt. Sie war quasi der Motordes Wirtschaftswunders und hat damit einen wesentli-chen Beitrag zu unserem heutigen Wohlstand geleistet.Die klar geregelte Ordnung des Arbeitslebens durch Ta-rifverträge ist jedoch in jüngerer Vergangenheit zurück-gedrängt worden. Machen wir uns nichts vor: Fast jederzweite Beschäftigte wird bald ohne Tarifvertrag arbei-ten, sollte sich diese Entwicklung fortsetzen.Dafür sind verschiedene Einflüsse verantwortlich.Zum einen hat sich unser Industriestaat zu einer Indus-trie- und Dienstleistungsgesellschaft weiterentwickelt.Form und Organisation von Arbeit haben sich grundle-gend verändert. Darüber hinaus steht unser Land in einemglobalen Wettbewerb. Deutschland ist wirtschaftlich invielen Bereichen Vorreiter. Damit unsere Wirtschaftwettbewerbsfähig bleiben konnte, waren politische Wei-chenstellungen nötig. Diese sind jedoch nicht ohne Fol-gen für die Tariflandschaft geblieben. Letztlich habenauch die Tarifvertragsparteien selbst zu dieser Entwick-lung beigetragen. Während Gewerkschaften seit JahrenMitglieder verlieren, scheiden Arbeitgeber aus der Tarif-bindung aus. Damit verlieren die Tarifvertragsparteienauch ihre Grundlage, um für alle Beschäftigten sprechenzu können. Für Politik und Gesellschaft bleibt die Er-kenntnis: Das System der Tarifverträge ist löchriger ge-worden. Damit steigt die Gefahr, dass der einzelne Ar-beitnehmer durch das Raster fällt.Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Heraus-forderung auf. Politik kann zwar viel bewirken, jedochkeine Tarifstrukturen stellen. Daher liegt es nahe, die be-stehenden Strukturen zu stützen und zu stärken. Wirwollen tariffreie Zonen schließen und das bestehendeSystem ergänzen. Mit der geplanten Allgemeinverbind-licherklärung und der Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes greifen wir lediglich dort ein, wo dieSozialpartner aus eigener Kraft nicht mehr zu angemes-senen Lösungen kommen können. Aber für die Union istauch klar: Wir sind klug beraten, in den kommendenWochen Details genau zu prüfen. Wir dürfen hier in den
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Albert Stegemann
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zwei genannten Elementen nicht über das Ziel hinaus-schießen.
Kommen wir nun zum medial viel beachteten Min-destlohngesetz. Der zentrale Anspruch der Union war esimmer, dass jeder von seiner Hände Werk leben kann.
Indem wir einen Mindestlohn einführen, schützen wirArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft vorAusbeutung. Zugleich war immer eine zentrale Forde-rung der Union: Eine verbindliche Lohnuntergrenze istnur in Absprache mit den Tarifvertragsparteien machbar. –Dazu stehen wir noch immer. Der Bundestag soll dieEinführung beschließen. Die weitere Ausgestaltung le-gen wir in die Hände der Tarifvertragsparteien. Dasheißt, die geplante Tarifkommission setzt damit künftigden Mindestlohn fest, und keine Politiker im Bundestag.Das ist Aufgabe der Tarifvertragsparteien.
Der Mindestlohn muss aber auch mit den wirtschaftli-chen Realitäten vereinbar sein. Wir verschließen unsereAugen nicht vor möglichen Nebenwirkungen.
Herr Kollege Stegemann, darf Ihnen der Kollege
Ernst eine Zwischenfrage stellen?
Ich würde das lieber nach meiner Rede in einem bila-
teralen Gespräch klären.
Gut.
Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
sondern auch deren Arbeitsplätze müssen geschützt wer-
den.
Ich bin mir sicher, dass die im Regierungsentwurf
aufgeführte Generalunternehmerhaftung, die jährliche
Abrechnung der Arbeitszeitkonten, die Ausschlussfris-
ten oder Dokumentationspflichten, um nur einige offene
Diskussionspunkte zu nennen, dem Ziel einer tariflichen
Ausgewogenheit entgegenstehen. Für alle diese Punkte,
die im Regierungsentwurf Erwähnung finden, gibt es
keine Grundlage im Koalitionsvertrag.
Weiterhin sind aber auch Dinge entscheidend, die
sehr wohl im Koalitionsvertrag stehen, jedoch offen-
sichtlich im Regierungsentwurf vergessen wurden. So
finden zum Beispiel die explizit im Koalitionsvertrag er-
wähnten Saisonarbeiter im Regierungsentwurf noch
keine Berücksichtigung. Hier muss an Lösungen gear-
beitet werden, die auf die besonderen Lebensrealitäten
und den außergewöhnlichen Arbeitsalltag der Saisonar-
beit in geeigneter Weise eingehen. Ansonsten gibt es in
diesem Bereich nur Verlierer, sowohl aufseiten der Ar-
beitgeber als auch aufseiten der Arbeitnehmer und
schließlich auch aufseiten der Verbraucher.
Dabei haben wir im letzten Herbst so viel Herzblut in
die Ausarbeitung eines sehr guten Koalitionsvertrages
gesteckt. Liebe Freunde von der SPD, wer seine Partei in
einer Mitgliederbefragung über ebendiesen Koalitions-
vertrag abstimmen lässt, sollte dann auch im Sinne sei-
ner Mitglieder einmal nachschauen, was dort vereinbart
wurde.
Ich jedenfalls werde gerne meinen Beitrag dazu leis-
ten, dass es im parlamentarischen Verfahren zu einer
weiteren Annäherung des Regierungsentwurfs an den
Koalitionsvertrag kommt. Daneben bedarf es noch
Nachbesserungen für die Situation der Praktikanten und
bei der Altersgrenze mit 18 Jahren. In beiden Fällen ist
es unstrittig, dass es hier eine Lösung geben muss. Nach
dem derzeitigen Stand verfehlen die Regelungen aber ihr
Ziel.
Wir alle wissen, dass wir den Gesetzentwurf in der
ersten Juliwoche in einer anderen Form verabschieden
werden, als er heute vorliegt. Eines ist für uns als Koali-
tionsfraktionen aber klar: Wir wollen eine Tarifland-
schaft, die drohende soziale Verwerfungen auf dem Ar-
beitsmarkt genauso im Auge behält wie die Bedürfnisse
einer im globalen Wettbewerb stehenden Wirtschaft. So
war es auch in der Vergangenheit. Ich hoffe, dass wir
heute den Grundstein legen, dass dieser Grundsatz auch
in Zukunft gilt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ge-setzentwurf, über den wir heute verhandeln, ist, wie wirschon mehrmals gehört haben, eine Herzensangelegen-heit für viele Bürger und Bürgerinnen in diesem Land.Von den drei Bestandteilen, die darin enthalten sind, istdas Mindestlohngesetz derjenige mit der größten Signal-wirkung. Laut BMAS befürworten rund 80 Prozent derBundesbürger einen flächendeckenden gesetzlichenMindestlohn. Zwei Drittel der Deutschen haben uns alsGroße Koalition auch deswegen gewählt, weil wir ver-sprochen haben, für einen tariflichen Mindestlohn zusorgen.
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Antje Lezius
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Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir jetzt noch imDetail beraten, löst damit nun ein weiteres Versprechender Koalition ein. Er basiert vor allem auf dem Grundge-danken, dass jeder von seiner Arbeit leben können muss.Wenn wir uns fragen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, wie Arbeit in Zukunft beschaffen sein soll, so gibtes zahlreiche Anforderungen und Wünsche, die so ver-schieden sind wie die Menschen selbst. Allerdings müs-sen wir uns Gedanken darüber machen, welche Auswir-kungen der demografische Wandel auf unsereGesellschaft und unseren Arbeitsmarkt haben wird.Es wird in Zukunft weniger jüngere und mehr ältereMenschen geben; darauf müssen wir uns einstellen. Wirvon der Union setzen dabei sowohl auf die Eigenverant-wortung des Einzelnen als auch auf solidarische Unter-stützung. Wir wollen nicht nur die Qualität der Arbeitdurch moderne und gesunde Arbeitsplätze besser gestal-ten, wir wollen auch, dass die Menschen existenzsi-chernde Einkommen haben, von denen sie auch für dasAlter vorsorgen können, sei es durch eigene Beiträgeoder durch private Vorsorge. Bei der Lohnfestsetzung istdie Tarifautonomie seit Jahrzehnten ein bewährtes Er-folgsmodell der sozialen Marktwirtschaft, wovon wirauch heute schon mehrmals gehört haben.
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Wir sind stolzauf die Errungenschaften der Tarifvertragspartner. Die-ser Gesetzentwurf ist aber auch eine Antwort auf die seitJahren immer schwächer werdende Tarifbindung. Hiermüssen wir entgegenwirken. In Zeiten des Fachkräfte-mangels bedeutet die Stärkung der Tarifbindung auchdie Stärkung der Attraktivität des Standortes im Wettbe-werb mit den Regionen.Uns ist wichtig, dass die Tarifvertragspartner auchweiterhin die Verantwortung für die Lohngestaltung inunserem Land übernehmen. Die Politik hat nicht dieAufgabe, Löhne festzusetzen. Wir sind gegen eine staat-liche Bevormundung und für die bewährte Balancezwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen.Deswegen sehen wir die Tarifkommission in der Verant-wortung, wenn es darum geht, die Höhe des Mindest-lohns zu überprüfen und anzupassen. Die Sorge über dieAuswirkungen des Mindestlohns zeigt sich auch in denzahlreichen Schreiben diverser Institutionen von Wirt-schaftsverbänden bis hin zu Gewerkschaften, die wir alleseit einiger Zeit bekommen.Eines der wichtigsten Anliegen unserer Politik ist dieErhaltung der Arbeitsplätze für die Menschen in diesemLand. Insbesondere der Mittelstand mit 99,6 Prozent al-ler Unternehmen der Privatwirtschaft ist es, der Arbeits-plätze schafft und es Menschen ermöglicht, durchErwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Des-wegen sollten wir auch die Einwände der Arbeitgebernicht einfach ignorieren.
Die Höhe des Mindestlohns ist ein wichtiger Faktor.Hier müssen wir behutsam vorgehen. Die Kollegen vonder Linken sowie Verdi träumen hier öffentlich von ei-nem Mindestlohn von 10 Euro. Das wäre für den Ar-beitsmarkt in manchen Regionen jedoch ein Albtraum.Grundsätzlich gönnen auch wir den Menschen einenmöglichst hohen Stundenlohn. Das ist hier nicht dieFrage, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von derOpposition uns das jetzt nicht recht glauben. Auch wirsehen die Menschen, die für gute Arbeit zu wenig ver-dienen. Das Problem ist nur, dass dieses Einkommen zu-nächst von den Unternehmen erwirtschaftet werdenmuss. Wir finden es unehrlich, den Menschen etwas zuversprechen, was nicht eingehalten werden kann.Unternehmen können natürlich nur dann höhereLöhne zahlen, wenn sie sie erwirtschaften können. AmBeispiel einer Tankstelle wird dies deutlich: Pächter sindselbstständige Handelsvertreter und haben keinen Ein-fluss auf die Benzinpreisgestaltung. Sie können auch dieShopartikel nicht beliebig verteuern. Wenn sie den Preistrotzdem erhöhen, beobachten sie einen Effekt, den zumBeispiel auch die Friseure fürchten: Die Kunden bleibenaus. Bedauerlicherweise nämlich sind dieselben Kunden,die zu 80 Prozent den Mindestlohn befürworten, oftnicht bereit, den daraus resultierenden höheren Preisauch zu zahlen.Ich habe in meinem Wahlkreis zahlreiche Betriebe be-sucht, die mir dies bestätigt haben. Hier hat sich übrigensauch gezeigt, dass sich Arbeitgeber grundsätzlich imKlaren darüber sind, dass es ohne guten Lohn schwer ist,jemanden für offene Stellen zu gewinnen, gerade inländlichen Regionen. Auf der anderen Seite müssen sichLöhne aber auch an der Qualifikation messen lassen.Wir sehen auch die reale Gefahr, dass durch den Min-destlohn unproduktive Arbeitsplätze wegfallen. Darun-ter würden gerade diejenigen leiden, die von der Erhö-hung der Lohnuntergrenze eigentlich profitieren sollten.Diese Fehlentwicklungen wollen wir vermeiden, und wirwerden deswegen einige Beschäftigungsgruppen ganzbewusst aus dem Mindestlohn herausnehmen, wie zumBeispiel Auszubildende, Praktikanten und Jugendlicheunter einer bestimmten Altersgrenze ebenso wie Lang-zeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten.In Rheinland-Pfalz, wo sich mein Wahlkreis befindet,berichten die jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Ar-beit von 11 400 jungen Menschen unter 25 Jahre ohneArbeit und von 39 200 Langzeitarbeitslosen. Diese Zah-len sind mir deutlich zu hoch. Es ist vernünftig, wennwir hier einen Anreiz schaffen, um diese Menschen inArbeit zu bringen.Über die Frage der Lohnhöhe hinaus können wir abersagen: Wir sind kein Volk von Mindestlöhnern. Wir sindein Volk von fleißigen, kreativen und innovativen Ar-beitnehmern und Unternehmern, und wir haben mit star-kem Zusammenhalt die Krise gemeistert.Ich wünsche mir für die Zukunft, sehr geehrte Damenund Herren, den gleichen Zusammenhalt, indem die Be-völkerung, die sich in großer Mehrheit für einen Min-destlohn ausspricht, diesen am Ende auch mitträgt.Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Dass das Präsidium, Frau Kollegin Kolbe, Ihre Ein-
schätzung teilt, dass dieses Thema sicher noch eine län-
gere Beratungszeit verdient hätte, kommt schon darin
zum Ausdruck, dass wir jetzt nachweislich deutlich län-
ger debattiert haben, als wir zu Beginn dieser Debatte
gemeinsam beschlossen haben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/1558 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu alternative Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgeset-
zes
Drucksache 18/1312
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Sevim Dağdelen, Dr. André Hahn, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Aufhebung der Optionsregelung im Staatsan-
gehörigkeitsrecht
Drucksache 18/1092
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auch für diese Aussprache sollen nach einer inter-
fraktionellen Vereinbarung 96 Minuten vorgesehen wer-
den. – Das ist offenkundig allgemeine Auffassung. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für
die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Günter Krings.
D
Warten Sie erst einmal ab! – Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr KollegeSchuster! Ich will zu Beginn meiner Ausführungen nichtversäumen, den Herrn Bundesinnenminister zu entschul-digen. Er hätte die Rede zur Einbringung des Gesetzent-wurfs zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts gernselber gehalten. Durch die Teilnahme am Justiz-und-In-neres-Rat der Europäischen Union ist er allerdings heutein Luxemburg gebunden. Ich bitte dafür um Verständnis,will aber ergänzen: So gern der Minister die Rede selbergehalten hätte, so gern vertrete ich ihn heute hier.Meine Damen und Herren, Deutschland war langeZeit ein Land mit geringer Zuwanderung aus anderenStaaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch seingesamtes Leben in der Region, in der Stadt oder gar indem Dorf verbrachte, in dem er geboren wurde, war fürviele Generationen vor uns jedenfalls dann sehr groß,wenn sie nicht etwa Opfer von Krieg und Vertreibungwurden.Heute leben wir in einer Gesellschaft, die mobiler istdenn je. Die Menschen wechseln ihren Lebensmittel-punkt über regionale und nationale Grenzen hinweg: zurAusbildung, um eine Familie zu gründen, aus wirtschaft-licher Not oder der Karriere wegen. In Deutschlandwohnen über 15 Millionen Menschen mit Migrationshin-tergrund. Das entspricht fast einem Fünftel der deut-schen Wohnbevölkerung.Damit einher geht die Frage: Was ist Heimat? Und ichmeine hier „Heimat“ nicht in einem nostalgischen Be-deutungssinn. Das Wort „Heimat“ war bis zu seiner ro-mantischen Verklärung ein eher nüchterner, im Grundejuristischer Begriff zur Bezeichnung eines Aufenthalts-status, des Heimatrechts: Man hatte besondere Rechte– etwa das Recht auf Aufenthalt und Armenpflege – undPflichten in der Gemeinde, zu der man gehörte. Daraushat sich dann die Staatsangehörigkeit moderner Prägunghistorisch entwickelt.Beide Ansätze des Staatsangehörigkeitsrechts, das iussanguinis und das ius soli, hatten dasselbe Ziel: festzule-gen, wer zu einer Gemeinde, wer zu einem bestimmtenStaat gehört, wobei man annahm, dass er oder sie dortverwurzelt sei und in aller Regel einen dauerhaften Be-zugs- oder Lebensmittelpunkt haben würde. Da die indi-viduelle Mobilität geringer war als heute, liefen Abstam-mung und Geburtsort eben häufig auf dasselbe hinaus.Seither hat die grenzüberschreitende Mobilität dieVerhältnisse verkompliziert, nicht nur was die nostalgi-sche Seite des Begriffs „Heimat“ betrifft – wenn sich derEinzelne heute fragen mag, wo er eigentlich zu Hause ist –,sondern auch was seine einstmals juristische Bedeutungbetrifft: das Heimatrecht als eine besondere Rechtsstel-lung zu einem bestimmten Gemeinwesen. Die mitunterheftigen Diskussionen um die doppelte Staatsangehörig-keit spiegeln genau das wider.Die Lebensgewohnheiten haben sich in den vergange-nen Jahrzehnten rasant verändert, in Deutschland wieüberall. Dem trägt die Bundesregierung Rechnung, in-dem sie für die Optionspflicht im Staatsangehörigkeits-recht eine neue Regelung vorschlägt. Das haben wir soauch in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU,CSU und SPD beschlossen, und diesen Auftrag setzenwir mit dem Gesetzentwurf um.Der Entwurf findet einen Ausgleich zwischen den In-teressen junger Deutscher mit mehrfacher Staatsangehö-rigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite demstaatlichen Interesse, die Staatsangehörigkeit als eine be-
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Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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sondere Loyalitäts- und Verantwortungsbeziehung zwi-schen Gemeinwesen und Bürger zu erhalten.Der Gesetzentwurf geht von der Einführung der soge-nannten Ius-soli-Regel im deutschen Staatsangehörig-keitsrecht vor über einem Jahrzehnt aus: Hat ein Eltern-teil seit mindestens acht Jahren seinen gewöhnlichenAufenthalt in Deutschland, so erwirbt das in unseremLand geborene Kind die deutsche Staatsangehörigkeiteben unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Eltern.Nach bisheriger Rechtslage mussten sich diese Kin-der aber spätestens mit Vollendung des 23. Lebensjahreszwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und derStaatsangehörigkeit der Eltern entscheiden.
Die jungen Erwachsenen, die eine solche Entscheidungbisher treffen mussten, haben sich ganz überwiegend fürdie deutsche Staatsangehörigkeit entschieden. Ich haltedas für einen großen Vertrauensbeweis für unseren Staatund für die Bestätigung einer erfolgreichen Integrations-politik. Ich meine: Als Politiker, die wir für unser Ge-meinwesen Verantwortung tragen, können wir darauf stolzsein.
Dennoch dürfte diese Entscheidung nicht allen Be-troffenen leichtgefallen sein. Genau aus diesem Grundsieht unser Gesetzentwurf eine deutliche Einschränkungder sogenannten Optionspflicht vor: Wer in Deutschlandgeboren ist und hier auch aufwächst, braucht sich nichtmehr zwischen zwei Staatsangehörigkeiten zu entschei-den. Nur für den, der als Kind ausländischer Eltern inDeutschland geboren wird, dann aber nicht hier auf-wächst, gilt weiterhin die Optionspflicht. Nach der Neu-regelung muss der Optionshinweis bis zum 22. Lebens-jahr zugestellt werden. Ab Zustellung hat der Betroffenedann zwei Jahre Zeit, zu optieren. Das heißt, spätestensvor dem 24. Geburtstag muss er dann diese Entschei-dung treffen.Diese Lösung folgt einer plausiblen Abwägung: Die-jenigen, die hier zur Welt kommen und hier aufwachsen,bauen hier eine prägende Bindung auf. Sie sind bei unsverwurzelt. Deutschland ist ihre Heimat – im ursprüngli-chen Bedeutungssinn und hoffentlich auch dem Gefühlnach.
Wir gestehen ihnen aber die Mehrstaatigkeit als Teil ih-rer persönlichen Biografie zu. Wir wollen ihnen die Ent-scheidung zwischen ihren Staatsangehörigkeiten erspa-ren, und zwar nicht, um ihre Integration zu fördern,sondern weil wir gerade davon ausgehen, dass sie beiuns bereits gut integriert sind.Bei denjenigen, die durch Geburt die deutsche Staats-angehörigkeit erworben haben, die dann aber nicht hieraufgewachsen sind, überwiegt allerdings weiterhin dasInteresse, Mehrstaatigkeit zu vermeiden. Denn mehrfa-che Staatsangehörigkeit birgt auch Komplikationen undKonflikte. Diese wiegen im Regelfall schwerer als eingewisser, aber eben sehr überschaubarer Verwaltungs-aufwand, der mit der Feststellung verbunden ist, ob je-mand in Deutschland aufgewachsen ist oder nicht.
Diese Komplikationen haben wir sogar jüngst beiMehrstaatigkeit innerhalb der EU mit Blick auf die Wah-len zum Europäischen Parlament erlebt. Auch wenn dieUnionsbürgerschaft innerhalb der EU gleichsam dasDach für die 28 nationalen Staatsangehörigkeiten bildetund die Hinnahme der Mehrstaatigkeit innerhalb der Eu-ropäischen Union schon von daher nicht weiter begrün-dungsbedürftig ist, so entstehen selbst in dieser Konstel-lation wegen der Mehrstaatigkeit offenbar besondereProbleme, die wir in diesem konkreten Fall – vorzugs-weise durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht –einer Lösung zuführen können.
Das ist aber nur ein Beispiel dafür, dass Mehrstaatig-keit rechtlich mit einem Verlust an Eindeutigkeit ein-hergeht. Deswegen ist es richtig, Mehrstaatigkeit imRegelfall zu vermeiden, wo es keine echte inhaltlicheRechtfertigung dafür gibt. Und deswegen dürfen wir ge-rade von denen, die nicht schon mit ihrer Biografie be-weisen, dass sie ein plausibles Interesse daran haben, diedeutsche Staatsangehörigkeit auf Dauer zu erhalten, er-warten, dass sie dieses Interesse dokumentieren, indemsie die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern dann aufgeben.Mit meinem Verständnis von Staatsangehörigkeitwäre es nicht vereinbar, wenn wir auf die Optionspflichtauch bei den Ius-soli-Deutschen verzichten würden, dieseit ihrer Geburt kaum etwas mit Deutschland zu tun hat-ten, hier vielleicht nur wenige Jahre oder Monate gelebthaben. Wer bis zu seinem 21. Geburtstag keine signifi-kante Beziehung zu Deutschland aufgebaut hat, kannnicht verlangen, lebenslang zwei Staatsangehörigkeitenzu behalten.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Volker Beck?
D
Ich freue mich immer über die Verlängerung meiner
Redezeit und ganz besonders, wenn das durch Herrn
Volker Beck geschieht.
Verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade davongesprochen, dass man sich zwischen den beiden Staats-angehörigkeiten entscheiden soll, wenn keine intensi-vere Beziehung zu Deutschland besteht. Haben Sie dabeibedacht, dass die deutsche Staatsangehörigkeit auch zur
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Volker Beck
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EU-Freizügigkeit berechtigt und dass es sein kann, dassjemand seine EU-Bürgerschaft und damit auch sein Auf-enthaltsrecht innerhalb der EU aus dem deutschen Passableitet? Ihre Regelung hätte zur Folge, dass jemand, dersich mit seinen Eltern in Griechenland, in Frankreich, inPortugal aufgehalten hat und deshalb nicht die Zeiten er-reicht, die in Ihrem Gesetz stehen, den deutschen Passverlieren würde. In einigen Mitgliedstaaten würde sichdann unter Umständen die Frage stellen, ob er als Dritt-staatler überhaupt innerhalb der Europäischen Unionnoch aufenthaltsberechtigt ist. Halten Sie diese Konse-quenz nicht auch wie ich für unverhältnismäßig?D
Selbstverständlich haben wir diese europarechtlichen
Implikationen geprüft. Aus gutem Grund ist das Staats-
bürgerschaftsrecht primär nationales Recht. Dabei soll es
bleiben. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, dies zu einem
rein europäischen Recht zu machen. Das ist der erste
Teil meiner Antwort auf Ihre Frage.
Zweitens. Natürlich hat es derjenige in der Hand,
diese Konsequenz auszuschließen, indem er sich für die
deutsche Staatsbürgerschaft entscheidet. Er muss diese
Konsequenz also gar nicht tragen. Nur wenige Hundert
haben sich anders entschieden. Das habe ich eben ausge-
führt.
Drittens. Ich komme gleich noch dazu, was das Krite-
rium „aufgewachsen“ heißt und welche Bedingungen es
dafür gibt, zwei Staatsbürgerschaften zu erhalten. Wir
haben beispielsweise auch eine Härtefallklausel vorgese-
hen.
Es gibt also drei Antworten auf Ihre Frage. Jede für
sich wäre eine überzeugende Antwort. Wir haben das
Problem somit dreifach gelöst, lieber Herr Kollege.
Man kann – hier sind wir beim Thema der konkreten
Ausgestaltung – darüber streiten, was die Formulierung
in unserem Koalitionsvertrag „in Deutschland … aufge-
wachsen“ konkret heißt. Darüber haben wir in den letz-
ten Monaten diskutiert. Der Gesetzentwurf zieht aus
meiner Sicht eine sehr überzeugende Linie. In Deutsch-
land aufgewachsen ist danach jeder, der hier eine Schul-
oder Berufsausbildung abgeschlossen hat. Wer hier kei-
nen Abschluss gemacht hat, der muss bis zu seinem
21. Geburtstag über acht Jahre hier gelebt haben oder
sechs Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Das
sind einfache Regeln. Gerade der Nachweis des Schul-
abschlusses wird in den meisten Fällen die einfachste
Möglichkeit sein. Selbst derjenige, der sein Zeugnis ver-
loren hat, wird noch wissen, wo seine Schule war, und
sich ein neues besorgen können. Wer hierin Bürokratie
sieht, hat die Regelung nicht richtig verstanden. Damit
sind in Zukunft voraussichtlich über 90 Prozent der Ius-
soli-Deutschen von der Optionspflicht befreit.
Die neue Regelung lässt sich in der Praxis einfach
umsetzen. Diese Voraussetzungen sind in aller Regel
einfach nachweisbar. Oft genügen der Blick ins Melde-
register oder die Vorlage eines Schul- oder Berufsschul-
abschlusszeugnisses. Ein einfacher Weg, sich in diesen
Fällen die doppelte Staatsangehörigkeit dauerhaft zu er-
halten.
Meine Damen und Herren, die Staatsangehörigkeit ist
– da sind wir uns hoffentlich in weiten Teilen des Hauses
einig – mehr als ein nützliches Papier in Form eines Pas-
ses, das mir die Einreise erleichtert oder ein Aufenthalts-
recht garantiert. Sie ist ein besonderes Verhältnis zwi-
schen Staat und Bürger, geprägt durch Verantwortung
und Loyalität. Dem muss jede Neuregelung der Options-
pflicht Rechnung tragen. Wer meint, man könne Mehr-
staatigkeit generell und voraussetzungslos hinnehmen,
ignoriert das Wesen und die Bedeutung der Staatsange-
hörigkeit. Und wer darauf setzt, dass notfalls solche Ver-
änderungen in dem eben dargestellten Sinn auch mit
knappen politischen Mehrheiten durchzusetzen wären,
versündigt sich an einem Kerngedanken der Demokratie.
Das Staatsangehörigkeitsrecht ist aufgrund seiner be-
sonderen Bedeutung für unser Gemeinwesen auf einen
breiten Konsens angewiesen. Über die Staatsangehörig-
keit definiert unsere Verfassung, wer zum Staatsvolk ge-
hört, wer der Souverän ist. Neben anderen Rechtswir-
kungen vermittelt die Staatsangehörigkeit das Recht,
über unser Gemeinwesen mitzubestimmen. Aus diesem
Grunde ist es nicht klug, zu versuchen, parteipolitische
Maximalpositionen durchzusetzen. Keine Parlaments-
mehrheit sollte je in den Verdacht geraten, das Volk, das
sie demokratisch trägt, auf streitigem Wege neu zusam-
menzustellen.
Mit der Neuregelung der Optionspflicht haben wir
eine gute Chance zu einem breiten Konsens. Wenn wir
diesen Konsens auch gemeinsam aktiv vertreten, ist er
eine klare Botschaft an die jungen Menschen, deren El-
tern oder Großeltern einst nach Deutschland kamen, dass
sie voll und ganz zu Deutschland gehören.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächste Rednerin
ist Sevim Dağdelen von der Linken.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle-gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nichtdrin ist.
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Sevim Dağdelen
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Dies erklärte der Vorsitzende der SPD und jetzige Vize-kanzler Sigmar Gabriel auf dem SPD-Parteitag – nachden Bundestagswahlen, vor dem Koalitionsvertrag – am2. November 2013.Im Vorfeld, im Bundestagswahlkampf, ging es vor al-len Dingen auch darum, Wählerinnen- und Wählerstim-men unter Migrantinnen und Migranten zu bekommen.So suchte man die Nähe zu Migrantenselbstorganisatio-nen und warb um die Unterstützung bei der Wahl. Daskonkrete Versprechen lautete: Man wird sich für dieRechte der Migrantinnen und Migranten, besonders dieder Türkinnen und Türken, einsetzen. Was steht jetzt imKoalitionsvertrag? Darin steht nichts von doppelterStaatsangehörigkeit und nichts von der Abschaffung derOptionspflicht. Darin steht:Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,soll seinen deutschen Pass nicht verlieren und kei-ner Optionspflicht unterliegen.Wie befürchtet – von unserer Seite, aber auch vonvielen Migrantinnen und Migranten –, entpuppte sichder Kompromiss im Koalitionsvertrag von CDU, CSUund SPD als faul; denn was die Formulierung „in Deutsch-land geboren und aufgewachsen“ bedeutet, machte im Fe-bruar dieses Jahres Bundesinnenminister Thomas deMaizière deutlich: Entfallen solle die Optionspflicht beidenjenigen, die bis zu ihrem 23. Lebensjahr zwölf Jahrehier gelebt haben, davon mindestens vier Jahre zwischenihrem 10. und 16. Lebensjahr. Nachgewiesen werdenkönne dies anhand von Meldebescheinigungen, alterna-tiv reiche auch ein deutscher Schulabschluss.Bereits seit Jahren wird der bürokratische Aufwand– man nennt es auch Bürokratiemonster – bei den Op-tionspflichtigen in den Einbürgerungsbehörden kritisiert.Gerade dieser enorme Bürokratieaufwand hat drei vonder SPD mitregierte Länder eine Initiative in den Bun-desrat einbringen lassen, mit der die generelle Abschaf-fung der Optionspflicht gefordert wird.
Ich sage an dieser Stelle: Wir als Linke loben diese Bun-desratsinitiative ausdrücklich.
Aber leider, leider wurde die mutige Tat dieser dreiBundesländer sofort von der SPD-Generalsekretärin, dieden Unionsparteien Treue schwor, einkassiert. Noch imApril, also vor zwei Monaten, hatten viele Organisatio-nen und Verbände den SPD-Vorsitzenden SigmarGabriel in einem offenen Brief aufgefordert, gegenüberden Unionsparteien an der vollständigen Abschaffungder Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsrecht festzu-halten und Wort zu halten. Doch auch dieser Appellblieb leider ohne Erfolg. So ist der vorliegende Gesetz-entwurf kümmerlich geblieben; denn herausgekommenist ein kleingeistiger, engstirniger, ja ein fauler Kompro-miss zwischen den Koalitionsfraktionen.
In Deutschland aufgewachsen und von der Options-pflicht befreit ist nach dem vorliegenden Gesetzentwurf,wer bei Vollendung seines 21. Lebensjahres mindestensacht Jahre in Deutschland lebt, sechs Jahre lang eineSchule in Deutschland besucht hat, einen deutschenSchulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbil-dung hat. Falls kein Antrag der betroffenen Person vor-liegt, prüft die Behörde nach dem 21. Geburtstag die Vo-raussetzungen von Amts wegen.Die Mehrheit wird in Zukunft überhaupt nicht mehrin Kontakt zu den Behörden treten müssen,so heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf. Über 90 Pro-zent der Betroffenen werden die Nachweise über dasAufwachsen in Deutschland erbringen können. EinenWohnsitz im Ausland haben derzeit laut Melderegisterlediglich 3 Prozent, so das Bundesinnenministerium.Angesichts der wirklich kleinen Zahl von überwiegendim Ausland aufgewachsenen Kindern ist es unserer Mei-nung nach nicht zu rechtfertigen, diesen Riesenaufwandmit Zehntausenden Optionsverfahren pro Jahrgang wei-ter zu betreiben.
Es ist wirklich absurd und nur mit ideologischer Bor-niertheit zu erklären, dass an diesen Zehntausenden Op-tionsverfahren pro Jahr festgehalten werden soll – ab2018 etwa 40 000 im Jahr –, nur damit am Ende einigenwenigen Menschen der Doppelpass vorenthalten werdenkann.
So bleibt es bei diesem Wahnsinn der Optionspflichtin Deutschland, einer weltweit wirklich einmaligen Re-gelung. Die völlig gleichberechtigte Zugehörigkeit, alsodie deutsche Staatsbürgerschaft, hier geborener Kinderwird in einer oft ohnehin schwierigen Lebensphase – dasmüsste hier eigentlich jeder wissen – infrage gestellt.Künftig wird es – so das Gesetz – Deutsche nach Ab-satz 1 des § 29 Staatsangehörigkeitsgesetz geben, dasbedeutet nichts anderes als Deutsche zweiter Klasse.Meine Damen und Herren, insbesondere türkischeMigrantinnen und Migranten fühlen sich erneut vor denKopf gestoßen; denn Kinder mit einer deutsch-EU- oderdeutsch-schweizerischen Doppelstaatsangehörigkeit sol-len künftig generell nicht mehr optieren müssen. Mansieht: Was für sehr viele gilt, gilt nicht für türkischeMigrantinnen und Migranten. Sie müssen nachweisen,dass sie wirkliche, tatsächliche Deutsche sind, wenn sieihren Doppelpass behalten wollen. Dieser diskriminie-rende Effekt ist etwas, was wir abschaffen wollen.
Diese Diskriminierungen müssen aus Sicht der Lin-ken ein Ende haben. Deshalb fordern wir Sie auf: ÖffnenSie die Fenster, schaffen Sie endlich die Optionspflichtbedingungslos ab, und akzeptieren Sie auch endlich et-was, was mittlerweile zum Normalzustand in der Euro-päischen Union gehört, nämlich die doppelte Staatsbür-gerschaft!
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3340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Sevim Dağdelen
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Wir als Linke wollen es Ihnen wirklich leichtmachen.Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der imWortlaut eins zu eins der von mir angesprochenen Bun-desratsinitiative der drei SPD-mitregierten Bundesländerentspricht. Glauben Sie mir wirklich: Es geht nicht da-rum, Sie in irgendeiner Art und Weise im Bundestag vor-zuführen. Es geht lediglich darum, dass diese Initiativeendlich diese Diskriminierungen beseitigt. Es gibt eineMehrheit im Deutschen Bundestag und auch im Bundes-rat für die bedingungslose Abschaffung dieser wirklichunsäglichen Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsamdiesen Schritt gehen, und lassen Sie uns sagen: Diesewahnsinnige, weltweit einmalige Regelung gibt es inDeutschland nicht mehr, wir sind für ein fortschrittlichesStaatsbürgerschaftsrecht, wir sind für die Abschaffungder Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam diesesZeichen setzen für Integration,
gegen Diskriminierungen und gegen neue Bürokratie-monster, die hiermit heute auch geschaffen werden!
Für die Bundesregierung erteile ich als nächster Red-
nerin der Staatsministerin Aydan Özoğuz das Wort.
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Bundespräsident Joachim Gauck hatam 22. Mai 2014 eine bemerkenswerte Rede bei einerEinbürgerungsfeier im Schloss Bellevue gehalten. Ichhabe mich sehr über seine Worte gefreut; denn sie habenauf den Punkt gebracht, dass wir unverkrampft mit derVielfalt in unserem Land umgehen sollten, auch imStaatsangehörigkeitsrecht.
Ich zitiere ihn:Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck derLebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl vonMenschen. … Unser Land lernt gerade, dass Men-schen sich mit verschiedenen Ländern verbundenund trotzdem in diesem, in unserem Land zu Hausefühlen können.Es war überdeutlich für alle, die dort gewesen sind: Bun-despräsident Gauck hat dabei allen Anwesenden aus derSeele gesprochen. Ein schönes und richtiges Signal ausdem Schloss Bellevue, wie ich finde.
In Deutschland sprechen wir in diesen Tagen sehr vielüber Einwanderung. Wir werden sogar gelobt, zum Bei-spiel von der OECD, dass Deutschland nun ein sehr be-liebtes Einwanderungsland geworden sei, auch für Men-schen, die es sich aussuchen können, wohin sie gehenwollen. Das war lange Zeit nicht so, wie wir wissen.Leider unterscheiden wir aber gerade in solchen Zei-ten viel zu wenig, wer bei uns eigentlich alles zu dieserKategorie Migrant zählt und was uns dabei von der Zähl-weise anderer Länder unterscheidet. Denn auch wennwir in diesen Tagen sagen, dass unsere Quote zeigt, wirseien das beliebteste Land gleich nach den USA, mussdoch hinzugefügt werden, dass in dieser Quote auchviele Kriegsflüchtlinge enthalten sind, die es sich nichtaussuchen können, wohin sie denn nun fliehen. Und: DieUSA zählen keine jungen Menschen, die dort geborenwerden, zu Migranten. Die Second Generation, wie siedort genannt wird, gilt als einheimisch-amerikanisch –ohne Wenn und Aber. Bei uns sind solche Menschenzum Teil Deutsche, aber mit Migrationshintergrund.Dass sie überhaupt zum Teil Deutsche sein können, ver-danken wir der Einführung des Geburtsortprinzips, alsodes Ius soli, das im Jahr 1999 durch die rot-grüne Bun-desregierung eingeführt wurde.
Damals war die große Neuerung: Wer unter bestimmtenVoraussetzungen – es wurde ja gesagt, welche Voraus-setzungen das sind – als Kind ausländischer Eltern inDeutschland geboren wurde, sollte neben seiner Ur-sprungsidentität eben auch deutscher Staatsbürger seinkönnen. Das war bis dahin nicht der Fall. Ich finde, manmuss schon noch daran erinnern: Es galt das Staatsange-hörigkeitsrecht von 1913. Nach diesem Gesetz aus derKaiserzeit konnte nur derjenige Deutscher sein, der Kindeines Deutschen war, nicht einmal einer Deutschen.Auch das möchte ich betonen: Deutsche Frauen zähltenan dieser Stelle nicht. Eine deutsche Frau konnte einKind in Deutschland bekommen, das als Ausländer galt,nämlich wenn der Vater nicht deutsch war. 1974 hat manimmerhin erkannt, dass auch deutsche Frauen das Rechthaben sollten, die Staatsangehörigkeit zu vererben.Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass Bundes-tagsabgeordnete von heute wie Cemile Giousouf, SevimDağdelen – die gerade gesprochen hat –, Cem Özdemiroder Mahmut Özdemir allesamt in Deutschland geborenwurden, als – vielleicht war das bei Mahmut Özdemirschon anders; er ist ja der Jüngste von allen – kaum je-mand daran dachte, dass die Gesellschaft der Nach-kriegszeit sich erheblich verändern würde.Heute machen wir nun nach 1999 den nächsten gro-ßen Schritt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3341
Staatsministerin Aydan Özoğuz
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Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sollnicht bis zur Volljährigkeit Deutscher unter Vorbehaltsein und dann womöglich zum Ausländer in Deutsch-land erklärt werden – wie es ja bereits einigen ergangenist. Es wird zukünftig nicht vom Herkunftsland abhän-gen, ob bei in Deutschland geborenen und aufgewachse-nen Kindern die Mehrstaatigkeit hingenommen wird.
Das, meine Damen und Herren, ist ein riesengroßerSchritt, den wir machen.
Hunderttausende Jugendliche werden damit endlich vonder belastenden Entscheidung befreit, sich mit dem Er-reichen des Erwachsenenalters entweder gegen ihre fa-miliäre Herkunft oder gegen Deutschland entscheiden zumüssen. Es ist einfach lebensfremd, dass wir junge Men-schen in unserem Land vor diese Wahl stellen.
Das haben wir auch immer wieder betont. Ich weiß ausunzähligen Gesprächen der letzten Jahre – erst vor kur-zem habe ich optionspflichtige Jugendliche ins Bundes-kanzleramt eingeladen, um direkt von ihnen noch einmalMeinungen und Gefühle zu hören; der Tenor war eindeu-tig –: Die Jugendlichen verstehen nicht, warum wir ih-nen diese Entscheidung abnötigen; sie empfinden es an-ders; ihre Realität und Lebenswirklichkeit ist, inmehreren Kulturen zu Hause zu sein. Das bekommen sieübrigens von der Gesellschaft auch immer wieder zuspüren: dass sie Deutsche sind, aber eben auch etwas an-deres.Frau Dağdelen, diese jungen Menschen haben das,was wir machen, als einen riesigen Schritt empfunden;die haben nicht das gesagt, was Sie hier gerade kundta-ten; die freuen sich, dass wir endlich noch einen Schrittweitergehen.
Die Zahlen brauche ich jetzt nicht weiter zu unter-mauern – es wurde schon gesagt –: 15,3 Millionen Men-schen – also jeder Fünfte in unserem Land – hat familiäreine Zuwanderungsgeschichte. Wichtig ist, dass mehrals die Hälfte, 55 Prozent der Menschen mit Migrations-hintergrund, die in Deutschland einst geboren wurden,minderjährig sind und ein Teil dieser jungen Menschen– das wurde schon richtig gesagt – ohnehin beide Pässebehalten darf. Für die anderen ist unser Gesetzentwurfwichtig; denn wir zeigen, um es noch einmal mit denWorten von Bundespräsident Gauck zu sagen, dass wirlernen, „vielschichtige Identitäten“ zu akzeptieren – ge-nau das ist es, was wir heute tun – und „niemanden zu ei-nem lebensfremden Purismus“ zu zwingen.
In den Koalitionsverhandlungen haben wir uns – dasmöchte ich natürlich nicht unerwähnt lassen – nach har-ten und langen Verhandlungen – alle wissen: das warwohl morgens um fünf oder halb sechs – auf die Formu-lierung geeinigt: Für in Deutschland geborene und auf-gewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zu-kunft der Optionszwang.
– Das habe ich auch nicht gesagt.Die Union hatte bekanntlich auf dem Kriterium desAufwachsens in Deutschland bestanden. Da mussten wiruns erst einmal einige Zeit überlegen, wie das nun mess-bar sein soll, zumal – das möchte ich dann schon erwäh-nen – keine Zahlen vorlagen, die belegt hätten, dass rei-henweise Kinder nicht in Deutschland aufwachsenwürden. Auch das Bundesinnenministerium konnte sol-che Zahlen nicht vorlegen.Von diesem Pult aus wurde immer wieder erklärt, dassei eine große Gefahr für unser Land. Ich bitte, wennman solche Aussagen macht, sie auch zu belegen. Dochgenau das war nicht möglich.
Mit dem Gesetzentwurf setzen wir nun das um, wo-rauf wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Ich binüberzeugt, dass das Kriterium des Aufwachsens einegute Lösung ist, auch wenn wir uns diesbezüglich viel-leicht nicht einig sind. Bis zum 21. Lebensjahr muss derJugendliche acht Jahre in Deutschland gelebt haben odersechs Jahre die Schule besucht haben oder einen deut-schen Schul- oder Berufsbildungsabschluss besitzen.
Das wird auf über 95 Prozent zutreffen. Hier wurde von90 Prozent gesprochen. Ich denke, es werden weit über95 Prozent sein. Es wäre interessant, zu wissen, wieviele nicht betroffen sein werden. Ich finde, dass Hun-derttausende Jugendliche ab dem Jahr 2018 nicht in dieÄmter laufen müssen, wie es ursprünglich gedacht war,sondern nur im Bedarfsfall nachgefragt wird, ist ein ganzgroßer Schritt, den wir mit diesem Gesetzentwurf tun.Damit sind die Kinder faktisch mit acht Jahren von derOptionspflicht befreit, und mit acht Jahren diskutiertman in der Regel noch nicht darüber.
Ich möchte unterstreichen, dass es mir wichtig ist,dass der Gesetzentwurf eine Härtefallklausel enthält. DieJuristen wissen es wahrscheinlich am besten: Wir kön-nen gar nicht so kreativ denken, wie manche Lebens-wege verlaufen. Ich kann mir viele Beispiele vorstellen– hier wurden einige bereits genannt –, die deutlich ma-
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Staatsministerin Aydan Özoğuz
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chen, dass es wichtig ist, auf einzelne Fälle eingehen zukönnen
– Sie kommen doch gleich dran, Herr Beck –, wo derBezug zu Deutschland vielleicht sehr deutlich nachge-wiesen werden kann, aber das Gesetz trotzdem nichtgreift.Mein Kollege Rüdiger Veit hat in der vergangenenDebatte darauf hingewiesen, dass im hessischen Koali-tionsvertrag von Schwarz-Grün Folgendes zu lesen ist– Zitat –:Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Auf-hebung der Optionspflicht … für in Deutschlandgeborene und aufgewachsene Kinder ausländischerEltern unterstützen.Es freut mich ausdrücklich, Herr Beck, dass Sie das tunwollen.
Vielleicht haben Sie ja noch eine Idee dazu.Ich möchte noch auf das eingehen, was FrauDağdelen hier erwähnt hat. Es zeugt nicht von riesengro-ßer Kreativität, wenn man Anträge von einer Initiativedreier rot-grüner Bundesländer wortgleich abschreibtund hier einbringt. Ich glaube, das könnte man auch an-ders machen. Wir sind uns unter den Kollegen einig,dass auch Sie das machen dürfen.
Wir sehen: Wir sollten den Gesetzentwurf rasch bera-ten. Wir dürfen keine Zeit verlieren; denn jeden Tagmüssen Jugendliche nach dem alten Gesetz optieren. Je-den Tag droht einem jungen Menschen, der 23 wird,möglicherweise die Ausbürgerung, obwohl er oder siehier geboren und aufgewachsen ist. Das sollten wir denjungen Menschen ersparen. Die Bundesländer wartendarauf, dass wir hier endlich weiterkommen, weil sie denjungen Menschen genau das ersparen wollen.Wir wissen, dass diese Abschaffung für einige zu spätkommt.
Es ist ganz wichtig, dass wir darüber sprechen. Es gibtungefähr anderthalb Jahrgänge, die optieren mussten,also einen Pass abgeben mussten. Einige sind nun tat-sächlich zu Ausländern in dem Land, in dem sie groß ge-worden sind, geworden. Diese jungen Menschen auszu-schließen, nur weil sie zufällig ein oder zwei Jahre zufrüh geboren wurden, halte ich für einen schwer vermit-telbaren und unwürdigen Zustand. Da erhoffe ich mireine Lösung im parlamentarischen Verfahren.
Ich möchte zum Abschluss noch ein Zitat des Bun-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptie-
ren. Wir wollen dieses vielfältige „Wir“. Wir wol-
len es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen
es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.
Ich hoffe, mit dieser Denke gehen wir in die parlamenta-
rischen Verhandlungen.
Danke schön.
Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der
Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie habenmit dem Bundespräsidenten geschlossen, Frau Özoğuz.Ich will mit ihm beginnen. Der Bundespräsident sagteam 22. Mai:Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Re-form des Staatsbürgerschaftsrechts.
Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdemkann Deutscher werden, wer in Deutschland gebo-ren wurde, auch wenn seine Eltern es beide nichtsind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit,doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlichhinzunehmen.So weit der Bundespräsident. – Ihrem Gesetzentwurfund der Rede von Herrn Krings merkt man die Gelassen-heit, von der der Bundespräsident spricht, aber nicht an.
Sie setzen eine Diskriminierungspolitik fort; dieschwarze Pädagogik der Integrationspolitik der Unionführt die Feder. Für ein kleines Häuflein von Menschen,wie der Deutsche Anwaltverein schreibt, bauen Sie einbürokratisches Monstrum auf, um den jungen Deut-schen, die hier geboren sind, deren Eltern aber aus demAusland stammen, weiter zu sagen: Ihr seid Deutscheauf Bewährung. Ihr seid Deutsche mit Verfallsdatum. Ihrseid Deutsche auf Probe. – Das ist das Gegenteil vonWillkommenskultur. Deshalb muss die Optionspflichtganz fallen. Erst das wäre ein richtiger Schritt nachvorne.
Ich will noch eines sagen. Der Bundespräsidentspricht davon, dass man dann, wenn man in Deutschlandgeboren ist, auch Deutscher ist. Das ist allerdings etwas,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3343
Volker Beck
(C)
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was wir noch verwirklichen müssen. Das fassen Sieüberhaupt nicht an. Nach dem heutigen Staatsangehörig-keitsrecht müssen die Eltern erst acht Jahre eine Aufent-haltserlaubnis haben, bevor ihre hier geborenen Kinderauch als Deutsche geboren werden. Ich frage: Warumreicht es nicht aus, einen legalen Aufenthalt in Deutsch-land zu haben, damit der, der hier Kinder bekommt,Deutsche und keine Ausländer gebiert?
In anderen Ländern besteht darüber Konsens. In Frank-reich sind sich von den Gaullisten bis zu den Kommu-nisten alle einig. Die Einzigen, die dagegen sind, sinddie Anhänger des Front National; die wollen wir unspolitisch wohl nicht zum Vorbild nehmen.Vor dem Hintergrund Ihrer Argumentation bezüglichdes Kriteriums „aufgewachsen sein“, Frau Kollegin,sollten Sie sich vielleicht einmal den Artikel von Profes-sor Zimmermann zu Ihrem Gesetzentwurf durchlesen.Er legt nämlich dar, dass das Kriterium „aufwachsen“bzw. „aufgewachsen sein“ im Staatsangehörigkeitsrechteigentlich schon dann zutrifft, wenn die Eltern dauerhafthier leben und das Kind hier geboren ist, da man danndavon ausgehen kann, dass es in der Regel hier aufwach-sen wird. Insofern setzen Sie hier ein Kriterium zweimalein.
Ich fand Ihren Koalitionsvertrag in dem Punkt vollkom-men in Ordnung. Was Sie dann umgesetzt haben, findeich allerdings nicht mehr in Ordnung. Es ist auch lebens-fremd.
Sie reden sich ja bei allen Problemen auf die Härte-fallklausel heraus. Ich habe vorhin schon Herrn Kringsgefragt: Was machen wir eigentlich mit Menschen, diemit ihrem deutschen Pass die EU-Freizügigkeit wahr-nehmen und, wenn sie im Ausland womöglich nochnicht einmal erfahren haben, dass sie optionspflichtigsind, plötzlich die deutsche Staatsangehörigkeit verlierenund dann Drittstaatausländer in einem anderen europäi-schen Land sind und sich damit die aufenthaltsrechtli-chen Fragen für diese jungen Menschen auf einmal neustellen? Das zeigt: Ihr Gesetzentwurf ist national ge-dacht. Sie sind nicht in Europa angekommen.
Auch Migrantenkinder können innerhalb Europas mi-grieren und ihre Freizügigkeit wahrnehmen.Wir haben bei der Bundesregierung ein paar Fälle ab-gefragt. Was ist zum Beispiel mit denen, die sieben Jahrein Deutschland gelebt haben, hier fünf Jahre zur Schulegegangen sind und dann in Österreich Matura gemachthaben? Nach Ihrem Gesetzentwurf ist nicht klar, was mitdenen passiert. Was ist mit denen, die im Ausland warenund eine deutsche Auslandsschule besucht haben? Diehaben keinen inländischen Schulabschluss gemacht. Wasist mit denjenigen, die in Frankreich das Baccalauréatmachen und dann zurückkommen, aber erst nach dem21. Lebensjahr ihr Bachelorstudium in Germanistik auf-nehmen? Haben sie keinen Bezug zu Deutschland? Nachdem Wortlaut Ihres Gesetzes sind sie alle draußen. DieBundesregierung sagt: Das könnten Sachverhalte für ei-nen Härtefall sein. Aber welche Gesetzgebung ist das,wo der Bürger nicht weiß, unter welche Regelung erfällt, und alle konkreten Einzelfälle unter eine Härtefall-klausel fallen, bei der keiner von Ihnen hier sagen kann,was das Ausländeramt damit konkret macht,
und Sie hoffen können, dass das Bundesverwaltungsge-richt das irgendwann in zehn Jahren klarstellt? Das istkeine Integrationspolitik. Das ist schlechte Gesetzge-bung!Sie müssen auch einmal sagen, warum wir bei Kin-dern zwei Klassen von deutschen Doppelstaatlern haben.Wir haben einerseits die Kinder, von denen beide Eltern-teile Ausländer sind. Sie werden durch GeburtsrechtDeutsche. Dann haben wir die Kinder von binationalen,also deutsch-ausländischen Ehepaaren, die, weil eineDeutsche oder einer Deutscher ist, sie also eine deutscheAbstammung haben, auch beide Pässe haben. Die kom-men für die Optionspflicht freilich nicht infrage. Ichmuss Ihnen sagen: Das ist eine ethnische Diskriminie-rung derjenigen, die keine deutsche Abstammung haben,weil ihnen eine Pflicht auferlegt wird, die für alle ande-ren Bürgerinnen und Bürger richtigerweise nicht gilt.Was muten Sie damit eigentlich dem Bundesrat zu,der in seinem NPD-Verbot-Schriftsatz gesagt hat, dassder ethnische Volksbegriff überkommen ist, und sich daausdrücklich auf die Staatsbürgerschaftsdiskussion be-zogen hat, wenn Sie ihm einen solchen Gesetzentwurfvorlegen? Deshalb rate ich Ihnen: Denken Sie noch ein-mal gut nach! Lohnt es den Verwaltungsaufwand wirk-lich, für eine Handvoll Leute – ein Häuflein Menschen,wie der DAV sagt – hier dazu zu kommen, dass wir ih-nen die Staatsbürgerschaft wieder aberkennen und dafürjedes Jahr 40 000 Verwaltungsverfahren durchführen?Der Deutsche Städtetag hat Ihnen ins Stammbuch ge-schrieben, dass Sie mit den Begriffen beim Härtefall undmit der Auslegung des „sonstigen Bezugs zu Deutsch-land“ nicht zurechtkommen, und Ihnen dann noch dar-gelegt, dass die von Ihnen verlangten Daten der Mel-debehörden nach Nummer 4 und 5 bei den Gemeindengegenwärtig gar nicht zur Verfügung stehen
und sie keine Antwort haben für den Fall, dass jemandzwischendrin seine Meldekarriere in Deutschland durcheinen Auslandsaufenthalt unterbrochen hat; denn dannsind die Meldedaten nicht mehr miteinander verbundenund es kommt ein riesiger Sermon an Verwaltung auf siezu.Der Städtetag, die beiden großen Kirchen und derDeutsche Anwaltverein sagen Ihnen allen: Es ist unver-
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hältnismäßig, wegen dieser kleinen Gruppe einen sol-chen Verwaltungsaufwand zu betreiben. Sie betreibenihn ja auch gar nicht wegen dieser kleinen Gruppe; Siewollen allen hier sagen: Ihr müsst euch bewähren. –Nein, Deutsche müssen sich nicht bewähren. AllenDeutschen steht nach unserer Verfassung gleiches Rechtzu. Das gilt auch für die Kinder von Menschen, die imAusland geboren sind. Deshalb: Machen Sie einenSchritt in Richtung Integration! Schaffen Sie die Op-tionspflicht ab! Liebe SPD, Sie haben das noch im Zu-sammenhang mit dem Koalitionsvertrag Ihren eigenenMitgliedern versprochen, als es um die Abstimmungging. Nehmen Sie sich unseren Gesetzentwurf oder dendes Bundesrates zum Vorbild, und sagen Sie: Wir besei-tigen die Optionspflicht ganz. Das bringt nichts, kostetnur und funktioniert am Ende nicht, sondern führt nur zuvielen Verfahren.Es wäre schön, wenn die Union, die sonst immer ge-gen Bürokratie ist – ich erinnere mich noch an dieDiskussion über das Allgemeine Gleichbehandlungsge-setz –, hier einmal zu ihrem Wort stünde und sagte: we-niger Bürokratie, mehr Bürgerrechte, mehr Welt-offenheit. – So käme Deutschland tatsächlich voran.
Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege
Helmut Brandt.
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es istnoch gar nicht so lange her, da dominierte die Überzeu-gung, dass Einwanderer, die die deutsche Staatsangehö-rigkeit erwerben, vor allem Kinder und Nachfahren, dendeutschen Pass nur unter Aufgabe ihrer ursprünglichenStaatsangehörigkeit erwerben bzw. behalten können.Ausdruck dieser Überzeugung waren unter anderem in-ternationale Verträge zur Vermeidung doppelter Staats-angehörigkeit. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Aberwir leben in einer globalisierten, mobilen Welt, und derDoppelpass wird weltweit zunehmend zur Realität.Deutschland hat sich sukzessive zu einem Einwande-rungsland entwickelt mit einem heute bestehenden ho-hen Bedarf an Fachkräften.
Doch worin besteht denn nun eigentlich der Wert ei-nes Passes – für uns Politiker, aber insbesondere für dieBürgerinnen und Bürger? Staatsangehörigkeit bedeutetunter anderem Sicherheit und Schutz vor einer Reihestaatlicher Maßnahmen. Sie bedeutet uneingeschränktenZugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zu öffentlichenDienstleistungen, Recht auf Bildung und Teilhabe, Ge-sundheitsversorgung und nicht zuletzt – auch ein wichti-ger Aspekt – das Recht auf Familienzusammenführung.Die deutsche Staatsangehörigkeit erleichtert jedem dasReisen; das ist sicherlich ein zunehmend wichtiges Gut.Das alles sind sehr praktische Gründe. Die Frage, diesich mir allerdings aufdrängt, ist, ob eine Staatsangehö-rigkeit tatsächlich auch einen integrationspolitischenWert hat, ob sie das Gefühl der Zugehörigkeit stärkt unddamit unser Zusammenleben fördert.Abgeordnete von der Linken und vom Bündnis 90/Die Grünen behaupten immer wieder, die Optionspflichtsei integrationsfeindlich. Woher das genommen wird, er-schließt sich mir, offen gesagt, nicht. Der Wert eines Gu-tes steigt bekanntlich nicht, wenn es leichter zu erwerbenist.
Eine Staatsangehörigkeit, die man bekommt – HerrBeck, Sie haben ja eben lange genug geredet –, ohne dieStaatsangehörigkeit des Herkunftslandes aufgeben zumüssen, wird womöglich gerade nicht wertvoller, son-dern „billiger“.Herr Beck, Sie zitieren ja so gerne die juristischeFachliteratur und den Deutschen Anwaltverein. MeinRepetitor hat immer gesagt: Was nichts kostet, ist auchnichts wert.
Das lag daran, dass man den Repetitor bezahlen mussund damit offensichtlich der Wert der Anhörung steigt.
Steigert nicht gerade die Auseinandersetzung mit derFrage, welche Staatsangehörigkeit man denn nun gernebehalten möchte, den Wert einer solchen, und fördertman nicht gerade dadurch die Integration, wenn amEnde einer solchen Auseinandersetzung das klare Be-kenntnis zur deutschen Staatsangehörigkeit steht? Wel-chen höheren Wert muss zum Beispiel ein junger Menschseinem deutschen Pass beimessen, der sechs Jahre inDeutschland zur Schule ging, dann aber – aus welchenGründen auch immer – in das Heimatland seiner Elternzurückkehrt und dort lebt? Sicher, er möchte und wirdden Pass aus praktischen Gründen gerne behalten, zumReisen und als Sicherheitsgarantie. Aber das ist dochnicht der Sinn einer Staatsangehörigkeit.
Gestatten Sie mir deshalb an dieser Stelle eine weitereFrage: Sollte es nicht unser Ziel sein, dass Menschen, diein Deutschland leben und hier bleiben möchten, dendeutschen Pass haben möchten, weil sie sich uns zuge-hörig fühlen und von unserem Land überzeugt sind? Dasist der Maßstab, den jedenfalls ich an die Staatsangehö-rigkeit anlege.Hinter unserer bisherigen Skepsis gegenüber der dop-pelten Staatsangehörigkeit stand – das gebe ich offenzu – selbstverständlich auch die Frage, ob wir im Gegen-
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zug zur Staatsangehörigkeit auf die Loyalität der Dop-pelstaatler zählen können. Schließlich reden wir hierüber die deutsche Staatsangehörigkeit und nicht übereine Parkerlaubnis, wie der Kollege Strobl in der letztenDebatte über dieses Thema so markant sagte. Staatsan-gehörigkeit umfasst ein Bündel an Pflichten und Rech-ten, darunter das Wahlrecht und den Zugang zu öffentli-chen Ämtern bis hin zum Beamtentum. Das ist übrigensein Punkt, den ich für äußerst wichtig halte. Unser Be-streben muss sein, mehr Menschen mit Migrationshin-tergrund in das Beamtentum zu bekommen.
Selbstverständlich müssen wir uns vor diesem Hinter-grund fragen, wer in den Genuss dieser Rechte kommensoll und muss, und wir sollten so weit wie möglich si-cherstellen, dass diese Rechte nicht missbraucht werden.Sie haben es selbst erwähnt, Frau Dağdelen: WeilMenschen mit türkischem Hintergrund den proportionalgrößten Anteil ausmachen, möchte ich – das habe ichvorhin etwas vermisst – auf Ihren bzw. auf den – Gott seiDank nicht Ihren – Ministerpräsidenten Erdogan zu spre-chen kommen.
– Ich wollte von Ihnen ja nur die Bestätigung, dass esnicht Ihr Ministerpräsident ist.
– Genau. Das frage ich sie auch. – Aber lassen Sie micheinfach einmal ausreden; Sie haben ja schon genug da-zwischengerufen.Erdogan hat bekanntlich eine Behörde ins Leben ge-rufen, die sich speziell an die im Ausland lebenden Tür-ken wendet, und verfolgt damit offenkundig das Ziel, siefür seine speziellen Interessen zu gewinnen. Dass jeden-falls die aktuelle Regierung der Türkei im Vergleich zuuns eine andere Vorstellung von Demokratie hat, hatPräsident Erdogan in der jüngsten Vergangenheit mehrals einmal gezeigt. Sein jüngster Besuch in Köln zeigteeinmal mehr, dass er völlig unbeeindruckt von zahlrei-chen hier lebenden türkischen Gegendemonstranten ver-sucht, im Zuge des Wahlkampfes hier lebende Lands-leute für seine Ziele zu gewinnen.
– Sie müssen all das, was Sie dazwischenrufen, einmalzu Ende denken. Dann kommen Sie zu dem gleichen Er-gebnis wie ich.Dass ausländische Staatspräsidenten, noch dazu aufdeutschem Boden, versuchen, Menschen mit doppelterStaatsbürgerschaft für ihre Ziele zu vereinnahmen, dienicht zwangsläufig mit unseren Wertvorstellungen über-einstimmen,
empfinde ich als grotesk, Herr Beck, und Sie sollten dasauch tun.
Das kann doch nicht in unserem Interesse sein. Manstelle sich nur vor, unsere Bundeskanzlerin würde dem-nächst als Parteivorsitzende Wahlkampf auf Mallorcamachen. Ich würde gerne einmal sehen, was die Spanierzu einem solchen Auftritt sagten.
– Es gibt Leute, die vor nichts zurückschrecken, HerrBeck. Dazu gehören Sie auch.
– Sie können den Saal ja verlassen. In unserem Land gibtes die Freiheit, dass man sich alles anhören kann, abernicht anhören muss.Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen – das istschon angeklungen –, welche Probleme die Doppelstaa-tigkeit mit sich bringt. Der Zeit-Chefredakteur Giovannidi Lorenzo hat im Fernsehen offen bekundet, dass er beider Europawahl sowohl in Deutschland als auch in sei-nem Konsulat gewählt hat.
– Herr Beck, wir werden das prüfen lassen. – Ich glaube,8 Millionen Menschen könnten von einer solchen Mög-lichkeit Gebrauch machen. Deshalb muss man sich dochdie Frage stellen: Haben sie ein doppeltes Wahlrecht?
Ist die Europawahl damit noch gültig?Wie ich eingangs bereits sagte, leben wir in einer glo-balisierten Welt, und der Doppelpass wird zunehmendselbstverständlich. Die Bundesregierung hat nun einenGesetzentwurf vorgelegt, der junge Menschen nicht mehrin die für sie – jedenfalls teilweise – offensichtlich unan-genehme Situation bringt, sich zwischen zwei Staatsbür-gerschaften entscheiden zu müssen, wenn sie hier gebo-ren und aufgewachsen sind. Die Entscheidung zwischen
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der deutschen Staatsangehörigkeit und der des Her-kunftslandes der Eltern, ist – zumindest zum Teil – einProblem für diese jungen Migranten, die hier geborensind und hier leben wollen. Diese Gruppe wollen wirdurch diese Neuregelung entlasten.Bei aller Erleichterung aufseiten der vehementen Be-fürworter der doppelten Staatsangehörigkeit sollten wireines aber nicht vergessen: Das Problem, um das es hiereigentlich geht, nämlich die Integration dieser jungenMenschen, ist kein politisches, sondern ein gesellschaft-liches Problem. Integration ist nicht durch einen Verwal-tungsakt zu erreichen und kann auch nicht verordnetwerden. Integration findet in den Schulen, im Arbeitsle-ben, in der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis undnicht zuletzt natürlich in der eigenen Familie statt.
– Frau Künast, wenn Sie es nicht verstehen, sage ich esfür Sie gleich vielleicht noch einmal deutlicher.
– Sie können noch so viel brüllen: Es nutzt nichts. Siemüssen sich meine Argumente trotzdem anhören.
Seit 2005 haben wir als CDU/CSU gemeinsam mitunseren jeweiligen Koalitionspartnern sehr viel für Zu-wanderer getan. Mit Blick auf die demografische Ent-wicklung haben wir in den letzten Jahren begonnen, Zu-wanderung aktiv zu steuern und klare gesetzlicheVorgaben zu schaffen, um Zuwanderern den Start inDeutschland zu ermöglichen und ihren Integrationspro-zess zu fördern. Seitdem sind über 1 Milliarde Euro inIntegrationsmaßnahmen und Sprachkurse geflossen, undzwar mit steigender Tendenz. Diesen Weg wollen undmüssen wir fortsetzen.
– Das trifft auf eine Gruppe von Menschen zu, natürlich.Aber Herr Beck spricht ja immer von den Minderheiten.Es gibt eben auch Zuwanderer, die Schwierigkeiten mitder deutschen Sprache haben.Eines steht fest: Das Wohlergehen und der Zusam-menhalt einer Gesellschaft werden gestärkt, wenn alleBeteiligten, seien sie Einheimische oder Zuwanderer, einGefühl der Zugehörigkeit empfinden. Staatsangehörig-keit auf eine Weise zu verleihen, die uns bei diesem Zielvoranbringt, ist die eigentliche Herausforderung, der wiruns stellen müssen, wenn wir auch in Zukunft eine sta-bile soziale und ökonomisch erfolgreiche Gesellschaftsein wollen.
Wenn wir nun die hier lebenden jungen Migranten, diehier geboren sind und hier leben wollen, entlasten kön-nen, indem wir die Optionspflicht durch eine praktikableNeuregelung ihrer Lebenswirklichkeit anpassen, dannsollten wir dies tun.Trotzdem wollen und müssen wir sicherstellen, dassdie betroffenen Personen einen konkreten Bezug zuDeutschland haben. Ich kann darin beim besten Willen,Herr Beck, keine Zumutung für die Betroffenen erken-nen. Ich fände es im Gegenteil völlig realitätsfern, unan-gemessen und gefährlich, wenn wir dies an keine Vo-raussetzungen binden würden. Wir wollen und brauchenhier Menschen, die gut integriert sind, die die deutscheSprache sprechen, die unsere Werte nicht nur kennen,sondern sie auch teilen. Das ist die Zukunft für uns undunser Land.
Es ist ein guter Kompromiss, den die Koalition hier ge-funden hat. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Ich erteile jetzt das Wort für eine Kurzintervention
dem Kollegen Volker Beck.
Ich möchte jetzt nicht auf die Argumente von Ihneneingehen, Herr Brandt, sondern nur eine Sache klarstel-len. Giovanni di Lorenzo konnte zweimal abstimmen,nicht weil er einen deutschen und einen italienischenPass hat, sondern weil er einen italienischen Pass hat undin Deutschland lebt. Gegenwärtig ist es so, dass wir, ob-wohl das nach dem Europäischen Wahlakt und auchnach dem Europawahlgesetz nicht zulässig ist, keine or-ganisatorischen Vorkehrungen getroffen haben, um sol-che Doppelabstimmungen durch ein einheitliches Wahl-register zu verhindern. Das ist ein Defizit bei derExekution des Gesetzes durch die Verwaltung. Das hatmit dem Besitz von zwei oder drei Pässen oder einemPass überhaupt nichts zu tun.
Damit die Bürgerinnen und Bürger das wissen, wollteich das hier richtigstellen.Sie haben auch den Auftritt von Herrn Erdogan inKöln angesprochen. Frau Dağdelen und ich haben aufder Gegendemonstration zusammen mit Ihrem KollegenHirte gesprochen und mit 50 000 Deutschen, Türken undKurden gegen diesen Auftritt demonstriert. Aber ichhabe auch schon deutsche Politiker Wahlkampf in Spa-
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nien machen sehen. Schauen Sie einmal in den Gazettennach, was die FDP im Wahlkampf alles gemacht hat. Ichweiß, dass das auch manche bei uns machen. Das istnicht ehrenrührig. Die Politik, die Herr Erdogan macht,ist anzugreifen, nicht aber die Tatsache, bei einer Ge-meinde im Ausland aufzutreten und mit den Menschenzu diskutieren. Wir sollten dies auseinanderhalten. In Ih-rer Rede klang das so: Wenn das ein Türke macht, ist esschlimm. Wenn das ein deutscher Politiker auf Mallorcamacht, ist es nicht mehr so schlimm. – Das erschließtsich mir nicht, es sei denn, Türken und Deutsche unter-scheiden sich doch so wesentlich.
Herr Kollege Brandt, wollen Sie auf die Kurzinter-
vention erwidern?
Ja, gerne. – Herr Beck, ob es zulässig war oder nicht,
was Herr di Lorenzo gemacht hat, spielt im Endeffekt
doch keine Rolle und kann hier und heute gar nicht ent-
schieden werden.
– Sie rufen ja immer noch dazwischen. – Aber mit die-
sem Beispiel wollte ich nur deutlich machen, dass Dop-
pelstaatigkeit auch Probleme mit sich bringt
und dass diese Probleme sich dann auch – und in diesem
Zusammenhang ist das erwähnt worden – manifestieren.
Was die andere Frage angeht, Herr Beck, ob und wel-
che Menschen im Ausland für ihre Sache werben: Ich
habe kein Problem damit, dass jemand das tut. Ich frage
nur, ob das richtig und sinnvoll ist. Ich denke, dass Herr
Erdogan – ich bin froh, dass Sie unter denen waren, die
dagegen demonstriert haben – genug damit zu tun hätte,
in seinem Heimatland für Ordnung zu sorgen, statt sich
in Köln von Menschen bejubeln zu lassen, die er hier in
Deutschland bewusst für seine Sache in Anspruch
nimmt. Genau das kritisiere ich. Davor will ich aber
auch warnen. Wir müssen doch davon ausgehen können,
dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben und
die ich alle sehr schätze, sich auch zu uns bekennen,
statt irgendjemandem nachzulaufen, der in Deutschland
Wahlkampf betreibt.
Vielen Dank. – Frau Kollegin Jelpke, jetzt haben Sie
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginnwill ich anhand eines aktuellen Beispiels erläutern, wa-rum die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft sowichtig für die Demokratie ist. Beim Volksentscheid inBerlin zum Tempelhofer Feld konnten nur diejenigen ab-stimmen, die einen deutschen Pass haben. Es ging da-rum, ob dieses Feld eine Fläche für Freizeit, Erholungund Sport bleibt. Aber diejenigen, die dort leben, jedochkeinen deutschen Pass haben – das sind knapp eine halbeMillion Menschen –, waren ausgeschlossen. Dieses de-mokratische Defizit, dass Menschen an Entscheidungen,die sie unmittelbar betreffen, nicht beteiligt werden, darfes in Deutschland nicht mehr geben.
Auch bei den Wahlen ist es regelmäßig so: Ein großerTeil der Bevölkerung ist ausgeschlossen, weil ihm derdeutsche Pass bzw. das richtige Papier fehlt. Wer Einbür-gerung erschwert, der erschwert oder verhindert demo-kratische Teilhabe und Gleichberechtigung. Wir dürfenim 21. Jahrhundert solche demokratiefeindlichen Zonennicht mehr zulassen.
Nach den Bundestagswahlen war – das wurde schonangesprochen – gerade von der SPD immer wieder zuhören: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss her. MeineKollegin hat schon Sigmar Gabriel zitiert:Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle-gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nichtdrin ist.Man kann nicht oft genug wiederholen, dass dieses Ver-sprechen gegeben wurde. Aber wenige Wochen späterwaren diese markigen Worte vom Tisch. Es sollte jetztnicht einmal mehr die Abschaffung der Optionsregelunggeben, nach der sich viele junge Menschen zwischen derdeutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern ent-scheiden müssen. Das ist übrigens nicht nur eine Riesen-blamage für den Vorsitzenden der SPD und Vizekanzler,sondern, wie ich finde, auch für die SPD. Diese Vor-würfe müssen Sie sich gefallen lassen: Es ist Wahlbetrugan den Wählern und Wählerinnen, und für die Betroffe-nen ist es eine riesengroße Enttäuschung.
Meine Damen und Herren, auch in diesem Haus ist inden vergangenen Monaten viel von Willkommenskultur,einer Anerkennung der Verdienste von Einwanderernund einer offenen Gesellschaft die Rede gewesen. Dochwas folgt aus diesen hehren Worten? Angesichts der bis-herigen Bilanz dieser Bundesregierung kann ich nur sa-gen: Es ist weniger als nichts.Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen. Im Ent-wurf des Haushalts für das laufende Jahr sind 200 Mil-lionen Euro für Integrationskurse eingestellt. Das hörtsich erst einmal viel an. Tatsächlich liegt der Bedarf aberweit höher. Das wissen Sie von der Union ganz genau.Das hat nämlich sogar das Innenministerium einge-
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Ulla Jelpke
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räumt; es hat gesagt, dass schon nach bisheriger Planung46 Millionen Euro fehlen.Bei den Beratungsstellen für Migrantinnen und Mi-granten werden Kürzungen vorgenommen. SpezielleKurse für Frauen werden zusammengestrichen. Geradevon der Union kommt immer wieder das Argument, dassdie Einbürgerung am Ende des Integrationsprozessesstehen muss. Sie verweigern aber mit solchen Sparmaß-nahmen genau diesen letzten Schritt zur Integration. Sielegen den Menschen damit schon vorher Steine in denWeg. Das Herumstolpern dieser Bundesregierung beimStaatsangehörigkeitsrecht steht in einer Linie mit derverfehlten Integrationspolitik. Ich möchte darauf hinwei-sen, dass das zusammengehört.
Meine Damen und Herren von der konservativenSeite, Sie halten den Inhabern zweier Staatsangehörig-keiten immer wieder – soeben haben wir es auch ge-hört – einen Loyalitätskonflikt vor; man könne nichtDiener zweier Herren sein. Aber ich finde, dass es einTreppenwitz der Geschichte ist, dass solche Argumentevon einer Partei kommen, die in Niedersachsen sogar ei-nen Ministerpräsidenten mit doppelter Staatsangehörig-keit gestellt hat.
David McAllister war der erste Ministerpräsident mitdoppelter Staatsangehörigkeit in der Geschichte derBundesrepublik. Ich kann Sie nur aufrufen: Kommen Siedoch endlich in der Realität an! Mehrfache Staatsbürger-schaften schwächen die Demokratie nicht, sondern stär-ken sie, weil sie mehr Menschen zu demokratischer Teil-habe und Mitwirkung berechtigen, nach dem Motto „EinMensch, eine Stimme“.
Die Linke hat in eigenen Anträgen schon zu Beginndieser Legislaturperiode die Anforderungen an einmodernes und fortschrittliches Staatsangehörigkeitsrechtgenannt. Dazu gehört in erster Linie: Mehrstaatlichkeitmuss bei Einbürgerung und Geburt in Deutschland gene-rell hingenommen werden. Hier noch einmal ganz deut-lich gesagt: Nicht nur in anderen EU-Staaten, sondernauch in den USA, Israel sowie in vielen anderen Länderndieser Welt ist es eine Selbstverständlichkeit, dass einMensch die Staatsbürgerschaft des Landes erhält, in demer geboren wurde. Er muss sich nicht verbiegen undirgendwelche Schul- und Ausbildungsabschlüsse nach-weisen, wie es bei uns der Fall ist. Das kann doch wohlnicht sein.
Nur in Deutschland gibt es nun enorme Hürden. Ichwill betonen: Die Optionsstaatsbürgerschaft wird nichtabgeschafft. Ist es nicht komisch, dass bei vielen doppel-ten Staatsbürgerschaften wie bei der des ehemaligenMinisterpräsidenten von Niedersachsen überhaupt keinProblem besteht? Aber einer großen Gruppe unsererBevölkerung, deren ursprüngliches Herkunftsland dieTürkei ist, werden Steine in den Weg gelegt.
Frau Kollegin Jelpke, denken Sie an die Redezeit!
Ich komme sofort zum Ende. – Gegen diese
Ungleichheiten treten wir an. Es gibt keinen Grund, der
es rechtfertigt, nicht endlich die doppelte Staatsbürger-
schaft für alle einzuführen. Dafür wird die Linke weiter-
hin streiten; denn das ist das Einzige, was demokratie-
förderlich sein wird.
Danke schön.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin
Dr. Eva Högl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir diskutieren heute in erster Lesung hier imDeutschen Bundestag mit dem Zweiten Gesetz zur Än-derung des Staatsangehörigkeitsgesetzes über ein zwei-tes wichtiges Gesetz der Großen Koalition nach demGesetz zur Einführung eines Mindestlohns, über das wirvorhin beraten haben, und damit über ein Thema, das zuden Prioritäten der Großen Koalition gehört. Mit diesemGesetz wollen wir – ebenso wie mit dem Gesetz zumMindestlohn – Verbesserungen für viele Menschen indiesem Land erreichen.
Mit diesem Gesetz zur Staatsangehörigkeit verändernwir unsere Gesellschaft; das ist uns sehr wichtig. Wirmachen also einen großen Schritt nach vorne.Nach vielen Jahren gesellschaftlicher Diskussion– wir haben um das Für und Wider gerungen – legen wirnun den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung derOptionspflicht vor. Es ist ein wirklicher Erfolg, dass unsdas gelingt.
Das stellt eine wichtige Verbesserung für viele jungeMenschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesell-schaft dar. Wir tragen dazu bei, dass unser Staatsange-hörigkeitsrecht weiter modernisiert wird. Das ist einwichtiges Signal und eine wichtige Reform.
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Dr. Eva Högl
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Ich finde es sehr gut, dass dieses wichtige Thema zuden ersten großen Projekten der Großen Koalitiongehört. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz aus-drücklich Bundesinnenminister Thomas de Maizière – erist heute nicht da, aber Sie nehmen den Dank stellvertre-tend entgegen –, Bundesjustizminister Heiko Maas – derStaatssekretär nimmt den Dank entgegen – und unsererStaatsministerin Aydan Özoğus – sie ist da – danken,weil sie an einem Kompromiss gearbeitet haben und unshier – wir beraten das Gesetz heute in erster Lesung – ei-nen wirklich guten Vorschlag vorlegen. Herzlichen Dankdafür.
Ich sage einmal ganz deutlich hier: Wir haben das imKoalitionsvertrag vereinbart, und wir halten unser Wort.Natürlich ist das ein Kompromiss.
Das wissen alle hier im Haus. Die Rede von HerrnBrandt hat gezeigt, dass auch wir in der Koalition ver-schiedene Akzente setzen und Unterschiede haben. Esist ein offenes Geheimnis, dass einige mehr wollen – da-von sitzen einige in den Reihen der SPD-Bundestags-fraktion –
und einigen das, was wir heute diskutieren und dann vorder Sommerpause verabschieden werden, vielleichtschon zu viel ist.
Aber wir haben uns darauf verständigt, und deswegenist der Gesetzentwurf über die Abschaffung der Options-pflicht, über den wir heute beraten, ein erster wichtigerSchritt. Es ist ein guter Vorschlag, über den wir beraten.
Ich möchte ganz kurz zurückblicken – ich will dasnicht lange ausführen; es ist schon gesagt worden, woherdie Optionspflicht kommt – und daran erinnern, dassdas, was uns alle geschmerzt hat, ist, dass mit diesemOptionszwang junge Menschen zu Deutschen auf Probewurden. Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren undwas nicht sein darf. Deswegen schaffen wir den Options-zwang ab. Niemand, der oder die hier in Deutschland ge-boren ist, ist bei uns Deutscher oder Deutsche auf Probe.Das ist ein wichtiges Signal.
Ich erinnere die Grünen daran, dass der Options-zwang nicht einfach so in das Gesetz gekommen ist.
Wir haben unter Rot-Grün gemeinsam das Staatsangehö-rigkeitsrecht 1999 reformiert. Das war ein ganz großerSchritt weg vom Abstammungsprinzip hin zum Prinzipdes Geburtsortes. Wir machen jetzt, 15 Jahre danach,den nächsten Schritt mit der Abschaffung der Options-pflicht, die uns schon immer geschmerzt hat.
Das Optionsmodell war im Übrigen auch ein Integra-tionshemmnis in unserer Gesellschaft; denn wenn wirjungen Leuten sagen, sie seien Deutsche auf Probe, dannsind sie auch auf Probe in unserer Gesellschaft.
Dieses Signal wollen wir nicht mehr senden. Wir wollenvielmehr sagen: Ihr alle seid hier herzlich willkommen,ihr gehört dazu,
ihr seid Teil unserer Gesellschaft, und wir stellen deswe-gen keine hohen Hürden auf, damit ihr Deutsche werdet.Mir ist es ganz wichtig, nach der Rede von HerrnBrandt eines zu sagen: Natürlich ist die Frage der Loya-lität zu einem Staat keine einfache Frage. Wir wissen,dass in Ihren Reihen die Frage eine große Bedeutunghat, ob man überhaupt eine Loyalität zu zwei Staaten ha-ben kann und ob es zwei Staatsangehörigkeiten gebenkann. Wir glauben, dass man in unserer Gesellschaftmittlerweile ganz viele Identitäten haben kann. Man istBerlinerin, so wie ich, man kommt ursprünglich ausNiedersachsen oder woanders her, man ist Europäerin,wenn man in anderen Ländern ist. So sehen wir an vielenkonkreten Beispielen in unserer Gesellschaft, dass dieIdentitäten ganz bunt und vielfältig sind und von demjeweiligen Kontext abhängen. Sie sind keine Gefahr fürunsere Gesellschaft, sondern es ist eine Bereicherung,wenn wir mehrere Identitäten haben.
Auch zwei Staatsangehörigkeiten können eine Berei-cherung sein. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass wirnicht die Wurzeln der Menschen kappen, die sie haben,die Wurzeln ihrer Familie, ihrer Eltern und Großeltern.Wir müssen ihnen vielmehr signalisieren: „Diese Wur-zeln kappen wir nicht, sondern ihr könnt sie behalten“,und das mit der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck brin-gen.
Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Für mich wares ein sehr bewegender Moment, als wir am 23. Mai imDeutschen Bundestag den 65. Geburtstag des Grund-gesetzes gefeiert haben und hier Navid Kermani gespro-chen hat, ein Deutscher, in Deutschland geboren, mitiranischen Wurzeln, ein Muslim. Wir hatten ihn eingela-den, das Jubiläum unseres deutschen Grundgesetzes zufeiern. Das empfand ich als eine ganz starke Geste
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3350 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Eva Högl
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und ein ganz starkes Signal in unsere Gesellschaft hi-nein. Er hat uns sehr viel mitgegeben. Dass das möglichist, zeigt, dass man mit vielen Identitäten umgehen kannund dass mehrere Identitäten und damit auch mehrereStaatsangehörigkeiten überhaupt kein Problem, sondern,wie ich schon sagte, eine Bereicherung sind.Insofern ist das, was wir heute besprechen – dieAbschaffung der Optionspflicht –, für die betroffenenPersonen ganz wichtig. Wir orientieren uns dabei nichtan Einzelfällen, die vielleicht schwierig sind, nicht anProblemen, die es vielleicht im Zusammenhang mit demNachweis des Bezugs zu Deutschland gibt. Vielmehrorientieren wir uns an der Mehrheit der Fälle: Das sindbeinahe 40 000 junge Menschen jährlich, für die die Op-tionspflicht entfällt. In über 90 Prozent der Fälle brau-chen wir überhaupt keine weitere Prüfung, sondern al-lein die melderechtliche Lage dient dazu, gleich sagenzu können: Du kannst beide Staatsangehörigkeiten be-halten, und du bist vollständig integriert. Du gehörstdazu, und wir müssen nichts weiter überprüfen. – DerErfolg besteht darin, dass wir dies für die große Mehr-heit ermöglichen. Allein dafür lohnt sich dieses Gesetz.
Uns als SPD war es besonders wichtig, deutlich zumachen, dass die Mehrheit der Menschen nicht zum Amtmuss, dass wir keinen bürokratischen Aufwand betrei-ben und dass wir die Mehrheit der Menschen nicht zueiner Aktivität verpflichten, sondern dass von vornhe-rein für viele klar ist, dass sie zwei Staatsangehörig-keiten bekommen können, Stichwort „wenig Verwal-tungsaufwand“. Aber natürlich geht es nicht ganz ohneVerwaltungsaufwand. Denn selbstverständlich müssenwir in einzelnen Fällen die entsprechenden Vorausset-zungen prüfen. Dafür gibt es logischerweise Kriterien.Wir legen diese Kriterien an, weil wir vereinbart ha-ben, dass diejenigen, die hier geboren und aufgewachsensind, unbefristet die deutsche Staatsangehörigkeit erhal-ten, aber auch, weil die Staatsangehörigkeit natürlichkeine Bagatelle ist. Das ist klar geworden, und das be-tone ich hier noch einmal. An die Staatsangehörigkeitsind viele Rechte und auch Pflichten geknüpft, die nichtunwesentlich sind, zum Beispiel die Übernahme desAmtes eines Schöffen, einer Wahlhelferin, eines Wahl-helfers oder ähnlicher Dinge in unserer Gesellschaft.Vieles ist an die Staatsangehörigkeit geknüpft, nicht nurdas Wahlrecht als solches, sondern eben auch andereDinge. Deswegen müssen wir genau schauen, was mitder Staatsangehörigkeit verbunden ist. Dafür brauchenwir bestimmte Kriterien.Einen Punkt möchte ich noch ansprechen – dabeiblicke ich in die Richtung des Koalitionspartners –,Stichwort „Altfälle“; kein schöner Begriff. Es geht dabeium die Frage, was wir mit denjenigen machen, die eineStaatsangehörigkeit jetzt schon haben zurückgeben müs-sen, die also eine Staatsangehörigkeit verloren haben,obwohl sie mit Blick auf den von uns unterschriebenenKoalitionsvertrag eigentlich hätten Deutsche bleiben undauch Türkinnen und Türken sein können.
Ich wäre sehr dankbar – wir beraten diesen Gesetzent-wurf heute in erster Lesung –, wenn wir noch einmal da-rüber ins Gespräch kommen könnten, um zu klären, obwir für die infrage kommenden wenigen Hundert jungenMenschen eine Regelung finden können,
damit wir ihnen sagen können: Auch ihr seid von dieserReform betroffen. Auch für euch eröffnen wir eine Mög-lichkeit zur doppelten Staatsangehörigkeit. Auch ihrkönnt beide Staatsangehörigkeiten haben. Auch euchumfasst dieser Gesetzentwurf. – Wenn wir dazu nocheinmal beraten könnten, würden jedenfalls wir Sozialde-mokratinnen und Sozialdemokraten uns sehr freuen.
Ich sage es noch einmal: Ein guter Kompromiss liegtzur Beratung vor. Ich freue mich auf die weiteren Bera-tungen hier bei uns im Deutschen Bundestag, und vorallen Dingen freue ich mich, dass wir in der Koalitionvereinbart haben, diesen Gesetzentwurf noch vor derSommerpause zu verabschieden. Es wäre ein ganzstarkes Signal und eine schöne Sache, wenn wir vor derSommerpause sagen könnten: Wir haben die Options-pflicht abgeschafft. Es gibt die Möglichkeit einer dop-pelten Staatsangehörigkeit. – Das ist ein erster Schritt,aber ein wichtiger Schritt. Wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten bleiben an diesem Thema dran, undwir wollen noch weitere Schritte machen. Dazu werdenwir weitere Anläufe unternehmen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Högl, auch für die punkt-
genaue Landung und Ausschöpfung der Redezeit.
Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der
Kollege Özcan Mutlu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte hier einmal deutlich sagen: Hören Sie einfachauf mit dem Märchen, dass Sie die Optionspflicht ab-schaffen.
Sie schaffen sie nicht ab, Sie heben sie nicht auf; denn§ 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bleibt.
Dieser Paragraf bleibt nicht nur, sondern er wird in sei-nen Ausführungen sogar noch präzisiert, wodurch einBürokratiemonster geschaffen wird. Das ist offensicht-lich. Das sehen Sie zum Beispiel, wenn Sie sich § 34 des
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Staatsangehörigkeitsgesetzes anschauen. Darin steht,was alles für Pflichten die Meldebehörden plötzlich be-kommen. Sie ignorieren die Lage vor Ort bei den Kom-munen, bei den Ländern und geben den Behörden dortAufgaben, die sie vermutlich gar nicht lösen können.Zum Beispiel sollen die Meldebehörden wissen und derzuständigen Staatsangehörigkeitsbehörde melden – unddas bis zum zehnten Tag jedes Kalendermonats –, wowelcher Optionspflichtige lebt. Das soll keine Bürokra-tie sein? Das soll eine Abschaffung der Optionspflichtsein? Hören Sie auf mit diesem Märchen, und belügenSie die Bürgerinnen und Bürger nicht!
Diese melderechtliche Sache ist ein richtiges Problemund wichtiger Punkt; denn das zeigt genau, dass Sieüberhaupt nicht daran interessiert sind, die Options-pflicht abzuschaffen.Ich habe den Kollegen von der Union zugehört. DerHerr Krings hat gesagt: Man kann stolz sein auf diesesStaatsangehörigkeitsgesetz. – Tut mir leid; ich bin nichtstolz darauf. Ein modernes Staatsangehörigkeitsgesetz,lieber Kollege Krings, sieht anders aus. Wenn tatsächlichnur 5 Prozent der Optionspflichtigen von der neuen Re-gelung betroffen sind, warum nehmen wir dann die rest-lichen 95 Prozent in Haftung? Warum schaffen wir die-ses Bürokratiemonster? Warum sagen wir nicht, wieunser Bundespräsident es getan hat: „Jeder, der hier zurWelt kommt, dessen Eltern legal in unserem Land leben,bekommt aufgrund des ius soli bedingungslos die deut-sche Staatsbürgerschaft“? Punkt. Aus.
Da kann ich nur sagen: Hören Sie auf den Bundespräsi-denten!Und kommen Sie mir nicht immer wieder mit Ge-schichten von Erdogan und der Türkei! Damit zeigen Sienur, dass es Ihnen anscheinend um eine Lex Türkei geht.Während in der Kölnarena 20 000 Leute Erdogan zuge-hört haben, haben draußen 50 000 ihr demokratischesRecht genutzt und gegen ihn demonstriert.
Hören Sie also auf mit der Frage der Illoyalität oder derfehlenden Loyalität zu diesem Land!Außerdem: Deutschland und die Türkei als NATO-Partner werden nie gegeneinander Krieg führen, sodassauch die Frage „Wo diene ich?“ irrelevant ist. Es ist ein-fach unsinnig, darüber zu reden.
Herr Krings hat in seiner Rede irgendetwas vonVolkszugehörigkeit und von Heimatrecht gesagt und sol-che Begriffe verwendet. Ich habe mich da gefragt: Wel-chen Redezettel benutzt er? Den von vor zehn Jahren,oder was? Wir sind doch viel weiter. Wir haben zum Jahr2000 das Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert und unsvon dem Wilhelminischen Gesetz, das auf dem Bluts-recht basierte, verabschiedet. Wir haben das ius soli,wenn auch nicht vollständig, aber optional. Deshalb: DieStaatsangehörigkeit ist hier wichtig und nicht die Volks-zugehörigkeit; das sollten Sie als Staatssekretär inzwi-schen auch gemerkt haben, Herr Krings.Wir wollen weiter gehen als Sie. Wir wollen gern dasumsetzen, liebe Frau Staatsministerin Özoğuz, was Sieam 29. März 2014 – also in diesem Jahr, nicht irgendwievor drei Jahren oder im Wahlkampf – gesagt haben, etwain der FAZ nachzulesen: Das Ziel der SPD bleibt dievolle Abschaffung der Optionspflicht. – Wir nehmen Siebeim Wort.
Lassen Sie uns gemeinsam etwas dafür tun! Lassen Siesich nicht mit solchem Unsinn und Murks von der Unionüber den Tisch ziehen!Es ist keine Abschaffung, was Sie hier betreiben; esist einfach eine Mogelpackung. Wenn Ihnen jungeLeute, denen Sie natürlich erzählen, was Sie Tolles ge-leistet haben, sagen: „Wir sind zufrieden mit dem Ge-setz“, dann kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie denendiesen Entwurf, den Sie vorgelegt haben! Dann werdendie jungen Leute sehr wohl sagen, was das für eine Mo-gelpackung ist. – Mit diesem Entwurf sind wir auf kei-nen Fall einverstanden.
Hier ist des Öfteren Hessen zitiert worden. Ich kannIhnen wirklich sagen: Ein Freund der hessischen CDUbin ich nie gewesen, werde ich auch nicht so ohne Wei-teres; aber wenn diese hessische CDU, die noch 1999auf der Straße Unterschriften gegen die doppelte Staats-bürgerschaft gesammelt hat und gegen Migranten gewet-tert hat, heute in einem schwarz-grünen Koalitionsver-trag unterschreibt, dass sie quasi der eingeschränktenAbschaffung des Optionsmodells zustimmt,
dann ist das doch ein Schritt. Seien Sie doch zufrieden!Was wollen Sie denn? Ich bin nicht unzufrieden damit.Ich denke, die CDU in Hessen wird auch noch weiter da-zulernen.Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich bin ge-spannt auf die Beratungen in den Ausschüssen. Ichhoffe, dass das, was Frau Högl hier angekündigt hat,auch tatsächlich umgesetzt wird und der Entwurf derBundesregierung hinsichtlich der Altfälle verändert undweiter verbessert wird.
Herr Kollege Mutlu, der Kollege Reichenbachmöchte Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen.
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Ja, bitte.
Herr Kollege, können Sie mir die Logik Ihres Satzes
von vorhin erklären? Auf der einen Seite sagen Sie, dass
die Tatsache, dass die CDU in Hessen diesen großen
Schritt gegangen ist, indem sie den Koalitionsvertrag un-
terschrieben hat, eine ganz enorme Leistung der Grünen
sei. Auf der anderen Seite behaupten Sie, dass das Be-
streben der SPD, die CDU auf Bundesebene zu diesem
großen Schritt in Richtung der Position der SPD zu be-
wegen, eine kritikwürdige Leistung sei.
Wir haben in Hessen nicht gesagt, wir unterschreiben
keinen Koalitionsvertrag, in dem nicht eine doppelte
Staatsbürgerschaft enthalten ist. Das haben Sie gesagt.
Wir kämpfen in Hessen weiterhin dafür. Aber ich bin
Bundestagsabgeordneter, und ich bin gespannt auf die
Debatten in den Ausschüssen.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege
Michael Frieser, dem ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich glaube, dass wir gerade eine Stern-stunde der logischen Beweisführung erlebt haben.
Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, diese Debatte – da-mit greife ich ein Wort eines ehemaligen Bundespräsi-denten auf – unverkrampft zu führen.Der Kollege hat gerade in seinem Beitrag einen etwaslaxen Tonfall gewählt. Ich erlaube mir daher, angesichtsder bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft diesesvielleicht etwas laxe Bild vom Doppelpass zu wählen.Dieses taktische und strategische Mittel setzt mehrereDinge voraus: Es muss genau zum richtigen Zeitpunktsein, es muss zielgenau eingesetzt werden, und der Über-blick muss gegeben sein. Nur dann funktioniert der Dop-pelpass.Ich als Vertreter der CDU/CSU habe keinerleiGründe, die SPD von ihren Wahlkampfversprechen zuerlösen. Aber wenn eines richtig ist, dann doch wohl,dass in diesem Koalitionsvertrag die Frage der doppeltenStaatsangehörigkeit nicht nur angesprochen, sondern tat-sächlich geregelt wird, und das mit Sicherheit nichtschlecht.
Die etwas marktschreierische Art, die wir heute hiererleben, ist der Sache nicht besonders dienlich. Natürlichwar die Optionspflicht immer ein Kompromiss mit allenNachteilen und Unwägbarkeiten. Vor allen Dingen wardamit eine große Bürokratie verbunden. Uns geht es da-rum, dass man einerseits das Ganze nicht zu einem büro-kratischen Monstrum aufbläst und andererseits die Men-schen nicht in Loyalitätskonflikte bringt.Interessant ist das Ergebnis der Optionspflicht: AmEnde haben sich weit über 90 Prozent zur deutschenStaatsbürgerschaft bekannt und damit eine Confessio ab-gegeben: Jawohl, das will ich, das ist meine Entschei-dung.Interessant ist weiterhin, dass es beim Staatsbürger-schaftrecht neben Staatsrecht und Staatslehre immerauch um eine Werte- und Kulturgemeinschaft geht. DieLinke macht es sich da ganz einfach. Sie drücken sozu-sagen „copy & paste“ und bringen die Bundesratsvor-lage als Plagiat im Deutschen Bundestag ein. Dabeikönnten Sie es sich noch einfacher machen, indem Siedas sagen, was Sie wollen.
Die Linke will die Abschaffung einer deutschen Staats-bürgerschaft. Dann sagen Sie es auch, wenn Sie es someinen.
Dann sagen Sie auch, dass es für Sie ein überkommenesModell ist, dass ein Bekenntnis zu diesem deutschenStaat nicht gewollt ist. Dann sagen Sie es aber auch sound verbergen es nicht hinter einer Kritik, die sich letzt-endlich in einem Werfen von Nebelkerzen abbildet.
Ich meine, dass wir bei der Frage, den Menschen inbesonderen Ausnahmefällen eine doppelte Staatsbürger-schaft zuzubilligen, heute einen ganz großen Schritt wei-ter sind, weil wir mit einem Akt des Vertrauens auf dieMenschen zugehen. Wir sagen: Sie haben durch fami-liäre Zugehörigkeit oder durch ein Aufwachsen hier denBeweis geführt. Es ist nicht irgendein Hirngespinst, son-dern es ist ein Beleg, dass man in diesem Land Fuß ge-fasst hat, dass man seine Wurzeln gerade nicht kappt,dass man nicht vergessen muss, woher man kommt, dassman seine Identität nicht gegeneinander ausspielenmuss. Es geht darum, dass man bezüglich seiner Vergan-genheit und seiner Perspektiven Fuß gefasst hat, dasheißt, dass man sich eine Zukunft in diesem Land, eineZukunft mit den Menschen, eine Zukunft im Miteinan-
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der einer deutschen Kultur und Wertegemeinschaft vor-stellen kann. Das bedeutet dieser heutige Gesetzentwurf.
Ich habe bisher kein einziges Argument gehört, wasdiese Frage zum Einsturz brächte. Ich habe kein einzigesArgument gehört, warum es falsch sein soll, zu erwarten,dass ein Mensch in diesem Land aufwächst, zur Schulegeht und letztendlich auch Kontakte für seine Zukunft,seine Lebensperspektive knüpft. Es tut mir leid: keineinziges Argument. Es geht ausschließlich darum, dasswir von den Menschen, die mit einer Migrationsge-schichte, der Zuwanderung ihrer Familie in diesem Landsind, nicht eine Entscheidung verlangen. Natürlich sindes immer Kappungen, Fristen und Entscheidungsgrund-lagen, die in Jahren, in bestimmten Akten fußen. Staats-bürgerschaftsrecht ist so. Das können wir mit der heuti-gen Diskussion nicht abschaffen. Letztendlich müssenwir immer noch deutlich machen: Die deutsche Staats-bürgerschaft ist etwas Wertvolles, und zwar im Sinne desWortes: voll Werten. Das bedeutet auch, dass die Men-schen wissen müssen, womit sie umzugehen haben.Hier bin ich bei dem Thema Integrationspolitik. Esgehört schon viel Chuzpe dazu, zu sagen, dass wir mitdiesem Gesetz die Integrationspolitik verhindern oderbehindern würden.
Seit einer Dekade, zehn Jahre hintereinander, wird derbundesdeutsche Haushalt bezüglich der Integrations-kurse – im Haushalt des Innenministers – tatsächlichaufgestockt. Er wird aufgedoppelt. Wir legen ständig zu:Milliarde um Milliarde. Deshalb kann ich nur sagen:Wer am Ende des Tages behauptet, es sei ein integra-tionspolitischer Fehlakt, verkennt die Realität total.
Im Gegenteil. Integrationspolitisch muss man deut-lich sagen: Wir wollen den Menschen eine Perspektiveder Integration geben, weil sie bereits selber ein Be-kenntnis abgelegt haben, indem sie in diesem Land auf-wachsen und vor allem auch ausgebildet wurden, Kon-takte geknüpft haben. Das bedeutet Integration.Ich muss aber den Menschen auch sagen, wohin siesich integrieren sollen. Wenn diese Gesellschaft etwaskomplett Beliebiges hat, wenn sie in ihrem Kern nichtmehr existiert, dann weiß der Betreffende eigentlichnicht mehr, ob es überhaupt einen Sinn hat, außer prakti-schen Gründen des Reisens und vielleicht ein bisschenSicherheit, dass er im Ernstfall auch noch die deutscheStaatsbürgerschaft hat. Es muss noch eine besondere Artund Weise sein, warum wir sagen: Eine doppelte Staats-bürgerschaft kann und soll zugelassen werden.Das bedeutet aber auch, dass wir an die Ausnahmendenken müssen. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll im-mer noch die Ausnahme sein, weil wir die Menschentrotzdem in einen Wettbewerb schicken. Wir schickensie in einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Natio-nen und Abstammungen. Das kann auch sehr sinnvollsein. Im Ergebnis sage ich am Ende des Tages: Natürlichhat es auch mit einem demografischen Faktor zu tun.Der Kollege Brandt hat es angeführt. Es geht hier nichtum die Frage der Quantität. Vielmehr geht es darum,dass die Menschen, die hier ausgebildet wurden, hierAbschlüsse gemacht haben, hier etwas gelernt haben, ih-rerseits eine Bindung zu diesem Land entwickeln und sa-gen: Das, was diese Gesellschaft in mich investiert hat,diese Kenntnisse möchte ich versuchen, in sie einzubrin-gen.
Herr Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Mutlu?
Ich dachte schon, ich hätte mich versehen. Bitte
schön, Herr Kollege, stellen Sie Ihre Frage.
Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Frieser. – Ich
habe eine ganz banale und kurze Frage. Ist Ihnen be-
kannt, dass in unserem Land bereits circa 5 Millionen
Menschen einen Doppelpass haben und dass die Bundes-
republik Deutschland mit 53 Ländern dieser Erde soge-
nannte Abkommen zur doppelten Staatsangehörigkeit
oder die Hinnahme der Mehrstaatigkeit vereinbart hat?
Und warum sehen Sie vor diesem Hintergrund ein Pro-
blem darin, dass man diese Vereinbarungen auch auf den
Rest der Menschen, die in unserem Land leben, auswei-
tet? Wovor haben Sie Angst?
Herr Kollege, schon der Begriff „Rest“ macht IhreHaltung zu diesem Thema deutlich. Dass es die vonIhnen genannten Vereinbarungen gibt, hat etwas mit derHistorie unseres Landes zu tun. Vor dem Hintergrundunserer Geschichte tun wir in vielen Einzelfällengut daran, also zum Beispiel aus Sicherheitsgründen und-bedenken eine doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen.Dass wir in diesen Ausnahmefällen so etwas zulassen,heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass wir nun auto-matisch auch sofort akzeptieren, dass alle anderen in die-sen Genuss kommen. Das wäre nichts anderes alsGleichmacherei, aber die Voraussetzungen für doppelteStaatsbürgerschaft sind da aus meiner Sicht nicht erfüllt.Zweiter Teil der Antwort: Gerade weil sich die Euro-päische Union als Kultur- und Wertegemeinschaft be-greift, macht es Sinn, zu sagen: Wir nehmen doppelteStaatsbürgerschaften gegenseitig wirklich ernst.Tun Sie mir einen Gefallen: Mit Ihrer stilistischenVolte, mit der Reductio ad Absurdum, also indem Sie sa-gen, dass ich das jeweils übertriebe, haben Sie immernoch kein Argument dafür geliefert, warum die doppelteStaatsbürgerschaft nicht ein besonderer Akt bleiben soll,so wie das derzeit der Fall ist: In bestimmten Fällen wirdgegebenenfalls die doppelte Staatsbürgerschaft verlie-hen.
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3354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Michael Frieser
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Liebe Kollegen, der entscheidende Punkt bleibt, dasswir die jungen Menschen, auch wenn wir ihnen die dop-pelte Staatsbürgerschaft ermöglichen, dazu auffordern,mit ihren Wurzeln, mit ihren Kenntnissen, mit ihrenMöglichkeiten und mit ihren Perspektiven in einen Wett-bewerb zu treten. Wir ermöglichen den Menschen, ihreHerkunft in unser Land einzubringen, und wir hoffen,dass dabei der optimale Fall eintritt. Um bei dem Bild zubleiben, das ich eingangs gebracht habe: Der schlech-teste Fall wäre, dass ein Doppelpass im Nirgendwo ver-schwindet. Es wäre schade, wenn wir Menschen verlö-ren, die bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landesmithelfen und Perspektiven eröffnen könnten. Der besteFall wäre, dass wir Brücken bauen, dass wir die Men-schen tatsächlich zusammenbringen und dass sie sichmit all dem, was sie ausmacht, was sie können und wassie auch an Hoffnungen haben, in Deutschland einbrin-gen – sogar vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sieirgendwann die Entscheidung treffen, dass sie in unse-rem Land bleiben, sich einbringen und ihre Zukunft ge-stalten wollen.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Christina Kampmann, SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Nehmen wir einmal an, alles wäre anders, alles wäre ir-gendwie umgekehrt: Ich wäre als Kind deutscher Elternin der Türkei geboren; die Türkei wäre Mitglied in derEuropäischen Union, Deutschland nicht; und es gäbedort genau wie hier das Optionsmodell; meine Elternhätten in der Türkei einen kleinen Betrieb; und welcheStaatsangehörigkeit ich habe, das hat mich eigentlich nieso wirklich interessiert – bis zu dem Tag, an dem die Be-hörde mir sagt, ich müsse mich entscheiden: für die eineoder für die andere Staatsangehörigkeit. In der Zeitunglese ich von einem Politiker mit einem britisch klingen-den Namen. Er hat die türkische und die britische Staats-angehörigkeit. Seine Eltern kommen aus EU-Mitglied-staaten, sagt man mir. Ganz schön ungerecht, finde ich.Wieso muss ich mich entscheiden und andere nicht? Ichfrage bei der Behörde nach. Die sagen: Es geht um dieVermeidung von Mehrstaatigkeit. Und ich frage mich:Warum geht es nur bei mir darum und nicht bei diesemPolitiker?Ich habe gerade angefangen, zu studieren. Vielleichtmöchte ich einmal als Ärztin in Deutschland arbeiten.Meine Großeltern haben dort einen Hof, und früher habeich die Sommerferien dort verbracht. Auch dieser Ort istirgendwie ein Teil von mir. Vielleicht möchte ich aberauch in der Türkei bleiben, eine Familie gründen undden Betrieb meiner Eltern übernehmen. – Aber weiß ichdas jetzt, mit Anfang 20?Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein fiktives Bei-spiel, das deutlich macht, vor welch schwierige Ent-scheidung wir junge Menschen mit der Optionspflichtstellen. Es ist vor allem eine Entscheidung, die Men-schen, die hier geboren sind, in Bürger erster und zweiterKlasse unterteilt.
Wenn ich von erster und zweiter Klasse rede, dann gehtes dabei nicht um Banalitäten, dann geht es um nichtsGeringeres als um politische Teilhabe in dem Land, indem diese Menschen leben, in dem sie arbeiten, in demsie Steuern zahlen und dessen Gesetze sie zu respektie-ren haben, ohne dass sie in Form von Wahlen darüberentscheiden können – es sei denn, sie geben die Staats-angehörigkeit ihrer Eltern auf.Doch was sich vielleicht einfach anhört, ist es ganzund gar nicht; denn für die meisten Menschen ist dieStaatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass. Viele sind,auch wenn sie nicht dort leben, durch die Kultur ihresLandes stark geprägt. Sie verbinden damit Menschen,die ihnen etwas bedeuten, Freunde, Familie, vielleichtauch die Großeltern, und nicht selten verbinden sie da-mit auch ein zweites Zuhause, zu dem sie immer wiedergerne zurückkehren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele guteGründe, die für die Abschaffung der Optionspflicht spre-chen.Der erste ist: Wir kommen zu einem Abbau von Büro-kratie. Das ist in einem Land, in dem nicht gerade einMangel an Bürokratie herrscht, immer schon einmal einrichtig guter Grund, glaube ich.Der zweite ist: Mehrstaatigkeit ist in einer globalisier-ten Welt bereits gelebte Realität, und die funktioniert imÜbrigen ganz wunderbar.Der dritte und damit wichtigste Grund ist, dass wir biszu 36 000 jungen Menschen pro Jahr mit dieser Rege-lung helfen werden. So viele werden davon profitieren,und das finde ich richtig gut und wichtig, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Denn die Optionspflicht ist wie das Haar in der Suppeeiner modernen Einwanderungsgesellschaft. Man könnteauch sagen: Sie ist wie die vier Tore des österreichischenFC Nationalrat in einem interparlamentarischen Fußball-turnier für unseren FC Bundestag: Niemand will sie, nie-mand braucht sie. Deshalb ist es richtig, dass wir endlich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3355
Christina Kampmann
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eine Antwort gefunden haben, die nichts anderes als dieAbschaffung der Optionspflicht bedeuten kann.
Damit sind wir einen wichtigen Schritt weiter, wennes darum geht, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, wenn esdarum geht, Menschen die Hand auszustrecken und ein-fach einmal zu sagen: „Schön, dass ihr da seid!“, undwenn es darum geht, zu respektieren, dass auch Men-schen, die einen deutschen Pass haben, eine tiefe Verbin-dung zu einem anderen Land haben können, die sie zuRecht gar nicht aufgeben wollen.
Ich bin stolz darauf, dass sich die SPD für die Ab-schaffung der Optionspflicht starkgemacht hat. Damitbeenden wir einen langen Weg und bekennen uns end-gültig zu unserem Dasein als Einwanderungsland. Undich begrüße es außerordentlich, dass wir gemeinsam mitunserem Koalitionspartner einen ebenso guten wie prak-tikablen Kompromiss gefunden haben.
Ich sage aber auch: Das ist nicht unser letzter Schritt,Herr Beck.
Die generelle Anerkennung der Mehrstaatigkeit bleibtdas Ziel der SPD.
Zunächst bin ich aber froh, dass wir einen Anfang ge-macht haben, dass wir einen Weg gefunden haben, damites für junge Menschen in Zukunft nicht mehr entwe-der – oder heißt, sondern einfach nur: Schön, dass du dabist, und hoffentlich bist du – ganz im Sinne der Band„Wir sind Helden“ – Gekommen um zu bleiben.Danke schön.
Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist für die CDU/CSU die Kollegin Erika
Steinbach, der ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Kampmann hat völlig zu Recht gesagt: Für diemeisten Menschen ist die Staatsangehörigkeit viel mehrals ein Pass. Das ist vollständig richtig. Vor dem Hinter-grund haben wir uns auch gemeinsam entschieden, zusagen: Die vorliegende Änderung des Staatsangehörig-keitsgesetzes rüttelt nicht daran, dass eine doppelteStaatsangehörigkeit weiterhin kein Normalfall seinsollte, vielmehr bleibt die doppelte Staatsangehörigkeitdie Ausnahme.
Wir wollen aber – auch gemeinsam – mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf die hier geborenen Zuwanderer-kinder weitgehend nicht mehr in die emotional wirklichschwierige Situation bringen, sich spätestens zum23. Lebensjahr entweder für die deutsche Staatsangehö-rigkeit oder für die ihrer Eltern entscheiden zu dürfenoder zu müssen – je nachdem, wie es der Einzelneempfindet. Dazu müssen aber aus unserer Sicht Mindest-anforderungen erfüllt sein, und darauf haben wir uns er-freulicherweise gemeinsam verständigen können.Ganz entscheidend ist für uns der Aspekt, dass eineBindung an Deutschland, die über eine emotionale Bin-dung hinausgeht, erkennbar sein muss. Deswegen habenwir einen Kriterienkatalog aufgestellt. Die Pflicht, sichfür eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, entfällt mitder vorgesehenen Gesetzesänderung für die junge Gene-ration, und zwar für die Kinder, die hier acht Jahre gelebthaben oder sechs Jahr zur Schule gegangen sind oder dieSchule bzw. die Ausbildung erfolgreich abgeschlossenhaben. Eine Härtefallklausel für all die Fälle, die mannicht prognostizieren kann, zu denen aber jeder Menschmit Vernunft sagt: „Das darf ja wohl nicht wahr sein,dass in diesem Fall keine Lösung möglich ist“, ist natür-lich auch enthalten. Uns von der CDU/CSU ist alsowichtig, dass mit der vorgesehenen Gesetzesänderung si-chergestellt wird, dass bei denjenigen, die die doppelteStaatsbürgerschaft erlangen, eine Bindung an Deutsch-land erkennbar ist. Das halten wir für erforderlich undsinnvoll für dieses Land, für die Gemeinsamkeit in die-sem Land.Die Betroffenen können die Frage, ob sie nach demGesetz in Deutschland aufgewachsen und damit von derOptionspflicht befreit sind, schon sehr früh, bereits mitVollendung des achten Lebensjahrs, wenn sie acht Jahrelang hier gelebt haben, klären lassen. Das gibt ihnen Si-cherheit, auch emotionale Sicherheit für die Zukunft;
denn eine frühe Rechtssicherheit stabilisiert.Aus den Reihen der Opposition wird die Forderungnach einer grundsätzlichen Möglichkeit zur doppeltenStaatsbürgerschaft erhoben. Das wollen wir ausdrücklichnicht. Aber ich habe mich schon amüsiert, dass derRedner der Grünen diesen Gesetzentwurf in Bausch undBogen verdammt und gleichzeitig die hessische Landes-regierung gelobt hat. Als Frankfurterin freue ich michnatürlich, dass die schwarz-grüne Landesregierung ge-lobt wird. Also, Herr Kollege, das, was Sie da losgelas-sen haben, war ein Bumerang.
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3356 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Erika Steinbach
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Es geht bei dieser gesetzlichen Regelung auch nichtum die grundsätzliche Neuordnung der Einbürgerungen,sondern tatsächlich ausschließlich um die hier geborenenund aufgewachsenen Menschen, die sich sonst als jungeErwachsene hätten entscheiden müssen, welche Staats-bürgerschaft sie fortan weiterführen wollen. Es geht alsonicht um den generellen Doppelpass – allen, die solcheSorgen haben, sei das hier noch einmal deutlich gesagt.Zu einer völligen Gleichstellung – den Hinweis willich auch noch geben – der Inhaber mehrerer Staatsange-hörigkeiten mit den Menschen, die nur eine Staatsange-hörigkeit haben, kommt es auch nicht. So ist etwa derdiplomatische und konsularische Schutz von Deutschen,die weitere Staatsangehörigkeiten besitzen, im Auslandeingeschränkt. Sie können sich beispielsweise gegen-über dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie auchnoch besitzen, nicht auf ihre deutsche Staatsangehörig-keit berufen. Ich glaube, auch das ist ein Akt der Gerech-tigkeit.Meine lieben Freunde, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ich glaube, wir haben, wenn wir jetzt in dieBeratungen eintreten, eine gute Vorlage. Ich bin sehr zu-versichtlich, dass wir sie gemeinschaftlich über dieRampe kriegen, und das auch noch vor der Sommer-pause; daran würde mir liegen.Alles Gute!
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzesent-
würfe auf den Drucksachen 18/1312 und 18/1092 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu einen anderweitigen Vorschlag? –
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel
Höhn, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Festlegung nationaler Kli-
maschutzziele und zur Förderung des Klima-
schutzes
Drucksache 18/1612
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Julia
Verlinden, Christian Kühn , Oliver
Krischer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Energiewende durch Energieeffizienz vo-
ranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie
unverzüglich umsetzen
Drucksache 18/1619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in dieser
Aussprache ist die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/
Die Grünen, der ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorwenigen Monaten wurde meine jüngste Enkeltochter ge-boren, die Hannah.
– Danke schön. – Am vergangenen Samstag haben wirTaufe gefeiert. Was heißt das?
Das heißt, Verantwortung zu übernehmen für eine guteZukunft, und das heißt, sie vor Schaden zu bewahren.Ich bin ganz sicher, dass jeder von Ihnen in so einer Si-tuation genauso denkt wie ich. Dabei geht es nicht nurdarum, dass wir sagen, wir wollen Verantwortung über-nehmen in akuter Not, sondern es geht auch darum, lang-fristigen Schaden von diesen kleinen Krabbelkindern ab-zuwenden. Deshalb müssen wir heute und jetzt etwasgegen den Klimawandel unternehmen; denn diese Klei-nen, auch Hannah, haben eine gute Chance, das nächsteJahrhundert zu erleben. Dann werden die Vorhersagender Wissenschaftler eintreten. Dann werden die Schädeneingetreten sein. Wenn wir heute nicht handeln, dannhinterlassen wir diesen Kindern eine dramatische Bürde.Das wollen wir doch alle nicht.
Wir haben zu Recht eine Schuldenbremse eingebaut,weil wir gesagt haben, wir wollen unsere Kinder nichtmit Schulden belasten. Aber wir müssen ebenso eineCO2-Bremse einbauen; denn ansonsten werden wir ih-nen diese Schäden aufbürden.Der Punkt ist, dass nicht nur die Generation meinerEnkelkinder betroffen ist, sondern auch unsere eigene
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3357
Bärbel Höhn
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Generation. Vor einem Jahr haben wir hier über dasHochwasser an der Elbe und die dramatischen Schädendort diskutiert. Von diesem Pult aus möchte ich sagen:Herzlichen Dank an die vielen Helfer! Danke für diegroße Solidarität, auch der Privatleute, die hingegangensind und geholfen haben! Danke auch an Bund und Län-der, die 8 Milliarden Euro Finanzhilfe gegeben haben,um die Schäden zu beseitigen. Das war gut, das war not-wendig, und das war richtig.
Nicholas Stern sagt: Wir müssen etwas gegen denKlimawandel tun, ansonsten werden wir die Schädennicht mehr bezahlen können. Die Wetterextreme kom-men: Dürren, Fluten, Stürme. Das alles wird enorm vielGeld kosten, und es geht offensichtlich schneller, als wiralle gedacht und die Wissenschaftler vorhergesagt ha-ben.Jetzt werden viele von Ihnen sagen: Ja, aber Deutsch-land tut doch so viel; sollen doch die anderen erst einmalwas machen. Stimmt das wirklich? Schauen wir uns dieFakten an: In Deutschland haben wir pro Kopf einenAusstoß von 10 Tonnen CO2 pro Jahr. Wie viele sind esin der EU? Gut 7 Tonnen. In Deutschland steigt der CO2-Ausstoß in den letzten zwei Jahren wieder und sinktnicht. Wir nähern uns den Zielen des Kioto-Abkommensvon der falschen Seite. Von daher müssen wir etwas tun.Deutschland ist auf den Klimakonferenzen nicht mehrder Vorreiter in der EU. Mittlerweile bewegen sich an-dere – zugegebenermaßen auf hohem Niveau. Aber dieUSA bewegen sich, und auch China muss sich bewegen,weil es so viele schmutzige Kohlekraftwerke hat, dassdie Luft gesundheitsschädlich ist. Deshalb müssen auchwir in Deutschland uns bewegen. Das heißt: Deutsch-land muss aus der Braunkohlenutzung raus; sonst wer-den wir unsere Klimaziele nicht erreichen können.
Deshalb empfand ich es als ein schlimmes Zeichen,dass dieser Tage das Kabinett in Brandenburg denBraunkohleplan genehmigt hat und damit dem Klimakil-ler Braunkohle für 40 weitere Jahre eine Bestandsgaran-tie gegeben hat.Das Umweltbundesamt warnt seit Jahren davor, dasswir das Ziel, die CO2-Emissionen um 40 Prozent zu re-duzieren, krachend verfehlen werden. Die neue Bundes-ministerin hat gesagt: Mit den jetzigen Maßnahmen wer-den es wohl nur 33 Prozent. – Experten sagen: Auch eineReduktion um 33 Prozent werden wir nicht erreichen.Das werden eher unter 30 Prozent sein, die wir schaffen.Es wird gesagt, die Bundesministerin lege jetzt ein„Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ auf, um etwas zutun. Dieses Aktionsprogramm wird aber erst diskutiert.In der Zeit, in der es diskutiert wird, werden von anderenMinisterien schon wieder Fakten geschaffen. Das, liebeKolleginnen und Kollegen, geht nicht. Wenn Gabrielgleichzeitig den Ausbau von Wind- und Sonnenenergieim neuen EEG ausbremst, dann heißt das nämlich nichtsanderes, als dass er gegen den Klimaschutz handelt;denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist die er-folgreichste Klimaschutzmaßnahme überhaupt.
Die Energieeffizienz kommt nicht vom Fleck. Das istbei den Gebäuden so, aber auch bei der schmutzigenBraunkohle. Diese boomt, weil der Emissionshandelnicht funktioniert. Die Krönung war der Vorschlag, denEigenverbrauch der schmutzigen Braunkohle von derEEG-Umlage auszunehmen, aber Eigenverbrauch vonPhotovoltaik bezahlen zu lassen. Ich finde ja interessant,dass Gabriel von diesem Vorschlag schon heute einStück abrückt, aber ich bin einmal gespannt, was amEnde herauskommt. Vielleicht ist das aber auch unterdem Druck der Anhörung geschehen, in der die Expertenja gesagt haben: Den Klimakiller Braunkohle zu befreienund die Photovoltaik zu belasten, ist absolut unsinnig; soetwas Verrücktes habe ich selten gehört.
Wir legen deshalb unser Klimaschutzgesetz vor. Wirwollen damit nicht nur langfristig Ziele erreichen, son-dern auch Kontrolle, Verlässlichkeit und Planungssicher-heit. Vor allen Dingen wollen wir eines: Wir wollen ei-nen Mindestpreis für CO2; denn die Klimakiller müssenfür das, was sie tun, auch bezahlen. Wir wollen es so ma-chen wie in Großbritannien, den Niederlanden undSchweden: Der Ausstoß von CO2 muss etwas kosten.Wir müssen an die Ursachen ran, um das hinzubekom-men.
Meine Enkeltochter Hannah und ihre Krabbelgruppewerden irgendwann einmal erwachsen sein. Dann wer-den sie uns fragen: Warum habt ihr eigentlich nicht an-ders gehandelt? Die Wissenschaftler haben euch dieFakten auf den Tisch gelegt, und es wäre eure Verant-wortung gewesen, uns diese Schäden nicht zuzumuten. –Deshalb ist es, glaube ich, Zeit, nicht nur in Sonntagsre-den für den Klimaschutz zu sprechen, sondern endlichauch an Werktagen für den Klimaschutz zu handeln. Wirlegen deswegen heute ein Gesetz vor, das Klimaschutzverbindlich macht, ein grünes Klimaschutzgesetz. Lasstuns darüber diskutieren!Ein Vertreter des IPCC hat bei der Vorstellung desjüngsten IPCC-Berichtes gesagt: „Es kostet nicht dieWelt, unseren Planeten zu retten“. Ich füge hinzu: „Aberes kostet unsere Existenz, wenn wir nichts tun.“ In demSinne: Lasst uns über Instrumente diskutieren, damit wirunsere Kinder und Enkelkinder vor den Schäden bewah-ren, die wir ansonsten anrichten.Vielen Dank.
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3358 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
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Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Dr. Anja
Weisgerber.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Die Folgen des Klimawandelssind bereits heute zu beobachten. Dies hat der letzte Be-richt des Weltklimarates vor Augen geführt. Deshalbsind wir uns über alle Fraktionen hinweg einig, dass wireinen ambitionierten Klimaschutz brauchen und auchwollen.Deutschland hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Wirwollen bis 2020 40 Prozent der CO2-Emissionen einspa-ren.
Das ist doppelt so viel, wie sich die EU bis 2020 vorge-nommen hat. Nach aktuellen Prognosen – Frau Höhn hates erwähnt – werden wir ohne zusätzliche Anstrengun-gen aber nur 33 bis 35 Prozent erreichen; diesbezüglichgibt es unterschiedliche Meinungen bei den Experten.Um diese Lücke zu schließen – das zu der Frage, ob wiretwas dafür tun –, arbeiten wir gerade an einem „Ak-tionsprogramm Klimaschutz 2020“. UmweltministerinHendricks hat im April Eckpunkte dazu vorgelegt. DieVerabschiedung des Aktionsprogramms ist für Novem-ber dieses Jahres geplant.Darüber hinaus will die Bundesregierung 2016 einennationalen „Klimaschutzplan 2050“ verabschieden. Da-rin sollen dann Zwischenziele für die Zeit nach 2020zum Erreichen des langfristigen Klimaschutzziels, das jasehr ehrgeizig ist – bis 2050 80 bis 95 Prozent Treib-hausgasminderung –, enthalten sein.In den Eckpunkten zum Aktionsprogramm werdenfür sämtliche relevanten Sektoren von der Energiewirt-schaft über die Industrie, den Verkehr, die Kreislaufwirt-schaft bis hin zur Landwirtschaft mögliche Maßnahmenaufgezeigt. In einem umfangreichen Dialogprozess wer-den diese jetzt gemeinsam mit allen betroffenen Ressorts– das ist auch wichtig, dass alle Ressorts eingebundenwerden –, den Bundesländern und den Verbänden kon-kret erarbeitet und festgelegt. Sie sehen, meine Damenund Herren, die Bundesregierung handelt und schlägtganz konkrete Klimaschutzmaßnahmen vor.
Da die Energiewirtschaft der Sektor mit den höchstenTreibhausgasemissionen und den größten Minderungs-potenzialen ist, werde ich mich im Folgenden daraufkonzentrieren. Das, was in diesem Bereich am meistenzur Treibhausgasminderung beiträgt, sind der Ausbauder erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopp-lung, der Emissionshandel und die Steigerung der Ener-gieeffizienz, die auch im Sektor Industrie, Gewerbe,Handel und Dienstleistungen eine große Rolle spielt.Sehr große Einsparpotenziale gibt es in Deutschlandim Gebäudebereich. Dort fallen rund 40 Prozent desEndenergieverbrauchs und etwa ein Drittel der CO2-Emissionen an. Deshalb setzen wir weiterhin durch zahl-reiche Programme der KfW Anreize zu energieeffizien-tem Bauen. Das ist auch gut so, meine Damen und Her-ren. Aber – ich werde nicht müde, es zu erwähnen –:Daneben brauchen wir auch die steuerliche Absetzbar-keit von Investitionen in die Gebäudesanierung.
Da sind auch die Bundesländer in der Pflicht.
Einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung derTreibhausgasemissionen muss auch der Emissionshan-del leisten. Deshalb machen wir uns auch auf europäi-scher Ebene für eine Reform des Emissionshandelsstark. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel und Um-weltministerin Hendricks kämpfen in Brüssel dafür, dassder Emissionshandel durch eine Reform wieder flottge-macht wird. Dann werden umweltfreundliche Kraft-werke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke endlichwieder eine faire Chance auf den Märkten erhalten. Dasist ganz wichtig zur Treibhausgasemissionsminderung.Wir setzen uns sogar an die Spitze der Bewegung fürdiesen Reformprozess und fordern diese Reform schonfür einen Zeitraum vor 2020.Diskutieren müssen wir auch darüber – Sie haben an-geregt, dass wir diskutieren –, wie wir jetzt diese Reformmachen, wie die Reform ganz konkret aussehen soll.Lassen Sie uns doch darüber sprechen! Ein Mindest-preis, wie die Grünen und die Linke ihn vorschlagen, istmeiner Meinung nach nicht der Schlüssel zu einem funk-tionierenden Emissionshandel. Der Vorschlag der Ein-führung einer sogenannten Marktstabilitätsreserve, derjetzt auf dem Tisch liegt, also automatisch ab einer be-stimmten Schwelle Zertifikate aus dem Markt zu neh-men oder auch wieder in den Markt zu geben, ist meinerMeinung nach eine gute Basis, auf der wir aufbauenkönnen.Sie sehen also: Wir handeln, und wir liegen auch inunseren Absichten gar nicht so weit auseinander. Ob Kli-maschutzgesetz oder „Aktionsprogramm Klimaschutz2020“ und „Klimaschutzplan 2050“: Das Einzige, wasmeiner Meinung nach zählt, ist das Ergebnis. Das Wie,also wie man dort hinkommt, ob über ein Gesetz oderein Aktionsprogramm, sollte an dieser Stelle im Sinneder Sache nachrangig sein.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute überKlimaschutzmaßnahmen in Deutschland, aber alleinekönnen wir die Welt nicht retten. Deshalb müssen wirden Klimaschutz auf europäischer und auf globalerEbene weiter vorantreiben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3359
Dr. Anja Weisgerber
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Wie unsere Bundeskanzlerin gestern in ihrer Regie-rungserklärung sagte: Wir müssen alles daransetzen,dass Lima und dann Paris Erfolge werden. Deshalb ist eswichtig, dass wir als europäische Staaten an einemStrang ziehen und gemeinsam mit ambitionierten Zielennach Paris fahren. Genau dafür setzt sich Deutschlandaktuell in Brüssel weiterhin mit aller Kraft ein wie auchfür die Beibehaltung der bewährten Zieltrias. Dabei soll-ten wir die Bundeskanzlerin und die Umweltministerinbestärken, statt alles schlechtzureden, meine Damen undHerren.
Wenn Deutschland und Europa weiterhin so ehrgeizigvoranschreiten, dann könnte es gelingen, dass die ande-ren Staaten außerhalb Europas von uns mitgerissen wer-den und endlich auch mehr Verantwortung übernehmen.Ich freue mich sehr darüber, dass in den letzten Tagenpositive Signale aus den USA kamen. US-PräsidentObama hat eine für sein Land noch nie dagewesene Kli-marevolution angestoßen. Und Bundeskanzlerin AngelaMerkel hat angekündigt – das ist auch entscheidend –,Deutschland wird seine G-7- bzw. G-8-Präsidentschaftauch nutzen, um international dafür zu werben, dass wirbei den Klimaverhandlungen wirklich vorankommen.Dies kann – Frau Höhn, Sie haben das schon einmal er-wähnt – entscheidend dazu beitragen, dass die interna-tionalen Klimaverhandlungen erfolgreich abgeschlossenwerden. Deshalb begrüße ich diese Ankündigung vonAngela Merkel besonders.Meine Damen und Herren, die nächsten Monate wer-den entscheidend dafür sein, wie es mit dem Klima-schutz weitergeht. Die Wahrnehmung, die Sie von unse-rer Klimapolitik haben, ist nicht die gleiche wie die, diedie Welt von ihr hat. Das erkennt man auch an so man-chen Aussagen. Zum Beispiel hat US-Präsident Obamavor einigen Jahren an der Siegessäule hier in Berlin ge-sagt, dass er die Treibhausgasminderung mit der glei-chen Ernsthaftigkeit angehen möchte wie wir Deut-schen. Lassen Sie uns bei all den Unterschieden in denDetails gemeinsam mutig voranschreiten, damitDeutschland und Europa bei der Klimakonferenz in Pa-ris der große Wurf gelingt!Vielen Dank.
Nächste Rednerin für die Linken ist die Kollegin Eva
Bulling-Schröter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass wir heute auf Antrag der Grünen über Klimaschutzsprechen, ist gut und richtig. Es ist wichtig, dass wirtrotz zunehmender sozialer Verwerfungen in Deutsch-land,
trotz Euro-Krise und trotz internationaler Konflikte wei-ter über den Klimaschutz reden. Dieses wichtige Themadarf nicht in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerk-samkeit rücken.
Die Diskussionen darüber, wie mehr effektiver Kli-maschutz ohne den Verlust von Arbeitsplätzen und ohnezu hohe Energiepreise zu schaffen ist, sind natürlichnicht neu. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede und wiedick die Bretter sind, die wir zu bohren haben. Seit Mitteder 90er-Jahre setze ich mich im Bundestag für nachhal-tiges Wirtschaften ein und werbe auf internationalenKonferenzen für globalen Klimaschutz. Der Antrag derGrünen geht aus unserer Sicht ganz klar in die richtigeRichtung.
Bindende Verpflichtungen statt Klima-Wischiwaschi,genau das ist das Motto der Stunde. Denn wenn natio-nale Ziele zur CO2-Reduktion per Gesetz festgeschrie-ben werden und es zu Verstößen gegen definierte Klima-zielzusagen kommt, sind die politisch Verantwortlichenklar zum Handeln gezwungen. Dann können sie sich ge-rade nicht hinter reinen Absichtserklärungen verstecken,über die sich die Kohlelobby bisher genüsslich hinweg-gesetzt hat.Immer mehr Menschen begreifen, dass der Klima-wandel bereits Tatsache ist. Das weiß übrigens auch dieBundesregierung, die uns in ihrer Antwort auf eineKleine Anfrage zu Klimaflüchtlingen bestätigt hat, dass2012 weltweit über 31 Millionen Klimavertriebene ge-zählt wurden. Über 31 Millionen! Tätig werden will manim Kanzleramt aber nicht, etwa den rechtlichen Schutz-status für Klimaflüchtlinge verbessern, so wie wir unsdas wünschen.
Aber nicht nur aus humanitären, sondern besondersauch aus realwirtschaftlichen Gründen, die vor unserereigenen Haustür eine Rolle spielen, ist mehr Klima-schutz angesagt. Schenkt man dem Deutschen Institutfür Wirtschaftsforschung Glauben, so kommen bei„business as usual“ bis zum Jahr 2050 Folgekosten desKlimawandels in Höhe von 800 Milliarden Euro auf un-sere Volkswirtschaft zu; das sind keine Peanuts. Allein300 Milliarden Euro davon entstehen übrigens durch er-höhte Energiepreise, hier vor allem für private Haus-halte. Auch der jüngste Klimasachstandsbericht der Ver-einten Nationen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. DieEntscheidung der Bundeskanzlerin, nicht zum Klimagip-fel der Regierungschefs nach New York zu fahren, halteich da natürlich für ein Unding; ich denke, Sie auch.
Wer über Klimaschutz redet, der muss natürlich auchüber Energie reden. Weltweit ist die Energiegewinnung
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3360 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Eva Bulling-Schröter
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für zwei Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. InDeutschland kommt weiterhin fast jede zweite Kilowatt-stunde aus Braun- und Steinkohle. Die Energiewende istdie beste Medizin gegen den voranschreitenden Klima-wandel. Allein durch den Ausbau der Energie aus Wind,Sonne und Biogas konnten für das Jahr 2012 über145 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Fast einDrittel des Bruttoenergieverbrauchs stammt heute auserneuerbaren Energien. Hunderttausende Arbeitsplätzewerden in dieser Branche gesichert. Investitionen in Mil-liardenhöhe sorgen für ökologischen Wohlstand.Wer es mit dem Klimaschutz also ernst meint, dermuss den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ganzoben auf die Agenda setzen.
Die Linke hat dazu einen Antrag zu einem Kohleaus-stiegsgesetz vorbereitet; denn nur über eine saubereEnergieversorgung ist echter Klimaschutz möglich – seies in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen.Danke.
Als nächster Redner hat Frank Schwabe von der SPD
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vielen lieben Dank an die Grünen – zum einen für dieFleißarbeit,
was ja auch hilfreich für weitere Beratungen ist, undzum anderen dafür, dass wir hier noch einmal über dieKlimaschutzpolitik in Deutschland und darüber hinausresümieren und auch ausblicken können.Wenn man sich die Phasen der Klimaschutzpolitik an-guckt – ich rede jetzt nur von diesem Jahrhundert –,dann kann man, glaube ich, feststellen, dass die Klima-schutzpolitik zum Anfang dieses Jahrhunderts sehr enga-giert war. Die Hochphase lag zwischen 2003 und 2008,die sicherlich auch durch neue Erkenntnisse angeheiztwurde, die wir auf internationaler Ebene über die Aus-wirkungen des Klimawandels gewonnen hatten.Ich muss leider sagen, dass in den Jahren 2009 bis2013 – das kann der Koalitionspartner ja auf die FDPschieben –
auf diesem Gebiet nicht sehr viel passiert ist, sondern– diesen Eindruck habe ich – eher Rückschritte zu ver-zeichnen waren. Gerade auf europäischer Ebene habenwir den Klimaschutz eher blockiert als vorangetrieben.Das führt mich zum Jahr 2015. Es wird Sie nicht ver-wundern, dass ich finde, dass wir gerade dabei sind, zueiner konsolidierten deutschen Klimaschutzpolitik zu-rückzufinden. Dafür will ich hier der Ministerin BarbaraHendricks ausdrücklich danken, die jetzt bei den Ver-handlungen in Bonn ist.
Das war im Übrigen auch dringend notwendig – zu-mindest aus zweierlei Gründen:Erstens ist eine konsolidierte deutsche Klimaschutz-politik aufgrund der Erkenntnisse des Weltklimarats not-wendig: Der Klimawandel schreitet voran, er ist men-schengemacht, er bringt Not und Elend über vieleMenschen und Regionen auf der Welt, und – das ist dievierte und vielleicht wichtigste Erkenntnis – wir könnenzu relativ überschaubaren Preisen etwas dagegen tun.Deshalb müssen wir handeln.Zweitens ist es notwendig, zu einer konsolidiertendeutschen Klimaschutzpolitik zu kommen, weil es ent-gegen einer Fehlwahrnehmung, der wir, glaube ich, auchin der Öffentlichkeit in Deutschland unterliegen, sehrwohl Veränderungen auf der Welt gibt. Das bildet sichnoch nicht immer in internationalen Prozessen ab. Nochverpflichten sich in den internationalen Verträgen nichtgenügend Länder zu einer ambitionierten Klimaschutz-politik, aber in den Ländern geschieht eine ganzeMenge, zum Beispiel beim Ausbau der erneuerbarenEnergien – übrigens orientiert an der BundesrepublikDeutschland. Die Kollegin Baerbock, die Vizepräsiden-tin und meine Wenigkeit reisen gleich zu einer Konfe-renz nach Mexiko City. Dort werden wir die deutschePolitik im Bereich der erneuerbaren Energien internatio-nal präsentieren. Andere Länder haben sich in den letz-ten Jahren schon daran orientiert und werden das, glaubeich, auch in den nächsten Jahren tun.Wir sehen zum Beispiel auch in China enorme Verän-derungen. Es gibt gerade Hinweise darauf, dass imnächsten Fünfjahresplan ab 2016 feste Treibhausgas-obergrenzen – das wäre eine Revolution – für China fest-gelegt werden sollen. Wer das Land ein bisschen kennt,der weiß, dass das Thema „Umwelt und Auswirkungenvon Umweltverschmutzung“ eines der zentralen The-men, wenn nicht sogar das zentrale Thema, in der Volks-republik China ist.Über die USA ist ja gerade schon gesprochen worden.Mit dem, was Obama jetzt vorgelegt hat, hat er nur einVersprechen eingelöst, das er der Weltgemeinschaft ge-geben hat. Das ist hochinteressant. Ich komme gleichnoch auf einzelne Maßnahmen zu sprechen.Klimaschutz ist nicht nur eine Frage des Umwelt-schutzes, sondern auch eine Frage der Technologiefüh-rerschaft. Wenn man sich die Kommentare zu dem an-guckt, was Obama jetzt angestoßen hat, dann sieht man,dass Technologieführerschaft ein wichtiges Thema ist.Es ist auch die Frage, welche Rolle ein Land interna-tional spielen will und spielen kann. Deswegen will ich
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3361
Frank Schwabe
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die Frau Bundeskanzlerin an einer Stelle ein bisschenkritisieren: Ich jedenfalls habe nicht verstanden – viel-leicht erklärt sie es noch einmal –, warum sie nicht andem Ban-Ki-moon-Gipfel in New York teilnimmt.
Ich will sie aber ausdrücklich dafür loben, dass sie ge-sagt hat, sie werde das Thema Klimaschutz – das istnicht das erste Mal – zu einem zentralen Thema der G-8-oder G-7-Präsidentschaft – was auch immer es ist – ma-chen. Es ist richtig und gut, dass dort entsprechenderDruck aufgebaut wird.
Es ist gut und richtig, dass diese Bundesregierung mitder Ministerin an der Spitze in wenigen Wochen undMonaten zwei Dinge erreicht hat: Erstens. Wir sind inder EU wieder zu einem eher führenden Land in SachenKlimaschutz geworden. Zweitens. Deutschland machtsich ehrlich in der Frage: Wie weit sind wir im Bereichdes Klimaschutzes hinsichtlich der Zielerreichung?Zur Europäischen Union. Es sind nur wenige Tagevergangen, bis es Deutschland – auch dank der gutenAbsprachen zwischen Ministerin Hendricks und Minis-ter Gabriel – gelungen ist, auf europäischer Ebene beimThema Emissionshandelsreform und hinsichtlich derZiele für das Jahr 2030 zu guten Regelungen und Posi-tionen zu kommen.Es gibt innerhalb der Europäischen Union drei Ziele– das jedenfalls ist die Position der BundesrepublikDeutschland – für das Jahr 2030: Die CO2-Reduktionsoll mindestens 40 Prozent betragen. Der Anteil der er-neuerbaren Energien soll bei 30 Prozent liegen. DieEnergieeffizienz – ich finde, der diesbezügliche Vor-schlag der Unionsfraktion ist sehr gut und sollte von derBundesregierung aufgegriffen werden – soll bis zumJahr 2030 um 40 Prozent verbessert werden. Ohne Zwei-fel – das kann wohl niemand bestreiten – sind wir damitwieder am progressiven Ende der Europäischen Unionangelangt. All das wurde auf europäischer Ebene er-reicht.Was wurde in Deutschland erreicht? Deutschlandmacht sich ehrlich, habe ich gerade gesagt. Wir alle ge-meinsam haben hier im Deutschen Bundestag bezüglichder CO2-Reduktion ein 40-Prozent-Ziel beschlossen. Esist gerade schon festgestellt worden: Wir sind nochlängst nicht dabei, dieses Ziel zu erreichen, sondern wirliegen bei 33 Prozent, vielleicht noch weniger.Leider ist es so, dass es seit dem Meseberger Pro-gramm von 2007 kein vernünftiges Programm mehr ge-geben hat, um sich der Herausforderung des Klimaschut-zes umfassend zu stellen. Deswegen ist es richtig, dassdie Ministerin deutlich gemacht hat: Es soll – ich will eseinmal so nennen – ein mittelfristiges Sofortprogrammbis zum Ende des Jahres geben –
ich nenne das einmal Meseberg II –, um in diesem Jahrwirklich zu konkreten Veränderungen und Verbesserun-gen zu kommen.
Ich will ausdrücklich die Kollegin Weisgerber unterstüt-zen: All das ist nicht die Aufgabe einer Ministerin. Nichtnur eine Ministerin ist für Klimaschutz zuständig,
sondern es ist die Aufgabe aller Ministerien, hierzu ihrenBeitrag zu leisten.
Dabei wäre die Unterstützung des ganzen Hauses sinn-voll.
Es soll ein Klimaschutzgesetz geben – man könnte esauch „Klimaschutz mit Gesetzescharakter“ nennen –,weil wir eben wissen müssen – ich glaube, das ist derKardinalfehler der letzten Jahre gewesen –: Wo stehenwir eigentlich bei der Zielerreichung? AmbitionierteZiele haben wir uns gegeben, aber bei der Zielerreichungwird es kompliziert. Deswegen sage ich: Wir brauchenso etwas wie ein KEÜG. Eigentlich brauchen wir keinKlimaschutzgesetz, sondern ein Klimaschutz-Errei-chungs-Überprüfungs-Gesetz. Mit einem solchen Gesetzwissen wir immer: Wo stehen wir gerade? Da lobe ichnoch einmal die grüne Fraktion: Das, was von ihr vorge-legt wurde, ist zumindest eine Möglichkeit, sich in dennächsten Monaten in die lebendige Debatte einzubrin-gen.Vor einer Debatte werden wir uns alle nicht drückenkönnen – das will ich hier ganz offen sagen –: Wenn wirdas Ziel, die CO2-Emissionen in Deutschland um min-destens 40 Prozent zu reduzieren, ernst nehmen, dannmüssen wir sehen, dass die Hälfte davon über den Emis-sionshandel erreicht werden müsste, im Bereich derKraftwerke und im Bereich der Industrie. Ich will aus-drücklich sagen, dass dies innerhalb der SPD noch nichtausdiskutiert ist. Aber es ist wohl klar – das müssen wiralle feststellen –: Der Emissionshandel sendet im Mo-ment nicht ausreichend Signale, um dieses Ziel zu errei-chen.Aus meiner Sicht gibt es hier, wenn wir ehrlich damitumgehen, vier Möglichkeiten:Die erste Möglichkeit ist: Wir werden das 40-Prozent-Ziel nicht erreichen. Ein Scheitern wollen wir aber ver-hindern; darin sind wir uns einig. Wir haben im Deut-schen Bundestag festgelegt, dass wir dieses Ziel errei-chen wollen.
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3362 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Frank Schwabe
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Die zweite Möglichkeit ist: Wir müssen in den Berei-chen, die der Emissionshandel nicht umfasst, mehr leis-ten, also im Verkehrsbereich oder im Landwirtschafts-bereich. Ich glaube, wir wissen alle: Es ist ziemlichunrealistisch, das zu erreichen.Die dritte Möglichkeit ist, dass wir den Emissions-handel in der Tat wieder flottmachen. Dafür bleibt abernicht viel Zeit. Das können wir nicht auf den Sankt-Nim-merleins-Tag verschieben. Möglicherweise können wirihn auch dadurch flottmachen, dass wir auf nationalerEbene komplementäre Maßnahmen, wie ich es einmalnennen will, ergreifen.Die vierte Möglichkeit wäre, dass wir zu der Auffas-sung kommen, der Emissionshandel reicht nicht als Re-gulierungsinstrument, sondern wir müssen uns auch derFrage des Kraftwerksparks widmen. Dann werden wirüber das diskutieren müssen, was gerade in den USA imBereich der Effizienzziele gemacht wird.Wenn wir das alles nicht tun und die Dinge einfachlaufen lassen, dann werden wir am Ende die Ziele ver-fehlen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Kopf in denSand zu stecken, wird nicht funktionieren. Das ist keineLösung. Wenn man mit Menschen aus allen Teilen derWelt spricht – das werden wir ja in den nächsten Tagenwieder tun –, dann merkt man, welche dramatischenAuswirkungen der Klimawandel hat und welche Verant-wortung wir haben. Wir haben die Lösungsmöglichkei-ten durchaus in der Hand, um anders zu wirtschaften undEnergie auf andere Weise zu produzieren. Es ist unsereVerantwortung, das wahrzunehmen, und das sollten wirim deutschen Parlament gemeinsam tun.Vielen herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat Herlind Gundelach von der
CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir debattieren heute neben dem Gesetzentwurf vonBündnis 90/Die Grünen zur Etablierung eines Klima-schutzgesetzes, zu dem meine Kollegin Weisgerberschon ausführlich Stellung genommen hat, erneut einenAntrag der Grünen zur Energieeffizienz. Neben demAusbau der erneuerbaren Energien, den wir mit der No-velle des EEG auf stabile Füße stellen, zählt die Energie-effizienz zweifellos zu den tragenden Säulen der Ener-giewende. Dessen sind sich die Bundesregierung und diesie tragenden Fraktionen wohl bewusst.Derzeit stehen wir aber aufgrund des Beihilfeverfah-rens unter dem Zugzwang, die EEG-Novelle bis zurSommerpause verabschiedet zu haben, weil sonst dieBesondere Ausgleichsregelung für die energieintensi-ven Betriebe im nächsten Jahr nicht mehr greift. Daherhaben wir uns zunächst auf das EEG konzentriert.Vor genau drei Jahren, nämlich am 6. Juni 2011, ha-ben wir eine Energiewende beschlossen. Bei dieserEnergiewende geht es eben nicht nur um die Steigerungdes Anteils der erneuerbaren Energien an der deutschenStromversorgung. Insoweit liegen Sie mit dem ThemaIhres Antrags absolut richtig. Das unterstreicht aber auchschon der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU undSPD,
der die Verbesserung der Energieeffizienz als zweitewichtige Säule für den Umbau der Energieversorgung inDeutschland beschreibt. Dabei brauchen wir einen sek-torübergreifenden Ansatz, der Gebäude, Industrie, Ver-kehr, Gewerbe und private Haushalte gleichermaßenumfasst.Außerdem müssen wir Strom, Wärme und Kälteebenfalls in den Blick nehmen, und zwar gemeinsam.Daher haben wir bereits konkrete Ziele im Koalitions-vertrag festgelegt, die Sie ganz offensichtlich unterstüt-zen. Denn bei genauem Lesen Ihres Antrags fällt auf,dass Sie viele unserer Forderungen in Ihren Antrag auf-genommen haben.
Wenn ich daraus den Schluss ziehen darf, dass Sie unsbei der Umsetzung dieser Ziele tatkräftig unterstützen,würde mich das sehr freuen; im Interesse der Sache wärees übrigens auch geboten.
Lassen Sie mich daher einige Punkte aus dem Koali-tionsvertrag nennen. Wir wollen einen Nationalen Ak-tionsplan Energieeffizienz vorlegen, und zwar in derzweiten Jahreshälfte. Wir wollen die KfW-Programmeaufstocken, verstetigen und vereinfachen. Wir wolleneine unabhängige Energieberatung fördern und kosten-lose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Ein-kommen ausbauen. Wir wollen auf europäischer Ebeneanspruchsvolle Standards durchsetzen und gegebenen-falls in dem einen oder anderen Punkt Forerunner sein,und wir brauchen eine bessere Kennzeichnung von Pro-dukten.
Was mich dann allerdings doch wieder etwas nach-denklich stimmt, ist die Tatsache, dass Sie uns Untätig-keit unterstellen, nur weil die konkreten Vorschläge denBundestag noch nicht erreicht haben. Den Grund dafürhabe ich Ihnen schon erklärt. Wir haben uns entschieden,sorgfältig vorzugehen und keine Schnellschüsse insLand abzufeuern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3363
Dr. Herlind Gundelach
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Ich kann Ihnen aber versichern, dass sowohl in derRegierung als auch in den Fraktionen bereits seit vielenMonaten an Ideen gearbeitet wird; wir werden sie in dennächsten Monaten und Jahren hier sicherlich intensiv de-battieren.Nun aber zur Umsetzung der EU-Energieeffizienz-richtlinie: Ich finde, Sie zeichnen in Ihrem Antrag einsehr dramatisches Bild und verzerren damit die Realität.Die EU-Energieeffizienzrichtlinie ist am 4. Dezember2012 in Kraft getreten, und sie soll von den Mitglied-staaten bis zum Juni dieses Jahres umgesetzt werden.
– Genau. – Die Frist ist aus meiner Sicht sehr ambitio-niert.
So haben beileibe noch nicht alle Länder die Richtlinievollständig umgesetzt. Wir stehen da nicht alleine.
Hinzu kommen bei uns – ich denke, das muss man auchins Kalkül ziehen – eine Bundestagswahl und eine Re-gierungsneubildung mit sorgfältigen Koalitionsverhand-lungen, die ebenfalls Zeit beansprucht haben.
Es ist außerdem gut nachvollziehbar, dass der neueMinister in dem von ihm vorzulegenden Maßnahmenka-talog seine Handschrift wiederfinden will. Im Übrigen– das übersehen Sie völlig – sind Teile der Energieeffi-zienzrichtlinie bei uns schon geltendes Recht. So sinddie Artikel 9 bis 11 beispielsweise weitestgehend umge-setzt.Außerdem stimmt es nicht, dass Deutschland bei sei-nen Reduktionszielen und Effizienzzielen weit hinter-herhinkt. So steigern wir seit 1990 die Endenergiepro-duktivität jährlich um ungefähr 1,8 Prozent. Wir habenkontinuierlich unsere Ausgaben für die Förderung derEnergieeffizienz beispielsweise im Gebäudebereich auf-gestockt und verstetigt. Wir haben noch nie zuvor so vielGeld für die Förderung der energetischen Gebäudesanie-rung ausgegeben wie heute. Aber ich stimme Ihnen zu:Man kann noch mehr tun, und wir werden auch nochmehr tun.
Ich mache nun seit über 25 Jahren Umwelt- und Ener-giepolitik. Für viele Fachleute ist Energieeffizienz schonimmer ein schlafender Riese gewesen.
Deshalb bin ich froh, dass dieses Thema endlich die Öf-fentlichkeit erreicht hat und entsprechende Aufmerk-samkeit vorhanden ist.Mit Sorge sehe ich aber die von der EU-Richtlinievorgesehenen Energieeffizienzverpflichtungssysteme. Hierverfolgen wir ausdrücklich einen anderen Ansatz undsetzen auf Anreize, Beratung und Förderung; denn staat-licher Zwang bringt gerade an den Stellen, wo Eigentumund persönliches Handeln tangiert sind, in der Regel we-nig, wie wir in den letzten Jahren bei vielen Projektendeutlich erfahren mussten. Ganz im Gegenteil: Die Men-schen suchen nach Auswegen, um die Maßnahmen nichtdurchführen zu müssen, oder sie verschieben sie auf derZeitachse. Auch bürokratische Monster, wie sie in IhremAntrag durchschimmern, sind der Effizienz in der Regelnicht förderlich.Effizienzfortschritte und Effizienzsteigerungen sindauf eine gut ausgebaute Forschungslandschaft angewie-sen. Daher ist es notwendig, dass die Forschungsgelderim Bereich der Energieeffizienz weiterhin auf dem ho-hen Niveau gehalten werden, auf dem sie sich befinden.Ich plädiere sogar ausdrücklich dafür, sie zu steigern. Indiesem Zusammenhang ist es auch notwendig, dafür zusorgen, dass in Deutschland endlich die Forschungsleis-tungen von Unternehmen steuerlich geltend gemachtwerden können.
Wir alle wissen, dass gerade im privaten Bereich nocherhebliche Effizienzen zu stemmen sind. Smart Grid undSmart Metering bergen hier große Potenziale; denn mitihnen kann der Energieeinsatz auch im privaten Bereichoptimal gestaltet werden. Auf die energetische Gebäude-sanierung ist meine Kollegin schon eingegangen; ichkann das nur noch nachträglich unterstützen. Glückli-cherweise haben wir in Deutschland bereits gut funktio-nierende Strukturen im Energiedienstleistungsmarkt.Auch diese müssen wir nutzen und mit Vernunft und Au-genmaß an die Sache herangehen.Vernunft und Augenmaß, das wiederum führt michzurück zu Ihrem Antrag. Wie bereits gesagt: Sie spre-chen zum Teil durchaus sinnvolle Maßnahmen an undhaben marktwirtschaftliche Ansätze, was bei Ihnen nor-malerweise nicht so häufig vorkommt. Dennoch bietetIhr Antrag auch blanken Aktionismus, nach dem Motto„Viel hilft viel“. Aber das ist bei der Förderung der Ener-gieeffizienz so nicht immer richtig. Betrachtet man bei-spielsweise die deutschen Förderprogramme, dann stelltman fest: Hier gibt es für die Bürgerinnen und Bürger in-zwischen eine so große Bandbreite, dass viele die Förde-rung gar nicht mehr durchschauen und deswegen garnichts machen. Das kann auch nicht Sinn der Übungsein; denn mehr Geld bringt nichts, wenn es nicht abge-rufen wird.Hingegen unterstütze ich Ihre Forderung nach mehrInformations- und Aufklärungsarbeit. Wir haben bereitsim Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir die unab-hängige Energieberatung fördern werden und die kosten-lose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Ein-kommen ausbauen möchten; denn es ist uns allen dochbewusst, dass der Rebound-Effekt eines unserer größtenProbleme ist. Dem können wir nur durch gute Informa-tionsarbeit begegnen.
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3364 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Herlind Gundelach
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Energieeffizienz istkosteneffektiv, verbessert die Energieversorgungssicher-heit und hilft, Emissionen zu senken. Deshalb kannEnergieeffizienz in mancherlei Hinsicht als Europasgrößte Energieressource betrachtet werden. Ich lade Siegerne ein, gemeinsam mit uns an diesem Projekt zu ar-beiten, allerdings realistisch, innovationsoffen und nichtideologisch.Herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Caren Lay das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst meinen,dann müssen wir heute auch über das Thema der energe-tischen Gebäudesanierung sprechen; denn die energeti-sche Gebäudesanierung – das wissen viele – ist der un-gehobene Schatz beim Thema Energieeinsparung.
Hier fällt fast ein Drittel der Treibhausgase an. Dasheißt, wir müssen das Tempo bei der Sanierung anzie-hen, vor allen Dingen beim Bestand. Wenn wir die Kli-maschutzziele erreichen wollen, dann müssen doppelt soviele Häuser saniert werden, wie es derzeit der Fall ist.Das ist die eine Seite.
Die andere Frage ist, wer das Ganze bezahlen soll. Inder gegenwärtigen Situation tragen die Kosten dafür fastausschließlich die Mieterinnen und Mieter. Modernisie-rung – das wissen Sie – ist eine der zentralen Ursachenfür die Vertreibung aus den Innenstädten, weil sich dieMenschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können.Wenn Sie die Zeitung aufschlagen, dann finden Sie Bei-spiele hier aus der Nähe. In Berlin-Prenzlauer Berg sollein Haus saniert werden. Die Mieterinnen und Mietersollen nachher fast eine Verdreifachung ihrer Mietenhinnehmen. So etwas müssen wir unterbinden.
Deswegen brauchen wir zum einen eine wirklicheÄnderung der Modernisierungsumlage für Mieterinnenund Mieter. Es muss sich auch die öffentliche Hand andiesen Kosten beteiligen. Dafür brauchen wir eine an-dere Finanzierung. Wenn wir uns die Lücke ansehen, diezwischen den Kosten der Sanierung auf der einen Seiteund den Einsparungen bei den Heizkosten auf der ande-ren Seite besteht, dann stellen wir fest, dass es sich umeinen Betrag von 5 bis 9 Milliarden Euro handelt. Dasheißt, dass das Gebäudesanierungsprogramm mit 1,5 Mil-liarden Euro viel zu niedrig angesetzt ist. Wir forderndeswegen gemeinsam mit vielen Expertinnen und Ex-perten eine Aufstockung auf 5 Milliarden Euro.
Wir können das Thema Klimawandel und das Themaenergetische Gebäudesanierung nur anpacken, wenn wirauch Menschen mit geringem Einkommen mitnehmen.Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Der Heizkos-tenzuschuss beim Wohngeld muss wieder eingeführtwerden. Schwarz-Gelb hat ihn in der letzten Legislaturmit der abenteuerlichen Begründung abgeschafft, dieHeizkosten seien gesunken. Schauen Sie sich einmalIhre eigenen Zahlen an! Auf meine Anfrage zu demThema wurde geantwortet, sie seien in fünf Jahren umfast 24 Prozent gestiegen. Wenn wir den Heizkostenzu-schuss beim Wohngeld wieder einführen, dann müssenwir eine Klimakomponente hinzufügen; denn mit einersolchen Klimakomponente bekommen wir eine Gebäu-desanierung hin, die ökologisch und sozial ist.
Wenn wir über Klimaschutz reden, dann sollten wir inder Tat auch über das aktuelle Thema EEG-Umlage undIndustrieprivilegien sprechen. Frau Kollegin Gundelach,ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, als Siegesagt haben, man dürfe hier keine Schnellschüsse ma-chen; denn die EEG-Novelle, die der Minister vorgelegthat, ist ein solcher Schnellschuss.Kommen wir zum Thema Industrieprivilegien. In derderzeitigen Form sind und bleiben die Industrieprivile-gien eine Einladung zur Energieverschwendung. Dasdürfen wir überhaupt nicht mitmachen, wenn wir es mitdem Klimaschutz ernst meinen.
Es ist gestern in der Anhörung klar geworden: Die Ef-fizienzkriterien sind viel zu schwach. Wir sagen: Wirwollen eine deutliche Reduzierung der Industrieprivile-gien, und wir wollen Privilegien nur dort, wo wirklichverbindliche, klare und anspruchsvolle Einsparplänevorliegen. Ansonsten können diese Privilegien der Groß-industrie überhaupt nicht gewährt werden.
Die EEG-Novelle geht insgesamt in die völlig falscheRichtung. Der Ausbaudeckel für die erneuerbaren Ener-gien, die Direktvermarktung, die Ausschreibungspflicht –das alles wird die erneuerbaren Energien ausbremsen.Das alles ist dem Klimaschutz überhaupt nicht förder-lich. Wir müssen alles tun, um dieses EEG zu ändern.Das Beste wäre, Sie zögen diese Novelle zurück; dennmit dieser Novelle gehen Sie in die völlig falsche Rich-tung. Das Gegenteil wäre richtig. Wir müssen alles tun,um die erneuerbaren Energien zu fördern, damit wirschnellstmöglich aus Kohle- und Atomenergie heraus-kommen.
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Klimaschutz ist keine Ökospinnerei, er ist auch keinHippiethema, er ist für viele Menschen schon jetzt eineknallharte Existenzfrage. Deswegen müssen wir unsdeutlich mehr anstrengen. Das geht nicht so nebenbeinach dem Motto „Noch 148 Mails checken und dannmal schnell die Welt retten“. Hier müssen wir deutlichmehr tun. Deswegen unterstützen wir diese Anträge. Ichfreue mich auf die weitere Debatte zum Klimaschutz undauch zum EEG.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Nina Scheer
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist gut, dass uns der Antrag derGrünen „Die Energiewende durch Energieeffizienzvoranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüg-lich umsetzen“ nun vorliegt, da darin Handlungsbedarfeangesprochen werden, wodurch wir alle aufgefordertwerden, tätig zu werden.
Ich möchte voranschicken, dass die im Antrag enthal-tene Unterstellung, die Regierung sei untätig bzw. aufdiesem Gebiet sei noch nichts passiert, so nicht zutrifft.Wir wissen alle – darauf hat auch die KolleginGundelach hingewiesen –, dass ein Regierungswechselstattgefunden hat, dass gewisse Neuordnungen in denMinisterien stattfinden mussten und dass wir mit derEEG-Novelle derzeit ein großes Projekt zu bewältigenhaben.
Insofern ist vielleicht erwähnenswert, dass selbst inder EEG-Novelle im Kontext der Besonderen Aus-gleichsregelung ein Passus enthalten ist, der zwar nichtim Sinne der Umsetzung der Energieeffizienzrichtliniezu werten ist – so ist es in der Begründung auch nichtdargestellt –, der aber sehr wohl anklingen lässt, dassEnergieeffizienzbemühungen ernsthaft aufgegriffen wer-den. In dieser Novelle ist zum ersten Mal die Einführungvon vollwertigen Energie- und Umweltmanagementsys-temen verbindlich verankert, so wie es der Antrag derGrünen verlangt. Wenn der Gesetzentwurf der Bundesre-gierung verabschiedet wird, werden solche Systemekommen.Man sieht daran: Das ist eine Neuauflage von Ener-gieeffizienzpolitik, wie sie mit dem Regierungswechselmöglich wird. Ich denke, wir sollten das als erstenSchritt in diese Richtung anerkennen und die nächstenSchritte in diesem Sinne entschlossen vollziehen.
Klar ist auch – das sieht man auch an den von mir ge-rade erwähnten Punkten –, dass wir keine Erkenntnis-lücken haben. Uns allen ist klar, dass wir unsere Energie-effizienzziele nicht infrage stellen dürfen, auch wenn wiruns darüber bewusst sind, dass es in diesem Zusammen-hang Umsetzungslücken gibt. Selbst wenn die Umset-zungslücken schwierig zu schließen sind, so ist trotzdemeindeutig, dass das Ganze eine Herausforderung undkeine Offenbarung ist, dass wir diese Aufgabe einfachzu bewältigen haben. Ich denke, das werden wir hiernicht infrage stellen. Von meiner Seite wird das jeden-falls nicht geschehen. Damit spreche ich mit Sicherheitauch für die Bundesregierung, unsere Koalition und fürmeine Fraktion.
Ein kurzer Überblick: Seit den 90er-Jahren ist durchStudien belegt, welche Handlungsaufforderungen an unsformuliert sind. Es gibt Studien über Studien – etwa vomWuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie; neuereStudien stammen von der Agora Energiewende –, dienachweisen, welche Effizienzmaßnahmen wir ergreifenmüssen bzw. inwieweit wir die Energieeffizienz steigernund Ressourcen schonen müssen, um unsere Klima-schutzziele zu erreichen.Insofern gibt es kein Erkenntnisdefizit.
– Es ist ein Handlungsdefizit; das habe ich eingestanden. –Ich denke schon, dass es wichtig ist, sich deutlich zu ma-chen, was für Schritte man nun zu gehen hat. Zwar istschnell von einem Handlungsdefizit gesprochen; damitist aber noch keine Zielerreichung in Sicht, und man hatdamit noch keine Umsetzungsschritte definiert.Wichtig ist also, dass wir uns noch einmal vergegen-wärtigen, was die Chancen von Energieeffizienz-maßnahmen sind. Häufig wird darüber folgendermaßendiskutiert: Verzicht tut weh, Verzicht ist nichts Schönes.Dass Energieeinsparmaßnahmen natürlich einen Benefitfür die Gesellschaft bedeuten, dass Energieeinsparmaß-nahmen in den Wertschöpfungskreisläufen und mit Blickauf die Ressourcenschonung langfristig ein Benefit sind,muss uns noch stärker bewusst werden. Ein typischesPhänomen von Langfristpolitiken, wie ich sie gernenenne, ist, dass sie, anders als kurzfristige Maßnahmen,erst langfristig effektiv sind; erst die langfristig erzieltenBenefits verschaffen uns Erfolge.
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3366 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Nina Scheer
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Grundsätzlich sind die damit verbundenen politischenHerausforderungen nicht so einfach zu bewältigen, weildie Umsetzung der Maßnahmen kurzfristig manchmalunbequem ist. Sich unbequeme Maßnahmen vorzuneh-men, ist in der Vergangenheit unzulänglich geschehen.Aber ich denke, wir haben mit den Beispielen, die ge-nannt wurden, die ersten Schritte dargelegt, woraus manerkennen kann, dass das ernsthaft aufgegriffen wird.Klar ist auch, dass mit Energieeffizienzmaßnahmeneine soziale Aufgabe wahrgenommen wird. Sie vermin-dern das Risiko von Energiearmut. Es ist natürlich auchklar, dass der Weg hin zu einem vollständigen Umstiegauf erneuerbare Energien damit verkürzt wird.Wir sollten dabei in den Mittelpunkt stellen, dass dieUmsetzungsdiskrepanz – davon sprechen wir ja –Beschleunigung in der politischen Umsetzung verlangt.Sonst bräuchten wir nicht von einer Diskrepanz zu spre-chen; sonst käme die Umsetzung ja von allein. Die Dis-krepanz fordert also Beschleunigung. Das heißt, dass diePolitik gefordert ist, wie es auch die Umsetzung derEnergieeffizienzrichtlinie verlangt. Der Staat ist gefor-dert. Das müssen wir als Chance begreifen, als Chance,die Langfristziele zu erreichen.
Wenn der Staat eine aktiv gestaltende Rolle einneh-men möchte, darf er nicht einfach nur auf freiwilligeVereinbarungen, auf Selbstverpflichtungen der Industriesetzen – das hat in der Vergangenheit nicht gereicht –,sondern er muss verlässliche Rahmenbedingungenschaffen, die Effizienzinvestitionen ermöglichen. Effizi-enzinvestitionen sind meist sehr kostenintensiv undamortisieren sich erst nach längerer Zeit.Insofern müssen wir uns auch ehrlich die Frage stel-len: Welche Schritte sind wir bereit zu tun? Ist das nurüber das Ordnungsrecht zu machen, oder sind es ehermonetäre Anreize, die wir geben müssen? Bei denmonetären Anreizen ist die Frage: Regulieren wir Men-gen oder Preise? Es ist weiterhin in der Koalition undnatürlich auch in der Bundesregierung im ersten Schrittdie Frage zu diskutieren, ob die monetären Anreize aus-schließlich aus Haushaltsmitteln oder auch aus haus-haltsunabhängigen Mitteln gegeben werden können.Zur Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellenmöchte ich erwähnen, dass die OECD kürzlich auf eineSchwäche in unserem Steuersystem hingewiesen hat. Ichfinde, das sollten wir ernst nehmen. Die OECD hat ange-mahnt, dass in Deutschland ein ausgewogenes, sozialinklusives und umweltfreundliches langfristiges Wachs-tum die Zielvorgabe sein sollte. Das sehe ich auch alsAufforderung an uns im Parlament, für eine sozialökolo-gische Transformation im Steuersystem zu sorgen.Hervorzuheben ist hierbei auch, dass von der OECDSteuervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitä-ten negativ vermerkt wurden. In diesem Zusammenhangfinde ich es gut, dass Bundesminister Sigmar Gabriel dasschon aufgegriffen hat und die umweltschädlichenDienstwagenvergünstigungen unter die Lupe nehmenmöchte.
Zum Schluss noch ganz kurz: Eine sehr große He-rausforderung – das ist ein alter Hut; aber die Frage, wiewir damit umgehen, ist nach wie vor ungelöst – ist derRebound-Effekt. Wir alle wissen: Nach Energieeinspar-erfolgen kommt es meist zu einem gesteigertenVerbrauch. Ganz klar muss sein, dass es hier eine Ausge-wogenheit geben muss zwischen Energiepreisen undEnergieeffizienzgewinnen. Die Effekte der beiden Kom-ponenten müssen sich die Waage halten, müssen sichausgleichen, sodass sich als Endwirkung von Energie-einsparmaßnahmen und –effizienzmaßnahmen tatsäch-lich ein Erfolg erzielen lässt.
Vielleicht noch ein letzter Schlusssatz, wenn mir daserlaubt ist. – Ich möchte noch eine Brücke zu den drei Eder Energiewende schlagen. Energieeffizienz und Ener-gieeinsparung, das ist im Kontext der Energiewende zusehen. Die Energiewende gibt uns eine Chance. Das ha-ben wir auch in der Regierungserklärung von AngelaMerkel gestern gehört, in der auf den Erfolg beim Aus-bau der erneuerbaren Energien im Stromsektor – 25 Pro-zent – hingewiesen wurde. Hier geht es darum, dass sicheine daran aktiv beteiligte Bevölkerung dessen bewusstwird. Nur eine aktiv beteiligte Bevölkerung hat die Mög-lichkeit, Know-how zu sammeln und die Initiativen unddie Motivation zu entwickeln, um auch im Energieeffizi-enzbereich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.Auf dieser Grundlage bitte ich uns alle, uns diesemwichtigen Thema erneut zu widmen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Julia Verlinden
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Heute ist ein schlechter Tag für denKlimaschutz und auch für die Energiewende. Es ist einschlechter Tag für wirtschaftliche Innovationen inDeutschland. Denn heute ist der Stichtag, zu dem dieEU-Energieeffizienzrichtlinie hätte umgesetzt werdenmüssen.
Doch außer Sonntagsreden hat die Bundesregierungnichts vorzuweisen. Ich sage Ihnen: Sie hätten schonlängst handeln müssen.Die von der Bundesregierung eingesetzte Experten-kommission schreibt in ihrer Stellungnahme zum Ener-giewende-Monitoringbericht, dass zwei Drittel der CO2-Minderung über die Energieeinsparung erreicht werdenmüssen. In einer Befragung im Rahmen des Eurobaro-meters sagen über 90 Prozent der Europäerinnen und
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3367
Dr. Julia Verlinden
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Europäer, dass die Regierungen Energieeffizienzmaß-nahmen unterstützen sollten. Leider scheint diese Er-kenntnis immer noch nicht bei Ihnen angekommen zusein, Frau Zypries.Die Bundesregierung brüstet sich ja gerne damit, dassDeutschland Effizienzweltmeister sei. Doch den Welt-meistertitel kann Deutschland nur verteidigen, wenn dieRegierung jetzt nicht die Füße hochlegt.
Weltmeisterschaften kann man eben nur mit kontinuier-lichem Training, klugen Strategien und schneller Re-aktion gewinnen.
Beim Thema Effizienz – das haben schon viele Vor-redner gesagt – würden so viele Akteure profitieren: dieUnternehmen, die Effizienztechniken entwickeln, unddas Handwerk, zum Beispiel bei der energetischen Ge-bäudesanierung, die schon angesprochen wurde, undauch bei der Installation von Hocheffizienztechnologiengerade in den kleinen und mittelständischen Betrieben.Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie dieKommunen, die unter den hohen Energiekosten leiden,sie alle würden von einer ambitionierten Energieeffizi-enzpolitik profitieren. Deshalb verlange ich das jetzt vonIhnen.
Bis 2020 könnten laut dem Deutschen Institut fürWirtschaftsforschung 150 000 neue Jobs durch Energie-effizienz geschaffen werden. Zusätzlich würden jährlich45 Millionen Tonnen CO2 vermieden und rund 10 Mil-liarden Euro Energiekosten eingespart.Während die Europäische Union den Zieleinlauf fürdas Energiesparwettrennen heute schon schließt – heuteist die Deadline –, ist Deutschland noch nicht einmal los-gelaufen. Herr Gabriel hat den Startschuss nicht gehörtund setzt damit leichtfertig die eigenen Energiewende-ziele aufs Spiel. Die Große Koalition bremst also denKlimaschutz aus. Obendrein riskiert die Regierung einVertragsverletzungsverfahren aus Brüssel wegen Untä-tigkeit beim Energiesparen.
Dabei ist doch klar: Je früher wir in Energiespartech-nik und Effizienz investieren, desto höher fällt am Endedie Dividende aus, desto weniger müssen Haushalte undIndustrie für teure Energieimporte bezahlen. Deswegenist es grob fahrlässig, wenn die Energieeffizienzrichtliniejetzt nicht zügig umgesetzt wird und wir keine vernünf-tige Energieeffizienzpolitik von Ihnen bekommen.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Durz
von der CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wiralle in diesem Hause wollen die Klimaschutzziele errei-chen. Darüber herrscht Einigkeit. Daher bekennen wiruns ausdrücklich zum 20-20-20-Ziel in den BereichenTreibhausgasreduktion, Ausbau der erneuerbaren Ener-gien und Energieeffizienz.Der Verpflichtung, in Deutschland die Effizienz um20 Prozent zu steigern, kommt dabei eine ganz beson-dere Bedeutung zu. Auch wenn beim Thema Energie-wende im Fokus der öffentlichen Diskussion seit langemund aktuell im Besonderen der Ausbau der erneuerbarenEnergien steht, so wird bei Betrachtung der Energiever-brauchsstruktur in Deutschland deutlich, dass Stromeben nur ein Fünftel ausmacht. Einen größeren Anteil anEnergie, nämlich ein Drittel, verbrauchen wir für Ver-kehr; den größten Anteil, nämlich die Hälfte, macht dieWärme aus. Damit wird deutlich, welche Bedeutung derEnergieeffizienz zukommt, aber auch, wie vielschichtigdas Thema ist.Andererseits sind die Einsparpotenziale riesig. Lauteiner Studie des Fraunhofer-Instituts bietet sich EU-weitein wirtschaftliches Einsparpotenzial von 41 Prozent bis2030. Insofern verstehe ich den Ansatz der zwei Vorla-gen, die wir heute beraten, als Chance, die Bedeutungder Energieeffizienz zu bekräftigen und in einer Phase,in der die Novelle des EEG das alles beherrschendeThema der Energiepolitik in unseren Sitzungen und Ge-sprächen sowie in der öffentlichen Wahrnehmung ist,darzustellen, welche Bedeutung Effizienzsteigerung undEinsparungen haben bzw. bekommen müssen.
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Wirt-schaft, öffentliche Hand und private Verbraucher deut-lich mehr als bisher zu Energieeffizienzmaßnahmen mo-tiviert werden. Die Fragen, die wir uns in diesemZusammenhang immer wieder stellen sollten, sind: Wieschaffen wir es, das Thema Energieeffizienz besser inden Köpfen der Menschen zu verankern? Wie setzen wirAnreize, vor allem solche, die finanzierbar sind?Mit der Energiewende geht Deutschland einen Weg,den kein anderes Land der Welt einschlägt. Klimaschutzdarf aber an Ländergrenzen nicht haltmachen, sondernmuss gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarnund in enger Abstimmung umgesetzt werden. Deshalbist es so wichtig, dass die Energieeffizienzmaßnahmenauf europäischer Ebene angegangen werden. Deshalb istdie europäische Energieeffizienzrichtlinie auch der rich-tige Weg.
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3368 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Hansjörg Durz
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Allerdings lässt sich die Umsetzung der Energieeffi-zienzrichtlinie nicht wie eine Checkliste stur nachSchema F abhandeln. Es handelt sich um eine Richtlinie,die ein sehr breites Spektrum energiepolitischer Berei-che betrifft, deren Umsetzung in nationales Recht durchunterschiedliche Normen geregelt wird. Ich bin mir si-cher, dass die Bundesregierung intensiv daran arbeitet,die Richtlinie so umzusetzen, dass die nationalen undeuropäisch verabredeten Ziele auch erreicht werden kön-nen. Aber dies geschieht nicht anhand eines einzigen na-tionalen Gesetzes, sondern durch ein ganzes Bündel anMaßnahmen. Die Richtlinie sieht eine solche alternativeVorgehensweise ausdrücklich vor, was wir begrüßen.Die Einführung von Einsparverpflichtungssystemen,wie es die Richtlinie auch ermöglicht, ist für uns defini-tiv keine Lösung. Wir dürfen nicht riskieren, dass inKonsequenz der Umsetzung der EED etwa die Energie-preise weiter steigen oder mehr Bürokratie aufgebautwird. Wir wollen vor allem kein System, das auf Zwangoder Bevormundung basiert. Statt starrer Vorgaben brau-chen wir flexible Lösungen.Die Branche für Energieeffizienzprodukte und -dienst-leistungen in Deutschland hat sich enorm entwickelt undverzeichnet einen starken Zuwachs. Ein Umsatz von162 Milliarden Euro und die Tatsache, dass dort800 000 Menschen tätig sind, verdeutlichen das Poten-zial, welches das Thema Energieeffizienz auch unterwirtschaftlichen Gesichtspunkten hat.Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung nimmt unserheimisches Handwerk ein; das ist bereits erwähnt wor-den. Nicht nur große Konzerne, sondern insbesonderedie kleinen und mittelständischen Betriebe haben sichdiesem Thema verschrieben. Bei jedem Unternehmens-besuch in meinem Wahlkreis erlebe ich, wie sehr diesesThema im unternehmerischen Bewusstsein an Bedeu-tung gewonnen hat. Allein aufgrund der Entwicklungder Energiekosten ist es für jedes Unternehmen unerläss-lich, die Effizienz des Energieverbrauchs zu steigern.Dabei wird immer auch deutlich, dass es nicht die Lö-sung gibt, sondern ganz individuelle Ansätze, auf das je-weilige Unternehmen zugeschnitten. So wird in der Pra-xis immer wieder deutlich, warum in DeutschlandErstaunliches gelungen ist: Während die Wirtschaftsleis-tung in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zu-gelegt hat, ist der Energieverbrauch gleichzeitig gesun-ken.Aber auch in den Privathaushalten ist das Thema Effi-zienz längst angekommen, weil uns allen klar ist, dasswir in diesem Bereich deutlich mehr tun müssen. Fast90 Prozent des Energieverbrauchs eines privaten Haus-haltes in Deutschland werden für Heizung und Warm-wasser verwendet. Hier besteht ein riesiges Einspar-potenzial, das durch bessere Dämmung und effizientereHeizungen gehoben werden kann. Wie können wir dieMenschen motivieren, dies zu tun? Die Politik hat zual-lererst die Aufgabe, zu informieren und aufzuklären so-wie ein Bewusstsein für Effizienz und Energieeinspa-rung zu schaffen.Es entspricht dabei unserem Gesellschaftsbild, diesesBewusstsein nicht durch Zwang oder durch von oben ge-steuerte Auflagen zu schärfen, sondern durch Anreize.Die Energieeffizienzrichtlinie lässt neben den genanntenEnergieeinsparverpflichtungssystemen den Mitgliedstaa-ten auch die Möglichkeit, die Zielvorgaben durch alter-native Maßnahmen zu erreichen. Der von uns gewähltemarktorientierte Ansatz ist sicher der schwierigere, aberder richtige.
– Das machen wir. – Mit einem vielfältigen Maßnah-menmix sorgen wir für Aufmerksamkeit und Sensibili-sierung, Information und Motivation, setzen aber auchVorhaben zu Beratung, Finanzierung und Förderung um.Wir werden an der Politik der Anreize festhalten undbereits bestehende und bewährte Fördersysteme voran-treiben, so wie wir es im Koalitionsvertrag festgeschrie-ben haben. So wollen wir zum Beispiel die Mittel für dasKfW-Programm zur energetischen Gebäudesanierungaufstocken und das Programm verstetigen und deutlichvereinfachen.Allein das CO2-Gebäudesanierungsprogramm 2012bis 2014 ist ein bedeutender Beitrag zur Steigerung derEnergieeffizienz. Schon jetzt bietet es Unternehmen undprivaten Haushalten vielfältige Möglichkeiten, Unter-stützung bei der Umsetzung von Energieeffizienzmaß-nahmen zu erhalten. Wir müssen die Maßnahmen aberauch ausbauen und verstetigen. Wir müssen auch allesdaransetzen, die schon jetzt vorhandenen Mittel undMöglichkeiten noch besser zu kommunizieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,Sie kritisieren, dass die Richtlinie noch nicht fristgerechtumgesetzt ist. Das ist nachvollziehbar, Ihr gutes Rechtund letztlich auch die Aufgabe der Opposition. Entschei-dend ist aber vor allem, was bis 2020 gegenüber 2008konkret umgesetzt ist.
Das ist schon heute einiges – zugegeben: noch nicht aus-reichend –, hätte aber mit Ihrer Unterstützung bereits inder letzten Legislaturperiode deutlich mehr sein können.Ich denke da an das Scheitern der steuerlichen Förde-rung der energetischen Gebäudesanierung im Bundesrat.
Energieeffizienz ist eine Schlüsselfrage im Rahmender Energiewende. Wir müssen hier unsere gemeinsa-men Anstrengungen deutlich verstärken. Ich bin ge-spannt auf die Vorschläge des Bundeswirtschaftsminis-ters zur Umsetzung der Richtlinie, die uns sicher baldvorliegen werden.Vielen Dank.
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Als nächster Redner hat der Kollege Carsten Müller
von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Debatte hat eines gezeigt: Was das Ziel ansich angeht, sind wir hier im Hause eng beieinander; al-lerdings gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungendarüber, wie man das Ziel konkret und am besten errei-chen kann.Ich persönlich begrüße es beispielsweise ausdrück-lich, dass wir das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020auf den Weg bringen und damit ein fest anvisiertes Zielerreichen wollen. Ich halte es auch für einen wesentli-chen Baustein, dass es 2016, darauf aufbauend, einen na-tionalen Klimaschutzplan 2050 geben wird, in dem dieLangfristziele festgeschrieben werden sollen, zum Bei-spiel – ein kleiner Ausblick –, dass wir bis 2050 dieTreibhausgasemissionen um bis zu 95 Prozent abgesenktsehen wollen.Der Beratungsprozess zu diesem ambitionierten Pro-gramm, auch über die langfristigen Ziele, läuft. Ich binmir ziemlich sicher, dass die Vorschläge, die die Grünensowohl in ihrem heute eingebrachten Antrag als auch inihrem heute eingebrachten Gesetzentwurf gemacht ha-ben, zum Teil berücksichtigt werden können. Auf jedenFall werden sie die Diskussion beleben.Wir sind uns Gott sei Dank völlig einig darüber, dasswir die Treibhausgasemissionen absenken und erneuer-bare Energien ausbauen wollen. Verschiedentlich hatmich die Diskussion leider an eine vorweggenommeneEEG-Debatte erinnert. Aber, ehrlich gesagt, das ist fürdie Debatte über die Energieeffizienz und für die Fokus-sierung auf das wichtige Thema der Energieeffizienznicht immer hilfreich.Wir haben auch weitgehende Einigkeit darüber er-zielt, dass die Energieeffizienz gesteigert werden muss.Wir brauchen hierzu – und das ist der CDU/CSU-Frak-tion besonders wichtig – ein eigenständiges verpflichten-des Ziel, nämlich eine Verbesserung der Energieeffizienzum 40 Prozent bis zum Jahr 2030.Dass das Thema für die CDU/CSU-Fraktion nicht nurein Lippenbekenntnis ist, zeigt sich beispielsweise daran,dass die Unionsfraktion hierzu einen eigenen Arbeitskreisgegründet hat, der vor einigen wenigen Wochen mitdurchaus ambitionierten Zielen an die Öffentlichkeit ge-treten ist und – was mich besonders freut – eine außeror-dentlich belebende Wirkung auf die BundesministerinHendricks gehabt hat, die sich relativ schnell, daran ori-entierend, neu positioniert hat.An dieser Stelle möchte ich ein ausdrückliches Dan-keschön an die Bundesregierung richten, verbunden mitdem Zuruf an Herrn Gabriel und an Frau Hendricks, zudiesen ambitionierten Zielen, über die wir hier Einigkeiterzielen, auf EU-Ebene kluge Verhandlungen zu führenund sie im Ergebnis durchzusetzen.Meine Damen und Herren, fest steht: Wirksamer Kli-maschutz gelingt nur, wenn wir der Energieverschwen-dung Einhalt gebieten. Dieser Tage passiert auf diesemGebiet einiges Bemerkenswertes – ich sehe das nicht an-nähernd so schwarz wie meine Kollegin Verlinden –,weil wir beispielsweise nicht nur darüber diskutieren,welche Menge an Geld wir dafür vorsehen, sondern ebenauch darüber, wie wir dieses Geld effizient einsetzen. Ichfinde es gut, dass, nachdem beispielsweise der VKU, dieDENEFF und auch der BUND schon vor einigen Jahrenwettbewerbliche Modelle im Bereich der Energieeffi-zienz in die Diskussion gebracht haben, mittlerweile, inder letzten Woche, auch die dena diesen von ihr einst-mals sehr kritisierten Weg als richtig erkannt hat. Ichglaube, das hat eine enorm belebende Wirkung auf dieAnstrengungen, die wir unternehmen wollen.Die Anstrengungen sind erheblich. Bis 2020 müssenwir noch 1 500 Petajoule einsparen, um der EU-Energie-effizienzrichtlinie Rechnung tragen zu können. Dafürbrauchen wir mehr Anstrengungen. Es ist in den Vorre-den schon eine ganze Menge Richtiges erwähnt worden.Wir müssen das also ganzheitlich in Angriff nehmen.Wir brauchen den Blick auf die Energiewirtschaft: Wieerzeugt sie Energie, wie transportiert sie sie? Wir müs-sen der Industrie Anreize zur Energieeffizienz geben.Gewerbe und Handel sind angesprochen worden, dieLandwirtschaft ist eine wichtige Säule, die wir nicht ausdem Blick verlieren dürfen. Der Verkehr und die priva-ten Haushalte haben hier zum Teil Erwähnung gefunden.Deswegen – ich habe es eben erwähnt – haben wir uns inder Unionsfraktion intensiv mit diesem Thema auseinan-dergesetzt.Wir brauchen Ziele und Anreize – das hat mein Vor-redner Durz richtigerweise gesagt –, beispielsweise fürHausbesitzer und Unternehmer. Wir haben einen ganzenStrauß von Maßnahmen, die wir kurzfristig umsetzenoder ausbauen wollen: Wir wollen die KfW-Mittel fürdie energetische Gebäudesanierung aufstocken, versteti-gen und Investitionssicherheit geben sowie energetischeInvestitionen der Haus- und Eigenheimbesitzer steuer-lich fördern – ein leider in der letzten Legislaturperiodenicht zum Erfolg geführtes Projekt. Wir brauchen einenaussagefähigen Energieausweis; auch da gibt es im Mo-ment konkrete Überlegungen. Wir müssen darauf achten– da bin ich zuversichtlich –, dass wir die aus meinerSicht ganz wichtige Kraft-Wärme-Kopplung zum Bei-spiel im Rahmen der EEG-Novelle nicht verunmögli-chen. Wir müssen – das hat der Kollege Schwaberichtigerweise angesprochen – dazu kommen, dass for-mulierte Energieeffizienzanforderungen an die Industrieschließlich auch überprüft und nachgehalten werden.Das ist ein wichtiger Baustein. Da sind wir uns Gott seiDank in diesem Haus auch weitgehend einig.Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschlie-ßend noch ein Blick auf einige ganz wesentliche Punkte.Wenn wir uns über Klimaschutz und Energieeffizienz-politik unterhalten, dann sprechen wir immer auch überWirtschaftspolitik. Es arbeiten bereits heute 800 000 Be-schäftigte in der Energieeffizienzbranche in Deutsch-land, stark bzw. überdurchschnittlich aufwachsend. DieProdukte, die diese 800 000 Menschen herstellen, kön-
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3370 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Carsten Müller
(C)
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nen zum Exportschlager werden, sind es zum Teil auchschon.Ein wichtiger Punkt, der zu meiner Überraschung indieser Diskussion noch nicht angesprochen worden ist,ist, dass uns Energieeffizienz und das Einsparen vonEnergie unabhängiger von Energieimporten machen.Das berührt nicht nur die Diskussion um Gasimporte ausRussland, sondern es gilt generell, weil wir das Geld, daswir jetzt für die Energiebeschaffung einsetzen, viel sinn-voller im örtlichen Handwerk einsetzen könnten.
Wenngleich heute dem Antrag der Grünen und demGesetzentwurf wegen verschiedener Details die Zustim-mung versagt bleiben muss,
so hat doch die bisherige Diskussion und insbesonderedie Nachsichtigkeit der Frau Präsidentin bei leichterÜberschreitung der Redezeiten gezeigt, dass es einewichtige Debatte war und dass wir uns ganz wesentlicheinig sind. Ich erinnere mich insbesondere daran – unddas mit Freude; dafür nutze ich die letzte Überschreitungder Redezeit gerne –, dass sich Vertreter aller Fraktionendarauf verständigt haben, dem Thema Energieeffizienzeine besondere Bedeutung dadurch zu verleihen, dass eseinen Parlamentskreis geben wird. Ich lade Sie herzlichein, auch im Namen der Vertreter anderer Fraktionen,sich daran zu beteiligen.Vielen lieben Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ichdie Debatte und bitte, die Nachsichtigkeit der Präsiden-tin jetzt nicht für alle weiteren Debatten einzufordern.Aber es ist richtig: Es ist wirklich eine sehr wichtige De-batte, die wir heute miteinander geführt haben.Ich komme jetzt zu der interfraktionell vorgeschlage-nen Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen18/1612 und 18/1619 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 jauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 9. September 2013 zwischender Bundesrepublik Deutschland und derRepublik der Philippinen zur Vermeidungder Doppelbesteuerung auf dem Gebiet derSteuern vom Einkommen und vom VermögenDrucksache 18/1568Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demLuftverkehrsabkommen vom 25. und 30. Ap-ril 2007 zwischen den Vereinigten Staaten vonAmerika einerseits und der EuropäischenGemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten an-
Drucksache 18/1569Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demEuropa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommenvom 15. Dezember 2010 zwischen der Euro-päischen Union und ihren Mitgliedstaaten ei-nerseits und dem Haschemitischen König-
Drucksache 18/1570Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 26. Juni 2012 zwischen derEuropäischen Union und ihren Mitgliedstaa-ten und der Republik Moldau über den Ge-
Drucksache 18/1571Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re-form der Besonderen Ausgleichsregelung fürstromkosten- und handelsintensive Unterneh-menDrucksache 18/1572Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3371
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Ausschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des UmweltinformationsgesetzesDrucksache 18/1585Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutzg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenCornelia Möhring, Birgit Wöllert, SabineZimmermann , weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEZukunft der Hebammen und Entbindungs-pfleger sichern – Finanzielle Sicherheit undein neues Berufsbild schaffenDrucksache 18/1483Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendh) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEVerhandlungen über die Wirtschaftspartner-schaftsabkommen – Neustart ohne Drohun-gen und FristenDrucksache 18/1615Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unioni) Beratung des Antrags der AbgeordnetenCornelia Möhring, Kathrin Vogler, SabineZimmermann , weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEBundestagsmehrheit nutzen – Pille danachjetzt aus der Rezeptpflicht entlassenDrucksache 18/1617Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendj) Unterrichtung durch die Nationale Stelle zurVerhütung von FolterJahresbericht 2013 der Bundesstelle und derLänderkommissionDrucksache 18/1178Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-einfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 h auf.Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 33 a auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 2. Dezember2010 zwischen der Europäischen Union undihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgienandererseits über den Gemeinsamen Luftver-
Drucksache 18/1224Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/1641Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/1641, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 18/1224 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen, so-weit ich das sehe. Wer stimmt dagegen? – Einige Mit-glieder der Linken.
Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist der Gesetzent-wurf damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Werstimmt dagegen? – Das ist die Fraktion der Linken. Werenthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurfmit den Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/DieGrünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ange-nommen worden.Ich komme zum Tagesordnungspunkt 33 b:Beratung des Antrags der Abgeordneten RichardPitterle, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEzu dem Vorschlag für eine Richtlinie desEuropäischen Parlaments und des Rates überGesellschaften mit beschränkter Haftung miteinem einzigen GesellschafterKOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14
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3372 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro-tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon
Umgehung der Unternehmensmitbestimmungbei Ein-Personen-GmbH verhindernDrucksache 18/1618Wer stimmt für diesen Antrag? – Das ist die FraktionDie Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koali-tionsfraktionen. Wer enthält sich? – Das ist Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist dieser Antrag mit den Stimmender Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 c bis33 h, den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses.Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 33 c auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 54 zu PetitionenDrucksache 18/1476Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Werstimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auchniemand. Damit ist die Sammelübersicht 54 mit denStimmen aller Fraktionen angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 d auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 55 zu PetitionenDrucksache 18/1477Wer stimmt dafür? – Wiederum alle Fraktionen. Werstimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auchniemand. Damit ist die Sammelübersicht 55 ebenfallsmit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 e auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 56 zu PetitionenDrucksache 18/1478Wer stimmt hierfür? – Die Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Wer enthältsich? – Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammel-übersicht 56 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenangenommen worden.Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 f auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 57 zu PetitionenDrucksache 18/1479Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Wer stimmt da-gegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand.Damit ist die Sammelübersicht 57 mit den Stimmen allerFraktionen angenommen worden.Tagesordnungspunkt 33 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 58 zu PetitionenDrucksache 18/1480Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktionenund Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – DieFraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damitist die Sammelübersicht 58 mit den Stimmen der Koali-tion und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen wor-den.Tagesordnungspunkt 33 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 59 zu PetitionenDrucksache 18/1481Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und dieFraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damitist die Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalitionangenommen worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Weiterentwicklung derFinanzstruktur und der Qualität in der ge-
Drucksachen 18/1307, 18/1579Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
Drucksache 18/1657
Drucksache 18/1660b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten HaraldWeinberg, Sabine Zimmermann ,Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion DIE LINKEEinführung des neuen Entgeltsystems inder Psychiatrie stoppen– zu dem Antrag der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENUnabhängige Patientenberatung stärkenund ausbauenDrucksachen 18/557, 18/574, 18/1657
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3373
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatStaatssekretärin Annette Widmann-Mauz von der Bun-desregierung das Wort.
A
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklungder Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichenKrankenversicherung gehen wir drei wichtige Ziele fürunser Gesundheitswesen an, die wir im Koalitionsver-trag festgehalten haben: Sicherheit für die Versorgung,Stärkung der Qualität und die Orientierung an den Inte-ressen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten.Diese Ziele bedingen einander, und keines ist ohne dasandere wirklich zu erreichen. Das will ich an diesem Ge-setzentwurf und wenigen Regelungsbereichen diesesGesetzes zeigen.Wir stellen die Finanzierung der gesetzlichen Kran-kenversicherung auf eine dauerhaft solide Grundlage.
Wir machen die Finanzstruktur der gesetzlichen Kran-kenversicherung zukunftsfest, indem wir einen allgemei-nen paritätisch finanzierten Beitragssatz von 7,3 Prozentfür Arbeitgeber und für Arbeitnehmer gesetzlich fest-schreiben. Das ist kein Selbstzweck. Wir befördern da-mit eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt; dennmehr Arbeit und sichere Arbeitsplätze bedeuten mehrBeiträge und damit mehr Sicherheit, im Krankheitsfalleine gute medizinische Versorgung erhalten zu können.
Wir legen fest, dass die Krankenkassen ihren zusätzli-chen Finanzierungsbedarf über kassenindividuelle ein-kommensabhängige prozentuale Zusatzbeiträge deckenkönnen.
Die Mitglieder haben bei der erstmaligen Einführungoder bei einer späteren Erhöhung des Zusatzbeitrags dasRecht, die Krankenkasse zu wechseln. Sie werden in Zu-kunft rechtzeitig und in einem separaten Schreiben aufdie Beitragsänderung und ihr Sonderkündigungsrechthingewiesen. Sie erhalten darüber hinaus Zugang zuBeitragsvergleichen der gesetzlichen Krankenkassen.Wir gehen im Übrigen davon aus, dass im kommen-den Jahr bis zu 20 Millionen Versicherte finanziellentlastet werden können. Die Erhebung von Zusatzbei-trägen erfolgt für die Krankenkassen über einen vollstän-digen Einkommensausgleich. Damit sorgen wir für faireWettbewerbsbedingungen zwischen den Kassen, und wirvermeiden Fehlanreize wie zum Beispiel die Bevorzu-gung von Besserverdienenden im Wettbewerb.Durch diese neue Struktur mit wirksamen Informa-tionspflichten der Kassen, Transparenz für die Versicher-ten und dem Recht zum Krankenkassenwechsel setzenwir den Rahmen so, dass die Krankenkassen ihre Bei-träge möglichst gering halten, maßvoll und effizientwirtschaften, aber zugleich ein großes Interesse an hoch-wertigen Leistungen, guten Versorgungsstrukturen undgutem Service haben. Das befördert den Qualitätswett-bewerb zwischen den Kassen,
und genau das wollen wir.
Heute setzen wir einen weiteren überaus wichtigenEckstein für die Zukunft unseres Gesundheitswesens,der in der Fachwelt und sogar über Parteigrenzen hinwegauf breite Zustimmung stößt. Mit der sehr zügigen Ein-richtung eines unabhängigen wissenschaftlichen Institutsfür Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheits-wesen richten wir die medizinische Versorgung nochstärker grundsätzlich an Qualitätsaspekten und den Be-dürfnissen der Patientinnen und Patienten aus. In diesemInstitut werden unter anderem Instrumente und Verfah-ren entwickelt werden, die zur Messung und zur Darstel-lung von Qualität in der ambulanten und der stationärenVersorgung geeignet und sachgerecht sind. Damit erhal-ten die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, insbe-sondere in der Selbstverwaltung, belastbare Qualitätskri-terien, die sie zum Beispiel bei der Krankenhausplanungoder bei der Vergütung von Leistungen einsetzen kön-nen. Gleichzeitig schaffen sie mehr Transparenz über dieQualität der Versorgung und bieten damit Patientinnenund Patienten verständlichere Informationen an, ja siehelfen ihnen zum Beispiel auch bei der Entscheidung aufder Suche nach einem guten Krankenhaus. Das ist einesehr anspruchsvolle und schwierige Aufgabe, aber sie istdes Schweißes der Edlen wert; denn Qualität ist einwichtiger Parameter für unser Gesundheitswesen.
Qualität geht nicht ohne oder gar gegen diejenigen,die für die gesundheitliche Versorgung im Alltag stehenund die die medizinischen und pflegerischen Leistungenerbringen. Deshalb wird dieses vom Gemeinsamen Bun-desausschuss als oberstes Organ der gemeinsamenSelbstverwaltung zu gründende Institut auch von einerStiftung getragen. Die Patienteninteressen werden beider inhaltlichen Arbeit des Qualitätssicherungsinstituts,also bei der Entwicklung der Verfahren und der Instru-mente zur Qualitätssicherung, durch ein Mitberatungs-recht der Patientenvertretung berücksichtigt.
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3374 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
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Zu einer verbesserten Patientenorientierung gehörtfür uns auch die Stärkung und Weiterentwicklung derunabhängigen Patientenberatung. Insbesondere mit derAusweitung des telefonischen Serviceangebots wirddiese Beratungs- und Verbraucherschutzeinrichtung inZukunft einer noch deutlich größeren Zahl von Patien-tinnen und Patienten zugänglich werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, neben diesengrundsätzlichen Maßnahmen steht seit Wochen und Mo-naten die Sicherstellung der geburtshilflichen Versorgungdurch Hebammen und damit das Recht der Schwangerenauf freie Wahl des Geburtsorts ganz oben auf der ge-sundheitspolitischen Themenliste. Wir sind sehr froh,dass wir in diesem Gesetz eine Regelung gefunden ha-ben, durch die die Hebammen im Hinblick auf steigendePrämien für ihre Berufshaftpflichtversicherung dauer-haft finanziell entlastet werden können. Von dem befris-teten Vergütungszuschlag werden Hebammen profitie-ren, die typischerweise nur eine geringe Anzahl vonGeburten betreuen, also Hebammen, die Hausgeburtenbetreuen, freiberuflich in Geburtshäusern oder als Beleg-hebammen in der Eins-zu-eins-Betreuung tätig sind.Ab dem 1. Juli des nächsten Jahres wird es dann einendauerhaften Sicherstellungszuschlag geben, der generellHebammen hilft, die Haftpflichtprämie aufzubringen,die aufgrund zu geringer Geburtenzahlen durch die Prä-mien wirtschaftlich überfordert sind und die – das ist unssehr wichtig – die an sie gestellten Qualitätsanforderun-gen auch erfüllen. Auch damit ist das Thema für uns imÜbrigen noch nicht erledigt, sondern wir gehen weitere,langfristig wirksame Maßnahmen an. BundesministerGröhe hat zur Begrenzung der Prämiendynamik in die-sem Bereich einen Regressverzicht von Kranken- undPflegekassen zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlagwird jetzt innerhalb der Bundesressorts sorgfältig ge-prüft und weiter konkretisiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Ge-setz bringt unser Gesundheitswesen strukturell und qua-litativ weiter. Es bringt spürbare Verbesserungen für dieVersicherten und insbesondere für die Patientinnen undPatienten in unserem Land. Es bringt uns den drei gro-ßen Zielen der Großen Koalition in der Gesundheitspoli-tik deutlich näher: mehr Versorgungssicherheit, bessereQualität in der Versorgung und mehr Patientenorientie-rung.Ich danke am heutigen Tag den Kolleginnen und Kol-legen der Koalition und im Ausschuss, insbesondere denBerichterstattern, für die konstruktiven Beratungen imparlamentarischen Verfahren. Ich freue mich heute aufIhre Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetz.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat der Kollege Harald Weinberg von der Linken das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Das zentraleFinanzierungsgesetz zur gesetzlichen Krankenversiche-rung für diese Wahlperiode ist auf der Zielgeraden. Esmacht alles ein wenig anders, aber kaum etwas besser.Im Gegenteil: Gesetzlich Krankenversicherte werdensich auf Mehrkosten einstellen müssen. Sie zahlen zu-künftig mehr. Dagegen werden ihre Arbeitgeber nicht anden absehbar steigenden Kosten beteiligt. Das ist ganzklassische Umverteilung von unten nach oben. Das Ge-meine daran ist, dass kaum jemand wirklich versteht,wie genau ihm in die Taschen gegriffen wird.
Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert sichderzeit im Wesentlichen über einen bundesweit einheitli-chen Beitragssatz von 15,5 Prozent. Davon zahlen dieArbeitgeber 7,3 Prozent, die Versicherten 8,2 Prozent.Die Versicherten zahlen also jetzt schon 0,9 Prozentmehr.Die Bundesregierung wird nun den bundesweit ein-heitlichen Versichertenbeitrag wie auch den Arbeitge-berbeitrag bei 7,3 Prozent festschreiben; insgesamt14,6 Prozent. Damit fehlt den Krankenkassen Geld, dassie zur Versorgung brauchen. Das Geld müssen die ein-zelnen Kassen nun von den Versicherten verlangen. DieArbeitgeber zahlen nichts.Da bei dem momentanen Beitragssatz von 15,5 Pro-zent die Einnahmen und die Ausgaben in etwa gleichhoch sind, werden die Kassen von den Versicherten ei-nen Zusatzbeitrag in Höhe von durchschnittlich 0,9 Pro-zent verlangen müssen. Die Kassen haben dabei einenGestaltungsspielraum. Kassen, denen es gut geht, wer-den einen Zusatzbeitrag von weniger als 0,9 Prozent ver-langen.
Dazu ist ja gesagt worden, 20 Millionen Versicherteseien da sozusagen im Vorteil. Nach unserer Kenntnissind es nach wie vor sieben Kassen, die das angekündigthaben, davon nur eine große Versorgerkasse. Da kom-men keine 20 Millionen Versicherte zusammen.
Kassen, denen es durchschnittlich geht, werden so umdie 0,9 Prozent nehmen. Also, für die Versicherten än-dert sich im ersten Jahr erst einmal nichts. Kassen, denenes schlecht geht, werden mehr als 0,9 Prozent nehmenmüssen. Das heißt also, der Beitragssatz steigt. ImDurchschnitt zahlen zunächst alle gleich viel, es wirdnur von Anfang an zwischen den Kassen anders verteilt
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3375
Harald Weinberg
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sein. Das ist aber auch gewollt, denn diese Koalition willja – wie es gesagt wurde – den Preiswettbewerb zwi-schen den Kassen anheizen.Aber auch dieses „gleich viel“ wird sich bald ändern.In den vergangenen zehn Jahren sind die Einnahmen derKassen jährlich um 2 Prozent gestiegen, die Ausgabenjährlich um 3,7 Prozent. Damit stieg der Beitragssatz re-gelmäßig an. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dasssich das in der Zukunft ändern wird.Aber jetzt sind die Zusatzbeiträge die einzige Stell-schraube für die Kassen, um zukünftige Kostensteige-rungen auszugleichen. Die Versicherten werden allediese Kosten allein tragen müssen. Sie tragen also einenimmer größeren Anteil an den steigenden Kosten. Unddas geht richtig ins Geld.Derzeit zahlen die Versicherten durch den um0,9 Prozent höheren Beitragssatz jährlich etwa 10 Mil-liarden Euro mehr als die Arbeitgeber. Im Jahr 2020wird dieser Betrag auf 34 Milliarden Euro im Jahr ange-wachsen sein. In Summe werden die Versicherten bis2020 rund 150 Milliarden Euro mehr zahlen als die Ar-beitgeber. Das sind pro Beitragszahler durchschnittlich3 000 Euro.Begründet wird dies in unschöner TraditionSchröder’scher Agenda-Politik mit der notwendigenStabilisierung der Lohnnebenkosten zur Stärkung insbe-sondere der deutschen Exportindustrie. Einmal abgese-hen davon, dass jede Wechselkursschwankung einenweitaus größeren Einfluss auf die Kostensituation derUnternehmen hat, und einmal abgesehen davon, dassdiese Exportorientierung
zumindest ein Grund dafür ist, dass sich die Bankenkrisezur europäischen Wirtschaftskrise ausgeweitet hat, ist esein Raubzug durch die Geldbörsen derer mit kleinen undmittleren Einkommen, der da vorbereitet wird. Das hatweder etwas mit sozialdemokratischer noch mit christli-cher Politik zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Linke lehnt diese Politik ab, und deshalb lehnenwir auch dieses Gesetz ab, obwohl darin – neben derFinanzierung – im Omnibusverfahren auch einige posi-tive Regelungen getroffen werden. Es handelt sich hier-bei um Forderungen, die wir selbst seit langem erhobenhaben, denen wir eigentlich zustimmen würden und de-nen wir übrigens im Ausschuss auch zugestimmt haben.Dazu gehört zum Beispiel die Verschiebung der Entgelt-reform für psychiatrische Kliniken. Am Anfang derWahlperiode haben wir selbst einen Antrag eingebracht,der den Stopp dieses Entgeltsystems fordert, weil sichsonst die Versorgung psychisch kranker Menschenverschlechtern würde. Nachdem wir und diverse Fach-verbände Druck gemacht haben, verschiebt die Bundes-regierung nun die Einführung um zwei Jahre.
Wir sollten die zwei Jahre nutzen, um dieses Entgelt-system von Grund auf zu reformieren.
Dazu gehört auch die verbesserte und verlängerteFinanzierung der unabhängigen Patientenberatung, diejedem kostenlose Beratung in allen Fragen rund um dieKrankenversicherung und die Versorgung anbietet –
hier hat die Regierung unseren Vorschlag ja fast über-nommen –, und das gilt auch für die Sicherstellung derHebammenversorgung. Der würden wir ebenfalls gernzustimmen, auch wenn die Bundesregierung hier nureine kurzfristige Lösung in das Gesetz geschrieben hat,die nur bis 2016 halten wird. Aber diese ganzen durch-aus positiven Punkte schaffen nicht genügend Zucker-glasur, um die Linke dazu zu bringen, die bittere Pille ei-ner grundfalschen Finanzierungsreform zu schlucken.Deshalb werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Karl Lauterbach
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal: Die Umwandlung der kleinenKopfpauschalen in kassenindividuelle, prozentuale Zu-satzbeitragssätze ist ein Schritt in Richtung mehr Solida-rität in unserem Gesundheitssystem;
daran ändert auch Ihre Kritik nichts. Sie ist, wie gesagt,ein Schritt in Richtung mehr Solidarität. Ich möchtemich ausdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kolle-gen von der Union bedanken, dass sie diesen Schritt mituns gegangen sind. Er bedeutet den endgültigen Ab-schied von kleinen oder großen Kopfpauschalen. Das istein wichtiger Schritt. Das ist ein Schritt, den wir gemein-sam gegangen sind. Das ist ein Schritt, der sowohlchristlich als auch sozial und sozialdemokratisch ist.Zu dem von Ihnen vorgetragenen Kritikpunkt, HerrWeinberg, dass zunächst nur die Arbeitgeber entlastetwürden, die Arbeitnehmer aber nicht, muss ich sagen: Esist genau umgekehrt. Wenn Sie es also umgekehrt gesagthätten, wäre es richtig gewesen. Vielleicht geht es um20 Millionen Menschen, vielleicht auch um 18 Millio-nen Menschen. Eine andere Zahl haben Sie ja nicht ge-nannt. Die Zahl, die wir berechnet haben und die vonIhnen in keinem Dokument widerlegt wurde, ist also dieZahl, die unwidersprochen im Raum steht. DieMenschen, die entlastet werden, sind ausschließlich Ar-
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3376 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Karl Lauterbach
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beitnehmer. Arbeitgeber werden zunächst einmal nichtentlastet.
Daher ist es nicht so, wie Sie gesagt haben, sondern ge-nau umgekehrt. Wir entlasten zunächst einmal aus-schließlich die Arbeitnehmer.
Von einer Entlastung der Arbeitgeber ist keine Rede. Siehaben daher schlicht und ergreifend die Fakten falschdargestellt.
– Doch, es ist tatsächlich so. Zunächst einmal werdennur die Arbeitnehmer entlastet; daran ändert auch derZwischenruf von den Grünen nichts. Auch hier imPlenum muss das Faktische noch eine Rolle spielen. Esgibt keine einzige Kasse, die zum jetzigen Zeitpunkteine Belastung der Arbeitnehmer angekündigt hat. Esgibt aber zahlreiche Kassen, die eine Entlastung ange-kündigt haben.
– Das betrifft aber Millionen Versicherte.
Millionen Versicherte, die Arbeitnehmer sind, werdenentlastet. Kein Arbeitgeber wird entlastet, und keinArbeitnehmer wird belastet.
Daher ist das ein Schritt in die richtige Richtung, einSchritt in Richtung mehr Solidarität.
– Das ist kein Quatsch; das ist die Wahrheit.
Sie reden ohne Bezug zum Gesetz.
Das Gleiche gilt auch an einer anderen Stelle. Eswurde eben vorgetragen, demnächst gebe es nur nocheinen Preiswettbewerb. Durch das neu eingeführte Qua-litätsinstitut werden wir die Qualitätsunterschiede derKliniken und sogar der einzelnen Kassen und einzelnenmedizinischen Leistungen transparent machen. Das istder erste gewichtige Schritt in Richtung evidenzbasierterTransparenz und Qualitätskontrolle in unserem Gesund-heitssystem, wenn man von Zulassungs- und Erstat-tungsfragen einmal absieht. Somit ist das auch der ersterichtige Schritt in Richtung eines Qualitätswettbewerbsund weg vom Preiswettbewerb, den wir derzeit haben.Der Qualitätswettbewerb ist die einzige Begründung,weshalb wir keine Einheitskasse haben und weshalb wirüberhaupt einen Wettbewerb zwischen mehr als 130Krankenkassen haben wollen.
Wir wollen ausschließlich einen Qualitätswettbewerb,aber keinen Preiswettbewerb, meine Damen und Herren.
Es ist richtig, dass die SPD bei dieser Reform natür-lich nicht mit allem einverstanden sein kann. Sie ist einKompromiss. Aus meiner Sicht ist sie ein guter Kompro-miss, ein Kompromiss mit Augenmaß. Durch die Kom-bination der Stärkung des Qualitätswettbewerbs und derkurzfristigen Entlastung der Arbeitnehmer
schaffen wir Raum für die langfristig aus Sicht der SPDunbedingt notwendige Einführung einer Bürgerversiche-rung. Für die SPD bleibt es natürlich dabei: Unser lang-fristiges Ziel ist die Bürgerversicherung. Aber dieserKompromiss ist ein Kompromiss mit Augenmaß, einSchritt in die richtige Richtung, ein Schritt, der die Soli-darität in unserem Gesundheitssystem stärkt und nichtschwächt.Es wird die unabhängige Patientenberatung weiterausgebaut. Sie kann auf die Ergebnisse des neu einge-richteten Qualitätsinstituts zurückgreifen. Wir stärkendie Solidarelemente im Kernstück des Wettbewerbs, desRisikostrukturausgleichs. Wir werden den 15 Jahre langgeforderten – übrigens auch von Grünen und Linken ge-forderten – vollständigen Einkommensausgleich imRahmen des Risikostrukturausgleichs einführen. Dasführt zu einer Entlastung der Einkommensschwachenund der Krankenkassen, die viele Einkommensschwacheversichern, und ist ein wichtiger Schritt in RichtungSolidarität.Folgende Bemerkung sei mir erlaubt: Wir haben diebesonderen Anliegen der Arbeitslosen und der Empfän-ger von Sozialhilfeleistungen berücksichtigt, indem Zu-satzbeiträge von ihnen gar nicht erhoben werden. Daswäre eine Erwähnung wert gewesen – gerade von einerPartei wie der Linken –; denn wir haben hier auf die Zu-satzbeiträge derjenigen, die sie sich am wenigsten leistenkönnen, komplett verzichtet. Das halte ich für eine wich-tige Leistung und es darf nicht vergessen werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3377
Dr. Karl Lauterbach
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Somit ist zusammenzufassen: bessere Qualität, wich-tiger und richtiger Schritt in Richtung mehr Solidaritätund in Richtung eines Qualitätswettbewerbes, weg vomderzeitigen Preiswettbewerb, der das Gesundheitssystemnicht effizienter macht.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Klein-
Schmeink das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erneut konnten wir erleben, dass die Große
Koalition versucht hat, sich einen Gesetzentwurf, der
zutiefst ungerecht ist – im Wesentlichen soll nämlich der
einkommensunabhängige Zusatzbeitrag der CDU/CSU-
FDP-Koalition abgeschafft und dafür ein prozentualer
Zusatzbeitragssatz eingeführt werden, mit der Gemein-
samkeit, dass dieser Zusatzbeitrag alleine durch die Ver-
sicherten zu zahlen ist –, schönzureden.
Das wird nicht gelingen, weil es im Kern darum geht,
Zusatzlasten den Versicherten aufzubürden.
Harald Weinberg hat gerade vorgerechnet, was das
bedeutet. Ich nenne noch einmal die Zahlen: Im Kern
geht es darum, dass die Versicherten in den nächsten vier
Jahren jährlich 10 Milliarden Euro mehr tragen müssen.
Das ist der Kern des Gesetzentwurfes, der heute verab-
schiedet werden soll.
Karl Lauterbach hat sich sehr viel Mühe gegeben,
darum herumzureden: Das überzeugt nicht. Ich muss
ehrlich sagen: Man kann als Verhandlungsführer stolz
sein, wenn man meint, man hätte eine Kopfpauschale
ausgehebelt. Wenn man aber im Gegenzug akzeptieren
muss, dass die Versicherten sämtliche Lasten aufgrund
des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen tragen müs-
sen, kann man das nicht mehr sein. Das ist nicht gerecht
und nicht solidarisch, sondern eine einseitige Belastung
der Versicherten, und darüber kann man überhaupt nicht
hinwegreden.
Ich finde es auch perfide – Sie versuchen, ein Mäntel-
chen darum herumzuhängen –, dass darauf verwiesen
wird, dass die Versicherten jetzt auf einem Ver-
gleichsportal nachgucken können, welche Versicherung
aufgrund eines geringeren Zusatzbeitrages etwas billiger
ist. Das kann doch nicht die Lösung dafür sein. Es muss
doch darum gehen, dass wir zu einer solidarischen
Finanzierung zurückkehren. Mit Verlaub gesagt: Das
wäre einer Sozialdemokratie würdig! Aufgrund Ihrer
Niederlage im Verhandlungsprozess hätte ich mir an die-
ser Stelle durchaus ein bisschen mehr Demut gewünscht.
Ich komme nun zu dem anderen Teil des Gesetzent-
wurfes. Sie haben im Gesetzestext betont – die Staatsse-
kretärin hat das gerade noch einmal wiederholt –, es
ginge um eine solide und nachhaltige Finanzierung.
Nichts da! Jeder von uns hier im Saal weiß, dass wir spä-
testens in der nächsten Wahlperiode erneut über die
Finanzierung reden müssen, weil es in der Debatte und
auch gesellschaftlich natürlich nicht zu vermitteln ist,
dass die Belastungen durch Kostensteigerungen einseitig
nur den Versicherten aufgebürdet werden sollen. Sie
werden im Wahlkampf die Frage beantworten müssen,
ob es sein kann, dass jeder Versicherte eine Zusatzbelas-
tung von mehr als 2 bis 3 Prozent zu tragen hat, während
der Beitrag der Arbeitgeber eingefroren bleibt. Das wer-
den Sie der Gesellschaft nicht verkaufen können, und
natürlich werden wir in der nächsten Wahlperiode da-
rüber wieder diskutieren müssen.
Frau Klein-Schmeink, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler zu? – Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, FrauKollegin, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe einmalnachgeschaut, was die SPD in ihrem Wahlprogrammhierzu versprochen hat, und möchte gern Ihre Meinungdazu hören, inwieweit das umgesetzt wurde.
Die SPD schreibt in ihrem Programm:Wir wollen … die Solidarität zwischen den hohenund den niedrigen Einkommen stärken. Und Ar-beitgeber sollen wieder den gleichen Beitrag leistenwie Beschäftigte, die– und das Folgende ist fettgedruckt –tatsächliche Parität muss wiederhergestellt werden.Der nächste Satz lautet:Wir werden mehr Nachhaltigkeit durch die Einfüh-rung einer stetig ansteigenden Steuerfinanzierungerreichen.Können Sie uns vielleicht erklären, ob diese Anforde-rungen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und auchmit dem Haushalt, der uns für den Einzelplan 15 vor-liegt, eingehalten werden?
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Ich danke herzlich, liebe Kollegin, für diese Frage,weil die Antwort mir Gelegenheit gibt, mehr Zeit dafüraufzuwenden, auf Folgendes hinzuweisen:
Es ist in der Tat ein gemeinsames Anliegen dieser Oppo-sition und der SPD im letzten Wahlkampf gewesen,deutlich zu machen: Wir wollen zu einer paritätischenFinanzierung zurückkehren. – Genau dieses Ziel wirdmit diesem Gesetzentwurf in keiner Weise erreicht.
Im Gegenteil: Durch die Kürzung des Steuerzuschus-ses zum Gesundheitsfonds wird der Gang in die Zusatz-beiträge beschleunigt. Auch das wird dazu führen, dasses noch eher zu den ungerechten Zusatzbeiträgen kom-men wird. Genau so stellt es sich dar.
Kommen wir noch einmal zum Thema „solide undnachhaltige Finanzierung“. Es stellt sich die Frage: Müs-sen wir nicht tatsächlich zu einer nachhaltigen Finanzie-rung kommen? Genau das sollte mit der Bürgerversiche-rung erreicht werden. Mit der Bürgerversicherung hättenwir die Gelegenheit gehabt, alle einzubeziehen: sowohldie Besserverdienenden als auch die kleinen Selbststän-digen, die dadurch eine bessere Chance auf faire Bedin-gungen bei ihrer Krankenversicherung hätten.Auf der anderen Seite hätten wir die Möglichkeit ge-habt, andere Einkommensarten einzubeziehen. Das hättezu einer soliden, nachhaltigen und sicheren Finanzierungunserer ansteigenden Gesundheitskosten führen können.Genau das wäre der Weg, den wir hätten gehen müssen.Davon, liebe Sozialdemokratie, sind Sie weiter denn jeentfernt.
Ich komme zum letzten Teil. Ich habe leider nichtmehr genug Redezeit, um das Positive in diesem Gesetz-entwurf zu betonen. Uns ist es wichtig, dass es mit derUPD, der unabhängigen Patientenberatung, vorangehtund dass wir sie stärken. Uns ist es wichtig, dass wir zueiner wirklichen Psychiatriereform kommen.
Dazu gehört natürlich die Verlängerung der Options-phase im Psychiatrie-Entgeltsystem.
Das halten wir für richtig, und wir finden, dass Sie daden richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir haben mitunseren Anträgen gezeigt, wie weit das Ganze gehenmüsste. Da hoffen wir auf eine weitere Debatte.Ein letzter Satz zu den Hebammen. Auch da sind wirfroh, dass da etwas in die Gänge gekommen ist. Wir ha-ben leider in der letzten Wahlperiode erleben müssen,dass eine Problemlösung verschoben worden ist. Sie ge-hen dieses Problem an. Aber wir sind von einer nachhal-tigen Regelung noch immer weit entfernt. Die Hebam-men wissen zwar bis zum nächsten Jahr, wie esweitergeht. Aber die eigentliche Lösung der Haftpflicht-problematik im Gesundheitswesen steht noch immeraus. Auch das werden wir massiv einklagen und diesenDiskussionsprozess vorantreiben.Danke schön.
Als nächster Redner hat der Kollege Georg Nüßlein
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wirreden über die Finanzierung der gesetzlichen Kranken-versicherung nicht unter den üblichen Vorzeichen. Übli-cherweise wird über Leistungseinschränkungen undKostendämpfungen diskutiert. Wir haben hier die einma-lige Chance, über mehr Transparenz, mehr Wettbewerbund mehr Qualität bei der Versorgung zu reden. Ichstelle das deshalb an den Anfang meiner Rede, weil ichglaube: Das ist der eigentlich wichtige Aspekt.
Nun geben wir zu: Das geschieht unter dem Vorzei-chen einer guten Finanzlage, die einer guten Wirtschafts-und Beschäftigungslage geschuldet ist. Wir alle wissen,dass das nicht zwangsläufig so bleiben muss und dassnatürlich das Thema Kostenbewusstsein auf lange Sichtfür uns alle als Gesundheitspolitiker ganz entscheidendbleibt.Weil die Frau Kollegin Klein-Schmeink das ThemaKürzung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfondsangesprochen hat, will ich deutlich sagen: In der jetzigenSituation ist das vertretbar. Es ist insbesondere deshalbvertretbar, weil es keine Kürzungen bei den Zuweisun-gen an die Krankenkassen und mithin auch keine Leis-tungskürzungen geben wird. Ich bitte Sie deshalb drin-gend, die Patientinnen und Patienten nicht zuverunsichern.
Ich will unterstreichen, dass wir auch schon den um-gekehrten Weg gegangen sind. Der Bund ist sich seinerVerantwortung absolut bewusst. Wir haben in den Kri-senjahren 2009 und 2010 im Rahmen des Konjunktur-paketes II den Bundeszuschuss erhöht. Dazu habe ichkeine Kritik gehört, meine Damen und Herren. Ich willklarmachen, dass das keine Einbahnstraße ist und dassdieser Betrag wieder aufgefüllt wird. Deshalb wird der
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Dr. Georg Nüßlein
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Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds ab 2017 undüber das Jahr 2018 hinaus dauerhaft auf 14,5 MilliardenEuro erhöht, sodass wir wieder den Ausgleich schaffen.
Ein zentrales Thema der Vorredner der Oppositionwaren die paritätisch getragenen Versicherungsbeiträge.Frau Kollegin Klein-Schmeink hat mehr Demut einge-fordert. Diese hätte ich an ihrer Stelle selber. Denn dassdie Arbeitnehmer anteilig mehr bezahlen als die Arbeit-geber und der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird – auswohlüberlegten Gründen, nämlich weil es um Arbeits-plätze geht –, ist keine Erfindung dieser oder der vorher-gehenden Koalition. Das wurde vielmehr unter einer rot-grünen Bundesregierung eingeführt. Daran waren dieGrünen mit beteiligt.
Damals waren Sie der Auffassung, dass das der rich-tige Weg sei.
Sie haben nichts dazu gesagt, warum Sie der Meinungsind, dass das jetzt geändert werden sollte und es nichtmehr auf die Arbeitsplätze ankommt.Im Übrigen gehört zur Wahrheit auch, dass die Ar-beitgeber über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfallimmerhin rund 30 Milliarden Euro – das entspricht dreiBeitragssatzpunkten – zusätzlich zahlen. Das muss mander Vollständigkeit halber in diese Rechnung mit einbe-ziehen.
– Die erste Errungenschaft, die es überhaupt gegebenhat, wie Sie sagen, haben Sie dann offenkundig mit auf-gekündigt. Es ist schon ein bisschen Demut nötig, wennman so etwas in diesem Zusammenhang vorträgt.Wir gehen einen anderen Weg. Wir stärken die Bei-tragsautonomie der Krankenkassen und verfolgen denWeg zu mehr Transparenz und Wettbewerb, versehenmit einem Sonderkündigungsrecht, sodass man nichtdazu verurteilt ist, Herr Kollege, höhere Beiträge zu zah-len, sondern wie in einem richtigen Wettbewerb dieKrankenkasse wechseln kann.
Für entscheidend halte ich auch, dass man darauf hinge-wiesen wird, und zwar per Brief, statt irgendwo auf derlinken Seite ganz unten in der Mitgliederzeitschrift. Sokann jeder diese Möglichkeit nutzen.
Das ist ein wichtiges Thema, genauso wie viele an-dere Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rollespielen. Mit der Regelung zum Risikostrukturausgleichversuchen wir, Gerechtigkeit zwischen den Kassen zuschaffen. Dazu soll eine verbesserte Anrechnung vonSterbefällen auf der einen Seite und ein Ausgleich fürKrankengeldzahlungen auf der anderen Seite beitragen.Dabei melden wir allerdings auf Unionsseite noch einengewissen Gesprächsbedarf für die Zukunft an. Denn wiralle wissen, dass das Einkommen bzw. der Grundlohneine Rolle spielt. Wir wollen, dass das im Rahmen deranstehenden Diskussion stärker berücksichtigt wird. Dasist ganz klar.Zu dem Thema Hebammen möchte ich unterstrei-chen, dass wir jetzt eine Lösung und einen gangbarenWeg gefunden haben. Es geht um die Hebammen. Ganzwichtig ist aber auch die freie Wahl des Geburtsortes,und es geht um die Versorgung im ländlichen Raum.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ganz aus-drücklich dem Bundesgesundheitsminister dafür danken,dass er sich außerordentlich dafür engagiert hat, in die-sem Bereich den richtigen Weg einzuschlagen.Vielen herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Dittmar
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem umfangreichen Gesetz zur Weiter-entwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in dergesetzlichen Krankenversicherung und den 25 Ände-rungsanträgen, die wir gestern im Gesundheitsausschussberaten und beschlossen haben, werden wir die Finan-zierung der gesetzlichen Krankenversicherung gerechterund nachhaltiger ausgestalten sowie die Qualität der Pa-tientenversorgung verbessern. Zuallererst – das ist diegute Botschaft heute –: Die unsägliche Kopfpauschalewird in wenigen Minuten hier in diesem Plenum beer-digt.
Die notwendigen Zusatzbeiträge werden zukünftig pro-zentual und einkommensabhängig erhoben und sind na-türlich ein Stück weit gerechter und solidarischer, FrauKollegin Klein-Schmeink. Ich habe Ihnen schon dasletzte Mal gesagt: Uns ist die Mehrbelastung der Arbeit-nehmer durchaus bewusst. Wir werden darauf einenscharfen Blick haben. Aber ich sage Ihnen auch: Wirhätten, wie Sie wissen, gerne eine ganz andere Finanzie-rung gehabt. Hätten Sie im September letzten Jahres ein
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Sabine Dittmar
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besseres Wahlergebnis erzielt, dann hätten wir das hiervielleicht auch umsetzen können.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Gesetzent-wurfs ist die vorgesehene Gründung des Qualitätsinsti-tuts. Für mich ist das ein echter Meilenstein in der Wei-terentwicklung der Versorgungsqualität, und zwarsowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich.
Mit der Erarbeitung, Erhebung und Dokumentation vonQualitätskriterien im Gesundheitswesen wird das Institutdem Gemeinsamen Bundesausschuss in der Qualitätssi-cherung sektorenübergreifend massive Unterstützungleisten. Auf Grundlage dieser sicheren, belastbaren undtransparenten Daten können dann effiziente Maßnahmenzur Qualitätsverbesserung entwickelt und eingeleitetwerden. Für mich ist hierbei aufgrund meiner Erfahrun-gen, die ich in 15 Jahren Hausarzttätigkeit gesammelthabe, und angesichts der Verunsicherung der Patientenein wesentlicher Aspekt, dass zukünftig Qualitätsbe-richte der Krankenhäuser in verständlicher Sprache ver-öffentlicht werden. Hiermit bekommen die Patientinnenund Patienten eine echte Orientierungs- und Entschei-dungshilfe an die Hand, um sich in unserer vielfältigenVersorgungslandschaft zurechtzufinden.
Ich sage in aller Offenheit: Gerne hätten wir die Pa-tientenvertretung im Vorstand des Qualitätsinstituts stär-ker verankert. Hier war leider keine Verständigung mög-lich. Ich meine, dass wir hier eine echte Chance vertanhaben. Wir werden aber darauf achten, dass die Interes-sen der Patientenvertretung über das Beantragungsrechtbeim Gemeinsamen Bundesausschuss in ausreichendemMaße berücksichtigt werden.Wenn ich schon bei den Patientinnen und Patientenbin, komme ich nicht umhin, hier und heute meinerFreude über die massive Stärkung der unabhängigen Pa-tientenberatung Ausdruck zu verleihen.
Denn sowohl die Etablierung als auch die Stärkung derUPD sind für uns Sozialdemokraten eine wirkliche Her-zensangelegenheit. Deswegen erfreut es mich, dass wirden entsprechenden Etat auf 9 Millionen Euro aufsto-cken
und so sowohl die telefonische Beratung verbessern alsauch die Möglichkeit eröffnen, mehr Beratungsangebotevor Ort zu schaffen. Mit der Verlängerung des Förder-zeitraums haben wir für die Träger mehr Planungssicher-heit erreicht. Das ist ein großer Erfolg der Koalition undwird die Patientensouveränität und die Patientenkompe-tenz weiter stärken.
In den vergangenen Wochen wurde sehr viel über daspauschalierte Entgeltsystem in der Psychiatrie, PEPP,gesprochen. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf,der unter anderem eine Verlängerung der Optionsphaseum zwei Jahre vorsieht, nehmen wir den Druck von denKliniken. Das schafft Zeit, das System einer eingehen-den Überprüfung zu unterziehen. Ich möchte an dieserStelle darauf hinweisen, dass hier auch externer Sachver-stand und externe Expertise notwendig sind. Der Minis-ter hat Offenheit gegenüber dieser Thematik signalisiert.
Die Weiterentwicklung des Morbi-RSA hat in der öf-fentlichen Anhörung breiten Raum eingenommen. Eswurde deutlich gezeigt, dass hier noch großer For-schungsbedarf besteht. Ich bin der Meinung, dass dievon der Koalition beabsichtigte Vorgehensweise, Gut-achten in Auftrag zu geben, die den Einfluss von Grund-lohn, krankengeldauslösender Morbidität sowie sozio-ökonomischen und soziodemografischen Faktoren sehrdifferenziert untersuchen, sinnvoll ist und dass die bisdahin getroffene Übergangsregelung 50/50 eine sachge-rechte und politisch vernünftige Lösung darstellt.Zur Hebammenversorgung ist heute schon einigesausgeführt worden. Ich möchte nur unterstützen, dassmit diesen Sicherstellungszuschlägen und auch den ver-einbarten Qualitätssicherungsmaßnahmen ein erhebli-cher Beitrag geleistet wird, um die Versorgung aufrecht-zuerhalten. Es ist aber auch ganz deutlich, auch von derFrau Staatssekretärin, gesagt worden, dass noch weitererHandlungsbedarf besteht.Auf die Regionalkennzeichen, die für die Versor-gungsforschung sehr wichtig sind, möchte ich jetzt nichtnäher eingehen. Wir werden auch diese einführen undwichtige Daten gewinnen, vor allem für die regionaleVersorgungsforschung. Das ist auch notwendig; dennwir werden uns in wenigen Monaten mit einem neuenVersorgungsstrukturgesetz hier beschäftigen und werdendie Herausforderungen der Versorgungsstrukturen sehrintensiv diskutieren.Jetzt bin ich erst einmal froh, dass wir heute diesesGesetz auf den Weg bringen. Ich sage: Es ist ein gutesGesetz, wir stärken unser Gesundheitssystem nachhaltigund fördern Qualität und Transparenz zum Wohle unse-rer Patientinnen und Patienten.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Kol-lege Rudolf Henke das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnen, Frau Klein-
Schmeink und Herr Weinberg, dankbar, dass Sie dem
Parlament sagen, was es mit diesem Gesetzentwurf tun
soll. Sie sagen, das Parlament solle diesen Gesetzent-
wurf ablehnen.
Jetzt muss man sich einmal fragen, was eigentlich
passiert, wenn das Parlament Ihrer Empfehlung in dieser
Debatte folgt. Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig,
dass die unabhängige Patientenberatung eine stärkere
Grundlage erhalte. Da reden Sie, und wir handeln.
Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig, dass wir mit
den Monopolverträgen bei Impfstoffen für Schutzimp-
fungen Schluss machen und keine Exklusivverträge
mehr haben. Jedenfalls haben Sie das im Ausschuss ge-
sagt. Hier im Plenum haben Sie es nicht gesagt. Ihre
Empfehlung würde dazu führen, nichts zu tun; wir han-
deln.
Sie haben davon gesprochen, dass die Versorgung der
Hebammenhilfe verbessert werden müsse.
Sie haben recht damit, aber wenn man so handelt, wie
Sie das wollen, dann bedeutet das, nichts zu tun; wir
handeln.
Sie haben von der Notwendigkeit gesprochen, das
PEPP-Entgeltsystem für zwei Jahre auszusetzen und die
Chancen in der Zwischenzeit zu nutzen. Wenn man Ihrer
Empfehlung folgt, wird das nicht geschehen, sondern es
bleibt, wie es ist. Sie tun nichts, wir handeln.
Deswegen muss man sich die Frage stellen, aus wel-
chem Grund Sie das alles fordern. Da nennen Sie beide
eine einzige Begründung. Die Begründung ist, dass Sie
das Finanzierungssystem, das Schwarz-Gelb eingeführt
hat, behalten wollen, während Sie das Finanzierungssys-
tem, das wir von der CDU/CSU jetzt mit der SPD im
Kompromiss ausgehandelt haben, ablehnen. Weil Sie an
der schwarz-gelben Politik festhalten wollen, lehnen Sie
die Änderungen bei der UPD, bei den Hebammenhilfen,
bei den Impfstoffen und bei der Frage der PEPP-Syste-
matik ab.
Das müssen Sie einmal Ihren Wählerinnen und Wählern
erläutern. Sie drehen doch Pirouetten, wie es schlimmer
nicht sein kann.
Das hätten Sie mit uns vor den Koalitionsverhandlun-
gen mit der SPD diskutieren müssen. Dann wären wir
vielleicht zusammengekommen. Aber das wollten Sie
nicht. Sie haben gesagt: Das machen wir nicht. – Dass
Sie jetzt unseren guten Kompromiss mit der SPD torpe-
dieren, weil Sie an schwarz-gelber Politik festhalten
wollen – damit torpedieren Sie die ganzen anderen Ver-
besserungen –, ist wirklich nicht zu fassen. Die Linke
macht dabei mit, obwohl sie den Änderungsanträgen
gestern im Ausschuss sogar zugestimmt hat. Das ist
wirklich nicht zu fassen.
Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage zulas-
sen?
Ja, gerne.
Bitte.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
Sie im Grunde froh sind, dass die Ergebnisse der vierjäh-
rigen Regierungszeit von Schwarz-Gelb jetzt begraben
worden sind und dass man den einen Zusatzbeitrag, der
zugegebenermaßen mit sehr viel Bürokratie verbunden
war, nun gegen einen anderen Zusatzbeitrag ausge-
tauscht hat? Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die
letzten vier Jahre im Ergebnis eine relativ schlechte Poli-
tik gemacht haben?
Nein, da verstehen Sie mich völlig falsch. Das glau-ben Sie auch nicht im Ernst.Die Welt dreht sich natürlich weiter. Ich habe Sie anIhren eigenen Ansprüchen gemessen. Ich finde, das istein wesentlicher Punkt.Lassen Sie mich noch auf das Thema „Institut fürQualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswe-sen“ zu sprechen kommen. Ich möchte auf etwas auf-merksam machen, was in den bisherigen Debatten viel-leicht nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. HerrKollege Lauterbach hat bei der Einbringung dieses Ge-setzentwurfs von einem Quantensprung gesprochen. DieAufgabe, Qualität zu bewerten, ist natürlich sehr kom-plex. Das kann in der Praxis zu riesigen Problemen füh-ren, beispielsweise beim Vergleich von Krankenhäusern.Derzeit gibt es in Deutschland ungefähr 30 Listen, diedie Qualität von Krankenhäusern zu vergleichen bean-
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Rudolf Henke
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spruchen. Die besten dieser Listen – Krankenhaus-Di-rectory, Weiße Liste, Qualitätskliniken.de – sind einmaleiner Untersuchung unterzogen worden. Dabei ist fol-gendes Dilemma zutage getreten: Wenn man die Emp-fehlungen dieser drei Listen, die alle beanspruchen, dasjeweils beste Krankenhaus zu nennen, miteinander ver-gleicht, dann stellt man fest, dass es nur für sehr wenigeKrankenhäuser übereinstimmende Empfehlungen gibt.Das heißt, der eine Führer empfiehlt eine bestimmte Kli-nik und der andere rät vom Besuch des gleichen Kran-kenhauses ab.Wir haben etwas Wichtiges getan: Durch unsere gest-rigen Änderungsanträge wurde ein Punkt in die Aufträgean das Institut für Qualitätssicherung und Transparenzim Gesundheitswesen aufgenommen, nämlich die Risi-koadjustierung der Daten. Sie ist von zentraler Bedeu-tung; denn nur mit einer solchen Risikoadjustierung ver-hindert man, dass man Äpfel mit Birnen vergleicht.Schließlich vergleicht man auch nicht die Leistungskrafteines Läufers, der in der Ebene läuft, mit der eines Läu-fers, der eine 10-prozentige Steigung zu überwinden hat.Beide unterliegen nämlich einer unterschiedlichen Auf-gabensetzung. Die Risikoadjustierung, auf die wir unsals Auftragsbestandteil für die Vergleiche und für dieUntersuchungen des Instituts verständigt haben, ist einenormer Schritt.Ich will angesichts der Tatsache, dass in der Ärzte-schaft noch der eine oder andere ein bisschen zurückhal-tend hinsichtlich dieses Instituts ist, sagen: Ich glaube,dieses Institut hat die Chance, den Ärztinnen und Ärzten,den Pflegekräften, den Angehörigen anderer Gesund-heitsberufe, etwa den Physiotherapeutinnen und -thera-peuten, dabei zu helfen, ihr Ziel einer Qualitätsorientie-rung der Arbeit in den Krankenhäusern leichter zuerreichen und davon wegzukommen, dass man sich aus-schließlich an Preisen orientiert.Ich bitte alle darum, sich für dieses Institut einzuset-zen. Wie für die Patientenvertretung besteht auch für an-dere die Möglichkeit, sich im Beirat daran zu beteiligen,konstruktive Vorschläge für die Beauftragung dieses In-stituts zu machen. Ich glaube, dass dieses Institut dieChance bieten wird, denen zu helfen, auf die es in derVersorgung eigentlich ankommt, nämlich denen, die sichfür die Patientinnen und Patienten direkt einsetzen.Ich bedanke mich sehr, dass Sie mir zugehört haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Henkefeiert heute seinen 60. Geburtstag. Herr Henke, dazumöchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Quali-tät in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Aus-schuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1657, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-chen 18/1307 und 18/1579 in der Ausschussfassung an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und DieLinke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?– Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke.Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzent-wurf mit den Stimmen der Koalition angenommen wor-den.Ich komme zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufder Drucksache 18/1664. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Bündnis 90/Die Grünen und dieFraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koali-tionsfraktionen. Wer enthält sich? – Niemand. Damit istdieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koali-tion abgelehnt worden.Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache18/1657 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabeb seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/557 mitdem Titel „Einführung des neuen Entgeltsystems in derPsychiatrie stoppen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Die Koalition. Wer stimmt dagegen? –Die Linke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen.Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmender Koalition angenommen worden.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 18/574 mit dem Titel „UnabhängigePatientenberatung stärken und ausbauen“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktio-nen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünenund die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Nie-mand. Damit ist diese Beschlussempfehlung ebenfallsmit den Stimmen der Koalition angenommen worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt denTagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an derinternationalen Sicherheitspräsenz in Kosovoauf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationenvom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-nischen Abkommens zwischen der internatio-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3383
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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nalen Sicherheitspräsenz und denRegierungen der Bundesrepublik Jugosla-wien und der Repu-blik Serbien vom 9. Juni 1999Drucksachen 18/1415, 18/1653Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/1654Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-schusses werden wir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wenn die Kolleginnen und Kollegen im Saal sich ge-setzt haben, können wir auch mit der Aussprache begin-nen. – Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe dazu als ers-tem Redner das Wort an Dietmar Nietan.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Europäische Rat hat mit Beschluss vom 23. Mai dasEULEX-Mandat bis in den Oktober 2014 verlängert.Wer sich diesen Beschluss anguckt, findet einen Satz –sagen wir einmal: in der EU-Sprache formuliert –, dernachdenklich macht. Da heißt es nämlich unter Punkt 6:Die EULEX-Kosovo-Mission wird in einer Lage durch-geführt, die sich möglicherweise verschlechtern könnte.– Ich glaube, dieser Satz bringt es auf den Punkt, warumes wichtig ist, das KFOR-Mandat zu verlängern.Es gibt unbezweifelbar Erfolge in der Heranführungdes Kosovos an die Europäische Union, es gibt große Er-folge in der Normalisierung der Beziehungen zwischenSerbien und dem Kosovo, aber das ist immer noch erstder Anfang eines Weges, von dem wir natürlich hoffen,dass er am Ende dazu führen wird, dass ein unabhängi-ges Kosovo von allen Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion anerkannt wird und dass das Kosovo gute nach-barschaftliche Beziehungen nicht nur zu Serbien hat.Aber auf diesem Weg gibt es auch Risiken. Deshalb,liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir, glaube ich,beides tun: Wir müssen dieses Mandat verlängern; wirmüssen uns aber auch sehr gut überlegen, was wir alsDeutscher Bundestag, als Bundesregierung, als Europäi-sche Union tun können, um von der militärischen Mis-sion Schritt für Schritt immer mehr zu einer zivilen Mis-sion zu kommen; denn es ist kein Selbstzweck, dass esKFOR weiterhin als Mandat gibt.
Ein Punkt ist für mich in diesem Zusammenhang be-sonders wichtig: Die Menschen, nicht nur die im Ko-sovo, sondern im gesamten sogenannten Westbalkan,dürfen nicht nur das Gefühl haben, sondern sie müssendie Überzeugung haben, dass wir in der EuropäischenUnion weiterhin ein großes Interesse daran haben, dassdie gesamte Region, der gesamte sogenannte Westbal-kan, eine faire Chance bekommt, am Ende des TagesSchritt für Schritt mit seinen Staaten Mitglied in der Eu-ropäischen Union zu werden. Deshalb darf es ein Signalvon uns nach dem Motto „Nach dem Beitritt Kroatienswar Schluss, und jetzt geht es nicht mehr“ nicht geben.Das wäre in dieser Lage, wie sie sich jetzt darstellt, kon-traproduktiv, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir müssen uns mehr engagieren. Das heißt für michaber nicht, dass es automatisch mehr Geld geben sollteoder dass es einen Rabatt auf dem Weg zum Beitritt zurEuropäischen Union geben sollte. Vielleicht wäre esschon sehr hilfreich, wenn es für die Region, insbeson-dere auch für die Menschen im Kosovo, mehr Interesseund mehr Empathie seitens der europäischen Staaten ge-ben würde. Manchmal hat man das Gefühl, dass dieseRegion von vielen einfach vergessen wird oder nichtmehr beachtet wird. Ich glaube, das frustriert gerade dievielen Menschen im Kosovo, die daran glauben, dass sieeine europäische Perspektive haben.
Ich will in diesem Zusammenhang an einen bemer-kenswerten Artikel von Una Hajdari, einer jungen Koso-varin, die als Bosch-Stipendiatin zurzeit hier weilt, erin-nern, der am 21. Mai, einen Tag vor der Debatte zurersten Lesung, in der taz zu lesen war. Sie hat in diesemArtikel geschrieben:Sie wollen ein Opfer. … Von den Problemen desOpfers wollen sie nicht allzu viel wissen.Mit „sie“ in diesem Artikel meint sie die politischen Eli-ten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ichempfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre, weil er, wieich glaube, zum Ausdruck bringt, wie sich viele Men-schen im Kosovo fühlen. Sie haben eher das Gefühl,dass KFOR eine Besatzungsarmee ist, als dass sie dasGefühl haben, dass wir uns für sie interessieren und mitihnen diesen Weg nach Europa gehen wollen.Weil das so ist, müssen wir alles dafür tun, dass wirmit unserem Engagement denjenigen zur Seite stehen,die im Kosovo rechtsstaatliche Strukturen aufbauen wol-len. Wir müssen noch mehr in die Entwicklung der ge-samten Region investieren. Vielleicht macht es ange-sichts der Erfahrungen in der Ukraine Sinn, darübernachzudenken, ob der Westbalkan nicht so etwas wie ei-nen zweiten Stabilitätspakt Südosteuropa braucht.Wir sollten außerdem fair mit allen Ländern desWestbalkans umgehen. Das heißt für mich: Wir solltenendlich denjenigen in der Europäischen Union auf dieFüße treten, die wie zum Beispiel Spanien oder Zyperneine Visaliberalisierung aus plumpen egoistischen Grün-den verhindern. Das führt nämlich dazu, dass viele, ge-rade junge Menschen im Kosovo das Gefühl haben, dass
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3384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dietmar Nietan
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es ihnen vor der EU-Beitrittsperspektive im ehemaligenJugoslawien zumindest hinsichtlich der Reisefreiheitbesser ging als heute. Ich glaube, das kann nicht in unse-rem Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Diejenigen in der Europäischen Union, die den Ko-sovo noch nicht als Staat anerkannt haben, müssen wirdavon überzeugen, den Abschluss eines Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommens nicht zu blockieren. Mitdiesen Schritten – Visaliberalisierung, Stabilitäts- undAssoziierungsabkommen – wollen wir den Menschen imKosovo signalisieren: Es geht weiter; es gibt eine politi-sche und ökonomische Perspektive.Das müssen wir tun, damit eines nicht passiert – nichtnur im Kosovo; wir erleben es leider an vielen Stellen inEuropa –: dass Perspektivlosigkeit gerade bei jungenMenschen dazu führt, dass das Gift des Nationalismus– nicht nur im Kosovo – um sich greift. Ob wir es wollenoder nicht: Für diese Region und insbesondere für dasKosovo tragen wir die Verantwortung dafür, dass es vor-wärtsgeht.In diesem Sinne sollten wir das Mandat für KFORverlängern, aber auch an die zivile Perspektive denken.Nur in Kooperation mit den Menschen und mit Empathiefür die Menschen vor Ort wird es dort einen Fortschrittgeben.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Inge Höger, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ichzum Kosovo komme, möchte ich ein paar Worte zurLage in Bosnien-Herzegowina sagen. Das Land wurdeunlängst von einer Jahrhundertflut erfasst. Angesichtsder humanitären Katastrophe in dieser Region ist es be-dauerlich, dass die Notlage der Menschen so wenig Be-achtung in Deutschland findet.
Beobachter gehen davon aus, dass die materiellen Schä-den größer sind als die im Krieg vor 20 Jahren. Ich selbstwerde mir nächste Woche die Hochwasser- und Erd-rutschgebiete ansehen und mit den Betroffenen reden.Die Menschen dort brauchen keine Bundeswehr, son-dern humanitäre Hilfe und Unterstützung.
In Bosnien wie im Kosovo hängen zwei Problemeeng zusammen: Armut und ethnischer Nationalismus.Beides wird durch die Balkanpolitik der Bundesregie-rung nicht bekämpft, sondern befördert. Knapp 40 Pro-zent der Bevölkerung des Kosovo leben in Armut, etwa15 Prozent in extremer Armut. Die Hälfte der Menschenist erwerbslos. Diese Situation hat ihre Ursache auch inden Privatisierungen, die die EU und Deutschland demKosovo als Bedingung für Unterstützung vorschreiben.Die KFOR-Truppen sorgen dafür, dass diese Privatisie-rungen notfalls militärisch abgesichert werden. Das istunglaublich.
Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel. Im Jahr 2000 ha-ben KFOR-Soldaten die von Arbeiterinnen und Arbei-tern besetzte Trepca-Mine in der Nähe von Mitrovicamilitärisch geräumt. Das blüht den Menschen, wenn siesich gegen den Ausverkauf ihres Landes zur Wehr set-zen. Die Linke lehnt es ab, die Bundeswehr zur Auf-standsbekämpfung in den Kosovo zu schicken.
Die Bundesregierung hat wohl auch deshalb ein Inte-resse an der Stationierung von Soldatinnen und Soldatenim Kosovo, weil deutsche Unternehmen dort Geld ma-chen wollen. Nun ist der Kosovo nicht gerade ein lukra-tiver Markt, aber paradoxerweise subventioniert dieBundesregierung den Unterhalt deutscher Kohlekraft-werke in diesem Land. Deutsche Steuergelder werdendafür eingesetzt, dass Vattenfall und Co. Profite machenund die Luft im Kosovo verpesten.
Gleichzeitig tönt Herr Gabriel von einer Energiewende.Das ist Heuchelei. Die Linke wird das nicht akzeptieren.
– Stimmt es oder stimmt es nicht? Nehmen Sie dazu ein-mal Stellung.
Auch an den ethnischen Spannungen im Kosovo istdie Bundesregierung nicht unbeteiligt. Dass sich dieBundesregierung 1999 einseitig auf die kosovo-albani-schen Separatisten gestützt hat und sich für sie starkge-macht hat, ist hinlänglich bekannt. Aktuell muss ichmich aber sehr wundern, dass Ministerin von der Leyenmeint, es sei gelungen, den Kosovo von einer gespalte-nen in eine inklusive Gesellschaft zu verwandeln.
Frau Ministerin, haben Sie sich auch mit den einfachenMenschen des Landes unterhalten oder nur mit Soldatin-nen und Soldaten?Ungeachtet des Brüsseler Abkommens, das eine Nor-malisierung der Beziehung zwischen Serbien und demKosovo postuliert, nehmen die Spannungen zwischen
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Inge Höger
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Albanern und Serben nicht ab. Sinti, Roma, Juden undandere Minderheiten sind von massiver Diskriminierungbedroht. Ich habe den Kosovo mehrere Male besuchtund muss sagen, dass zur Bezeichnung „inklusive Ge-sellschaft“ sehr viel Fantasie gehört. Schönreden hilftnicht.
Auch die Parlamentswahlen am kommenden Sonntagstehen unter keinem guten Stern. Das Handelsblatt vom1. Juni findet dazu sehr klare Worte – ich zitiere –:Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Parteien inder Regel von einigen wenigen Oligarchen abhän-gig sind, die durch Stimmenkauf und Manipulatio-nen der Wählerlisten größeren Einfluss auf denWahlausgang haben als die Bürger selbst.
Dass sich im Kosovo in Zukunft etwas Grundlegen-des ändern könnte, wird nicht erwartet, weil dieKandidaten fürs Parlament in der Regel bekannteGesichter sind.
Wie in der Ukraine unterstützt die Bundesregierung auchim Kosovo eine Clique von Oligarchen, die sich berei-chern, während der Großteil der Menschen in Armutlebt. Mit dieser Politik muss endlich Schluss sein.
Die KFOR-Truppen sind ein fester Bestandteil desganzen Schlamassels. Die NATO hat 1999 bei ihremvölkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawienauch Uranmunition eingesetzt. Besonders betroffen istder Kosovo. Ein hoher Staatsbeamter aus Pristina hatmir unter vier Augen verraten, dass die KFOR den Be-hörden im Kosovo untersagt hat, Untersuchungen zuUmfang und Folgen des Einsatzes von Uran durchzufüh-ren. Bezeichnenderweise importiert die KFOR Trink-wasser für ihre Soldatinnen und Soldaten. Kenner wis-sen eben, dass Uran das Trinkwasser verseucht.
Die Linke bleibt dabei: Bundeswehr und KFOR rich-ten im Kosovo nur Schaden an und müssen schnell abge-zogen werden. Wir sagen Nein zum KFOR-Mandat.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Verehrte Gäste! Frau Höger, nur ganz kurz am An-fang sei gesagt: Diese Geschichts- und Wahrheitsverzer-rung, ja Wahrheitsverfälschung, die Sie hier betreiben,ertragen wir nicht.
Das können wir fast nur unter Schmerzen wahrnehmen.Das soll es aber auch schon zu Ihren Ausführungen überden KFOR-Einsatz gewesen sein.Im Übrigen ist das eine Beleidigung für die Soldatin-nen und Soldaten, die dort Dienst tun. Das darf ich andieser Stelle auch einmal sagen.
15 Jahre nach dem Ende des Kosovo-Krieges geht esdarum, die Geschichte des Annäherungsprozesses zwi-schen ehemaligen Kriegsfeinden verantwortungsvollfortzuschreiben. Es geht darum, die Sicherheit für dieMenschen auf dem westlichen Balkan zu stärken und ih-nen damit Hoffnung auf eine attraktive Zukunft zu ge-ben. Die Spuren des Guerillakrieges nach dem Ausein-anderbrechen Jugoslawiens sind nicht erst nach derverheerenden Flut der vergangenen Wochen gewisser-maßen an das Tageslicht geschwemmt worden.Das Kosovo zählt zu den ärmsten Ländern in Europa,und die Menschen brauchen greifbare Perspektiven. Dashaben wir Ihnen 2003 auf dem Gipfel von Thessalonikiversprochen. Daran hat sich nichts geändert. Dazu ste-hen wir noch heute.Die Geschichte zeigt uns in den Ländern des westli-chen Balkans auf beeindruckende Weise, wie man auseiner schier ausweglos erscheinenden Situation gleich-wohl den Weg in eine friedliche Zukunft finden kann,obwohl die ethnischen, religiösen und politischen Ge-gensätze zwischen Kosovaren und Serben unverändertsind und das Konflikt- und Eskalationspotenzial nachwie vor hoch ist, besonders im Norden des Landes.Die Soldatinnen und Soldaten der SchutztruppeKFOR sind nach wie vor ebenso wie die Rechtsstaatlich-keitsmission EULEX ein Sicherheitsanker, den wir nochnicht lichten können. Wir sollten allerdings für die nä-here Zukunft eine weitere Absenkung der Obergrenzeder Truppenstärke andenken.Gewissermaßen als Sinnbild für den nicht beendetenKonflikt und das Überwinden bestehender Ängste stehtdie immer noch verbarrikadierte Brücke über den FlussIvar in der geteilten Stadt Mitrovica. Immer wiederkommt es hier zu Explosionen, zuletzt vor circa zweiWochen. Auch vor den Kommunalwahlen Ende letztenJahres war es wiederholt zu gewalttätigen Auseinander-setzungen gekommen. Die anhaltenden Spannungen unddas gegenseitige Misstrauen zwischen den Bevölke-rungsgruppen im Norden machen den Einsatz der KFORin dieser Phase der Integrationsbemühungen unabding-bar.Meine Damen und Herren, anfangs – und das solltenwir uns noch einmal in Erinnerung rufen – waren 40 Na-
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Peter Beyer
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tionen mit rund 50 000 Soldaten am KFOR-Einsatz be-teiligt. Mittlerweile leisten noch knapp 5 000 SoldatenDienst. Seit 1999 waren zusammengenommen über100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Kosovoim Einsatz. Für ihren wichtigen Beitrag zu Stabilität,Frieden und Sicherheit an der serbisch-kosovarischenStaatengrenze sage ich ausdrücklich Danke.
Solange der Normalisierungsprozess nicht abge-schlossen ist und niemand die Sicherheit und den Frie-den für die Region garantieren kann, wäre es schierunverantwortlich, das aktuelle internationale Sicher-heitsgefüge im Kosovo aufzugeben. Es gilt, das Er-reichte für die Menschen vor Ort zu sichern und Rück-schritte zu verhindern.Das Normalisierungsabkommen vom April letztenJahres, das sogenannte Brüsseler Abkommen, ist einwichtiger Schritt auf einer vielsprossigen Leiter vomDauerkonflikt hin zu einer friedlichen Koexistenz unddamit zu einer sicheren Nachbarschaftspolitik. Die kon-krete Implementierung als nächste Sprosse auf dem Wegin die angestrebte EU-Mitgliedschaft erfordert dabei ak-tives und konkretes Handeln, gerade in Bezug auf dentechnischen Dialog.Die Auflösung der Parallelstrukturen im finanziellenund im Justizbereich im Norden des Kosovo ist nach wievor nicht erreicht. Hier ist Serbien in der Pflicht.Besonders heikel ist die Regelung zum Appellations-gericht. Nach wie vor liegen keine Auflistung und keineÜbersicht aller von Serbien geleisteten Zahlungen vor.Die vollständige Einrichtung des serbischen Gemeinde-verbundes ist nicht vollzogen. Das alles sind Herausfor-derungen, ja Bedingungen für eine erfolgreiche Heran-führung an europäische Standards.Zur Wahrheit gehört auch, zu sagen, dass Europabedauerlicherweise selbst noch nicht bereit für eineAufnahme des Kosovo in die Staatengemeinschaft ist.Kollege Nietan hat es ausgeführt: Immer noch verwei-gern fünf EU-Mitgliedstaaten dem Kosovo die völker-rechtliche Anerkennung. Das ist wenig ruhmreich undmuss sich alsbald ändern. Zudem halte ich es für überfäl-lig, den Menschen des Kosovo Reisefreiheit einzuräu-men. Es ist das einzige Land der gesamten Region, fürdessen Bürger eine Visumspflicht für den Schengenraumbesteht. Auch hier sollten die Anstrengungen zur Anpas-sung der Situation verstärkt werden.
Einiges ist bereits im Kosovo geleistet worden. So istdie Einrichtung eines Sondertribunals als positiv zuwerten. Es soll die mutmaßlichen Verbrechen der koso-varischen Befreiungsarmee untersuchen. Gerade für diepolitische Landschaft im Kosovo spielt diese Entschei-dung eine wichtige Rolle; denn diese wurde – nach eini-gen Widerständen – von einer breiten Mehrheit im Parla-ment getragen. Zu den anerkennungswerten Punktenzählt auch die Fortsetzung der EU-RechtsstaatsmissionEULEX sowie die insgesamt gut verlaufenen Kommu-nalwahlen Ende vergangenen Jahres.Niemand sollte dabei allerdings in der Illusion leben,sich ausruhen zu können. Die dringend erforderlicheWahlrechtsreform, die eine Durchführung von Wahlennach internationalen Standards garantieren sollte, ist an-zumahnen. Noch nicht beantwortet wurde die Fragenach den Sitzen für Minderheiten im Parlament. Darüberhinaus wird sich bei den Wahlen am 8. Juni 2014 zeigen,wie die Eingliederung des Nordens gelingt und ob in Zu-kunft der bereits angemahnte Abbau von Parallelstruktu-ren sowie eine stärkere Einbindung in das kosovarischeStaatengefüge wirklich erkennbar werden.
Herr Kollege, ein kurzer Blick auf die Zeit, bitte.
Genau, ich komme zum Schluss. – Auch mit Blick
auf die bevorstehenden Parlamentswahlen am kommen-
den Sonntag erwarten wir, dass der Dialogprozess mit
Serbien von beiden Seiten mit großer Ernsthaftigkeit
fortgesetzt wird; denn wer beitreten will, muss beitragen.
Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich der AbgeordnetenDr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.
Herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Vorrednerinnen und Vorredner haben es schongesagt: Die Annäherung zwischen Serbien und demKosovo geht in den nächsten Monaten in eine kritischePhase. Das Abkommen vom April des letzten Jahreswurde schon erwähnt. Wir wissen aber gleichzeitig auch,dass es immer noch Kräfte gibt – rechtsextreme Serben,aber auch Angehörige der organisierten Kriminalität, diegar nicht unbedingt eine nationale Agenda verfolgen –,die eine Annäherung verhindern wollen. Sie schreckenvor Gewalt nicht zurück. Das zeigen die Angriffe auf dieKommunalwahlen im November und auch wiederholteBeschüsse der EULEX-Mission im Norden. Deshalb istder KFOR-Einsatz in dieser Übergangsphase der – zuhoffenden – Annäherung immer noch notwendig.Sie haben schon die Parlamentswahlen erwähnt, diejetzt am Sonntag anstehen. Wir sollten den Grund dafürin Erinnerung rufen: Das war eine Abstimmung übereine eigene kosovarische Armee im Parlament, für die eskeine Mehrheit gab. Alle Serben haben dabei den Saalverlassen. Darum gibt es jetzt Neuwahlen. In der Diskus-sion um eine eigene kosovarische Armee – die vielleichtin dieser Phase nicht sehr hilfreich für den Annäherungs-
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Dr. Franziska Brantner
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prozess ist – war es für die Gegner dieser eigenen Armeewichtig, sagen zu können: KFOR ist ja da. – In dieser Si-tuation KFOR abzuziehen, wäre fatal und politisch nichtwünschenswert.
Für Serbien muss aber auch klar sein: Ein EU-Beitrittist nur möglich, wenn das Kosovo bis dahin völkerrecht-lich anerkannt ist. Ein zweites Zypern kann sich dieEuropäische Union nicht leisten, und Serbien darf denBeitritt des Kosovo nicht blockieren.
Wir wissen, dass die Bedrohung immer noch vorhan-den ist, dass wir im Kosovo eine Art zweite RepublikaSrpska bekommen können und die serbischen Strukturennicht wirklich in das Land integriert werden. Das müs-sen wir verhindern. Wir müssen daran arbeiten, dassauch diese Menschen sich im Kosovo wirklich zu Hausefühlen.Ich hoffe sehr, dass die serbischen Kosovaren bei denParlamentswahlen, die jetzt anstehen, ihr Wahlrechtwahrnehmen, sich beteiligen und nicht auf die Boykott-forderungen einzelner Vertreter der serbischen Minder-heit eingehen. Wir hoffen, dass der Friedensprozessdurch die Wahl gestärkt werden kann.
Uns belastet die Hypothek, dass die Anerkennung desKosovo durch fünf Mitgliedsländer der EuropäischenUnion immer noch aussteht. Es ist wirklich eine Krux,dass sie das Kosovo immer noch nicht anerkannt haben.EULEX hat deswegen Probleme vor Ort. Die Mission istnicht so stark, wie sie sein sollte, von ihren Rechten her,von ihrem Ansehen her, von der Komplexität der Struk-turen her. Dass wir es immer noch nicht hinbekommenhaben, dass die gesamte EU das Kosovo anerkennt, isteigentlich eine Schande für die Europäische Union. Ichhoffe, dass die Bundesregierung ihren Beitrag dazu leis-tet, dass endlich die letzten fünf Länder davon überzeugtwerden können, das Kosovo anzuerkennen.
Lassen Sie mich am Ende ein Wort zur Lage derRoma im Kosovo sagen: Ihre Situation ist unverändertschlecht. UNICEF berichtet auch von der unzumutbarenLage der Rückkehrer, vor allem der Kinder. Drei Viertelder Kinder gehen nach der Rückkehr in das Kosovonicht mehr zur Schule. Sie erkranken körperlich und see-lisch. In der Regel sprechen diese Kinder Deutsch, aberweder Albanisch noch Serbisch. Insgesamt ist die Lagedort weiterhin von Ausgrenzung und Diskriminierunggeprägt. UNICEF und Amnesty International forderndeswegen, die Abschiebung von Minderheitenangehöri-gen in das Kosovo zu stoppen.
Wir brauchen endlich einen bundesweiten Abschiebe-stopp für Roma und andere Minderheitenangehörige ausdem Kosovo und eine Visumfreiheit für die Bürger desKosovo, um zu verhindern, dass es als einziges, letzteskleines Land keinen Anschluss an Europa hat.Ich danke Ihnen.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Julia Bartz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor zwei Monaten hat die NATO, 15 Jahrenach dem Ende des Kosovokrieges, den oberen Luft-raum über dem Balkanstaat wieder für zivile Flugzeugegeöffnet – ein kleines Stück Normalität, das viele posi-tive Begleiteffekte mit sich bringt.Seit 15 Jahren entsenden wir Jahr für Jahr unsereSoldatinnen und Soldaten in das Kosovo, seit 15 Jahrenverlängern wir Jahr für Jahr das Mandat. Mittlerweile istdas Amselfeld vielen Bürgerinnen und Bürgern nur mehrals Weinbauregion bekannt, und das „Land der Skipeta-ren“ wird vermehrt wieder als Schauplatz der Geschich-ten Karl Mays betrachtet. Wer aber denkt, wir bräuchtenden Einsatz nicht mehr, den dürfte spätestens die Krisein der Ukraine eines Besseren belehrt haben. PräsidentPutin bemühte in aller Unsachlichkeit eine von ihmkonstruierte Parallele, nämlich zwischen der Unabhän-gigkeit des Kosovo und dessen unverändert bestehendenProblemen mit der Situation auf der Krim sowie derLage in der Ostukraine. Doch der völkerrechtliche Ver-gleich des Kosovokrieges mit der Kriminvasion hinkt;die Hinter- und Beweggründe sind vollkommen ver-schieden.Seit 15 Jahren stabilisieren wir eine Region, in der einVölkermord geplant war, der in letzter Minute abgewen-det werden konnte,
vor unserer Haustür, in Europa, in einer Region, in der28 Staaten friedlich miteinander leben, an der Schwellezwischen Abendland und Morgenland. Nicht erst seitIvo Andrics Schilderungen in seinem Werk Die Brückeüber die Drina wissen wir, welch langes kulturelles Ge-dächtnis und welcher Stolz die Völker dieser Regionverbinden – Eigenschaften, die uns mitunter fremd er-scheinen, wo wir selbst mit ehemaligen Gegnern heutewunderbare Freundschaften pflegen. Doch gerade dieVertreter nationaler Maximalpositionen beziehen sichnoch heute auf Geschehnisse, die vor 600 Jahren stattge-
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Julia Bartz
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funden haben, und empfinden für das Amselfeld wie an-dere für Jerusalem. Diese Maximalpositionen wurden inden letzten 15 Jahren so weit verlassen, dass heute mitei-nander geredet und nicht mehr aufeinander geschossenwird. Deshalb sind heute nicht mehr 50 000 Soldatinnenund Soldaten nötig, sondern nur noch ein Zehntel davon.Doch die sind eben noch nötig. Im Norden des Kosovo,wo sich die serbische Bevölkerungsminderheit konzen-triert, weigern sich die meisten Serben immer noch, dieZentralregierung in Pristina anzuerkennen. Im Parla-ment, wo sie aufgrund von Schutzklauseln großenEinfluss haben, boykottieren sie die Bildung einer eige-nen Armee. Parlamentsauflösung und Neuwahlen sindderzeit die Folge, aber eben kein Bürgerkrieg.Die Region bewegt sich in die richtige Richtung, abernur langsam. Zu Gesprächen und Verhandlungen, wieschmerzhaft und schwer sie für alle Seiten in Zukunftauch sein mögen, gibt es keine Alternative, zumindestkeine, die wir uns für Europa wünschen. Dafür brauchenwir den Schutz von KFOR. 15 Jahre KFOR, das ist einelange Zeit; das entspricht fast vier Legislaturperioden.Sehr geehrte Gäste und Zuschauer! Gerne möchte ichdie Mandatsverlängerung zum Anlass nehmen, zu erklä-ren, wie wir solche Entscheidungen treffen. Unsere aus-schlaggebenden Kernfragen bei allen Einsätzen der Bun-deswehr lauten: Was ist unser nationales Interesse?Welchen beabsichtigten Zielzustand legen wir zu-grunde? Was wollen wir mit dem Einsatz wirklich errei-chen, und wann beenden wir den Einsatz? Für den Ein-satz im Kosovo sind die naheliegenden Antworten auchdie Erklärung, warum 15 Jahre gar nicht so lang sind undwir vielleicht noch eine 20. oder 25. Verlängerung erle-ben werden: Es liegt in unserem besonderen nationalenInteresse, in einem einigen und friedlichen Europa zu le-ben. Dazu gehört auch der Westbalkan. Eine rechtsstaat-liche Entwicklung dieser Länder ist der Schlüssel zumErfolg. Einen Misserfolg würden wir zu spüren bekom-men. Organisierte Kriminalität kennt nämlich keineGrenzen.
Dieser Einsatz darf erst beendet werden, wenn dieseLänder stabile Demokratien sind, in denen man ethnien-,religions- und kulturübergreifend friedlich über die ge-meinsame Geschichte sprechen kann, eine Geschichte,die auch ein wesentlicher Teil unserer europäischenGeschichte darstellt. Deshalb bitte ich Sie alle um IhreZustimmung für die weitere Unterstützung unsererNachbarn.
Nächster Redner ist der Abgeordnete Wolfgang
Hellmich, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie derDebatte folgen! Frau Höger, ich will vorab zwei Punkteklarstellen: Sie waren gestern ebenso wie ich in der Sit-zung, in der wir uns über die Frage unterhalten haben,wie wir mit den Minen in Bosnien-Herzegowina umge-hen. Sie haben den Ausführungen des Vertreters desAuswärtigen Amtes zugehört und haben erfahren, anwelchen Initiativen sich die Bundesregierung beteiligtund dass mehr Geld gegeben wird, um das Problem zulösen. Angesichts dessen ist das, was Sie hier gesagt ha-ben, schlichtweg eine Frechheit. Oder Sie waren in eineranderen Sitzung als ich.
Der zweite Punkt. Dass 25 Jugendliche aus demKosovo, die ehemals Flüchtlinge waren, aber in denKosovo zurückgekehrt sind, unterstützt von der Hand-werkskammer Dortmund in einem dualen System – inDortmund und im Kosovo – als Handwerker ausgebildetwerden, ist für mich ein gutes Beispiel. Es zeigt, wasdieses Land tatsächlich braucht: Es braucht Initiativen,mit denen die Wirtschaftskraft gestärkt und die Bildungverbessert wird. Das ist garantiert kein Beispiel dafür,dass das Land ausgebeutet wird, wie Sie vonseiten derLinken das behaupten. Ich glaube, es ist richtig, diesesProgramm weiterzuführen. Wir brauchen mehr solcherInitiativen.
An dieser Stelle danke ich den Soldatinnen und Sol-daten der KFOR, die mit ihrem Einsatz die Rahmenbe-dingungen für solche Initiativen aufrechterhalten. Esgeht darum, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, da-mit all diese Initiativen im Kosovo Platz greifen können,damit diese Initiativen den Raum haben, politisch, ge-sellschaftlich und zivil zu wirken. Das ist der Kern. Esgeht nicht nur um militärische Fragen, sondern es gehtvor allem darum, über den KFOR-Einsatz die zivile Ent-wicklung dieses Landes zu ermöglichen. Das ist Kern,Sinn und Auftrag aller Missionen, über die wir in diesemZusammenhang reden.Wir können auf der Habenseite Fortschritte imKosovo verzeichnen. Diese Fortschritte müssen wir auf-zählen, weil das die Punkte sind, um die wir uns geküm-mert haben: Im Herbst soll der Beschluss über das SAA-Abkommen zwischen dem Kosovo und der EU gefasstwerden. Bei der Polizei wurden die Parallelstrukturen imNorden des Kosovo abgebaut; die Bezahlung derkosovarischen Polizei erfolgt jetzt komplett durch denKosovo und nicht über Serbien. Wir haben vorgesternAbend gehört, wie aus Belgrad der Aufruf an die serbi-schen Minderheiten im Norden des Kosovo erging, sichbitte an der Parlamentswahl zu beteiligen und diese nichtzu boykottieren. Ich glaube, das alles sind positive Si-gnale, mit denen die Nachbarn, die Kosovaren selberund auch die Serben im Kosovo deutlich machen, dasssie an einer friedlichen Entwicklung des Landes interes-
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Wolfgang Hellmich
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siert sind und vorankommen wollen. Wir sollten dasnicht behindern.
Im Gegenteil: Wir sollten durch eine positive Entschei-dung über dieses Mandat deutlich machen, dass wir un-serer europäischen Verantwortung nachkommen, Sicher-heit, Stabilität und die Sicherheit des öffentlichenRaumes für die Menschen im Kosovo zu garantieren.Erfreulich ist, dass wir in diesem Zusammenhang als„third responder“ über die KFOR immer weniger gefragtsind. Das zeigt, dass die kosovarischen Institutionen auf-grund der Strukturen auch selber zunehmend mehr in derLage sind, die öffentliche Sicherheit herzustellen und imöffentlichen Raum aufzutreten. Wir schätzen die Bedro-hungslage insgesamt als mittel, im Norden als etwasstärker ein. Die Menschen dort sagen uns, dass, wennwir die KFOR zurückziehen, sie nicht wissen, in welcheRichtung sich das Land entwickeln wird. Sie bitten uns,einem solchen Mandat zuzustimmen und ihnen zu hel-fen, ihr Land friedlich weiterzuentwickeln.Ja, es gibt lokale Konflikte, aber Gott sei Dank keineethnischen Konflikte. Wir wissen, dass eine traumati-sierte Situation, die sich tief in die Seelen der Kosovareneingegraben hat, nicht unbedingt in 10 oder 15 Jahren zubeseitigen ist. Es wird eine Generation und mehr dauern– diese Erfahrung haben wir selber gemacht –, um dieMenschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, et-was dafür zu tun, um in einem sicheren Land zu leben.Diejenigen, die im Ausland Gelder erwirtschaften unddiese in den Kosovo schicken, um ihre Familien zu er-nähren, müssen im Kosovo selber eine Chance haben, zuarbeiten, zu wirken, produktiv zu sein und ihr Land wei-terzuentwickeln. Es geht auch darum, Arbeitsplätze zuschaffen, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dortgut gearbeitet werden kann, und funktionierende Justiz-strukturen aufzubauen. Wir wissen, dass dazu im Kernauch die Bekämpfung der Korruption im Kosovo gehört.
Das muss die Aufgabe staatlicher Institutionen sein, diewir durch entsprechende Ausbildung stärken. UnsereMissionen sind auf die Stärkung des Staates Kosovo aus-gerichtet, damit seine Gesellschaft entsprechend organi-siert werden kann.
Solange es nötig ist, eine friedliche Entwicklung zubegleiten, sollten wir das mit allen Instrumenten, die wirhaben, tun, abgesichert durch die entsprechenden Man-date. Ich bitte Sie herzlich, diesem Mandat zuzustim-men, weil es dem Kosovo und den Menschen dort hilft,ihre Gesellschaft und ihren Staat weiterzuentwickeln. Ander Stelle bitte ich Sie um Zustimmung. Wir helfen da-mit dem Land.Danke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen – insbesondere die,
die sich jetzt unterhalten –, jeder möge sich einmal kurz
vorstellen, dass er hier am Pult steht und als einer der
letzten Redner in einer solchen Debatte zu sprechen hat
und dann in ein allgemeines Gemurmel hineinspricht.
Ich finde das erstens unkollegial und unfair.
Zweitens müssen unsere Besucher auf den Tribünen ei-
nen unguten Eindruck von uns bekommen. Deswegen
wäre es schön, wenn es etwas zu besprechen gibt, das
draußen zu tun oder jetzt dem letzten Redner zuzuhören.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Roderich
Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,am Ende dieser sehr klugen und übergreifend geführtenDebatte – bis auf eine Ausnahme: die Linken –
können wir als Bundestag uns durchaus einmal in Erin-nerung rufen, was in den letzten 15 Jahren erreichtwurde.Wer hätte sich vorstellen können, dass wir heute imBundestag laut und offen darüber debattieren, ob nichtdem Kosovo in gewissem Rahmen eine Visafreiheit zu-gestanden wird? Ich bin dem Kollegen Beyer ausdrück-lich dankbar für diesen Hinweis. Wer hätte sich vor15 Jahren vorstellen können, dass die EU nach den Ver-einten Nationen in verantwortlicher Mission dort mitüber 2 000 Angestellten und Beamten für Rechtsstaat-lichkeit sorgt? Wer hätte sich vorstellen können, dass wirvon seinerzeit über 50 000 Soldaten heute bei knapp5 000 sind und wir selbst als deutsche Bundeswehr, diewir hier entsenden, von über 6 500 Soldaten bei knapp700 sind? Trotzdem ist unser Land in der Verantwortung,die der Bundestag wahrnimmt, mit den Vereinigten Staa-ten stärkster Truppensteller.Lassen Sie mich, weil vieles Gute und Richtige schongesagt wurde, nur auf einige wenige Aspekte eingehen.Wer hätte sich noch vor drei oder vier Jahren vorstellenkönnen, dass sowohl die serbische Regierung, ein Pre-mierminister Vučić, als auch der Kosovo KFOR begrü-ßen? Wir hatten erst in dieser Woche in der Arbeits-gruppe eine klare Diskussion und Aussprache mit demserbischen Gesandten, der uns ausdrücklich aufgerufenhat, es bei der Höhe im KFOR-Mandat zu belassen.An dieser Stelle sollten wir aber auch – nicht nur mitBlick auf die anstehenden Wahlen im Kosovo – einenAppell an den Kosovo richten. Die kosovarischen Si-cherheitskräfte werden zahlenmäßig deutlich erhöht undin bewaffnete Kräfte umbenannt. Das ist eine historischeChance für den Kosovo, dafür zu sorgen, dass dieseStreitkräfte multiethnisch zusammengesetzt werden,
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3390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Roderich Kiesewetter
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dass in der Bevölkerung Vertrauen in diese Streitkräfteherrscht, dass diese nicht zur Eskalation eingesetzt wer-den, sondern dass diese Selbstverteidigungskräfte für ei-nen Ausgleich innerhalb des Landes und – das ist auchder Zweck militärischer Kräfte – über Militärdiplomatiefür Aussöhnung in der Nachbarschaft sorgen.
Deshalb sollten wir alles daransetzen, dass die Präsenzsolcher kosovarischen Kräfte auch im Nordkosovoselbstverständlich wird – nicht nur einvernehmlich, son-dern so, wie es sich für ein souveränes Land gehört.Ein Wort an die Adresse Serbiens: Vom Bundestag,von unserer CDU/CSU-Fraktion ging vor zwei Jahrenein Sieben-Punkte-Plan aus. Fünf dieser sieben Punktesind bereits umgesetzt. Zwei Punkte sind noch nicht um-gesetzt: erstens die endgültige Anerkennung des Kosovodurch Serbien – das erwarten wir am Ende des Prozesses –und zweitens – das erwarten wir ebenfalls von Serbien –die Ermittlung derjenigen, die die deutsche Botschaft inBelgrad im Jahr 2008 in Brand setzen wollten, und derenInhaftnahme. Ich glaube, diese Forderungen dürfen wirnicht vergessen.
Wir sollten auch deutlich anerkennen, wie sich derAußenminister des Kosovo darum bemüht, den Kosovointernational als einen verlässlichen Partner weiterzuent-wickeln. Ich appelliere aber auch an Albanien, weitermäßigend auf die albanischen Minderheiten außerhalbAlbaniens einzuwirken, wie das in der Vergangenheitschon geschehen ist. Es ist wichtig, dass die Staaten deswestlichen Balkans gemeinsam begreifen, dass sie einePerspektive brauchen und es nur gemeinsam erreichenkönnen, in die Europäische Union zu kommen, und zwarnicht durch den Wettbewerb des Schlechten, sonderndurch die Auswahl des Besten und eine Bewerbung mitgegenseitiger Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kol-legen.
Wenn wir heute dem KFOR-Mandat zustimmen, soll-ten wir uns erstens bewusst sein, dass wir vor weiterenReduzierungsschritten stehen. Diese Reduzierungs-schritte müssen nicht nur im Einklang mit der Sicher-heitslage sein, sondern auch dazu führen, dass EULEXbei ihrer schwierigen Aufgabe abgesichert bleibt. Dennneben den Rechtsstaatlichkeitsaufgaben geht es immernoch um das Aufspüren, Verfolgen und die Festnahmevon Kriegsverbrechern. Hier braucht EULEX Absiche-rung, die zuverlässig ist.Zweitens. Es gibt Überlegungen, möglicherweise ineinem weiteren Mandat die Europäische Union verant-wortlich zu machen. Hier warne ich vor Übereile; dennes haben von den Schengen-Staaten mit Deutschland nur24 Staaten den Kosovo anerkannt. Wir dürfen uns hierkeine Spaltung leisten. Das hat Frau Kollegin Brantnerdeutlich angesprochen.Angesichts der Entwicklungen in der Ukraine ist esfür mich als überzeugtem Transatlantiker auch erforder-lich, dass die USA weiterhin in unsere Missionen einge-bunden sind. Es ist wichtig, dass sie Teil von KFORsind. Mögen sie uns dort noch lange erhalten bleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was imKosovo erreicht wurde, ist auch für unseren Bundestagein Ausweis guter sicherheitspolitischer Arbeit. Es istdie am besten erklärte Mission, über deren Fortsetzungwir heute abstimmen; sie ist viel besser erklärt als bei-spielsweise der Einsatz in Afghanistan. Sie könnte alsParadebeispiel dafür dienen, wie eine notwendige si-cherheitspolitische Diskussion aussehen könnte: mit kla-ren Interessen, die wir im Kosovo haben, mit definiertenAufgaben, die wir lösen wollen, mit einer klaren Zielset-zung und vor allen Dingen – das ist das Wichtigste – miteiner guten Erklärung für unsere Bevölkerung, warumunsere Soldatinnen und Soldaten dort sind. Ich bitte umZustimmung.Danke für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses auf Drucksache 18/1653 zu dem An-trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschenBeteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz inKosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 18/1415 anzunehmen. Wir stimmen über dieBeschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind die Plätze an den Urnen be-setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nichtder Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bittedie Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmungwird Ihnen später bekannt gegeben.1)Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze imPlenum wieder einzunehmen. – Wir kommen nun zurAbstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1665.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen mitAusnahme der Stimmen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen, die für ihren Antrag gestimmt hat, abgelehnt.1) Ergebnis Seite 3392 C
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Vizepräsident Peter Hintze
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenMatthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann
, Caren Lay, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKEAngleichung der Renten in Ostdeutschlandan das Westniveau sofort auf den Weg brin-genDrucksache 18/982Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieHaushaltsauschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält MatthiasW. Birkwald, Fraktion Die Linke, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Zur Angleichung der Renten in Ostdeutschland andas Westniveau hat die Bundeskanzlerin gesagt – ich zi-tiere –:Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichungvon Ost und West brauchen. Ich würde … sagen,dass das Thema in den ersten beiden Jahren dernächsten Legislaturperiode erledigt sein wird.Herr Kollege Weiß, das hat die CDU-VorsitzendeAngela Merkel Anfang Juni 2009 bei der Eröffnung des9. Deutschen Seniorentages in Leipzig versprochen, alsovor der Bundestagswahl vor fünf Jahren. – Im Koali-tionsvertrag 2009 hieß es dann – Zitat –:Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli-ches Rentensystem in Ost und West ein.Nach der Bundestagswahl 2009: Pustekuchen! Nach derBundestagswahl ist nichts passiert – bis heute, Juni2014. Versprochen, gebrochen – das ist die beschämendeRentenpolitik der CDU für die Rentnerinnen und Rent-ner im Osten.
Und die SPD? Die SPD forderte im Juni 2013, alsovor der vergangenen Bundestagswahl, in einem Extra-Wahlkampfantrag, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten,„der die vollständige Angleichung des aktuellen Renten-wertes an den aktuellen Rentenwert in Stufen“ vor-sah. Dieses Gesetz sollte 2014 in Kraft treten. Tja, sospricht man vor der Wahl. Nach der Wahl ist davonnichts mehr zu sehen.
Das heißt: Ein Standardrentner in Rostock erhält nach45 Jahren Arbeit zum Durchschnittslohn noch immer100 Euro weniger Rente als ein Rentner in Stuttgart, derauf die gleiche Lebensleistung zurückschauen kann – im25. Jahr nach dem Mauerfall. Das war ungerecht, das istungerecht, und das bleibt ungerecht.
An dieser Ungerechtigkeit ändert auch Ihr Rentenpaketnichts. Die Rente ab 63 ist für die vielen Hartz-IV-Be-troffenen im Osten nicht zu realisieren, und bei derneuen Mütterrente ist ein Kind im Osten noch immer4,44 Euro weniger wert als ein Kind im Westen. Das warungerecht, und das bleibt ungerecht.
Die Ursache dafür ist: Ein Vierteljahrhundert nach demEinheitsvertrag liegt der Rentenwert im Osten mit26,39 Euro noch immer knapp 7,8 Prozent unter demRentenwert im Westen mit 28,61 Euro.Es stimmt: Der Abstand hat sich über die Jahre lang-sam verringert. Aber keine Bundesregierung hat bisherdie Gerechtigkeitslücke geschlossen. CDU, CSU, SPD,Grüne, sie alle haben hier gemeinsam versagt.
Es stimmt: Ein einheitlicher flächendeckender gesetzli-cher Mindestlohn wird die Rentenlücke verkleinern,aber besonders dann, wenn er bei 10 Euro liegen würde;denn im Osten erhalten rund 40 Prozent der Beschäftig-ten weniger als 10 Euro brutto die Stunde. 10 Euro Min-destlohn, das würde die Ostrenten den Westrenten eindeutliches Stück näherbringen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-ben in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, erst 2016 zuprüfen, ob man 2017 vielleicht etwas machen muss, umdann irgendwie zu einer Angleichung der Renten im Jahr2020 zu kommen. Das alles erzählen Sie seit Jahren. Da-von stimmt kein Wort. Ich sage Ihnen: Die Ostdeutschenhaben Ihre Vertröstungen satt.
Mit Tippelschritten und dem Hoffen auf eine automa-tische Lohnangleichung kommen wir hier nicht weiter.Die Lohnangleichung stagniert seit Mitte der 90er-Jahrebei unter 80 Prozent. Da tut sich nichts. Deshalb sagenwir Linken als einzige Partei in diesem Hause: Die An-gleichung der Renten im Osten an das Westniveau mussjetzt sofort auf den Weg gebracht werden.
Ich fordere Sie auf: Führen Sie zum 1. Juli dieses Jahreseinen steuerfinanzierten und stufenweise steigenden Zu-schlag ein, und zwar so, dass die Rentenwerte in Ost undWest bis zum Jahresende 2017 vollständig angeglichensein werden! Das würde jede Steuerzahlerin und jedenSteuerzahler in diesem Jahr durchschnittlich nur 1,80 Euro
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3392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Matthias W. Birkwald
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im Monat kosten. 1,80 Euro – das ist doch finanzierbar.Das sollte Ihnen die Umsetzung des Prinzips „GleicheRente für gleiche Lebensleistung“ wert sein.
Wenn die Löhne und Gehälter in den östlichen Bun-desländern im Durchschnitt 100 Prozent der Löhne undGehälter der westlichen Bundesländer erreicht habenwerden, dann ist auch die Linke dafür, die Umrechnungder ostdeutschen Löhne für die Rente abzuschaffen, abereben erst dann und nicht vorher.
Ansonsten bekäme die Friseurin in Weimar für die glei-che Menge an frisierten Ostköpfen nicht nur wenigerLohn als die Friseurin in Nürnberg für die gleiche Zahlan frisierten Frankenköpfen, sondern auch noch wenigerRente für die völlig gleiche Leistung, und das ist nicht inOrdnung.
Ich komme zum Schluss. Unser Antrag beruht imKern auf dem Stufenmodell des Bündnisses für die An-gleichung der Renten in den neuen Bundesländern. Dazugehören Verdi, die GEW, die EVG, die GdP und dieVolkssolidarität, der Sozialverband Deutschland, die Ar-beiterwohlfahrt, der Beamtenbund und sogar der Bun-deswehrVerband. Deswegen sage ich: Liebe Große Ko-alition, liebe Frau Nahles, hören Sie auf dieses breiteBündnis! Erkennen Sie endlich die Lebensleistung derOstdeutschen an!Danke schön.
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er-mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zurFortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationa-len Sicherheitspräsenz in Kosovo, Drucksachen 18/1415und 18/1653, liegt vor: abgegebene Stimmen 598. Mit Jahaben gestimmt 532, mit Nein haben gestimmt 59, Ent-haltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit ange-nommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 597;davonja: 531nein: 59enthalten: 7JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerArtur AuernhammerDorothee BärNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid Fischbach
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich Lange
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3393
Vizepräsident Peter Hintze
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Barbara LanzingerDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseGabriele GronebergUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar Nietan
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3394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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Ulli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederUdo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockVolker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischIrene MihalicÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDr. Valerie WilmsNeinSPDKlaus BarthelDr. Ute Finckh-KrämerDIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatThomas NordPetra PauHarald Petzold
Richard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDPetra Hinz
Waltraud Wolff
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSylvia Kotting-UhlMonika LazarPeter MeiwaldBeate Müller-GemmekeLisa PausAls nächster Rednerin in unserer Debatte erteile ichdas Wort Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Deutschland hat kürzlich gewählt. Auch bei denKommunalwahlen in Brandenburg, woher ich stamme,wo ich geboren bin und wo mein Wahlkreis liegt, gab esinteressante Ergebnisse: Die Union hat erwartungsge-mäß zugelegt,
und die Linke hat verloren, und zwar ordentlich.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3395
Jana Schimke
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Das zeigt nicht nur, dass die Linke dort, wo sie in Regie-rungsverantwortung ist, das Vertrauen der Wähler stetigverliert.
Es zeigt vor allen Dingen auch, dass ihre Strategie desSchlechtredens nicht mehr länger aufgeht.
Seit Jahren reden Sie den Menschen in Ostdeutschlandein, dass deren Lebensleistung nicht gewürdigt wird.Doch indem Sie Vorbehalte zementieren und Wahrheitenverklären, sind Sie es, die Lebensleistung nicht anerken-nen.
Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer dürfen wireines nicht vergessen: Die Wiedervereinigung und auchdie Überleitung des Rentenrechts auf die neuen Länderwar und ist ein gesamtgesellschaftlicher, solidarischerKraftakt. Diese Leistung zeigt sich auch bei den Rentenin den neuen Ländern. Die Renten in Ostdeutschlandwerden noch heute um circa 18 Prozent hochgewertet,und bei gleichem Brutto gibt es im Osten einen höherenRentenanspruch als im Westen. So viel zur Klarheit.
Das durchschnittliche Lohnniveau im Osten, verur-sacht durch eine unterschiedliche Wirtschafts- und Bran-chenstruktur, ist aber immer noch niedriger als im Wes-ten. Das ist ein Umstand, den auch meine Kollegen ausden neuen Ländern und ich bedauern; aber das sind nichtdie Folgen von politisch gewollter Ungerechtigkeit. Dassind immer noch die Auswirkungen von 40 Jahren staat-lich verordneter Plan- und Misswirtschaft.
Deshalb bin ich froh und dankbar darüber, dass wir dieAngleichung der Lebensverhältnisse als gesamtdeutscheAufgabe anerkennen und auch im Rentenrecht berück-sichtigen. Zur Erinnerung: 1990 lag das Verhältnis desRentenwerts Ost im Vergleich zum Rentenwert West beidurchschnittlich 40 Prozent. Heute sind wir bereits beiüber 90 Prozent und ab 1. Juli 2014 sogar bei 92,2 Pro-zent. Das ist Anerkennung von Lebensleistung.
Wir sind gut beraten, nicht vorschnell in die Renten-formel einzugreifen. Sowohl die Rentenanpassung durchjetzt steigende Löhne als auch die zusätzliche Hochwer-tung gleichen bestehende strukturelle Unterschiede aus.Das schafft ein höchstmögliches und für die Solidarge-meinschaft verträgliches Maß an Gerechtigkeit.Sie aber wollen mit Steuererhöhungen auf Unterneh-mensgewinne, Erbschaften und Vermögen Ungerechtig-keiten beseitigen.
Aber Sie schaffen damit Ungerechtigkeiten. Wissen Sieeigentlich, dass der größte Teil des Vermögens inDeutschland selbst erarbeitet ist,
dass er in Betrieben und mitunter im selbstgebauten Ei-genheim steckt? Wie passt diese Politik zu Ihrem selbst-erklärten Ziel, bessere Rahmenbedingungen für eine po-sitive Lohnentwicklung im Osten zu schaffen? Sierütteln an dem Fundament, auf dem unser Land fußt, undgefährden Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze auchin Ostdeutschland.
Als Brandenburgerin sage ich Ihnen: Das ist nichtmein Verständnis und auch nicht das Verständnis derOstdeutschen von einer guten Politik für die neuen Bun-desländer. Sprechen Sie doch einmal über das, was unsstark macht! So drückt sich die Lebensleistung der Ost-deutschen heute konkret auch im Rentenzugang aus. Ge-rade Frauen sind und waren im Osten öfter und längererwerbstätig. Diese kontinuierlichen Erwerbsbiografienermöglichen es heute vielen, früher in Rente zu gehen.Frauen in den neuen Ländern gehen im Schnitt fast zweiJahre früher in Rente als Frauen in den alten Ländern.Das ist möglich, weil sie so lange erwerbstätig waren.Dadurch liegt ihre durchschnittliche Rente heute um44 Prozent höher – das ist also wesentlich mehr – als inden alten Bundesländern.
Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Zum1. Juli 2014 steigt der Rentenwert. Er wird in den neuenBundesländern von 91,5 Prozent auf 92,2 Prozent desWestwertes ansteigen. Damit steigen die gesetzlichenRenten im Osten einmal mehr stärker als im Westen.Meine Damen und Herren, auch die Union möchte dieAngleichung der Lebensbedingungen in Ost- und West-deutschland weiter voranbringen. Das haben wir auch imKoalitionsvertrag so festgeschrieben. Die Renten bis2020 anzugleichen, ist politisch vernünftig und liegt ineinem zeitlich vertretbaren Rahmen. Das bleibt eines un-serer wichtigsten politischen Ziele.
Wir sehen uns in der Verantwortung und werden den An-gleichungsprozess deshalb auch schrittweise fortführen.Aber wir können Folgendes daraus lernen: Eine strin-gente Erwerbsbiografie ist die beste Altersvorsorge.Auch deshalb sollten die weitere Integration von Frauenin den Arbeitsmarkt sowie die Vereinbarkeit von Berufund Familie ein zentraler Punkt unserer Sozial- und Ar-beitsmarktpolitik sein.
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3396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Jana Schimke
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Das ist eine Stärke der neuen Bundesländer. Auch soll-ten wir alle Säulen des Rentensystems im Blick behal-ten. Die gesetzliche Rentenversicherung wird dies künf-tig nicht mehr alleine leisten können.
Bereits heute erwerben über 70 Prozent der DeutschenRentenansprüche aus der privaten und betrieblichenAltersvorsorge. Diesen Weg müssen wir künftig konse-quent weiterführen. Nur so schaffen wir eine zukunftsfä-hige Altersvorsorge, die im Sinne der gesamten Solidar-gemeinschaft in Ost und West ist.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordnetem Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Frau Schimke, Sie haben zwar sehr wortreich gespro-chen, aber zur tatsächlichen Problematik, zur Anglei-chung der Renten im Osten an die im Westen sowie zuGleichstellung und Gleichbehandlung haben Sie fastnichts gesagt.
Ich habe noch eine Bitte – auch mit Blick auf die folgen-den Redner –, bevor ich zu meiner eigentlichen Redekomme. Lassen Sie doch einmal die Platte von den40 Jahren SED-Misswirtschaft im Schrank stehen! Dasbringt doch nichts. Wirklich geistreicher macht es dasnicht.
Es ist sinnvoll, dass diese Debatte aufgesetzt ist. Ichwill gleich mit den Kernforderungen von Bündnis 90/Die Grünen beginnen. Wir wollen die Anhebung desRentenwertes Ost auf das Westniveau. Wir wollen dieAnhebung der Beitragsbemessungsgrenze Ost auf dasWestniveau. Wir wollen in der Vergangenheit erworbeneRentenansprüche unangetastet lassen. Wir wollen dieGleichstellung auf allen Ebenen. Das bedeutet auch –das sagen wir ganz offen – einen Verzicht auf die Höher-wertung nach einer sofortigen Angleichung der Renten-punkte Ost an das Westniveau.
Weil wir wissen, dass die Abschaffung der Höherwer-tung kurzfristig eine leichte Absenkung des Niveaus be-deutet und dann möglicherweise zu Armutsproblematikführt – das kommt allerdings auch im Westen vor –, wol-len wir eine Garantierente einführen und nach 30 Versi-cherungsjahren einen Mindestanspruch sicherstellen.Wir glauben, dass man auf diese Art und Weise zielge-nauer als mit einer pauschalen, je nach Region gewichte-ten Höherwertung Armutsvermeidungspolitik betreibenkann.
Der einzige Punkt, in dem sich die Union gegenüberder letzten Legislaturperiode als lernfähig erwiesen hat,ist, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag vor-sichtiger sind und die Ankündigungen nicht mehr ganzso vollmundig sind.
Kollege Birkwald hat schon die Aussagen der Kanzlerinaus dem Jahr 2009 zitiert. Ich möchte einen Satz ausdem Koalitionsvertrag vortragen:Zum 1. Juli 2016 wird geprüft,– geprüft! –wie weit sich der Angleichungsprozess bereits voll-zogen hat, und auf dieser Grundlage entschieden,ob mit Wirkung ab 2017 eine Teilangleichung– eine Teilangleichung! –notwendig ist.Das ist im Grunde nichts weiter als die verkappte An-kündigung, dass Sie überhaupt nichts gegen das Problemunternehmen wollen.
Ich möchte noch etwas zu der sogenannten Höher-wertung sagen, die nach dem Vorschlag der Fraktion DieLinke – Sie wollen das in mehreren Stufen machen –beibehalten werden soll. Wir glauben: Wer im Osten3 000 Euro verdient, der soll den gleichen Rentenan-spruch erwerben wie jemand, der im Westen ebenfalls3 000 Euro verdient.Die Maßeinheit ist das Gehalt und nicht die Zahl fri-sierter Köpfe.Man muss schon der Tatsache Rechnung tragen, dasssich in der Tariflandschaft in den letzten Jahren einigesverändert hat. Wirft man einen Blick in das Tarifarchivder Hans-Böckler-Stiftung, stellt man fest, dass die Ta-rifniveauunterschiede laut WSI – es stimmt, dass nichtalles tariflich abgedeckt ist – im Jahr 2013 nur noch3 Prozent betragen. In vielen Tarifverträgen ist mittler-weile die gleiche Bezahlung in Ost und West vereinbart.Wenn man sich die regionalen Unterschiede anschaut,dann stellt man fest, dass die Himmelsrichtung West/Ostnicht mehr so aufschlussreich ist. Es gibt auch im Wes-ten Regionen mit einem sehr niedrigen Lohnniveau. Ichkomme aus dem Ruhrgebiet. Wenn man insbesondere
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3397
Markus Kurth
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das nördliche Ruhrgebiet mit Stuttgart oder dem Münch-ner Umland vergleicht, dann kommt man zu ganz erheb-lichen Lohnunterschieden, die die Lohnunterschiedezwischen Ost und West weitaus übersteigen.Wir wollen daher zielgerichtet über Instrumente wiedie Garantierente und Maßnahmen, die das Rentenni-veau stabilisieren, die Rente armutsfest machen und unsdabei möglichst nahe an einer lebensstandardsicherndenRente orientieren. Es sollen aber keine Ausgleiche mehrnach Himmelsrichtung erfolgen.
Das trifft auch auf den Solidarpakt zu. Selbst die ost-deutschen Länder haben inzwischen erkannt, dass sichdie Situation fast 25 Jahre nach dem Mauerfall veränderthat. Strukturschwache Regionen gibt es in ganzDeutschland. Insofern muss sich eine öffentliche Inter-vention nach dem Bedarf und darf sich nicht nach derHimmelsrichtung richten. Wenn wir in den weiteren Be-ratungen in diesem Sinne zusammenkommen könnten,wäre das gut.Ich halte fest: Wir brauchen möglichst schnell, ambesten zum 1. Juli, zum nächsten jährlichen Rentenan-passungstermin, eine Gleichberechtigung und Gleich-stellung von Rentnerinnen und Rentnern in Ost undWest.
Als nächste Rednerin erhält Daniela Kolbe, SPD-
Fraktion, das Wort.
– Der Kollege Birkwald hatte eine Kurzintervention an-
gemeldet. Er hat aber vorhin selber gesprochen. Deswe-
gen kann er zwar eine Frage stellen, aber eine Kurzinter-
vention ist nicht möglich; denn die Idee der
Kurzintervention besteht darin, dass ein Redner, dem
spontan etwas einfällt, etwas sagen kann. Es soll nicht so
sein, dass einer, der schon etwas gesagt hat, noch etwas
sagen soll.
Bitte, Frau Kollegin.
Jetzt habe ich wieder etwas über die Geschäftsord-
nung des Deutschen Bundestages gelernt.
Man lernt hier laufend.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Erst einmal danke an die Linke, dass wir überdas Thema sprechen können. Jeder, der in den neuenBundesländern Wahlkampf macht, weiß, dass es kaumein Thema gibt, das so emotional diskutiert wird. Manspürt immer wieder, dass wegen der Tatsache, dass eszwei unterschiedliche Rentensysteme in Ost und Westgibt, ein massives Ungerechtigkeitsempfinden nach wievor vorhanden ist. Ich war 1989 neun Jahre alt. Es ist ir-gendwie schon verrückt, dass wir 25 Jahre nach derfriedlichen Revolution immer noch zwei unterschiedli-che Rentensysteme haben. Aber es lohnt durchaus einBlick zurück.Im Rentenüberleitungsgesetz nach der Wiedervereini-gung sind Regelungen für die bestehenden und für diezukünftigen Renten in den damals wirklich noch neuenBundesländern getroffen worden. Ich finde, diese Rege-lungen verdienen unser aller Hochachtung.
Denn damals sind zwei völlig unterschiedliche Rechts-systeme zusammengeführt worden, auch mit dem impli-ziten Versprechen, dass die Unterschiede lediglich füreine Übergangszeit gelten sollten. Profitiert davon habeninsbesondere die Rentnerinnen und Rentner in der ehe-maligen DDR, die für ihre Rentenanwartschaften Rentenbekommen haben und hoffentlich immer noch bekom-men, die sie nach DDR-Rentenrecht nie und nimmer be-kommen hätten. Ich weiß, einige wollen und können esnicht mehr hören, dennoch sollte man nicht unerwähntlassen: Das Ganze war und ist immer noch eine riesigegesamtgesellschaftliche Leistung in Ost und West.
So weit zur Vergangenheit. Die Rentenüberleitungwar klug konzipiert. Mit der Lohnangleichung in Ostund West sollten sukzessive gleiche Anwartschaften inOst und West erreicht werden. Irgendwann sollte dannder Durchschnittslohn gleich sein, damit auch der Ren-tenwert in Ost und West gleich. Dann brauchte mankeine Höherwertung mehr und hätte sozusagen automa-tisch ein Rentensystem.Leider sieht die Realität anders aus. Die Rentenwertehaben sich zwar in der Vergangenheit zunächst sehrschnell angeglichen, in den letzten Jahren hat sich aberdas Tempo verlangsamt. Die Frage stellt sich natürlich,ob wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten wollen,bis sich diese Rentensysteme automatisch angleichen.Das könnte auch erst in einigen Jahrzehnten sein, wennman sich die Lohnentwicklung anschaut, womöglichauch niemals. Wir, die SPD-Fraktion, sagen: Nein, na-türlich nicht, auch wenn es anders schöner wäre und esmorgen in Ostdeutschland die gleichen Löhne wie inWestdeutschland gäbe; den letzten Schritt dieser Renten-angleichung müssen wir politisch hier im DeutschenBundestag beschließen.
Mit dem Passus zur Rentenangleichung haben wir mitunserem Koalitionspartner im Koalitionsvertrag aufSeite 53 eine vernünftige Formulierung gefunden. Diewird auch im Antrag der Linken zitiert. Es steht darin,
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3398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Daniela Kolbe
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dass es einen Fahrplan zur vollständigen Angleichunggeben soll, gegebenenfalls mit einem Zwischenschritt.Das Ganze soll in einem Rentenüberleitungsabschluss-gesetz noch in dieser Legislatur festgeschrieben werden.Das ist für uns eine der zentralen Forderungen für die18. Legislaturperiode. Ich schaue an dieser Stelle zu derneuen Ministerin Andrea Nahles. Wir haben Sie jetzt alsMinisterin kennengelernt, die das, was im Koalitionsver-trag beschlossen wurde, auch umsetzt. Insofern verglei-chen Sie uns bitte nicht mit vorangegangenen Koalitio-nen, sondern messen Sie uns an unseren Taten.
Nach dem Koalitionsvertrag muss spätestens zum1. Juli 2016 geprüft werden, wie weit der Angleichungs-prozess vorangekommen ist. Rein mathematisch gese-hen, kann man ja relativ leicht sagen, wo dieser Prozessstehen müsste. Würde er automatisch ablaufen, müssteder durchschnittliche Rentenwert im Osten bei ungefähr95 Prozent des durchschnittlichen Rentenwertes im Wes-ten liegen. Wenn dieser Rentenwert im Osten darunter-liegt und eine Anpassung nötig sein sollte, dann musssie, wenn Sie mich fragen, möglichst schnell und mög-lichst auch noch in dieser Legislaturperiode erfolgen.Der Passus im Koalitionsvertrag, erst 2016 zu prüfen,ist wichtig und auch richtig. Mit Blick auf die Einfüh-rung des gesetzlichen Mindestlohns, den wir heute Mor-gen diskutiert haben, bin ich mir hundertprozentig si-cher, dass wir bis 2016 eine deutliche Anhebung derLöhne im Osten erleben werden; sie werden deutlicherals in Westdeutschland steigen. Ich hoffe auch, dass die-ses kluge Gesetz zur Einführung flächendeckender Min-destlöhne zu einer höheren Tarifbindung in Ostdeutsch-land führen wird. Es ist vernünftig, abzuwarten, welcheImpulse für die Lohnangleichung und dann auch für dieRentenangleichung notwendig sind. Denn wenn es ohneeinen Anpassungsschritt gehen könnte, dann wäre das,ehrlich gesagt, deutlich eleganter. Insofern finde ich die-sen Passus im Koalitionsvertrag wirklich klug.
Wir, die SPD-Fraktion, wollen mit dem Auslaufen desSolidarpaktes ein deutsches Rentensystem. Davon rü-cken wir auch nicht ab. Ich denke, es wird auch nichterst am Sankt-Nimmerleins-Tag kommen, wie es imLinken-Antrag steht.
– Auch Sie fordern die Rentenangleichung ja nicht fürmorgen,
und dafür haben Sie auch gute Gründe.Zur Ehrlichkeit gehört, festzustellen, dass mit demHöherwertungsfaktor, den wir derzeit haben, die ost-deutschen Löhne nach oben gewertet werden. Wenn mandem Vorschlag der Grünen folgen würde und die Rentenvieler Menschen schon morgen angeglichen würden,dann würden gerade die jetzt arbeitenden Menschenmassive Einbußen hinnehmen müssen. Es ist ganz wich-tig, dass wir uns auf die Lohnpolitik konzentrieren unduns 2016 anschauen, ob das Tarifpaket gewirkt hat.Dann können wir im Sinne des Koalitionsvertrags voran-schreiten.Ich sage aber auch: Dadurch, dass die Unterschiedeeben nicht mehr allein zwischen Ost und West verlaufen,dass es durchaus Konflikte innerhalb des Ostens und desWestens gibt, dass es auch Unterschiede gibt zwischenBeitragszahlern Ost und Rentnern Ost, dass es unter-schiedliche Interessen zwischen Beitragszahlern imWesten und Beitragszahlern im Osten gibt, tun wir gutdaran, das Projekt „Angleichung der Rentensysteme“nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern zu einemguten Abschluss zu bringen.Stichwort „Abschluss“: Ich danke für Ihre Aufmerk-samkeit.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Da in drei der ostdeutschen Bundesländer dieses Jahrnoch Landtagswahlen stattfinden, muss die Linke natür-lich einen Antrag zum Thema Rente im Deutschen Bun-destag einbringen.
Der Punkt ist nur: Die Linke erzählt den Menschen inden neuen Bundesländern nie die wirkliche Wahrheitzum Thema Rente.
Das Rentensystem ist zwischen Ost und West deswe-gen immer noch gespalten, weil es zwei Faktoren sind,nach denen die Rente im Osten berechnet wird. Weil derLohnunterschied zwischen Ost und West leider immernoch relativ groß ist – Gott sei Dank nimmt er ab; aber erist immer noch relativ groß –, wird der Rentenanspruch,den ein ostdeutscher Arbeitnehmer oder eine ostdeutscheArbeitnehmerin bis heute erworben hat, morgen, wenner oder sie den Rentenantrag stellt, um 18,7 Prozent er-höht. Das heißt, sie oder er hat ein besser gefülltes Ren-tenkonto als jemand Vergleichbares in Westdeutschland.Das ist die sogenannte Höherwertung. Das ist das Erste.Das Zweite ist: Das, was auf diesem Rentenkontoliegt, wird mit einem Zahlbetrag multipliziert, dem soge-
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Peter Weiß
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nannten Rentenwert. In der Tat ist der Rentenwert Westderzeit noch 8 Prozent höher als der Rentenwert Ost.Aber jeder, der ein bisschen etwas von Mathematik ver-steht, wird erkennen: Wenn man morgen auf einenSchlag, sofort, gleiches Rentenrecht in Ost und West ein-führt, also der gleiche Zahlbetrag gilt und es keineHöherwertung um 18,7 Prozent gibt, dann hat derOstrentner oder die Ostrentnerin weniger, als ihm oderihr nach dem derzeitigen Rentenrecht zusteht. Das ist derPunkt.
Um es klar und deutlich zu sagen: Wer einfach nur al-les angleicht, der sorgt für ein Minus für die Rentnerin-nen und Rentner im Osten. Das ist der Punkt.
Die Grünen erklären hier mutig: Ja, das wollen wir.
Die Linke verschweigt, was sie wirklich vorhat. Siewill nämlich nicht gleiches Rentenrecht in Ost und West– das beantragt sie auch nicht –, sondern sie will, dassDeutschland in Sachen Rente weiter in zwei Zonen auf-geteilt wird.
Sie will Folgendes machen: Sie will die Höherwertungder Rentenansprüche, die man gesammelt hat, beibehal-ten, aber den höheren Zahlbetrag West darauf anwenden.Was hat das zur Folge? Dass ein Arbeitnehmer oder eineArbeitnehmerin im Osten, der oder die die gleiche Ar-beit hinter sich gebracht hat und das Gleiche verdient hatwie ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin im Wes-ten,
eine höhere Rente bekommt als der Arbeitnehmer oderdie Arbeitnehmerin im Westen. Man schafft also eineneue Ungerechtigkeit, nämlich für die Westrentner undWestrentnerinnen. Das ist die Politik der Linken.
Herr Kollege Weiß, der Herr Kollege Matthias W.
Birkwald möchte jetzt gern eine Zwischenfrage stellen
oder eine Zwischenbemerkung machen; beides ist mög-
lich.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr
Weiß, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
Zunächst möchte ich Ihnen sagen: Selbstverständlich
haben wir nicht das vor, was Sie hier eben vorgetragen
haben.
Doch!
Nein.
Guckt doch euren Antrag an!
Ich möchte Ihnen das jetzt gern noch einmal erklären.Sie vergleichen immer diejenigen im Osten mit einemGehalt von beispielsweise 2 000 Euro mit denjenigen imWesten, die ebenfalls 2 000 Euro verdienen. Das Pro-blem ist, dass es solche Fälle nur selten gibt. Wir habennur ein, zwei Branchen, vielleicht auch zwei oder dreimehr – aber es sind insgesamt wenige –, in denen derLohn Ost und der Lohn West jeweils gleich sind.Die Tarifbindung im Osten ist deutlich niedriger. ImWesten arbeiten 60 Prozent der Beschäftigten mit Tarif-vertrag, im Osten nur 48 Prozent. Deswegen ist es so,dass – das habe ich vorhin auch gesagt; ich halte die Ta-belle gern noch einmal hoch – die Beschäftigten imOsten 79 Prozent der Einkommen im Westen haben. Dasstagniert seit Jahren bei unter 80 Prozent; da tut sichnichts.Das bedeutet, dass man auch in dem Bundesland mitdem höchsten Durchschnittslohn im Osten – das istBrandenburg im Jahr 2013 mit 25 600 Euro brutto – im-mer noch deutlich unter dem Bundesland im Westen mitdem niedrigsten Durchschnittseinkommen – das istSchleswig-Holstein mit 27 600 Euro – liegt. Solange esso ist, dass selbst in dem östlichen Bundesland, in demam besten verdient wird, weniger verdient wird als indem westlichen Bundesland mit dem niedrigsten Ein-kommen, so lange ist die Umrechnung, wie der korrekteBegriff heißt, notwendig.Was würde sonst passieren? Ich will es an einem Bei-spiel zeigen. Nehmen wir jetzt nicht eine Friseurin, son-dern eine Floristin. Eine Floristin hat in Teilzeit im Wes-ten 1 000 Euro und im Osten 790 Euro im Monat. Die imOsten hat natürlich auch nur für 790 Euro Beiträge ge-zahlt. Wenn die beiden am selben Tag in Rente gehen,nachdem sie, die eine in Köln, die andere in Leipzig,45 Jahre Blumen verkauft haben, kriegt die Rentnerin inLeipzig nach wie vor 7,8 Prozent weniger als ihre Kolle-gin im Westen. Das sind bei Durchschnittslöhnen, wennman alles zusammen betrachtet, 100 Euro im Monat.So herum muss man vergleichen. Man muss dieselbenJobs vergleichen. Außerdem ist im Osten die Arbeitszeitlänger, und es gibt weniger Sonderzahlungen. Das heißt,
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Matthias W. Birkwald
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insgesamt hat die Kollegin im Osten die deutlichschlechtere Ausgangsposition und die niedrigere Rente.Das könnte man mit dem Stufensystem deutlich ändern.Machen Sie es ab dem 1. Juli!
Herr Kollege Birkwald, erstens haben wir in der Tat
in vielen Berufen nach wie vor einen deutlichen Lohnun-
terschied zwischen Ost und West.
Deswegen haben wir die Höherwertung von Rentenan-
sprüchen um 18,7 Prozent. Deswegen wollen wir diese
Höherwertung nicht auf einen Schlag abschaffen.
Zweitens. In der Tat haben wir auch sonst Lohnunter-
schiede. Die Rentenversicherung ist so gebaut, dass sie
beitragsbezogen ist. Weil wir aber wissen, dass im Osten
weniger verdient wird, gibt es diese Höherwertung.
Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Ich komme aus
Baden-Württemberg, einem Bundesland, in dem durch-
schnittlich sehr gut verdient wird. Schleswig-Holstein
dagegen hat ein Lohnniveau, das bei 75 Prozent des ba-
den-württembergischen Niveaus liegt. Die Kolleginnen
und Kollegen aus Schleswig-Holstein könnten mit glei-
chem Recht fragen: Warum ist angesichts solcher Lohn-
unterschiede 1 Euro Rentenbeitrag in Baden-Württem-
berg und in Schleswig-Holstein gleich viel wert? Diese
Frage könnte zum Beispiel Frau Kollegin Hiller-Ohm
aus Lübeck stellen.
Ja, wir wollen ein einheitliches Rentenrecht in Ost
und West. Aber wenn wir es auf einen Schlag einführen
würden, hieße dies, die Höherwertung würde wegfallen,
und damit hätten die Rentnerinnen und Rentner im Osten
weniger, wenn sie morgen einen Rentenantrag stellen
würden, als es nach heutigem Recht der Fall wäre. Das
wollen wir von der Großen Koalition nicht.
Herr Birkwald, wenn die Linken Gerechtigkeit tat-
sächlich ernst nehmen – das tun sie angeblich –, dann
darf nicht das passieren, was gemäß Ihrem Antrag pas-
sieren würde, nämlich dass plötzlich die Beitragszahlung
eines westdeutschen Arbeitnehmers oder einer westdeut-
schen Arbeitnehmerin weniger wert ist als die von je-
mandem aus Ostdeutschland. Es geht erst recht nicht,
dass die Verhältnisse umgekehrt werden. Ihr Antrag be-
deutet: Spaltung Deutschlands auf Dauer.
Damit habe ich dieses komplexe System einmal dar-
gestellt. Natürlich ist es richtig, dass wir 24 Jahre nach
der deutschen Einheit zu einem gemeinsamen System in
der Rente kommen müssen,
aber doch bitte so, dass es nicht auf der einen oder ande-
ren Seite Verliererinnen und Verlierer in großer Zahl
gibt.
Das Rentensystem – Frau Kollegin Kolbe hat es ja er-
klärt – ist deshalb unterschiedlich angelegt worden, weil
man gedacht hat, dass die Lohngleichheit in Ost und
West relativ schnell zustande kommt. Bei Lohngleich-
heit müsste es keine Höherwertung geben, und der Ren-
tenwert in Ost und West wäre der gleiche. Wir wissen
heute, dass dies nicht automatisch geschieht.
Aber wir haben in der Ost-West-Angleichung eine
neue Dynamik. Letztes Jahr gab es eine deutliche Anhe-
bung des Rentenwerts Ost. Zum 1. Juli dieses Jahres
wird dies erneut der Fall sein. Das Lohnniveau gleicht
sich also schneller an, als wir gedacht haben.
Zum Schluss werden wir – Zielmarke ist das Jahr
2019, also das Auslaufen des Solidarpakts – hoffentlich
ein gemeinsames Rentenrecht in Ost und West durch ei-
nen Gesetzgebungsakt des Deutschen Bundestages
schaffen. Aber wir sollten dies bitte so tun, dass es weder
im Osten noch im Westen Verlierer und Verliererinnen
gibt und dass keine neuen Ungerechtigkeiten geschaffen
werden, die dafür sorgen, dass sich plötzlich Rentner aus
dem Westen bei uns über das Rentenrecht beschweren.
Wir müssen wirklich ein gleiches Rentenrecht schaffen,
was bedeutet, dass jeder in die Rentenversicherung ein-
gezahlte Euro das gleiche wert ist – im Osten und im
Westen. Das ist unser Ziel, das wir miteinander erreichen
wollen.
Wenn die Linken im Osten diese Wahrheit im Wahl-
kampf erzählen würden, dann wüssten die Menschen,
dass die Rentnerinnen und Rentner in Ost und West bei
der Großen Koalition besser aufgehoben sind.
Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir mer-ken alle, wie emotional die Rentendebatte ist. Das istnicht nur im Wahlkampf im Osten der Republik so, son-dern auch hier. Aber wir wissen auch, dass der geringereRentenwert bei den Menschen im Osten ganz eindeutigals ungerecht empfunden wird. Sie haben einfach dasGefühl, dass ihre Lebensleistung weniger wert ist. Nachso langer Zeit eines gemeinsamen Deutschlands wollensie eine gleiche Rente.Ich kann diesen Wunsch verstehen und finde ihn auchberechtigt. Genau darum bin ich sehr froh, dass wir imKoalitionsvertrag einen ganz klaren Fahrplan zur Ren-tenangleichung verankert haben. 2020 wird es keine Un-
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Waltraud Wolff
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terschiede mehr geben. Das beschließen wir in dieserLegislaturperiode.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,manchmal ist die Koalition schneller, als Sie vermuten.
Heute Morgen gab es die erste Lesung zum Mindest-lohn und zum Tarifpakt. In der letzten Sitzungswochehaben wir das Rentenpaket beschlossen. Also, meineBitte: Hören Sie doch auf, im Kaffeesatz immer nur dasSchlechte herauszufischen.
Wenn Sie dafür unsere Gesetzentwürfe lesen würden,dann wüssten Sie, dass der Mindestlohn bereits 2015kommt und dass es spätestens 2017 überhaupt keineÜbergänge mehr gibt. Ich finde es sehr unlauter, geradean einem Tag wie heute das schlechtzumachen, was wirfür Juli 2016 angekündigt haben. Wir haben einen klarenFahrplan, und der gilt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur die SPD ist miteinem ganz klaren Konzept für die RentenangleichungOst/West in den Wahlkampf gegangen.
– Auch die Grünen brauchen sich nicht aufzuregen. Hiergibt es weder einen Fahrplan noch eine richtige Pro-grammatik und keine festen Zusagen.
Aber wir müssen eines gemeinsam zur Kenntnis neh-men: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Men-schen im Osten der Republik die Linke mit 21,2 Prozentund die SPD mit 19 Prozent gewählt haben. Das Ver-trauen jedoch hat die Union bekommen. Meine Damenund Herren, hier hat man auch Grenzen für das, was manim Wahlkampf versprochen hat.Die Unterschiede im Rentenrecht sind nach über20 Jahren natürlich nicht mehr akzeptabel. Das habenwir in der Großen Koalition im Koalitionsvertrag festge-schrieben. Zwar wird der Unterschied in den Durch-schnittslöhnen mit dem Höherwertungsfaktor ausgegli-chen,
aber alles das, was in der Rente pauschal berücksichtigtwird, ist für Rentnerinnen und Rentner in den neuenBundesländern noch immer weniger wert: Kindererzie-hungszeiten, Wehrpflicht, Zivildienst, Pflegezeiten undArbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderun-gen. Die Renten sind an die Lohnentwicklung gekoppelt.Wir sind stolz darauf, dass Renten sich wie die Löhneentwickeln. Das soll auch so bleiben. Das heißt – dasschreiben Sie auch in Ihrem Antrag –: Wir brauchen einepositive Lohnentwicklung in Ostdeutschland. Nur miteiner solchen Politik können wir die Probleme bei denRenten im Osten wirklich lösen.
Das Problem, das wir in Ostdeutschland haben, ist,dass durch den Zusammenbruch der desolaten IndustrieTausende Erwerbsbiografien ein abruptes Ende gefun-den haben, eine wirkliche Erholung der Wirtschaft aus-blieb. Bis heute haben wir schlecht bezahlte und schlechtabgesicherte Jobs, die damals entstanden sind, und imOsten der Republik spielen Betriebsrenten so gut wiekeine Rolle. Diese Unterschiede, die ich eben genannthabe, meine Damen und Herren, können wir über dieAngleichung des Rentenwertes nicht ausgleichen. Da-rum muss etwas anderes passieren. 2015 kommt derMindestlohn. Etwa 30 Prozent der Beschäftigten imOsten Deutschlands werden davon direkt profitieren. Sieerhalten höhere Löhne. Dadurch steigen die Entgelt-punkte für die Rente. Dadurch wiederum steigt auch derRentenwert: weil das Lohnniveau steigt. Meine Damenund Herren, das kommt bei den Menschen in den neuenBundesländern an.
Das Rentenpaket ist beschlossen. Auch die Mütter-rente hilft. Die Solidarrente ist im Koalitionsvertrag fest-geschrieben. Auch dadurch kommen höhere Renten.Also: Wir haben einen festen Fahrplan zur Rentenanglei-chung. Wir machen Politik für gerechtere Löhne und hö-here Renten. Wir packen das an. Daran sollen uns dieMenschen im Land messen.Herzlichen Dank.
Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich
das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-trag der Linkspartei ist nichts Neues. Sie fordern in re-gelmäßigen Abständen das Parlament auf, die Renten inOst und West anzugleichen
und verschweigen dabei, dass der Angleichungsprozessseit Jahren in vollem Gange ist.
Dass Sie den Menschen im Osten einreden, sie seien ek-latant benachteiligt, ist also nicht in Ordnung.
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3402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Astrid Freudenstein
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Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen. 1990, imJahre der Wiedervereinigung, hatte ein Entgeltpunkt imOsten einen Wert von 15,95 D-Mark, im Westen warenes 39,58 D-Mark. Das war ein riesiger Unterschied.Doch schon im Jahr 2000 lag der Rentenwert imOsten dann bei 42,26 D-Mark und im Westen bei48,58 D-Mark. Innerhalb von zehn Jahren hatte eine rie-sige Angleichung stattgefunden. Im kommenden Jahrwird der Rentenwert im Osten auf 26,39 Euro gestiegensein und damit nur noch sehr knapp unter dem Wert imWesten von 28,61 Euro liegen. Sagen Sie das den Men-schen im Osten, statt beharrlich von einer Benachteili-gung zu sprechen, die in dem Ausmaß nicht gegeben ist.
Die Zahlen belegen, dass das Rentensystem mit derWiedervereinigung die bis heute größte Herausforde-rung seiner Geschichte mit Bravour gemeistert hat. Nurmit der von Adenauer eingeführten umlagefinanziertengesetzlichen Rentenversicherung war es überhaupt mög-lich, die ostdeutsche Alterssicherung in das deutscheRentenversicherungssystem einzugliedern. Das war eineganz große Solidarleistung der Rentenbeitragszahler.
Sie von der Linken sprechen in Ihrem Antrag von ei-ner vergleichbaren Lebensleistung, die nicht in gleicherWeise anerkannt würde. Sie beziehen sich dabei alleinauf den aktuellen Rentenwert. Das ist aber zu kurz ge-dacht; das wurde in der Debatte mehrfach erwähnt.Nach der Wiedervereinigung galt es, ein ausgeklügel-tes, faires und allgemein akzeptiertes Verfahren zu fin-den, das verschiedene Erwerbsbiografien, Lohnunter-schiede und eben auch andere Faktoren berücksichtigt.Die Gerechtigkeit an der Gleichheit eines einzigen Wertsfestzumachen, ist deswegen hanebüchen, gerade in Be-zug auf die Komplexität des Angleichungsprozesses.Kollege Weiß hat das ja sehr schön erklärt.Damit den Rentnern in Ostdeutschland aus den nied-rigen DDR-Arbeitsentgelten kein Nachteil entsteht, wer-den diese mit einem Umrechnungsfaktor um gut 18 Pro-zent erhöht; auch das wurde erwähnt. So haben dieVersicherten in den neuen Bundesländern heute teils hö-here Ansprüche als in den alten Bundesländern: Bei denMännern sind es im Schnitt 77 Euro mehr, bei denFrauen sogar 209 Euro mehr im Jahr.
Es gab – das hören Sie wieder ungern – in der sozia-listischen Planwirtschaft eine vermeintliche, eine künst-liche Vollbeschäftigung, somit durchgängige Erwerbs-biografien und längere Lebensarbeitszeiten.
Frauen konnten oder mussten – wie auch immer – ihreKinder abgeben
und gingen einer Erwerbsarbeit nach. Deshalb bekom-men sie heute auch mehr Rente als ihre westdeutschenMitbürgerinnen, die auch gearbeitet haben, aber eben da-heim in der Kindererziehung; und das ist nicht wenigerwert. Wenn sich jemand beschweren kann, dann sind estatsächlich die älteren Frauen im Westen.Das feine und akzeptierte System, das gegenwärtigdie Renten organisiert, funktioniert, und wir wollen esdeshalb auch nicht verändern. In zwei Jahren, zum1. Juli 2016, wird geprüft, wie weit sich der Anglei-chungsprozess bereits vollzogen hat, und auf dieserGrundlage werden wir dann entscheiden, was zu tun ist.Wie man daraus eine Ankündigung ableiten kann, manwolle nichts tun, kann ich nicht erkennen.Eine Angleichung des Rentenwerts durch Zulagen,wie Sie sie fordern, würde neue Ungerechtigkeitenschaffen, anstatt alte abzuschaffen. Wir wollen zu einemgemeinsamen Rentensystem in Ost und West kommen,wir wollen aber keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/982 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Gesetzes zurZahlbarmachung von Renten aus Beschäfti-gungen in einem GhettoDrucksachen 18/1308, 18/1577Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/1649Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/1650b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, JanKorte, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE
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Vizepräsident Peter Hintze
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Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträg-lich auszahlenDrucksachen 18/636, 18/1649Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie einver-standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.Als erster Rednerin erteile ich das Wort Frau Staatsse-kretärin Gabriele Lösekrug-Möller für die Bundesregie-rung.
G
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Bei der ge-
meinsamen Sondersitzung von Bundestag und Bundesrat
zum Gedenken an das Kriegsende hat der damalige Bun-
despräsident Horst Köhler am 8. Mai 2005 Folgendes
gesagt:
Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham
zurück auf den von Deutschland entfesselten Zwei-
ten Weltkrieg und auf den von Deutschen begange-
nen Zivilisationsbruch Holocaust.
Was wir heute beschließen werden, macht nichts gut
von all dem Schrecken, den die Nationalsozialisten wäh-
rend der Jahre 1933 bis 1945 verbreitet haben, nichts
von dem unermesslichen Leid, das sie Millionen von
Menschen angetan haben.
Der vorliegende Gesetzentwurf, kurz Ghettorentenge-
setz, ist aber ein wichtiges Zeichen der Anerkennung,
der Anerkennung der Arbeit, die Menschen in Ghettos,
die im nationalsozialistischen Einflussbereich lagen, un-
ter unwürdigen Bedingungen geleistet haben. Sie taten
das – das Wort geht mir schwer über die Lippen – frei-
willig, wobei der Begriff „freiwillig“ aufgrund der Rea-
lität im Ghetto einen bitteren Beigeschmack hat; denn
die Menschen hegten die verzweifelte Hoffnung, der De-
portation und dem Tod entgehen zu können, wenn sie
eine Arbeit hatten. Das Leid, das sie erlitten haben, ist
heute unvorstellbar. Diese Menschen – es leben immer
noch Zehntausende von ihnen – wollen in der großen
Mehrzahl statt einer einmaligen Entschädigungszahlung
eine tatsächliche Sozialversicherungsrente für die Zeiten
der Beschäftigung im Ghetto.
Dass es sich bei Ghettoarbeit nicht automatisch um
Zwangsarbeit handelt, hat das Bundessozialgericht be-
reits im Jahr 1997 festgestellt. 2002 hat der Deutsche
Bundestag beschlossen, dass Renten aus Beschäftigun-
gen im Ghetto auch tatsächlich ab dem 1. Juli 1997 ge-
zahlt werden können. Allerdings war die Rechtsausle-
gung anfangs so strikt, dass viele Anträge zunächst
abgelehnt wurden. Erst 2009 wurde diese Rechtsausle-
gung geändert. Jetzt wurden die Renten zwar bewilligt,
aber aufgrund einer Ausschlussfrist nur für vier Jahre
rückwirkend, also meist ab 2005 mit einem Zuschlag.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern wir das.
Ab dem 1. Juli 2014 erhalten nun alle ehemaligen Ghet-
tobeschäftigten ihre Renten rückwirkend ab 1997. Zu-
dem werden alle Renten auf Antrag der Berechtigten von
Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt. Jeder und jede
entscheidet selbst, ob er oder sie eine Nachzahlung der
Rente wünscht – ohne die bisherigen Zuschläge – oder
ob er oder sie stattdessen die bisherige Rente mit Zu-
schlägen – jedoch ohne weitere Nachzahlung – behalten
möchte.
Aufgrund ihres hohen Alters müssen die ehemaligen
Ghettobeschäftigten nun schnell zu ihrem Recht kom-
men. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum
Ghettorentengesetz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ab-
schließend noch einmal betonen: Durch die Neuregelung
bei den Ghettorenten können wir nichts wiedergutma-
chen, doch wir stehen zu unserer Verantwortung für die
Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Wir
setzen ein Zeichen gegen das Vergessen. Und wir sorgen
dafür, dass die Arbeit im Ghetto anerkannt wird und die
Betroffenen nun zügig und unbürokratisch die Rente er-
halten, die ihnen zusteht.
Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Matthias W. Birkwald von der Fraktion Die Linke das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Im Jahr 1997 stellte das Bundessozialgericht fest,dass NS-Verfolgten, die in einem Ghetto arbeiteten, eineRente nach deutschem Recht zustehe. 2002 hatte dannder Bundestag zum ersten Mal beschlossen, allen Über-lebenden der Nazighettos eine Rente rückwirkend biszum Zeitpunkt des Urteils, also bis 1997, zu gewähren.Aber erst heute, 17 Jahre nach dem BSG-Urteil, können40 000 betroffene hochbetagte Jüdinnen und Juden in al-ler Welt nun endlich hoffen, dass dieser Anspruch zumersten Mal Wirklichkeit werden wird. Dafür danke ichder Bundesregierung und dem Bundesministerium fürArbeit und Soziales, namentlich Frau Ministerin Nahlesund Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller, und allenanderen daran Beteiligten im Namen der Fraktion DieLinke.
Sie, meine Damen und Herren, haben sich erstens imGegensatz zu all ihren Vorgängerregierungen endlich
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3404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Matthias W. Birkwald
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den komplizierten rechtlichen Problemen gestellt, stattsich hinter ihnen zu verstecken, haben die mehrerenHundert Petitionen dazu ernst genommen; beispielhaftsei hier nur die Petition des engagierten SozialrichtersDr. Jan-Robert von Renesse erwähnt. Sie haben zweitensnun schnell eine Lösung gefunden. Drittens haben Siealle Regelungsvorschläge meiner Fraktion aus unseremAntrag in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen.Ich danke Ihnen aber vor allem dafür, dass Sie mitdem heute zu verabschiedenden Gesetz seine unrühmli-che zwölfjährige Vorgeschichte beenden.
Denn gegen eine angemessene und schnelle Auszahlungder Ghettorenten gab es in Deutschland leider massiveWiderstände. Ich will das gerade heute sehr ehrlich undsehr deutlich sagen: Die jüdischen Opfer sahen sich überein Jahrzehnt lang bürokratischen Blockaden durch dieRentenversicherungsträger ausgesetzt. Ausführlich hatdas der Warschauer Historiker Stephan Lehnstaedt in ei-nem Aufsatz in den Vierteljahresheften für Zeitge-schichte im vergangenen Jahr beschrieben. Die Opfer lit-ten unter einer meist restriktiven richterlichen Praxis,wenn sie gegen ihre abgelehnten Bescheide klagten. DieBundes- und auch die Landesregierungen versagten alsAufsichtsbehörden. Denn sie wussten um die Unzuläng-lichkeiten des Gesetzes, aber sie weigerten sich bisheute, daran etwas zu ändern, auch aus Sorge vor finan-ziellen Belastungen. Im Jahr 2008 gab es deshalb 6 100bewilligte Anträge und 65 000 abgelehnte Anträge. Erstdas BSG-Urteil aus dem Jahr 2009 hat dazu geführt, dassZehntausende von abgelehnten Bescheiden überprüftwurden. 24 000 Bescheide wurden anschließend positivbeschieden. Aber den Betroffenen – das ist das Pro-blem – wurde der rückwirkende Rentenbeginn ab 1997versagt.Diese Vorgeschichte des heutigen Gesetzes ist keinRuhmesblatt für die deutschen Bundesregierungen die-ser Zeit und auch nicht für die Rentenversicherungsträ-ger dieser Jahre.Sicher, es ist viel, viel zu spät dafür; aber ich bin den-noch froh, dass den Ghettoarbeiterinnen und Ghettoar-beitern als Opfern der faschistischen Gewaltherrschaftheute nun endlich ein Stück Gerechtigkeit widerfahrenwird. Deswegen wird meine Fraktion diesem Gesetzent-wurf zustimmen.
Meine Damen und Herren, es bleibt aber noch eineGerechtigkeitslücke. Es war die Klage einer polnischenJüdin, die zum Urteil von 1997 führte und den Stein beiden Ghettorenten ins Rollen brachte. Aber ausgerechnetfür die Jüdinnen und Juden und die Sinti und Roma, dieseit dem 31. Dezember 1990 durchgängig in Polen woh-nen, gibt es immer noch keine Lösung. Dem steht leiderdas deutsch-polnische Rentenabkommen aus dem Jahre1975 im Weg. Es blockiert in seiner derzeitigen Fassungdie Auszahlung von Ghettorenten in Polen. Darum for-dern wir in unserem Entschließungsantrag die Bundesre-gierung auf, hier ebenfalls schnell zu einer Lösung mitder polnischen Seite im Interesse der hochbetagten Be-troffenen zu kommen.
Ich bitte Sie, diesen letzten fehlenden Stein aus dem Wegzu räumen und das Ghettorentengesetz so zu einem gu-ten Abschluss zu bringen.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag mit dem Ge-setz zur Ghettorente einen wichtigen Beitrag geleistet,indem den Menschen, die von der Nazidiktatur in Ghet-tos zusammengepfercht wurden und die dort selbstver-ständlich um ihren Lebensunterhalt gekämpft und dafürgearbeitet haben, erstmalig ein eigener Rentenanspruchzuerkannt wurde. Es war 2002 eine wirklich großartigeLeistung des deutschen Parlaments, dies endlich zu be-schließen.
Mit dieser Entscheidung von 2002 haben wir dafür ge-sorgt, dass denen, denen die Nazis durch die Verbrin-gung in Ghettos ihre menschliche Würde rauben wolltenund geraubt haben, mit dem eigenen Rentenanspruch fürihre in den Ghettos geleistete Arbeit ein Stück ihrerWürde zurückgegeben wurde. Bei der Ghettorente gehtes in Wahrheit nicht nur um eine finanzielle Leistung; esgeht zuallererst um die Achtung der Würde des Men-schen und um die Achtung der Würde der Arbeit. Daswar das Entscheidende bei dem Ghettorentengesetz.
Nun war es leider so, dass viele Männer und Frauen,die nach der Intention des Gesetzgebers einen Anspruchauf Ghettorente hatten, erfahren mussten, dass aufgrundhoher bürokratischer Hürden und einer ziemlich proble-matischen Auslegung durch die Rentenversicherung ihreAnträge abgelehnt wurden. Als nun das Bundessozialge-richt hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes neuesRecht gesprochen hatte, konnte man eine solche Ghetto-rente aber nur vier Jahre rückwirkend beantragen.Mit der heutigen Gesetzesnovelle sorgen wir für Klar-heit. Jeder und jede, der oder die unter den schrecklichenZuständen in einem Ghetto leben und arbeiten musste,kann rückwirkend ab dem Jahr 1997 Rente beantragen.Damit sorgen wir dafür, dass alle, die Anspruch auf eineGhettorente haben, gleichbehandelt werden. Das, was
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3405
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2002 die eigentliche Absicht des Gesetzgebers war, wirdim Zuge dieser Novellierung deutlich und klar ins Ge-setz geschrieben. Damit sorgen wir hoffentlich ein Stückweit für mehr Gerechtigkeit bei der Ghettorente.
Wie die Frau Staatssekretärin schon dargestellt hat,kann jeder für sich berechnen lassen, ob er die bisherige,vier Jahre rückwirkend gewährte Rente beziehen willoder ob er sie neu berechnen lassen will und sich ab demJahr 1997 ausbezahlen lassen will. Wir sorgen also fürWahlfreiheit. Jeder Betroffene kann selbst für sich ent-scheiden.Zum Zweiten unterliegt derjenige, der es bislang viel-leicht versäumt hat, einen Antrag zu stellen, dann, wenner erstmalig einen Antrag stellt, keiner Verfallsfrist.Auch das ist wichtig.Zum Dritten kann auch die Witwe oder der Witwer ei-nes mittlerweile verstorbenen Ehepartners, der dieseGhettorente hätte beantragen können und Anspruch aufsie gehabt hätte, nachträglich für sich diese Witwenrentebeantragen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir de-nen, die als Hinterbliebene von Anspruchsberechtigtenheute hochbetagt unter uns leben, die Möglichkeit eröff-nen, die ihnen und ihrem Ehepartner zustehende Rentein Form der Witwenrente zu beziehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Recht istdarauf hingewiesen worden – die Opposition will jaüberall ein Haar in der Suppe finden –, dass wir in Bezugauf Polen eine Sondersituation haben, weil es eindeutsch-polnisches Sozialversicherungsabkommen gibt.
Darin ist geregelt – was ja auch nicht dumm, sondern ei-gentlich gescheit ist –, dass Rentenansprüche, die einpolnischer Staatsbürger gegenüber der Deutschen Ren-tenversicherung hat, durch die polnische Sozialversiche-rung eingelöst werden. Wenn wir hier im DeutschenBundestag ein Gesetz beschließen, hat das aufgrund die-ses Sozialversicherungsabkommens nicht unmittelbarAuswirkungen für jemanden in Polen. Aber natürlichwünschen wir uns, dass jemand, der in Polen lebt, inPolen, wenn auch nach polnischem Recht, eine eigeneRente für im Ghetto geleistete Arbeit bekommt. Dass erdiese vorgesehene Ghettorente bekommt, die wir ihmzugestehen, ist unser Wille.Insofern begrüße ich es, Frau BundesministerinNahles, dass die Bundesregierung bereits, bevor wirheute dieses Gesetz beschließen, also sozusagen schonin vorauseilendem Gehorsam, mit der polnischen Regie-rung Gespräche aufgenommen hat, wie wir unter denBedingungen des deutsch-polnischen Sozialversiche-rungsabkommens dafür sorgen können, dass möglichstauch in Polen lebende ehemalige Ghettoarbeiterinnenund -arbeiter ihre Rentenansprüche einlösen können.Dafür ein herzliches Dankeschön an die Bundesregie-rung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für unsheute Lebende ist ja überhaupt nicht vorstellbar, was esbedeutete, zusammengepfercht und vom normalen Le-ben ausgeschlossen in einem Ghetto unter der Nazidikta-tur zu leben und zu arbeiten. Eine Betroffene aus Ungarnhat mir in meiner Eigenschaft als Präsident desMaximilian-Kolbe-Werks – nicht in meiner Eigenschaftals Abgeordneter – einen Brief geschrieben, nachdem siezu einem von deutscher Seite mitfinanzierten Erholungs-aufenthalt eingeladen worden war. Sie schreibt Folgen-des:Die Frage „warum“ stellt sich ein jeder, derAuschwitz überlebt hat. Warum wurde gerade ichbegünstigt oder bestraft? Dass dort, wo vollkom-mene Familien spurlos verschwunden waren, woaus zehn Personen im Durchschnitt nicht mehr alszwei zurückgekehrt waren, ich am Leben gebliebenbin, warum?Ich brauchte nach Kriegsende 45 Jahre, um in 1990nach Deutschland zu reisen, und 59 Jahre, um denMut zu fassen, nach Auschwitz – freiwillig aus ei-genem Wunsch – in 2003 zurückzufahren. 1990wollte ich meinen Augen nicht glauben. Ich habeein ganz anderes Deutschland gefunden …Nach so vielen Jahren – das kann ich im Namenmeiner ehemaligen Lagergeschwister und Lager-brüder auch sagen – hassen wir schon niemanden.Wir sind zumeist weit über 80 Jahre alt, unsere Tä-ter leben schon nicht. Wen sollen wir denn jetzt has-sen? Das Leben hat uns auch überzeugt, dass Hassnur weiter Hass und Angst als Erfolg hat.Ich finde es menschlich bewegend und großartig, dassdiejenigen, denen so unendliches Leid geschehen ist,heute – hochbetagt – zu einer solchen Haltung, zu einersolchen Aussage fähig sind.
Deshalb freue ich mich, wenn wir heute – hoffentlicheinstimmig – die Änderung des Ghettorentengesetzesbeschließen und solch großartigen Menschen, dieSchreckliches und Schlimmes in ihrem Leben erfahrenhaben, durch die Ghettorente ein Stück ihrer Würde zu-rückgeben können.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-ordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.
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3406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eshat jetzt zwölf Jahre gedauert, bis der Deutsche Bundes-tag es schafft, den damals einstimmigen Beschluss recht-lich so klarzustellen, dass dem Willen, den der DeutscheBundestag vor zwölf Jahren geäußert hat, tatsächlichauch Geltung verschafft wird. Die Phase dazwischen wardurchaus beschämend. Das ist beschrieben worden. DerWille wurde in der Verwaltung nicht umgesetzt. Deshalbhat es bis zum Sozialgerichtsurteil von 2009 gedauert,bis rechtliche Klarstellung erfolgt ist. Dann wurden haltnur rückwirkend ab 2005 die Renten gezahlt, im Gegen-satz zu dem Willen des Gesetzgebers, dass das ab 1997passieren sollte.Es ist gut, dass wir so einmütig sind. Aber für diesebeschämende Phase können wir uns bei den Betroffenen– auch wenn es nicht unser Wunsch war – eigentlich nurentschuldigen. Von ihnen sind in der Zwischenzeit jaauch schon viele gestorben; das muss man an der Stelleja auch noch einmal sagen. Das ist mehr als bitter. Dasist eine bewegende Geschichte.Ich will noch einmal kurz beschreiben, was in denletzten vier Jahren passiert ist, denn es war für mich und,wie ich glaube, auch für alle Beteiligten ein ganz beson-derer Prozess – nicht nur wegen des Themas, sondernweil wir da einen Parlamentarismus gelebt haben, der inmeinen Augen vorbildlich ist. Wir haben nämlich ge-meinsam darum gerungen, wie wir eine Lösung hinkrie-gen, damit die Menschen ab 1997 ihre Renten bekom-men.Ich möchte mich an der Stelle auch noch einmal beiallen seinerzeit beteiligten Berichterstattern bedanken:bei Karl Schiewerling, bei Peter Weiß, bei Volker Beckaus meiner Fraktion, bei Ulla Jelpke und MatthiasBirkwald von den Linken, aber auch bei Heinrich Kolbvon der FDP und last, not least bei Toni Schaaf von derSPD, der wesentlich mit dazu beigetragen hat, dass wirdas Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, und da-bei immer eine treibende Kraft war.
Es war eine schwierige Geschichte; denn es ist ren-tenrechtlich so, dass man dann, wenn man später Rentebezieht, einen Zuschlag bekommt. Die Menschen, die ab2005 ihre Rente bekommen haben, haben eine höhereRente bekommen als dann, wenn sie sie schon ab 1997bekommen hätten.Bis es dazu kam, dass heute der Gesetzentwurf aufdem Tisch liegt, gab es vielfältige Überlegungen. Eswurde die Möglichkeit erörtert, dass die Menschen eineNachzahlung bekommen, dafür aber für die Zukunft einegeringere Rente erhalten. Da haben wir gefragt: Kannman das den Menschen wirklich zumuten, dass mansagt, ihr kriegt eine geringere Rente? Dann haben wirüber steuerfinanzierte Entschädigungslösungen nachge-dacht. Das ist alles sehr kompliziert, aber alles durchausmachbar.Es gab einen Moment, in dem der Prozess fast ge-stoppt worden wäre, weil gesagt worden ist: Durch dieRentenaufschläge wird doch ausgeglichen, dass dieMenschen erst später Rente bekommen haben. Wirkonnten aber nachweisen, dass dem nicht so ist. Es istvielmehr so, dass Verluste in der Größenordnung einesvierstelligen Euro-Betrages entstehen. Das sind keineBeträge, mit denen man die Schuld wieder begleichenkann, aber sie sind mehr als symbolisch und für die Be-troffenen teilweise durchaus viel Geld. Es ist gut, dasswir das hinbekommen haben, dass die Menschen diesesGeld nun auch ausgezahlt bekommen können.Wir hatten dann eine Anhörung, in der gesagt wordenist, beide Wege – Entschädigungen und Rentennachzah-lungen – sind prinzipiell möglich; beide sind schwierig.Es gab aber eine klare Äußerung von den Betroffenenund von den Betroffenenverbänden; sie haben gesagt:Wir wollen eine rentenrechtliche Lösung, wir wollenkeine Entschädigung. Wir wollen kein Almosen, son-dern wir haben gearbeitet und möchten dafür unserewohlverdiente Rente haben.Wir waren eigentlich vor einem Jahr fast schon soweit, wie wir heute sind. Leider ist es uns nicht schonvor einem Jahr gelungen, das Gesetz zu verabschieden.Es gab Widerstände. Ich weiß nach wie vor nicht, vonwem und mit welchen Gründen. Ich kann es nicht wirk-lich nachvollziehen. An der Stelle muss ich es einfachsagen: Ich finde, die Leute, die dafür verantwortlichsind, dass wir das Gesetz nicht schon vor einem Jahr ver-abschiedet haben, sollten sich etwas schämen.
Denn in der Zwischenzeit sind wieder mehr Menschengestorben. Im politischen Prozess ist ein Jahr wenig, fürMenschen, die 85 Jahre alt sind, die 90 Jahre alt sind, istein Jahr sehr viel. Umso besser ist es – dafür möchte ichder Bundesregierung und allen Beteiligten danken –,dass diese Widerstände überwunden worden sind, wirden Gesetzentwurf sehr zügig beraten haben und dasswir dieses Gesetz heute einstimmig verabschieden kön-nen.Ich möchte mit einem Zitat aus der Anhörung enden.Uri Chanoch, einer der Überlebenden, hat gesagt:Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,es ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghettoin-sassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekom-men, und das ist einfach. … Es ist wirklich nichtviel. … macht das mit dem Termin 1997 und fertig.Und damit ist dann Schluss, mehr wollen wir nichtvon euch. Wir bitten nur darum, dass das erledigtwird.Das schaffen wir heute – viel zu spät, aber wir schaf-fen es und senden damit, wie ich finde, ein gutes Signalan die Betroffenen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3407
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestern haben wir im Ausschuss für Arbeit und Sozialesder Änderung des Ghettorentengesetzes einstimmig zu-gestimmt. Alle Fraktionen sind sich einig, dass die Än-derungen, die wir heute in zweiter und dritter Lesung be-schließen, für die Betroffenen endlich etwas mehrGerechtigkeit bedeuten. Ich bedanke mich schon zu Be-ginn meiner Rede ganz herzlich für diese Einmütigkeitim Deutschen Bundestag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht – das wurdeschon gesagt – um Menschen, die in der NS-Zeit unterschlimmsten Bedingungen und zu Hungerlöhnen in vonden Nazis errichteten Ghettos gearbeitet haben. Ihre Ar-beitskraft wurde ausgenutzt, ihr Leben sollte keine Zu-kunft haben. Dennoch wurden für sie Rentenbeiträge ab-geführt. Die Betroffenen selbst haben jahrzehntelanggefordert, dass sie für diese Zeit eine Rente und nichtetwa eine Entschädigung bekommen, weil sie das, wassie dort unter Zwangsbedingungen, eingesperrt imGhetto, erlitten haben, dennoch als Arbeit empfundenhaben.Bis Ende 2013 sind insgesamt rund 57 000 Ghettoren-ten bewilligt worden. 21 500 dieser Renten wurden we-gen der Anwendung der Regelung, nur vier Jahre rück-wirkend zu zahlen, und knapp 17 000 von ihnen wegenversäumter Antragsfrist erst später ausgezahlt. Etwazwei Drittel aller Renten werden jetzt durch dieses Ge-setz rückwirkend ab 1997 ausgezahlt. Etwa zwei Drittelder Antragsteller werden jetzt eine entsprechende Unter-stützung bekommen.Als der Bundestag das Ghettorentengesetz 2002 be-schlossen hat, war für uns nicht abzusehen, dass es dazuführen wird, dass in den ersten Jahren etwa 90 Prozentder Anträge, also der allergrößte Teil, abgelehnt werden.Erst durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts2009 hat sich das verändert. Etwa die Hälfte aller bislangabgelehnten Anträge wurde dann rückwirkend bewilligt.Aber das Problem war, dass sie nur vier Jahre rückwir-kend bewilligt wurden; das liegt an unserem Sozialrecht.Dies wurde von den Betroffenen als Unrecht empfun-den, weil andere diese Rente ja ab 1997 bekamen. Esging um Ansprüche, die die Menschen verdient haben.Auch durch die Möglichkeit, stattdessen Zuschläge zubekommen, wurde man dem Gerechtigkeitsbedürfnis derOpfer nicht gerecht. Sie wollten ihr gutes Recht. Siewollten die Ghettorenten ab 1997, wie sie ihnen auchlaut Gesetz zustehen.Es ging und geht den Opfern um die Anerkennung ih-rer geleisteten Arbeit. Mit den drei Änderungen, um diees heute geht, erzielen wir tatsächlich Fortschritte: Wirgeben erstens die zurückwirkende Vierjahresfrist auf.Wir schaffen zweitens die Optionsmöglichkeit einerrückwirkenden Zahlung ab 1997 oder einer Zahlung mitZuschlägen ab 2005. Drittens – auch das ist interessant –streichen wir die Antragsfrist, die bisher im Jahre 2003endete. Noch heute stellen Menschen Anträge. Nochheute erfahren Menschen, dass sie aufgrund ihrer Arbeitin Ghettos in der damaligen Zeit eine Rente bekommenkönnen. Deshalb ist es gut, dass wir die Antragsfriststreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Beratungen,die wir sehr intensiv geführt haben, sind von den Grünenund den Linken zwei Anliegen vorgetragen worden; siesind auch hier gerade vorgestellt worden. Ich will dazugerne etwas sagen.Die Fraktion Die Linke hat die Überlebenden, dieheute in Polen leben, ins Gespräch gebracht. Viele Men-schen waren ja aufgrund der deutschen BesatzungPolens im Zweiten Weltkrieg dort in Ghettos. Für diesePersonengruppe gilt das Ghettorentengesetz nicht, weiles ein Sozialabkommen zwischen Deutschland undPolen aus dem Jahr 1975 gibt, in dem vereinbart ist, dassalle Menschen, die in Polen leben, vom dortigen Sozial-versicherungsträger auch für in Deutschland geleisteteArbeit – das Gleiche gilt auch umgekehrt – eine Rentebekommen. Deshalb kann dieses Abkommen nicht ein-seitig von uns verändert oder aufgekündigt werden. Ichbin sehr froh, dass die Bundesregierung bereits Gesprä-che führt – diese Gespräche wird sie auch weiterhinführen –, um dieses Problem im Sinne der polnischenGhettobeschäftigten einvernehmlich so zu lösen, dass sieden anderen Personen gleichgestellt werden.Mit dem Entschließungsantrag der Fraktion DieLinke, der uns gerade eben erst vorgelegt wurde, wirdalso eigentlich das gefordert, was wir schon tun, nämlichGespräche in diese Richtung zu führen. Wir unterstützendie Bundesregierung bei ihren Gesprächen und wün-schen ihr viel Erfolg im Sinne der Betroffenen. Wir ma-chen das aber auf dem diplomatischen Weg und nichtüber diesen Antrag.Die Fraktion der Grünen hatte vorgeschlagen, dass esden Hinterbliebenen – dem Witwer bzw. der Witwe –von Ghettorentenberechtigten möglich sein soll, auchnach dem Tod der bzw. des Berechtigten einen Antragauf Ghettorente zu stellen. Diese Forderung habe ich ausden Reihen der Betroffenen zwar noch nicht gehört; aberselbst wenn jemand sagt, dass die betroffene Person zeit-lebens keinen Antrag auf Ghettorente gestellt hat, weildie Sorge vor einer Ablehnung so groß war oder weilman keine schlimmen Erinnerungen wecken wollte,kann man, da die Rente durch eine individuelle Willens-erklärung beantragt werden muss, nach deren Tod keineRente für diese Person beantragen. Man kann aber sehrwohl eine Hinterbliebenenrente beantragen. Auch daspassiert heute noch, und es ist wichtig, dass das weiter-geht. Wir haben die Forderung allerdings sehr ernsthaftgeprüft und sind zu dem heute vorliegenden Gesetzent-wurf gekommen.
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3408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Kerstin Griese
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Präsident desZentralrates der deutschen Juden, Dieter Graumann, hatvor ein paar Wochen in der Jüdischen Allgemeinen ge-schrieben – ich zitiere –:Das Leid, das diese mittlerweile hochbetagtenMenschen erfahren haben, lässt sich mit nachträg-lich gezahlter Rente gewiss nicht wiedergutmachen.Er betonte, dass die früheren Ghettoarbeiter bisher mitbürokratischen Vorschriften abgekanzelt worden seien.Jetzt würden sie aber endlich ernst genommen und wür-dig behandelt. Herr Graumann bezeichnet diese Renten-regelung als eine „Geste der Menschlichkeit“.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beschämend,dass wir diesen Beschluss erst so spät, 69 Jahre nachEnde des Zweiten Weltkrieges, 69 Jahre nach Ende dernationalsozialistischen Gewaltherrschaft, fassen, aber esist gut, dass wir es heute tun, und es ist vielleicht ein be-sonderes Zeichen, dass wir diese überfällige „Geste derMenschlichkeit“ einstimmig zeigen werden. HerzlichenDank dafür an die Bundesregierung und an alle Fraktio-nen im Deutschen Bundestag.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Strebl
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritterLesung die Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachungvon Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Die-ses Gesetz betrifft einige Zehntausend Menschen und istin mehrfacher Hinsicht von hoher Symbolkraft. Es istein deutlicher Hinweis auf die schwärzesten Jahre deut-scher Geschichte und der in deutschem Namen begange-nen Verbrechen. Die heutige Debatte zeigt zugleich aberauch, dass wir uns als Deutscher Bundestag unserer Ver-antwortung stellen – wenn auch mit großer Verspätung.Rund 70 Jahre sind nunmehr vergangen – das ent-spricht zwei Generationen –, seitdem das nationalsozia-listische System zusammengebrochen ist. Zur men-schenverachtenden Politik der damaligen Zeit gehörtees, Menschen in Ghettos zu sperren, weil sie anders wa-ren, als die Führung es sich vorstellte. Nicht nur in denKonzentrationslagern, sondern auch in diesen Ghettoskämpften die Menschen – vornehmlich jüdische Mitbür-gerinnen und Mitbürger – um ihr Leben.Historiker befassen sich damit, und die Geschehnissevon damals sind heute zumeist Gegenstand von Gedenk-veranstaltungen. Es zeigt sich, dass sie zwar untrennbarzu unserer Geschichte gehören, aber keineswegs Vergan-genheit sind – bewältigte Vergangenheit schon gar nicht.Wir können damit erlittenes Unrecht nicht wiedergut-machen. Mit dem Gesetz zur Ghettorente wollen wir ei-nen Beitrag dazu leisten, die Folgen dieses Unrechts we-nigstens teilweise zu mildern.Lassen Sie mich in wenigen Worten den Weg nach-zeichnen, der zu der heutigen Beschlussfassung geführthat:1997 hatte eine ehemalige Näherin aus dem GhettoLodz auf Zahlung ihrer deutschen Rente geklagt undauch gewonnen. Daraus entstand 2002 das Gesetz zursogenannten Ghettorente. Alle ehemaligen Ghettoinsas-sen, die in einem Ghetto gearbeitet hatten, konnten nunRentenanträge stellen.Rund 70 000 Betroffene machten davon Gebrauch,doch fast alle Anträge wurden leider abgelehnt. Die Be-gründung damals lautete: Die Arbeit im Ghetto war nichtfreiwillig, sondern Zwangsarbeit, und Zwangsarbeit waraus den Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-tung und Zukunft“ zu entschädigen. Viele Sozialrechtlergaben dem damaligen Zeitgeist entsprechend den Ren-tenträgern recht.Es stellte sich allerdings schon bald, wie der Histori-ker Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitge-schichte formulierte, die Frage nach dem Unterschiedzwischen einem KZ-Häftling, der einem Kommando un-terstellt ist, der durchgezählt wird, der eingeordnet wird,und einem Ghettoinsassen, der sich selbst bemühenmuss, eine Arbeit zu bekommen. Man konnte sich nichtvorstellen, dass Arbeit in einem Ghetto freiwillig undohne Zwang geleistet werden konnte. 2009 hat es danneine Änderung in der Beurteilung gegeben, und im Juni2009 hat das Bundessozialgericht dementsprechend ent-schieden.Unter den gegebenen Umständen reicht es seitdemzur Bestätigung der Freiwilligkeit aus, wenn der Antrag-steller zwischen Arbeit und Hungertod entscheidenmusste. Alle abgelehnten Bescheide werden seither neubearbeitet. Exakt 23 818 von 26 186 überprüften und ab-gelehnten Rentenanträgen wurden nunmehr bewilligt.Allerdings gab es weiterhin ein als Unrecht empfun-denes Problem: Die Renten wurden nicht rückwirkendab dem Jahr 1997, sondern wegen der im allgemeinenSozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal vierJahren erst ab Januar 2005 gezahlt. Zum Ausgleich fürdiesen späteren Rentenbeginn erhielten die BetroffenenRentenzuschläge in Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Wegendes verschobenen Rentenbeginns ergaben sich also Zu-schläge bei nachträglich bewilligten Ghettorenten vonrund 45 Prozent.Trotz dieser begrüßenswerten finanziellen Regelun-gen wurde der spätere Rentenbeginn von den Rentenbe-rechtigten, ungeachtet der hohen Rentenzuschläge, alsungerecht empfunden. Das heute zur Verabschiedungstehende Gesetz ermöglicht es, dass künftig auch dienachträglich nur für vier Jahre rückwirkend bewilligtenRenten auf Antrag bereits ab Juli 1997 ausgezahlt wer-den können – in diesem Fall jedoch ohne die entspre-chenden Rentenzuschläge.Um weitere Ungerechtigkeiten zu vermeiden, könnenauch diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen ei-
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Matthäus Strebl
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nen Antrag auf Ghettorente nicht innerhalb der bishergeltenden Antragsfrist 30. Juni 2003 gestellt haben, ihreRente rückwirkend ab 1997 erhalten, vorausgesetzt, dieAnspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Uns allen in die-sem Hohen Hause ist bewusst, dass die Berechtigtenüberwiegend hochbetagt sind. Wir stellen daher sicher,dass sie selbst unmittelbar nach Erhalt ihres Rentenbe-scheides über ihre Rentennachzahlung verfügen können.Im Vertrag der Großen Koalition haben CDU/CSUund SPD festgelegt – ich zitiere –:Wir sind uns der historischen Verantwortung für dieÜberlebenden des Holocaust, die in der NS-Zeit un-sägliches Leid erlebt haben, bewusst.Wir wollen daher, dass den berechtigten Interessender Holocaustüberlebenden mit einer angemessenen Ent-schädigung für die in einem Ghetto geleistete ArbeitRechnung getragen wird.Diese Koalition ist nicht einmal ein halbes Jahr imAmt. Sie erfüllt mit dem vorliegenden Gesetz zwar aucheine finanzielle Verpflichtung, mehr noch aber ein mora-lisches Gebot. Alle Fraktionen dieses Hohen Hauses tra-gen dieses Gesetz mit. Ich bin mir sicher, dass wir diesesGesetz heute geschlossen verabschieden werden.Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzeszur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Ren-ten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Der Ausschussfür Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 18/1649, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen18/1308 und 18/1577 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Stimmt jemand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Enthältsich ein Mitglied des Hauses? – Auch das ist nicht derFall. Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen allerMitglieder des Hauses angenommen.
Wir sind noch immer bei Tagesordnungspunkt 10 aund kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache18/1661. – Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-schließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak-tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenabgelehnt.Tagesordnungspunkt 10 b. Wir setzen die Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/1649 fort.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 18/636 mit dem Titel„Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentenge-setzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenAgnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, TomKoenigs, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Anerkennung für Peacekeeper in inter-nationalen FriedenseinsätzenDrucksache 18/1460Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichwürde gerne mit der Geschichte von Stephan Fanthambeginnen. Er ist Neuseeländer und hat sich im Rahmender UN-Friedensmission UNMIS in Juba für mehr Frie-den und Sicherheit engagiert. Er ist verwundet worden,als der UNMIS-Wagen über eine Landmine gefahren ist,und hat dabei einen Fuß verloren. Nur ein paar Monatespäter war er wieder dort. Ich finde, dieses Engagementist sehr beeindruckend.
Er ist einer von derzeit über 240 000 Menschen welt-weit, die sich in den Krisenregionen dieser Welt für dieMenschen dort, für bessere Lebensbedingungen und mehrSicherheit engagieren. Sie tun das als zivile Experten, Sol-daten oder Polizisten im Rahmen von Missionen der Ver-einten Nationen, der Europäischen Union, der OSZE, vonNGOs oder Durchführungsorganisationen der Entwick-lungszusammenarbeit. Sie nehmen so wichtige Aufga-
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3410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Agnieszka Brugger
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ben wahr wie Wahlbeobachtung, Menschenrechtsschutzund Entwicklung, oder sie tragen zur Entstehung einesgerechten Justizsystems bei oder unterstützen eine Re-gierung darin, Good Governance zu leisten.Viele von uns haben von diesem Pult aus schon ge-sagt, dass sich die Konflikte und Krisen dieser Welt – ei-gentlich ist das eine Binsenweisheit – nicht mit militäri-schen Mitteln lösen lassen. Es ist ein langer und steinigerWeg, bis es zu Frieden und Sicherheit kommt. Die Men-schen, die sich dafür engagieren, tun das unter hohempersönlichem Einsatz, getrennt von ihren Familien undoft unter der Gefahr, verwundet oder sogar getötet zuwerden. Diese Menschen verdienen unseren Dank undunsere Anerkennung.
Es ist nicht damit getan, dass Gewalt endet oder dasses einen Waffenstillstand gibt. Echter Friede ist letztlichmehr als nur die Abwesenheit von Gewalt. Die frühzei-tige Prävention von Krisen und Gewaltausbrüchen ist si-cherheitspolitisch effizienter und ökonomischer. Sie istin der Regel erfolgreicher und häufig politisch konsens-fähiger als der Einsatz militärischer Mittel. Aktuell gibtes eine große Debatte über die Zukunft der deutschenAußen- und Sicherheitspolitik. Ich habe mich an eini-gem in den Reden von Bundespräsident Gauck, Verteidi-gungsministerin von der Leyen und Bundesaußenminis-ter Steinmeier gestört. Aber ganz besonders verwundertwar ich darüber, dass in diesen Reden die Vereinten Na-tionen kaum vorgekommen sind, dass man sie sozusagenmit der Lupe suchen musste und dass gerade auf die zi-vilen und diplomatischen Mittel kaum eingegangenwurde.Laut einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung da-rüber, was die deutsche Bevölkerung über die deutscheAußen- und Sicherheitspolitik denkt, ist die Unterstüt-zung für zivile Mittel und außenpolitisches Engagementgroß. Auch die Zustimmungswerte betreffend humani-täre und friedenserhaltende Einsätze sind – das hat michüberrascht – hoch. Wenn man sich aber einige Zahlen indiesem Zusammenhang anschaut, dann sieht man:Deutschland ist zwar der viertgrößte Geldgeber für VN-Friedensmissionen; aber bei der Personalbereitstellungbelegen wir Rang 48. Von 6 155 deutschen Einsatzkräf-ten sind derzeit genau 333 in VN-Friedensmissionen ak-tiv. 5 700 Soldaten und Soldatinnen sind im Auslands-einsatz. Die Zahl der zivilen Experten und der Polizistenbeträgt 147 bzw. 188. Ich finde, da geht mehr.
Wenn wir uns alle so einig sind, dass Konflikte vor al-lem zivil gelöst werden müssen, dann müssen wir unsschon die Frage stellen: Haben wir in ausreichendemMaße Instrumente, finanzielle Mittel, Strukturen undAufmerksamkeit dafür zur Verfügung? Es gibt gute An-sätze. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Zentrumfür Internationale Friedenseinsätze. Wir haben unterRot-Grün einiges auf den Weg gebracht. Wir schlagen inunserem Antrag, der heute zur Debatte steht, noch eini-ges vor, was dazu dient, gerade die Vereinten Nationen,die Europäische Union und die OSZE und ihre krisen-präventiven Instrumente zu stärken. Dazu braucht esaber auch mehr politischen Willen.Wir müssen uns noch eine zweite Frage stellen: Wid-men wir den Menschen und ihrem Engagement in denentsprechenden Missionen genügend Aufmerksamkeit?Ist in Bezug auf deren Betreuung und Fürsorge, aberauch in Bezug auf Dank und Anerkennung alles in Ord-nung? Wir haben als grüne Bundestagsfraktion im letz-ten Jahr ein Fachgespräch für zivile und militärischeRückkehrerinnen und Rückkehrer organisiert. Das warensehr unterschiedliche Gruppen mit sehr unterschiedli-chen Ansichten. Aber eines war ihnen allen gemeinsam:Sie alle hatten das Gefühl, sich in einem wichtigen Ein-satz engagiert zu haben. Aber nicht alle hatten, als siezurückgekehrt waren, das Gefühl, dass Interesse an ihrenErfahrungen und Erlebnissen bestand, dass die LessonsLearned im politischen Raum angekommen sind. Viel-leicht haben Sie, meine Damen und Herren, auch Ge-spräche mit Polizeibeamten geführt, die in Afghanistaneingesetzt waren. Diese erzählen, dass sie, nachdem sieeinen so wertvollen Beitrag für die Ausbildung der af-ghanischen Sicherheitskräfte geleistet haben, von ihrenKollegen nach der Rückkehr gefragt wurden: Einenschönen Urlaub in Afghanistan gehabt? – Wie oft lesenwir in den Medien von Menschen, die sich in solchenFriedensmissionen engagieren?Meine Damen und Herren, nächste Woche, am11. Juni, begehen wir zum zweiten Mal den Tag desPeacekeepers in Deutschland. Das ist ein bisschen derAufhänger unseres heutigen Antrags. Es ist ein guterAnfang, dass es einen solchen Tag gibt und dass wir ihnzum zweiten Mal feiern. Aber er sollte für uns auch An-sporn sein, mehr zu tun; denn wir können noch einigesmachen. Es geht um eine bessere Versorgung und Be-treuung der zivilen Einsatzkräfte, aber auch darum, fürdiese Mittel mehr Öffentlichkeit zu schaffen sowie anSchulen und Universitäten von dem Engagement dieserMenschen zu berichten. Die Menschen, die solche Auf-gaben übernehmen, dürfen ihr Engagement nicht alsKarrierehemmnis erleben. Vielmehr muss das etwasPositives in ihrer politischen Laufbahn sein. Auf all daszielen unsere Vorschläge ab, die wir heute mit unseremAntrag vorlegen.Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich kann mirnicht vorstellen, dass man wirklich etwas dagegen habenkann. Ich möchte Sie gerne dazu einladen, dass wir unsgemeinsam an einen Tisch setzen und wir uns hier viel-leicht überlegen, was wir verbessern wollen und können,und dass Sie bei unserer Initiative mitmachen. Ichglaube, es wäre ein schönes Zeichen, wenn wir nächstesJahr ein drittes Mal den Tag des Peacekeepers feiern.Auf diesem Weg sollten wir ein gutes Stück vorankom-men. Ich finde, dass die Menschen, die diese wertvollenAufgaben erfüllen und dieses gefährliche Engagementauf sich nehmen, das auch verdient haben.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3411
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Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein-mal möchte ich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünengerne dafür danken, dass sie mit ihrem Antrag die Frage,wie wir mehr Wertschätzung für Peacekeeper in interna-tionalen Friedensmissionen erreichen können, zumThema gemacht und damit in die Debatte eingebrachthat.Ich glaube, wir alle haben vor dem Hintergrund deröffentlichen Anhörung unseres Unterausschusses für Zi-vile Krisenprävention zwei wesentliche Punkte im Kopf,wenn wir an das Thema denken: zum einen, dass in denvergangenen zehn, zwölf Jahren unheimlich viel passiertist, und zum anderen, dass es natürlich noch viele Aufga-ben gibt und die Wegstrecke in die Zukunft lang ist. In-sofern haben Sie durchaus einige Punkte angesprochen,die aus meiner Sicht vollkommen richtig sind.Es ist vieles passiert. Wir haben es in den letzten zehnJahren geschafft, die Infrastruktur zu implementierenund letztlich auch zu professionalisieren. Sie haben bei-spielsweise das Zentrum für Internationale Friedensein-sätze angesprochen. Auch die Bundesakademie fürSicherheitspolitik ist hier zu nennen oder der Zivile Frie-densdienst. Außerdem wurde die wissenschaftliche Be-gleitforschung in diesem Zusammenhang angesprochen.Es ist schon sehr viel passiert. Die Tatsache, dass vielGeld fließt, dass Deutschland 7,14 Prozent des Haus-halts der Vereinten Nationen finanziert, dass wir gemein-sam mit den USA und Japan 40 Prozent der Friedens-missionen finanzieren, zeigt vor allem zwei Dinge:Erstens. Deutschland ist multilateral unterwegs: im Rah-men von Missionen der Vereinten Nationen, im Rahmenvon Missionen der OSZE und im Rahmen von EU-Mis-sionen. Zweitens. Wir lassen uns diese Einsätze vielGeld kosten. Auch damit ist eine Botschaft ausgedrückt.Es ist natürlich noch einiges zu tun. Wir sind uns da-rüber einig, dass es darum geht, ein Leitbild für die zi-vile Krisenprävention zu entwickeln, ressortübergreifenddie Koordinierung der Akteure zu verbessern und im Be-reich der Krisenfrüherkennung besser zu werden. Wirmüssen auch besser werden, wenn es darum geht, vonEarly Warning zu Early Action zu kommen, und vielesandere mehr. Wir brauchen mehr öffentliche Anerken-nung für diejenigen, die in Peacekeeping-Einsätzen sind.Es sind immerhin 49 solcher Einsätze, an denen wirDeutsche beteiligt sind.Es ist also vieles zu tun. Trotzdem muss ich Ihnen sa-gen, dass der Antrag Ihrer Fraktion letztlich in vielenFällen alter Wein in neuen Schläuchen ist; denn wir ha-ben vieles von dem, was Sie fordern, bereits umgesetzt.Wer einen Blick in die Koalitionsvereinbarung wirft, dersieht, dass wir diesen Weg ganz konsequent weiterge-hen. Wir haben den festen Willen, das im Laufe dieserLegislaturperiode umzusetzen. Ich denke beispielsweisedaran, dass wir in der Tat mehr Polizeikräfte in zivilenFriedensmissionen benötigen. Dabei geht es darum, dasswir im Rahmen einer Bund-Länder-Vereinbarung zu gu-ten Lösungen kommen. Wenn Sie mithelfen, dass wirmit der grün-roten und den rot-grünen Landesregierun-gen am Ende zu einem guten Ergebnis kommen, dannhaben wir, glaube ich, alle etwas beigetragen.Frau Brugger, Sie haben es angesprochen: Sowohl derBundespräsident als auch die Verteidigungsministerin undder Bundesaußenminister haben in München Anfang desJahres bemerkenswerte Reden gehalten. Ich habe offen-sichtlich noch etwas mehr gehört als Sie: Ganz zentralwar, dass die Frage, wie sich Deutschland aufgrund sei-ner Größe und wirtschaftlichen Kraft in der Welt enga-gieren soll – früher, effizienter und auch substanzieller –,eindeutig so beantwortet wurde, dass das Engagementnicht nur militärische Mittel beinhaltet, sondern darüberhinaus natürlich auch diplomatische, wirtschaftliche undkrisenpräventive Mittel. Das hat im Übrigen bereits sei-nen Niederschlag in den „Afrikapolitischen Leitliniender Bundesregierung“ gefunden. Dort wird ganz eindeu-tig gesagt, dass wir den kompletten Instrumentenkastenausbreiten möchten und dass die zivilen Mittel dabei ge-radezu von zentraler Bedeutung sind.Ich glaube, es geht auch darum, mehr öffentlicheWertschätzung zu erhalten. Das erreichen wir dadurch,dass wir dieses Thema in den Mittelpunkt rücken. Auchweniger schöne Dinge wie beispielsweise die Vorkomm-nisse in der Ukraine bzw. der Einsatz der OSZE-Be-obachter dort haben in das Blickfeld der Öffentlichkeitgerückt, dass da viele in einer schwierigen Mission sind,häufig unter Einsatz ihres Lebens, und dass sie dafür dienotwendige Wertschätzung benötigen.
Ich glaube, dass da sehr viel passiert ist und dass wir die-sen Weg konsequent weitergehen müssen.Das beinhaltet beispielsweise den „Tag des Peace-keepers“, der am 11. Juni 2014 das zweite Mal veranstal-tet wird. Dabei werden alle beteiligten Bundesministerin einer öffentlichen und würdevollen Zeremonie denSoldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizis-ten, aber auch den zivilen Einsatzkräften für ihren wich-tigen und wertvollen Einsatz danken und diesen Einsatzwürdigen.Denken Sie beispielsweise daran, dass die Bundesver-teidigungsministerin vor wenigen Tagen ihre Pläne vor-gestellt hat, wie wir es schaffen können, die Bundeswehrattraktiver zu machen und den Dienst in der Bundeswehrbesser mit der Familie zu vereinbaren.
Ich verweise auf viele andere Dinge darüber hinaus, andenen man schon sehen kann, dass wir einiges erreichen.Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anspre-chen. Ich war vor wenigen Tagen beim Zentrum für In-
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Thorsten Frei
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ternationale Friedenseinsätze. Ich weiß, dass wir dortnoch bessere Ergebnisse erzielen könnten, wenn dessenMannschaft größer wäre und wenn wir aus dem Bundes-haushalt noch mehr Geld als 2,3 Millionen Euro zur Ver-fügung stellen würden. Wir werden mit dem nächstenHaushalt etwa fünf zusätzliche Stellen für das ZIF schaf-fen und damit ganz markant deutlich machen, wie wich-tig und wertvoll uns diese Arbeit ist.
In diesem Sinne sind wir, glaube ich, auf einem sehr gu-ten Weg.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Grünen wollen mit ihrem Antrag, über den wir heutereden, mehr Anerkennung für Peacekeeper in internatio-nalen Friedenseinsätzen. Einerseits möchte auch ich da-für Danke sagen, dass sie dieses wichtige Thema auf dieTagesordnung gesetzt haben; aber andererseits müssenwir natürlich genau aufpassen, worüber hier gesprochenwird, wenn von Friedenseinsätzen die Rede ist.Mir ist wichtig, dass wir klar unterscheiden zwischenMaßnahmen, die wirklich dem Frieden dienen, und sol-chen, die nur als Friedenseinsätze etikettiert werden. Da-rin, alle möglichen Militäreinsätze, die allen möglichenInteressen und Zwecken dienen, als Friedenseinsätze zumaskieren,
sind sich leider alle anderen Fraktionen hier im Haussehr oft einig, und da haben wir nun einmal einen grund-sätzlichen Widerspruch.
Aber Ihr Anliegen hat einen sinnvollen Kern. Sichersind in diesem Antrag einige Punkte, auf die wir uns po-sitiv beziehen werden, etwa wenn es darum gehen wird,die Arbeit der zivilen Fachkräfte anzuerkennen, die – ichzitiere – „unter schwierigen Bedingungen in den Kon-fliktregionen lokale und regionale Akteure bei derSchaffung von Frieden und Sicherheit unterstützen“.Da bin ich ganz bei Ihnen, gerade als jemand, der ausder Friedensbewegung kommt. Ich frage mich aber, obwir den Peacekeepern in internationalen Friedenseinsät-zen wirklich einen Gefallen tun, wenn wir sie mit denMilitärs, die in bewaffneten Einsätzen Dienst tun, immerin einen Topf werfen. Es ist wirklich nicht wahr, dass derEinsatz von Bundeswehrsoldaten im Ausland zu wenigwahrgenommen wird, wie der Antrag ebenfalls sugge-riert. Leider wird verallgemeinernd immer wieder vonEinsatzkräften gesprochen; aber das wird der unter-schiedlichen Situation ziviler und militärischer Einsatz-kräfte, die Sie, Frau Brugger, selber angesprochen ha-ben, überhaupt nicht gerecht.
Ich muss leider sagen, dass sich dieser Antrag fürmich in ein Medien- und Öffentlichkeitskonzept ein-reiht, mit dem die große Mehrheit der Politik die großeMehrheit der Bevölkerung in diesem Land schlicht hin-ter die Fichte führen will. Nur 13 Prozent der Bevölke-rung stehen nämlich nach einer aktuellen Umfrage denAuslandseinsätzen der Bundeswehr positiv gegenüber.Viele Menschen wissen, dass nicht überall Frieden drinist, wo „Frieden“ draufsteht.Ein besonders krasses Beispiel der Verschleierungs-taktik habe ich einmal mitgebracht. Sie sehen hier vomZentrum für Internationale Friedenseinsätze, ZIF, dasschon mehrfach angesprochen worden ist, eine Karte mitder Überschrift „Friedenseinsätze“. Hier werden 60 ver-schiedene Missionen dargestellt, in denen im Augen-blick Deutsche im Einsatz sind. Welche Mission ist diegrößte? Das ist der Bundeswehrkampfeinsatz in Afgha-nistan, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nunwirklich kein Friedenseinsatz.
Die Linke meint, dass man die zivilen Fachkräfte inFriedenseinsätzen würdigen sollte, indem man ihren ei-genständigen Beitrag betont. Genau das leistet der An-trag der Grünen aber leider nicht. Zivil und militärisch,das geht bei Ihnen immer munter durcheinander.
Ich würde einen Vorschlag machen wollen: Warumnehmen wir nicht den von den Vereinten Nationen zumInternationalen Tag des Friedens erklärten 21. Septem-ber zum Anlass, um das eigenständige zivile Engage-ment wertzuschätzen?
Wir wollen diejenigen ehren, die sich mit gewaltfreienMitteln um Frieden und Versöhnung, um die Beendi-gung von Gewalt und die Vorbeugung kümmern.Schon seit einigen Jahren begehen viele Organisatio-nen, die mit ziviler Konfliktbearbeitung zu tun haben,diesen Tag in Bonn mit einem großen Programm. Eineganze Woche lang gibt es Diskussionsveranstaltungen,Vorträge, aber auch sportliche und kulturelle Events. Ichkönnte mir sehr gut vorstellen, dass eine offizielle Ver-anstaltung von Parlament und Regierung die Wertschät-zung für diese Arbeit gut zum Ausdruck bringen könnte.Warum sprechen wir nicht darüber, genau diese Wert-schätzung getrennt von der Wertschätzung der militäri-schen Einsatzkräfte zu organisieren, um damit auch dieMenschen einzubeziehen, die zum Beispiel im Rahmendes zivilen Friedensdienstes in Auslandseinsätzen sind?Das wäre, glaube ich, ein wirklich schönes Zeichen der
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Kathrin Vogler
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Wertschätzung. Daran würden wir uns auch gern beteili-gen.
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Ute Finckh-Krämer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den
Tribünen! Als langjährig friedenspolitisch Engagierte
begrüße ich das Grundanliegen des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich. Auch ich setze
mich seit langem dafür ein, die Arbeit von Friedensfach-
kräften und anderen im Bereich Peacekeeping und Frie-
densförderung engagierten Menschen öffentlich zu wür-
digen und das deutsche Engagement in diesem Bereich
zu verstärken. Daher werde ich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, gerne im Unterausschuss für
Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und ver-
netztes Handeln über Ihre Vorschläge diskutieren.
Im Vorgriff auf diese Diskussion möchte ich einige
Worte zum Inhalt Ihres Antrags sagen. Er enthält viele
berechtigte Forderungen. Einige hoffen wir zeitnah um-
setzen zu können – wie die schon erwähnte Erhöhung
der Mittel für das ZIF, aber auch für den Zivilen Frie-
densdienst.
Allerdings hätte ein roter Faden Ihrem Anliegen nicht
geschadet. Einen wichtigen Aspekt haben Sie leider
komplett ausgelassen: die Forderung nach einer umfas-
senden Evaluation. Eine Bilanzierung deutscher Inter-
ventionen, sowohl militärischer als auch ziviler, steht
nämlich immer noch aus.
Ich erinnere an den Abschlussbericht des Unterausschus-
ses für Zivile Krisenprävention aus der letzten Legisla-
turperiode, in dem eine systematische Auswertung der
Aktivitäten im Bereich der zivilen Krisenprävention und
Konfliktbearbeitung empfohlen wird.
Kollegin Finckh-Krämer, gestatten Sie eine Bemer-
kung oder Zwischenfrage der Kollegin Brugger?
Ja, gern.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, liebe
Frau Kollegin Finckh-Krämer. – Ich stimme Ihnen abso-
lut zu. Wir als Grüne haben schon in der letzten Legisla-
turperiode, auch gemeinsam mit Ihrer Fraktion, gefor-
dert, dass wir die Einsätze besser evaluieren – das gilt
insbesondere für den Afghanistan-Einsatz – und dass wir
daraus Lehren ziehen sollten. Wir haben diese Forderung
auch in der neuen Legislaturperiode schon mehrfach er-
hoben.
Habe ich Ihre Ausführungen richtig verstanden, dass
die Bundesregierung jetzt doch vorhat, den Afghanistan-
Einsatz wirklich in einem angemessenen Maß zu evalu-
ieren und nicht nur im Rahmen kleinerer Anhörungen,
die schon stattgefunden haben?
Ich kann nicht für die Bundesregierung sprechen.Aber ich kann sagen, dass ich das im Unterausschuss fürZivile Krisenprävention gerne einbringe. Ich hoffe, dassdas auch von unserem Koalitionspartner unterstütztwird.
Erst eine solche ehrliche Bestandsaufnahme ermög-licht es uns, die Frage zu beantworten, wie Deutschlandeffektiver zum Frieden in der Welt beitragen kann alsbisher. Insbesondere müsste also eine außenpolitisch in-tegrierte Strategie für Friedensförderung und Konflikt-transformation entwickelt werden. Der Antrag, den wirheute hier debattieren, leistet hierzu leider keinen sub-stanziellen Beitrag.Dass die Frauen und Männer, die sich aktuell in Frie-densmissionen engagieren, Anerkennung verdienen, istin diesem Haus wohl unstrittig. Allerdings sollten wirauch das ernst nehmen, was der Geschäftsführer des Fo-rums Ziviler Friedensdienst, einer der Durchführungsor-ganisationen des Zivilen Friedensdienstes, letztes Jahrzum Tag des Peacekeepers formuliert hat. Ich zitiere:Bitter erscheint zudem, dass hier mit großem Auf-wand der Fokus auf einen kleinen Teilaspekt des in-ternationalen Friedensengagements gelegt wird.Peacekeeping, zu deutsch Friedenserhaltung, meintnur jene Einsätze, die der Eskalation von Gewaltunmittelbar entgegenwirken. Mit vor allem militäri-schem Peacekeeping kann also im besten Fall un-mittelbare Gewalt verhindert werden. Frieden wirddamit nicht erreicht.Ein wichtiger Teil … internationalen Friedensengage-ments gerät dabei aus dem Blickfeld: die Programmeziviler Konfliktbearbeitung und langfristiger Frie-densförderung, die Ursachen von Konflikten ange-hen und verhindern, dass Konflikte zu Krieg undGewalt eskalieren.So weit das Zitat.
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Dr. Ute Finckh-Krämer
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In Ihrem Antrag fordern Sie zwar, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, „in geeigneter Form auchdie Arbeit und die Leistungen der anderen Frauen undMänner anzuerkennen, die im Rahmen der Durchfüh-rungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit,von NGOs und Hilfsorganisationen in Krisenregionenarbeiten“. Aber auch damit werden diejenigen, die kri-senpräventiv arbeiten, nicht erfasst.Die Würdigung ist das eine, liebe Kolleginnen undKollegen, eine umfassende friedenspolitische Strategie,die es diesen Frauen und Männern auch ermöglicht, mitihrem Engagement den bestmöglichen Beitrag zu leis-ten, ist das andere. Dies möchte ich an einem Beispielaus Ihrem Forderungskatalog kurz verdeutlichen.Sie fordern, die Voraussetzungen für die Entsendungvon mehr Polizisten in Missionen der Vereinten Natio-nen und der Europäischen Union zu verbessern. Zu die-sen Missionen gab es in der letzten Legislaturperiodeeine Anhörung im Unterausschuss für Zivile Krisenprä-vention, bei der auch Experten zu Wort kamen, die indiesen Missionen eingesetzt waren. Es wurde sehr deut-lich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten waren, weil eineEinbindung in eine Gesamtstrategie fehlte. Deswegen istes aus meiner Sicht wichtig, zu diesem Thema unter Fe-derführung des Innenausschusses eine weitere Anhörungdurchzuführen, und zwar möglichst noch in diesem Jahr.Lassen Sie uns also gemeinsam und partnerschaftlichdie Herausforderung angehen, eine friedenspolitischeStrategie zu entwickeln, nicht nur, um den zivilen Fach-kräften, die in Friedenseinsätzen aller Art aktiv sind, zuder Anerkennung zu verhelfen, die sie verdienen, son-dern auch, um ihr Engagement möglichst wirksam wer-den zu lassen.Die Fraktion der Grünen und alle anderen Fraktionendes Hauses sind herzlich eingeladen, ihre Forderungenin den Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Kon-fliktbearbeitung und vernetztes Handeln einzubringen,damit wir – hoffentlich fraktionsübergreifend – in die-sem Politikbereich ein Stück weiterkommen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die
CDU/CSU Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Die Präambel des Grundgesetzes erteiltuns bereits den Auftrag, für den Frieden in der Welt zusorgen. Ich glaube, ein stabiles und wirtschaftlich pros-perierendes Deutschland hat auch die Verantwortung, fürden Frieden in der Welt einzutreten.Als die Präambel geschrieben wurde, konnte man sichdie vernetzte und globalisierte Welt von heute noch nichtvorstellen, eine Welt mit einem Europa ohne Grenzen.Wie soll da der soziale Friede in Deutschland gewähr-leistet werden, wie wollen wir angesichts dieser neuenWelt unsere Sicherheit erhalten?Wir sind abhängiger geworden von scheinbar weitentfernten Regionen. Deswegen erwächst daraus dieVerantwortung, uns um diese Regionen zu kümmern.Wir müssen dafür sorgen, dass in weit entfernten Regio-nen mit unserer Hilfe rechtsstaatliche Strukturen undfunktionierende Sicherheitsbehörden eingerichtet wer-den.Ich gebe Ihnen ein Beispiel – sehr aktuell –: Nigeria.In Nigeria leben bereits heute 170 Millionen Menschen.Es sind mehr als doppelt so viele Menschen wie inDeutschland. Das Durchschnittsalter in Nigeria beträgt19 Jahre. Es wird erwartet, dass sich die Bevölkerung biszum Jahr 2050 – nicht so weit weg – verdreifacht. Wiesieht es in diesem Land mit dieser großen Bevölkerungs-zahl aus? Zwei Drittel leben schon jetzt in Armut. Wasislamistische Kräfte, wie zum Beispiel Boko Haram mitder Massenentführung von 230 Schulmädchen, anrich-ten können, wissen wir alle.Das heißt, das Konfliktpotenzial in solchen Regionenmit einem solch ungeheuren Bevölkerungswachstumwächst von Tag zu Tag. Diese wachsende junge Genera-tion, die in Armut und Gewalt aufwächst, will auch einfriedliches Leben in Wohlstand und mit Perspektive er-reichen und für sich einklagen. Das heißt, auch sie wol-len glücklich werden und suchen deshalb ihr Glück inanderen Ländern. Wer sollte ihnen das übel nehmen? Siesuchen ihr Glück bei uns. Ich glaube, auch wir würdendies so tun, wenn wir in deren Lage wären. Das heißt,massenhafte Migrationswellen in Richtung Europa sindunumgänglich. In diesem Jahr rechnen wir mit circa200 000 neuen Asylbewerbern. Das ist nur ein Zwi-schenergebnis.Wir sollten also alles tun, um Hilfe zur Selbsthilfe insolchen Regionen und Ländern zu organisieren. Wirmüssen das Konfliktmanagement in diesen Ländern stär-ken. Wir müssen Sicherheitskräfte ausbilden, sie beratenund sie ausrüsten. Wir müssen für rechtsstaatlicheGrundsätze sorgen. Wir müssen unser Rechtssystem, so-weit es dort passt, zu übertragen versuchen. Wir habenhiermit einen Markenartikel auf der ganzen Welt. UnserRechtsstaat, den wir uns nach vielen Irrungen und Wir-rungen in unserer Geschichte geschaffen haben, der inden letzten Jahrzehnten erprobt und eingeübt wurde, istein Markenartikel auf der ganzen Welt, mit dem wir unssehen lassen können. Wir sind auch willkommen.Mehr Polizei, mehr zivile Sicherheitskräfte und nichtmehr Soldaten ist die Losung des Tages. Das entsprichtauch dem Geist des Afrika-Papiers, das in dieser Wocheim Auswärtigen Ausschuss präsentiert wurde, in demvor allem von zivilen Sicherheitskräften die Rede ist.Meine Damen und Herren von der Opposition, wir soll-ten nicht künstlich einen Konflikt herbeireden, der nichtda ist. Wir sind uns darin einig, dass die zivilen Sicher-heitskräfte wichtiger sind als militärische Einsätze.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3415
Dr. Hans-Peter Uhl
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Ich glaube auch, dass wir diesbezüglich eine Grund-satzdebatte in diesem Hause brauchen, und zwar ausmehreren Gründen: Wir haben den Vorsatz, mehr zu tun,aber es fehlt in der Tat noch am Vollzug. Wir sollten an-gesichts der komplizierten Struktur unserer polizeilichenKräfte in einem föderalen Deutschland mit 16 Ländernund dem Bund endlich dafür sorgen, dass eine Strukturentsteht, bei der wir in großer Zahl Polizeikräfte zurAusbildung in das Ausland schicken können. Dies solltehier diskutiert werden. Es sollte nicht der einzelne Ein-satz legitimiert werden, sondern es sollte im Bundestageine Grundsatzdebatte über die Frage geführt werden, inwelcher Art und Weise und unter welchen Bedingungenwir ins Ausland gehen. Das ist mein Vorschlag.Ich glaube, es gibt genügend Menschen, die dazu be-reit sind, ins Ausland zu gehen. Dies ist angesichts unse-rer Polizeistrukturen keine Frage von Planstellen undKosten. Wir haben bei den Ländern und beim Bund ge-nügend pensionierte Polizeibeamte von 60 Jahren, diegern bereit sind, ihre Expertise freiwillig in verschiede-nen Teilen der Welt einzubringen. Man muss nicht un-sere Polizeistrukturen sozusagen entvölkern, um imAusland tätig zu sein. Das alles ist möglich.Wir sollten unseren Koalitionsvertrag, in dem wirdies alles formuliert haben, aber auch die „Afrikapoliti-schen Leitlinien der Bundesregierung“ ernst nehmen,umsetzen und zur Tat schreiten – daran fehlt es –, indemwir ganz konkrete Beispiele umsetzen, die wir bisher sonoch nicht haben. Ich möchte mich bei all denen bedan-ken, die sich dieser Aufgabe stellen und ihren Beitragdazu leisten. Ich möchte insbesondere die Oppositionbitten, nicht etwas künstlich zu zerreden, das von uns al-len bereits als gemeinsames Engagement anerkannt wor-den ist und das nur noch hier oder da der Umsetzung be-darf.Wir alle wollen letztlich dasselbe: Wir wollen denFrieden in der Welt erhalten. Wir danken den Menschen,die für andere Menschen da sind. Wir wollen alles tun,damit wir möglichst wenigen Menschen Grund geben,ihr Leben bei uns leben zu müssen, weil ihres in der Re-gion, in der sie leben, unerträglich geworden ist, zumBeispiel in Nigeria. Wir wollen, dass ein Land mit einerhohen Bevölkerungszahl wie Nigeria selbstständig fürSicherheit, Ordnung, Frieden und Wohlstand sorgenkann.
Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zweiWochen stand ich mit einigen Kolleginnen und Kollegenauf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew.Es war gutes Wetter, die Familien gingen spazieren, Kin-der tobten herum. Es herrschte eine fast ausgelasseneStimmung vor all den Barrikaden, ausgemusterten Pan-zern und Bildern von zahllosen Toten, dort, wo mancheiner eine Träne verdrückte und Blumen niederlegte.Das Wochenende und die Präsidentenwahl standenvor der Tür. Wir hatten aus der Presse erfahren, dass allepolitischen Kräfte in diesem Land Einfluss haben kön-nen, wovon wir bisher gar keine Ahnung hatten. Docheines hätte ich nie für möglich gehalten: Die Augen derMenschen strahlten vor Zuversicht, die die Krise fastvergessen ließ. Bei jedem Gespräch, das ich als Mitgliedder deutschen NATO-PV-Delegation, als Deutscher, alsEU-Bürger geführt habe, war diese aufrichtige Zuver-sicht und Offenheit sichtbar. Mir wurde klar: Die Men-schen – ob in der Ukraine oder anderswo auf der Welt –wollen nach Umbrüchen, nach teilweise verheerenderPolitik endlich Ruhe, und sie wollen eine Perspektive.Meine sehr verehrten Damen und Herren, was heißtdas für uns? Die Menschen erwarten von uns keineWunder, sie erwarten kein überambitioniertes NATO-Engagement, sie erwarten keine Mitgliedschaften, keinGeld sofort, keine warmen Worte oder Anschuldigun-gen. Sie erwarten von uns eigentlich nichts anderes alseine klare Linie, eine Position, mit der man arbeitenkann. Ich bin davon überzeugt: Wir haben uns lange ge-drückt, doch jetzt müssen wir über die Möglichkeitenund Grenzen von Außenpolitik, Friedenspolitik undnicht zuletzt über unsere Rolle, die Rolle Deutschlands,diskutieren.In dieser Debatte reicht es nicht, sich in unbekümmer-tem Vertrauen zu wiegen. Ich finde – und ich zitiere freiunseren Außenminister Frank-Walter Steinmeier –, un-sere Kultur der Zurückhaltung darf nicht zu einer Kulturdes Heraushaltens und schon gar nicht zu Gleichgültig-keit werden. Wir sind keine Insel – wir sind das in keinerHinsicht –, und ich sage: Gott sei Dank sind wir einge-bettet in der Mitte Europas.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, was können wir tun, um unsereNachbarschaft zu stabilisieren? Im Osten? In Afrika?Tun wir alles, um unseren Beitrag zum Frieden zu leis-ten? Was müssen wir tun gegen den Terrorismus? Denner ist da, und er wird in seiner Brutalität nichts einbüßen,wenn wir uns einigeln. Interessieren wir uns überhauptfür manche Gegenden dieser Welt? Engagieren wir unshumanitär und militärisch ausreichend dort, wo unsereStärken liegen, nämlich in der Konfliktprävention, in derMittlerrolle, als Scharnier zwischen Mächten, als Schar-nier, das Krieg vermeidet? Diese Fragen sind vielschich-tig, und wir haben keine eindeutigen Antworten. Entge-gen jeder Verschwörungstheorie führt das aber nichtzwangsläufig zu mehr Militär.Die Debatte darüber – angestoßen von unserem Au-ßenminister Frank-Walter Steinmeier, von unserem Bun-despräsidenten und von unserer Bundesverteidigungsmi-nisterin – kann Klarheit schaffen, und ich bin fest davonüberzeugt: Sie muss auch Klarheit schaffen. Insofernverdient der Antrag der Grünen zu den Peacekeepernwenige Tage vor dem 11. Juni, an dem der „Tag des
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Dr. Karl-Heinz Brunner
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Peacekeepers“ begangen wird, Anerkennung und Re-spekt. Er enthält gute Bausteine, er zeigt in die richtigeRichtung.Was mir allerdings noch mehr am Herzen liegt – dennes hängt damit innerlich zusammen; es leistet hervorra-gende Arbeit und denkt einen Schritt weiter –, ist dasZentrum für Internationale Friedenseinsätze selbst. DasZIF vermittelt trotz eines viel zu unsicheren Budgets zi-vile Expertinnen und Experten in Missionen der OSZE,der EU oder der Vereinten Nationen. Sie vermitteln einBild von und Erwartungen an Deutschland, die ich auchbei der Mission in der Ukraine erfahren habe: Verant-wortung übernehmen, Friedenseinsätze mit Weitblick,konkrete vertrauenswürdige Außen- und Sicherheitspoli-tik. Diesen Erwartungen müssen wir gerecht werden.Das lohnt sich nicht nur für die Menschen, sondern auchfür uns und vor allen Dingen für die Wertschätzung derPeacekeeper.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Vietz für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein asiatisches Sprichwort sagt: „Erkennen ist einegroße Leistung des Geistes, Anerkennen eine solche desHerzens.“ In diesem Hause – wir haben es vielfach ge-hört – mangelt es nicht an Anerkennung für die Männerund Frauen, die für unser Land direkt oder indirekt imBereich der Friedenssicherung weltweit im Einsatz sind.Dies gilt weder für uns noch für unsere Bürgerinnen undBürger.Peacekeeping steht für die Bewahrung des Friedens,Peacekeeper sind Hüter des Friedens. Nächste Woche– auch das haben wir schon mehrmals gehört – findet derzweite deutsche „Tag des Peacekeepers“ statt – eine Ver-anstaltung, die eine junge Tradition begründet und dievom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze beglei-tet wird.Gleich drei Minister werden an diesem Tag Soldaten,Polizisten und zivile Experten für ihren Einsatz im Be-reich der internationalen Friedenssicherung ehren, stell-vertretend für Hunderte andere, die sich tagtäglich ein-bringen. Das ist ein deutliches Zeichen, dass derenArbeit geschätzt und gewürdigt wird. Insofern wird zu-mindest in einem Bereich der Forderung des vorliegen-den Antrags schon entsprochen.Zivile Experten jeder Couleur stehen direkt im DienstDeutschlands, deutscher NGOs oder internationaler Or-ganisationen. Um es deutlich zu sagen: Ich danke all die-sen Männern und Frauen, die sich hier einbringen, dieauch als unsere Vertreter den Frieden weltweit sichernund ermöglichen – ob in Uniform oder in Zivil. Ein herz-liches Danke an dieser Stelle!
Wir diskutieren hier im Plenum regelmäßig intensiv,leidenschaftlich und kontrovers – und zu Recht – überjeden Einsatz der Bundeswehr im Ausland, unabhängigvon der Art der Mission oder der Anzahl der eingesetz-ten Soldaten. Um Frieden zu sichern, braucht es jedochden vernetzten Ansatz, den unsere Kräfte auch in Kri-sengebieten verfolgen. Auf militärischer Seite steht esbereits lange außer Frage, dass es vielseitige Spezialistenund Experten braucht, um Ordnungsstrukturen wieder-herzustellen. Gleiches gilt für zivile Einsatzkräfte. Hiersind wir auf dem richtigen Weg.Wolfgang Schäfer – der Name mag den meisten nichtbekannt sein – wurde im letzten Jahr am „Tag des Peace-keepers“ für sein Engagement in Afghanistan ausge-zeichnet. Auf die Frage seiner Heimatzeitung, ob er nocheinmal als Friedenshelfer nach Afghanistan gehenwürde, antwortete er, dass er offen dafür sei; Arbeit fürihn als Polizeiausbilder gebe es noch auf Jahre hinaus.Er betonte aber auch, dass seine Arbeit ohne den Schutzder Bundeswehr nur schwer machbar gewesen sei.Gerade dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur wir wis-sen, was wir an unseren Peacekeepern haben, sondernauch, dass sie wissen, was sie aneinander haben. Glei-ches gilt für unsere Gesellschaft, für unsere Bürgerinnenund Bürger. Niemand zweifelt an der Anerkennung unddem Respekt, die beispielsweise den Helfern von THWund GIZ entgegengebracht werden. Nur manchmal wer-den die Töne leiser.Natürlich sollten wir generell mehr und lauter darübersprechen, auch und gerade weil die jüngsten außenpoliti-schen Debatten gern allein auf den militärischen Part re-duziert werden. Das Ziel der Bundesregierung – wieauch von Minister Steinmeier formuliert – ist, dassDeutschland bereit sein muss, sich außen- und sicher-heitspolitisch früher, entschiedener und substanziellereinzubringen. Das umfasst im Wesentlichen und in ersterLinie auch die Bündelung unserer zivilen Kompetenzen,die zugegebenermaßen auch militärisch flankiert seinmüssen, wenn es die Situation verlangt. National wie in-ternational mangelt es dabei nicht an Anerkennung fürdie Experten der Friedenssicherung. Sie sind und bleibeneine elementare Stütze unserer Außen- und Sicherheits-politik. Dies belegt auch die Arbeit des Unterausschus-ses für Zivile Krisenprävention. Unser internationalesEngagement, unsere Verantwortung geht weit über dasMilitärische hinaus. Unser Handwerkszeug umfasst ebenmehr als nur den Hammer und die Brechstange.Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in unsererGesellschaft wider. Laut einer Umfrage der Körber-Stif-tung ist eine große Mehrheit unserer Bevölkerung durch-aus bereit, international mehr Verantwortung zu über-nehmen. Eine deutliche Mehrheit, mehr als zwei Drittelder Befragten, ist der Meinung, Deutschland solle sich inder humanitären Hilfe, bei Projekten zur Stärkung der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3417
Michael Vietz
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Zivilgesellschaft, bei der Ausbildung von Polizei- undSicherheitskräften oder der Hilfe beim Aufbau staatli-cher Institutionen – klassische Elemente der Friedenssi-cherung – stärker engagieren. Das ist kein Zeichen man-gelnder Anerkennung; es bleibt einfach das gute Gefühl,dass wir hier gut aufgestellt sind.Ich begrüße eine breitere Diskussion zu unserer Rollebei der Friedenssicherung auf dem internationalen Par-kett und dementsprechend auch die Intention des Antra-ges. Der vorliegende Antrag mag insofern ein Denk-anstoß sein. Er bietet einen bunten Strauß an Ideen,Anregungen und möglichen Maßnahmen – vor allemdazu, wo wir noch mehr Geld in die Hand nehmen soll-ten. Nur ist Geld allein kein Allheilmittel. Einige IhrerVorschläge haben sich bereits erledigt oder werfen prak-tische Probleme auf. Lassen Sie uns einfach darüber dis-kutieren.Lassen Sie mich auf mein einleitendes Zitat zurück-kommen. Unser Geist ist in der Lage, zu erkennen, wasunsere Peacekeeper leisten, und unsere Anerkennungkommt von Herzen. – Meine Redezeit ist zu Ende.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1460 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit zu
der Verordnung der Bundesregierung
Siebte Verordnung zur Änderung der Verpa-
ckungsverordnung
Drucksachen 18/1281, 18/1379 Nr. 2.3,
18/1583
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Thews für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Ich denke, wir sind uns über alle Fraktionen hinwegeinig, dass der Missbrauch der Verpackungsverordnung,wie er in den letzten Monaten verstärkt stattgefundenhat, dringend mit dieser siebten Novelle gestoppt werdenmuss. Einige möchten zwar gleich das ganze Duale Sys-tem abschaffen, aber wir halten es für sinnvoll, das be-stehende System – zumindest als Übergangslösung aufdem Weg zu einem Wertstoffgesetz – zu stabilisieren.Die Verpackungsverordnung regelt die Rücknahmeund Verwertung von Verpackungsabfällen, und zwar ba-sierend auf dem Prinzip der Produktverantwortung. DasPrinzip, dass Produzenten oder Vertreiber für die Samm-lung und Verwertung ihrer Verpackungsprodukte verant-wortlich sind und dass sie und nicht die Bürger für denAbtransport der gelben Tonne zahlen, ist seit Anfang der90er-Jahre in Deutschland etabliert. Insbesondere dieProduktverantwortung als Regelinstrument zur Errei-chung der Ziele der Kreislaufwirtschaft – Abfallvermei-dung und besseres Recycling – sollte ausgebaut werden.Das Duale System hat seine Fehler und Schwächenund bietet, wie wir jetzt sehen, auch Missbrauchsmög-lichkeiten. Aber die Grundidee halte ich nach wie vor fürschützenswert und nicht für gescheitert.
Es wurde aber in letzter Zeit Missbrauch betrieben, undzwar im Zusammenhang mit den sogenannten Eigen-rücknahmen und den Branchenlösungen. Diese Instru-mente wurden als Schlupflöcher genutzt, um Kosten zusparen und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.Das hat im Ergebnis zu einer erheblichen Finanzlückeund letztendlich zu einer Destabilisierung des DualenSystems geführt.Die gemeldeten Mengen, die im Rahmen der Eigen-rücknahme oder der Branchenlösungen gesammeltworden sein sollen und damit im Ergebnis nicht der Li-zenzpflicht unterlagen, stimmen nicht mit der Lebens-wirklichkeit überein. Gemäß den gemeldeten Mengenmüsste ein Großteil der Verpackungen im Rahmen derEigenrücknahme vom Käufer in den Laden zurückge-bracht bzw. gleich dagelassen worden sein. Wir alle wis-sen aus eigener Erfahrung, dass das nicht mit der Reali-tät übereinstimmt. Diese sogenannte Eigenrücknahmeals Ausnahme von der Lizenzpflicht hat sich nicht be-währt. Sie führte verstärkt zum Missbrauch des Systems.Deshalb wollen wir sie streichen. Das trifft bei fast allenBeteiligten auf Zustimmung; diesbezüglich gibt es einenbreiten Konsens.Zumindest einschränken wollen wir die Branchenlö-sung. Sie wurde mit der fünften Novelle der Verpa-ckungsverordnung eingeführt. Es sollte für Branchen,bei denen die Verpackungen an der Übergabestelle direktanfallen, die Möglichkeit geschaffen werden, diese sel-ber ohne vorherige Lizensierung über das Duale Systemzu entsorgen oder entsorgen zu lassen. Laut Gesetzesbe-gründung hatte man damals zum Beispiel an die Entsor-gung und Verwertung von Verbrauchsverpackungen vonin Kfz-Werkstätten eingesetzten Kfz-Ersatzteilen ge-dacht oder eben an Behälter für Öl und Schmierstoffe inKfz-Werkstätten, Tankstellen oder im Einzelhandel. Dassind durchaus sinnvolle Branchenlösungen. Oft sind esherstellerbasierte Lösungen mit eigenen Sammelsyste-men, die auch in Zukunft möglich sein werden.Seit der fünften Novelle sind die Verpackungsmen-gen, die als Teil einer Branchenlösung gemeldet wurden,allerdings massiv angestiegen. Von einigen Unterneh-
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Michael Thews
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men, unter anderem in der Lebensmittelindustrie, wur-den so unrealistische Mengen gemeldet, dass der Miss-brauch offensichtlich wurde. Manchmal war es sogar so,dass die Anfallstelle, die als Teil einer Branchenlösungangegeben wurde, selbst gar nichts davon wusste undden Verpackungsmüll ganz normal über die gelbe Tonneoder den gelben Sack im Dualen System entsorgt hat.Zusammenfassend kann man festhalten: Das bishe-rige System der Branchenlösung funktioniert nicht; es istnicht transparent und auch nicht überprüfbar.
Die Regelung wird deshalb so geändert, dass dieBranchenlösungen, die wir damals mit der fünften No-velle zulassen wollten, weiter möglich sind, der Miss-brauch aber so weit wie möglich beseitigt wird und dasSystem insgesamt transparenter und damit kontrollierba-rer wird.
Das fordert sowohl von den Herstellern oder Vertreibernals auch von den Anfallstellen mehr Dokumentations-aufwand. So wird zum Beispiel die Möglichkeit, denNachweis über die als Teil einer Branchenlösung gelie-ferten Produkte über allgemeine Marktgutachten zu füh-ren – Gutachten, die man kaum überprüfen kann –, abge-schafft. Die Anfallstellen müssen die im Rahmen derBranchenlösung gelieferten Verpackungsmengen doku-mentieren, beispielsweise anhand von Lieferbelegen.Das ist zumutbar, machbar und notwendig, um wiederfaire Bedingungen zwischen den Herstellern und demDualen System herzustellen.Ich bin der festen Überzeugung, dass die Idee der Pro-duktverantwortung nicht gescheitert ist. Sie ist schondeshalb nicht gescheitert, weil das Verpackungsrecyc-ling effektiv zur Ressourcenschonung beigetragen hatund damit auch zur Energieeinsparung und zur Reduzie-rung von Treibhausgasemissionen. Sie ist auch deshalbnicht gescheitert, weil die gelben Tonnen und Säcke vonBürgerinnen und Bürgern mit großem Engagement ge-nutzt werden. Vor allem aber ist uns durch dieses Systemein wichtiger Paradigmenwechsel in Deutschland ge-glückt, der erstens zu der Verantwortung der Herstellerund Vertreiber für die Entsorgung und Verwertung ihrerVerpackungen und die daraus entstehenden Abfälle ge-führt hat, zweitens zu einer qualitativ hochwertigenstofflichen Verwertung von Verpackungen und drittenszum Aufbau einer leistungsstarken Recyclingindustrieund einer vorbildlichen Recyclingtechnik.
Diese Voraussetzungen müssen wir jetzt nutzen, umdie Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetzweiterzuentwickeln. Wie im Koalitionsvertrag verein-bart, wollen wir die rechtlichen Grundlagen zur Einfüh-rung einer gemeinsamen haushaltsnahen Wertstofferfas-sung nicht nur für Verpackungen, sondern auch fürandere Wertstoffe schaffen. In vielen Kommunen stehenheute schon Wertstofftonnen, in denen nicht nur Verpa-ckungen aus Plastik, Metall und Verbundstoffen gesam-melt werden, sondern auch sogenannte stoffgleicheNichtverpackungen wie alte Gießkannen, Kochtöpfeoder Plastikspielzeug. Diese Wertstofftonnen wollen wirbundesweit auf der Grundlage eines Wertstoffgesetzeseinführen; denn für sinnvolles und effektives Recyclingmüssen Abfälle nach Stoffen und nicht nach ihrem Ver-wendungszweck getrennt werden.
Die praktizierte Trennung wurde vom Bürger weder ak-zeptiert noch verstanden. Deswegen sprechen wir ja vomintelligenten Fehlwurf.In unserem Abfall gibt es noch jede Menge Potenzial.Urban Mining, also das Heben von Wertstoffen aus demAbfall und das Zurückführen in den Wirtschaftskreis-lauf, muss unser Ziel sein. Wir können es uns nicht leis-ten, darauf zu verzichten. Diese Woche wurde FriedrichSchmidt-Bleek, der ehemalige Vizepräsident des Wup-pertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, einer derPioniere der Umweltbewegung, im Spiegel mit der An-merkung zitiert, wenn die Politik den Klimawandel stop-pen wolle, müsse sie an der Wurzel des Übels ansetzen,am Verbrauch natürlicher Ressourcen.Hierzu können wir heute mit unserer Entscheidung aufdem eingeschlagenen Weg zu einem Wertstoffgesetz ei-nen wichtigen Beitrag leisten.
Kollege Thews, das Protokoll des Deutschen Bundes-
tages verzeichnet zwar schon eine Rede des Abgeordne-
ten Thews, aber diese wurde zu Protokoll gegeben. Des-
halb sind wir heute Zeuge Ihrer ersten tatsächlich
gehaltenen Rede im Bundestag geworden. Ich gratuliere
Ihnen recht herzlich. Im Namen des ganzen Hauses wün-
sche ich Ihnen alles Gute.
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen undHerren! Die gelbe Tonne ist ein Dauerbrenner. Die Tinteunter der Sechsten Verordnung zur Änderung der Verpa-ckungsverordnung ist noch nicht trocken, da kommenSie bereits mit der siebten Änderung um die Ecke. Wannbegreifen Sie, dass jede weitere Änderung der Verpa-ckungsverordnung, ob die sechste, siebte, achte oderzwanzigste, sinnlos ist, solange Sie nicht das Übel selbstanpacken? Denn die von Ihnen gehätschelten elf priva-ten Großfirmen kriegen die Verpackungsentsorgung imDualen System nicht in den Griff. Sie sind keine Opfer,sie sind das Problem.
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Ralph Lenkert
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Wir alle kennen die Zahlen. 2,4 Millionen TonnenVerpackungsabfall fielen 2013 an, aber nur für 1 MillionTonnen stellten die elf Firmen Rechnungen aus. Wiekann das sein? Wenn eine Entsorgungsfirma ihrem po-tenziellen Kunden die Lizenzgebühr gemessen an dervollen Menge an Verpackungen berechnet – mit den vol-len Entsorgungskosten –, dann wechselt der Kunde zumnächsten Systemanbieter, der kundenfreundlicher rech-net. Diesen Wettbewerb des kreativen Gestaltens der Li-zenzgebühren ignorieren Sie von Union, SPD und Grü-nen. Lieber toben Sie sich auf Nebenschauplätzen aus.Ein Beispiel: Dem Möbelanbieter, der bisher fast alleVerpackungen selbst einsammelte, streichen Sie die Ei-genrücknahme, weil einige Kunden die Verpackungenmanchmal in die gelbe Tonne warfen. Jetzt muss er nachIhren Vorstellungen eine der elf Firmen zur Verpa-ckungsentsorgung über die gelbe Tonne bezahlen. Dawerden dann wohl seine Kundendienstmonteure zukünf-tig Folien, Schaumpolysterol und Luftpolster stets beimKunden lassen. Wenn dann plötzlich die gelben Tonnenvor den Haustüren überquellen, weil die Mehrmengenbeim Abholen nicht eingeplant waren oder die dünnenSammelsäcke reißen, ist die nächste, die achte Änderungder Verpackungsverordnung schon vorprogrammiert.Ein zweites Beispiel: PU-Schaumdosen werden bis-her über eine Branchenlösung gesammelt. 90 Prozentwerden erfasst. Daran waren die elf Firmen nicht betei-ligt. 18 echte Branchenlösungen funktionieren – alleohne die glorreichen Elf. Ein paar Dutzend Branchenlö-sungen dagegen funktionieren nicht. Und wer organisiertdiese? – Die elf Firmen. Jetzt zerschlagen Sie alle Bran-chenlösungen zugunsten der elf Firmen. Erklären Sie es!Mit einer Ausnahme: Wenn eine Branche eine vollstän-dige Erfassung und Selbstabholung ihrer Verpackungennachweist, darf sie ihre Lösung weiterbetreiben.100 Prozent Nachweis: Was für ein Bürokratiemonster!Mit dessen Hilfe schanzen Sie den elf Firmen weiteresGeschäft zu.
Übrigens: Die elf Firmen des Dualen Systems ver-brauchen bei 1 Milliarde Euro Umsatz rund 60 Prozent,also 600 Millionen Euro, für Verwaltung, Ausschreibun-gen und Gewinne. Nur 400 Millionen Euro werden aus-gegeben für Sammlung und Verwertung der Verpackun-gen. Das bringt zwar wenig für die Umwelt, aber derRubel rollt.Wir, die Linke, wollen eine Verpackungsverordnung,die funktioniert. Führen wir Verpackungsabgaben fürHersteller pro Kilogramm Verpackungsmaterial ein. Dasverhindert Betrug und fördert Verpackungsvermeidung –im Handel und bei Produzenten. Beauftragen wir dieKommunen mit der Erfassung der Verpackungen, be-zahlt aus der Verpackungsabgabe. Geschätzte 60 Prozentder Verwaltungskosten könnten entfallen.Beerdigen wir das Duale System! Die siebte Ände-rung der Verpackungsverordnung ist der erneute Ver-such, tote Pferde zu reiten. Schaffen wir dafür eine le-bensfähige und ökologische Verpackungsverordnung,und lassen Sie das Duale System in Frieden ruhen!
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Thomas Gebhart das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Anfang der 90er-Jahre in Deutschland: DieRede war vom Müllnotstand. Das war die Situation.Dann hat der damalige Umweltminister Klaus Töpfer et-was auf den Weg gebracht, was ein echtes Erfolgsmodellwurde: die Verpackungsverordnung. Sie war wegwei-send. Viele Länder haben dieses Konzept in der Zwi-schenzeit übernommen.Die Idee basierte auf dem Prinzip der Produktverant-wortung. Diejenigen, die Verpackungen in den Marktbringen, sind also auch dafür verantwortlich, diese Ver-packungen wieder zurückzunehmen und möglichst wie-derzuverwerten.
Es ist eine marktwirtschaftliche Lösung. Die Entsor-gungskosten werden Teil des Preises, und es entsteht einAnreiz, Verpackungen möglichst von Anfang an zu ver-meiden.
Und die Wirkungen? Die Kosten für die Verbrauchersind zurückgegangen. Wir haben in Deutschland hoch-moderne Recyclingtechnologien entwickelt – es wareine echte Innovation –, und Abfälle sind zu wichtigenRohstoffen geworden. 14 Prozent der Rohstoffe, die diedeutsche Wirtschaft heute einsetzt, stammen aus Abfäl-len.In Zukunft, meine Damen und Herren, muss diesnoch mehr gelten: Es kommt immer mehr darauf an,dass wir Kreisläufe dort schließen, wo dies ökologischund ökonomisch sinnvoll ist. In Zukunft wird das vordem Hintergrund, dass die Nachfrage nach Ressourcenweltweit stark steigt, noch mehr notwendig sein. Unddiese Ressourcen sind begrenzt.
Wir wollen daher das Prinzip der Produktverantwor-tung stärken, den Wettbewerb erhalten und möglichststärken. Es wäre verrückt, wenn wir dieses gute Prinzipder Produktverantwortung aufgeben würden.Vor kurzem haben wir hier im Deutschen Bundestagüber die sechste Novelle der Verpackungsverordnungdebattiert und sie beschlossen. Damit haben wir europäi-sche Vorgaben umgesetzt. Wir haben eine Liste von Bei-spielen dafür übernommen, was als Verpackung gilt undwas nicht als Verpackung gilt. Seit der sechsten Novellewissen wir daher, dass zum Beispiel die Kleiderbügel,die als Teil des Kleidungsstücks verkauft werden, alsVerpackung gelten, aber die gleichen Kleiderbügel, die
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Dr. Thomas Gebhart
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separat verkauft werden, eben nicht als Verpackung gel-ten. Das klingt fast schon absurd.
Aber, meine Damen und Herren, es weist uns auf einenzentralen Punkt hin: Wir müssen das Kreislaufwirt-schaftssystem weiterentwickeln. Künftig sollten wirVerpackungen und sonstige Abfälle aus den gleichenMaterialien in einer einheitlichen Wertstofftonne entsor-gen. Wir müssen das jetzt angehen, und wir werden diesin einem Wertstoffgesetz angehen. Die Verbraucher sindübrigens schon weiter – das Stichwort wurde schon ge-nannt –: intelligente Fehlwürfe.
Daher ist klar: Die siebte Novelle, die wir heute be-schließen werden, ist ein Zwischenschritt. Aber es ist einnotwendiger Zwischenschritt.
– Ja, selbstverständlich. –
Warum ist dieser Zwischenschritt notwendig? Weil dieVerpackungsverordnung so, wie sie ausgestaltet ist,Schwachstellen aufweist, die zu akuten Schwierigkeitenführen. Diese müssen wir beheben. Konkret bedeutetdies: Erstens. Die Möglichkeit der Eigenrücknahme wirdgestrichen. Was steckt dahinter? Die Eigenrücknahmewird offenkundig teilweise als Schlupfloch genutzt, umLizenzgebühren zu sparen. Die Pflicht, sich am DualenSystem zu beteiligen, wurde verstärkt umgangen. DerWettbewerb ist an dieser Stelle verzerrt.Zweitens. Die Anforderungen an die Nachweise beisogenannten Branchenlösungen werden erhöht. Bei derBranchenlösung war uns als Union wichtig, dass es ebennicht zu einer ausschließlichen Einengung auf direkteLieferbeziehungen kommt. Dafür haben wir uns starkge-macht. Dies sieht die Verordnung jetzt auch genau sovor.
Meine Damen und Herren, wir leisten mit der siebtenNovelle einen wichtigen Beitrag, um das System zu sta-bilisieren. Der nächste Schritt steht mit dem Wertstoffge-setz vor der Tür. Dann wird es vor allem darum gehen,anspruchsvolle Recyclingquoten durchzusetzen, für einebessere Organisation der Kreislaufwirtschaft insgesamtzu sorgen und vieles mehr. Wir haben eine ganze MengeArbeit vor uns. Aber das ist auch eine gewaltige Chance;denn wir können unser Land in einem wichtigen Zu-kunftsfeld weiter fit machen. Diese Chance sollten wirnutzen. Gehen wir es an!Herzlichen Dank.
Der Kollege Peter Meiwald hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben nur eine Erde. Ich glaube, in ähnlicher Formhaben wir das heute schon einmal von Bärbel Höhn ge-hört. Ich kann zwar nicht mit Enkelkindern aufwarten.Trotz alledem glaube ich, das sollte uns auch weiterhinbewegen. Wir sollten bei der Müllproblematik ähnlichwie bei der Klimaproblematik darauf hinweisen: Wir ha-ben Verantwortung. Die Rohstoffe, von denen wir leben,sind begrenzt. Ihr Abbau ist oftmals mit großen Umwelt-belastungen verbunden. Deshalb befassen wir uns alsParlamentarier immer wieder mit dem Ressourcen-schutz, mit dem sparsamen Umgang mit Ressourcen undmit Recycling. Das ist auch richtig so.„Änderung der Verpackungsverordnung“ klingt nichtbesonders ambitioniert in Richtung Ressourcenschutz.Aber sie hat natürlich damit zu tun. Am 20. März diesesJahres haben wir uns zuletzt mit dem Thema Verpackun-gen befasst, und zwar anlässlich der sechsten Novelle;das ist eben schon angesprochen worden. Schon da ha-ben wir zum Ausdruck gebracht, dass für uns nur schwerverständlich ist, warum man die damals schon vorliegen-den Anträge, die nun in die siebte Novelle eingeflossensind, im Rahmen der sechsten Novelle nicht gleich mitbearbeitet hat. Wir haben auch entsprechende Anträgeeingebracht; Nordrhein-Westfalen hatte dies schon län-ger thematisiert. Wir müssen nun damit leben, dass wirin zwei Schritten vorgehen; deswegen stehen wir heutewieder hier. Trotzdem – das ist verschiedentlich gesagtworden – ist es inhaltlich richtig, am System zu arbeiten,auch wenn das, was wir tun, in der Tat – Kollege Lenkerthat darauf hingewiesen – nicht der große Wurf ist. Dasist vollkommen klar, und ich glaube, das haben alle indieser Form mitgetragen.Auch der Öffentlichkeit ist mittlerweile bekannt, dassimmer mehr Unternehmen die Lizenzgebühren umge-hen; auch das haben wir eben schon gehört. Es stellt sichdie Frage: Was können wir kurzfristig tun, und was müs-sen wir langfristig tun? Im Moment umgehen einigeMarktteilnehmer die lästigen Lizenzgebühren. Demmuss man zunächst einmal Einhalt gebieten. Aber das istnur eine Übergangslösung. Die Änderungen, die wirjetzt vornehmen – die Streichung der Eigenrücknahmeund die deutliche Einschränkung von Branchenlösun-gen –, sind in dieser Form notwendig. Sie sind zwarnicht schön und bringen uns nicht wirklich voran. Aberwir werden diesen Änderungen zustimmen, weil wir dasSystem erst einmal so weit bringen müssen, dass wirendlich ein Wertstoffgesetz bekommen können.
Es handelt sich in der Tat nur um eine Zwischenlö-sung. Dass die Verpackungsentsorgung grundlegend neuorganisiert werden muss, um auch andere Wertstoffe ausdem Hausmüll zu holen und dem Recycling zuzuführen,ist wohl klar; das ist offensichtlich. Verbrennen kann da-
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Peter Meiwald
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bei nicht mehr die Hauptlösung sein. Im Moment ist esja so, dass alles, was sich unterhalb der Quoten noch ir-gendwie nutzen lässt, direkt verwendet wird. Aber dasmeiste landet in der Verbrennung. Das darf, wenn es zu-künftig ein Wertstoffgesetz gibt, nicht mehr so sein. Da-ran müssen wir dringend etwas ändern.
Als wir uns im Umweltausschuss mit diesem Themabefasst haben, hat das Umweltministerium angekündigt– Kollege Gebhart hat gerade darauf hingewiesen –, dassein Wertstoffgesetz in Arbeit ist. Alle Fraktionen arbei-ten in dieser Richtung. Ich freue mich, dass wir ge-meinsam an einem System arbeiten, das dynamischeRecyclingquoten mit sich bringt, sodass Deutschlandauch in der Müllpolitik wieder Vorreiter in Europa wird.Das waren wir ja schon einmal; das ist zu Recht erwähntworden. Mittlerweile aber versinken die meisten Abfällein der sogenannten thermischen Verwertung. Das ist desWertes, den die in den einzelnen Produkten enthaltenenRohstoffe haben, nicht würdig. Deswegen werden wiraufmerksam verfolgen, ob jetzt schnell ein Wertstoffge-setz auf den Weg gebracht wird. Nur so ist sichergestellt,dass die Öffentlichkeit angemessen an dieser Diskussionbeteiligt werden kann. Wir müssen eine breit angelegteDebatte führen. Gerade haben wir schon in einigenNebensätzen gehört, dass wir die Kommunen und dieLänder mit einbinden müssen. Damit müssen wir jetztendlich beginnen, damit die Diskussion auch in derBreite stattfinden kann.Wir erwarten deutlich höhere und dynamisch anstei-gende Recyclingziele im Wertstoffgesetz; denn diejetzigen Vorgaben – das sagen selbst die verwertendenUnternehmen – werden im Moment spielend erreicht.Alles andere wird dann einfach möglichst kostengünstigerledigt. Müllverbrennung ist einfach billiger. Daherwird im Moment alles, womit die Recyclingquoten über-erfüllt würden, verbrannt.Das widerspricht mittlerweile nicht nur der Überzeu-gung der Grünen, sondern – das habe ich in der breitenDiskussion hier im Plenum ja mit Freuden zur Kenntnisgenommen – auch unser aller Vorstellung von einer zu-kunftsfähigen Welt. Deswegen freue ich mich auf diehoffentlich sehr bald anstehenden Debatten zu einemechten Wertstoffgesetz.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschlandist Weltklasse im Fußball, wie wir in den nächsten Wo-chen sicherlich erleben werden.
Wir sind aber auch Weltklasse, wenn es darum geht,Rohstoffe zu recyceln.
Man erkennt, dass die Kreislaufwirtschaft funktio-niert und dass sie bei einem Jahresumsatz von 50 Mil-liarden Euro auch ökonomisch Sinn macht. Recycling istzu einem echten Wirtschaftsfaktor geworden. Das erstedieser Systeme besteht bereits seit den 90er-Jahren; wirhaben das schon gehört.An das damals zugrunde gelegte System, die Tren-nung von Abfällen, hat sich auch der Verbraucher grund-sätzlich gewöhnt, und er nimmt es erfolgreich an. Andieser Stelle sollten wir auch einmal ein großes Lob andie Verbraucherinnen und Verbraucher aussprechen, dieihren Müll trennen und diese Systeme erfolgreich nut-zen. Herzlichen Dank dafür.
Um diese bewährten Systeme zu erhalten, müssen wiraber auch da nachsteuern, wo ein System in Schieflagegeraten ist, und das ist bei der Verpackungsverordnungder Fall. Heute zeigt sich: Das Zusammenspiel von Li-zenzsystem, Eigenrücknahme und Branchenlösungenfunktioniert nicht. Die Eigenrücknahme wird miss-braucht.Ein Teil der Branche macht Gewinne, die anderenzahlen die Zeche. Hersteller und Vertreiber nutzen diesesZusammenspiel anscheinend gezielt, um das System zuumgehen. Klar erkennbar ist dies am deutlichen Rück-gang der lizenzierten Verpackungsmengen, während dietatsächlich gesammelten verwertbaren Mengen konstantbleiben.Die vor allem in den vergangenen Jahren beobachte-ten Folgen waren ein hohes finanzielles Defizit undteilweise ein drohender Zusammenbruch des gesamtenSystems. Sowohl Branchenlösungen als auch die Eigen-rücknahme werden wohl teilweise genutzt, um Verpa-ckungsmengen aus den lizenzierungspflichtigen Mengenherauszurechnen – wahrscheinlich, um Kunden attrakti-vere Angebote zu machen.Dieses bewusste Umgehen hat auch einen Nebenef-fekt, der nicht so häufig diskutiert wird und auch heutenoch nicht angesprochen wurde. Ich selbst bin Landwirtund Milcherzeuger. Unsere Molkerei muss natürlich wiejeder andere Hersteller auch ihre Beiträge an das DualeSystem zahlen. Leider können diese Beiträge nicht andie Handelsketten weitergereicht werden, sondern imEndeffekt zahlen wir Milcherzeuger das. Deshalb musses ein Anliegen von uns sein, hier eine vernünftige Re-gelung zu finden. Dabei ist es wichtig, dass wir dieschwarzen Schafe in der Abfallwirtschaft erkennen undbenennen und diesen Missstand beseitigen.
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Artur Auernhammer
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser siebtenVerordnung streichen wir den Tatbestand der Eigenrück-nahme, weil wir das bewährte Gesamtsystem erhalten,stärken und ausbauen wollen. Gerade deshalb ist eswichtig, dieses Schlupfloch zu schließen.Wir schaffen die Branchenlösung nicht ab, konzen-trieren sie aber auf die Bereiche, in denen wirklich funk-tionierende Systeme bestehen und sich ein Missbrauchausschließen lässt; denn der Ansatz „Wettbewerb bei derEntsorgung“ ist und bleibt auch in Zukunft wichtig. Des-halb geht es hier vor allem darum, die Möglichkeit einesMengenabgleichs zu schaffen.Kurz gesagt: Unser Ziel ist, eine flächendeckendeEntsorgung von Verkaufsverpackungen unter Beibehal-tung des Prinzips der Produktverantwortung zu sichernund faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Das,liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet die heute zurAbstimmung stehende Novelle. Sie wird dazu beitragen,dass Deutschland auch in Zukunft Weltklasse bleibt: beider Mülltrennung und beim Fußball.Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung zur
Änderung der Verpackungsverordnung. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/1583, der Verordnung der Bundesregierung auf
Drucksache 18/1281 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend
regulieren
Drucksachen 18/769, 18/1656
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Lin-ken, ist wieder einmal ein Sammelsurium an finanzpoli-tischen Forderungen. Sie haben wieder einmal alles ineinen Topf geworfen.Erstens. Es ist kein regulatorischer Missstand, dass eseinen legalen Grauen Kapitalmarkt gibt, sondern das istganz einfach Ausdruck von Gewerbefreiheit. Crowd-investing und Crowdfunding beispielsweise ermöglichenInnovationen, die sonst keine Chancen hätten.Mehr als 3 000 Anleger haben zum Beispiel in denKinofilm Stromberg Geld investiert. Der fertige Filmmag dem einen oder anderen vielleicht nicht als High-light des kulturellen Daseins, nicht als eine große Pro-duktion erscheinen, aber man kann nicht leugnen: Wirt-schaftlich war der Film sehr erfolgreich. Die Investorenhaben nicht nur ihr Geld, sondern darüber hinaus nocheine ansehnliche Rendite erhalten. Aber es hätte auch al-les komplett anders kommen können. Wenn niemandsich den Film angesehen hätte, wäre das Geld einfachweg gewesen. Nun die Frage: Muss man die Menschenvor solchen Anlagen schützen? Wir sagen Nein. Wirwollen solche Innovationen nicht totregulieren.
Zweitens. Es ist auch falsch, wenn Sie unterstellen,dass der Graue Kapitalmarkt komplett unreguliert sei.Schon in der letzten Wahlperiode haben wir die Aufsichtim Bereich des Grauen Kapitalmarkts und auch dieTransparenz der Produkte deutlich verbessert. Wir habenauch den Sach- und Fachkundenachweis eingeführt.Wir gehen auf diesem Weg noch ein Stück weiter. Wirziehen Konsequenzen aus der Pleite des Windkraftbe-treibers Prokon. Wir haben ein ganzes Maßnahmenpaketzum Schutz von Kleinanlegern vorgelegt. Die Unterneh-men werden dadurch zu mehr Transparenz verpflichtet,und auch der Vertrieb wird so geregelt werden, dassFinanzprodukte nicht systematisch an Anleger vertrie-ben werden, für die sie sich nicht eignen.Wir wollen auch die Verbraucherzentralen mit zusätz-lichen Millionen Euro ausstatten, damit sie den Marktnoch besser und systematischer beobachten und so viel-leicht auch Missstände schneller aufdecken können.Dies alles tun wir mit einem Ziel: einen Ausgleich zwi-schen der staatlichen Regulierung auf der einen Seiteund der Eigenverantwortung der Verbraucher auf der an-deren Seite zu schaffen.Die Kollegin Lay von den Linken hat in einer Presse-mitteilung dieses Maßnahmenpaket kritisiert. Sie hat ge-sagt – ich zitiere –:Im Kern bleibt es an den Verbraucherinnen undVerbrauchern hängen, sich zu informieren unddementsprechend zu handeln.Ja, Frau Kollegin, so kann man das sagen. Am Ende ent-scheidet immer der Verbraucher und nicht der Staat; sowollen zumindest wir das.
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Mechthild Heil
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Aber schauen wir uns doch einmal genau an, was Sievorschlagen. Sie fordern zum Beispiel einen Finanz-TÜV, der alle Finanzinstrumente und -akteure prüfensoll. Mit welchem Ergebnis soll er prüfen? Sie denkendabei an ein Ampelsystem. Rot bedeutet demnach Ge-fahr. Das kann ich noch verstehen. Gefahr heißt, das Pro-dukt darf nicht auf den Markt, weil Totalverlust droht.Das bedeutet auch: kein Geld für Filme wie Stromberg.Ihr Konzept – das zeigt das kleine Beispiel – ist nichtsinnvoll. Ich schlage Ihnen vor: Packen Sie es einfach indie Tonne, am besten wird es auch nicht wieder hervor-geholt und recycelt.
Eine weitere Forderung von Ihnen ist, die provisions-basierte Beratung zu verbieten. Sie unterstellen, alle Be-rater empfehlen Produkte nicht nach der Qualität, son-dern nach der Höhe der Provision. Sie verleumden damiteinen ganzen Berufszweig. Aber darauf will ich nichtweiter eingehen. Sie wollen eine Vertriebsform unterbin-den, die fast den gesamten Markt ausmacht. Was würdenwir damit erreichen? Welchen Vorteil hätte der Kundebzw. der Verbraucher dadurch?Nach Ihrem Wunsch müssten die Kunden dann auchfür jede Hausratversicherung oder Haftpflichtversiche-rung eine Honorarberatung bezahlen. Der Stundensatzeiner Honorarberatung gerade in diesen Bereichen istviel höher als die heutige Provision. Das nutzt den Ho-norarberatern, aber sicherlich nicht den Verbrauchern.
Wir wollen dagegen die honorarbasierte Beratung alsAlternative zum provisionsbasierten Modell weiter aus-bauen und fest im Markt etablieren. Denn beide Modellehaben ihre Vorteile für den Verbraucher, und wir wollen,dass der Verbraucher selber auswählen kann, was für ihngut ist.Mit unseren Maßnahmen zum finanziellen Verbrau-cherschutz schützen wir die Verbraucher, ohne sie zuüberfordern oder zu entmündigen. Das ist unser Ziel,und auf dieses Ziel richten wir auch alle weiteren Maß-nahmen aus.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Susanna Karawanskij das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir Linken wollen mitunserem Antrag den Grauen Kapitalmarkt, der ebennicht staatlich reguliert ist, umfassend regulieren, damitnicht länger ein lax regulierter Grauer Kapitalmarkt ne-ben dem Weißen Kapitalmarkt existiert.Heute wird in der FAZ – das ist nicht gerade ein Par-teiblatt – Bundestagspräsident Norbert Lammert zitiert:Es gibt eine Reihe von Phantasieprodukten, dieschon in ihrer Konstruktion schlicht unanständigsind.
Daimler-Finanzvorstand Manfred Gentz sagt dazu in derFAZ – lassen Sie mich auch das zitieren –:Man wird wahrscheinlich für bestimmte Produkteganz simpel zu Verboten kommen müssen.
Das ist kein Zitat der Linken, sondern eine Aussage desDaimler-Chefs.Dass wir eine Regulierung brauchen, zeigt sich auchdaran, dass Sie jetzt einen Aktionsplan und ein Maßnah-menpaket vorhaben. Sie sagen selber: Wir brauchen dieVerbesserung des Schutzes der Kleinanleger im GrauenKapitalmarkt.Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Sie denken nichtim Traum daran, den Grauen Kapitalmarkt zu regulieren.Sie möchten lediglich den Verbraucherschutz, also sozu-sagen den Anlegerschutz im Grauen Kapitalmarkt regu-lieren, statt diesen endlich von der Bildfläche verschwin-den zu lassen.
Wir wollen ebenfalls einen finanziellen Verbraucher-schutz, aber das schließt noch lange nicht aus, dass mandem Grauen Kapitalmarkt nicht das Wasser abgrabenund ihn schlussendlich schlicht und ergreifend beseiti-gen kann.
Um es ganz klar zu sagen: Unter den von Ihnen vor-geschlagenen Maßnahmen sind einige bemerkenswerteund sinnvolle Regulierungen. Das möchte ich gar nichtverheimlichen.Herr Sieling von der SPD hat uns bei der ersten Bera-tung des Antrages keck vorgeworfen, dass wir unsereForderungen nur bei Google zusammengesucht hätten.Sie haben jetzt ein Maßnahmenpaket mit 20 Einzelmaß-nahmen vorgelegt.
Ihrer Koalition hätte eine ausführlichere Google-Suchegutgetan. Denn Sie rücken dem Grauen Kapitalmarktnicht wirklich zuleibe; Sie gehen das halbherzig an. DassSie das nur gebremst tun, zeigt sich auch daran, dass Sieständig auf die mündigen Anleger und auf die Eigenver-antwortung verweisen. Gewiss muss jeder Verantwor-tung für seine Anlageentscheidungen übernehmen. DieEntscheidungen wollen wir den Anlegern auch gar nichtabnehmen. Aber wir wollen die Anleger nicht in das of-fene Messer laufen lassen.
Metadaten/Kopzeile:
3424 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Susanna Karawanskij
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Sie selbst haben zugegeben, dass die Finanzbranche sehrkreativ ist und einige Produkte sehr undurchsichtig sind.Die mündigen Anleger und Verbraucher werden undkönnen das Spiel gegen die mächtige Finanzbranchenicht gewinnen. Da sind Sie auf dem Holzweg; das mussich Ihnen einfach so klar sagen.
Wir legen in unserem Antrag tatsächlich einen weit-räumigeren Blick an den Tag. Wir wollen, dass jedeGeld- und Vermögensanlage in einschlägigen Gesetzenreguliert wird.
An Sie geht die Aufforderung, die Lücken im Kapitalan-lagegesetzbuch zu schließen. Darüber hinaus wollen wirden Grauen Kapitalmarkt einer wirksamen Finanzauf-sicht unterstellen. Dazu gehört beispielsweise, dass dieFinanzanlagevermittler nicht länger von den Gewerbe-ämtern kontrolliert werden. Das hat im Übrigen auch dieSPD in der letzten Legislaturperiode gefordert. Der FallProkon ist tatsächlich der Aufhänger für unseren Antrag.Aber Sie müssen weiterdenken, damit wir – erlauben Siemir bitte dieses Wortspiel – dem Grauen Kapitalmarktdas Grauen nehmen können.
Da meine Redezeit abläuft,
komme ich zum Schluss. In Sachen Vertrieb sollten Siestrenger sein. Sie sollten den provisionsbasierten Ver-kauf von Finanzprodukten aller Art unterbinden und alsAlternative die unabhängige Finanzberatung durch Ver-braucherzentralen bzw. Honorarberater stärken. Da Siesicher gleich von Erfolgsgarantien und Finanzplakettensprechen werden: Wenn ein Fahrer oder eine Fahrerin ei-nes Pkw mit TÜV-Plakette einen Auffahrunfall provo-ziert, dann wird deswegen nicht gleich der TÜV infragegestellt bzw. in Haftung genommen. Aus unserer Sichtführt an einem Finanz-TÜV – egal ob es um die Einfüh-rung einer Ampelkennzeichnung oder schlicht um dieFrage der Zulassung eines Finanzprodukts geht – ge-nauso wenig ein Weg vorbei wie an einer vollständigenÜberwindung des Grauen Kapitalmarkts.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte alsErstes sagen, dass ich mich ausgesprochen freue, FrauKollegin Karawanskij, dass Sie sich in Ihrer Rede sehrausführlich auf das 22-Punkte-Papier der beiden zustän-digen Minister, nämlich des Ministers der Justiz und fürVerbraucherschutz, Heiko Maas, und des Ministers derFinanzen, Herrn Schäuble, bezogen haben, das dazudient, die Beratungen über das voranzubringen, was wirin der Großen Koalition auf der Grundlage unseres Ko-alitionsvertrags zum Schutz der Sparerinnen und Sparer,der Anlegerinnen und Anleger sowie aller Verbrauche-rinnen und Verbraucher, aber auch zur weiteren Regulie-rung der Finanzmärkte auf den Weg bringen wollen. Dasist doch eigentlich ein gutes Zeichen für die Debatte indiesem Parlament.
Wir von der Koalition können stolz darauf sein, dasswir nun diesen Weg gehen und entsprechende Maßnah-men ergreifen. Wir sind in der glücklichen Situation,dass schon in der vergangenen Legislaturperiode an ver-schiedenen Stellen Schritte gemacht wurden, auch wenndiese teilweise unterschiedlich bewertet wurden. Wirsind allein schon deshalb weiter, weil mittlerweile in die-sem Parlament in der Frage betreffend die notwendigeRegulierung und den Schutz der Sparerinnen und Sparersowie der Anlegerinnen und Anleger und die Vermei-dung von Fehlentwicklungen eine ganz große Koalitionbesteht. Das war in der letzten Legislaturperiode nochnicht der Fall. Hier können wir gute Fortschritte ver-zeichnen. Wir werden nun Lücken schließen müssen.Kollegin Heil hat schon einige Punkte des Antragsder Linksfraktion angesprochen. Wir werden und kön-nen den dort skizzierten Weg so nicht mitgehen. Ange-sichts der Aufgaben, vor denen wir stehen, darf man dasKind nicht mit dem Bade ausschütten. Es gibt eine fach-liche und eine politische Dimension. Die fachliche Di-mension besteht darin, dass man keine Maßnahmen er-greifen darf, die am Ende negative Effekte für dieMenschen, um die es uns geht, haben werden. Das Pro-blem des Provisionsverbots – ich komme gleich daraufzurück – ist angesprochen worden. Wenn man so vor-geht, wie Sie es vorschlagen, wird man dieselben negati-ven Erfahrungen machen, die die Briten gemacht haben.In Großbritannien gibt es das Verbot. Das ist schlecht fürdie Verbraucherinnen und Verbraucher. Darum gehenwir einen solchen Weg nicht mit.
Man muss auch beachten, dass man am Ende politischeWege suchen muss. Auch da darf man das Kind nichtmit dem Bade ausschütten. Man muss unterschiedlicheKräfte bündeln und Mehrheiten finden. Auch dazu sindTeile Ihrer Vorschläge nicht geeignet.Ich will an der Stelle den zweiten Punkt aus meinerSicht ansprechen. Das ist der sich gut anhörende Vor-schlag eines Finanz-TÜVs. Das Problem besteht darin,dass wir insgesamt 1 Million Produkte haben, die sich zueinem großen Teil immer wieder verändern, weil sie sehrindividuell zugeschnitten werden und in dem Zusam-menhang neu konstruiert werden. Wenn Sie alle dieseProdukte einer Behörde, in dem Fall der BaFin, überge-
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Dr. Carsten Sieling
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ben wollen – das wäre eine Superbehörde für eine Super-aufsicht –, dann wird das nicht klappen. Die BaFin wirdnicht hinterherkommen können, die Aufsicht wird nichtwirksam sein. Deshalb lehnen wir den Finanz-TÜV abund halten seine Einführung für einen Schritt in die fal-sche Richtung.Ich habe gesagt, dass es an der Stelle eine ganz großeKoalition gibt. Die haben wir natürlich auch deshalb– das hat sich so gesellschaftlich herausgebildet –, weilwir mit S&K, Phoenix, aber natürlich auch zuletzt Pro-kon Fälle haben, die wir angehen müssen. Ich will des-halb auf das kommen, was die Zukunft in unserem Landbestimmen wird, nämlich das Eckpunktepapier, das vonden beiden zuständigen Ministerien vorgelegt wordenist.Es ist nicht so, wie der Eindruck zu erwecken ver-sucht wurde, dass damit nur – „nur“ in Anführungsstri-chen – Verbraucherschutz betrieben wird. Natürlich wirdVerbraucherschutz betrieben, aber es wird auch eine Re-gulierung der Anleger und der Finanzmärkte geben. Eswird zum Beispiel die Frage des Vertriebs aufgegriffen,und die Werbung soll eingeschränkt werden. Dazumöchte ich zwei Zahlen nennen, die einen wirklich er-schrecken und die deutlich machen, wie wirksam es seinwird, wenn wir die Werbung für gewisse Produkte ein-schränken.Prokon hatte einen Werbeetat für seine Produkte inHöhe von 85 Millionen Euro. Irgendwie musste das, wasüber die Bildschirme flackerte, bezahlt werden. Der Au-tomobilkonzern Ford hat einen Jahresetat von 100 Mil-lionen Euro für seine Werbung. Wenn man die beidenZahlen ins Verhältnis setzt, sieht man, welcher Aufwandbei Prokon betrieben worden ist und was für eine ver-zerrte Vertriebsstrategie gefahren worden ist. Dass daseingeschränkt wird, ist, glaube ich, eine sehr wichtigeAngelegenheit.Die zweite wichtige Angelegenheit, an der wir arbei-ten werden, ist, dass die BaFin natürlich eine erweiterteAufgabe erhält. Wir als SPD haben lange gefordert, dasssie auch die Zuständigkeit für den Verbraucherschutz er-hält. Das ist ein Riesenschritt voran, weil sie dann natür-lich – aber nur in Fällen, in denen es richtig schiefgehenkann – auch die Möglichkeit haben wird, Produkte zuverbieten. Das Instrument muss sie auch bekommen,wenn sie wirksam und durchschlagend sein will. Sie sollaber nicht Genehmigungen für 1 Million Produkte ertei-len, sondern gezielt vorgehen, quasi mit dem Florett ar-beiten, um diejenigen, die den Markt ausnutzen undÜbergriffe tätigen, aus dem Markt zu nehmen.
Lassen Sie mich noch eines zum Schluss sagen. Wirwerden große Schritte vorangehen, indem wir auchMaßnahmen ergreifen, um den kollektiven Verbraucher-schutz zu stärken, beispielsweise mit dem Aufbau vonMarktwächtern. Auch das sagt das Eckpunktepapier derbeiden Ministerien. Aber wir werden auch – auch Kolle-gin Heil hat das hier schon angesprochen; das ist einwichtiges Vorhaben – dafür sorgen, dass ein Wettbewerbzwischen jetziger provisionsorientierter Beratung undzukünftiger Honorarberatung stattfindet. Wir müssenHonorarberatung auf Augenhöhe ermöglichen. Daswerden wir mit dem, was wir machen, schaffen. Das istvernünftiger als das, was Sie heute hier vorlegen. Abervielleicht bringen wir ja eine konstruktive Diskussionzustande, und am Ende steht bei der Beschlussfassungüber das, was dieses Haus irgendwann als Gesetzentwurferreicht, eine große und das ganze Haus umfassendeMehrheit. Ich glaube, das wäre gut, um den Grauen Ka-pitalmarkt einzuschränken und die Verbraucherinnenund Verbraucher zu schützen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zu dem Antrag der Fraktion Die Linke werden wir unsenthalten, obwohl er viele richtige Punkte enthält. DieLinke fordert einen Finanz-TÜV, der alle Finanzinstru-mente, -akteure und -praktiken vor ihrer Zulassung da-raufhin untersucht, ob sie – ich zitiere – „gesamtwirt-schaftlich keine unerwünschten Nebenwirkungen haben,ob das gesamt- und betriebswirtschaftliche Risiko be-herrschbar ist und ob sie verbraucherfreundlich sind“.
Das halten wir nicht für sinnvoll; denn solche Wirt-schaftlichkeitsprüfungen sind mit hohen Prognoserisikenbehaftet. Ein positives Urteil eines solchen Finanz-TÜVs könnte wie eine Erfolgsgarantie verstanden wer-den, ganz zu schweigen von der drohenden Amtshaf-tung.
Als wir den Antrag der Fraktion Die Linke bei seinerEinbringung hier im Plenum behandelt haben, schlossich meine Rede mit einem Appell an den Verbraucher-schutzminister Maas. Ich habe gesagt, bezüglich seinerAnkündigungen, ausgehend vom Fall Prokon im Bereichdes Grauen Kapitalmarkts jetzt etwas zu tun, würden wirihn schon beim Wort nehmen; denn eine Ankündigungs-ministerin Aigner hatten wir im Verbraucherschutzmi-nisterium lange genug.
Mittlerweile hat der Verbraucherschutzminister zu-sammen mit dem Bundesfinanzminister Schäuble einenAktionsplan zum Verbraucherschutz im Finanzmarktvorgelegt. Dieser besteht aus einem Maßnahmenpaketinsbesondere zur Verbesserung des Schutzes von Klein-
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Dr. Gerhard Schick
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anlegern im Grauen Kapitalmarkt. Ich muss sagen:Wenn das so im Gesetz Niederschlag findet, dann hat derVerbraucherschutzminister meinen Respekt; denn dieserAktionsplan enthält viele Punkte, die wir Grünen seitlangem fordern.
Zum Beispiel begrüßen wir sehr, dass nun Umge-hungsmöglichkeiten für Anbieter von Graumarktproduk-ten eingeschränkt werden sollen und dass der Katalogder nach dem Vermögensanlagegesetz geregelten Anla-geformen erweitert wird. Es gibt am Markt nämlich er-hebliche Ausweicherscheinungen, zum Beispiel partiari-sche Darlehen oder Nachrangdarlehen. Darauf mussman reagieren. Es ist richtig, dass das vorgesehen ist.Zu begrüßen sind auch die Vorschläge zur verstärktenTransparenz von Vermögensanlagen und die Offenle-gung ihrer Risiken. Es ist zum Beispiel eine Selbstver-ständlichkeit, dass verpflichtende Angaben zu personel-len Verflechtungen im Umfeld des Anbieters für denAnleger transparent gemacht werden müssen; denn daskann er selber nicht erkennen. Richtig ist auch, dass dieFinanzaufsicht Befugnisse bekommt, Werbeverbote undVertriebsbeschränkungen bei unseriösem und aggressi-vem Anbieterverhalten auf dem Grauen Kapitalmarktvorzunehmen.Trotz alldem gibt es zwei zentrale Schwachpunkte,und ich sehe noch nicht, dass Sie sie angehen:Erstens. All die neuen anlegerschützenden Maßnah-men gehören auch umgesetzt. Aber von personellen Ver-besserungen für die Aufsicht ist nirgendwo die Rede.Auf einer Pressekonferenz hat Herr Schäuble auf Nach-frage einer Journalistin an dieser Stelle deutlich denKopf geschüttelt. Ich befürchte daher, dass die Durchset-zung dieser Punkte an mangelnden personellen Kapazi-täten scheitern wird. Das darf nicht passieren.
Zweitens. Eine Finanzaufsicht mit Befugnissen aus-zustatten, ist das eine. Das andere ist, dass sie auch da-von Gebrauch machen will. Es irritiert mich massiv, dassdie BaFin ihre Handlungsmöglichkeiten nicht nutzt.Zum Beispiel hat die BaFin bereits 2008/2009, als siegegenüber Prokon das Erbringen eines unerlaubtenBankgeschäfts monierte, Handlungsspielräume gehabt,um die Geschäftstätigkeit zu untersagen; aber sie hat esnicht gemacht. Wir haben ein massives Vollzugsdefizitin der deutschen Finanzaufsicht zulasten der Verbrau-cher, und das muss korrigiert werden.
An dieser Stelle gibt es eine klare Verantwortungszu-teilung: Die Bundesfinanzaufsicht untersteht der Rechts-und Fachaufsicht des Bundesfinanzministers.
Wenn sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise nochimmer ein solches Vollzugsdefizit besteht, dann ist dasan dieser Stelle einfach eine miserable Leistung.
Wenn sich hier nichts tut, dann werden die geplantenMaßnahmen ins Leere laufen. Deswegen lautet unserezentrale Aufforderung heute: Tun Sie etwas an diesenzwei zentralen Schwachpunkten!Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Volker Ullrich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der De-batte um den Grauen Kapitalmarkt klaffen Anspruch undLebenswirklichkeit auseinander. Ähnlich verhält es sichmit der ökonomischen Theorie und der Wirklichkeit. Inder idealen Welt haben alle Teilnehmer Informationenüber das gesamte Marktgeschehen und handeln rein amökonomischen Nutzen orientiert. In der Praxis verhält essich anders. In der Politik stellt man in der Theorie deridealen Welt Anträge in Kenntnis dessen, was bislangpassiert ist. In der Praxis liegt ein Antrag wie der derLinksfraktion auf dem Tisch. Sie verkennen, dass dieProblematiken des Grauen Kapitalmarkts und dasstrukturelle Versagen, das auf diesem Markt zulasten derVerbraucher aufgetreten ist, von der unionsgeführtenBundesregierung in den letzten Jahren erkannt und beho-ben worden sind.
In den Jahren 2011 und 2013 sind mit dem Vermö-gensanlagengesetz und mit dem Kapitalanlagegesetz-buch wesentliche Schutzlücken geschlossen worden.Gleichwohl erkennt eine vorausschauende Politik, dassder Schutz im Augenblick nicht ausreicht. Angesichtsder aktuellen Fälle, die wir alle bedauern, sehen wir ei-nen Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, weiter tätigzu werden, und zwar umsichtig und besonnen und unterBerücksichtigung der besonderen Aufgaben, die ein Ka-pitalmarkt auch für das Funktionieren unserer Wirtschafthat.Dementsprechend haben die Bundesminister der Fi-nanzen und der Justiz vor zwei Wochen ein weiteresMaßnahmenpaket auf den Weg gebracht, welches in dennächsten Wochen und Monaten in die parlamentarischeDebatte eingebracht werden wird. Ich glaube, es ist eingutes Signal, dass wir diese Debatte führen werden. Mitdem Maßnahmenpaket können wir weitere Schutzlückenschließen.Es darf aber nicht vergessen werden, dass bei der De-batte um den Grauen Kapitalmarkt auch die Funktion fürunsere Wirtschaft nicht aus den Augen verloren werdendarf.
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Dr. Volker Ullrich
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Sie können nicht einige Fälle, die wir alle bedauern undin denen Menschen auch ganz konkret betrogen wordensind, zum Anlass nehmen, Kapitalbeschaffungsmaßnah-men für den Mittelstand, für neue Projekte, für Wind-energie, für Solarenergie, für andere innovative Themenunmöglich zu machen. Sie müssen erkennen, dass in un-serer Marktwirtschaft – wir sind davon geprägt – auchdie Allokation von Kapital noch entsprechend funktio-nieren muss.
Alles andere ist Planwirtschaft.Es ist doch Planwirtschaft, wenn Sie durch einen Fi-nanz-TÜV alles regeln wollen, weil Sie damit den Staatzu einer Art Wirtschaftsprüfer machen, letzten EndesAmtshaftungsansprüche begründen und Erwartungenwecken, die der Staat nicht erfüllen kann.
Es sei in dieser Debatte weiter daran erinnert, dass esauch um die Bildung unserer Mitbürger in finanziellenFragen geht. Ich meine, Eigenverantwortung und Bil-dung in finanziellen Fragen, das ist der notwendige Ei-genbeitrag, den alle leisten müssen, und das ergänzt denstaatlichen Anlegerschutz. Nur zusammen kann damitein Schutzniveau erreicht werden, das für alle tauglichist. Um es mit den Worten eines bedeutenden Investors,Warren Buffett, zu sagen: Kaufen Sie nichts, was Sienicht kennen!
Dementsprechend ist „Eigenverantwortung“ nicht ir-gendwie nur ein liberales Wort, sondern Eigenverant-wortung ist letzten Endes etwas, was den Menschen imKern angeht. Wir müssen und dürfen den Menschenetwas zutrauen, ohne dass wir vergessen, dass der Staateine gewisse Schutzpflicht hat.
Ich bin überzeugt, dass wir mit dem Maßnahmenpa-ket einen Schutz des Grauen Kapitalmarkts vor proble-matischen Anbietern erreichen, der dem Niveau unsererVolkswirtschaft entspricht und die Menschen ruhigerschlafen lässt, weil sich die Politik darum kümmert.Gleichzeitig erlauben wir, dass die Kapitalfunktion inunserer Wirtschaft beibehalten werden kann.In diesem Sinne: Warten Sie ab, was wir zukünftigvorlegen werden. Wir werden damit den Grauen Kapital-markt auf eine anlegerfreundliche Art und Weise regu-lieren.
Vielen Dank. – Das war der letzte Redner in dieser
Debatte.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend re-
gulieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/1656, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/769 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Ge-
biet des Finanzmarktes
Drucksachen 18/1305, 18/1574
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/1648
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De-
batte ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
Bitte schön.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Vor vier Wochen haben wirhier in erster Lesung über den Entwurf eines Gesetzeszur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Fi-nanzmarktes beraten. Daraufhin folgen die Anhörung,aber auch viele intensive Gespräche mit Verbänden unddem Ministerium. Diese haben zu Änderungsanträgengeführt, über die wir heute ebenfalls beschließen wollen.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden im We-sentlichen aber nur redaktionelle Korrekturen und euro-parechtlich notwendige Anpassungen vorgenommen.Dies ist insbesondere notwendig, weil die Definition vonoffenen und geschlossenen Fonds im KAGB an die dele-gierte Verordnung der EU-Kommission angepasst wer-den muss. Diese Verordnung wird voraussichtlich imJuli 2014 in Kraft treten. Als geschlossen gelten dannnur noch Fonds, deren Anteile nicht vor Beginn der Li-quidation oder Auslaufphase auf Ersuchen eines Anteils-eigners zurückgenommen werden können. Vorher warendies solche Fonds, bei denen die Rückgabe nicht min-destens einmal jährlich möglich war. Dies ist also eineweitaus restriktivere Auslegung des Begriffs.
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Fritz Güntzler
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Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an ei-nen geschlossenen bzw. einen offenen Fonds hat dieseÄnderung der Definition erhebliche Auswirkungen.Viele bisherige geschlossene Fonds wären damit zu offe-nen Fonds geworden. Deshalb wird den bestehendenFonds, den sogenannten Altfonds, durch das Gesetz nun-mehr Bestandsschutz gewährt. Das ist notwendiger Ver-trauensschutz.Meine Damen und Herren, weiter hätte diese Ände-rung erhebliche negative Auswirkungen auf die zahlrei-chen Energiegenossenschaften gehabt, sofern sie denn inden Anwendungsbereich des KAGB fallen, also als In-vestmentvermögen anzusehen sind. In diesem Zusam-menhang möchte ich aber auch einmal darauf hinweisen,dass weit über 90 Prozent der mittlerweile über 800 be-stehenden Energiegenossenschaften operativ tätig sind.Diese werden somit von der Regulierung des KAGB garnicht erfasst. Diese Tatsache wird in der Diskussion teil-weise nicht richtig gewürdigt.Für die unter das KAGB fallenden Energiegenossen-schaften – das ist also der weitaus geringere Teil – warnoch in den letzten Zügen der Ausschussberatung imvergangenen Jahr eine Ausnahmeregelung geschaffenworden, um diese Bürgerenergieprojekte – um diesehandelt es sich zumeist – nicht durch zu große Regulie-rung und Anforderungen zu gefährden. Die Ausnahme-regelung für diese Genossenschaften wäre aufgrund dernach dem Genossenschaftsgesetz vorgesehenen Kündi-gungsmöglichkeiten ausgehebelt worden. Daher habenwir die Ausnahmeregelung an die neue Definition ent-sprechend angepasst. Wir wollen allen Bürgerenergiege-nossenschaften weiterhin ermöglichen, einen wichtigenBeitrag zur Energiewende in der Bundesrepublik zu leis-ten.Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf einenweiteren Punkt hinweisen, den ich auch schon in derEinbringung des Gesetzentwurfes angesprochen habe.Wir haben auch in den Beratungen intensiv über denNachweis der fachlichen Eignung von Geschäftsleiternvon Bürgerenergiegenossenschaften diskutiert. DieCDU/CSU-Fraktion und ich halten es für richtig undwichtig, dass auch diese – neben der Zuverlässigkeit desGeschäftsleiters – geprüft wird. Die BaFin soll künftigbei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und Eignung derGeschäftsleitung einer Genossenschaft aber auch dieStellungnahme des zuständigen genossenschaftlichenPrüfungsverbandes einbeziehen. Mit diesem Hinweiswird berücksichtigt, dass die Eignung der Geschäftslei-ter bereits bei der Gründung der Energiegenossenschaf-ten durch die genossenschaftliche Prüfung festgestelltwird. Weiterhin geht von uns an die BaFin das klare Si-gnal, bei ihrer Prüfung ihren Maßstab an der Größe, derKomplexität und dem Risikogehalt der Geschäftstätig-keit auszurichten. Wir wollen bürgerliches Engagementunterstützen und nicht durch übertriebene Anforderun-gen verhindern.
Darum haben wir auch eine Evaluierung dieser Ausnah-mevorschriften für Energiegenossenschaften zum Endedes Jahres 2015 vereinbart, um gegebenenfalls, falls not-wendig, nachsteuern zu können.Ich möchte noch zwei weitere Punkte, die auch Ge-genstand der Anhörung gewesen sind, kurz ansprechen.Durch die Änderung im KAGB ermöglichen wir jetztauch das sogenannte Derivatenclearing, also die Auf-rechnung von in der Verrechnung des Sondervermögensbegründeten Forderungen und Ansprüchen, künftig auchfür börslich gehandelte Derivate. Bisher war das Clea-ring nur für außerbörslich gehandelte Derivate möglich.Die deutlich strenger regulierten börslich gehandeltenDerivate sind im Rahmen der AIFM-Umsetzung verse-hentlich außen vor geblieben. Das machte so keinenSinn. Darum haben wir dies angepasst.Nicht übernommen haben wir den Vorschlag aus derAnhörung, der auch von den Grünen übernommen wor-den ist, Ausnahmeregelungen für sogenannte Kleinst-AIF in der Rechtsform einer Genossenschaft zu schaf-fen. Bei denen sollte unter anderem die Höchstanlage bei2 500 Euro liegen und das Anlagevolumen einen Betragvon 5 Millionen Euro nicht übersteigen. Ich vermagnicht einzusehen, warum Anleger bei diesen Gesell-schaften einen schlechteren Anlegerschutz erhalten sol-len. Für so manchen von uns sind auch 2 500 Euro vielGeld. Auch diesen Anlegern gebührt ein angemessenerAnlegerschutz.
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf haben wir bewusst keine größeren materiel-len Änderungen im KAGB vorgenommen. Um zu wis-sen, an welchen Stellen wir gegebenenfalls nochAnpassungen vorzunehmen haben, sollten wir den Pra-xistest der umfangreichen und komplexen Finanzmarkt-regulierung abwarten. Ich bin sicher, dass das Finanz-marktanpassungsgesetz nicht die letzte Etappe bei derRegulierung des Kapitalmarktes ist. Weitere werden si-cher folgen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt
Susanna Karawanskij das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir sprechen – wir ha-ben es gerade gehört – über die Anpassung von Finanz-marktgesetzen in einem begrenzten, redaktionellen Sinn.Das haben Sie, Herr Kollege, gerade treffend gesagt. Soweit, so gut. Gesetze müssen immer mal wieder überar-beitet werden, wenn sich die Bezeichnungen von Sach-verhalten, aber auch die Relationen ändern. Aber: IhrVorgehen beinhaltet gleichzeitig eine ganz klare Bot-schaft, dass nämlich die Bundesregierung über die tech-
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Susanna Karawanskij
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nokratische Aktualisierung von Gesetzen im Finanzsek-tor hinaus keinen Handlungsbedarf sieht. Das ist, ehrlichgesagt, ein Armutszeugnis, und das vor dem Hinter-grund, dass wir uns immer noch im siebten Jahr der Ban-ken- und Finanzkrise befinden. Sie werden jetzt sagen:Das ist das siebte Jahr nach der Krise. – Aber wenn Sieimmer wieder behaupten, dass diese vorbei sei, schauenSie einmal über den Tellerrand nach Europa, und dannsehen Sie: Wir stecken immer noch in dem Schlamassel.
Die EZB, die Europäische Zentralbank, führt wiedereinmal Stresstests durch, wonach Banken und deren Ei-genkapital hinsichtlich ihrer Risikotragfähigkeit über-prüft werden. Hier geht es darum, dass man Präventionzu dem Zweck betreibt, dass bei einem erneuten Crashnicht wieder die Hosen heruntergelassen werden müs-sen. Es ist eher eine Prüfung der großen Banken dahingehend, ob Europa im Ernstfall wieder einspringen darf.Ich finde, der Koalitionsvertrag war, was Ihre Ambitio-nen zu weiteren Regulierungen der Finanzmärkteangeht, beschämend zahm. Dieses Thema plätschert ein-fach dahin. Ehrlich gesagt verspielen Sie die Gelegen-heit, aus der größten Finanzkrise, die wir seit 1929 bzw.den 30er-Jahren hatten, die notwendigen Schlüsse zuziehen. Sie brauchen sich nicht hinter Europa und derEuro-Krise zu verstecken. Die Bundeskanzlerin hat inEuropa die unsoziale, ökonomisch kontraproduktiveSparpolitik mit aller Härte gegen die Euro-Krisenländerdurchgesetzt. Wenn Sie als Bundesregierung nur halb soentschlossen wären, den hochriskanten Finanzgeschäf-ten und dem Grauen Kapitalmarkt den Kampf anzusagen– von den Schattenbanken rede ich gar nicht –, dann wä-ren wir im Hinblick auf eine europäische Regulierungdeutlich weiter.
Uns ist natürlich nicht entgangen, dass Sie, vor allemauf Druck der Finanzbranche selbst, wenige inhaltlicheVeränderungen vorgenommen haben. Auf diese will ichkurz eingehen.Zur Anzahl der Aufsichtsmandate. Wir finden es voll-kommen richtig, dass die Begrenzung der Aufsichtsman-date die Sparkassen gegenüber den Privatbanken nichtbenachteiligen darf. Wir hätten uns aber eine andere Re-aktion gewünscht: nicht die, dass Sparkassen nun mehrMandate wahrnehmen dürfen, sondern dass die Zahl derMandate der privaten Banken eingeschränkt wird.Durch die Finanzkrise wurde flächendeckend bestä-tigt, dass neben dem Management und der Finanzauf-sicht auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Ban-ken ihre Kontrollfunktion eben nicht erfüllt haben. Eswäre nur konsequent, dass man der Ämterhäufung beiKontrollmandaten entgegentritt und damit die Bürde aufmehr Schultern verteilt.
Wir brauchen mehr kompetentes Personal mit entspre-chender Zeit, um den verbundenen Instituten – sei es nunim Konzernverbund, sei es im öffentlichen-rechtlichenInstitutsverbund – intensiver auf die Finger zu schauenund, wenn nötig, eben halt auch mal auf die Finger zuklopfen.
Abschließend möchte ich noch etwas zum Kapitalan-lagegesetzbuch sagen. Die dortigen Vorschriften lassenunseres Erachtens noch viel zu viele Umgehungsmög-lichkeiten und Ausweichkonzepte für unseriöse Anbietervon Kapitalanlagen zu. Das wurde auch in der Anhörungganz deutlich. Man muss sich das Tatbestandsmerkmal„operativ tätig sein“ erst einmal zu Gemüte führen. Wieist das mit der Grenze zum Tatbestand „Investitionsver-mögen“, der unter die Bestimmungen des Kapitalanlage-gesetzbuches fällt? Das alles ist sehr schwammig. Dashatten wir ja schon in der Debatte vorher: Die seit Pro-kon berühmt-berüchtigten Genussrechte oder auch dieNachrangdarlehen bleiben immer noch unreguliert.Um es auf den Punkt zu bringen: Das Kapitalanlage-gesetzbuch muss endlich wasserdicht gemacht werden.Die Finanzkrise ist immer noch nicht vorbei, auch wennSie diese Falschaussage mantraartig wiederholen.Beenden Sie Ihren Dienst nach Vorschrift! WerdenSie aktiv, und ziehen Sie vor allen Dingen die notwendi-gen Schlüsse aus der Finanzkrise, und setzen Sie die ge-wonnenen Erkenntnisse in wirklich wirksame und guteGesetze um!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ein Gesetz „Finanzmarktanpassungsgesetz“ heißt,dann könnte man vermuten, es gehe um ganz viel Geset-zestechnik. Das ist in der Tat auch richtig. Der Gesetz-entwurf soll im Nachgang zu europaweiten Regelungs-vorhaben – es hat viele Regelungsvorhaben gegeben; dasmuss man fairerweise sagen, auch wenn wir in der letz-ten Legislaturperiode in der Opposition waren und auchmanche Kritik geübt haben; ich nenne nur CRD IV, liebeKollegin Karawanskij, ein riesiges Regulierungswerk,oder das AIFM-Umsetzungsgesetz – Korrekturen undeuroparechtlich notwendige Anpassungen vornehmen.Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sichum ein Mantelgesetz, mit dem insgesamt elf andere Ge-setze geändert werden. Ganz häufig sind es in der Tat reinredaktionelle Korrekturen. Liebe Kollegin Karawanskij,das kann man als technokratische Weiterentwicklung be-zeichnen, aber so funktioniert unser Rechtsstaat nun ein-mal: Wir müssen die Gesetze entsprechend anpassen;denn nur dann ist eine saubere Regulierung möglich, undnur dann ist der Staat in der Lage, seine Vorstellungenüberhaupt durchzusetzen. Das machen wir hier.
Metadaten/Kopzeile:
3430 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Manfred Zöllmer
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Ich habe mich gefragt: Wie kann man in einer Redemit einem solch umfangreichen Werk umgehen? Ichhabe mich entschieden, zwei politisch wichtige Punkteherauszugreifen.Das erste Stichwort ist die Mandatsbegrenzung. Wo-rum geht es? Es geht um die grundsätzliche Frage: Wieviele Aufsichtsratsmandate kann eine Person in unter-schiedlichen Bereichen sinnvoll wahrnehmen? Wie großdarf die Zahl sein, sodass es noch möglich ist, wirklichAufsicht und Kontrolle über das Geschäftsgebaren aus-zuüben? Wir haben in der Finanzmarktkrise erlebt, dasses häufig ein Versagen in diesem Bereich gegeben hat,dass die Aufsicht nicht mit der nötigen Sorgfalt durchge-führt wurde. Das hat im Ergebnis zu existenzbedrohen-den Schieflagen von Banken geführt, die dann mit Steu-ergeldern gerettet werden mussten. Dieses darf sichnicht wiederholen.
Deshalb brauchen wir eine sinnvolle Beschränkung derZahl der Mandate.Ich glaube, wir haben gemeinsam eine sehr sinnvolleRegelung gefunden, die der Struktur des deutschen Kre-ditsystems Rechnung trägt. Wir haben bei kleinen Insti-tuten die alte Rechtslage beibehalten; das sind nicht sys-temrelevante Institute. Wir haben in Deutschland zumGlück sehr viele sehr kleine Institute. Aber bei Institutenvon erheblicher Bedeutung, von denen eine Systemge-fährdung ausgehen kann, wollen wir an der striktenMandatsbegrenzung festhalten.
Wenn man das einmal in Zahlen übersetzt, kann mansagen, dass ungefähr 1 900 Institute unter die alte Rege-lung fallen. Es sind kleine und sehr kleine Institute.52 Institute fallen unter die sehr stark begrenzende Re-gelung. Wir haben die Grenze bei einem Bilanzvolumenvon 15 Milliarden Euro gezogen. Das ist eine vernünf-tige Regelung, vor allen Dingen wenn wir uns vor Au-gen führen, dass in Zukunft die EZB für systemrelevanteBanken zuständig ist und dafür die Aufsicht übernimmt.Ein zweiter Punkt, den ich noch kurz herausgreifenmöchte. Es hat Probleme bei der Frage gegeben, was ei-gentlich zum harten Kernkapital einer Bank zählt undwas nicht. Angesichts des bevorstehenden Stresstests derEZB ist das eine wichtige Frage, die geregelt werdenmuss, damit Klarheit herrscht; denn das Ganze wirdauch veröffentlicht. Wir haben in diesem Gesetzentwurfklargestellt, dass in Zukunft bestimmte Reserven als har-tes Kernkapital anzusehen sind, weil sie diese Funktionerfüllen. Das Ganze war mehr ein rechtstechnisches alsein inhaltliches Problem.Wir haben ansonsten in dem Gesetz eine Reihe vonDetailregelungen gefunden – beim Kreditmeldewesen,beim Geldwäschegesetz, bei der Gewerbeordnung usw.Der Kollege Petry wird gleich noch auf ein paar anderePunkte hinweisen.Die Auswirkungen der einzelnen Regelungen in derPraxis sind nicht immer präzise vorhersagbar. Von daherist es wichtig, dass der Gesetzgeber flexibel reagiert. DasWort „Nachbesserung“ ist in diesem Zusammenhangkein Schimpfwort. Vielmehr wollen wir das Ganze eva-luieren, also überprüfen, wie es wirkt, und an den ent-sprechenden Stellschrauben drehen, wenn wir erkennen,dass Nachbesserung notwendig und möglich ist.
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.
Das ist vernünftige Gesetzgebung, die wir in dieser
Legislaturperiode umsetzen werden.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der KollegeDr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden eine ReiheFehler in bestehenden Regelungen korrigiert, und das istauch richtig so. Bei der Begrenzung von Aufsichtsrats-mandaten haben wir einvernehmlich eine gute Lösunggefunden. Wir werden uns allerdings trotzdem bei derAbstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten; dennwir sehen Schwächen bei der Korrektur des Kapitalanla-gegesetzbuches.
Das betrifft zum einen die Energiegenossenschaften.Da bleibt immer noch eine gewisse Rechtsunsicherheit,die die dezentrale Energiewende erschwert. Zum ande-ren meinen wir, dass die Schwelle für die Ausnahme-regelung mit 100 Millionen Euro deutlich zu hoch be-messen ist und deswegen noch viele kritischeAnlagemöglichkeiten bestehen, die Anleger in die Irreführen könnten.
Schließlich haben Sie unseren Vorschlag abgelehnt,für Kleinstgenossenschaften Erleichterungen zu schaf-fen. Wir meinen: Dort, wo große Risiken bestehen, mussman hart durchgreifen, aber dort, wo es sich um kleineInstitutionen handelt, die einen sehr begrenzten Bereichbewirtschaften, ist es auch richtig, bürokratische Lastenzu reduzieren.
Ich will aber heute einen anderen, etwas grundsätzli-cheren Aspekt thematisieren. Die Bundeskanzlerin sagteneulich, 80 Prozent der Finanzmarktregulierung seiengemeistert. Doch diese Angabe basiert auf einer verfehl-ten Analyse. Als die jetzige Regulierungsagenda beimG-20-Gipfel 2009 in Pittsburgh skizziert wurde, geschahdas unter Anleitung der Experten, die das Regulierungs-regime prägten, das uns in diese Krise geführt hat. Der
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Dr. Gerhard Schick
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Glaube an die Möglichkeit, Risiko zu berechnen, bliebungebrochen. So begann eine Bekämpfung von Sympto-men, die noch heute die Regulierungsagenda dominiert.Der Fehler dieser Agenda von Pittsburgh war derGlaube, dass man die Komplexität an den Finanzmärk-ten mit immer komplexeren Regeln bekämpfen kann.Ich finde, es ist Zeit, zu erkennen, dass das nicht funktio-niert.
Werden die vielen Gesetze, die wir in der vergange-nen Legislaturperiode durch den Bundestag gebracht ha-ben, eine neue Krise verhindern? Ich bin da sehr skep-tisch. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit einerFinanzkrise heute leider nicht geringer als vor fünf Jah-ren. Die Finanzmärkte sind größer als 2007; sie sindschneller und komplexer geworden. Nach Berechnungender Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sindweltweit Anleihen im Volumen von gut 100 BillionenDollar im Umlauf – das sind 43 Prozent mehr als beimAusbruch der Finanzkrise 2008. Christine Lagarde, dieChefin des Internationalen Währungsfonds, schrieb imvergangenen Jahr: „Derivatemärkte sind so groß und un-durchsichtig wie zuvor.“ Die entscheidenden Reformenam Finanzmarkt stehen also noch aus. Von wegen„80 Prozent sind geschafft“! Die große Arbeit, die Fi-nanzmärkte kleiner, langsamer und weniger komplex zumachen, haben wir noch vor uns.
Die Finanzaufsichtsbehörden haben häufig keinenwirklichen Überblick darüber, was auf den Märkten ge-schieht. Wir Politiker können an vielen Stellen die Um-setzung der von uns beschlossenen Regelungen und ihreWirkung in der Praxis nicht ausreichend nachvollziehen.Komplexe Regulierung und komplexe Finanzmärkte be-dingen sich hier gegenseitig. Wir Grünen plädieren des-halb für eine neue Regulierungsagenda, die auf einfa-chere, aber harte Regelungen setzt.
Eine solche Regulierung ist möglich. Dazu gehört ganzzentral wesentlich mehr Eigenkapital, damit Verlustedort anfallen, wo der Gewinn landet, nämlich bei den Ei-gentümern der Finanzinstitute. Es geht um ein Steuer-system, mit dem die Privilegierung von Fremdkapitalüberwunden wird, ein solides Trennbankensystem, daszusammen mit der europäischen Bankenunion wirklicheine Abwicklung auch größerer Banken ermöglicht, einVerbot des parasitären Hochfrequenzhandels und vor al-lem klare Haftungsregeln.
Was jetzt ansteht, ist, eine neue Regulierungsagendaauf den Weg zu bringen, die die Finanzmärkte kleiner,langsamer und weniger komplex macht. Hierzu erwartenwir Initiativen der Bundesregierung.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Philipp
Murmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrte Besucher! Meine Damen und Herren!Wir sind noch bei der Abarbeitung der Krise von 2008 –das ist sicherlich richtig. Es ist natürlich bedenkenswert,woran Wolfgang Schäuble erinnerte, als er neulich beiuns im Ausschuss war: Der internationale Bankensektorhat unserer Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politikin den letzten Jahren tatsächlich viel zugemutet.Herr Schick, ich gebe Ihnen insoweit recht, dass es si-cherlich auch notwendig ist, an die Wurzeln der Proble-matik heranzugehen. Aber Ihrer Behauptung, man könnezukünftige Krisen allein durch Regulierungen und im-mer weiter gehende Regulierungen vermeiden, kann ichmich nicht anschließen. Im Moment müssen wir erst ein-mal dafür sorgen, dass eine Krise, wie sie das letzte Maleingetreten ist, sich nicht wiederholen kann. Ich denke,dazu sind inzwischen viele Maßnahmen ergriffen wor-den, Maßnahmen, die unser Finanzsystem insgesamtdeutlich stabilisiert haben.
Was brauchen wir? Wir brauchen sicherlich die Rück-kehr zu mehr Verantwortung im Bankensektor; das istein ganz zentrales Element. Sie haben einige Beispielegenannt. Die Eigenkapitalbildung ist sicherlich ein wich-tiger Aspekt, den wir ja auch aufgreifen. Man darf esaber auch nicht übertreiben; denn sonst kann das Ban-kensystem für unsere Wirtschaft nicht die Rolle erfüllen,die es erfüllen muss, nämlich Kredite zu vergeben, Risi-ken einzugehen und viele Dinge mehr.In unserem Grundgesetz steht:Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleichdem Wohle der Allgemeinheit dienen.Diesen Aspekt müssen wir bei all dem, was wir tun, im-mer berücksichtigen. Natürlich müssen wir das auch denBanken und all denen, die in diesem System arbeiten,immer wieder mit auf den Weg geben; denn sie sind Ei-gentümer von zum Teil großen Instituten und tragen des-wegen natürlich eine erhebliche Verantwortung.Die Regulierung, die wir nun auf den Weg bringen,besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Haftungdurch Eigenkapital, Eigentümer in die Verantwortungzwingen und Reserven aufbauen. Das Aufbauen von Re-serven durch die Bankenabgabe ist ein wichtiges Ele-ment – über eine europäische Bankenabgabe wird disku-tiert –, mit dem wir das Finanzsystem insgesamt robustergegenüber einer eventuellen neuen Krise machen kön-nen.Der Gesetzentwurf zur Anpassung von Gesetzen aufdem Gebiet des Finanzmarktes, den wir heute verab-schieden, enthält viel Technik; das haben wir schon vonverschiedenen Seiten gehört. Wir haben im Ausschusszu dem Ursprungsgesetzentwurf acht Änderungsanträge
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Dr. Philipp Murmann
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eingebracht; die Linken übrigens überhaupt keinen. An-gesichts der Kritik, die sie hier vortragen, darf man dassicherlich sagen. Herr Troost hat an dem gemeinsamenBerichterstattergespräch teilgenommen und mehrerendieser Änderungsanträge, die wir gemeinsam verabredethaben, zugestimmt.
Wie gut unsere Große Koalition zusammenarbeitet,können Sie daran erkennen, dass Herr Zöllmer und ichunter anderem am Himmelfahrtswochenende miteinan-der telefoniert haben, um uns abzustimmen,
und daran, dass genau die Punkte, die Herr Zöllmer ge-nannt hat, auch auf meinem Zettel stehen.
Auch ich bzw. wir glauben, dass diese Elemente vongroßer Relevanz sind:Ein wesentliches Element sind die drei Kategorien beiden Mandaten: erstens die systemrelevanten großenBanken – das sind nur 35 –, zweitens die Banken von er-heblicher Bedeutung, die eine Bilanzsumme zwischen15 und 30 Milliarden Euro ausweisen, und drittens die1 800 neuen Kleininstitute, die wir sozusagen in die alteRegelung zurückführen und damit aus der Überregulie-rung – so sage ich es einmal – herausnehmen.Das zweite wesentliche Element ist, die Kernkapitalbil-dung bei den Banken zu ermöglichen. Dadurch werden,so wurde es uns gesagt, für die Banken auch für den Kri-senfall 1,3 Milliarden Euro mehr Kernkapital verfügbarsein. Ich denke, auch das ist eine sinnvolle Sache. Ganzherzlichen Dank an alle, die daran mitgearbeitet haben.Zum Schluss möchte ich anmerken, dass es auch da-rum geht, dass unsere Banken international wettbe-werbsfähig bleiben. Herr Schick, es kann doch nichtsein, dass wir hier in Deutschland wild vor uns hinregu-lieren – so sage ich es einmal – und das am Ende dazuführt, dass unser deutsches Bankensystem auf dem Welt-markt nicht mehr agieren kann. Wenn Sie sich die Grö-ßenordnung, um die es bei den amerikanischen Bankengeht, vor Augen führen, stellen Sie fest, dass es sich da-bei um ganz andere Dimensionen handelt als bei uns, vorallem, da es bei uns ja viele Kleininstitute gibt.Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass unsere Bankenwettbewerbsfähig bleiben. Sie müssen vor allen Dingenfür unseren starken Mittelstand Kapital zur Verfügungstellen und Risiken finanzieren. Wenn wir mehr Gründerin Deutschland haben wollen und wenn wir wollen, dassunsere Unternehmen in neue Technologien investieren,brauchen wir an deren Seite Banken, die in der Lagesind, dafür Kapital zur Verfügung zu stellen.
Deswegen müssen wir für eine gute Balance sorgen, umdiese Möglichkeiten nicht zu verschenken.Nochmals herzlichen Dank für die gute Diskussion.Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, in denunsere sehr guten Änderungsanträge eingeflossen sind.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Petry.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Murmann, dass Sie mit Herrn Zöllmer amHimmelfahrtswochenende telefoniert haben, ist sehrschön. Ich kann auch etwas bieten: Mit Herrn Güntzlerhabe ich mich beim Fußballspielen ausgetauscht. Inso-weit hat die Zusammenarbeit hervorragend funktioniert.
Dieser Gesetzentwurf bezieht sich auf eine Reihe vonGesetzen. Er steht in einer Linie mit anderen Gesetzen,mit denen wir mehr Transparenz, mehr Verbraucher-schutz, mehr Aufsicht und mehr Sicherheit in die Fi-nanzmärkte bringen. Wir waren in Brüssel und habenuns dort informiert. Dort haben wir die Information er-halten, dass es mittlerweile über 100 verschiedene Rege-lungen gibt, mit denen die Finanzmärkte stärker reguliertwerden sollen, damit solche Krisen wie die der Vergan-genheit nicht wieder auftreten. Wir haben die Aufgabe,das nationale Recht anzupassen; das ist ja schon gesagtworden.Diese erforderliche Umsetzung bzw. Anpassung be-trifft neben vielen anderen Gesetzen auch das Kapitalan-lagegesetzbuch. Wir wollen dabei zwischen Erleichte-rungen und Kontrollen die Balance wahren, damitniemand durch eine zu harte Prüfung Erschwernisse hin-nehmen muss oder unter Umständen am Ende in demBereich nicht mehr tätig sein darf.In diesem Zusammenhang sind, denke ich, die ent-sprechenden bürgerschaftlichen Engagements in Ener-giegenossenschaften und genossenschaftliches Engage-ment insgesamt zu nennen. Wir haben das ThemaKleinstgenossenschaften ja behandelt; sie sind ein Bei-spiel. Wir sind davon ausgegangen, dass die BaFin diespragmatisch regelt. Wir sind – das wurde genannt – derAuffassung, dass sich die Prüftiefe an der Größe der ent-sprechenden Einheit orientieren muss und dass entspre-chend der Größe die Maßstäbe hier auch niedriger ange-legt werden müssen. Wir haben die entsprechendenEignungen bei der Genossenschaft so angelegt, dass einePrüfung, sofern sie durch eine andere Behörde oder Or-ganisation, zum Beispiel nach dem Genossenschafts-recht, bereits vorgenommen worden ist, maßgeblich be-rücksichtigt wird bzw. in die Entscheidung einfließt.
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Christian Petry
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Davon gehen wir aus. Ich glaube, dass damit die Balancezwischen gewünschter Aufsicht und Kontrolle und denErleichterungen, die man braucht, um im Rahmen diesesehrenamtlichen bürgerschaftlichen Engagements tätig zusein, erreicht wird.Wir werden nach einer Überprüfung durchaus überweitere Änderungen beraten können. Wir gehen davonaus, dass es praktikabel ist, wenn Ende 2015 eine ent-sprechende Überprüfung stattfindet. Dann werden wirsehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob dasGesetz so gewirkt hat, wie wir uns das heute vorstellen.Wir sind damit aber weiterhin auf einem richtigen Wegfür mehr Verbraucherschutz, für mehr Transparenz, fürmehr Kontrolle und Aufsicht und für sicherere Märkte.Glück auf!
Danke schön. – Der Kollege Petry war der letzte Red-
ner in dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanz-
marktes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/1648, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/1305 und 18/1574 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetz-
entwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im
Gesundheitswesen
Drucksache 18/1462
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte hat der Kollege Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Selbstverwaltung ist das tragende Prinzip bei der Orga-nisation der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit unse-res Gesundheitswesens; das wissen wir alle. Das ist sogewollt. Ihre Bedeutung dokumentiert sich deshalb auchdadurch, dass die Selbstverwaltungskörperschaften ge-setzlich als Körperschaften öffentlichen Rechts veran-kert sind. Der Gesetzgeber hat die Verantwortung für dasFunktionieren des Gesundheitssystems auf diese Selbst-verwaltungskörperschaften übertragen und mithin natür-lich auch die Verantwortung für fast 200 Milliarden EuroVersichertengelder und Steuermittel. Allerdings sind so-zialrechtlich – besonders im SGB V – eine vielschich-tige Zweckbindung und grundsätzlich der Maßstab derZweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit verankert wor-den. Ich glaube, das ist auch richtig so. Deshalb kann mansagen: Solidarisch aufgebrachte Beitragsgelder – ichglaube, darüber sind wir uns alle einig – und Steuergel-der müssen dem Solidarsystem zugutekommen und dür-fen nicht zweckentfremdet werden.
Im Rahmen einer Kleinen Anfrage interessierte uns,ob es eine ausreichende Transparenz bei der Mittelver-wendung und eine ausreichende Aufsicht über die Mit-telverwendung insbesondere bei den bundesweit agie-renden Selbstverwaltungskörperschaften gibt. Seitensdes Bundesministeriums ist auf eine entsprechendeFrage geantwortet worden:Es besteht keine gesetzliche Regelung, die zu einer… Veröffentlichung der Jahresrechnungen undHaushaltspläne– zum Beispiel des GKV-Spitzenverbandes oder derKBV –verpflichtet oder sie ausdrücklich untersagt.Die Schlussfolgerung war für uns ein bisschen überra-schend – Zitat –:Für eine Veröffentlichung … sind gesetzliche Än-derungen daher nicht erforderlich.Das sehen wir anders. Wir fordern deshalb aus Gründender größeren Transparenz und aus Aufsichtsgründen inPunkt 1 unseres Antrags eine vollständige Offenlegungder Haushaltspläne und Jahresrechnungen.
Anlass für diese Kleine Anfrage waren Medienbe-richte über Unregelmäßigkeiten im Finanzsektor einerdieser größeren bundesweiten Körperschaften. Es gingdort auch um eine Unternehmensbeteiligung. In der Ant-wort des BMG war interessant, dass das BMG, obwohles formulierte, dass es selbst mit Nachdruck auf Aufklä-rung gedrängt habe, mehr als ein halbes Jahr später nochnicht abschließend informiert war. Hier wiederholt sichfür uns nicht zum ersten Mal, dass vom Gesetzgeber be-auftragte Körperschaften – manchmal sind es auch Stif-
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Dr. Harald Terpe
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tungen – nur widerstrebend auskunftsbereit sind. Ichfinde, das darf nicht hingenommen werden.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag speziell zur bes-seren Transparenz und Aufsicht, dass auch Unterneh-mensgründungen oder Unternehmensbeteiligungen, dienicht mit gesetzlichem Auftrag erfolgten, geprüft wer-den und sich das entsprechende Prüfrecht der zuständi-gen Rechtsaufsicht auch auf private Gesellschaftenüberträgt, bei denen die entsprechenden Selbstverwal-tungskörperschaften die Mehrheit haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte unterstützenSie unseren Antrag. Gern können Sie ihn auch noch ver-bessern. Er trägt auf jeden Fall zur Transparenz und zurbesseren Aufsicht bei.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-
Fraktion ist der Kollege Reiner Meier.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich das eben Gesagte auf mich wirken lasse, habeich das dringende Bedürfnis, einige Dinge klarzustellen.Die Selbstverwaltung ist ein bewährtes System, dasim Großen und Ganzen seit Jahrzehnten gut funktioniert.Es ist ein Markenzeichen der guten Sozialpartnerschaftin unserem Land, dass sich Versicherte, Leistungserbrin-ger und Beitragszahler an einen Tisch setzen und dieAngelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherungweitgehend eigenständig regeln. Ich halte es auch fürrichtig, dass sich der Staat auf die Rechtsaufsicht be-schränkt. Das bürokratische Monster, das wir hätten,wenn sich der Staat in jede kleine Sachentscheidung ein-mischen würde, möchte ich mir besser nicht vorstellen.Wie wir alle wissen, gab es auch in der Vergangenheitunschöne Einzelfälle. Ich denke da besonders an dieVorgänge um die Bürogebäude der KassenärztlichenBundesvereinigung hier in Berlin. Zu diesen Vorgängenhat das Bundesministerium für Gesundheit unverzüglicheine Prüfung eingeleitet, die gegenwärtig noch andauert.
Allein die Tatsache, dass diese Kontrollen laufen, zeigtdoch, dass die Rechtsaufsicht bereits heute gut funktio-niert. Genau deshalb ist es noch zu früh, um reflexartignach mehr Kontrolle, nach schärferen Vorschriften zu ru-fen.
Lassen Sie uns doch erst einmal das Ergebnis dieser Un-tersuchung abwarten, bevor wir über gesetzliche Schluss-folgerungen diskutieren, meine Damen und Herren.
Ich darf Sie übrigens daran erinnern, dass es diechristlich-liberale Bundesregierung war, die in denletzten zwei Jahren die einschlägigen Vorschriften imSGB IV deutlich verschärft hat. Ein besonderer Schwer-punkt war zum Beispiel die Vorstandsvergütung. Seit derGesetzesänderung müssen die Arbeitsverträge aller Vor-stände vom Ministerium genehmigt werden; sonst werdensie unwirksam. Die Genehmigung erteilt das Ministe-rium aber nur, wenn das Vorstandsgehalt in einem ange-messenen Verhältnis zu den Aufgaben des Betreffendensteht. Überzogene Gehälter wird es deshalb also nichtmehr geben. Auch Mietverträge zum Beispiel für Büroge-bäude können die Selbstverwaltungskörperschaften nichtmehr frei nach Belieben abschließen. Ab einer bestimm-ten Fläche und einer Mietdauer von zehn Jahren mussder Mietvertrag dem Ministerium vorgelegt werden. Da-mit haben wir langfristige und teure Verpflichtungenwirksam unterbunden.Ich meine, wenn Ihnen wirklich etwas an Transparenzin der Selbstverwaltung läge, hätten Sie diesen Änderun-gen vor einem Jahr in diesem Hohen Hause Ihre Zustim-mung geben müssen. Das haben Sie aber nicht getan.Das sagt schon einiges aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wirüber Selbstverwaltung sprechen, dürfen wir das nichtmit einem Tunnelblick tun und uns nur auf Einzel-aspekte in der Gesundheitsverwaltung oder im Gesund-heitswesen fokussieren. Stattdessen sollten wir das Sys-tem der Selbstverwaltung als Ganzes betrachten.
Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, dieSelbstverwaltung weiterzuentwickeln und insbesonderedie Sozialwahlen zu modernisieren. Die Stichworte dazulauten „Onlinewahlen“ und „mehr Direktwahlen“, vorallem in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Selbstverwaltung soll wieder stärker in das Bewusst-sein rücken, damit möglichst viele Menschen von ihremWahlrecht Gebrauch machen.
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Reiner Meier
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Mit Blick auf meine Redezeit lege ich Ihnen hierzu denSchlussbericht zu den Sozialwahlen 2011 ans Herz, derdiese Thematik sehr gut darstellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die konse-quente Weiterentwicklung der Selbstverwaltung ist füruns ein zentrales Thema, das wir in all seinen Facettenanpacken werden. Wenn die laufenden Untersuchungender Unregelmäßigkeiten abgeschlossen sind, werden wirdaraus selbstverständlich unsere Schlüsse ziehen. Derheutige Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, ist aber verfrüht. Er bleibt auch den Nachweisschuldig, dass die derzeitigen Regelungen unzureichendsind. Da habe ich bessere Schaufensteranträge von Ihnenaus der letzten Zeit in Erinnerung.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Harald Weinberg,
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben
einen Antrag vorgelegt, dessen Titel hohe Ansprüche
weckt. „Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Ge-
sundheitswesen“ – diese hohen Erwartungen kann Ihr
Antrag meines Erachtens nicht ganz erfüllen, da ledig-
lich die Rechnungsprüfung, nicht aber das sonstige Han-
deln der Selbstverwaltung transparenter würde. Dennoch
geht dieser Antrag aus unserer Sicht völlig in Ordnung.
Er wird von den Linken wohlwollend begleitet werden.
Was war Anlass für diesen Antrag? Die Kassenärztli-
che Bundesvereinigung, die KBV, wollte beim Umzug
von Köln nach Berlin ein neues Gebäude beziehen. Die
Aufsicht lehnte dies ab. Daraufhin gründete die KBV ge-
meinsam mit einer Bank eine Partnerschaft, die die Im-
mobilie baute und dann an die KBV vermietete. Im Rah-
men dieser intransparenten Geschäfte kam es sogar zu
einigen strafrechtlichen Ermittlungen wegen Steuerhin-
terziehung. Die Aufsichtsbehörde bekam von vielem erst
viel später etwas mit, weil es bislang keine ausreichende
Verpflichtung gibt, relevante Rechnungslegungsdaten
oder Unternehmensbeteiligungen an die Aufsichtsbe-
hörde zu übermitteln. Die Aufsichtsbehörde ist in dieser
Frage also quasi blind. Das ist die Situation, vor der wir
stehen.
Wenn der Bundestag diesen Antrag annähme, dann
würde sich dies ändern. Man würde die Selbstverwal-
tung damit nicht schwächen, sondern meines Erachtens
sogar stärker machen, weil glaubwürdiger.
Die Jahresrechnungen und die Haushaltspläne des Ge-
meinsamen Bundesausschusses, des GKV-Spitzenver-
bandes, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung
und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung müssten
veröffentlicht werden. Es geht schließlich um Körper-
schaften des öffentlichen Rechts – das ist bereits gesagt
worden –, die sich aus Geldern der gesetzlich Kranken-
versicherten finanzieren. Außerdem müssten diese Kör-
perschaften die Absicht zur Ausgründung privatrecht-
lichter Unternehmen der jeweiligen Aufsichtsbehörde
anzeigen und zur Genehmigung vorlegen.
Zusätzlich wird mit diesem Antrag ein Prüfrecht der
Aufsichtsbehörde bei Ausgründungen gefordert. Hätte
es diese Regelung schon vor 15 Jahren gegeben, dann
hätte sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung nicht
über eine Ausgründung eine Immobilie kaufen können,
deren Erwerb von der Aufsicht zuvor untersagt worden
war.
Nur am Rande: Der GKV-Spitzenverband ist nach ei-
genen Angaben – wir haben mit ihm darüber diskutiert –
mit diesem Antrag einverstanden, wenngleich er bislang
nicht selbsttätig und proaktiv alle Haushaltsberichte und
Jahresrechnungen veröffentlicht hat. Es gibt bisher
schließlich kein Gesetz, das die Veröffentlichung unter-
sagt. Insofern hätten die Verbände schon mehr Transpa-
renz zeigen können. Da sie dies bisher nicht getan haben,
halte ich es für erforderlich, dass man sie gesetzlich dazu
verpflichtet.
Ich gehe davon aus, dass nicht nur der GKV-Spitzen-
verband, sondern auch der Gemeinsame Bundesaus-
schuss, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung nichts gegen
diese neue Transparenz einwenden werden; denn im
Kern geht es ja darum, die Versichertengelder wirt-
schaftlich, solidarisch und transparent einzusetzen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dirk
Heidenblut, SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesund-heitswesen“, so lautet der Titel des plakativen Antrags,der heute eingebracht wurde.
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Dirk Heidenblut
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Ich denke, es ist gar keine Frage: Das System derSelbstverwaltung mit seiner enormen Verantwortung fürfast 200 Milliarden Euro Versichertengelder – auch ichwill hier nicht vergessen: einschließlich der Steuergelder –baut vor allen Dingen darauf, dass die Versicherten aufdas Verantwortungsbewusstsein der Handelnden ver-trauen dürfen und dass diese die Mittel im Bewusstseinder Verantwortung zielgerichtet, wirtschaftlich, sparsamund mit der gebotenen Effizienz gerade auch im Verwal-tungshandeln – das ist hier ja häufig der strittige Punkt –verwenden.
Immer wieder liest oder hört man, dass dies womög-lich nicht geschieht – der Kollege Meier hat schon da-rauf hingewiesen – oder verbesserungsbedürftig ist.Meist sind es die Verwaltungen der Selbstverwaltung,die dabei in der Diskussion stehen. Es gibt aber auchkonkrete Erkenntnisse – wie zuletzt bei der KBV –, dassetwa die Wirtschaftlichkeit und die erwartete zielgerich-tete Verwendung nicht gegeben sind. Neben solchenkonkreten Erkenntnissen oder zumindest begründetenVerdachtsmomenten gibt es auch so etwas – ich denke,das ist bei diesen Summen ganz klar – wie ein gesundesMisstrauen. Das ist hier quasi systemimmanent. Umsomehr ist der Wunsch nach größtmöglicher Transparenzund einer darauf fußenden effektiven Aufsicht und Auf-klärung von möglichen Problemen verständlich und– um das auch zu sagen – zunächst einmal durchaus be-rechtigt.Transparenz schafft Vertrauen, beseitigt vor allenDingen das unwohle Bauchgrummeln und hilft nicht zu-letzt, vor tatsächlichen Problemen zu schützen oderschnell zur Klärung von Sachverhalten beizutragen. Da-her kann man nicht deutlich genug sagen: Die Forderungnach Transparenz – gerade in Bezug auf das Finanzgeba-ren aller Beteiligten – findet ganz sicher politische Zu-stimmung, muss aber eigentlich auch ein klares Anlie-gen der Selbstverwaltung sein.
Der von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung letzt-lich selbst aufgedeckte Fall belegt, dass das auch so ist.Strittig bei der Diskussion zu diesem Antrag kannaber sicherlich sein, wie tatsächlich mehr Transparenzgeschaffen werden kann, nicht nur scheinbare Transpa-renz aufgrund einer völlig verwirrenden Informations-flut. Da haben wir im Gesundheitsbereich durchaus daseine oder andere Beispiel, wo am Ende für den Versi-cherten und auch den Betreuten keine Transparenz mehrvorhanden war.Natürlich ist auch die Frage, wie man die vorhandeneTransparenz bewertet und deren Wirksamkeit einschätzt.
Dass Fehlverhalten offenkundig wird und letztlich zuKorrekturen führt, ist ein Zeichen dafür, dass wir hierkeinesfalls über ein komplett intransparentes System re-den. Das signalisiert erfreulicherweise auch der Antrag;denn „mehr Transparenz der Selbstverwaltung“ heißt ja:Es gibt bereits Transparenz im System.Die Diskussion über Transparenz sollte nicht alsgrundsätzliches Misstrauen in die durchaus gut aufge-stellte Selbstverwaltung missdeutet werden. Die Ant-wort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen,die diesem Antrag letztlich zugrundeliegt, macht deut-lich – da muss ich Ihnen widersprechen –, dass die Auf-sicht keineswegs blind ist.
Alle Abschlüsse der Körperschaften werden extern vonrenommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ge-prüft. Ergeben sich daraus Beanstandungen oder weite-rer Prüfungsbedarf – das macht der zuletzt erkennbar ge-wordene Fall sehr deutlich –, werden ergänzendePrüfungen beauftragt, und es wird eine Klärung herbei-geführt. Diese kann natürlich eine gewisse Zeit dauern.Das zuständige Ministerium reagiert ebenfalls in an-gemessener Form. Wie der Antragsteller aus der umfas-senden und sehr detaillierten Antwort der Bundesregie-rung, die mehr als deutlich macht, wie ernst dasMinisterium seine Aufsicht nimmt und wie klar die Er-kenntnisse sind, schließen kann, dass die Bundesregie-rung an mehr Transparenz nicht interessiert sei, er-schließt sich zumindest mir nicht wirklich.Der Hinweis, dass mehr Transparenz, also etwa dieOffenlegung von Jahresabschlüssen, eine gesetzlicheRegelung nicht entgegensteht, kann so kaum gedeutetwerden. Vielmehr macht das zuständige Ministerium inseiner Antwort deutlich, wie gut die Erkenntnisse sind,wie damit umgegangen wird und dass die Bundesregie-rung die Aufgaben, die sich aus der schon lange beste-henden Transparenz ergeben, sehr ernst nimmt. Selbst-herrlichkeit im Umfang mit Versichertengeldern – dasind wir absolut sicher – wird keinesfalls geduldet.
Es ist sicherlich auch richtig und im Sinne der Interes-sen der Versicherten, dass Transparenz nicht nur für dieKörperschaften selbst, sondern auf jeden Fall auch fürderen Beteiligungen gelten muss, soweit hier nicht un-wesentlich Mittel der Körperschaft eingesetzt oder inHaftung genommen werden oder in Haftung genommenwerden können, wobei sich hier, je nach Art der Beteili-gung, zum Teil aus anderen gesetzlichen Regelungenschon Vorschriften ergeben können.Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, gerade auchwegen der Besonderheit der Selbstverwaltung. Aber wirhaben auch dafür Sorge zu tragen, dass Mittel, die vonVersicherten aufgebracht werden, nur insoweit erhobenwerden, wie sie für das Gesundheitssystem tatsächlichnötig sind, und daher auch nur genau dort eingesetztwerden. Das schränkt den Spielraum für die Mittelver-wendung ganz klar und deutlich ein. Es ist unsere
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3437
Dirk Heidenblut
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Pflicht, immer wieder genau hinzuschauen, ob sich dieSelbstverwaltung an diese Vorgabe hält.Wir werden uns im Ausschuss mit dem Antrag einge-hend auseinandersetzen. Ob er letztlich tatsächlich einMehr an Transparenz ermöglicht, ob das dort Beschrie-bene dem wirklich gerecht wird und wie das im Verhält-nis zu bestehenden Regelungen, aber auch zu den ge-setzlichen Rahmenbedingungen am Ende zu bewertenist, das wird die weitere Diskussion zeigen.Uns ist wichtig: Die, die am Ende die Kosten zu tra-gen haben, müssen neben allem nötigen Vertrauen in dieSelbstverwaltung – ohne das geht es im Gesundheitssys-tem nicht – auch die Sicherheit haben, dass das bereitge-stellte Geld dem richtigen Zweck dient. Wir als SPD-Fraktion und damit auch die Große Koalition setzen– das macht der Koalitionsvertrag mehr als deutlich –auf eine gute und fortschrittliche Weiterentwicklung desGesundheitswesens.
Wir setzen auf Qualität und Transparenz und damit ganzklar auf eine ordnungsgemäße Mittelverwendung, diegenau diesen Kriterien entspricht.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Jetzt erhält die Kollegin Karin Maag,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Beim Antrag der Grünen, lieber Harald Terpe, handelt essich sehr wohl um das Erbe von Biggi Bender, die dieAufdeckung im Zusammenhang mit den Unregelmäßig-keiten bei der KBV mit viel Herzblut betrieben hat. Ihrführt ihre Arbeit jetzt einem Ergebnis zu.Bei der KBV ging es im Wesentlichen um unprofes-sionelles Wirtschaften und fehlende interne und externeGenehmigungen. Ein finanzieller Schaden ist, soweit dieErmittlungen bisher gediehen sind, allerdings nicht ent-standen. Die KBV hat übrigens diese Fehler und Ver-säumnisse eingeräumt. Das Ministerium prüft intensivund nachhaltig. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlos-sen. Aber bislang ist von der Rechtsaufsicht noch keinGrund für die endgültige Versagung der fehlenden Ge-nehmigungen gesehen worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ichbin versucht, zu Ihrem Antrag Ja zu sagen.
Ich bin versucht;
aber der Antrag schießt doch über das Ziel hinaus.Ich gebe zu: Auch mich ärgert es, wenn mit solchenFehlern die gesamte Selbstverwaltung in ein schiefesLicht gebracht wird. Die Selbstverwaltung – das habenSie deutlich gemacht – ist ein tragendes System diesesGesundheitswesens. Deshalb muss jeder Anschein ver-mieden werden, dass mit den Mitteln der Beitragszahler,aber auch der Leistungserbringer und der Verbände nichtsorgfältig genug umgegangen wird. Die Frage, ob dieseMittel tatsächlich zur Erfüllung der gesetzlich vorge-schriebenen Aufgaben verwendet werden, stellt sich na-türlich nicht nur in dem beschriebenen Fall. Ich denkeauch an eine Krankenversicherung, die laut Zeitungsbe-richten als Sponsor der deutschen Handball-National-mannschaft 700 000 bis 1 Million Euro ausgibt. Ichmeine, es ist grundsätzlich richtig, solche Fragen zu stel-len. Ob die Körperschaften ihren Handlungs- und Er-messensspielraum verlassen haben, klären aber nicht wiroder die Öffentlichkeit, sondern immer noch die Auf-sichtsbehörden. Deswegen hilft der Antrag nicht wirk-lich weiter.Welche weiteren Vorteile zum Beispiel aus der Veröf-fentlichung der Jahresrechnung oder der Haushaltspläneerreicht werden, erschließt sich mir aus Ihrem Antragnicht unbedingt. Die Haushalte der KBV, der KZBV unddes GKV-Spitzenverbandes machen nämlich nur einensehr kleinen Teil der 194 Milliarden Euro Gesamtausga-ben aus. Darüber werden natürlich nicht nur die Mittelder GKV abgewickelt. Worin liegt denn der Nutzen fürdie Öffentlichkeit, wenn sie weiß, wie viel Geld dieKBV beispielsweise für IT-Systeme oder Personal aus-gibt? Die Rechtsaufsicht kennt die Zahlen. Die Öffent-lichkeit kann damit nichts anfangen.Wenn es um die Beteiligung an privatrechtlichen Un-ternehmen geht, gilt die Verordnung über das Haushalts-wesen in der Sozialversicherung, die ausreichendeSchutzmechanismen enthält.Es ist auch nicht Sache der Rechtsaufsicht, Fragen zurZweckmäßigkeit zu stellen. Selbstverwaltung gibt Ge-staltungsfreiheit. Diese muss man aber auch zulassenund gegebenenfalls sogar ertragen. Der Rechtsaufsichtvorgeschaltet – auch das darf man nicht vergessen – sinddie Kontrollen durch die internen Gremien, die Vertre-terversammlung und die Verwaltungsräte. Wofür die je-weiligen Körperschaften Geld ausgeben dürfen bzw. dieAufgaben, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehen-den Mitteln zu erfüllen haben, sind gesetzlich festgelegt.Ein Vorstand, der bewusst dagegen verstößt, riskiertnicht nur strafrechtliche Konsequenzen, sondern musspersönlich für diesen Schaden haften.Was die Frage betrifft, wie die Kassen geprüft werden:Das Bundesversicherungsamt und die Landesversiche-rungsämter prüfen zusätzlich für die Kassen mindestensalle fünf Jahre Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebsfüh-rung. Das BMG prüft mindestens alle fünf Jahre beimGKV-Spitzenverband und bei der KBV. Der Bundes-rechnungshof ist beteiligt. Ich meine, wir haben ausrei-chend Sicherungssysteme eingebaut. Falls der Vorstandwirklich versuchen sollte, diese Regeln zu umgehen,
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Karin Maag
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wird es jedenfalls nicht im Haushaltsplan widergespie-gelt.Meines Erachtens sind die Regelungen detailliert. DieRechtsaufsicht funktioniert. Dass sie funktioniert, be-weist gerade der Fall der KBV. Die Rechtsaufsicht ist ih-ren Aufsichtsbefugnissen umfassend und nachdrücklichnachgekommen, und die KBV hat entsprechende Konse-quenzen gezogen. Das Fehlermanagement wurde ver-bessert, eine Sonderprüfung veranlasst. Es gibt jetzt eineInnenrevision. Ich kann aber zusagen: Wenn am Endedie Prüfung zeigen sollte, dass noch Handlungsbedarfbesteht, werden wir entsprechende Änderungen voran-treiben.Ich will zusammenfassen. Dort, wo Probleme beste-hen, schaffen wir Abhilfe. Der Kollege hat an die Neure-gelung der Vorstandsbezüge erinnert. Wir sollten unsereEnergie aber vor allem darauf verwenden, die Versor-gung zu verbessern; das ist die wichtige Aufgabe. Nochmehr Verwaltungsvorschriften, die möglicherweise dazudienen, auch die Rechtsaufsicht zu kontrollieren, sind füruns jedenfalls keine Option.Danke schön.
Vielen Dank. – Das war die letzte Rednerin in dieser
Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1462 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch – Ergänzung personalrecht-
licher Bestimmungen
Drucksachen 18/1311, 18/1586
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/1651
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/1652
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Zu dieser späten Stunde beraten wir abschließendüber den Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderungdes Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Es geht um dreiunterschiedliche Aspekte personalrechtlicher Bestim-mungen. Es geht um drei Regelungen, die für Klarheitund Rechtssicherheit für die Arbeit der Jobcenter sorgensollen. Erstens geht es um die Zuständigkeit bei daten-schutzrechtlichen Ordnungswidrigkeiten. Es gibt bishereine unklare sachliche Zuständigkeit für die Verfolgungund Ahndung bei datenschutzrechtlichen Ordnungswid-rigkeiten. Die Klarstellung, die durch das Gesetz derBundesregierung hier vorgenommen werden soll, be-steht darin, dass für kommunale Mitarbeiterinnen undMitarbeiter in den gemeinsamen Einrichtungen dieoberste Landesbehörde sowie für die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit das Minis-terium für Arbeit und Soziales zuständig ist.Zweitens geht es um Erstattungsansprüche der Trägerder Grundsicherung gegenüber der Rentenversicherung.Das Problem, das sich dahinter verbirgt, ist, dass insbe-sondere nach einem Urteil des Bundessozialgerichtsvom 31. Oktober 2012 Unsicherheit über die Entstehungvon Erstattungsansprüchen der Jobcenter besteht. Esgeht um den Fall, dass ein Jobcenter, also der Träger derGrundsicherung, in Vorleistung durch Leistungen desSGB II getreten ist und es dann rückwirkende Leistun-gen durch den Rententräger – konkret: Erwerbsminde-rungsrenten – gibt. Hier wird durch das Gesetz klarge-stellt, dass es in Zukunft einen Rückerstattungsanspruchder Träger der Grundsicherung, also der Jobcenter, ge-genüber den Trägern der Rentenversicherung gibt.Drittens geht es – das ist wohl der politisch bedeu-tendste Punkt – um die Verstetigung der Zuweisung vonTätigkeiten und damit von Personal bei den gemeinsa-men Einrichtungen. Hintergrund ist, dass die Regelun-gen zur gesetzlichen Erstzuweisung von Tätigkeiten indie gemeinsamen Einrichtungen bis Ende 2015 befristetsind und dass daher dringend eine neue Rechtsgrundlagegeschaffen werden muss. Die Lösung, die uns mit demGesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt, ist, eineunbefristete Rechtsgrundlage für die Zuweisung derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Jobcenter zuschaffen, und zwar für bereits in den Jobcentern tätigeMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunft ohneZustimmung des Geschäftsführers oder der Geschäfts-führerin und für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterweiterhin mit Zustimmung des Geschäftsführers oderder Geschäftsführerin der jeweiligen Grundsicherungs-stelle. Bei dringendem dienstlichen Interesse ist in Zu-kunft auch eine Zuweisung ohne die Zustimmung desBetroffenen möglich – allerdings, und das betone ich:nur bei dringendem dienstlichen Interesse. Damit wer-den die Hürden sehr hoch gelegt. Die Möglichkeit derRückkehr der Beschäftigten in die Kommune oder dieBundesagentur für Arbeit bleibt durch die gesetzlicheNeuordnung unberührt.Mit diesen Lösungen sorgen wir für eine Verstetigungdes Personals in den Jobcentern. Wir schaffen damitmehr Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
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Dr. Martin Rosemann
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ter, Planungssicherheit für ihre berufliche Zukunft, aberauch in privater Hinsicht. Wir schaffen weiterhin Sicher-heit für die Jobcenter selbst hinsichtlich ihrer Personal-entwicklung, und wir sorgen damit auch dafür, dass derBetreuungsprozess der Kundinnen und Kunden in denJobcentern kontinuierlicher erfolgen kann.
Das ist besonders wichtig, weil der Erfolg des Betreu-ungsprozesses gerade von der Beziehung des Betreuerszum Kunden abhängt. Darüber hinaus ist es so, dass wirdurch die dauerhafte Zuweisung erst die Grundlage da-für legen, dass vernünftige Personalentwicklung undPersonalqualifizierung in den Jobcentern betrieben wer-den kann. Das ist eine zentrale Voraussetzung für einenguten Betreuungs- und Beratungsprozess.
Warum ist das so wichtig? Es handelt sich bei der Ar-beit, die die Menschen in den Jobcentern verrichten, umeine Dienstleistung von Menschen an Menschen. Eshandelt sich um eine Dienstleistung gegenüber Kundin-nen und Kunden mit häufig sehr komplexen Problem-lagen und Vermittlungshemmnissen. Das stellt sehr hoheAnforderungen an die Leute, die in den Jobcentern ar-beiten, an ihre soziale Kompetenz, die sehr hoch seinmuss, an ihre Empathie, Gesprächsführung und ihreKonfliktfähigkeit.Es setzt voraus, dass die Leute, die in den Jobcenternarbeiten, auch komplexe Problemlagen erkennen. Essetzt voraus, dass sie gemeinsam mit den Kunden Pro-blemlösungsstrategien entwickeln und mit den Kundendie Problemlösung dann auch angehen. Es setzt voraus,dass man erkennt, wenn eine Problemlösungsstrategieeben nicht zum Ziel führt, und dass man dann in derLage ist, diese zu ändern. Es setzt voraus, dass manweiß, welche Instrumente, welche Hilfe man einsetzenkann, um Menschen wieder Perspektiven auf dem Ar-beitsmarkt zu vermitteln. Es setzt eine gute Kenntnis derArbeitsmarktlage und die Kenntnis vieler unterschiedli-cher Berufe voraus.Das ist in meinen Augen eine Qualifikationsanforde-rung, die sehr komplex ist, was häufig der Öffentlichkeitund auch vielen hier im politischen Raum nicht so klarist.
Das macht deutlich, dass es gerade auf einen guten undauf einen stabilen Personalkörper in den Jobcentern an-kommt.Wir schaffen mit dem heutigen Gesetzentwurf wich-tige Grundlagen, um an der Ausgestaltung und Qualitätdieses Personalkörpers weiterzuarbeiten. Wir wissenauch, dass das nur die ersten Grundlagen sind, dass wirals politisch Verantwortliche in Regierung und Parla-ment aufgerufen sind, daran weiter zu arbeiten. Ichglaube, dass gute Betreuungsschlüssel und eine guteQualität der Betreuung durch qualifiziertes Personalletztlich die beste Voraussetzung dafür sind, um Lang-zeitarbeitslosen in Deutschland wieder eine bessere Per-spektive zu geben.Wir legen dafür heute die Grundlagen, und ichbegrüße ausdrücklich, dass das Bundesministerium fürArbeit und Soziales auch mit einem eigenen Gutachtendie Personalsituation in den Jobcentern, insbesondere imLeistungsbereich, genauer unter die Lupe nimmt. Ichdenke, wir müssen gemeinsam die Voraussetzungen wei-ter dafür schaffen, in die Qualität der Betreuung und indie Qualität des Personals in den Jobcentern zu investie-ren.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt
die Kollegin Sabine Zimmermann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute geht es wieder einmal um die Arbeits-fähigkeit der Jobcenter. Ich muss Ihnen sagen: Uns allenmuss es doch eigentlich darum gehen, dass wir gute,qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, diegute Arbeitsbedingungen haben und dadurch natürlicheine optimale Vermittlung vornehmen können.
Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgerichterklärt, dass die Mischverwaltung von Bundesagenturfür Arbeit und Kommunen, damals „Argen“ genannt,unzulässig ist. Kurzerhand haben Sie daraufhin dasGrundgesetz geändert und die Verwaltungspraxis demHartz-IV-System angepasst. Jetzt heißen die zuständigenEinrichtungen Jobcenter.Nun muss die Bundesregierung wieder gesetzgebe-risch handeln, da die Zuweisung von Personal an dieJobcenter für fünf Jahre bis Ende 2015 befristet war undsomit deren Arbeitsfähigkeit nicht gewährleistet wäre.Die nun geplante dauerhafte Rechtsgrundlage für Zuwei-sungen schafft natürlich schon eine Planungssicherheit,auch für die Beschäftigten in den Jobcentern. Doch ander grundsätzlich völlig verfehlten Hartz-IV-Konstruk-tion ändert das natürlich überhaupt nichts, und das istdas Problem.
Betroffene und Beschäftigte befinden sich in derHartz-IV-Verwaltung von Beginn an in einem dauerhaf-ten Umstellungsprozess. Die Beschäftigten arbeiten dortüber ihre Belastungsgrenze hinaus. Strukturelle Defizitein der Betreuung, zum Beispiel von Menschen mitBehinderung, sind nach wie vor ungelöst. Eine hoheAnzahl von oft erfolgreichen Klagen vor den Sozial-gerichten ist ein treuer Begleiter des Hartz-IV-Systems.Sie wissen doch alle selbst, wie viele TausendeKlagen vor den Gerichten Jahr für Jahr notwendig sind.
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Sabine Zimmermann
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Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis: DieBeschäftigten in einem Jobcenter leiden von Beginn anunter einer zu geringen Personalausstattung. Das gehtnatürlich auch zulasten der Betroffenen, für die nicht ge-nügend Zeit bleibt, um wirklich helfen zu können. DieUnterfinanzierung der Jobcenter erkennt man auch da-ran, dass alljährlich die Gelder zwischen den BereichenArbeitsmarktmaßnahmen und Verwaltungskosten hin-und herjongliert werden. Das Spiel „linke Tasche, rechteTasche“ geht eindeutig zulasten der erwerbslosen Men-schen. Die Linke sagt ganz klar: Das ist aus unsererSicht im höchsten Maße verantwortungslos.
Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie sind in einemJobcenter angestellt und selbst prekär beschäftigt. Dannerklären Sie mir einmal, wie die Mitarbeiter voll moti-viert auf die Probleme von Erwerbslosen eingehen sol-len. Mit prekärer Beschäftigung erreichen Sie einfachnicht das, was wir in den Jobcentern erreichen wollen.Seit 2005 teilen Sie die Menschen in Menschen ersterund zweiter Klasse ein, in diejenigen, die Arbeitslosen-geld I bekommen, und in diejenigen, die Hartz-IV-Emp-fänger sind – obwohl sie alle das gleiche Schicksal ver-bindet, nämlich Arbeitslosigkeit.Wir kritisieren im vorliegenden Gesetzentwurf, dassdas Personal die Möglichkeit haben soll, einzuschrän-ken. Eine Zuweisung ohne Einverständnis des Beschäf-tigten ist alles andere als eine verantwortungsbewussteund motivierende Personalpolitik. Natürlich ist aus unse-rer Sicht die unterschiedliche Bezahlung für gleicheArbeit – die Tarifverträge für die Beschäftigten der BAund für die Beschäftigten der Kommunen sind nicht die-selben – ungerecht. Hier muss einfach eine einheitlicheBezahlung geschaffen werden.
Meine Damen und Herren der Großen Koalition,wenn Sie etwas für die erwerbslosen Menschen und fürdie Beschäftigten in den Jobcentern tun wollen, hörenSie endlich auf, an dieser Fehlkonstruktion notdürftigherumzudoktern. Schaffen Sie klare Strukturen, über-winden Sie das System, und organisieren Sie Hilfe auseiner Hand.
Statten Sie die Jobcenter ausreichend mit finanziellenRessourcen aus, sodass die Beschäftigten dort vernünftigarbeiten können und die Betroffenen wirklich unterstütztund eben nicht nur verwaltet werden.Danke schön.
Vielen Dank. – Jutta Eckenbach ist die nächste Red-
nerin für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ideolo-gische Vorgaben werden wir hier heute nicht ändern. DieLinke ist an dieser Stelle in der Tat ideologisch behaftet.Sie wettert immer wieder gegen die Hartz-IV-Reform,obwohl sich gezeigt hat, dass Deutschland gerade mitdiesem Instrument
seine Wirtschaftskraft aufrechterhalten konnte, währendes praktisch allen anderen europäischen Ländernschlechter geht. Das dürfte eigentlich auch bei Ihnen an-gekommen sein.
Wir haben heute Morgen im Plenum die erste Lesungdes Mindestlohngesetzes gehabt. Auch dort gab es Ein-sprüche. Auch dort war etwas, was von Ihnen kam, nichtin Ordnung. Ich gestehe Ihnen ja ein bisschen Opposi-tion zu,
aber es ist so, dass an dieser Stelle auch einmal etwas po-sitiv gesehen werden kann. Ich glaube, das sollte einbisschen mehr Anerkennung insgesamt bekommen.
Wir haben heute schon viel zu dem Thema gehört. Ichkann natürlich vieles davon wiederholen. In Anbetrachtder langen Sitzung heute werde ich auf das eine oder an-dere verzichten.Es sind mir aber ein paar Dinge ganz wichtig. Es gehtin der Tat darum – Dr. Rosemann hat das vorhin schonangesprochen –, dass wir jetzt eines schaffen, nämlichden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcenternwirklich Planungssicherheit geben, die sie bisher nichthatten. Wir ermöglichen eine Personalplanung, indemwir befristet beschäftigte Mitarbeiter in unbefristete Ar-beitsverhältnisse überführen. Das hat viele positive Sei-ten, die man hier ansprechen und auch begrüßen muss.Eine Planung nur über fünf Jahre – das weiß jeder –kann keine vernünftige langfristige Personalplanungsein. Insofern ist es ein richtiger Schritt, den wir heutehier beschließen werden.
Damit einhergehend können wir auch mehr für dieMitarbeiter tun. Wir können sie stärker qualifizieren,besser ausbilden. Wir können die Potenziale nutzen, diealle Mitarbeiter mitbringen, die in den Jobcentern ange-siedelt sind. Wir können Sorge dafür tragen, dass siedurch Fortbildung und Qualifikation auch in höherwer-tige Beschäftigungsverhältnisse kommen können. Es ist
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Jutta Eckenbach
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wichtig, dass Aufstiegschancen für die Zukunft gewahrtbleiben, auch wenn man im Jobcenter ist.Dabei wissen wir alle, wie die Wirklichkeit in denJobcentern nun einmal ist: Wer einmal dort ist, hat es na-türlich sehr schwer, wieder herauszukommen. Aber dieunbefristeten Arbeitsverhältnisse können auch dazu füh-ren, dass das kommunal besser ausgestattet wird. Dasmuss eine Zielrichtung sein.Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen will undder ganz wichtig ist. Natürlich ist es nicht schön, dass inden Jobcentern einmal durch den Bund bezahlte Beamteund zum anderen durch die Kommune besoldete Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter sind, dass sozusagen die Ta-rifeinheit dort nicht gegeben ist. Aber das muss vor Ortgeregelt werden. Gesetzliche Regelungen in die Kom-munen hinein werden wir vom Bund aus nicht schaffenkönnen; das wissen wir. Aber dafür, dass das Ungleich-gewicht beseitigt werden kann, werden wir alle Sorgetragen. Dafür haben wir auch schon etwas getan. Wir ha-ben gerade 6 Milliarden Euro zur Entlastung der Kom-munen gegeben. Ich glaube, dass wir damit Spielraumschaffen können. Wenn die Haushalte ausgeglichen wer-den, haben auch die Kommunen mehr Spielraum, um einMissverhältnis an dieser Stelle zu beseitigen.
Wir haben auch noch darauf hinzuweisen – das ist imGesetzgebungsverfahren ganz wichtig –, dass es nichtnur darum geht, Mitarbeiter unbefristet zu beschäftigen.Wir haben auch an einer anderen Stelle Handlungsbedarfgesehen. In der Frage der Ausgestaltung von Regelun-gen zu Ordnungswidrigkeiten schaffen wir jetzt auchRechtssicherheit. Wir schaffen Rechtssicherheit ferner ineinem dritten Bereich – auch das werden wir heute mitverabschieden –, indem wir Überzahlungen und Doppel-zahlungen ausgleichen werden. Das führt ebenfalls zurEntlastung bei den Kommunen und im Bundeshaushalt.Insofern sind wir auf dem richtigen Wege. Wir wer-den uns aber nicht auf diesem Gesetz – das ist die ersteGesetzgebungsmaßnahme dieser Art – ausruhen, son-dern es wird weitergehen. Die Bund-Länder-Kommis-sion wird sich noch mit organisatorischen Fragen undmit der Ausgestaltung im Bereich der Jobcenter beschäf-tigen. Wir haben in der letzten Ausschusssitzung gehört,dass der Zeitplan schon festgelegt worden ist.Wir sind schon sehr gespannt auf die Ergebnisse desGutachtens, das vom Bundesministerium dankenswer-terweise in Auftrag gegeben worden ist. Wir werden da-raus Erkenntnisse ziehen können und auch müssen, da-mit wir da weiter an den richtigen Schrauben drehenkönnen. An der ersten richtigen Schraube haben wir be-reits gedreht.Insgesamt gesehen ist es wichtig, dass wir heute eingutes Signal an die Mitarbeiter der gemeinsamen Ein-richtungen und der Jobcenter der Optionskommunenaussenden, die ich an dieser Stelle einbeziehe. Beide ha-ben sich grundsätzlich bewährt. Letztere sind von dieserGesetzgebung aber nicht betroffen. Ich will auch nocheinmal deutlich machen, dass wir in den Jobcentern ins-gesamt hervorragendes Personal haben. Die Mitarbeiterhandeln im Rahmen ihrer jetzigen Möglichkeiten im In-teresse der Kunden, also der Arbeitslosen und der Leis-tungsempfänger.
Wir wollen diesen Weg weitergehen. Wir wollen dierechtliche Situation weiter verbessern und bleiben nichtbei dem Gesetz stehen, das wir heute verabschieden. Wirwerden in dieser Legislaturperiode eine weitere Rundebeginnen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzte Rednerin ist Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauEckenbach, Frau Zimmermann hat zwar das Hartz-IV-System kritisiert, sie hat aber nicht gesagt, Hartz IVmüsse weg. Das ist schon einmal ein Fortschritt, den Sie,Frau Eckenbach, hätten würdigen können.
Herr Rosemann, Sie haben vollkommen recht: Einkompetentes Fallmanagement ist tatsächlich die Grund-voraussetzung für Integration. Dafür brauchen wir quali-fiziertes Personal. Dieses qualifizierte Personal mussaber die Freiheit haben, auf individuelle Problemlagenmit individuellen Lösungen zu reagieren.
– Wenn Herr Rosemann das gesagt hat, dann gebe ichihm einfach mal recht.
Wir wissen auch, dass mit dieser gesetzlichen Rege-lung die Fluktuation und die Zahl der Befristungen beiweitem noch nicht auf dem Stand sind, den wir erreichenmüssen. Noch immer sind die Jobcenter extrem unterfi-nanziert. Das gilt sowohl für das Personal als auch fürden Verwaltungsbereich insgesamt und vor allen Dingenfür die Eingliederungsmittel.Noch immer fehlt es den Jobcentern an flexiblen In-strumenten, insbesondere für die immer schwierigerwerdende Gruppe von Menschen, die bereits Kunden beiden Jobcentern sind. Auch da haben wir einen extremgroßen Handlungsbedarf.Noch immer belohnen die Jobcenter durch das vor-handene Steuerungssystem eher statistische Effekte, be-lohnen die Bestenauslese, belohnen aber nicht die nach-haltige Integration der schwierigsten Personen.
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Brigitte Pothmer
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Angesichts dieser Problemlagen begrüßen wir jedenSchritt, der in die richtige Richtung geht und der zu Ver-besserungen führt.
Herr Rosemann, Sie haben gesagt, dass dieses Gesetzdie Grundlagen für Verbesserungen legen würde. Ichfinde, da blasen Sie die Backen ein bisschen zu sehr auf.Das heutige Gesetz ist zwar ein kleiner Schritt in dierichtige Richtung; deswegen werden wir ihm auch zu-stimmen.
Aber eine Grundlage ist das wirklich nicht. Ich sehe aneinigen Punkten extremen Handlungsbedarf.Erstens. Es wurde die Bürokratisierung angespro-chen. Ich finde, es wäre ein richtiger Fortschritt, wennsich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe tatsächlich dazudurchringen könnte, den Bewilligungszeitraum für Be-scheide auf ein Jahr zu verlängern. Das wäre gut für dieVerwaltung. Das wäre gut für das Personal. Aber es wärevor allen Dingen auch gut für die Arbeitslosen.
Aber auf keinen Fall darf es unter dem Deckmantel derEntbürokratisierung zu Verschärfungen im System kom-men. Darauf werden wir achten.
Zweitens. Die Zahl der Befristungen muss deutlichzurückgefahren werden. Insbesondere vor dem Hinter-grund der schwierigen Gruppen, die jetzt in den Jobcen-tern betreut werden, brauchen wir einen besseren Be-treuungsschlüssel.
Es ist inzwischen nachgewiesen, dass ein besserer Be-treuungsschlüssel tatsächlich zu einer nachhaltigen Inte-gration von Arbeitslosen führt. Mit anderen Worten:Mehr und besseres Personal in den Jobcentern zahlt sichaus.
Drittens. Wer über die Personalausstattung redet, darfüber die Finanzen nicht schweigen. Da sind die 350 Mil-lionen Euro wirklich ein Witz, Herr Rosemann.
Damit können die Jobcenter noch nicht einmal die Per-sonalkostensteigerung der letzten Jahre auffangen. FürEingliederungsmittel bleibt nichts übrig. Diese schlichteFormel – ich komme zum Schluss, ich verspreche es –:weniger Arbeitslose ist gleich weniger Geld, geht nichtauf.Das sind eine Menge Baustellen, an denen wir drin-gend arbeiten müssen. Es muss dringend etwas passie-ren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenterwarten darauf. Vor allem die Arbeitslosen warten darauf.Der Ball liegt in Ihrem Spielfeld.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Ich komme damit zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch –Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen. Der Aus-schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 18/1651, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf denDrucksachen 18/1311 und 18/1586 anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit denStimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Bera-tung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derGesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichenStimmenverhältnis angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankTempel, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEsowie der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, MariaKlein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBeabsichtigte und unbeabsichtigte Auswir-kungen des Betäubungsmittelrechts überprü-fenDrucksache 18/1613Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De-batte ist der Kollege Frank Tempel, Fraktion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3443
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Rund die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren
unseres Landes fordert in einer Resolution an den Bun-
destag eine Evaluierung des Drogenstrafrechts. Also
dürfte es im Sinne von uns allen sein, wenn Linke und
Grüne nun einen entsprechenden Antrag hier vorlegen.
Während die Positionen in der Politik wie in Beton
gegossen wirken, ist in der Öffentlichkeit längst eine of-
fene und sehr sachliche Debatte in Gange. Verbände und
Organisationen wie die Deutsche Hauptstelle für Sucht-
fragen, die Deutsche Aids-Hilfe oder der Schildower
Kreis halten diese Verbotspraxis schon längst für über-
holt und stehen ihr kritisch gegenüber. International
hört man Namen wie Javier Solana, Kofi Annan oder
Ban Ki-moon, die den Krieg gegen die Drogenkartelle
als nicht gewinnbar einordnen und von einer grundle-
genden Umkehr in der Drogenprohibition sprechen.
Der neue „Europäische Drogenbericht“ weist übri-
gens aus, dass in Europa bereits 73 Millionen Erwach-
sene Cannabis konsumiert haben. Hier hört sich das oft
so an, als würden wir diese Droge erst bekommen, wenn
sie legalisiert wird. Diese Millionen sind übrigens nicht
alles Holländer;
denn dort ist ganz ohne Kriminalisierung der Pro-Kopf-
Anteil an Cannabiskonsumenten in der Bevölkerung
nicht höher als in Deutschland.
Vor viereinhalb Jahren wechselte ich vom Kriminal-
dauerdienst in Gera in den Bundestag und begann, mir
das Thema Drogenpolitik völlig ergebnisoffen neu zu er-
schließen. Ich habe sozusagen die Ermittlungen aufge-
nommen – gründlich, offen und in alle Richtungen –, so
wie ich es gelernt habe.
Der Drogenkonsument – das ist eine Besonderheit –
wird aufgrund einer potenziellen Selbstgefährdung mit
Strafe bedroht. Er hat bei Besitz und Erwerb von Drogen
niemand Fremdes geschädigt. Wir wissen: Wenn der
Staat in die Grundrechte seiner Bürger eingreift, muss
das – und das macht er hier sehr drastisch mit einem Ver-
bot, dem sogar eine Haftstrafe folgen kann – verhältnis-
mäßig sein; das heißt: geeignet, erforderlich und ange-
messen.
Die polizeiliche Sicht kannte ich bereits; denn ich
selbst war einige Jahre in der Rauschgiftbekämpfung tä-
tig. Mein Weg als Bundestagsabgeordneter führte mich
also zu Streetworkern, Suchtkliniken und Präventions-
einrichtungen. In vielen Gesprächen traf ich Rechtswis-
senschaftler, Sozialwissenschaftler und Gesundheitswis-
senschaftler ebenso wie Praktiker aus der Suchthilfe. Ich
nahm auch die internationale Drogenpolitik genauer un-
ter die Lupe, schaute auf Länder wie die Niederlande,
Spanien, Portugal oder die Schweiz genauso wie auf
Mexiko, Brasilien, Kolumbien, Afghanistan und, natür-
lich nicht zu vergessen, die USA.
Kann ein Verbot wirklich Angebot und Nachfrage re-
duzieren?
Welche Nebenwirkungen hat das Verbot, und welches
Ausmaß haben diese Nebenwirkungen? Mit Nebenwir-
kungen meine ich einen Schwarzmarkt, wo Milliarden in
die Kriminalität fließen, ein Markt übrigens, auf dem es
keinen Verbraucherschutz und keinen Jugendschutz gibt.
Glauben Sie mir: Einen Dealer auf dem Schwarzmarkt
interessiert nicht, ob der Kunde 14, 20 oder 40 Jahre alt
ist. Er gibt auch keine Auskunft darüber, welche Sub-
stanz er in welcher Konzentration und mit welchen
Streckmitteln abgibt. Er ist auch nicht verpflichtet, Prä-
ventionsprogramme zu unterstützen. Dieser Schwarz-
markt macht so gefährliche Drogen noch gefährlicher,
unberechenbarer und vor allen Dingen auch erreichbarer
für die Jugend, als sie jetzt schon sind. Auch mit diesen
Nebenwirkungen des Verbots müssen wir uns offen aus-
einandersetzen; denn sie verursachen zusätzlich Krank-
heit, Tod und Sucht.
Aus dem Ergebnis dieser „Ermittlungen“ habe ich
Forderungen entwickelt, aber diese Forderungen sind
explizit nicht in dem heute vorliegenden Antrag enthal-
ten. Was wir anbieten, ist ein wirklich offenes Herange-
hen an ein sehr strittiges Thema. Bei manchen Anträgen
sagen Sie – das höre ich von der SPD immer wieder –:
Das ist ja ganz richtig, aber der Antrag ist schlecht ge-
schrieben, schlecht gemacht, und deshalb können wir lei-
der nicht zustimmen. Diese Antwort kennen wir schon.
Deswegen sage ich ausdrücklich: Wir sind zur Zusam-
menarbeit bei der Weiterentwicklung dieses Antrages
hin zu anderen Fragekomplexen jederzeit bereit; denn es
soll ein gemeinsames Herangehen an ein strittiges
Thema werden.
Öffnen Sie sich einem solchen Prozess! Arbeiten Sie
mit uns gemeinsam! Denn die Resolution der Straf-
rechtsprofessoren war an uns alle gerichtet.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Emmi Zeulner,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Prinzipiell arbeite ich sehr gerne mit Polizis-ten zusammen; denn die sind in der Regel sehr nett.
– Ja, so ist es. – Der gemeinsame Antrag der FraktionenDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen aber, der vorder-gründig lediglich auf die Überprüfung des Betäubungs-
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3444 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Emmi Zeulner
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(B)
mittelrechts abzielt, kommt für mich wie ein Wolf imSchafspelz daher.So fordern Sie eine ergebnisoffene Debatte über dieEntkriminalisierung von Drogen und meinen, dass dieWurzel allen Übels in der Verbotspolitik und nicht imKonsum selbst liegt.
Sie stellen den möglichen gesellschaftlichen und ge-sundheitlichen Abstieg eines Drogenabhängigen inkausalen Zusammenhang mit dem Sanktionssystemdes Betäubungsmittelrechts und verharmlosen dabei daseigentliche Übel: die Suchtkrankheit.Was Sie im Grunde fordern – da brauche ich IhreWahl- und Parteiprogramme nur aufzuschlagen –, istlangfristig die Legalisierung von Drogen.
So fordern die Grünen im ersten Schritt die Entkrimina-lisierung aller Drogen, die aber bei Drogen wie Cannabisfließend in die Legalisierung übergehen soll. Die Linkegeht sogar noch weiter und fordert in ihrem Parteipro-gramm – ich zitiere wörtlich –: „langfristig eine Legali-sierung aller Drogen“.
Wobei es mir persönlich egal ist, in welcher Form derWolf auftritt; denn die Entkriminalisierung bedeutet,vereinfacht gesagt, dass ich ein Verbot habe, die Hand-lung aber ohne sanktionsrechtliche Folgen bleibt. Wennder Gesetzgeber den Weg einer Legalisierung beschrei-ten wollte, müsste er bereits vorher ansetzen und dieHandlung als nicht verboten definieren.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tempel?
Er hat doch gerade gesprochen. – Ich bleibe dabei,was ich am Anfang gesagt habe: Schlussendlich bleibtder Wolf ein Wolf, und dem legalen Konsum von Dro-gen wird Tür und Tor geöffnet. Das Ziel der Antragspar-tei ist eine Abkehr von der aktuellen Drogenpolitik unddamit ein kompletter Systemwechsel. Die Notwendig-keit einer solchen Abkehr erkenne ich nicht. Genau des-halb werden wir Ihren Antrag ablehnen.Die Drogenpolitik der Bundesregierung hat sich be-währt. Sie steht im Einklang mit den internationalen Ab-kommen der UNO und wurde über Jahrzehnte – meistüber Parteigrenzen hinweg – von den Parlamentariernerfolgreich getragen.
Sie folgt einem ganzheitlichen Ansatz und ist von Konti-nuität geprägt. Die Gesundheit der Menschen steht dabeian oberster Stelle.Unsere Drogenbeauftragte Marlene Mortler steht wieich für eine ausgewogene Drogenpolitik mit den bewähr-ten vier Säulen: Prävention, Beratung und Behandlung,Hilfe zum Ausstieg als Mittel zur Schadensminimierungund Bekämpfung der Drogenkriminalität.
Die Zahlen geben uns recht. Der Konsum illegaler Dro-gen und die damit verbundenen gesundheitlichen Risi-ken sind in den letzten Jahren insgesamt rückläufig, wasvor allem diesem in sich schlüssigen Konzept geschuldetist. Das Konzept sollte nicht gefährdet werden, indemeinzelne Elemente herausgebrochen werden.Die für mich wichtigste Säule ist die Prävention, wiesie zum Beispiel die Aufklärungskampagnen der Bun-deszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der ent-sprechenden Landeszentralen, die Suchtverbände undauch die Polizei seit vielen Jahren wirkungsvoll und en-gagiert betreiben. Diese Aufklärung setzt bereits bei denjüngeren Mitgliedern unserer Gesellschaft an. Damitentmündigen wir die Jugendlichen nicht etwa, sondernschützen diese. Wir werden unserem im Grundgesetzfestgelegten Auftrag des sozialen Rechtsstaates gerecht.Die allgemeine Handlungsfreiheit des Artikels 2 desGrundgesetzes erkennen wir selbstverständlich an, je-doch hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seinemwegweisenden Cannabis-Beschluss von 1994 festge-legt, dass ein „Recht auf Rausch“ nicht besteht. Diesenentscheidenden Tenor hat das Gericht wiederholt in allerDeutlichkeit bestätigt. Eine Legalisierung würde die Prä-ventionsbemühungen gegenüber potenziellen Erstkonsu-menten nachhaltig schwächen und ist ein falsches Si-gnal.
Sucht ist eine Krankheit mit einer meist langen Ent-wicklungsgeschichte. Die Sucht bildet hierbei meist denEndpunkt dieser Entwicklung. Deswegen ist Präventionso wichtig. Dazu, die Prävention weiter zu stärken unddie bereits bestehenden erfolgreichen Ansätze weiterauszubauen, wird uns in dieser Legislaturperiode auchdas Präventionsgesetz dienen.Auch im Rahmen der zweiten und dritten Säule seheich keine gravierenden Lücken, die einer Überprüfungbedürften. Die primäre Zielsetzung der Drogenbekämp-fung ist zwar, Sucht und Abhängigkeit zu verhindern,aber dennoch arbeiten wir stetig daran, den Hilfesuchen-den die optimale Unterstützung für eine Heilung undWiedereingliederung zukommen zu lassen. Die Hilfezum Ausstieg – zum einen als Mittel zur Schadensmini-mierung und zum anderen als Ausweg aus dem oftmalsleider vorprogrammierten sozialen Abstieg – ist Teil un-serer politischen Agenda. Sozialer Abstieg beginnt nichtmit der Kriminalisierung, sondern ist oftmals eine Be-gleiterscheinung des Drogenkonsums selbst. Der regel-
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Emmi Zeulner
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mäßige Konsum illegaler Substanzen verändert die Per-sönlichkeit, er schädigt die Gesundheit und treibt dieMenschen in die soziale Isolation.
Auch bei der vierten Säule, dem Sanktionsrecht imHinblick auf die Drogenkriminalität, kann ich keine gra-vierenden Mängel erkennen. Ja, Ihre These, dass eineförmliche Strafverfolgung zu einer Stigmatisierung ju-gendlicher Straftäter führen kann, lässt sich nicht be-streiten. Sie wissen genau, dass dies in allen Bereichender Kriminalität zu beobachten ist. Es ist jedoch keines-wegs so, dass, wie in der Resolution des SchildowerKreises suggeriert wird, bei jedem kleinen Verstoß soforteine dauerhafte Stigmatisierung stattfindet. Es fließenselbstverständlich auch das Alter und die Reife mit in dieSanktionsausgestaltung ein. Denn im Gegensatz zum Er-wachsenenstrafrecht liegt dem Jugendstrafrecht der Er-ziehungsgedanke zugrunde. Speziell für den Bereich desBetäubungsmittelrechts hat das Bundesverfassungsge-richt in seinem Cannabis-Beschluss festgelegt, dass beieinem geringen individuellen Unrechts- und Schuldge-halt die Möglichkeit besteht, von der Strafverfolgung ab-zusehen. Gerade hierdurch wird einer unnötigen Stigma-tisierung heute schon entgegengewirkt, und der Staatwird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht.
Zielsetzung des Betäubungsmittelrechts ist nicht nur,Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, sondern es gehtdem Gesetzgeber viel mehr um die Gestaltung des sozia-len Zusammenlebens. Der Schutz vor den sozialschädli-chen Wirkungen des Umgangs mit Drogen steht im Mit-telpunkt der Überlegungen.Wir dürfen uns natürlich nichts vormachen: Die Re-sultate der strafrechtlichen Bekämpfung des Drogenhan-dels sind nicht durchweg ermutigend. Aber daraus dür-fen wir doch nicht den Umkehrschluss ziehen, wie Sie esin Ihrem Antrag tun, dass die derzeitige Drogenpolitikund insbesondere die Strafverfolgung untauglich sind.
Es ist und bleibt unser zentrales Anliegen, den Handelmit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. Doch weder dieEntkriminalisierung noch die Legalisierung können ge-eignete Mittel sein, um der Drogenkriminalität ihre wirt-schaftliche Grundlage zu entziehen. Bitte vergessen Sienicht: Auch beim Handel mit legalen Waren existiert einSchwarzmarkt, und die Beteiligung der organisiertenKriminalität ist nicht ausgeschlossen. Eine Schattenwirt-schaft, wie die Resolution sie beschreibt, entsteht dochnicht allein aus der Verbotspolitik.Eine grundlegende Schwäche Ihres Antrags besteht ineinem weiteren Punkt. Liest man die Resolution desSchildower Kreises, auf die Sie sich beziehen, stellt manfest, dass keinerlei Differenzierung nach Härte oder Artder Drogen vorgenommen wird. Wollen Sie ernsthafteine Situation wie in Portugal? – In Portugal findet derKonsum von Kokain, Ecstasy und Amphetaminen auf-grund der liberalen Drogenpolitik in aller Öffentlichkeit,zum Beispiel in Diskotheken, statt.
Möchten Sie junge Menschen abends in einem solchenUmfeld wissen?Bei aller Liebe zur Eigenverantwortlichkeit und Mün-digkeit: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es einenverantwortungsvollen Konsum von Crystal oder anderenschweren Drogen geben kann. Eine Droge, die bereitsnach der ersten Einnahme zu einer Abhängigkeit führenkann,
nimmt dem Konsumenten gerade die Eigenverantwort-lichkeit.Zentrales Argument gegen eine Liberalisierung bleibtfür mich schlussendlich – da sind wir uns doch hoffent-lich alle einig –, dass bei einer Entkriminalisierung dieHemmschwelle, die Drogen tatsächlich auszuprobierenund einzunehmen, definitiv sinkt. Dafür kann ich in mei-ner Funktion als Abgeordnete keine Verantwortungübernehmen.
Sosehr ich die europäischen Freiheiten schätze, dieuns etwa das Schengener Abkommen mit der Aufhebungder Zollgrenzen gewährt, so bewusst müssen wir uns da-rüber sein, dass wir die Auswirkungen der liberalenDrogenpolitik in manchen Anrainerstaaten zu spüren be-kommen. Unsere Drogenpolitik steht vor der Herausfor-derung, hier geeignete Maßnahmen zu finden. Geradebei Crystal kämpfen wir derzeit gemeinsam mit unserentschechischen Kollegen dafür, dieses mittlerweile ge-samtgesellschaftliche Problem in den Griff zu bekom-men.Sie wissen, wovon ich spreche; auch Sie bekommenregelmäßig Briefe von besorgten Müttern und Vätern,die wollen, dass die Kinder vor dieser gravierendenDroge geschützt werden.
– Sie sagen: „Ja, genau!“ – Was soll ich diesen Eltern Ih-rer Ansicht nach antworten? Dass das Experimentierenmit Drogen zum Erwachsenwerden nun mal dazugehört?Dass „ideologische Vorbehalte“, wie Sie es in Ihrem An-trag nennen, aufzubrechen sind? – Bei aller Liebe: Einesolche Argumentation kann und darf nicht die Antwortauf die Gefahren illegaler Drogen sein.
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Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention
hat jetzt der Kollege Tempel.
Ich muss leider antworten, weil Sie offensichtlich ein
Problem damit hatten, meinem Vortrag vorhin zu folgen.
Es war sehr freundlich, dass Sie aus den Wahl- und Par-
teiprogrammen unserer Parteien zitiert haben. Wir haben
aber extra gesagt: In unseren Antrag haben wir keine
Forderungen übernommen. Wir wollen eine ergebnis-
offene Evaluierung.
Und wir wollen sie deswegen, weil das auch die Fach-
gremien befürworten, in denen die verschiedenen Wis-
senschafts- und Praxisbereiche zusammentreffen, bei-
spielsweise die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen,
die jedes Jahr eine dreitätige Fachtagung durchführt. In
den letzten drei Jahren habe ich weder einen Landes-
noch einen Bundespolitiker der CDU dort angetroffen.
Ich bin dort Stammgast. Ich höre den Fachleuten zu.
Diese fordern den Dialog mit der Politik, um endlich
eine Änderung herbeizuführen.
Wenn Sie bei solchen Gelegenheiten dabei wären,
würden Sie auch Vorträge zur Drogenpolitik in Portugal
hören,
wo nach einer Liberalisierung die Zahl der Drogentoten
gesunken und die Zahl der Konsumenten nicht angestie-
gen ist. Die Konsumenten müssen sich jetzt nicht mehr
verstecken – man sieht sie jetzt; das stimmt –, aber die
Zahl der Konsumenten ist nicht angestiegen. Gesunken
ist hingegen die Zahl der Erstinfektionen mit Aids und
Hepatitis. Gesunken ist auch die Affinität von Konsu-
menten, süchtig zu werden. Das besagt eine Studie über
zehn Jahre liberalisierte Drogenpolitik in Portugal. Wenn
Sie dieses Arbeitsfeld hier im Bundestag bearbeiten wol-
len, wäre es sehr nett, wenn Sie solche Studien auch ein-
mal lesen würden. Dann müssten Sie hier nicht so ver-
drehte Sachen erzählen.
Es gibt sehr viel Material. Gerade deswegen, weil die-
ses Material in Ihrer Fraktion nicht ankommt, weil Sie
sich damit nicht beschäftigen und sich hier im Haus, wo
Sie eine Mehrheit haben, fernab jeglicher wissenschaftli-
cher Erkenntnisse des Landes bewegen, fordern wir eine
unabhängige wissenschaftliche Evaluierung.
Ich möchte von Ihnen wissen: Wenn Sie glauben, dass
Ihre Position richtig ist, warum kneifen Sie dann, wenn
es um eine unabhängige Evaluierung durch Fachleute
geht?
Frau Kollegin Zeulner, möchten Sie antworten? –
Bitte.
Die Zielrichtung Ihres Antrages ist schon eindeutig.
Ich freue mich, dass wir jetzt bald zusammen einen Aus-
flug unternehmen werden, dass Sie mich mitnehmen. Im
Zusammenhang mit dem Präventionsgesetz werden wir
im Ausschuss Gelegenheit haben, darüber zu diskutie-
ren. Auf diese Diskussion freue ich mich ganz beson-
ders.
Vielen Dank. – Jetzt spricht der Kollege Harald Terpe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Natürlich muss ich zu Anfang auf meine KolleginZeulner reagieren. Ich glaube, dass es wichtig ist – ichversuche ja nur, Erfahrung weiterzugeben –, dass mansich auch in der Politik mit bestimmten Fragen ergebnis-offen auseinandersetzt. Ich habe in Ihrer Rede sehr vielvorgefasste Meinung gefunden. Ich kann jetzt nur nocheinmal betonen, dass hier ein Antrag vorliegt, mit demeine ergebnisoffene, ohne Vorbedingungen geführte Dis-kussion in Gang gesetzt werden soll.Wichtig ist auch, wie ich glaube, noch einmal zu sa-gen, dass Anlass für diesen Antrag war, dass über 120Strafrechtsprofessoren – das sind knapp 50 Prozent –eine Evaluation gefordert haben. Was hier noch nicht ge-sagt worden ist, ist, dass sich nur 8 der 250 Professorenausdrücklich dagegen ausgesprochen haben. Jedenfallsvor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Exper-tise ist eine Evaluation also überfällig. Viele wissen-schaftliche Fachgesellschaften setzen sich dafür ein. ImÜbrigen setzt sich auch der Bund der Kriminalistenmehrheitlich dafür ein. Viele Verbände und viele Teileder Gesellschaft unterstützen diese Forderung nach einerEvaluation.
Wir sagen ja auch ausdrücklich, dass wir Parteipolitikeran dieser Evaluation gar nicht teilnehmen wollen. Wa-rum sollten wir das auch? Damit würden wir ja nur dieGrabenkämpfe der Vergangenheit weiterführen. Dochdas führt ja zu nichts.Die Fakten sind, denke ich, relativ eindeutig. Ich willjetzt keine juristische Exegese betreiben; aber wenn mansich das Ziel, das vor 40 Jahren mit dem Betäubungsmit-telgesetz verbunden wurde, vor Augen führt, entwickeltman große Zweifel, dass das große Versprechen, die Ju-gend vor den Gefahren des Drogenkonsums zu schützen,wirklich eingelöst wurde. Trotz 40 Jahren Betäubungs-mittelgesetz kann man faktisch flächendeckend an jederSchule Drogen erwerben. Das muss man nicht gut fin-den, aber es ist Fakt. Mit anderen Worten: Das Gesetzhat an dieser Praxis überhaupt nichts geändert. WederDrogenerwerb noch Handel noch Verbreitung von Dro-gen sind verhindert worden, nicht einmal bei Jugendli-chen.
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Dr. Harald Terpe
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Angesichts dessen kann ich nur wiederholen: DerSchwarzmarkt, der ja Folge der Illegalisierung ist, kenntkeinen Jugendschutz und keinen Gesundheitsschutz. Erkennt nichts dergleichen.
Wir haben also im Gegenteil erhebliche Chancen, wennwir uns einer unabhängigen Evaluation aussetzen. Wel-che Chancen haben wir? Wir haben Chancen bei der Prä-vention. Wir haben Chancen beim Gesundheitsschutz.Wir haben Chancen beim Jugendschutz. Wir habenChancen bei der Behandlung.In Ihrer Darstellung sind im Übrigen die Abhängigenin den Vordergrund geschoben worden.
Auch ich bedaure, dass wir in unserem System nicht ge-nug Mittel dafür einsetzen, damit abhängig Erkrankte –das sind keine Verhaltensgestörten; das sind Kranke –ausreichend behandelt werden können. Das liegt unteranderem auch daran, dass die Mittel so ungleich einge-setzt werden.Zu Ihrer Bemerkung, dass es ein Präventionsgesetzgeben wird und dass Sie mit der Bundeszentrale für ge-sundheitliche Aufklärung schon eine ganze Menge ma-chen: Das Bundesministerium hat im Haushalt 10 Mil-lionen Euro zur Aufklärung über den Konsum legalerund illegaler Drogen bereitgestellt. Demgegenüber wer-den 3,3 Milliarden Euro für die Strafverfolgung ausge-geben. Das heißt also: Haushaltspolitisch gibt es prak-tisch eine Fixierung auf die Prohibition, verbunden mitder Folge der Entstehung eines Schwarzmarktes.Ich bitte Sie, rein nüchtern unseren Vorschlag, eineunabhängige Evaluation in Angriff zu nehmen, zu prü-fen, und selbst dafür zu sorgen, dass dort politisch keinEinfluss genommen wird. Dann können wir anhand derErgebnisse schauen, was wir in Zukunft ändern müssen.
Das ist doch das Entscheidende. Daher kann ich nur da-rum bitten, das wirklich vorurteilslos mit uns gemeinsamzu machen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Burkhard
Blienert, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu Beginnder Legislaturperiode haben die besagten Strafrechtspro-fessoren mittels einer Resolution zur Reform des Dro-genstrafrechts eine wichtige Debatte angestoßen. DieRechtsgelehrten fordern in ihr die Einsetzung einer En-quete-Kommission des Bundestages zum Thema „Er-wünschte und unbeabsichtigte Folgen des geltendenStrafrechts“.Zwar hat 1994 das Bundesverfassungsgericht – das istauch schon mehrmals angeklungen – das Betäubungs-mittelstrafrecht für verfassungsgemäß befunden, aber al-len Beteiligten war die damalige lückenhafte Erkenntnis-lage deutlich bewusst. Nun, 20 Jahre später, sind wir hierein ganzes Stück weiter. Mittlerweile liegen uns durch-aus umfangreiche Erkenntnisse vor. Ich möchte einigeeinfach nur kurz anreißen.Wir sehen zum Beispiel die Entwicklungen in ande-ren Staaten, die dort gemachten Erfahrungen und auchdie Korrekturen in der staatlichen Drogenpolitik. Dabeisind es jedoch auch immer sehr spezifische und unter-schiedliche Aspekte, die zu Neuausrichtungen in den je-weiligen Ländern geführt haben. Wir nehmen natürlichdie Resultate, wie beispielsweise die aus den Niederlan-den und aus Portugal, zur Kenntnis.Warum jedoch einige Staaten neue Wege gehen, hatwiederum sehr unterschiedliche Gründe. Uruguay gibtzum Beispiel den Marihuana-Anbau komplett frei. DerBundesstaat Colorado hat den Handel legalisiert, unteranderem auch, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen.Auch das muss man natürlich bedenken.Wir sollten daher auch erst einmal politisch beginnen,gemeinsame Ziele einer fortschrittlichen Drogen- undSuchtpolitik zu formulieren. Das Angebot nehme ich da-her persönlich erst einmal auch an. In diesem Zusam-menhang gilt es, Risiken und Nebenwirkungen etwaigerMaßnahmen genauestens abzuwägen. Das Minimierenvon Gesundheitsrisiken und die Prävention muss bei al-len Überlegungen höchste Priorität haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein auf Basis derfünf Thesen der Staatsrechtler – auch wenn es wirklicheine große Gruppe deutscher Staatsrechtler ist – zu ar-beiten, halte ich jedoch für uns als Bundestag für zudünn. Darauf gegründet eine hundertköpfige Experten-kommission ins Leben zu rufen, die mittels der soge-nannten Delphi-Methode neue Erkenntnisse zu den Wir-kungen des Betäubungsmittelrechts herausarbeiten soll,halte ich doch für recht experimentell.
Ich bin zwar einverstanden, wenn wir uns frei vonIdeologie diesen Themen nähern; frei von Politisierungkann es aber nicht gehen.
Ich bin daher nicht sicher, ob diese Methode, die Sie inIhrem Antrag erwähnen, tatsächlich ein geeignetes Inst-rumentarium zum Erkenntnisgewinn sein kann. AuchSie selber sind sich da offensichtlich nicht ganz sicher,wenn Sie in Ihrem Antrag auch andere Verfahren fürdenkbar erachten.
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3448 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Burkhard Blienert
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt sich daher,für eine Debatte im Ausschuss einmal die Erkenntnisse,die vorhanden sind, zusammenzutragen.Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat zum Beispiel bereitsim Juni 2013 eine entsprechende Studie mit dem Titel„Entkriminalisierung und Regulierung“ veröffentlicht,die viele interessante Aspekte hierzu behandelt. Es lohntsich schon, dort auch einmal hineinzuschauen.
Dabei wird deutlich, dass es eben um mehr als um dasStrafrecht bzw. um rechtspolitische Fragestellungengeht. Es geht natürlich um gesundheitspolitische Fragen,um ökonomische Auswirkungen, um sozialpolitischeAspekte, auch um ethische Fragen.
Mein Fazit ist aber: Man kann und muss auch eineDebatte zu den Auswirkungen des Betäubungsmittel-rechts führen. Ihr Antrag greift den wichtigen Beitragder Strafrechtsprofessoren und die medialen Bericht-erstattungen hierzu auf. Ihr Antrag insgesamt ist aber ei-gentlich ein Schnellschuss. Sie versuchen mit ihm, ersteinmal kurzfristig Punkte zu machen, wohl wissend,dass mit der Einsetzung einer derart umfangreichen Ex-pertengruppe dann wohl kaum mit Handlungsempfeh-lungen in dieser Wahlperiode zu rechnen sein dürfte.Auch wenn der Antrag gut gedacht ist, er scheitert anPraktikabilität und zum Teil eben auch an Plausibilität.
Das Thema ist komplexer, und Lösungswege sindschwieriger zu finden. Der Umgang mit Cannabis unddem damit im Zusammenhang stehenden Diskurs nichtnur über das Betäubungsmittelrecht in Deutschland be-schäftigt eben nicht ohne Grund Politikerinnen und Poli-tiker seit vielen Jahren. Wir von der SPD-Bundestags-fraktion – und ich denke, auch die Kolleginnen undKollegen von der Union – wollen nicht für die Ihrerseitsunbedachten Nebenwirkungen dieses Schnellschussesverantwortlich gemacht werden. Lassen Sie uns daher inden entsprechenden Ausschüssen eingehend dazu bera-ten. Ich denke, dass dies der Sache dann insgesamt dien-lich sein wird.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1613 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Gesundheit liegen soll. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen, und in den
nächsten Wochen können dann über dieses Thema noch
intensive Diskussionen geführt werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen
an die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts
Drucksachen 18/1306, 18/1575
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
Drucksache 18/1647
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der De-
batte ist die Kollegin Anja Karliczek, CDU/CSU-Frak-
tion. Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir führen heutedas zu Ende und vervollständigen das, was wir schon imSommer 2013 politisch und gesetzgebend begonnen ha-ben: die steuerliche Gleichstellung der Lebenspartner-schaft mit der Ehe.Bereits in der letzten Legislaturperiode hat der Bun-destag in Teilen das Einkommensteuergesetz dem Urteildes Bundesverfassungsgerichts angepasst. Aus Zeitgrün-den kam es allerdings vor der Wahl nicht mehr dazu, diesteuerliche Gleichstellung in allen betroffenen Gesetzes-bereichen durchzuführen.Ich habe mich ausführlich mit den Einzelheiten der zuändernden Gesetze beschäftigt und muss schon sagen:Wir haben eine sehr ordentlich arbeitende Verwaltung.Denn ob es die Kaffeesteuerverordnung ist, die nun ge-ändert werden muss, oder das Gesetz, in dem die Eigen-heimzulage geregelt wird, die schon seit 2006 nichtmehr für neue Fälle gewährt wird: Wir sorgen für Ord-nung in unseren Gesetzen.
Von den heute anstehenden Änderungen ist eine Viel-zahl von Gesetzen betroffen: das Altersvorsorgever-träge-Zertifizierungsgesetz, das Wohnungsbau-Prämien-gesetz, das Altersvorsorge-Durchführungsgesetz, dieAbgabenordnung, das Bewertungsgesetz, das Energie-steuergesetz, das Dritte Buch Sozialgesetzbuch, dieErbschaftsteuer-Durchführungsverordnung, das Bundes-
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Anja Karliczek
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kindergeldgesetz und sogar die Deutsch-SchweizerischeKonsultationsvereinbarungsverordnung. In all diesenGesetzen und Verordnungen wird die Lebenspartner-schaft nun der Ehe gleichgestellt.Dass Menschen füreinander Verantwortung überneh-men – unabhängig von ihrem Lebensentwurf und ihrersexuellen Orientierung –, findet damit auch steuerrecht-lich seinen Niederschlag. Im Alltag zeigt sich das zumBeispiel durch die Möglichkeit, eine gemeinsameSteuererklärung für Lebenspartner abzugeben oder dieAltersvorsorge gemeinsam zu gestalten.In dieser Debatte liegt mir ein Aspekt besonders amHerzen: Mich erstaunt sehr, wie heftig und emotional indiesem Haus, in der veröffentlichten Meinung und in derÖffentlichkeit über die Frage der rechtlichen Gleichstel-lung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften dis-kutiert wurde und teilweise immer noch diskutiert wird.
Was heißt Lebenspartnerschaft? Heißt das nicht,füreinander da zu sein, miteinander zu leben und Verant-wortung füreinander zu tragen? Ist das nicht eine Selbst-verständlichkeit und keine Frage des Lebensentwurfs?Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Für michheißt das aber auch: Toleranz gegenüber verschiedenenLebensentwürfen ist Ausdruck einer freien Gesellschaft.In einer freien Gesellschaft ist die eigene Gestaltung desindividuellen Lebensentwurfs selbstverständlich, ichmöchte sogar sagen: konstitutiv. Das anzuerkennen,nenne ich Ausdruck einer liberal-wertkonservativen Hal-tung.
Die rechtlichen Schritte, die wir heute gehen, nehmender Würde der Institution von Ehe und Familie damitnichts. Auch durch das Urteil des Bundesverfassungsge-richtes bleiben Ehe und Familie nach Artikel 6 desGrundgesetzes ein eigener Schutzbereich, und sie erfah-ren dadurch eine besondere Würdigung.Ich streife damit in einer finanzpolitischen Debattedas Thema Familienpolitik. Es steht weiter ganz obenauf unserer politischen Agenda. Erst in diesen Tagen hatdas Kabinett die Reform des Bundeselterngeld- undElternzeitgesetzes beschlossen. Wir wollen damit dieVereinbarkeit von Familie und Beruf weiter fördern unddie wirtschaftliche Sicherheit junger Familien weiterstärken. Wir hoffen, dass dies mehr Mut macht, sich fürKinder zu entscheiden.Seit der Evaluation der ehe- und familienbezogenenLeistungen, deren Ergebnisse die letzte Bundesregierungim vergangenen Jahr veröffentlicht hat, wissen wir vonrund 150 verschiedenen Maßnahmen, in die wir jährlich– ob durch direkte Auszahlungen oder durch steuerlicheFörderung – über 200 Milliarden Euro investieren. Den-noch haben wir trotz hoher staatlicher Leistungen weitereine geringe Geburtenrate in Deutschland. Den Satz vonKonrad Adenauer: „Kinder kriegen die Leute immer“haben wir alle im Ohr. Er trifft aber leider nicht mehr zu.Dabei muss doch unser aller Interesse darauf gerichtetsein, dass dieser Satz wieder wahr wird; denn nur dannwerden wir als Gesellschaft innovativ und wettbewerbs-fähig bleiben.
Wir wissen auch, dass finanzielle und wirtschaftlicheÜberlegungen bei der Entscheidung für Kinder nichtausschlaggebend sind. Letztendlich werden wir Eltern,weil Kinder Reichtum und Vielfalt bedeuten, weil Kin-der uns Erwachsene lehren, die wesentlichen Dinge desLebens zu erkennen, und weil Kinder unsere Zukunftsind. Nicht zuletzt aus genau diesem Grund müssen wirjungen Menschen Mut zu dieser Entscheidung machen.
Wir können das weiter unterstützen durch ein famili-enfreundliches Klima, aber auch durch die ideelle Aner-kennung von Familienleistung und die Stärkung vonVertrauen. Deshalb sehe ich aus steuerlicher Sicht nocheine weitere Aufgabe, der wir uns – sicherlich unterBerücksichtigung des finanziellen Spielraums, aberdennoch forciert – künftig widmen sollten: der Weiter-entwicklung des Ehegattensplittings zu einem Familien-splitting.Die Verantwortung für unsere Kinder ist eine ganzbesondere Verantwortung. Denn Kinder sind der Keimunserer Gesellschaft – nicht die Eltern und auch nichteine Lebensgemeinschaft. Diese besondere Verantwor-tung müssen wir auch durch eine besondere steuerlicheBehandlung zum Ausdruck bringen.Vielen Dank.
Liebe Frau Kollegin Karliczek, ich gratuliere Ihnen
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten parlamen-
tarischen Rede hier im Deutschen Bundestag.
Das war die erste Rede in dieser Debatte und die erste
Rede in Ihrem parlamentarischen Leben. Herzlichen
Glückwunsch und auf viele weitere interessante Debat-
ten!
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Liebe Gäste! Dieser Tagesordnungs-punkt, den wir jetzt gerade besprechen, ist bei Lichte be-trachtet ein Dauerbrenner. Es geht um die steuerlicheGleichstellung einer Lebenspartnerschaft von Lesbenund Schwulen mit der Ehe.Ehrlich gesagt ist es traurig, dass dieses Thema über-haupt zum Dauerbrenner wurde – nicht nur aus unserer
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3450 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Susanna Karawanskij
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Sicht, sondern vor allen Dingen aus Sicht der Betroffe-nen.
Das lag vor allen Dingen an der Engstirnigkeit derFraktionsspitze der CDU/CSU, die die bestehenden ge-sellschaftlichen Realitäten nicht anerkennt.
Leider nimmt diese Fraktionsspitze Rücksicht auf denTeil der Partei, der dem Familienbild aus dem vorletztenJahrhundert anhängt.
Wir, die Linken, fordern hingegen schon seit Jahren dieGleichstellung – vor allen Dingen auch die steuerlicheGleichstellung – der Lebenspartnerschaften mit der Ehe.
Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts zwingt den Gesetzgeber zur Gleichstellung inallen der ihm vorgelegten Fälle. Das Peinliche daran ist,dass Ihre Missachtung dieser ständigen Rechtsprechungzugleich auch eine Missachtung von Grundrechten be-deutet. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts aus dem Jahr 2013 war nämlich erstens klar,dass eine umfassende Gleichstellung von Lebenspartner-schaften mit der Ehe bei der Besteuerung zwingend er-forderlich ist. Zweitens war auch klar, dass dafür nichtnur das Einkommensteuergesetz geändert werden muss.Die Folgeänderungen in den Steuergesetzen sollendurch den nun vorliegenden Gesetzentwurf angegangenwerden. Sie betreiben aber wieder einmal Augenwische-rei; denn dieser Anspruch wird nicht in Gänze erfüllt. Esgibt leider immer noch keine vollständige Gleichbehand-lung. Ich will Ihnen das auch erklären.Es geht um folgende Lücke: § 52 der Abgabenord-nung – das ist sozusagen das Grundgesetz der Steuer-politik – führt einen ganzen Katalog steuerlich anerkann-ter gemeinnütziger Zwecke auf. Die Förderung desSchutzes von Ehe und Familie ist danach ein förderwür-diger Zweck. Diese Definition muss allerdings meinesErachtens um die Förderung des Schutzes der eingetra-genen Lebenspartnerschaften erweitert werden.
Dieser Diskrepanz ging ich auch mittels einer schrift-lichen Frage an das Finanzministerium nach. In derAntwort vom 30. Mai 2014 teilte die Bundesregierungdie Auffassung der Linken, dass es keine verfassungs-rechtlichen Gründe für einen Ausschluss der Förderungdes Schutzes von Lebenspartnerschaften gibt.
Die Bundesregierung ist sich also der Unvollständigkeitdurchaus bewusst. Damit ist der Beweis erbracht, dassdie Nichtgleichstellung eine ganz klare politische Will-kürentscheidung ist.Ich möchte das an dieser Stelle noch einmal betonen:Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtskönnen CDU und CSU von der Diskriminierung derLebenspartnerschaften gegenüber der Ehe nicht lassen.Beenden Sie das! Beenden Sie die ideologischen Gra-benkämpfe, und verhalten Sie sich vor allen Dingennicht wie bockige Kinder! Das ist wirklich traurig.
Noch viel trauriger ist, dass die SPD hier neben demKoalitionspartner wieder einknickt und sich nicht an ihrWahlprogramm und ihre Wahlversprechen hält. Sie ha-ben der Community gegenüber versprochen: „100 Pro-zent … Gleichstellung … nur mit der SPD“. Jetzt lassenSie die Menschen schon wieder im Regen stehen.
Sie sind beim Adoptionsrecht eingeknickt, und jetzt kni-cken Sie auch hier wieder ein. Das ist wirklich enttäu-schend. Ich frage mich, wann Sie mit diesem Einknickeneinmal aufhören.Für uns Linke ist klar, dass wir langfristig die steuerli-che Privilegierung der Ehe beenden müssen. Um denBeweis anzutreten, dass wir nicht bockig sind, wollenwir Ihrem Gesetzentwurf – Sie sind in Ihrem Gesetzent-wurf ja die von uns seit langem geforderte steuerlicheGleichstellung der Lebenspartnerschaften mit der Ehe invielen Bereichen angegangen – trotz der bestehendenLücke, die ich gerade beschrieben habe, zustimmen.
Wir betrachten die Öffnung der Ehe als den entscheiden-den Schritt; denn die Linke will letztendlich die rechtli-che Gleichstellung und damit auch die gesellschaftlicheAkzeptanz aller Lebensweisen. Ich bitte Sie daher:Nehmen Sie das Heft des Handelns weiter in die Hand!Entlasten Sie vor allen Dingen das Bundesverfassungs-gericht!Wir haben als erste Fraktion einen Gesetzentwurfhierzu in den Bundestag eingebracht. Damit können Siedie entsprechenden Regelungen im Adoptionsrecht bishin zum Steuerrecht abdecken. Wenn Sie es wirklichernst meinen, stimmen Sie unserem Antrag zu.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort KollegenFrank Junge, SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3451
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Karawanskij, weil Sie es explizit angesprochen ha-ben, möchte ich eine Bemerkung vorausschicken. Michhat im Vorfeld dieser Debatte ziemlich beunruhigt, waszu diesem Thema in der Presse zu lesen war. Da war von„Diskriminierung beim Kindergeld“ die Rede. Da war– Sie sagten es – von „Bockigkeit“ die Rede. Es wurdeso getan – das unterstreiche ich zweimal –, als seien wirauf dem Weg zur Gleichstellung von eingetragenenLebenspartnerschaften mit der Ehe nicht einen Millime-ter vorangekommen. Das muss ich ganz klar von unsweisen.
Das, womit wir uns hier beschäftigen, ist doch vomGrundsatz her genau das, worum es geht. Mit dem heutevorliegenden Gesetzentwurf zur Anpassung steuerlicherRegelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts wird die Ungleichbehandlung homosexu-eller Lebenspartnerschaften mit der Ehe unter steuerli-chen Gesichtspunkten beseitigt. Punkt!
Da gibt es nichts weiter hinzuzufügen: Mit diesem einenSatz lässt sich der Gesetzentwurf der Bundesregierungzusammenfassen. Wir alle kennen die Entscheidung– Sie haben darauf hingewiesen – des Verfassungsge-richts vom letzten Jahr, nach der der Ausschluss von ein-getragenen Lebenspartnerschaften beim Ehegattensplit-ting für verfassungswidrig erklärt wurde. Das haben wirkonstatiert. Die daraufhin notwendige Anpassung imEinkommensteuergesetz, mit den Stimmen von allenFraktionen dieses Hauses verabschiedet, wurde schonvorgenommen.Letztendlich ist das ein guter Schritt gewesen. Heutehaben wir allerdings die Gelegenheit, die letzten nochoffenen Bereiche in diesem Segment glattzuziehen.Wenn man dann auf die großen Bereiche schaut, wieBundeskindergeldgesetz, Eigenheimzulagengesetz, dasWohnungsbau-Prämiengesetz, das Altersvorsorgever-träge-Zertifizierungsgesetz und die Abgabenordnung,dann kann man festhalten: Das sind die richtigen undnotwendigen Schritte.
Es ist auch mehr als das. Es ist mit Blick auf unseremoderne und demokratische Gesellschaft, in der homo-sexuelle Lebenspartnerschaften und Regenbogenfami-lien genauso zur Lebenswirklichkeit gehören wie dieklassische Ehe, ein längst überfälliger Schritt.
Nach der gesetzlich verankerten Vereinfachung derSukzessivadoption – Sie erinnern sich: vor genau 14 Ta-gen haben wir zu diesem Punkt Vereinfachungen be-schlossen –
kann dieses Parlament heute ein weiteres wichtigesEtappenziel auf dem Weg zur vollständigen Gleichstel-lung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehemarkieren. Ich werbe daher dafür, diesem Gesetz zuzu-stimmen, und bitte Sie, dies am Ende auch zu tun.
Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich beziehemich kurz auf Ihre zwei Änderungsanträge, die Sie ein-bringen werden und die wir im Finanzausschuss sehrausführlich besprochen haben.Stichwort Kindergeld. Hier fordern Sie eine Ergän-zung in der Anwendungsvorschrift des Bundeskinder-geldgesetzes.
Danach soll Kindergeld nach dem Bundeskindergeldge-setz nachträglich und rückwirkend zum August 2001auch für Lebenspartner gewährt werden, sofern die Kin-dergeldbescheide noch nicht rechtskräftig sind. Das istvöllig in Ordnung. Dagegen hat die SPD-Fraktion über-haupt nichts einzuwenden. Das ist gut so, das ist recht-mäßig, auch wir vertreten das. Wir haben nur etwas ge-gen den Weg. Sie wollen dafür das Kindergeldgesetzändern. Wir sagen: Dazu reicht eine Änderung derDurchführungsanweisung nach dem Bundeskindergeld-gesetz. Aus diesem Grund sind wir zwar inhaltlich fürIhren Antrag, aber weil wir den Weg ablehnen, lehnenwir letztendlich auch Ihren Antrag ab. Wir gehen davonaus und werden dafür auch Sorge tragen, dass diese Än-derung über den von mir beschriebenen Weg umgesetztwird.
Stichwort Gemeinnützigkeit. In der Abgabenordnungsind mit Blick auf die steuerlich begünstigte gemeinnüt-zige Tätigkeit bisher die Vereine und Körperschaften alsförderungswürdig erachtet worden, die sich dem Schutzvon Ehe und Familie verschrieben haben; auch Siehaben diesen Punkt aufgegriffen, Frau Karawanskij. Siebeantragen heute, die Förderung des Schutzes von Le-benspartnerschaften als begünstigten Zweck anzuerken-nen und dort aufzunehmen. Dieser Ansicht können wirgrundsätzlich folgen. Das sage ich ganz klar. Denn auchnach unserer sozialdemokratischen Ansicht versteht essich in einer aufgeklärten toleranten Gesellschaft ganzvon selbst, dass zu einer vollständigen Gleichstellungeben auch gehört, die Förderung homosexueller Le-benspartnerschaften als gemeinnützigen Zweck in derAbgabenordnung zu verankern. Leider lässt sich diesesSelbstverständnis anderen nicht verordnen, auch unse-rem Koalitionspartner nicht.Vor diesem Hintergrund bedauere ich es sehr – auchdas unterstreiche ich zweimal –, dass wir aus diesemGrund und mit Rücksicht auf unseren Koalitionsvertragdem von Ihnen vorgelegten Antrag nicht zustimmen
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Frank Junge
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können. Wir tun das jedoch nicht, ohne eine Erklärungnach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages abzu-geben, in der wir noch einmal ausführlich auf die Zu-sammenhänge hinweisen.Ich bedaure die Ablehnung des Antrags aber auchdeshalb sehr, weil ich weiß, dass es in den Reihen derCDU/CSU-Fraktion eine Reihe von Mitgliedern gibt, dieebenfalls ein solch weltoffenes und tolerantes Gesell-schaftsbild haben wie wir.
Ich glaube, dass wir auf dieser Basis auch zukünftignoch weiter kommen werden als dorthin, wo wir heutesind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines möchte ich andieser Stelle noch hinzufügen: Damit klar wird, dass wirnicht vor einem Riesendilemma stehen, möchte ich un-terstreichen, dass § 52 der Abgabenordnung Vereinenund Verbänden schon jetzt ganz klar die Möglichkeitbietet, sich den Belangen Homosexueller zu stellen unddafür auch den Status der Gemeinnützigkeit zu bekom-men.Wir reden also heute bei der Beratung Ihres Antragsüber einen Punkt, der im praktischen Leben keine Rollespielt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellungin der Öffentlichkeit, hier würde ein Riesenfehler nichtbeseitigt werden, als völlig falsch.
Mir ist absolut klar, dass wir im Prozess bis zur voll-ständigen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher einge-tragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe noch einenweiten Weg vor uns haben. Gleichwohl nähern wir unsdiesem Ziel Schritt für Schritt. Der vorliegende Gesetz-entwurf stellt einen solchen Schritt dar.Unter diesem Gesichtspunkt ist die homosexuellePartnerschaft, sofern wir dem Gesetzentwurf heute zu-stimmen, unter steuerlichen Gesichtspunkten der Ehegleich. Das halte ich für einen Fortschritt. Von diesemPunkt ausgehend wird die SPD-Fraktion weiterarbeiten,bis wir letztendlich das Ziel erreicht haben.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrJunge, wir werden dem Gesetzentwurf auch zustimmen,weil er tatsächlich eine weitgehende Umsetzung der Ver-fassungsgerichtsentscheidung mit sich bringt.
Trotzdem muss man heute darüber reden, welchen Un-sinn Sie mit diesem Gesetz getrieben haben.
Wir müssen nämlich erneut mit ansehen, wie dieUnion auf dem Feld der Gleichstellung von Lebenspart-nerschaften eine ihrer letzten ideologischen Schlachtenzelebriert. Ja, bei diesem Thema kommen bei Ihnen Herzund Bauch zusammen, meine Damen und Herren vonder CDU/CSU. In der vergangenen Wahlperiode wurdenSie dabei von der inzwischen abgewählten FDP flan-kiert. In dieser Legislaturperiode reiben wir uns schlicht-weg die Augen, was die SPD mit sich machen lässt odermachen lassen muss. Das ist unwürdig.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf war angekün-digt, endlich die vollständige steuerliche Gleichstellungvon eingetragenen Lebenspartnerschaften, wie vomBundesverfassungsgericht eingefordert, vom Kaffesteu-ergesetz bis zur Abgabenordnung umzusetzen. Nun wirdeine Einwortänderung in der Abgabenordnung zur Ko-alitionsräson erklärt. Absurder geht es wirklich nichtmehr, meine Damen und Herren.
Das Bundesverfassungsgericht hat in jedem seinerUrteile klargestellt, wie groß der Abstand zwischen Eheund Lebenspartnerschaft sein darf: nämlich genau null.Sie wissen es. Wir wissen es. Alle Menschen in diesemLande wissen es. Doch was tun Sie? Sie unterlaufendiese Vorgaben nach wie vor. Sie verteidigen bis in dieallerletzten Winkel der Gesetzgebung, bis in die Abga-benordnung hinein, die Privilegierung der Ehe. Sie be-harren auf der Diskriminierung der Lebenspartnerschaftund bleiben bei Ihrer Politik der Nadelstiche, indem Sieihre Berücksichtigung als gemeinnützigen Zweck, gere-gelt in der Abgabenordnung, nicht anerkennen wollen.Ein bisschen tröstlich ist, dass dies, ähnlich wie imletzten Jahr beim Ehegattensplitting, in der Praxis derAnerkennung der Gemeinnützigkeit wohl keine Rollespielen wird.
– Ja, wir hoffen es. Aber wir wissen es nicht. Wir hättenes als Bundestag klar regeln können. – Auch im letztenJahr beim Ehegattensplitting war es der Union ein be-sonderes Anliegen, hinsichtlich der steuerlichen Gleich-stellung etwas zu beschließen. Dabei haben Sie es ge-schafft, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vomMai 2013 so zu verbiegen, dass Lebenspartner nicht wieAngehörige betrachtet werden und zwei getrennte Steu-ererklärungen abgeben müssen. Aber nachdem jede Fi-nanzbehörde in diesem Land diesen Unsinn als nicht ad-ministrierbar kritisiert hat, ist nun damit endlich Schluss.
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Lisa Paus
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Hoffentlich wird das auch im Fall der Gemeinnützigkeitso sein.
Ich finde es mindestens genauso bemerkenswert, mitwelcher Vehemenz Sie eine gesetzliche Klarstellungbeim Bundeskindergeldgesetz verhindern.
Mir unterstellen Sie dabei auch noch in der gestrigenPressemitteilung, ich hätte das alles nicht verstanden. Esgeht darum, dass eine Verwaltungsanweisung angeblichviel besser und zielgenauer ist als eine gesetzliche Klar-stellung. Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wir hätten eshier einfach und klar gesetzlich regeln können. Nun isteine zusätzliche Handlung notwendig.
Der einzige Grund, warum das nun auf diesem Weg ge-macht werden muss, ist, dass nicht das Finanzministe-rium, sondern das SPD-geführte Familienministeriumzuständig ist.
Die CDU/CSU muss sich damit die Hände nicht schmut-zig machen. Das finde ich einfach nur beschämend.
– Das ist schon überzeugend, liebe Kollegin. Zum Bei-spiel hat das Justizministerium darauf hingewiesen, dasses besser gewesen wäre, das gesetzlich zu regeln. Daswissen Sie genauso gut wie ich. Die Gründe, warum esanders gekommen ist, sind diejenigen, die ich gerade an-geführt habe.Beamtenbesoldung, Erbschaftsteuer, Grunderwerb-steuer, Einkommensteuer und Sukzessivadoption – in Ih-rem Kampf gegen das Verfassungsgericht liegen Sie0 : 5 hinten. Aber Sie spielen noch immer auf Zeit. Wasbraucht es denn noch, damit Sie endlich umdenken? Wirgeben Ihnen nun die letzte Gelegenheit. Wir haben zweiÄnderungsanträge vorgelegt. Stimmen Sie ihnen zu! An-sonsten wird es mit Sicherheit weitere Urteile zum Bei-spiel zum Adoptionsrecht geben. Dann werden wir unserneut mit Ihren verklemmten Rückzugstaktiken befas-sen müssen. Bei anderen Themen haben Sie es dochauch geschafft, die Oppositionsmeinung zu übernehmen.Lassen Sie den Menschen endlich den Gestaltungsfrei-raum, der ihnen von unserer Verfassung her zusteht! Ge-ben Sie den Lesben und Schwulen in diesem Land end-lich eine Chance auf Nichtdiskriminierung!
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das
Wort dem Abgeordneten Philipp Graf von und zu
Lerchenfeld, CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Mit der Verab-schiedung des Gesetzes zur Anpassung steuerlicherRegelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts setzen wir heute die Vorgaben der Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai2013 vollumfänglich um. Für manche Änderungenwurde durch die Erklärung der Bundesregierung Klar-heit geschaffen – beispielsweise auf dem Gebiet desBundeskindergeldgesetzes –, sodass sich Ihre Ände-rungsanträge total erledigt haben. Die Beschlussempfeh-lung unseres Ausschusses, das Gesetz in der jetzt vorlie-genden Fassung, die durch einen Antrag auf einenotwendige Konkretisierung der Lebenspartnerschaftengeändert wurde, anzunehmen, wird von allen Fraktionenmitgetragen, wie man hört.Von einigen Seiten – auch von Ihnen – wurden weitergehende Änderungen gewünscht. Diese Änderungenentsprechen aber nicht der Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts, die wir, wie gesagt, bereits in vollemUmfang umgesetzt haben. Insbesondere die Änderungs-wünsche hinsichtlich des § 52 Absatz 2 AO sind geradenicht aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil abzulei-ten. Das Schutz- und Fördergebot – ich ergänze hier: desArtikels 6 Grundgesetz – bildet einen sachlichen Diffe-renzierungsgrund, der geeignet ist, die Besserstellungder Ehe gegenüber anderen, durch ein geringeres Maß anwechselseitiger Pflichtbindung geprägten Lebensge-meinschaften zu rechtfertigen.Ich beziehe mich im Folgenden auf mehrere Entschei-dungen des Bundesverfassungsgerichts sowohl aus demJahr 2012 als auch aus dem Jahr 2013. Das Grundgesetzstellt nämlich in Artikel 6 Absatz 1 Ehe und Familie un-ter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Da-mit garantiert die Verfassung nicht nur das Institut derEhe, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidungfür den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffen-den privaten und öffentlichen Rechts einen besonderenSchutz durch die staatliche Ordnung.Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mannund Frau vorbehaltenes Institut erfährt durch den Arti-kel 6 Absatz 1 Grundgesetz einen eigenständigen verfas-sungsrechtlichen Schutz. Um diesem Schutzauftrag Ge-nüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates,alles zu unterlassen, was die Ehe beschädigt oder sonstbeeinträchtigt, und sie durch geeignete Maßnahmen zufördern. Dies kommt im § 52 Absatz 2 Nummer 19 AOzum Ausdruck, wo die Förderung des Schutzes der Eheund Familie als gemeinnütziger Zweck ausdrücklich an-erkannt wird. Die Anerkennung der Förderung der Eheund Familie als gemeinnütziger Zweck folgt somit un-mittelbar aus dem Grundgesetz und muss auch in dieserForm erhalten bleiben.
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Philipp Graf Lerchenfeld
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Die Anträge der Grünen sind aus zwei Gründen abzu-lehnen. Der eine ist die Erklärung der Bundesregierung,die sehr deutlich gemacht hat, dass kein Änderungsbe-darf besteht; der andere Grund ist, weil sie über die Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktio-nen haben diesem Gesetzentwurf in der geänderten Fas-sung zugestimmt und einstimmig eine Beschlussempfeh-lung für den Gesetzentwurf gegeben. Ich bitte Siedeshalb, dem Gesetzentwurf heute in dieser Fassung IhreZustimmung zu geben.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1647, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 18/1306 und 18/1575 in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim-
men. Zu diesen Änderungsanträgen auf den Drucksa-
chen 18/1662 und 18/1663 liegen einige Erklärungen
nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Proto-
koll nehmen.1)
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1662. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag auf
Drucksache 18/1662 ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion abgelehnt bei Zu-
stimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Wir kommen zum zweiten Änderungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1663.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag auf
Drucksache 18/1663 ist mit den Stimmen der CDU/CSU
und der SPD abgelehnt, dafür stimmten Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
einstimmig in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
1) Anlagen 3, 4, 5
entwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses
einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel
der United Nations Mission in South Sudan
für die Unterstützung des unbe-
waffneten Schutzes der Zivilbevölkerung im
Südsudan
Drucksache 18/1614
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt das
Haus zu verlassen gedenken, darauf hinweisen, dass wir
nach dieser Debatte noch eine ganze Reihe von Abstim-
mungen haben. Es wäre schön, wenn sich dazu auch
noch Abgeordnete im Plenum befänden, die diese Ab-
stimmungen vornehmen könnten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 19 25 Minu-
ten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er-
teile ich das Wort der Abgeordneten Kathrin Vogler,
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Ende 2013entbrannte im Südsudan ein blutiger Machtkampf zwi-schen den Truppen des ehemaligen VizepräsidentenRiek Machar und der Regierungsarmee SPLA. Bis zumWaffenstillstand im Mai starben Tausende; etwa 800 000Menschen mussten fliehen. Schon 2010, vor der Unab-hängigkeit, als ich mit Kolleginnen und Kollegen meinerFraktion im Südsudan vor Ort war, haben wir befürchtet,dass ein solcher Gewaltausbruch wieder möglich wäre.Es ist ungemein bitter, zu erleben, dass unsere Befürch-tungen wahr geworden sind.Aufgrund unserer Beobachtungen haben wir 2011 ei-nen Antrag mit konkreten Vorschlägen in den Bundestageingebracht. Damals haben wir zum Beispiel gefordert:die Stärkung der Zivilgesellschaft, die langfristigeUnterstützung innersudanesischer Ansätze für zivileKonfliktbearbeitung, für Dialog, für Versöhnungs- undTraumaarbeit und dass sich die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat dafür einsetzt, dass ein künftiges UN-Mandat nicht der militärischen Logik folgt, sondern aufKonfliktlagen frühzeitig mit Mitteln der zivilen und ge-waltfreien Konfliktbearbeitung deeskalierend reagiert.Dieses UN-Mandat mit dem Namen UNMISS wurdedann allerdings doch ein vorwiegend militärisches. Trotzeines Jahresetats von 924 Millionen US-Dollar und biszu 7 000 Soldaten und 900 Polizisten im Einsatz konnte
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Kathrin Vogler
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UNMISS gegen die Gewaltausbrüche nicht viel mehrtun, als Zehntausenden Flüchtlingen die Türen ihrerStützpunkte zu öffnen. Das war ein wertvoller, aber keinausreichender Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung.
Schon im Januar 2013 hatte eine unabhängige Eva-luation ergeben, dass UNMISS vor allem politisch undzivil erfolgreich war. Deswegen gab es die Empfehlung,die militärische Komponente radikal zu reduzieren undgerade politische und zivile Kapazitäten aufzubauen.
Das Gegenteil ist leider passiert, und das findet dieLinke grundfalsch.
Deutschland unterstützt UNMISS über den Peace-keeping-Haushalt der Vereinten Nationen, und Deutsch-land gibt noch extra Mittel für den Bundeswehreinsatzim Rahmen von UNMISS. Davon wird allerdings nuretwa ein Drittel jedes Jahr verbraucht. Allein im letztenJahr sind 1,2 Millionen Euro übrig geblieben. Um dieseMittel geht es in unserem Antrag. Wir wollen sie einset-zen, um die Arbeit ziviler Akteure im Südsudan beimSchutz der Zivilbevölkerung zu fördern.
Ich denke zum Beispiel an Nonviolent Peaceforce.Nonviolent Peaceforce ist eine internationale Organisa-tion, die mit der lokalen Bevölkerung gemeinsamSchutznetzwerke aufbaut und damit erfolgreich gegenethnische Spaltung agiert. Sie hat dafür gesorgt, dass indem Konflikt Dinka Nuer geschützt haben und dassNuer Dinka geschützt haben. Es wurden Gerüchte aufge-klärt, die zu Hass hätten führen können, und Flüchtlingeaus den Kampfgebieten unterstützt. Für eine solcheArbeit braucht es eine flächendeckende, eine große Prä-senz, vor allem in einem Riesenland wie dem Südsudan.Deswegen hat sich diese Organisation mit anderen Orga-nisationen im South Sudan Protection Cluster vernetzt.Die Arbeit dieser Organisation, so wertvoll sie ist,kostet nicht viel. Aber selbst das wenige Geld, das siebraucht, fehlt. Deswegen werben wir dafür, mehr Mittelfür genau diese Arbeit zur Verfügung zu stellen, um dieHandlungsmöglichkeiten ziviler und gewaltfreier Orga-nisationen zu verbessern und um damit mehr für denSchutz der Menschen vor Gewalt zu tun. Deshalb bitteich Sie und werbe dafür: Unterstützen Sie unseren An-trag! Unterstützen Sie ziviles, unbewaffnetes Peace-keeping!Danke.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben indiesem Jahr schon sehr oft in diesem Hause darüber dis-kutiert, wie wir auf krisenhafte Situationen in der Weltangemessen reagieren können. Häufig waren damit mili-tärische Einsätze und Aufträge verbunden. Aber insge-samt sind wir in knapp 50 Friedensmissionen weltweitunterwegs und tätig.Ich glaube, die Fraktion Die Linke darf durchaus fürsich in Anspruch nehmen, dass sie sich mit dem Thema„zivile Friedensarbeit“ sehr intensiv auseinandersetzt.
Es ist aber auch richtig, dass die Linken ein typischesSchwarz-Weiß-Schema anwenden, bei dem sie auf dereinen Seite ein Bild von Frieden und Harmonie zeichnenund auf der anderen Seite den Einsatz militärischer Mit-tel verteufeln. Damit blenden sie einen großen Teil derWirklichkeit aus, und damit tun sie so, als ob bei Kon-flikten wie im Südsudan oder auch andernorts allein mitzivilen Mitteln eine Besserung der Situation erreichtwerden kann. Gerade das ist nicht der Fall. Wer IhrenVortrag, Frau Vogler, gehört hat, dem ist deutlich gewor-den, dass eine rein zivile Antwort in einer solchen Situa-tion schlicht nicht ausreicht.Ich glaube sehr wohl, dass wir in unserer Außenpoli-tik auch eigene Interessen zu verfolgen haben und dasswir ein Interesse daran haben, in europäischer Nachbar-schaft letztlich für Frieden, für Sicherheit und für Stabi-lität zu sorgen. Genau dafür braucht man die UNMISS,die ganz erfolgreich gearbeitet hat und arbeitet.Was haben wir für eine Situation im Südsudan? Es istein vergleichsweise kleines Land mit gerade einmal9 Millionen Einwohnern.
– Ein großes Land, gemessen an der Fläche, aber einkleines Land, gemessen an der Einwohnerzahl. – Im Jahrder Unabhängigkeit wurden bereits 2,2 Milliarden Dol-lar an internationaler Hilfe eingesetzt. Im vergangenenJahr – Sie haben die Zahl selber genannt – waren es925 Millionen Dollar. Im Mai hat eine internationaleGeberkonferenz entschieden, die zugesagten Mittel zuverdoppeln. Es fließt unheimlich viel Geld in diesesLand.
Darüber hinaus müssen wir, glaube ich, zur Kenntnisnehmen, dass die Grundvoraussetzungen im Südsudangar nicht schlecht sind, weil insbesondere aus denÖlvorkommen in den vergangenen Jahren Erlöse in Mil-liardenhöhe geflossen sind. Das heißt, es ist keine Fragedes Geldes. Man muss vielleicht sehr viel eher überle-gen, wie man die vorhandenen Mittel richtig einsetzt undEigenverantwortung vor Ort entwickelt. Dazu gehört,dass man klare Erwartungen damit verbindet und dieseauch formuliert.
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3456 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Thorsten Frei
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Frau Vogler, Sie sind auch darauf eingegangen, dassder dahinterliegende ethnische Konflikt zwischen denVolksstämmen der Dinka und Nuer, der sich letztlichauch in den beiden Personen des Präsidenten Kiir unddes Rebellenführers Machar abbildet, die große Kon-fliktlinie in diesem Land ist. Deshalb, glaube ich, ist esganz entscheidend, dass man es schafft, die Parteien wie-der an den Verhandlungstisch zurückzubringen. DerFriedensschluss vom Mai dieses Jahres war ein ersteszartes Pflänzchen, das sich da gezeigt hat, und jetzt gehtes darum, diesen Friedensschluss nachhaltig umzuset-zen.Es ist wahr, dass unvorstellbare Gräueltaten imSüdsudan heute wieder an der Tagesordnung sind, dasses Verfolgung gibt, dass Kinder als Soldaten missbrauchtwerden, dass eine Hungerkatastrophe im Anzug ist undvieles mehr. Über 10 000 Menschen haben in diesemKonflikt erst jüngst ihr Leben verloren, und – Sie habenes selbst gesagt – etwa 60 000 Flüchtlinge haben Campsvon UNMISS zum Schutz erreichen wollen und aucherreicht. Daran wird klar, dass rein zivile Mittel undBürgernetzwerke auf Dorfebene, wie es beispielsweiseNonviolent Peaceforce macht – sicherlich eine sehr guteArbeit –, den Anforderungen angesichts der Situationvor Ort letztlich nicht gerecht werden, sondern das ei-gentliche Problem die fehlende Staatlichkeit, die fehlen-den Strukturen sind.Genau darauf und auf die Probleme in der Justiz– Korruption und dergleichen mehr – ist UNMISS dierichtige Antwort. Es ist die richtige Antwort, weil es sichdabei nicht um einen Kriegseinsatz handelt, sondern umeine Beobachtermission, in der 12 500 Soldatinnen undSoldaten aus 66 Nationen ihren Auftrag in einer hervor-ragenden Art und Weise erledigen.
Wir glauben, das Problem besteht nicht darin, dass dazu wenig Geld im Spiel ist; wir müssen letztlich auf Ei-genverantwortung und auf die richtigen Rahmenbedin-gungen vor Ort setzen. Darauf müssen wir Rücksichtnehmen. Genau das tun wir. Deshalb werben wir dafür,Ihren Antrag abzulehnen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sit andwait is no option.“ Diesen starken Satz hat Verteidigungs-ministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheits-konferenz gesagt. Er wurde breit verstanden als Abkehrvon der Kultur der militärischen Zurückhaltung. Daswäre ein Kurs, den wir Grüne klar ablehnen würden.
Sie hat danach gesagt – das haben Sie von der Koali-tion immer wieder betont –, es gehe vor allem darum,zivile Instrumente zur Konfliktlösung und zur Krisen-prävention einzusetzen. Das ist die Botschaft, mit der Siedie neuen „Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregie-rung“ gerade verkaufen.Was tun wir denn genau in Afrika? Es gab in den letz-ten Monaten schöne Bilder von der Mali-Reise derVerteidigungsministerin. Es gibt die schreckliche Ge-walteskalation in der Zentralafrikanischen Republik, woder deutsche Beitrag zur Konfliktlösung mit Blick aufden zivilen Bereich ehrlicherweise mehr als bescheidenist.Während wir alle hier sehr abstrakt über Afrika disku-tieren, ist im Südsudan Folgendes passiert: PräsidentSalva Kiir und der Exvizepräsident Machar haben ihrenpersönlichen Machtkampf anhand ethnischer Linienblutig eskalieren lassen. Es ist ein humanitäres Desastereingetreten. Es gab über 20 000 Todesopfer, wobei diegenauen Zahlen nicht gesichert sind; es sind wahrschein-lich viel mehr. 1,5 Millionen Menschen sind im Süd-sudan intern vertrieben. 863 000 Menschen sind in dieNachbarländer geflohen. Es droht eine Hungerkatastro-phe. Die UN sagen, dass sie in den nächsten drei Jahren1,1 Milliarden Euro brauchen. Es ist zu grausamstenMenschenrechtsverletzungen gekommen. Todesschwa-dronen sind durch das Land gezogen. Das Ausmaß ansexueller Gewalt ist wirklich erschreckend. Kinder wur-den als Soldaten rekrutiert. Es ist eine desaströse Situa-tion, die wir dort gesehen haben.Dazu gab es aber kaum ein Wort von Verteidigungs-ministerin von der Leyen und von AußenministerSteinmeier, obwohl die Bundeswehr im Rahmen derUN-Friedensmission UNMISS dort vor Ort ist.Ich habe die Bundesregierung in den letzten Wochenmehrfach gefragt, wie sie innerhalb der Vereinten Natio-nen zu dem Thema Individualsanktionen bezüglich derzwei – anders kann man sie nicht nennen – Verbrechersteht. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu keineklare Haltung eingenommen. Damit haben sich Ihre gro-ßen Ankündigungen von der neuen Verantwortung derdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik für mich einStück weit als Showreden an die Adresse der westlichenPartner entlarvt.
In dem Antrag der Linken wird gefordert, nicht abge-rufene Haushaltsmittel für UNMISS in den unbewaffne-ten Schutz der Zivilbevölkerung zu investieren. HerrKollege Frei, egal wie lange ich darüber nachdenke, ichkann darin nichts Falsches sehen. Es ist eine absolutrichtige Forderung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,ich bin wirklich sehr positiv überrascht über Ihren An-
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Agnieszka Brugger
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trag und auch darüber, dass Sie so klar einräumen, dasUNMISS einen sehr wertvollen Beitrag zum Schutz derZivilbevölkerung geleistet hat. Über 93 000 Menschenhaben dort Zuflucht gefunden. Ich bin denjenigen, die imRahmen von UNMISS ihren Dienst tun, zutiefst dankbarfür jeden Einzelnen, den sie vor Gewalt retten konnten.
Es ist völlig richtig – das tun auch Sie in Ihrem An-trag –, zu der Konzeption von UNMISS kritische Fragenzu stellen und kritische Punkte anzumerken. Aber ichfinde, dieser Antrag und auch die Rede der KolleginVogler stehen in einem sehr wohltuenden Kontrast zuden Reden, die Sie von der Linkspartei sonst zum Teilhier gehalten haben. Teilweise haben Sie, wie ich finde,mit sehr konstruierten Argumenten den UNMISS-Einsatz abgelehnt.
Ihr Antrag wäre aber noch besser gewesen, wenn Sienoch weitere Forderungen aufgenommen hätten, zumBeispiel die Forderung, UNMISS zu stärken und zu ver-ändern. Da geht es um mehr Personal – es kann ja auchziviles Personal sein, es muss nicht immer militärischesPersonal sein –, es geht um Transportkapazitäten. Jetztschaue ich in Richtung Bundesregierung: Es geht darum,die Mittel für die humanitäre Hilfe zu erhöhen. Herr Au-ßenminister Steinmeier hat 6 Millionen Euro zusätzlichzur Verfügung gestellt. Wir brauchen aber, wie gesagt,über 1 Milliarde Euro.Die Bundesregierung muss klare Position beziehenund sagen: Wenn die beiden Kontrahenten den Waffen-stillstand nicht umsetzen und keine Vereinbarungen fürdie Zukunft treffen, dann muss politischer Druck ausge-übt werden und dann müssen endlich Sanktionen ver-hängt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,„Sit and wait is no option.“ Wenn das mehr als nurschöne Schaufensterreden sein sollen, dann sollten Siedem Antrag der Linken zustimmen.Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Gabriela Heinrich, SPD Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Hunger, Ar-
mut, Gewalt, Flucht, Vertreibung und Tod kommen im
Südsudan derzeit zusammen. Die Lage der Menschen im
Südsudan – das wurde bereits erwähnt – ist katastrophal.
In einer solchen Situation geht es jetzt darum – es geht
uns allen darum –, den Menschen zu helfen, so schnell
wie irgend möglich. Deswegen unterstützen wir als
Bundesrepublik zum einen UNMISS, die Mission der
Vereinten Nationen im Südsudan. Sie hat den klaren
Auftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen und die hu-
manitäre Hilfe abzusichern.
Der Antrag der Linken erkennt an, dass UNMISS ei-
nen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung geleistet hat
und nennt dabei die Öffnung der UNMISS-Stützpunkte
für – das sind meine Zahlen – 65 000 Vertriebene. Es ist
auch richtig, dass UNMISS nicht im ganzen Land für
Sicherheit sorgen kann. Auch UNMISS-Soldatinnen und
-Soldaten sind Angriffen ausgesetzt. Ein Beispiel dafür
ist der Angriff von Bewaffneten auf ein UNMISS-Ge-
lände in Bor vor zwei Monaten mit mindestens 48 Toten.
Selbst die Welthungerhilfe fordert deshalb, die
Schutzfunktion für die Zivilbevölkerung im Rahmen der
Erneuerung von UNMISS auszuweiten, wobei auch
Deutschland seinen Beitrag leisten soll. Die Frage, ob
und wie wir UNMISS weiterentwickeln, wird uns sehr
bald beschäftigen. Fest steht, dass die Forderung der
Linken nach unbewaffnetem Schutz der Zivilbevölke-
rung, wenn sie als Alternative zu UNMISS gemeint sein
sollte, komplett an der Realität des Landes vorbeigeht.
Dabei ist die Beteiligung an UNMISS bei weitem
nicht der einzige Beitrag Deutschlands. Außenminister
Frank-Walter Steinmeier hat auf der Geberkonferenz in
Oslo – das wurde bereits erwähnt – vor kurzem 6 Millio-
nen Euro für weitere humanitäre Hilfe zugesagt. Ich
würde schon sagen, dass sich der Außenminister an die-
ser Stelle zur Situation des Landes geäußert hat.
Frau Kollegin Heinrich, es gibt den Wunsch nach ei-
ner Frage von Frau Kollegin Vogler. Möchten Sie sie zu-
lassen?
Bitte.
Frau Kollegin, eigentlich hat es mir schon beim Kol-legen Frei in den Fingern gejuckt, aber jetzt erwischt esSie. Ich kann den Beiträgen der Regierungskoalitionnicht entnehmen, dass Sie unseren Antrag wirklich gele-sen haben.
Wir fordern darin nicht, UNMISS umgehend einzustel-len. Wir fordern nur, dass die Bundesregierung die Mit-tel, die sie für UNMISS bereits eingeplant hatte, freigibt,um damit andere zivile und gewaltfreie Organisationen,die bereits erfolgreich arbeiten, zu fördern und es ihnenzu ermöglichen, den Schutz der Zivilbevölkerung zu or-ganisieren. Es handelt sich nur um einen winzigen, klei-nen Anteil des Gesamtbeitrages, der über die VereintenNationen in das UNMISS-Budget fließt. Ich verstehe
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Kathrin Vogler
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nicht, zu welchem Antrag Sie hier reden. Wir reden übereinen sehr konkreten Antrag.
Es geht um eine relativ kleine Summe, mit der sehr vielbewegt und verändert werden kann.Wenn Sie sagen, Sie lehnen einen Antrag von uns ab,dann können Sie ihn gerne abschreiben und das Geldvon anderer Stelle nehmen. Woher Sie es nehmen, istmir letzten Endes egal. Wichtig ist mir, dass es bei denMenschen und Organisationen ankommt, die zumSchutz der Zivilbevölkerung, der Menschen im Südsu-dan, die sich in dieser fürchterlichen Situation befinden,beitragen; denn sie haben effektiv gearbeitet. Sie habenErfolge erzielt. Ohne diese Organisationen wäre im letz-ten Bürgerkrieg noch viel mehr passiert. Deshalb mussman diese Ansätze ausbauen und fördern.Insofern bitte ich Sie: Sprechen Sie einmal konkret zudiesem Antrag, der vorliegt, und verhalten Sie sich dazu.
Frau Vogler, ich werde mich sofort dazu verhalten.Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen. Dieser Antraghat unzweifelhaft für die SPD einen gewissen Charme.Ich habe mich auch erkundigt, ob eine Umwidmung die-ser Mittel möglich wäre, habe aber eine abschlägigeAntwort erhalten; dazu komme ich noch. Ich glaube, wirsind uns einig, dass wir alle miteinander den Menschenim Südsudan so schnell wie möglich helfen wollen. Ichmöchte aber in meinen Ausführungen darstellen, dassDeutschland sich sehr wohl seiner Verantwortung be-wusst ist und an dieser Stelle im Moment sehr viele Mit-tel einsetzt. Wir können nachher noch einmal darüber re-den.Ich komme nun zu meinen Ausführungen zurück. DieBeteiligung an UNMISS ist bei weitem nicht der einzigeBeitrag Deutschlands. Ich habe es schon gesagt: Der Au-ßenminister hat 6 Millionen Euro für weitere humanitäreHilfe zugesagt.Insgesamt werden wir allein für humanitäre Hilfe in die-sem Jahr 12,5 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Dasist dringend notwendig – da gebe ich Ihnen völlig recht –,und ich bin sehr froh, dass sich der Außenminister hierentsprechend einsetzt.Der Entwicklungsminister hat bereits im März10 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm zu-gesagt. Mit einem Quick Response Fonds in Höhe von5 Millionen Euro wird Deutschland Hilfeleistungen vonNichtregierungsorganisationen im Südsudan unterstüt-zen, zum Beispiel die Verteilung von Saatgut. Weitere7,5 Millionen Euro werden Nichtregierungsorganisatio-nen vor Ort erhalten. Aber erst Ende April konnte einExpertenteam aus Deutschland wieder einreisen und ver-sucht jetzt, die Hilfe unter sehr schwierigen Bedingun-gen zu starten.Die bisherigen Waffenstillstandsabkommen – da wer-den Sie mir recht geben – sind brüchig. Deutschland unddie EU werden weiter mit ganzer Kraft – ein Kollege hatdarauf hingewiesen – die afrikanischen Vermittlungsbe-mühungen unterstützen, hier weiter voranzukommen,und das aus gutem Grund: Der politische Konflikt umdie Macht, um Geld und um Öl ist der Kernkonflikt indiesem Land, an dem alles Weitere hängt. Ohne eine be-lastbare Einigung werden wir keinen nachhaltigen Frie-den im Südsudan erhalten. Wir werden auch nachgela-gerte Konflikte nicht lösen können, solange die Wurzeldes Konflikts unverändert besteht.Um es zusammenzufassen: Die deutsche Unterstüt-zung für den Südsudan ist weit mehr als die Beteiligungan UNMISS.Die im Antrag der Linken angesprochene unbewaff-nete Friedenssicherung – ich habe es schon gesagt – hatfür die SPD durchaus einen speziellen Charme. Wir un-terstützen seit langem den Zivilen Friedensdienst, dessenGründung unter Rot-Grün von Heidemarie Wieczorek-Zeul vorangetrieben wurde. Die Große Koalition be-kennt sich zum einst von Rot-Grün verabschiedeten Ak-tionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktforschungund Friedenskonsolidierung“. Das BMZ finanziert welt-weit Projekte der deutschen Friedens- und Entwick-lungsorganisationen, die den Zivilen Friedensdienst tra-gen.
Die Stärkung des Zivilen Friedensdienstes war und istgerade für uns als SPD ein wichtiges Anliegen; das ha-ben wir auch bei den diesjährigen Haushaltsberatungendeutlich gemacht. Ich denke, an dieser Stelle müssen wiruns nichts vorhalten lassen.Aber davon abgesehen, dass eine Umwidmung imHaushalt nicht möglich ist, darf man UNMISS und diezivile Friedenssicherung nicht gegeneinander ausspie-len. Auch wenn es in einzelnen Dörfern – ich habe IhrenAntrag sehr genau gelesen – möglich sein mag, dassMenschen ihre Nachbarn, die einer anderen ethnischenGruppe angehören, schützen: 800 000 Menschen, Bin-nenflüchtlinge, sind im Südsudan aktuell auf der Flucht,mindestens 20 000 Menschen – die Zahl wurde schongenannt – sind getötet worden. Das Land befindet sichmitten im Konflikt. Beobachter berichten von Leichenam Straßenrand und stündlichen Übergriffen der ver-schiedenen Milizengruppen.Zuletzt sollen im April bei der Eroberung der Öl-Hauptstadt Bentiu allein 200 Zivilisten ermordet wordensein, die in einer Moschee Zuflucht gesucht hatten. Essoll eine regelrechte Jagd auf Menschen wegen ihrer eth-nischen Zugehörigkeit gegeben haben. Die Truppen derVereinten Nationen konnten einige Hundert Zivilisten indas UNMISS-Camp evakuieren.Hier müssen wir die Parallelen zu Ruanda beachten.
Auch dort ging es ursprünglich nicht um einen ethni-schen Konflikt, sondern um die Instrumentalisierung der
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Gabriela Heinrich
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ethnischen Zugehörigkeit. Am Ende stand in Ruanda einVölkermord. Auch im Südsudan instrumentalisieren dieKonfliktparteien die ethnischen Zugehörigkeiten. Eswurde und es wird Hass im Südsudan gesät, der letztlichzu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt geführthat und weiter führen wird. Ich halte es deshalb für eineIllusion, zu glauben, dass aktuell unbewaffnete, zivileKräfte ein weiteres Blutvergießen verhindern können.
Wir müssen jetzt die Grundlagen dafür schaffen, dasssich die Menschen wieder frei und ohne Angst vor Ge-walt bewegen und ihre Felder bestellen können. Dannkann auch die Entwicklungszusammenarbeit wieder mitvoller Kraft anlaufen. Die Aufarbeitung und die Versöh-nung im Land müssen darauf aufbauen, um die Gefahrkünftiger Konflikte zu verringern und den Frieden nach-haltig abzusichern. Aber zuvor muss die internationaleGemeinschaft darauf hinwirken, dass der Waffenstill-stand dauerhaft eingehalten wird.Mit Ihrem Antrag werden Sie unserer Ansicht nachder aktuellen Situation im Südsudan nicht gerecht, unddaher werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.Vielen Dank.
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das
Wort der Abgeordneten Emmi Zeulner, CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir alle sind uns der nicht tragbaren, katastro-phalen Lage im Südsudan bewusst, katastrophal vor al-lem für die zivile Bevölkerung, die leider – wie so oft –Leidtragende politischer und ethnischer Machtkämpfeist. Ihr Schutz – da sind wir uns alle einig – ist und bleibtoberste Priorität für jede Hilfeleistung Deutschlands undder Vereinten Nationen. Dies hat der Sicherheitsrat inseiner letzten Resolution auch bewusst mit der Fokussie-rung der UNMISS auf den Schutz der Zivilbevölkerungund der humanitären Hilfe klargestellt. Auch Bundes-minister Dr. Müller hat bestätigt, dass bereits um die30 Millionen Euro an finanziellen Zusagen bereitgestelltwurden und mit der Umsetzung der humanitären Hilfezügig begonnen wurde. Im laufenden Jahr sollen dieMittel noch einmal substanziell gesteigert werden.Gerade vor diesem Hintergrund lautet meine Antwortauf den Antrag der Fraktion Die Linke: Wir brauchen dieim Einzelplan vorgesehenen Bundesmittel für internatio-nale Einsätze der Bundeswehr auch weiterhin an dieserStelle. In Krisengebieten, wie es der Südsudan ist, kannnur die VN-Mission den nötigen Rahmen für eine wir-kungsorientierte humanitäre Hilfe bilden. Die Bundes-wehr vor Ort muss voll handlungsfähig bleiben. Wenndie Lage im Südsudan allein durch Geld, insbesonderedurch die von der Linken vorgeschlagene Umbuchung,zu lösen wäre, glauben Sie dann ernsthaft, dass wir unszu einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte ent-schlossen hätten,
bei dem Bundeswehrsoldaten auch ernsten Gefahrenausgesetzt wären?
Vor allem ist der Antrag schlichtweg nicht mit derHaushaltssystematik, insbesondere der Jährlichkeit derMittel, vereinbar. Die Linke verkennt, dass die nicht ver-wendeten Haushaltsmittel aus dem Einzelplan 14, diezunächst für die UNMISS vorgesehen werden, nicht ein-fach ungenutzt bleiben, sondern umgehend in andere in-ternationale Missionen der Bundeswehr wie zum Bei-spiel MINUSMA fließen, wo sie auch dringend benötigtwerden.Die Rolle und Notwendigkeit von UNMISS musshervorgehoben werden. Der Südsudan ist seit der Sezes-sion im Jahr 2011 der jüngste Staat der Erde. Er ist auseiner Rebellenbewegung heraus entstanden, die sichnoch immer vor der strukturellen Herausforderung derneu gewonnenen Staatlichkeit sieht. Machen wir unsnichts vor: Unser Verständnis von Staatlichkeit, jaRechtsstaatlichkeit und von einer Regierung ist hier völ-lig verfehlt. Es handelt sich um eine Regierung, die sichin den politischen Machtkämpfen auf blutige Weisedurchgesetzt hat. Im Mittelpunkt steht der ethnischeKonflikt zwischen den vom Präsidenten Kiir geführtenDinka und den hinter dem ehemaligen VizepräsidentenMachar stehenden Nuer.Auch wenn es im Mai dieses Jahres auf internationa-len Druck hin zu einer Friedensvereinbarung kam, istdies leider kein Garant für eine andauernde Stabilität.Auf Grundlage dieser Analyse stellt sich nun dieFrage, welche Unterstützung die Bevölkerung benötigt.Sehr schnell komme ich zu dem Schluss: UnbewaffneterSchutz ist hierbei ein Widerspruch in sich.
Dies zeigen die Überfälle auf und in Flüchtlingslagern.Zentraler Punkt muss die Hilfe zur Selbsthilfe beim Auf-bau eines neuen Staates sein. Doch dazu ist es meinerAnsicht nach noch zu früh. Auf den Trümmern einesBürgerkrieges lässt sich schwer ein stabiler Staat bilden,der der Bevölkerung Sicherheit bieten kann. Ich sprechehier noch nicht einmal von einer Sicherheit im Sinne deserweiterten Sicherheitsbegriffes, die den Bürgern Schutznach innen und außen gewährt, auch wenn ich der Mei-nung bin, dass der erweiterte Sicherheitsbegriff als lang-fristiges Ziel im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für
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Emmi Zeulner
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Afrika von der internationalen Gemeinschaft gelebt wer-den muss.
Nein, ich spreche zunächst von einem grundlegendenSicherheitsgefüge, welches ein Staat seiner Bevölkerunggewährleisten sollte. In einem Staat, der von einer Re-bellenarmee ohne Loyalität und Kohäsion unterstütztwird, ist dies nicht möglich.Deswegen ist der bewaffnete Einsatz der VN so wich-tig. Bewaffneter Einsatz heißt ja nicht, dass die Verein-ten Nationen mit gezogener Waffe vor Ort handeln. Be-waffneter Einsatz heißt, dass es ein robustes Mandat gibtund die Angehörigen von UNMISS ihr Mandat notfallsauch durch Androhung – und erst in der höchsten Eska-lationsstufe durch Anwendung – von staatlicher Waffen-gewalt durchsetzen können.
Diese Bewaffnung dient letztlich auch dem Selbstschutzder Soldaten.Die Leistung der VN möchte ich hier ganz deutlichhervorheben; denn so wirkungslos, wie uns die Linkedas in ihrem Antrag schildert, ist UNMISS keinesfalls.Auch UNMISS hat „Friedensfachkräfte“, bringt den„Friedensprozess“ voran und baut „Friedensinfrastruktu-ren“ auf. Diese Begriffe schreibt die Linke in ihrem An-trag aber nur den Organisationen zu, die mit dem Antragunterstützt werden sollen.
Der Antrag verkennt die schützende und verbindendeRolle, zu der auch die Bundeswehr ihren Teil beiträgt.Wie kann der geforderte Entzug von Bundesmittelnfür UNMISS – nichts anderes ist die Umwidmung –diese Lage verbessern?
Die richtige Antwort auf gestiegene Soldatenzahlen beiden Rebellenarmeen sieht für mich anders aus. Ich bin,wie anfangs gesagt, der festen Überzeugung, dass nurdas Militär den Rahmen für eine wirkungsvolle humani-täre Hilfe im Südsudan bilden kann.
Ich erkenne selbstverständlich die Leistung der zivilenAkteure vor Ort an und verweise auf die zahlreichenProgramme, die die Bundesregierung bereits unterstützt.
Gerade jetzt, in dieser instabilen Lage, müssen dievorgesehenen Mittel aus dem Einzelhaushalt für dieBundeswehr schnell abrufbar sein.
Wir stehen dort in der Verantwortung. Denn wenn erneutblutige Auseinandersetzungen drohen, hilft den Men-schen vor Ort vor allem auch der bewaffnete Einsatz. Ineinem Land, in dem Krankenhäuser überfallen und Men-schen willkürlich umgebracht werden, braucht die Bun-deswehr den finanziellen Rückhalt.
Ich zumindest möchte nicht die Verantwortung dafür tra-gen, zivile Helfer ohne bewaffneten Schutz in diesesKrisengebiet zu entsenden.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1614 mit dem Ti-
tel „Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel der Uni-
ted Nations Mission in South Sudan für die
Unterstützung des unbewaffneten Schutzes der Zivilbevöl-
kerung im Südsudan“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der
Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir haben jetzt noch eine ganze Reihe von Abstim-
mungen vorzunehmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Rindfleischetikettierungsge-
setzes und des Legehennenbetriebsregisterge-
setzes
Drucksache 18/1286
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Ernährung und Landwirtschaft
Drucksache 18/1639
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.
Das heute behandelte Gesetz scheint auf den erstenBlick rein bürokratischer Natur zu sein. Es hat sich aufder EU-Ebene wieder etwas geändert – oder auch dieBundesministerien heißen anders –, und schon mussein neues Gesetz her. Ja, es müssen auch Bezugnahmenim nationalen Recht auf das EU-Recht angepasst wer-den.Wenn man sich aber gründlich mit der Vorlage be-schäftigt, erkennt man, dass es in dem Gesetzentwurfder Bundesregierung zur Änderung des Rindfleisch-etikettierungsgesetzes und des Legehennenbetriebs-registergesetzes um viel mehr geht, nämlich: um dengesundheitlichen Verbraucherschutz, den Schutz derVerbraucher vor Täuschung und Tierwohl.
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Thomas Mahlberg
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Um es vorwegzunehmen: Nein, mit der Änderungdes Rindfleischetikettierungsgesetzes wollen wir kei-nen neuen sprachlichen Rekord aufstellen und dasRindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenüber-tragungsgesetz in der Länge des Namens überbieten.Wir wollen die notwendigen technischen Anpassun-gen vornehmen, damit dieses wichtige Gesetz richtigeVerweise enthält. Nur so können wir sicherstellen, dassdas Gesetz zur besonderen Etikettierung von Rind-fleisch weiterhin die Verbraucher vor gesundheitlichenRisiken schützt. Denn wir dürfen nicht vergessen, wo-rauf diese gesetzlichen Vorgaben zurückzuführen sind.Sie wurden als Reaktion auf die BSE-Krise eingeführtund bewähren sich bis heute.Bei den Änderungen des Legehennenbetriebsregis-tergesetzes handelt es sich nicht nur um Verweiskor-rekturen. Es wird die Überwachung der Legehennen-haltung in Deutschland verbessert, indem dieRegelung der Kennnummernvergabe für Legehennenhaltende Betriebe geändert wird. Die neue Regelungermöglicht es, insbesondere Betrugsfällen zu begeg-nen, wie es sie im Februar 2013 mit Bioeiern gab. DieMedien berichteten von den Ermittlungen der Staats-anwaltschaft Oldenburg gegen mehr als 100 Legehen-nenbetriebe.Der Vorwurf: Überbelegung der Ställe. Hinzukommt, dass die Eier zu Unrecht als Bioprodukt ver-marktet wurden und so die Verbraucher getäuscht wur-den. Ferner wurde durch die Überbelegung der Ställedas Mehr an Tierwohl, das in der Biohaltung eingehal-ten werden muss, eingeschränkt.Um derartigen Betrügereien besser entgegenzusteu-ern, wird es den Kontrollbehörden künftig möglichsein, aufgrund der Anzahl der vermarkteten Eier inVerbindung mit durchschnittlichen LegeleistungenRückschlüsse auf die tatsächliche Anzahl der gehalte-nen Tiere zu ziehen. So werden der Schutz der Verbrau-cher vor Täuschung und das Tierwohl gestärkt.Wir sind uns alle einig, dass Missstände in derLandwirtschaft konsequent aufgeklärt, behoben undgegebenenfalls auch sanktioniert werden müssen. Unddies unabhängig davon, ob es sich um ökologischeoder konventionelle Landwirtschaft handelt. Denn füruns Christdemokraten ist klar: Gesundheitlicher Ver-braucherschutz steht an erster Stelle.Ebenso steht es für uns fest, dass sich alle Beteilig-ten an die Regeln halten müssen. Da hilft es nicht wei-ter, ideologisch die einen für die Guten und die ande-ren für die Bösen zu erklären. Unsere Bauern – egal,nach welchem Haltungssystem sie wirtschaften – sindin Sachen Verbraucher-, Tier- und Umweltschutzspitze. Sie sind Vorreiter nicht nur in Europa, sondernauch weltweit. Darauf können wir stolz sein, dafür ha-ben wir unseren Landwirten höchsten Respekt zu zol-len.Selbstverständlich soll das nicht heißen, dass beiuns alle Probleme gelöst sind. Deswegen sind wir – ge-meinsam mit der Bundesregierung – am Ball undkämpfen für eine bäuerliche Landwirtschaft mit ihrerVielfältigkeit an Haltungssystemen und hohem Verant-wortungsbewusstsein für Mensch, Tier und Umwelt.
Wir reden über die Rindfleischetikettierung und esist ziemlich spät am Abend. Ganz ehrlich, das ist keinschlechtes, es ist ein richtig gutes Zeichen. Denn nachstürmischen Zeiten in Sachen Rindfleisch ist wiederAlltag eingekehrt. Vor 15 Jahren war BSE das großeThema auf den Titelseiten unserer Boulevardblätter.Ein Gespenst ging um in Europa, ein reales Ge-spenst. Die Menschen hatten Angst vor einer neuengroßen Epidemie. In Großbritannien erkrankten dieRinder reihenweise, ganze Herden wurden gekeult.Ich will nicht sagen, dass BSE und die hiervon wohlausgelöste Creutzfeld-Jakob-Krankheit – ganz bewie-sen ist das ja immer noch nicht – überwunden seien.Aber es ist doch gelungen, die Krankheit ganz erheb-lich einzudämmen.In den letzten fünf Jahren gab es in Deutschland ge-rade einmal zwei Fälle. Das kommt nicht von nichts.Wir haben wirklich etwas erreicht, Bund, Länder,Fleischverarbeitung und Bauern gemeinsam. Zusätz-lich zu den allgemeinen Vorschriften des Lebensmittel-rechts und der Lebensmittelkennzeichnung gibt esbeim Rindfleisch ein System, das die Herkunft jedesSteaks und jeder Rindswurst transparent macht. Siekönnen heute von der Bedientheke an den Weg jedesStückes Rindfleisch über alle Vermarktungs- und Er-zeugungsstufen zurückverfolgen bis in den Stall, ja so-gar bis zu einer konkreten Gruppe von Tieren. Und Siekönnen ablesen, wo ein Tier geboren, gemästet, ge-schlachtet und zerlegt wurde.Unser Transparenz- und Überwachungssystem hatin den letzten Jahren ausgezeichnet funktioniert, undso soll es auch in Zukunft bleiben, weil dieses Systemdas Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten,unser aller Vertrauen, in unser Rindfleisch wieder her-gestellt hat. Ich möchte sagen: Vertrauen, das heuteabsolut berechtigt ist. Es ist beim Rindfleisch wie beifast allen Lebensmitteln: Sie sind heute so sicher wienoch nie zuvor. Und so muss es in Zukunft auch blei-ben – das ist das klare Ziel unserer Fraktion.Es ist deshalb keine große Nachricht, wenn wirheute eine Reihe von Verweisregeln des Rindfleisch-etikettierungsgesetzes an den Stand der europäischenRechtsetzung anpassen. Ich muss gar nicht im Einzel-nen beschreiben, was wir durch welche Regelung wiegenau ersetzen.Die Nachricht, die dahinter steht ist: Mit dem Sys-tem der Rindfleischetikettierung, das wir nach demAuftauchen von BSE aufgesetzt haben, können wir wei-termachen. Es hat sich bewährt.Mehr als über Rindfleisch wurde zuletzt über Hüh-ner und Eier gesprochen. Nicht weil es dort Krankhei-Zu Protokoll gegebene Reden
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Marlene Mortler
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ten oder Gefährdungen, geschweige denn einen Ge-sundheitsskandal gegeben hätte, sondern weil das eineoder andere schwarze Schaf unter die Biobauern ge-gangen ist – und damit erheblichen Imageschaden ander Branche ausgelöst hat. Ich denke etwa an den Fall,der im April ans Licht gekommen ist: Ein Landwirt ausNiedersachsen hatte in großem Stil konventionelleHähnchen als Neuland-Hähnchen verkauft und damitdie Käufer geprellt.Weil wir beim Rindfleisch mit der Herkunftsverfol-gung gute Erfahrung gemacht haben, ist es richtig, dasSystem der Kennnummernvergabe auch bei der Lege-hennenhaltung fortzuentwickeln. Deswegen ändernwir hier auch das Gesetz mit dem griffigen Titel Lege-hennenbetriebsregistergesetz.Wir wollen, dass über die Kennzeichnung die An-zahl der vermarkteten Eier sichtbar wird und man da-durch Schlüsse auf die Menge der Hühner in einemStall ziehen kann, weil wir Überbelegungen verhin-dern wollen. Das geschieht aus drei guten Gründen:erstens natürlich wegen des Tierschutzes, zweitenszum Schutz all jener Landwirte, die sich an die Regelnhalten und die deshalb nicht mit Wettbewerbsnachtei-len bestraft werden dürfen, und drittens zum Schutzeder Verbraucherinnen und Verbraucher, die wie beimRindfleisch darauf vertrauen können sollen, dass siedas essen, was sie zu essen meinen. Ich sage nur Neu-land.Ich finde es gut, dass das Gesetz nun auch eine buß-geldrechtliche Ahndungsmöglichkeit vorsieht – auchdas dient dem Schutz aller, die ihren Pflichten rechts-treu nachkommen.Meine Damen und Herren, der Abend ist spät, derFreitagmorgen nah. Aber wenn wir dieses Gesetz jetztverabschieden, dann kann ich Ihnen für Ihr morgigesFrühstücksei, für die leckere Scheibe Roastbeef mit be-sonders gutem Gewissen einen guten Appetit wün-schen.
2013 war nicht gerade arm an Lebensmittelskanda-
len. Wir erinnern uns: Parallel zum Pferdefleischskan-
dal wurde im Februar letzten Jahres bekannt, dass
Millionen falsch deklarierter Eier in Umlauf geraten
waren. Eierproduzenten hatten zu viele Hennen auf zu
wenig Platz gehalten. Was als Freiland- oder Bio-Ei
verkauft wurde, hätte allerhöchstens noch als Ei aus
Bodenhaltung angeboten werden dürfen. Einmal mehr
ist das Vertrauen der Verbraucher in Lebensmittel und
Lebensmittelüberwachung erschüttert worden.
Um Verbraucher künftig besser vor solchen Täu-
schungsfällen zu schützen und der Lebensmittelüber-
wachung die Kontrolle von Legehennenbetrieben zu
erleichtern, haben wir nun das Legehennenbetriebs-
registergesetz geändert. Die geplante Änderung wird
es den Behörden einfacher machen, eine Überbele-
gung von Ställen zu ermitteln und zu ahnden.
Zeitgleich aktualisieren wir auch das Rindfleisch-
etikettierungsgesetz. Wir passen Definitionen und Be-
zeichnungen an, die sich mit der Reform der Gemein-
samen Agrarpolitik auf EU-Ebene geändert haben.
Das war dringend notwendig.
In Sachen Legehennen gilt es nun allerdings noch
eine weitere Überwachungslücke zu schließen. Um die
Besatzdichten in Legehennenbetrieben tatsächlich ef-
fektiv kontrollieren zu können, müssen die Brütereien
und die Junghennenaufzucht in die Überwachungs-
kette integriert werden.
Herr Minister Schmidt, bitte prüfen Sie schnell, wie
wir dies umsetzen können. Wir sollten alles daranset-
zen, den nächsten Eier-Skandal zu verhindern, bevor
er passiert.
Die aktuelle Gesetzesänderung ist ein erster Schritt.
Aber dabei sollte und darf es nicht bleiben. Um das
Vertrauen der Verbraucher in unsere Lebensmittel-
produktion und unsere Überwachungsbehörden
wiederherzustellen, müssen wir nicht nur die Voraus-
setzungen für die lückenlose Überwachung von Lege-
hennen schaffen. Wir müssen auch mehr Transparenz
in die Lebensmittelkette bringen.
Ich denke dabei an die Überarbeitung des § 40 des
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches, genauer
gesagt die Veröffentlichungspflichten der Behörden bei
Täuschung, Irreführung und Hygieneverstößen, die
wir endlich rechtssicher machen müssen. Denn eine
drohende Veröffentlichung ist ein massiver Anreiz für
jedes Unternehmen, sich an alle gesetzlichen Vorgaben
und Regeln zu halten. Transparenz wirkt präventiv,
auch gegen den nächsten Eier-Skandal.
Hier endlich Nägel mit Köpfen zu machen, sind wir
den Verbrauchern schuldig.
Verbraucherbetrug bei Lebensmitteln taucht immerda auf, wo es für die Lebensmittelindustrie profitabelist oder wo sie mit Dumpingpreisen den Markt be-stimmt. Kosten 400 Gramm Lasagne nur 1,64 Euro,muss man sich über das Pferd im Fleisch nicht wun-dern. Ähnliches gilt bei Eiern: Lasche Vorschriftenführten dazu, dass Eier aus überfüllten Hühnerställenals Bioware verkauft wurden. Eine Lebensmittelbran-che, die in diesem Klima weniger staatliche Regulie-rung fordert, muss sich nicht wundern, dass sie bei denVerbrauchern das Image von Hühnerdieben genießt.Der hier nun vorliegende Gesetzentwurf verbessertden Verbraucherschutz. Das begrüßen wir. Eine fal-sche Kennzeichnung von Eiern fällt schneller auf, wasBetrugsversuche erschwert. Legehennenbetriebe dür-fen künftig pro Stall nur eine Kennzeichnung verwen-den, also entweder Boden-, Freiland- oder Biohaltung.Ändert ein Stallbetreiber die Haltungsform, was nur inbegründeten Ausnahmen möglich ist, muss er dies denBehörden unmittelbar vorher anzeigen. Kontrolleurekönnen durch diese Regelung besser nachvollziehen,Zu Protokoll gegebene Reden
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Karin Binder
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ob die gesetzlichen Vorgaben zum Tierwohl und zumVerbraucherschutz eingehalten werden.Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass es in derVergangenheit ein buntes Durcheinander gab, das zuFalschkennzeichnungen einlud. Wir erinnern uns: Eieraus konventioneller Haltung wurden den Verbrau-chern als Bioeier untergeschoben. Ställe waren syste-matisch überbelegt. Profit ging manchen Hühnerhal-tern offenbar vor Tierschutz. Das „Handelsblatt“schrieb vor einem Jahr dabei von einer „flächende-ckenden Praxis“. Verbraucherbetrug war offenbar einGeschäftsmodell. An diesem Beispiel zeigt sich also,wie wichtig klare Regeln bei der Lebensmittelerzeu-gung sind.Der Gesetzgeber muss auch deutlich machen, dassorganisierte Verbrauchertäuschung kein Kavaliers-delikt ist. Da wünschen wir uns schon lange ein kon-sequenteres Vorgehen: Die Namen betrügerischerLebensmittelerzeuger und -händler müssen umgehendveröffentlicht werden. Wer wiederholt erwischt wird,muss damit rechnen, dass sein Betrieb ein für alle Maldichtgemacht wird. Wir werden uns daher bei dem Ge-setzentwurf enthalten.Konventionelle und Biohaltung müssen strikter ge-trennt und dürfen nicht auf demselben Hof in benach-barten Ställen erlaubt sein. Bei der Reform der EU-Bioverordnung wäre es zu begrüßen, wenn die gleich-zeitige Erzeugung von Biolebensmitteln und herkömm-lichen Produkten im selben Betrieb unterbunden wird.Nur so funktioniert glaubwürdiger Verbraucherschutz.
Der vorliegende Gesetzentwurf und der damit ver-bundene Änderungsantrag ist solide und beinhaltetprimär erforderliche Anpassungen von veralteten Ver-weisen auf das Gemeinschaftsrecht. Dem stimmen wirzu.Das Legehennenbetriebsregistergesetz wurde aufDruck des Bundesrates mit einer Öffnungsklausel ver-sehen, um auf Länderebene spezifische Vorlaufzeitenfür die Umstellung des Haltungssystems festzulegen.So weit, so gut, dies stellt meiner Meinung nach einentragfähigen Kompromiss zwischen nachvollziehbarerDokumentationspflicht, aber auch Reaktionsmöglich-keiten der Betriebe auf beispielsweise Starkregen-ereignisse dar. Denn nach wie vor muss bei allem ver-ständlichen Drängen nach Wahrheit und Klarheit beider Kontrolle dem ureigenen Wesen der Landwirt-schaft Rechnung getragen werden: Im Umgang mit derNatur ist zwar vieles planbar, doch oftmals muss dieMöglichkeit bestehen, kurzfristig Entscheidungen zutreffen und auf Wetter- und Klimaeinflüsse angemessenreagieren zu können.Eines ist jedoch anzumerken: Es wurde versäumt,die Junghennenaufzucht in die Marktüberwachungeinzubeziehen. So wurde es zu Recht in der Stellung-nahme des Bundesrates kritisiert. Die Bundesregie-rung verweist in ihrer Gegendarstellung auf ausste-hende Rechtsprüfungen, die im Vorlauf einer solchenIntegration zu tätigen seien. Wenn dem so ist, dann lei-ten Sie dies bitte in die Wege. Denn diese Funktionwäre ein echter Fortschritt, um die Überwachungs-kette zu schließen und um belastbare Belegungsdich-ten aufzunehmen.Des Weiteren stimmen wir heute über die Änderungdes Rindfleischetikettierungsgesetzes ab: Die jetzigeAnpassung ist, das wissen Sie, werte Kolleginnen undKollegen, so gut wie ich, eine reine Formalie. DassRindfleisch seit der BSE-Krise gesondert ausgewiesenund etikettiert werden muss, ist ein Gewinn für Ver-braucherschutz und Transparenz.Wir fordern noch Weitergehendes – ein Mehr anKennzeichnung von frischem und auch verarbeitetemFleisch: Es muss klar nachvollziehbar sein, woher je-des Fleisch kommt, das sich im Handel befindet, egalob Frischfleisch oder Raviolifüllung. Ab dem 1. April2015 gelten der Rindfleischetikettierung ähnlicheRegelungen für Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflü-gelfleisch. Das begrüßen wir. Wäre mit einer solchenRegelung ein so großflächiger Betrug im Sinne derPferde-Lasagne möglich gewesen? Ich glaube nein.Die Kommission plant eine Evaluierung der Rinder-kennzeichnung, um herauszufinden, welche Markt-effekte diese in den vergangenen Jahren ausgelöst hat.Es soll, so hört man, ermittelt werden, ob die Rind-fleischetikettierung den Bedürfnissen der Verbrauchereinerseits und denen der Landwirte und Fleischver-arbeiter andererseits entspricht. Ich hoffe, die Stimmeder Verbraucherinnen und Verbraucher und die derLandwirte, die verantwortungsvoll mit ihrem Berufumgehen, wiegt schwerer als die der Fleischindustrie,die sich in der Vergangenheit nicht unbedingt um mehrTransparenz und Kundeninformation verdient gemachthat.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 18/1639, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1286 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Dann ist das mit den Stimmenaller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linkeso angenommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist derGesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-Frak-tion, SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommenworden.
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3464 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-cherschutz
zu dem Vorschlag für eine Verordnung desRates über die Errichtung der EuropäischenStaatsanwaltschaft
KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13hier: a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-setzes b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio-nenDrucksache 18/1658b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Jan Korte, Dr. Gregor Gysi, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEzu dem Vorschlag für eine Verordnung desRates über die Errichtung der EuropäischenStaatsanwaltschaft
KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13hier: a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-setzes b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio-nenDrucksache 18/1646Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –Ich höre und sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Bereits am 16. Oktober 2013 richtete der Unteraus-schuss Europarecht ein Schreiben an den Präsidentender Europäischen Kommission, Herrn Dr. José ManuelDurão Barroso, und kündigte eine Stellungnahme desDeutschen Bundestages zu dem Vorschlag für eine Ver-ordnung des Rates über die Errichtung der Europäi-schen Staatsanwaltschaft an. In diesem Schreibenwurde mitgeteilt, dass der Unterausschuss Europa-recht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundesta-ges die Arbeit an dem Verordnungsvorschlag über dieErrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft inder nun ablaufenden Wahlperiode eng begleitet hat.Gespräche mit Frau Kommissarin Reding, HerrnKommissar Šemeta sowie weiteren Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern der Europäischen Kommission botendankenswerterweise mehrfach Gelegenheit zu einemkonstruktiven Dialog über die Ausgestaltung einerkünftigen Europäischen Staatsanwaltschaft.Weiter wurde ausgeführt, dass der Verordnungsvor-schlag im Unterausschuss Europarecht und dann imBundestag noch intensiv beraten werden wird.Dies ist nun geschehen, und ich darf mich herzlichfür die konstruktive Arbeit aller Berichterstatterinnenund Berichterstatter zu dem Verordnungsvorschlag be-danken.Der Unterausschuss Europarecht kann sich intensivmit den Vorlagen der EU in den Bereichen Rechts- undJustizpolitik befassen. Hierauf gibt er dem Rechtsaus-schuss Empfehlungen für die weitere Vorgehensweise.Neben vielen rechtpolitischen Gesetzesentwürfen wirddie europäische Rechtspolitik immer wichtiger. DerUnterausschuss hat sich immer mehr zu einem Gre-mium entwickelt, das besonders die Prüfung der Subsi-diarität im Blick hat. Hierbei wird die Subsidiaritäts-rüge nicht als scharfes Schwert des Diskurses gesehen,sondern vielmehr als ein Weg, wie sich nationale Par-lamente in den politischen Dialog einbringen können.Nur wenn im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung auchStellungnahmen und Rügen erfolgen, kann ein Mitge-stalten an Europa Erfolg haben.Eine solche Teilhabe an Europa gelingt uns mit derheute zu verabschiedenden Stellungnahme zum Ver-ordnungsvorschlag Europäische Staatsanwaltschaft.Hinsichtlich des vorliegenden Verordnungsentwurfsgab es einige Kritikpunkte, die ich in der gebotenenKürze nochmals kurz darstellen darf:Erstens ist die im Kommissionsvorschlag vorgese-hene Unabhängigkeit des Europäischen Staatsanwaltsinsofern zu weitgehend, als die Kontrollmöglichkeitenunzureichend sind. Über den in Artikel 70 KomV vor-gesehenen Jahresbericht hinaus, sollten weitergehendeund regelmäßige Berichts- und Rechenschaftspflichtenvorgesehen werden. Eine justizielle Kontrolle der Tä-tigkeit des Europäischen Staatsanwaltes ist notwendig.Zweitens soll die Geschäftsordnung, Artikel 7KomV, die die Organisation der Arbeit der Europäi-schen Staatsanwaltschaft regelt, für alle EU-Bürger-innen und EU-Bürger aus Gründen der Transparenzeinsehbar sein; allgemeine Zuständigkeitsregelungensollen hingegen nicht dort, sondern in der Verordnungselbst geregelt werden.Drittens fehlt es im Verordnungsvorschlag an einerRechtsschutzmöglichkeit des Betroffenen, um gegendie Entscheidung der einzelstaatlichen Justizbehörde
, welche Staatsanwaltschaft im
konkreten Fall zuständig ist, gerichtlich vorzugehen.Viertens müssen die Beschuldigtenrechte auf eineinheitliches europäisches Niveau gebracht werden.Artikel 32–35 KomV genügen den rechtsstaatlichenAnforderungen insoweit nicht. Der Verordnungsvor-schlag muss Mindeststandards der Beschuldigten-rechte gewährleisten und vor allem Ermittlungsbefug-nisse gemäß dieser Standards beschränken.Der Grundsatz des „ne bis in idem“ fehlt im Kom-missionsvorschlag.Fünftens fehlen wichtige Beschuldigtenrechte, wiedas Akteneinsichtsrecht und das Recht, bei Einstellungdes Verfahrens durch die Europäische Staatsanwalt-
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Dr. Patrick Sensburg
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schaft über die Einstellung informiert zu werden,Artikel 15 IV KomV.Sechstens benötigt Artikel 17 KomV dahingehendPräzisierung, dass geklärt werden muss, was unterdem Begriff „Bestätigen“ in Bezug auf Eilmaßnahmenverstanden werden soll und ob gegebenenfalls einerechtliche Prüfung der Maßname(n) erfolgen muss.Siebtens kann nach Artikel 18 V der EuropäischeStaatsanwalt in bestimmten Fällen selbst die Ermitt-lungen leiten. Hier besteht die Gefahr des Eingriffs inmaterielles Recht, vor allem hinsichtlich der Kongru-enzverhältnisse zwischen verschiedenen Straftaten. Indiesem Fall bleibt die Regelung in Bezug auf die Kom-petenzen und Überwachungsmöglichkeit dieser Tätig-keit zu unkonkret. Außerdem ist die vorgesehene Tren-nung von Ermittlungstätigkeit und Durchführung derZwangsmaßnahmen durch die mitgliedstaatliche Be-hörde nicht praktikabel. Unklar bleibt auch, ob es einegerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwalt-schaft gibt und welches Gericht sie in diesem Falldurchführt.Achtens genügen die in Artikel 26 KomV genanntenErmittlungsmaßnahmen rechtsstaatlichen Anforderun-gen nicht. Problematisch ist im Besonderen, dass fürdie in Artikel 26 I vorgesehenen Maßnahmen nebender Verordnung auch einzelstaatliches Recht geltensoll, Artikel 26 II KomV. Damit kämen unterschiedli-che nationale Regelungen zum Tragen.Aufgrund von Artikel 26 besteht somit die Gefahrdes „Forum Shopping“ und der Absenkung der rechts-staatlichen Standards. Unklar bleibt darüber hinaus,inwieweit die Maßnahme durch ein Gericht überprüftwerden kann.Neuntens sind die Kriterien, an welchem Ort dieAnklage erfolgen soll, nicht klar erkennbar. Wün-schenswert wäre es, dass der gewöhnliche Aufenthalts-ort des Beschuldigten Priorität bei der Anklageerhe-bung bekommt. Die örtliche Zuständigkeit sollteüberdies gerichtlicher Kontrolle unterliegen.Zehntens müsste die Möglichkeit des „Vergleichs“in Artikel 29 KomV explizit zum Strafklageverbrauchführen; ein Hinweis dazu fehlt in der Vorschrift.Elftens sollte das Prozessgericht entgegen der Re-gelung in Artikel 30 KomV die Möglichkeit bekommen,zu prüfen, ob die Beweiserhebung nach rechtsstaatli-chen Grundsätzen erfolgt ist.Zwölftens birgt der Ausschluss der Kontrolle durchden Europäischen Gerichtshof bei verfahrensrechtli-chen Maßnahmen, Artikel 36 I KomV, die Gefahr un-terschiedlicher Rechtsentwicklungen und damit ver-schiedener Schutzniveaus in den Mitgliedstaaten undist daher abzulehnen.Dreizehntens fehlt dem Verordnungsvorschlag eineklare Abgrenzung, welche Kompetenz die Staatsan-wälte haben, wenn sie national und wenn sie interna-tional tätig sind.Vierzehntens besteht auch nach Artikel 27 IV desVerordnungsvorschlags die Gefahr des „Forum Shop-ping“. Der Europäische Staatsanwalt wählt demnachdas zuständige Prozessgericht.Fünfzehntens steht nach Artikel 6 V des Verord-nungsvorschlages nur fest, dass es einen AbgeordnetenEuropäischen Staatsanwalt in jedem Mitgliedstaat ge-ben soll. Wie wird dies in Deutschland umgesetzt? Inwelchem Umfang werden welche Kosten getragen?Sechzehntens verlangt die Verordnung in Artikel 5 IIdie Unabhängigkeit von nationalen Weisungen, undArtikel 6 VI schreibt den Vorrang der EuropäischenStaatsanwälte fest; hierbei ist das Weisungsrecht abernicht eindeutig formuliert.Letztens müssen die Erwägungsgründe des Verord-nungsvorschlages sicherstellen, dass die Befugnisseder Europäischen Staatsanwälte nicht immer weiterausgedehnt werden.Festzuhalten bleibt, wie die Stellungnahme aus-führt, dass der Deutsche Bundestag den Ansatz derKommission zur Errichtung einer dezentral aufgebau-ten Europäischen Staatsanwaltschaft , derenAufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der Euro-päischen Union zu bekämpfen, begrüßt. Struktur undrechtlicher Handlungsrahmen für die EU-StA müssendarauf ausgerichtet sein, effektive Ermittlungsverfah-ren unter Beachtung hoher rechtsstaatlicher Anforde-rungen zu gewährleisten und eine enge Zusammenar-beit mit den Behörden der Mitgliedstaaten zuermöglichen. Der Deutsche Bundestag sieht in demVerordnungsvorschlag der Kommission vom 17. Juli2013 vor allem unter Be-rücksichtigung des von der Ratspräsidentschaft am17. März 2014 vorgelegten Arbeitsdokuments
eine Verhandlungsgrundlage zur Errich-
tung der EU-Staatsanwaltschaft. Der Bundestag be-grüßt, dass mit dem Arbeitsdokument auch Änderun-gen zu einer Reihe von Regelungen vorgeschlagenwerden, die auch der Bundestag kritisch gesehen hatte.Schließlich bleibt mir noch einmal allen für die guteZusammenarbeit vor allem im Unterausschuss Euro-parecht zu danken. Um aber eine Unterstützung desDeutschen Bundestages für das wichtige Vorhaben ei-ner Europäischen Staatsanwaltschaft zu sichern – hierdarf ich nochmals auf den Text der Stellungnahme ver-weisen –, wäre es hilfreich, wenn Kommission und Eu-ropäisches Parlament den vorgenannten Punkten imweiteren Verhandlungsverlauf Rechnung tragen wür-den.Auch für die Zukunft hoffe ich, dass es dem Deut-schen Bundestag möglich sein wird, sich aktiv am poli-tischen Dialog zu beteiligen. Hierbei ist es vor allemwichtig, dass sich die nationalen Parlamente immerbesser vernetzen. Zu diesem Zweck ist geplant, eineKonferenz zur Europäischen Staatsanwaltschaft inParis durchzuführen. Hier sollen die Vertreter der na-tionalen Parlamente zusammen kommen und sich aus-tauschen können. Als Ergebnis könnte ein gemeinsa-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Patrick Sensburg
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mes Positionspapier aller teilnehmenden Parlamenteerstellt werden. Auf diesem Weg könnten die jeweiligennationalen Interessen sehr gut in den politischen Dia-log eingebracht werden.
Wir debattieren heute über einen fraktionsübergrei-
fenden Antrag zur Errichtung einer dezentral aufge-
bauten Europäischen Staatsanwaltschaft ,
deren Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der
Europäischen Union zu bekämpfen.
Die Europäische Staatsanwaltschaft soll dabei eine
neue Behörde bzw. Einrichtung auf Ebene der EU
werden und der Europäischen Union damit eine Kom-
petenz bei der Strafverfolgung verschaffen.
Grundsätzlich sehen wir in dem Verordnungs-
des von der Ratspräsidentschaft am 17. März 2014
vorgelegten Arbeitsdokuments eine Ver-
handlungsgrundlage.
Dennoch ist die Frage der Errichtung der Europäi-
schen Staatsanwaltschaft meines Erachtens eine sen-
sible Frage, welche losgelöst von der parlamentari-
schen Routine behandelt und grundlegend durchdacht
werden sollte. Mit dem Arbeitsdokument werden zwar
Änderungen zu einer Reihe von Regelungen vorge-
schlagen, die auch wir kritisch gesehen haben. Aller-
dings sind meines Erachtens noch eine Reihe von
wichtigen Fragen nicht abschließend beantwortet: So
soll die Errichtung einer Europäischen Staatsanwalt-
schaft ohne die gleichzeitige Errichtung eines korres-
pondierenden Verfahrensrechts erfolgen. Das halte ich
für ungenügend. Mehr noch: Die Europäische Staats-
anwaltschaft wird agieren können, ohne dem Bürger
ein Niveau des rechtsstaatlichen Schutzes gewährleis-
ten zu können, wie es unsere Strafprozessordnung
vorsieht. Hoheitliches Handeln im Bereich der Straf-
verfolgung bedarf aber unbedingt rechtsstaatlicher
Kontrolle. Zudem soll die zukünftige Europäische
Staatsanwaltschaft auch in Fragen ermitteln können,
welche in bloßem Sachzusammenhang zur Frage der
Veruntreuung von EU-Geldern stehen. Damit wird mit-
telbar eine Kompetenz in vielerlei Fragen der Wirt-
schaftskriminalität geschaffen, welche in echter Kon-
kurrenz zu den nationalen Ermittlungsbehörden steht.
In den zurückliegenden Tagen haben CDU/CSU mit
Nachdruck auf ein besseres und bürgernahes Europa
mit mehr Transparenz und weniger Bürokratie ge-
drängt. Die Errichtung einer Europäischen Staatsan-
waltschaft lässt sich damit aber nicht ohne weiteres in
Einklang bringen.
Ich meine sogar, dass vor dem Hintergrund des zu
beachtenden Subsidiaritätsprinzips dieses höher zu
bewerten ist als eine mögliche Ermächtigung zu einer
Europäischen Staatsanwaltschaft im Vertrag von
Lissabon, auf welche sich die Kommission bei ihrem
Verordnungsentwurf bezieht. Europäische Integration
bedeutet nicht, jede nur denkbare und vertraglich zu-
lässige Regelung auch zu ergreifen. Man könnte auch
aus guten Gründen davon absehen.
Diese Ansicht teilten auch nicht weniger als
16 Staaten der Europäischen Union, welche im Zuge
der Konsultation über die Errichtung einer Europäi-
schen Staatsanwaltschaft Subsidiaritätsrüge erhoben
haben. Die Bundesrepublik Deutschland war nicht
darunter, sodass der Vorschlag des Rates für diese
Verordnung sich im weiteren Gesetzgebungsverfahren
befindet.
Ich selbst stehe der Verordnung eher kritisch gegen-
über. Das Ziel der Verhinderung von Veruntreuungen
europäischer Mittel ist ohne Frage ein legitimes Ziel.
Dennoch sollte nicht ohne Not eine neue europäische
Behörde im Kernbereich staatlichen Hoheitsanspru-
ches geschaffen werden. Auch andere Mitgliedstaaten,
wie zum Beispiel Großbritannien und Irland, stehen
dem kritisch gegenüber und nehmen erst gar nicht an
der EU-StA teil.
Unsere nationalen Ermittlungs- und Strafverfol-
gungsbehörden sind in der Lage, einen vergleichbaren
Schutz der finanziellen Interessen der Union und eine
gleichwertige Verfolgung entsprechender Straftaten zu
gewährleisten. Darüber hinaus macht die Unterstüt-
zung durch Eurojust, Europol und OLAF die Errich-
tung einer EU-StA meines Erachtens entbehrlich.
Mit der Errichtung der EU-StA wird erstmalig auf
dem Gebiet des Strafrechts eine Kernkompetenz der
Mitgliedstaaten teilweise auf eine Einrichtung der
Union übertragen.
Dem wäre durchaus noch zu folgen, wenn es ein
europäisches Verfahrensrecht und ein Rechtsschutz-
system gäbe, welches unseren rechtsstaatlichen Anfor-
derungen genügen würde. Dem ist jedoch leider nicht
so.
Es böte sich an, wofür ich plädiere, auf europäi-
scher Ebene nach der Konstituierung der neuen Euro-
päischen Kommission diese Frage noch einmal grund-
legend zu beraten und insbesondere die hier nur
kursorisch vorgetragenen Einwände nochmals mit
Nachdruck in die Debatte einfließen zu lassen. Zudem
sollte auch die Frage, wie die Kommission mit der Si-
tuation umgeht, dass nicht alle Mitgliedstaaten an der
EU-StA teilnehmen, noch einmal durchdacht werden.
Unabhängig davon müssen im weiteren Verhand-
lungsverlauf zumindest die von uns wie im Antrag ge-
forderten Belange durch die Bundesregierung durch-
gesetzt werden.
Jährlich versickern circa 700 Millionen Euro, diefür die Förderung von EU-Projekten gedacht sind. DieDunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Zahl deraufgeklärten Fälle ist gering, da derzeit zwischen dennationalen Strafrechtssystemen und den Unionsorga-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Katarina Barley
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nen, die nicht strafrechtlich ermitteln dürfen, eine Lü-cke klafft.Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EUtreffen nicht nur den EU-Haushalt, sondern unmittel-bar auch die europäischen Steuerzahler. Deshalbbegrüßen wir grundsätzlich die Errichtung einer Euro-päischen Staatsanwaltschaft. Sie kann die Zusammen-arbeit der Ermittlungsbehörden auf EU-Ebene verbes-sern, um grenzüberschreitende Fälle von Betrug undKorruption mit EU-Mitteln aufzudecken.Damit der unionsweite Betrug am europäischenSteuerzahler besser strafrechtlich verfolgt werdenkann, hat die Europäische Kommission im Juli letztenJahres einen Vorschlag zur Errichtung einer Europäi-schen Staatsanwaltschaft vorgelegt. Es ist sinnvoll undrichtig, dass die Europäische Union die Verschwen-dung ihrer Fördergelder künftig mit einer eigenenStrafverfolgungsbehörde bekämpfen kann.Leider war der Vorschlag der Kommission so unzu-länglich und an vielen Stellen sogar problematisch,dass mehrere nationale Parlamente ihn nicht mittra-gen wollen. Da die grenzüberschreitende Betrugsbe-kämpfung aber nur effektiv arbeiten kann, wenn sie lü-ckenlos ist, das heißt wenn sich alle Mitgliedstaatenbeteiligten, bedarf es detaillierter Nachbesserungen.Die griechische Ratspräsidentschaft hat hier guteArbeit geleistet und wesentliche Änderungsvorschlägeerarbeitet. Viele dieser Vorschläge haben wir im Deut-schen Bundestag fraktionsübergreifend aufgegriffenund weiterentwickelt. Denn die Europäische Staats-anwaltschaft braucht zwar weitreichende Befugnissefür ihre Ermittlungen, diese dürfen aber auf keinenFall zulasten der Beschuldigten gehen und zu einerAbsenkung rechtsstaatlicher Standards führen. Befug-nisse und Kontrollrechte müssen detailliert beschrie-ben werden und sich die Waage halten. Wir forderndeshalb die Bundesregierung auf, sich bei den weite-ren Beratungen – Verhandlungen im Rat – dafür einzu-setzen, dass die Berichts- und Rechenschaftsplicht derEuropäischen Staatsanwaltschaft weiter gestärkt wird,zum Beispiel durch ein gemeinsames Kontrollrechtvom Europäischen Parlament und den nationalen Par-lamenten. Die Stellung und die Aufgaben der soge-nannten Abgeordneten Europäischen Staatsanwältemüssen präzisiert werden, damit keine Konfliktfällezwischen dem Weisungsrecht der Europäischen Staats-anwaltschaft und der Unabhängigkeit von nationalenBehörden entstehen. Die Unabhängigkeit der Abge-ordneten Europäischen Staatsanwälte sollte außerdemdurch genau festgelegte Einstellungsvoraussetzungenund Entlassungsgründe untermauert werden. Die Eu-ropäische Staatsanwaltschaft sollte bei Straftaten zumfinanziellen Nachteil der EU nicht die ausschließlicheZuständigkeit haben – wie beim Vorschlag der Kom-mission vorgesehen –, sondern eine mit den Mitglied-staaten konkurrierende mit einem Evokationsrecht derEuropäischen Staatsanwaltschaft – das würde dazubeitragen, dass sich die Europäische Staatsanwalt-schaft auf die Fälle konzentriert, die auf EU-Ebenebesser zu ermitteln sind. Entsprechend dem Grundsatz„ne bis in idem“ sollte sich ein Beschuldigter nicht fürdieselbe Tat vor einem nationalen Gericht und derEuropäischen Staatsanwaltschaft verantworten müs-sen. Die Entscheidung, vor welchem Gericht sich einBeschuldigter verteidigen muss, sollte einer gerichtli-chen Kontrolle unterliegen. Die Auswahl des Gerichts-ortes muss nach transparenten Kriterien und bereitsim Ermittlungsverfahren festgelegt werden.Durch Regelungen zu präzisieren sind außerdem dierechtlichen Befugnisse bei grenzüberschreitenden Er-mittlungsmaßnahmen, damit keine unklare Gemenge-lage von europäischen und einzelstaatlichen Regelun-gen entsteht. Klarer Regeln bedarf es auch bezüglichder Einstellung und Wiederaufnahmen von Ermitt-lungsverfahren.Vor allem bezüglich der Beschuldigtenrechte mussein hoher Mindeststandard gewährleistet sein. Auf ei-nem hohen Level ist hier eine weitere Harmonisierungder nationalen Rechtsordnungen notwendig.Wenn es uns gelingt, diese Eckpunkte umzusetzen,können wir der Europäischen Union ein effektives In-strument zur Betrugsbekämpfung an die Hand geben,das gleichzeitig mit den nationalstaatlichen Rechts-ordnungen in Einklang steht und die Verfahrensrechtein der EU stärkt und harmonisiert. Nur so kann es unsgelingen, alle Mitgliedstaaten in ein Boot zu holen unddie rechtsstaatlichen Standards der EU dauerhaft zuverbessern. Davon wird am Ende nicht nur das Budgetder EU, sondern auch die EU als Rechtsgemeinschaftprofitieren. Und der EU stehen erhebliche Mittel fürzusätzliche sinnvolle Projekte zur Verfügung.
Vor kurzem diskutierte eine bekannte Zeitung Geld-verschwendung auf EU-Ebene und nannte als ein Bei-spiel die Europäische Staatsanwaltschaft.Überflüssig und vor allem teuer? Das genaueGegenteil ist der Fall. Denn Straftaten, die gegen die fi-nanziellen Interessen der EU gerichtet sind, belastenunmittelbar die europäischen Steuerzahler. DurchBetrug und andere Vermögensstraftaten gehen demEU-Haushalt in jedem Jahr Hunderte Millionen Euroverloren. Die Kommission geht aufgrund von Erhe-bungen in den Mitgliedstaaten sogar von circa500 Millionen Euro in jedem der letzten drei Jahre aus.Das wären 500 Millionen Euro, die nicht in die Ver-besserung der Lebensbedingungen in den Kommunenfließen können und die damit durch Steuergelder aus-geglichen werden müssen. Und damit ist klar: Die Er-richtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, dieStraftaten zulasten des EU-Haushalts effektiv verfolgt,wird zu einer effektiveren Verwendung der EU-Mittelbeitragen. Das ist der wesentliche Grund, warum dieSPD-Fraktion und der Deutsche Bundestag die ge-plante Einrichtung einer Europäischen Staatsanwalt-schaft ausdrücklich begrüßen.Zu Protokoll gegebene Reden
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3468 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Dr. Johannes Fechner
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Trotzdem gibt es einige Punkte, an denen der Ver-ordnungsvorschlag unserer Ansicht nach noch verbes-sert werden kann. Deshalb haben alle Fraktionen desDeutschen Bundestages diese Stellungnahme erarbei-tet, die heute hier zur Abstimmung steht. Ausdrücklichlobe und bedanke ich mich bei den Fraktionen derUnion, der Grünen und der Linken für die gute undkonstruktive Zusammenarbeit.Ich erläutere im Folgenden kurz unsere wesentli-chen Kritikpunkte:Statt der Ernennung des Leiters der EuropäischenStaatsanwaltschaft und seiner Vertreter/-innen durchden Rat – mit Zustimmung des Parlaments – regen wirein Wahlverfahren an, das die demokratische Le-gitimation sicherstellt. Der Leiter der EuropäischenStaatsanwaltschaft und gegebenenfalls dessen Stell-vertreter/-innen könnten vom Europäischen Parlamentdirekt gewählt werden.Die Entlassungsgründe für die EuropäischenStaatsanwälte bedürfen einer näheren Präzision, umwillkürlichen Entlassungen vorzubeugen.Klargestellt werden muss außerdem, dass die Tätig-keit der Europäischen Staatsanwaltschaft an Rechtund Gesetz gebunden ist. Der Bundestag empfiehlt,dass dieser wesentliche Rechtsgrundsatz ausdrücklichaufgenommen wird.Die Entscheidung, ob die Europäische Staatsan-waltschaft aufgrund einer Zuständigkeit kraft Sachzu-sammenhangs oder die Staatsanwaltschaft des Mit-gliedstaates für das Verfahren zuständig ist, mussgerichtlich überprüfbar sein, da diese Entscheidungfür die Beschuldigten erhebliche Auswirkungen habenkann.Die Geschäftsordnung der Europäischen Staatsan-waltschaft muss für die Bürger einsehbar sein. DieGrundzüge der Zuständigkeit innerhalb der Behördesollten allerdings bereits in der Verordnung geregeltwerden.Im Interesse des Beschuldigten muss die für denkonkreten Fall anwendbare Rechtsordnung bereits imErmittlungsverfahren und nicht erst nach Abschlussder Ermittlungen bekannt sein. Bei der Auswahl desGerichts darf die Europäische Staatsanwaltschaft keinfreies Ermessen haben, damit der Gefahr entgegen-getreten werden kann, dass Beschuldigte vor den Ge-richten angeklagt werden, wo ihre Rechte am gerings-ten sind.Die Möglichkeit, dass die Zentrale der Europäi-schen Staatsanwaltschaft die Ermittlungen selbst stattder in den Mitgliedstaaten tätigen EuropäischenStaatsanwälte leitet, wird von uns kritisch gesehen, dain Bezug auf das Verfahren noch erhebliche Unklarhei-ten bestehen.Da die Regelungen zu den Ermittlungsbefugnissennicht zu Konflikten mit einzelstaatlichen Verfahrens-ordnungen führen sollen, soll die Europäische Staats-anwaltschaft nur solche Ermittlungsmaßnahmen nachArtikel 26 Absatz 1 des Verordnungsvorschlages an-ordnen können, die auch das nationale Recht vorsieht.Im Fall einer Einstellung des Verfahrens muss derBeschuldigte von der Einstellung in Kenntnis gesetztwerden. Eine entsprechende Regelung dazu fehlt bis-her im Verordnungsvorschlag.Bei Einstellung des Verfahrens mangels sachdienli-cher Beweise muss die Möglichkeit einer Wiederauf-nahme des Verfahrens eingeführt werden.Gegen Ermittlungsmaßnahmen der EuropäischenStaatsanwaltschaft müssen hinreichende Rechtsschutz-möglichkeiten bestehen. Justizielle Kontrolle muss be-sonders in den Fällen sichergestellt werden, in denendie europäische Staatsanwaltschaft auf Grundlage derVorschriften in der Verordnung ermittelt.Das zuständige Gericht der Mitgliedstaaten mussdie Beweisanträge der Europäischen Staatsanwalt-schaft überprüfen dürfen, und zwar zum einen, ob dieBeweise nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erhobenwurden, und muss zum anderen solche Beweise ableh-nen dürfen, deren Verwertung gegen mitgliedstaatli-ches Recht verstoßen würde.Bei Berücksichtigung dieser Kritikpunkte könnteaus unserer Sicht eine effektive Bekämpfung der Straf-taten zulasten des EU-Haushalts bei gleichzeitigerVerbesserung der rechtsstaatlichen Standards erreichtwerden.Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ausdrück-lich sagen, dass wir als SPD-Fraktion und ich als Be-richterstatter hoffen, dass die Europäische Staatsan-waltschaft wie in Artikel 86 AEUV vorgesehen – mitmöglichst allen Mitgliedstaaten – errichtet werdenkann.Daneben halte ich es für wichtig, dass die Kritik-punkte des Bundestages Gehör finden, und bitte Siedaher heute um Zustimmung für unsere Stellung-nahme.
Wir reden heute über etwas Seltenes und etwas Selt-sames.Kommen wir zum Seltenen: Mit der vorliegendenBeschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschus-ses sowie dem gleichlautenden Antrag der FraktionDie Linke gibt der Bundestag der Bundesregierung ei-nen Verhandlungsauftrag bei den Debatten zur Verord-nung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwalt-schaft. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll fürDelikte zum Nachteil der Europäischen Union, konkre-ter des EU-Haushalts, zuständig sein. Nach Artikel 23Absatz 3 Satz 2 GG muss die Bundesregierung dieStellungnahme des Bundestages bei den Beratungenberücksichtigen. Nach § 8 Absatz 2 EUZBBG muss dieBundesregierung die Stellungnahme sogar ihren Ver-handlungen zur Grundlage legen. Und nach § 8Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3469
Halina Wawzyniak
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Absatz 4 EUZBBG muss die Bundesregierung einenParlamentsvorbehalt einlegen, wenn der Beschlussdes Bundestages in einem seiner wesentlichen Belangenicht durchsetzbar ist.Eine solche Mitsprache des Bundestages bei Ver-handlungen über Verordnungen ist nicht häufig. Ichfinde aber, wir alle sollten dieses Instrument viel inten-siver nutzen. Denn es macht deutlich: Nationale Re-gierungen nehmen entscheidend auf EuropäischeRechtsetzungsakte Einfluss. Mit dem Finger nachBrüssel zeigen, bedeutet eben eigentlich, dass auchzwei Finger zurückzeigen.Wir reden heute also nicht über die Errichtung derEuropäischen Staatsanwaltschaft, sondern über Be-dingungen, unter denen eine Europäische Staatsan-waltschaft aus Sicht des Bundestages zustimmungs-fähig ist. Welche Bedingungen das sind, das werdendie Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionenhier sicherlich im Detail noch vortragen. Seien Siesich aber sicher, wir werden genau darauf achten, obdie formulierten Bedingungen eingehalten werdenoder nicht.Ich habe bereits darauf verwiesen, dass die Kolle-ginnen und Kollegen sicherlich die Details der Bedin-gungen für eine Zustimmung zur Europäischen Staats-anwaltschaft erklären werden. Wenn ich mich da aufdie Kolleginnen und Kollegen verlasse, dann hat dasetwas mit dem Seltsamen oder, besser gesagt, Absur-den zu tun.Wie Sie sicherlich gemerkt haben, liegen zweigleichlautende Vorlagen vor. Wenn Sie aufmerksam ge-lesen haben, wird Ihnen aufgefallen sein, dass dieseauch wortgleich sind. Das mag insbesondere die Zu-schauerinnen unter Ihnen verwundern. Und, ja, es istauch verwunderlich. Es liegen zwei Vorlagen vor, weilwir im Unterausschuss Europarecht sehr kollegial undgemeinsam an einer gemeinsamen Stellungnahme ge-arbeitet haben. Meine Fraktion hat konkrete Formulie-rungsvorschläge zur Qualifizierung der Stellung-nahme des Deutschen Bundestages unterbreitet, diesich wortwörtlich in beiden Dokumenten wiederfinden.Mit anderen Worten, beide Anträge tragen auch unsereHandschrift. Es ist also festzustellen, dass hier einegroße Gemeinsamkeit aller Fraktionen gegeben ist. Esliegt auf der Hand, dass hier eine gemeinsame Stel-lungnahme aller Fraktion hätte verabschiedet werdenkönnen.Doch dem ist nicht so. Ich will ausdrücklich alleKolleginnen und Kollegen des Unterausschusses Eu-roparecht aus meiner Kritik herausnehmen. Ein ge-meinsamer Antrag aller Fraktionen scheiterte an derFraktionsführung der CDU und hier an der Kauder-Doktrin. Diese besagt, dass keine gemeinsamen inhalt-lichen Anträge mit der Linken eingebracht werdendürfen. Ich muss schon sagen: Diese Kauder-Doktrinder Unionsfraktionsführung ist ein wenig ballaballaund rational nicht zu erklären. Sie hat es zu verantwor-ten, dass hier zwei gleichlautende Vorlagen vorliegen.Ich hätte gern demonstriert, dass alle Fraktionen sichin der Kritik an der Europäischen Staatsanwaltschafteinig sind. Das ist mir aber nicht möglich. Ich will malklar und deutlich sagen: Diese Kauder-Doktrin scha-det der Demokratie. Diese Kauder-Doktrin schadetdem Parlamentarismus. Diese Kauder-Doktrin ist an-tidemokratisch. Sie führt zu Politikverdrossenheit,denn es ist nicht ernsthaft zu vermitteln, warum beigleichlautendem Inhalt von Anträgen es unmöglichsein soll, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen undhier abstimmen zu lassen. Kurz zusammengefasst:Dieser Vorgang ist einfach nur peinlich, und Sie soll-ten sich schämen.Die Chance, dies und andere Kritikpunkte in einergemeinsamen Stellungnahme aller Fraktionen zu be-schließen, wurde vertan. Das tut auch den weiterenVerhandlungen um die Europäische Staatsanwalt-schaft nicht gut. Die Verantwortung dafür trägt dieFraktionsspitze der Union, die sich somit auch als An-tieuropäer geoutet haben.
Auch wir sind dafür, dass Straftaten zum Nachteilder Europäischen Union wirksamer verfolgt werden.Der Vorschlag des EU-Rates für die Verordnung überdie Europäische Staatsanwaltschaft, EPPO, ist einebrauchbare Diskussionsgrundlage. Sie muss gründlichberaten werden. Schließlich soll sie unmittelbar an-wendbares Recht für die ganze EU schaffen, Bürgerin-nen und Bürger strafrechtlich verfolgt und mit Krimi-nalstrafen bestraft werden. Nötig sind eine ganzeReihe Änderungen und Ergänzungen.Die Stellungnahme des deutschen Bundestageskommt spät. Zu lange brauchte das deutsche Parla-ment, um sich zu konstituieren und arbeitsfähig zuwerden. Gut ist, dass alle vier Fraktionen gemeinsamden vorliegenden Antrag erarbeitet haben. Damitkönnte er auch mehr Gewicht in den Diskussionen imEU-Rat haben. Gar nicht gut ist, dass der Antrag nurvon drei Fraktionen eingebracht wird und unterschrie-ben ist. Die Fraktion Die Linke wurde von der Unionwillkürlich ausgegrenzt. Das ist ungehörig und nichtdemokratisch. Die Linke hat kollegial und sachdien-lich mit eigenen Vorschlägen, die im Antrag Aufnahmefanden, an der Erstellung mitgearbeitet. Wir verurtei-len dies und werden deshalb auch dem gleichlautendenAntrag der Linken zustimmen.Die EU gibt viel Geld aus, das sie aus den Steuer-einnahmen der Mitgliedstaaten eingenommen hat. Wirsetzen uns dafür ein, dass das viele Geld auch vernünf-tig für vertretbare Zwecke im Interesse der Bevölke-rung ausgegeben wird. Darüber, ob dies immer ge-lingt, wird viel gestritten. Aber besonders ärgerlich ist,wenn geschätzte 700 Millionen Euro im Jahr durchVeruntreuung oder in anderer strafbarer Weise indunklen Kanälen verschwinden. Da dürfen wir nichtlänger einfach zusehen. Es ist auch ungerecht, wenn inMitgliedstaaten der EU die Aufklärung und VerfolgungZu Protokoll gegebene Reden
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3470 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Hans-Christian Ströbele
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von Straftaten zum Nachteil der EU ungleich konse-quent verfolgt werden. Damit wird zudem Vorurteilengegen europäische Völker und Skepsis gegenüber derganzen EU Vorschub geleistet.Eine Europäische Staatsanwaltschaft kann ein Mit-tel sein, solche Straftaten konsequenter zu verfolgenund den Schaden zu mindern. Sie kann dazu beitragen,dass unabhängige Abgeordnete Europäische Staatsan-wälte Strafverstöße gleich konsequent nach gleichenKriterien ermitteln, anklagen und vor Gericht zur Ab-urteilung bringen. Dieses Ziel ist schwer zu erreichen in einer Unionvon Staaten mit großen Unterschieden in den Rechts-traditionen, im Straf- und Strafprozessrecht.Die für Straftaten zum Nachteil der EU einschlägi-gen Strafgesetze sind in Ländern häufig verschieden.Dies gilt auch für den Grad der Unabhängigkeit derStaatsanwälte in der jeweiligen Justiz, für die Rechteder Beschuldigten, für die Zulassung von Beweismit-teln und sogar für die Möglichkeit, Beschuldigter zusein, ob Unternehmen oder nur natürliche Personen.Wir haben uns besonders dafür eingesetzt, dass dieEuropäischen Staatsanwälte nicht nur dem EU-Parla-ment rechenschaftspflichtig und verantwortlich sind,sondern auch von diesem gewählt werden. Wir habeneingebracht, den „deal“, also die Beendigung einesStrafprozesses durch einen Vergleich, nur unter denstrengen Vorgaben der deutschen Rechtsprechung,also unter Mitwirkung des Gerichts und mit Transpa-renz, zulässig sein soll. Wichtig sind für uns auch dieGarantie der Beschuldigtenrechte und die rechtsstaat-liche Begrenzung der Zulassung von Beweismitteln.Eigentlich wäre es besser, zunächst die Straf- undStrafprozessregelungen der Mitgliedstaaten weitge-hender zu harmonisieren, bevor grenzüberschreitendeStrafverfolgung durch eine gemeinsame Behörde ein-geführt wird. Aber dies scheint noch viel Zeit zu brau-chen.Wir werden genau verfolgen, ob diese und die zahl-reichen anderen Forderungen aus dem Antrag desBundestages in die endgültige Fassung des Vorschla-ges des Rates übernommen werden. Vom Ergebniswerden wir abhängig machen, ob wir diesen mittra-gen. Am Wochenende habe ich erfahren, dass EU-Gel-der zur Finanzierung eines Nachbarschaftsheimes inmeinem Wahlkreis beitragen. Für solch gute Zweckekönnten EU-Finanzen durch eine EU-Staatsanwalt-schaft geschützt werden.
Tagesordnungspunkt 22 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vorschlag für
eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Euro-
päischen Staatsanwaltschaft. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1658, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung einstimmig, mit den Stimmen aller
Fraktionen, angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1646 zu
dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die
Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen
von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion bei Zustim-
mung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Antiterrordateigesetzes und ande-
rer Gesetze
Drucksache 18/1565
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht zur Evaluierung des Antiterrordatei-
gesetzes
Drucksache 17/12665
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Zwei Erkenntnisse liegen dieser Debatte über dieAntiterrordatei und die Rechtsextremismusdatei zu-grunde. Erstens, die Bedrohung, die von Extremistenfür unseren Staat und unsere Demokratie ausgeht, istsehr ernst zu nehmen. Das zeigt die Aufarbeitung derStraftaten, die dem rechtsextremistischen TerrortrioNSU zugerechnet werden, durch Untersuchungsaus-schüsse und das Gerichtsverfahren in München. Daszeigen aber auch die alarmierenden Nachrichten überrund 320 Islamisten, die in den vergangenen beidenJahren als islamistische Kämpfer aus Deutschlandnach Syrien gereist sind und mit einiger Sicherheit zumTeil auch wieder nach Deutschland zurückkehren – ra-dikalisiert, mit Kampferfahrung und entsprechenderAusbildung im Umgang mit Waffen. Deshalb müssenwir unseren Sicherheitsbehörden die richtigen Instru-mente in Form von gemeinsamen Dateien an die Handgeben, die nachweislich effektiv und erfolgreich zurBekämpfung von Terrorismus und gewaltbereitem Ex-tremismus beitragen. Zweitens, der Weg eines verbes-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3471
Clemens Binninger
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serten Informationsaustauschs zwischen den Sicher-heitsbehörden in Bund und Ländern – also vor allemPolizei und Nachrichtendiensten – ist mit dem Grund-gesetz vereinbar. Daran gibt es keinen Zweifel. Auchdeshalb gilt es, am Instrument der gemeinsamen Da-teien festzuhalten.Genau das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf. Wir halten an dieser Form des Datenaustauschsfest. Wir passen die Regelungen zur Antiterrordateiund zur Rechtsextremismusdatei an die Vorgaben desBundesverfassungsgerichts an, und wir wollen dieAuswerte- und Analysefähigkeit der Antiterrordatei inAnlehnung an die Rechtsextremismusdatei ausbauen.Diese Verbunddateien geben unseren Sicherheitsbe-hörden die Möglichkeit, auf wesentliche Informationenüber gewaltbereite Extremisten, die oft nur bruch-stückhaft bei den Behörden in Bund und Ländern vor-liegen, zurückzugreifen und aus diesen Mosaiksteinender Erkenntnisgewinnung ein aussagekräftiges Bildzusammenzusetzen. Die Erfahrungen mit den Dateienzeigen, dass die gemeinsamen Dateien auch eine ArtInhaltsverzeichnis sind, in denen man die vorhandenenErkenntnisse recherchiert, um einen weiteren Informa-tionsaustausch zwischen den Behörden zu organisie-ren. Die Dateien unterscheiden dabei zwischen Grund-daten – also etwa Namen, Geburtsdatum und -ort,Staatsangehörigkeit, Sprache oder Lichtbilder – underweiterten Grunddaten – also etwa Telekommunikati-onsanschlüsse, Bankverbindungen, Familienstand,Ausbildung, Fahrerlaubnisse oder ähnlichem. Wichtigist dabei, dass wir keine neuen Daten erheben, wederbei der Polizei noch bei den Nachrichtendiensten. Wirschaffen keine neuen Befugnisse zur Datenerhebung.Diese gemeinsamen Dateien beziehen sich auf Daten,die bereits vorhanden und in verschiedenen polizeili-chen und nachrichtendienstlichen Informationssyste-men gespeichert sind.In der Vergangenheit gab es das Problem, dass dievorliegenden Erkenntnisse nicht ausreichend vernetztwerden konnten. Manchmal dauerte es Wochen odergar Monate, bis eine wichtige Information zwischenden Behörden ausgetauscht wurde – das hat der NSU-Untersuchungsausschuss herausgearbeitet. Wenn 36oder 37 Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern fürdie Bekämpfung von Extremismus und extremistischenStraftaten zuständig sind, kann die Antwort nicht sein,dass wir das Wissen voreinander abschotten, auf mög-lichst viele Stellen verteilen. Die Antwort kann nichtsein, dass keiner mit dem anderen spricht, Informatio-nen nur im Ausnahmefall ausgetauscht werden undman sich hinterher wundert, wenn es zu spät ist. Des-halb ist es wichtig, dass die Daten für beide Bereiche– den gewaltbereiten Rechtsextremismus und den Isla-mismus – jeweils in einer zentralen und standardisier-ten Datei gespeichert werden.Dass das sogenannte Trennungsgebot dieser Art desDatenaustauschs nicht entgegensteht und ausrei-chende Vorkehrungen zum Schutz der personenbezo-genen Daten getroffen sind, hat das Bundesverfas-sungsgericht im vergangenen Jahr in den Blickgenommen. Die Korrekturen, die das Gericht an denbestehenden Gesetzen gefordert hat, gehen wir mitdem vorliegenden Entwurf an. Dabei geht es unter an-derem um die Definition bestimmter Merkmale, umden Rahmen, in dem Kontaktpersonen gespeichertwerden können, um verdeckte Speicherungsmöglich-keiten oder die Inverssuche.Die Antiterrordatei wurde auch aufwändig evalu-iert. Solche Evaluationen sind wichtig, weil sie zeigen,wie Gesetze in der Praxis wirken und an welchen Stel-len Bedarf für Nachbesserungen oder Korrekturen be-steht. Das betrifft einerseits die Technik, andererseitsdie Gesetzgebung. Die Ergebnisse dieser Evaluationmöchte ich hier nicht im Einzelnen ansprechen. ZweiPunkte scheinen mir aber wichtig.Zum einen hat die Evaluation gezeigt, dass es ausSicht der Nutzer der Datei in den Sicherheitsbehördenein wichtiger Fortschritt für ihre Arbeit wäre, wenn sieauch komplexere Abfragen über den Datenbestanddurchführen könnten. Etwa dass zum Beispiel Verknüp-fungen zwischen Personen, Gruppierungen und Objek-ten direkt in der Datei hergestellt werden können.Erste Erfahrungen mit solchen gemeinsamen Projek-ten gibt es auch schon mit der Rechtsextremismusda-tei. Wir haben deshalb vor, mit diesem Gesetz eine ähn-liche Möglichkeit – wenn auch in eingeschränkteremMaße – für die Antiterrordatei zu schaffen.Die Evaluierung der Antiterrordatei hat zum ande-ren gezeigt, dass die Datei als ein wichtiges Elementzur verbesserten Zusammenarbeit und Kommunikationzwischen den Sicherheitsbehörden in Deutschland bei-getragen hat. Und die Evaluierung der Rechtsextre-mismusdatei – da bin ich sehr zuversichtlich – wirddies in den nächsten Jahren zeigen.Natürlich können dabei gemeinsame Dateien nurein Element einer verbesserten Zusammenarbeit sein,das durch weitere Formen der Zusammenarbeit er-gänzt werden muss. Das ist in den vergangenen Jahrenmit der Etablierung der gemeinsamen Zentren, in de-nen Mitarbeiter verschiedener Sicherheitsbehördenzusammenarbeiten, erfolgreich gelungen. Eventuellvorhandenes Misstrauen wurde abgebaut, und Exper-tennetzwerke haben sich intern herausgebildet.Genau diese Zusammenarbeit ist der Weg, den wirin einer globalisierten und vernetzten Welt, in der Be-drohungen und Gefährdungslagen immer komplexerwerden, gehen müssen. Und das tun wir mit diesemGesetz.
Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf ei-nes Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzesund anderer Gesetze. Nach dem Urteil des Bundesver-fassungsgerichts, BVerfG, vom 24. April 2013 wirddiese Änderung notwendig, und ich bin mir sicher,dass wir die notwendigen Änderungen bis zur durchZu Protokoll gegebene Reden
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3472 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Uli Grötsch
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das Verfassungsgericht gesetzten Frist zum 31. Dezem-ber dieses Jahres auch bewerkstelligen können.Die Antiterrordatei, ATD, hat sich seit ihrer Einfüh-rung in jeglicher Hinsicht bewährt: Schon alleine derUmstand, dass sie von den deutschen Sicherheitsbe-hörden wie dem Bundeskriminalamt, der Bundespoli-zeidirektion, den Landeskriminalämtern, den Verfas-sungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, demMilitärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrich-tendienst und dem Zollkriminalamt als Verbunddateiverwendet werden kann, umreißt die Bedeutung undden Stellenwert für die Arbeit der genannten Sicher-heitsbehörden eindrucksvoll. Vernetzt zu arbeiten unddamit effektiv bei der Bekämpfung des internationalenTerrorismus arbeiten zu können, sind wichtigeAspekte, die den nachweisbaren Erfolg der ATD kenn-zeichnen.Wir alle wissen, dass das Bundesverfassungsgerichtdie Verfassungsmäßigkeit der ATD im Grundsatz wieerwartet bestätigt hat. Überraschend ist das sicherlichnicht. Schließlich speichert die ATD keine neuen Da-ten, sondern führt bereits gespeicherte Erkenntnisseder jeweiligen Behörden zusammen.Auch der ebenfalls heute auf der Tagesordnung ste-hende und im Gesetz vorgesehene Evaluierungsberichtnach fünf Jahren bestätigt, dass die ATD den Informa-tionsaustausch zwischen den Behörden in der Terroris-musbekämpfung verbessert hat. Das halte ich für einensehr wichtigen Aspekt des Evaluierungsberichts: DieEinführung ist ein Erfolg und schafft mehr Effektivitätbei der Bekämpfung des internationalen Terrorismusin all seinen Erscheinungsformen.Natürlich gibt es auch Bedenken im Hinblick aufden Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte einesMenschen. Jeder Eingriff muss natürlich einer Güter-abwägung standhalten.Es gibt aber auch geradezu wahnhafte Gerüchteüber willkürliche Speicherungen und Abfragen vonPersonendaten. Deshalb möchte ich einen für michentscheidenden Satz aus dem Evaluierungsbericht zi-tieren:„Von der Eilfallregelung nach § 5 Absatz 2 ATDG,wonach die abfragende Behörde unmittelbaren Zugriffauf die erweiterten Grunddaten nehmen darf, wenndies aufgrund bestimmter Tatsachen zur Abwehr einergegenwärtigen Gefahr unerlässlich ist, wurde nur eineinziges Mal Gebrauch gemacht.“Das heißt: Im Berufsalltag wird höchst sensibel mitdiesen Daten umgegangen. Kein Wunder also, dass dieEilfallregelung vom BVerfG nicht beanstandet wurde.Gemäß dem Urteil des BVerfG nimmt die Bundesre-gierung einige „Nachjustierungen“ in der konkretenAusgestaltung von einzelnen Vorschriften vor, etwadass nur derjenige Unterstützer einer terrorismusun-terstützenden Gruppierung gespeichert werden darf,der auch willentlich und in Kenntnis der terroristi-schen Tätigkeiten diese Gruppierung fördert.Außerdem wird künftig das Merkmal des „Befür-wortens“ von Gewalt konkretisiert: Es muss Anhalts-punkte dafür geben, dass die Person tatsächlich Ge-walt anwenden, unterstützen oder vorbereiten will.Auch die Regelungen zur sogenannten Inverssuchewerden ergänzt. Hierbei handelt es sich um merkmals-bezogene Recherchen in den erweiterten Grunddaten,die der abfragenden Behörde im Trefferfall weiterfüh-rende Informationen vermitteln und unmittelbar Zu-gang zu den einfachen Grunddaten verschaffen. Daswird es nicht mehr geben, denn künftig wird der Zu-griff bei der Inverssuche nur auf die Grunddaten, dieNennung der informationsführenden Behörde und dasAktenzeichen beschränkt.Neu ist auch, dass das BKA erstmals zum 1. August2017 und dann alle drei Jahre dem Bundestag und derÖffentlichkeit über den Datenbestand und die Nutzungder ATD berichten muss.Daten, die durch Eingriffe in das Telekommunika-tionsgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnunggewonnen wurden, werden künftig nur noch verdeckteingestellt, sodass sie nur angezeigt werden dürfen,wenn die datenbesitzende Behörde aufgrund einer An-frage nach Vorliegen der Übermittlungsvoraussetzun-gen die Daten freigegeben hat.Ich bin mir sicher, dass diese Änderungen dieTransparenz der ATD erhöhen und damit die noch im-mer vorhandenen Ängste in der Bevölkerung ausräu-men können.Entsprechend werden die genannten Änderungenauch für die Rechtsextremismusdatei vorgenommen,weil das Urteil des BVerfG auch diese Verbunddateibetrifft.Eine weitere Änderung im ATD-Gesetz betrifft dieerweiterte Datennutzung, die auch bereits in derRechtsextremismusdatei möglich ist. Diese soll nun ge-mäß der Koalitionsvereinbarung auch für die ATD ge-schaffen werden. Bei einer erweiterten Nutzung kanndie beteiligte Behörde zur Terrorismusbekämpfungeinzelfallbezogen Daten zum Beispiel zu Personen,Gruppierungen und Institutionen sammeln, statistischauswerten und Zusammenhänge herstellen.Diese Recherchemöglichkeit wird aufgrund derweitreichenden Eingriffe nur zeitlich befristet möglichund muss auf Antrag angeordnet bzw. dann auch ge-nehmigt werden; die Zugriffsberechtigung ist auf einenengen Personenkreis beschränkt.Auch der Evaluierungsbericht sagt aus, dass erwei-terte „Auswerte- und Analysefunktionen“ erforderlichseien und „die fehlende Möglichkeit, Daten innerhalbder ATD miteinander zu verknüpfen und weiterfüh-rende Analysen zu betreiben, nachteilig seien“. Dassagen uns diejenigen, die in ihrem Arbeitsalltag mitder ATD zu tun haben.Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom23. Mai 2014 Bedenken bezüglich der Einführung derZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3473
Uli Grötsch
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erweiterten Nutzung angemeldet. Das mag nicht unbe-rechtigt sein, denn natürlich handelt es sich um einensehr sensiblen Grundrechtsbereich, aber ich bin mirsicher: Das hat auch der zuständige Innenminister vorAugen gehabt und war sich dessen bewusst. Und des-sen sind sich auch in diesem Zusammenhang die Men-schen bewusst, die die Datei verwenden. Das hat derEvaluierungsbericht, wie schon erwähnt, gezeigt.Diese Tatsache entbindet das Parlament natürlichnicht davon, genau hinzuschauen. Wir werden uns inden Ausschüssen mit diesem Gesetz beschäftigen unddie verfassungsmäßigen Bedenken prüfen.Fest steht, dass die ATD sich in der Praxis bewährthat und ihr Ziel erfüllt. Ich bin mir sicher, dass wir eingutes Gesetz auf den Weg bringen werden.
Wir verhandeln heute ein von der Bundesregierungeingebrachtes Gesetz zur Änderung der seit 2007 be-stehenden Antiterrordatei. Dies wurde notwendig, weildas Bundesverfassungsgericht die bisherige Datei imApril letzten Jahres in mehreren entscheidenden Punk-ten für gesetzeswidrig erachtete. Die heute von der Re-gierung vorgeschlagenen Änderungen betreffen zumTeil auch die nach dem Vorbild der Antiterrordatei ge-klonte Rechtsextremismusdatei.Bei diesen Dateien handelt es sich um Datenpools,zu denen 38 Landes- und Bundespolizeibehörden undGeheimdienste – die Verfassungsschutzämter, der Bun-desnachrichtendienst und der Militärische Ab-schirmdienst – gemeinsamen Zugriff haben. Nur ein-mal zur Dimension: Die Antiterrordatei enthält mehrals 17 000 Datensätze, bis 2013 erfolgten 350 000 Such-anfragen der Polizeien und Geheimdienste.Die Linke hat die Schaffung solcher Verbunddateienvon Anfang an aus grundsätzlichen bürgerrechtlichenErwägungen abgelehnt. Denn hier wird das als Lehreaus den Erfahrungen mit der Gestapo unter demNazi-Regime geltende grundgesetzliche Trennungsge-bot von Polizei und Geheimdiensten weiter unterlau-fen.Leider ging das Bundesverfassungsgericht bei sei-ner Kritik nicht so weit. Doch selbst gemessen an denRügen des höchsten deutschen Gerichts an der bisheri-gen Handhabung dieser Datei ist der vorliegende Ge-setzentwurf ein Affront. Denn unter dem Vorwand derverfassungskonformen Ausgestaltung will die Bundes-regierung die Datennutzung sogar noch erweitern, wiedas bei der Rechtsextremismusdatei bereits Praxis ist.So sollen ein Data Mining unter Einbeziehung mehre-rer Datensätze aus verschiedenen Datenbeständen undeine statistische Auswertung ermöglicht werden. Mitanderen Worten: Die Fähigkeiten zur digitalen Raster-fahndung von Polizeien und Geheimdiensten sollenausgeweitet werden.Kritik an diesem Ansinnen erfolgte am 23. Maidurch den Bundesrat. Die Landesregierungen habendarin einer „erweiterten Datennutzung“ durch eineausgeweitete Suchfunktion eine Absage erteilt. DerBundesrat verweist auf die noch ausstehende Evaluie-rung dieser Funktion im Falle der Rechtsextremismus-datei. Doch die Bundesregierung hält es nicht einmalfür nötig, das Ergebnis dieser Überprüfung abzuwar-ten. Offensichtlich lässt auch die Stellungnahme desBundesrates die Regierung kalt – so wie die Regierungdie Kritik des Bundesverfassungsgerichts mit Gering-schätzung behandelt.Das Gericht hatte die Speicherung von sogenannten„Befürwortern“ von Gewalt als Mittel zur Durchset-zung politischer oder religiöser Ziele kritisiert. Weildiese Bewertung auf einer „inneren Haltung“ beruhe,könne sie zu einer einschüchternden Wirkung bei derWahrnehmung der Freiheitsrechte führen, so das Ge-richt.Ich möchte es noch deutlicher benennen: Es gehthier schlicht um Gesinnungsjustiz – und die darf in ei-nem Rechtsstaat keinen Platz haben.Jetzt will die Bundesregierung die Formulierung soändern, „dass es Anhaltspunkte geben muss, dass diePerson tatsächlich Gewalt anwenden, unterstützen,vorbereiten oder hervorrufen will“. Das Deutsche In-stitut für Menschenrechte hat klargestellt, dass hierweiterhin in unzulässiger Weise ein Rückschluss aufdie „innere Haltung“ erfolgt.Die Bundesregierung will also die bisherige rechts-widrige Praxis einfach mit neuen Worten fortschrei-ben. Es ist schon ungeheuerlich, wie hier versuchtwird, das höchste deutsche Gericht an der Nase he-rumzuführen.In der Antiterrordatei sind eben nicht nur Terrorver-dächtige, sondern auch zahlreiche sogenannte „Befür-worter“, „Unterstützer“ und „Kontaktpersonen“ ge-speichert – Menschen, die sich nichts zuschuldenkommen ließen und vielleicht gar nicht wussten, mitwem sie in Kontakt standen. Dass es sich hier nicht umParanoia handelt, zeigte erst vor drei Wochen das Er-gebnis einer Überprüfung von Daten beim niedersäch-sischen Verfassungsschutz durch eine eigens dafür ein-gesetzte Task Force. Rund 40 Prozent der überprüftenPersonendaten waren illegal gespeichert. Betroffenwaren Menschen, die sich völlig legal in Bürgerinitia-tiven politisch engagieren. Gespeichert wurden Mus-lime, die in den – nach Meinung der Schlapphüte – fal-schen Moscheen beten. Selbst Minderjährige wurdenerfasst. Das Beispiel Niedersachsen zeigt, wohin dieunkontrollierte Datensammelwut der Dienste führt.Und dabei bleibt es ja nicht. Anschließend haben überdie gemeinsame Verbunddatei auch die Ermittlungsbe-hörden und Geheimdienste der anderen BundesländerZugriff auf solche unrechtmäßig erfassten Daten.Schon zum Schutze solcher zu Unrecht erfasstenPersonen sollten Geheimdienste keinen Zugriff mehrauf die Antiterrordatei erhalten – als ersten Schritt zurAbschaffung dieses Datenmonsters.Die Linke bleibt dabei: Bürgerrechte dürfen nichtim Namen der Sicherheit geopfert werden.Zu Protokoll gegebene Reden
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3474 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem
Grundsatzurteil vom April 2013 erstmals das informa-
tionelle Trennungsprinzip zwischen Polizeien und
Nachrichtendiensten ausdrücklich anerkannt und aus
dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
abgeleitet. Die Konturen der unterschiedlichen Aufga-
ben der Sicherheitsbehörden und auch des verfas-
sungsrechtlichen Trennungsgebotes wurden damit
deutlich geschärft. Das Bundesverfassungsgericht hat
hohe Anforderungen an die informationelle Trennung
von Polizei und Nachrichtendiensten formuliert. Daraus
ergibt sich ein enormer Prüf- und Handlungsbedarf,
der weit über das Antiterrordateigesetz hinausreicht.
Und nur deshalb hat das Bundesverfassungsgericht
dem Gesetzgeber eine Umsetzungsfrist für das Urteil
eingeräumt: Sie läuft noch bis zum 31. Dezember
2014.
Nach diesem Urteil ist es unsere Aufgabe, die Da-
tenübermittlungsvorschriften in den Sicherheitsgeset-
zen am Maßstab der Verfassung neu zu überprüfen und
zu reformieren – da gibt es zum Beispiel auch dringen-
den Handlungsbedarf bei § 19 Bundesverfassungs-
schutzgesetz. Das hat die Innenministerkonferenz auch
schon so gesehen. Außerdem geht es in dieser Sache
nicht nur um die gemeinsamen Dateien. Wir brauchen
nach diesem Urteil auch zwingend eine gesetzliche
Grundlage für die Gemeinsamen Abwehrzentren wie
das GETZ – soweit der Betrieb überhaupt noch verfas-
sungskonform möglich ist. Und wir brauchen eine
deutlich bessere Bund-Länder-übergreifende externe
Kontrolle der Zusammenarbeit von Polizeien und
Nachrichtendiensten.
Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht
leider völlig an den Erfordernissen, die sich aus dem
Urteil ergeben, vorbei. So wird sogar noch die verfas-
sungswidrige erweiterte Datennutzung, die bisher nur
in der Rechtsextremismusdatei möglich war, nun auch
für die Antiterrordatei neu einführt. Und dass die Ge-
setzesgrundlagen beider Dateien entfristet werden
sollen, obwohl keine von beiden je einer unabhängigen
grundrechtsorientierten Evaluierung unterzogen
wurde, erweckt bei mir den Eindruck, als interessiere
die Bundesregierung die Wahrung der Grundrechte in
der Sicherheitspolitik nicht. Das zeigt sich auch darin,
dass uns die Bundesregierung das unabhängige
rechtswissenschaftliche Gutachten aus der letzten
Wahlperiode zur Evaluierung der Antiterrordatei bis
heute nicht vorgelegt hat.
Mit diesem Gesetzentwurf missachtet die Bundesre-
gierung das Grundrecht auf informationelle Selbstbe-
stimmung und ignoriert die Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts. Das können wir so nicht hinnehmen
und deshalb müssen wir hier im Deutschen Bundestag
dafür sorgen, dass die Anforderungen des Bundesver-
fassungsgerichtsurteils berücksichtigt werden. Wir ha-
ben in der Fraktion bereits ein öffentliches Fachge-
spräch zu den Konsequenzen des Urteils durchgeführt.
Im Innenausschuss haben wir eine Sachverständigen-
anhörung zu diesem Gesetzentwurf beantragt. Wir
werden nicht aufhören, für den Datenschutz, die Wah-
rung des Trennungsgebotes zwischen Polizeien und
Nachrichtendiensten und für eine verfassungskon-
forme Sicherheitsarchitektur zu kämpfen.
D
Das Antiterrordateigesetz von 2006 war eine vonzahlreichen Antworten auf die gewachsene Bedrohungdurch den internationalen Terrorismus. Durch die Ein-richtung einer gemeinsamen Fundstellendatei wolltenwir – nicht zuletzt im Licht der Anschläge von Madridim März 2004, bei denen 191 Menschen getötet undüber 1 900 verletzt wurden – die Zusammenarbeit unddie Kontaktaufnahmemöglichkeiten der zuständigenBehörden verbessern.Dank der Datei kann ein Behördenmitarbeiter, derim Bereich des internationalen Terrorismus ermitteltoder aufklärt, schnell herausfinden, ob zu einer be-stimmten Person auch bei anderen Behörden bereitsInformationen vorhanden sind und an wen er sich wen-den muss.Und im Eilfall, wenn Gefahr im Verzug ist und nie-mand in der anderen Behörde erreichbar, kann die Be-hörde auch die erweiterten Grunddaten freischalten.Das ist bislang genau einmal vorgekommen und bestä-tigt zweierlei: zum einen, wie zurückhaltend und ver-antwortungsvoll die Behörden mit dieser Datei und ih-ren Befugnissen umgehen. Zum anderen aber zeigtdieser konkrete Einzelfall auch, wie wichtig solche Eil-klauseln sind:So konnte der Terrorismusverdacht gegen einen Be-troffenen, der am Wochenende im Rahmen einer kon-kreten Terrorismusfahndung mit mehreren gefälschtenPässen angetroffen wurde, schnell entkräftet werden,obwohl er wegen Namensgleichheit mit einem anderenVerdächtigen einen Treffer in der ATD hatte.Dass die Datei so funktioniert, wie wir uns das vor-gestellt haben, hat die gesetzliche Evaluierung in derletzten Legislaturperiode gezeigt. Ganz eindeutig ha-ben die befragten Mitarbeiter, die mit der Datei arbei-ten, bestätigt, dass diese die Zusammenarbeit insge-samt verbessert hat.Noch während die Evaluierung lief, hat ein anderestragisches Ereignis gezeigt, dass sich das terroristi-sche Täterpotenzial nicht auf den islamistischen Terro-rismus beschränkt. Die Aufdeckung der Mordserie desNSU hat uns deutlich vor Augen geführt, wie dringendwir die Zusammenarbeit der zahlreichen Sicherheits-behörden in Deutschland auch im Bereich des gewalt-bereiten Rechtsextremismus verbessern müssen.Einer der ersten Schritte war daher auch hier, nachdem Vorbild der ATD eine Rechtsextremismusdateieinzurichten.Gerade vor dem Hintergrund des NSU und den Er-gebnissen, die auch der parlamentarische Untersu-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3475
Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
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chungsausschuss hierzu in der letzten Legislaturpe-riode gebracht hat, wirkt das Urteil des BVerfG vom24. April 2013 zur ATD beinahe anachronistisch,schreibt es doch erstmals ein verfassungsrechtlichesinformationelles Trennungsprinzip fest, das den Aus-tausch von personenbezogenen Daten zwischen Poli-zei- und Strafverfolgungsbehörden einerseits und denVerfassungsschutzbehörden andererseits nur unter be-stimmten Voraussetzungen gestattet.Aber im Kern bestätigt auch das BVerfG die ATD– und implizit auch die RED – als sinnvolle Einrich-tung für die Fälle, in denen eine schnelle und unkom-plizierte Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Be-hörden notwendig wird.Daher beschränken sich die Änderungen auch aufwenige, wenngleich entscheidende Punkte. So fassenwir die Definition der Personen, die in den beiden Da-teien gespeichert werden, etwas enger, insbesonderewerden Kontaktpersonen nur noch mit wenigen Ele-mentardaten, die zur schnellen Identifizierung undKontaktaufnahme notwendig sind, zu den Hauptperso-nen gespeichert und können nicht mehr eigenständigin den Dateien gesucht werden.Außerdem werden künftig Daten, die aus Eingriffenin das Fernmeldegeheimnis oder durch Maßnahmender Wohnraumüberwachung gewonnen wurden, nurnoch verdeckt eingestellt, sind also auch über die Eil-fallregelung nicht abrufbar. Mit weiteren Maßnahmenwie der Veröffentlichung der ergänzenden Verwal-tungsvorschriften und einem regelmäßigen Tätigkeits-bericht des BKA an den Bundestag erhöhen wir zudemdie Transparenz der Dateien. Und ein Novum ist auch,dass die Datenschutzbeauftragten des Bundes und derLänder die Dateiführung nicht nur vollumfänglichkontrollieren dürfen. Hierfür hatte bereits das alte Ge-setz eine revisionssichere Vollprotokollierung aller Zu-griffe auf die Dateien vorgeschrieben.Zukünftig müssen sie – den Vorgaben des BVerfGentsprechend – mindestens alle zwei Jahre Kontrollendurchführen.Eine Änderung im ATDG ist allerdings nicht auf dasBVerfG zurückzuführen. Im Zuge der Evaluierung derATD ist eine Forderung der Nutzer immer wieder auf-getaucht: Der bloße Fundstellennachweis, wenn manbereits einen konkreten Verdächtigen hat, hilft zwar beider Informationsverdichtung. Aber gerade wenn manaufgrund weniger spezifischer Hinweise nach Täternsuchen muss, wie das ja bei den NSU-Morden der Fallwar, wären erweiterte Suchmöglichkeiten äußerst hilf-reich.Und in der Tat: Wenn man moderne Suchmaschinenkennt, muten die Eingabemasken für die Suche in derATD oder RED reichlich altbacken an, was in diesemFall nicht der schlechten IT-Ausstattung der Polizei,sondern den gesetzlichen Restriktionen geschuldet ist.Nun widerspräche aber eine Suchmöglichkeit, wiewir sie von Google kennen, klar den Vorgaben desBVerfG, das gerade die Funktion als Fundstellennach-weis betont hat.Daher zielt die eng begrenzte Erweiterung der Anti-terrordatei hinsichtlich einer Auswerte- und Analyse-fähigkeit darauf ab, dass nur bereits erhobene Datenvon einer an der ATD beteiligten Behörde systematischrecherchiert werden können. Dabei werden hohe for-melle und materielle Maßstäbe an die Zulässigkeit sol-cher Auswerte- und Analyseprojekte angelegt.Insgesamt legen wir damit einen guten und prakti-kablen Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag vor,der zwei Ziele erreicht: nämlich die Einhaltung derverfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichenVorgaben auf der einen Seite und die Erfüllung derpraktischen Anforderungen an eine effektive Recher-che in den für die Terrorbekämpfung notwendigen Da-tenbeständen auf der anderen Seite.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/1565 und 17/12665 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung des nationalen Steuerrechts an den Bei-
tritt Kroatiens zur EU und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
Drucksache 18/1529
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zurAnpassung des nationalen Steuerrechts an den BeitrittKroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerli-cher Vorschriften. Ein zugegebenermaßen etwas sper-riger Titel für ein Gesetz, welches überwiegend Vor-schriften enthält, die in der Vergangenheit mit denjeweiligen Jahressteuergesetzen geregelt wurden. Sowollen wir neben der fachlichen Umsetzung der not-wendigen Anpassungen eine Vielzahl von redaktionel-len Änderungen und auch Vereinfachungen im Steuer-recht vornehmen.Bedeutsam ist, dass im Einkommensteuer-, Körper-schaft- und Gewerbesteuergesetz eine Neuregelungund Straffung der Anwendungsregelungen erfolgt, wo-durch insgesamt über 100 Absätze gestrichen werdenkönnen. Abbau von Bürokratie auch und gerade imSteuerrecht ist uns ein Anliegen. Diesem Ansinnen ha-ben wir auch im Koalitionsvertrag entsprechend Rech-nung getragen und setzen dies konsequent mit dem
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3476 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Olav Gutting
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vorliegenden Gesetzentwurf gemeinsam mit unseremKoalitionspartner um.Fakt ist, dass der Abbau von unnötiger Bürokratiedie Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen stärktund zudem auch zu einer leistungsfähigeren Verwal-tung führt. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart,dass Gesetze einfach, verständlich und zielgenau aus-gestaltet sein müssen. Bei der Steuergesetzgebung sinddie Anforderungen „einfach“ und „verständlich“ zu-gegebenermaßen oft nur sehr schwer zu erreichen.Nicht selten ist es so, dass die wünschenswerte Ein-fachheit dem notwendigen Gerechtigkeitsgedankennicht immer zuträglich ist. Vereinfachen bedeutet oft,Pauschalierungen vorzunehmen. Bei Pauschalierun-gen gibt es aber immer Gewinner und Verlierer, trotzder damit verbundenen Entbürokratisierung, welcheden Bürgern und der Verwaltung zugutekommt.Ich freue mich daher umso mehr, dass wir der Ent-bürokratisierung weiter entgegengehen und unserSteuerrecht – wie im vorliegenden Gesetzentwurf – vonunnötigen Regelungen befreien, sozusagen entrüm-peln.Die Jahressteuergesetze stehen da in einer gutenTradition. Im Rahmen dieser Omnibusgesetze wurdebislang eine Vielzahl von Entbürokratisierungsmaß-nahmen umgesetzt. So weit die bisherige bewährtePraxis, an die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurfnahtlos anknüpfen wollen.Ein weiterer wichtiger Punkt der Gesetzesvorlageist, dass zukünftig alle Einrichtungen zur ambulantenRehabilitation in die Gewerbesteuerbefreiung einbe-zogen werden. Sie werden damit den stationären Ein-richtungen gleichgestellt.Weiterer wesentlicher Inhalt des Entwurfs ist im Be-reich der Vereinfachungen beispielsweise die Wieder-einführung der Fifo-Methode beim Handel mit Fremd-währungsbeträgen. Mit der Wiedereinführung lösenwir die mit jedem weiteren Kauf und Verkauf vonFremdwährungsbeträgen komplizierter werdendeDurchschnittsmethode ab, welche wir mit der Geltungder Abgeltungsteuer eingeführt haben.Im Bereich der Umsatzbesteuerung wollen wir dieEinführung einer eigenständigen Umsatzsteuerbefrei-ungsnorm für Arbeitsmarktdienstleistungen nach demSGB II und dem SGB III schaffen.Die Umsatzsteuerbefreiung dient der zielgerichte-ten Umsetzung der europäischen Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie, die für die mit der Sozialfürsorge undder sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen Um-satzsteuerfreiheit vorsieht.Der Entwurf ist schon gut, bei den kommenden Be-ratungen werden wir aber sicherlich noch die eineoder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz aufneh-men.Ein Punkt, den wir bei den Beratungen intensivprüfen werden, wird die Steuerschuldnerschaft desLeistungsempfängers bei Bauleistungen und bei Ge-bäudereinigungsleistungen nach der aktuellen Recht-sprechung des BFH sein. Die Rechtsprechung sorgtejedenfalls in der Bau- und Handwerksbranche für er-hebliche rechtliche Unsicherheit. Wir wollen jedochmöglichst präzise Gesetze, welche für die Bürger undUnternehmen klar sind. Die Beratungen und auch dieanstehende Sachverständigenanhörung bleiben hierabzuwarten.Da die Gesetzvorlage bisher lediglich politischunproblematische Regelungen zum Inhalt hat, dürfteeiner zügigen Umsetzung und dem Abschluss des Ge-setzgebungsverfahrens nichts entgegenstehen.Die Beratungsbranche und die Praxis wird mit Er-leichterung zur Kenntnis nehmen, dass wir die hier ge-troffenen Regelungen nicht erst kurz vor Abschluss desKalenderjahres, sondern weit vorher beschließen wer-den.Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachver-ständigenanhörung und auf gute Beratungen in dennächsten Wochen – auch mit der Opposition.
Zur mittlerweile fortgeschrittenen Stunde will ichIhnen detaillierteste Ausführungen zum Gesetzentwurfder Bundesregierung ersparen, da wir auch immernoch ganz am Anfang des Verfahrens stehen, aber aufeinige wenige Punkte möchte ich doch auch weit nachSonnenuntergang eingehen.Es ist immer wieder spannend, was sich so alles hin-ter Gesetzesbezeichnungen verbirgt, und wenn mandann mal genauer reinschaut, entdeckt man allerleiÜberraschendes und Vielfältiges. Ähnlich vielfältigwie das Land Kroatien ist, so ist auch dieser Gesetz-entwurf. Hangeln wir uns hierbei doch durch allerleisteuerliche Regelungen und Richtlinien, die teilweisesogar Kroatien betreffen.Zu einem nicht unwesentlichen Teil handelt es sichbeim vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-rung um die Anpassung geltenden Rechts an den be-reits zurückliegenden Beitritt Kroatiens zur Europäi-schen Union. Dies sind weitestgehend unstrittigeredaktionelle oder rechtsförmliche Anpassungen, diegeschehen müssen, um bestehende Gesetze an den Bei-tritt Kroatiens anzupassen. Ich denke da etwa an dieAnpassung der Mutter-Tochter-Richtlinie oder der An-passung der Richtlinie über die Zins- und Lizenz-gebühren.Aber die Bundesregierung nutzt, und das begrüßenwir als SPD-Bundesfraktion ausdrücklich, die Gele-genheit, die Steuergesetzgebung auch etwas zu ent-schlacken, teils über redaktionelle Änderungen, teilsaber auch durch berechtigte Straffung des Gesetzes-textes. Denken wir etwa an die Neufassung der Anwen-dungsregelungen in § 52 des Einkommensteuergeset-zes, in dem nun statt 150 Absätzen künftig nur noch48 Absätze stehen sollen. Das vereinfacht es nicht un-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3477
Andreas Schwarz
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wesentlich den Gesetzestext zu nutzen, aber auch ersteinmal zu verstehen.Neben den zahlreichen technischen und redaktio-nellen Änderungen und rechtlichen Klarstellungengibt es aber auch tatsächlich substanzielle Änderun-gen, die wir begrüßen und die es vor allem auch denFinanzbeamtinnen und Finanzbeamten in unseremLand erleichtern sollen, ihre Arbeit weiterhin so gut zuverrichten. Die nun einzuführende Regelung, dasskünftig die Steuer-ID des Unterhaltsempfängers aufder Steuererklärung des Unterhaltspflichtigen genanntwerden muss, erleichtert es, Missbrauch zu vermeiden,und ist der richtige Schluss aus der berechtigten Kritikder Rechnungshöfe.Die Anhebung des Grenzbetrages für die jährlicheAbgabe der Lohnsteueranmeldung von 1 000 Euro auf1 080 Euro ist logisch und nachvollziehbar und entlas-tet die Steuerverwaltung genauso wie die Arbeitgeber.Wir unterstützen das.Zwei notwendige Schritte im Rahmen des Einkom-mensteuergesetzes werden angepackt, bei denen ichmich besonders auf die Beratungen und Diskussionenim Finanzausschuss freue, weil ich der festen Überzeu-gung bin, das wir dort alle gemeinsam einen Schrittvorankommen wollen. Zum einen richtet sich der Ge-setzentwurf gegen Modelle, bei denen „gebrauchte“Versicherungen von Versicherungsnehmern an Dritte– häufig Versicherungen oder Fonds – verkauft wer-den. Der Gewinn, den dabei die Käufer erzielen, istbisher steuerfrei, und das müssen wir ändern. Es han-delt sich hierbei häufig um Lebensversicherungen, undletztlich sind das Wetten auf den Tod, die hier abge-schlossen werden. Wer daraus Gewinn erzielen will,der muss darauf auch Steuern zahlen. Das Credo mussnämlich weiterhin lauten: Risikovorsorge darf steuer-befreit bleiben, Renditeerwartungen zweckentfremdenjedoch die Versicherung und sollten somit steuer-pflichtig sein. Hier kommen wir einen weiteren Schrittvoran.Zum anderen geht es darum, zu vermeiden, dass be-schränkt Steuerpflichtige ihre Dividendenansprüchekurz vor dem Stichtag veräußern, um die Steuerpflichtzu umgehen. Auch hier sieht der Gesetzentwurf sinn-volle Veränderungen vor, die dieses künftig vermeidensollen. Durch die gesetzliche Klarstellung der gelten-den Rechtslage werden künftig Fehlinterpretationenvermieden.Im Bereich der Gewerbesteuer sollen auch Ände-rungen vollzogen werden, die es zu erwähnen gilt. DieErweiterung des Inlandsbegriffes ist aus meiner Sichtunstrittig. Weitere Veränderungen soll es im Bereichder ambulanten Rehaleistungen geben. Wer sich einwenig mit Rehabilitationsmaßnahmen in unseremLand beschäftigt, kennt die Entwicklung, dass heutzu-tage Therapien, die früher immer stationär vollzogenwurden, heute häufig ambulant geschehen. Dies ge-schieht häufig auch im Sinne des Patienten. Nun soll eseine steuerliche Gleichstellung geben, da bisher nurKrankenhäuser und stationäre Rehaeinrichtungen vonder Gewerbesteuer befreit sind. Der einzige Unter-schied besteht jedoch in der ausbleibenden Übernach-tung. Hier sehen wir Handlungsbedarf. Ich denke, derGesetzentwurf geht hier in die richtige Richtung.Aber ein gutes Steuergesetz ändert auch immer eini-ges in der Umsatzsteuer. Auch hier bin ich sehr ge-spannt auf die gestern im Finanzausschuss beschlos-sene Anhörung, weil wir hier den wohl spannendstenund kontroversesten Teil des Gesetzentwurfes findenkönnen. Die Steuerbefreiungen für Eingliederungsleis-tungen nach dem SGB II und der aktiven Arbeitsförde-rung nach SGB III scheinen mir nachvollziehbar undrichtig zu sein. Ganz ähnlich denke ich über die Steu-erbefreiung für die Personalgestellung durch religiöseund weltanschauliche Einrichtungen.Nun hat uns der Finanzausschuss des Bundesratesschon eine Stellungnahme übermittelt, die auch nocheinige interessante Änderungsvorschläge beinhaltet,und ganz besonders spannend ist der Änderungs-wunsch zu § 13 b Umsatzsteuergesetz. Die Rechtspre-chung hat hier einiges verändert oder verschlimmbes-sert – wie man will. Hier geht es um die dringendeFrage, wer denn nun die Umsatzsteuer abführen mussoder nicht, beispielsweise wenn ich einen Auftrag aneine Baufirma vergebe und diese ihn an unterschiedli-che Subunternehmer weitergibt. Wer führt nun die Um-satzsteuer ab? Das gilt es gesetzlich endlich festzuzur-ren, um rechtliche Klarheit wiederherzustellen. Aktuelletwa kann es unter anderem passieren, dass Subunter-nehmer eigentlich Umsatzsteuer zahlen müssten, abereventuell gar nicht mehr existieren. Hier bestehtHandlungsbedarf, und den hat der Bundesrat in seinerWeisheit entdeckt und einen praktikablen Vorschlaggemacht, den wir mit in die Beratungen im Ausschussnehmen und auch in der Anhörung mit den Verbändendiskutieren werden.Es bewahrheitet sich also wie so häufig das Struck-sche Gesetz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so,wie es reingekommen ist. Ich freue mich auf die Bera-tungen im Ausschuss und die gemeinsame Arbeit.
Der Entwurf, den uns die Bundesregierung hier vor-gelegt hat, heißt ganz unscheinbar „Gesetz zur Anpas-sung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroa-tiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicherVorschriften“. Man könnte also denken, hier gehe esnur um ein, zwei kleine Änderungen, die durch denKroatien-Beitritt notwendig geworden wären.Tatsächlich aber setzen Sie, meine Damen und Her-ren von der Bundesregierung, uns hier ein neunzigsei-tiges Monstrum vor, das auf den ersten Blick nur sehrschwer zu durchschauen ist. Sie sehen in dem Entwurfso viele Gesetzesänderungen vor, dass er teils sogarschon als „heimliches Jahressteuergesetz 2014“ be-zeichnet wird.Zu Protokoll gegebene Reden
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3478 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Richard Pitterle
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Zwar will ich Ihnen, meine Damen und Herren vonder Bundesregierung, erst einmal zugestehen, dass essich bei vorliegendem Gesetzentwurf zu großen Teilenauch um eine begrüßenswerte Entrümpelungsmaß-nahme im völlig unüberschaubaren Wust des Steuer-rechts handelt. Dass Sie zum Beispiel längst überholteParagrafen im Einkommensteuergesetz streichen, warsozusagen ohnehin überfällig. Eines können wir näm-lich mit Bestimmtheit sagen: Jedes kleine bisschenMehr an Transparenz und Verständlichkeit ist wün-schenswert. Das wird jeder bestätigen können, derschon mal mehr als einen Blick ins deutsche Steuer-recht werfen musste.Einige Stellen in Ihrem Entwurf geben aber auchAnlass zur Sorge. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: InIhrem Entwurf wollen Sie unter anderem das Gewerbe-steuerrecht ändern, indem Sie die Liste der Ausnah-men von der Gewerbesteuerpflicht erweitern. Zwarmag es sich letztlich gemessen an der Summe der da-durch bedingten Steuerausfälle hier nur um „Peanuts“handeln, Sie wissen aber auf der anderen Seite ganzgenau, dass die Gemeinden in Deutschland teilweiseso pleite sind, dass sie auf die Einnahmen aus der Ge-werbesteuer, und seien es nur „Peanuts“, schlichtwegnicht verzichten können.Die Linke hat dies im Gegensatz zu Ihnen erkanntund erst kürzlich einen Antrag zur Stärkung der Kom-munalfinanzen eingebracht. Wir fordern statt der Aus-höhlung der Gewerbesteuer deren Ausbau und Weiter-entwicklung hin zu einer Gemeindewirtschaftsteuer,damit die Kommunen ihren öffentlichen Aufgaben end-lich wieder nachkommen können – kaputte Straßenund verfallende Schulen und Krankenhäuser gehen zu-lasten der Bürgerinnen und Bürger; das sollte Ihnendoch wohl klar sein.Und wo wir schon dabei sind, hier noch eine weitereAnregung, die Sie unbedingt beherzigen sollten: In Ih-rem Sammelsurium von Änderungen, die Sie mit die-sem Gesetzentwurf vorlegen, müssen Sie dringendauch den durch die Entscheidung des Bundesfinanz-hofes aus dem August letzten Jahres angefallenen Re-formbedarf bei den umsatzsteuerlichen Regelungenzum Übergang der Steuerschuld bei der Erbringungvon Bauleistungen berücksichtigen. Es kann nicht an-gehen, dass bei Bauleistungen zwischen zwei Unter-nehmen am Ende keiner weiß, wer denn nun die Um-satzsteuer zu zahlen hat. Sie haben hier bereitsentsprechende Änderungen im vorliegenden Gesetz-entwurf angekündigt. Lassen Sie dem auch Taten fol-gen.Letztlich befürchte ich, dass im Zuge der kommen-den Anhörung im Finanzausschuss noch einiges mehrin diesem Gesetzentwurf aufgedeckt werden könnte,was eher schlecht als recht ist. Man könnte ja sogarauf die Idee kommen, meine Damen und Herren aufder Regierungsbank, dass Sie uns hier im Vorfeld derFußballweltmeisterschaft, wo fast sämtliche Augen-paare der Republik bereits nach Brasilien gerichtet zusein scheinen, noch ein paar unliebsame Überra-schungen durch diesen Gesetzentwurf unterjubeln wol-len. Aber wie heißt es doch so schön: ein Schelm, werBöses dabei denkt.
Das Spannendste bei diesem Gesetzentwurf, den die
Bundesregierung hier vorlegt, sind die Baustellen, die
mit diesem Gesetz nicht berührt werden.
Die Bundesregierung schlägt auf über 80 Seiten Än-
derungen in 15 Gesetzen und 3 Durchführungsver-
ordnungen vor, und am Ende kostet dieses Paket ledig-
lich 20 Millionen Euro pro Jahr? Und selbst diese
20 Millionen beruhen allein auf den Änderungen im
Umsatzsteuer- und Gewerbesteuergesetz. Das Kroa-
tienanpassungsgesetz kommt im Mantel eines Jah-
ressteuergesetzes daher, doch die sehr begrenzte
Aufkommenswirkung zeigt, wie wenig ambitioniert die
vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Statt dringende
Themen anzugehen, präsentieren Sie einen Wust von
Vorschriften, die nichts kosten, aber auch niemandem
etwas bringen.
Sie haben angekündigt, im Baubereich das Reverse-
Charge-Verfahren einführen zu wollen. Wer sich ein-
mal ausführlich mit den Empfehlungen des Bundes-
rechnungshofes zur Reform der Umsatzsteuer oder mit
dem Katalog der Steuersubventionen auseinander-
setzt, stößt auf sehr viel weiter gehende Empfehlungen.
Die Erhebungslücke der Umsatzsteuer gefährdet die
öffentlichen Haushalte. Betriebsprüfungen und Um-
satzsteuersonderprüfungen kommen regelmäßig zu
Mehrergebnissen in Höhe von 4 Milliarden Euro pro
Jahr, die ohne diese Prüfungen im Erhebungsverfah-
ren unter den Tisch gefallen wären. Allein die Steuer-
fahndung sorgt noch für weitere Umsatzsteuermehr-
einnahmen im Umfang von etwa 2 Milliarden Euro.
Diese prüfungsbedingten Mehreinnahmen sind ein
Indiz für den unentdeckt gebliebenen Bereich wirt-
schaftlicher Tätigkeiten, die der Umsatzbesteuerung
entgehen. Zählt man die Niederschlagungen und Insol-
venzen dazu, zeigt sich, wie groß das Ausfallrisiko im
Umsatzsteuersystem ist. Setzen Sie sich intensiver mit
dem Reverse-Charge-Verfahren auseinander, und Sie
werden dem Bundesrechnungshof vielleicht zustim-
men, dass damit erhebliche Ausfälle vermieden werden
könnten.
Die Hotelsteuer ist eine ungerechtfertigte Steuer-
subvention, die zu Steuerausfällen von etwa 1 Mil-
liarde Euro jährlich führt. Ansatzpunkte haben Sie ge-
nug, und parlamentarische Mehrheiten finden Sie
dafür sogar jenseits der Koalitionsmehrheit.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/1529 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.
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Vizepräsident Peter Hintze
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht der Bundesregierung 2013 nach § 7des Gesetzes zur Einsetzung eines NationalenNormenkontrollratesBessere Rechtsetzung 2013: Erfolge dauerhaftsichern – zusätzlichen Aufwand vermeidenDrucksache 18/866Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. SindSie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Bürokratieabbau ist eines der zentralen Themen derGroßen Koalition.Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir wollenWirtschaft und Bürger weiter spürbar von unnötigerBürokratie entlasten.“ Uns ist es wichtig, diese Verein-barung in enger Zusammenarbeit mit unserem Koali-tionspartner einzuhalten.Als Vorsitzender der AG Bürokratieabbau des Par-lamentskreises Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion istes mir deswegen ein Anliegen, die Bundesregierungbeim Abbau bürokratischer Überregulierung zu unter-stützen.Bei der Einsetzung des Nationalen Normenkontroll-rats 2007 waren Unternehmen in Deutschland mitrund 50 Milliarden Euro jährlich durch Informations-pflichten belastet. Um diese Kosten zunächst spürbarzu senken, wurde ein Nettoabbauziel von 25 Prozentdefiniert, was einer Senkung von rund 12 MilliardenEuro entspricht. Dieses Ziel wurde 2013 erreicht.Um Bürokratie messbar zu machen, wurde einBürokratiekostenindex geschaffen. Dies macht es zumersten Mal möglich, die Kostenentwicklung darzustel-len.Im Laufe des Jahres 2013 wurden die Weichen füreine bessere Gesetzgebungskultur gestellt. Zu nennensind hier insbesondere der Beschluss für eine systema-tische Evaluierung wesentlicher Regelungsvorhabensowie gemeinsame Vorarbeiten von Bundesregierung,Bundestag und Bundesrat für ein elektronisches Un-terstützungssystem zur Vorbereitung von Regelungs-entwürfen.Im Bericht der Bundesregierung wird deutlich, dasssich die Methodik zur Darstellung des Erfüllungsauf-wands nach gut zweijähriger Erfahrung bewährt hat.Die Kontrolle der Gesetzesfolgen innerhalb der Minis-terien ist nicht nur vorgeschrieben, sondern stellt mitt-lerweile eine Selbstverständlichkeit dar.Auch das ist ebenfalls als großer Erfolg zu verbu-chen. Sowohl in den Ministerien als auch bei Bürgern,Verbänden, Verwaltung und Unternehmen ist dieseVorgehensweise auf große Akzeptanz gestoßen. Da-durch erhalten wir größtmögliche Transparenz für denEntscheidungsträger und zudem ein realistisches, pra-xisnahes Bild von den zu erwartenden Folgen einerRegelung.Trotz des Erfolges verzeichnet die Bundesregierungbeim jährlichen Erfüllungsaufwand 2013 im Saldo ei-nen Anstieg um circa 2,4 Milliarden Euro. Davon ent-fallen laut Nationalem Normenkontrollrat auf dieWirtschaft 1,71 Milliarden Euro, auf Bürgerinnen undBürger 0,47 Milliarden Euro und auf die Verwaltung0,25 Milliarden Euro. Allein 2,16 Milliarden Euro sindallerdings auf die Zweite Verordnung zur Änderungder Energieeinsparverordnung zurückzuführen. Ver-antwortlich hierfür ist insbesondere die Anhebung derEnergieeffizienzstandards ab 2016.Mit der Einführung der aktuellen Gesetzentwürfezum Tarifautonomiestärkungsgesetz und zum EEG istebenfalls ein Anstieg des Erfüllungsaufwands auf allenEbenen zu erwarten.Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz beispiels-weise soll eines der zentralen Vereinbarungen desKoalitionsvertrags umgesetzt werden. Damit einhergehen diverse Änderungen im Arbeitnehmer-Entsen-degesetz, im Tarifvertragsgesetz und in weiteren Ge-setzen. Zuständig für die Überprüfung wird die Zoll-verwaltung sein. All diese Maßnahmen bewirken einenerheblichen Anstieg des Erfüllungsaufwands.Eine entsprechende Auswertung zur Darstellungdes Erfüllungsaufwands muss gemäß § 4 Absatz 4NKR-Gesetz mittlerweile in jedem Gesetz enthaltensein. Durch die Ermittlung des Erfüllungsaufwandssoll der Gesetzgeber eine angemessene vollständigeÜbersicht zu den Kostenfolgen und dadurch eine wich-tige Entscheidungsgrundlage erhalten.Der Normenkontrollrat veröffentlichte bereits eineStellungnahme, ob die Anforderungen an eine hinrei-chende Abschätzung und Darstellung der Gesetzesfol-gen entsprechend den Bestimmungen des NKR-Geset-zes gegeben sind. Nach dieser Stellungnahme ist dieDarstellung der Regierung in Bezug auf den Erfül-lungsaufwand jedoch sehr lückenhaft. Kritisiert wird,dass wesentliche Aufwände wie beispielsweise die Ver-pflichtung der Zollverwaltung zur Prüfung nicht auf-geführt werden. Zudem sei den nach dem NKR-Gesetzgeforderten Anforderungen für eine Alternativenprü-fung nicht entsprochen worden. Genaue Zahlen sindbislang nicht bekannt. Der zu erwartende Erfüllungs-aufwand ist aller Voraussicht nach jedoch erheblich.Auch wenn der Erfüllungsaufwand bereits ein eta-blierter Mechanismus ist, muss hier weiter nachgebes-sert werden. Der Prozess zu den aktuellen Gesetzent-
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3480 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Helmut Nowak
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würfen zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und auchzum EEG sind bereits zu weit fortgeschritten, um denbürokratischen Lasten wirksam entgegenwirken zukönnen. Bei zukünftigen Gesetzesvorlagen muss des-wegen rechtzeitig Einfluss genommen werden. Dazubedarf es einer angemessenen Beachtung der Anforde-rungen des NKR-Gesetzes bei der Darstellung des Er-füllungsaufwands und vor allem einer rechtzeitigenund transparenten Kostenübermittlung der zuständi-gen Ressorts.Deswegen gilt es nun, auf Grundlage des bereits Er-reichten das Regierungsprogramm „Bessere Rechts-setzung“ systematisch weiterzuentwickeln. Nur so kön-nen wir unsere Zusagen im Koalitionsvertrag für die18. Legislaturperiode zuverlässig einlösen: „Wir wol-len bei den Informations- und Nachweispflichten zu ei-ner Entlastung kommen und den Erfüllungsaufwandverringern.“Das aktuelle Arbeitsprogramm „Bessere Rechtsset-zung 2014“ wurde am 4. Juni veröffentlicht und bautauf den Entwicklungen des Programms von 2013 auf.Eines der elementaren Ziele des Programms ist es,Entlastungen noch spürbarer zu machen. Deswegensoll der Fokus auf qualitativen Elementen liegen, wiebeispielsweise einer regelmäßigen Befragung von Bür-gerinnen und Bürgern. Es soll herausgefunden wer-den, wie innerhalb bestimmter Lebenslagen Kontaktund Zusammenarbeit mit der Verwaltung wahrgenom-men wird, um Hinweise zu möglichen Vereinfachungenund Verbesserungen bei Verwaltungskontakten zu er-langen. Die Befragungen beginnen 2015. ZahlreicheVereinfachungsprojekte für diverse Lebenslagen solleninitiiert werden, mit dem Ziel, dass die Ergebnisse zuweiteren spürbaren Entlastungen führen.Zudem soll der Erfüllungsaufwand bei einer Reihevon Maßnahmen weiter reduziert werden, beispiels-weise durch Normenscreenings oder eine Modernisie-rung des steuerlichen Verfahrensrechts. Der Fokusliegt hier insbesondere auf der Entlastung kleinererund mittlerer Unternehmen sowie einer bürger- undunternehmensfreundlichen Verwaltung. Ein weiteresVorhaben bezieht sich auf die Verbesserung von Recht-setzungsprozessen, vor allem auf die praktische Erpro-bung von Maßnahmen sowie deren systematische Eva-luierung. Um einen besseren Überblick zu erhalten,soll die Entwicklung des Erfüllungsaufwands künftigvierteljährlich ermittelt werden.Wir begrüßen die bisher erzielten Fortschritte sowiedie weiteren Ziele, die die Bundesregierung sich imRahmen des Arbeitsprogramms „Bessere Rechtsset-zung 2014“ gesetzt hat. Diese sind jedoch laut derebenfalls am 4. Juni veröffentlichten Stellungnahmedes NKR noch nicht ausreichend. Der Rat bemängelt,dass im Programm kein neues Abbauziel gesetztwurde. Insbesondere vor dem Hintergrund eines stei-genden Erfüllungsaufwands ist aber ein quantitativesAbbauziel dringend erforderlich. Zudem regt der Ratan, die vierteljährliche Ermittlung des Erfüllungsauf-wands im Sinne von mehr Transparenz auch zu veröf-fentlichen. Positiv bewertet der Rat die weiteren Be-mühungen zur Spürbarkeit von Maßnahmen, die einenqualitativen Ansatz beinhalten.Das aktuelle Arbeitsprogramm weist in die richtigeRichtung, dennoch besteht noch Verbesserungsbedarf.Und dafür müssen wir uns konkrete Ziele setzen. DieseZiele können wir jedoch nur gemeinsam erreichen. Ge-meinsam mit den hochspezialisierten Mitarbeitern inden Ministerien. Gemeinsam mit den betroffenen Ver-bänden. Gemeinsam mit den betroffenen Bürgern undUnternehmern. Aber auch gemeinsam mit unserenKollegen in Brüssel und der Europäischen Union.Über 50 Prozent unserer Gesetze kommen von der Eu-ropäischen Union. Deswegen ist es besonders wichtig,auch bereits dort anzusetzen, wo sie entstehen.In den letzten Jahren wurden bereits wichtigeSchritte auf EU- und Mitgliedstaatenebene erreicht.Ich gehe davon aus, dass das Thema Bürokratieabbauauch weiterhin in den Mitgliedstaaten, der Kommis-sion und dem EU-Parlament hohe Priorität genießt.Im Mai war ich auf der internationalen Konferenzzum Thema „Smart Regulation“ in Den Haag. DieNiederlande sind bereits seit Jahren Vorreiter beimBürokratieabbau. Ihr 25-Prozent-Nettoabbauziel er-reichten sie erfolgreich mit einem Ansatz ähnlich demdeutschen Standardkostenmodell. Vor Ort konnte ichmir ein Bild von den Aktivitäten auf EU-Ebene und inden anderen Mitgliedstaaten machen. Mein Fokus lagauf der zukünftigen Gestaltung der EU-Regulierungs-politik. Ich wollte dadurch konkrete Ansatzpunkte undZiele für die Mitwirkung des Deutschen Bundestagesim europäischen Gesetzgebungsprozess erfahren.Hierzu führte ich ein aufschlussreiches Gesprächmit Dr. Edmund Stoiber, der seit 2007 die HochrangigeGruppe Bürokratieabbau in Brüssel leitet. Gesternfand bereits das zweite Treffen statt, bei dem michDr. Stoiber über seine Arbeit in Brüssel informierte.Auch wenn im September 2014 das Mandat seinerGruppe bereits ausläuft, muss seine wichtige und er-folgreiche Arbeit fortgesetzt werden.Ein hoher bürokratischer Aufwand schadet der eu-ropäischen Wirtschaft, schadet der deutschen Wirt-schaft und somit Deutschland insgesamt. Laut eineraktuellen Studie von PriceWaterhouseCoopers ist„Überregulierung […] das größte Risiko für das Wirt-schaftswachstum“, zumindest unter den Faktoren, dievon der Politik beeinflusst werden können.Nicht nur Unternehmen, sondern auch Bürger undVerwaltungen leiden unter den Lasten überbordenderBürokratie. Im Koalitionsvertrag haben wir bereits di-verse Maßnahmen hierzu herausgearbeitet, die es jetztzu konkretisieren gilt, um unser gemeinsames Ziel, be-lastende Bürokratie abzubauen, zu erreichen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3481
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Wenn auch zu wirklich später Stunde, klar ist: DieThemen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzungsind und bleiben außerordentlich wichtig für die Bür-gerinnen und Bürger, für Verwaltung und die Wirt-schaft. Denn eine schlanke Verwaltung, verständlicheGesetze mit möglichst wenig Bürokratie, aber auchdie regelmäßige Überprüfung, ob Gesetzesziele undFolgen vertretbar sind, das alles sind wichtige Stand-ortfaktoren für ein modernes Industrieland wieDeutschland. Es ist ganz entscheidend, dass über Re-gelungskosten und Regelungsnutzen Transparenz fürParlament und Regierung hergestellt wird.Klar ist damit auch: Über den Erfolg unseres Wirt-schaftsstandortes Deutschland entscheiden nicht al-lein zukunftsträchtige Ideen, hochwertige Produkteund Dienstleistungen. Auch möglichst niedrige Büro-kratiekosten tragen letztlich dazu bei, ob sich Unter-nehmen bei uns ansiedeln und ob Bürgerinnen undBürger sich gesellschaftlich engagieren. GeringeBürokratiekosten sind damit auch ein Markenkern fürunsere soziale Marktwirtschaft und unser demokrati-sches Gemeinwesen, die letztlich auf dem Engagementdes Einzelnen beruhen und die Akzeptanz der großenMehrheit der Bevölkerung benötigen.Dazu ist die Herstellung von Transparenz ein not-wendiger Ansatz. Bereits in der vergangenen GroßenKoalition haben wir seit 2005 dazu die richtigen Ent-scheidungen getroffen. Damals hatten wir im Koali-tionsvertrag beschlossen, Bürger und Wirtschaft voneinem Übermaß an Vorschriften und der damit einher-gehenden Belastung durch bürokratische Pflichten undKosten zu entlasten.Der Bundestag hat seitdem die Weichen dafür ge-stellt, dass wir heute einen handhabbaren und transpa-renten Instrumentenkasten zum Bürokratieabbau vor-weisen können:Bereits im Jahr 2006 hat der Bundestag die Einrich-tung des Normenkontrollrats als unabhängiges Kon-troll- und Beratungsgremium beschlossen, das seitdemdie Angaben der Ministerien über die zu erwartendenBürokratiekosten in den Regelungsvorhaben der Bun-desregierung sowie den Normenbestand prüft.Wir haben das Standardkosten-Modell zur objekti-ven Messung der bürokratischen Belastungen von Un-ternehmen eingeführt.Seit 2011 erreichen wir mit der Ermittlung des Er-füllungsaufwandes, dass alle mit einem Regelungs-vorhaben verbundenen Belastungen der Wirtschaft,Verwaltung sowie der Bürgerinnen und Bürger syste-matisch untersucht und dargestellt werden.Seit 2012 wird die Entwicklung der Bürokratiekos-ten für die Wirtschaft mit dem Bürokratiekostenindextransparent dargestellt.Schließlich hat die Bundesregierung 2012 beschlos-sen, alle Regelungsvorhaben mit einem Erfüllungsauf-wand von über 1 Million Euro drei bis fünf Jahre nachihrem Inkrafttreten hinsichtlich der tatsächlich erziel-ten Wirkungen zu evaluieren.Insgesamt besteht durch diese Maßnahmen dieMöglichkeit, die bei uns bestehenden Bürokratiekostenzuverlässig zu erfassen, den Bürokratiekostenabbaunachprüfbar zu machen und auch für neue Gesetzeweitgehend vorherzusagen.Der Bericht der Bundesregierung zur besserenRechtsetzung 2013 mit dem Titel: „Erfolge dauerhaftsichern – zusätzlichen Aufwand vermeiden“ zeigt ein-mal mehr, dass wir beim Bürokratieabbau zwar denrichtigen Weg eingeschlagen haben, aber noch langenicht am Ziel sind.Aus dem Bericht für das Jahr 2013 geht hervor, dassdas Ziel, die Bürokratiekosten der Wirtschaft dauer-haft auf niedrigem Niveau zu halten, für 2013 weitge-hend erfüllt werden konnte. So ist der Bürokratiekos-tenindex der Wirtschaft um 0,04 Punkte auf 100,31gestiegen und bleibt damit auf relativ niedrigem Ni-veau. Positiv ist auch, dass 2013 mehrere Vereinfa-chungsprojekte durchgeführt worden sind, wie bei-spielsweise zu den gesetzlichen Leistungen in derPflege, zur Fahrzeug-Online-Zulassung oder zum Bil-dungs- und Teilhabepaket. Schließlich wurden 2013die Weichen für eine systematische Evaluierung we-sentlicher Regelungsvorhaben gestellt, um auch nachInkrafttreten zu prüfen, ob die Ziele erreicht wurdenund der ermittelte Aufwand vertretbar ist.Trotz dieser zweifelsohne erreichten Fortschrittemüssen wir auf der anderen Seite erkennen, dass auch2013 der laufende Erfüllungsaufwand in der Summeweiter um rund 2,4 Milliarden Euro angestiegen ist:für die Wirtschaft um rund 1,6 Milliarden Euro, für dieBürger um 470 Millionen Euro und für die Verwaltungum jährlich 245 Millionen Euro. EntscheidenderKostentreiber mit einem Anteil von 40 Prozent der imBerichtszeitraum geänderten Vorgaben bleiben darun-ter beispielsweise für die Wirtschaft die Informations-pflichten.Der Nationale Normenkontrollrat fordert in seinerStellungnahme zum Jahresbericht die Bundesregie-rung dazu auf, klare Ziele für eine Begrenzung desErfüllungsaufwandes zu setzen und geeigneteMaßnahmen zur Kostenreduzierung bzw. -begrenzungzu erarbeiten bzw. umzusetzen. Einen besonderenSchwerpunkt legt der Normenkontrollrat bei seinenVorschlägen auf die Kostenfolgen durch EU-Recht undkritisiert, dass bisher keine Transparenz über die vonEU-Verordnungen ausgehenden Belastungen fürDeutschland bestehen.Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass die Bun-desregierung in ihrem neuen Arbeitsprogramm „Bes-sere Rechtsetzung 2014“ genau diesen Punkt teilt, ihreVerfahren zur Mitwirkung an der EU-Gesetzgebungüberprüfen und weiterentwickeln will. Auch bei derVereinfachung geltenden EU-Rechts, der Rücknahmenicht notwendiger Vorschläge und der AufhebungZu Protokoll gegebene Reden
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3482 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014
Andrea Wicklein
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überholter Rechtsvorschriften will die Bundesregie-rung mitwirken.Die Regierungsfraktionen werden die Maßnahmenrund um den Bürokratieabbau und für bessere Recht-setzung aktiv begleiten. Wir haben im Koalitionsver-trag verabredet, Wirtschaft und Bürger weiter spürbarvon unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir wollen,dass Unternehmen und Verbände, Normenkontrollratund Bundesministerien, Landesbehörden und Kommu-nen gemeinsam Vereinfachungsmöglichkeiten identifi-zieren und für eine bessere Rechtsetzung sorgen. Wirwollen in geeigneten Fällen Regelungen praktisch er-proben, schon bevor sie beschlossen werden. Wir wol-len, dass auch bestehende Rechtsvorschriften hinsicht-lich ihrer Kosten und ihres Nutzens überprüft werden.Und wir wollen erreichen, dass es auch auf europäi-scher Ebene einen eigenständigen Normenkontroll-mechanismus gibt. Mit diesen Zielen kann der Kreis-lauf bei den Regelungen geschlossen und noch mehrTransparenz hergestellt werden.Die Koalition wird beim Bürokratieabbau und beider besseren Rechtsetzung entschlossen die nächstenSchritte gehen. Schwerpunkte sind neben den bereitsgenannten Zielen aus Sicht der SPD-Bundestagsfrak-tion vor allem klare und überprüfbare Vorgaben füreine Begrenzung des Erfüllungsaufwands, aber auchdie umfassendere Einbindung von Ländern und Kom-munen in die Ermittlung und Reduzierung der Voll-zugskosten von Bundesrecht sowie die kontinuierlicheBeteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Vor-haben zum Bürokratieabbau und besserer Rechtset-zung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, dieAnstrengungen des Bundestages für Bürokratieabbauund bessere Rechtsetzung lohnen sich. Sie regen Un-ternehmensgründungen, Innovationen und zivilgesell-schaftliches Engagement insgesamt an. Lassen Sie unsgemeinsam daran arbeiten.
Das Wort Bürokratie hat bei vielen Bürgerinnen undBürgern einen schlechten Klang. Millionen von Men-schen in Deutschland sind regelmäßig mit den Mühlender Bürokratie beschäftigt, wenn es darum geht, ihrenAnspruch auf ALG II einzufordern oder ihre Steuer-erklärung zu machen. Alles Bereiche in denen einBürokratieabbau millionenfache Jubelstürme auslösenwürde. Doch der absolute Schwerpunkt des Normen-kontrollrates liegt nach wie vor auf der Reduzierungvon tatsächlichem und vermeintlichem bürokratischemAufwand für Unternehmen.Nun ist die Reduzierung von unnötiger Bürokratieauch für Unternehmen, welche erheblich zum Wohl-stand in Deutschland beitragen, insbesondere bei derBeschäftigung, nichts Verwerfliches. Bedenklich wirdes nur, wenn zum Beispiel der Abbau von Berichts-,Informations- und Aufbewahrungspflichten zu einerVerschlechterung im Bereich des Arbeitnehmer- oderVerbraucherschutzes oder im Bereich der Steuerbefol-gung führt. Der Normenkontrollrat gab in seinemBericht aus dem Jahr 2012 freimütig zu: „Die vomNKR abschließend geprüftenRegelungsvorhaben führen im Saldo zu einer Reduzie-rung des jährlichen Erfüllungsaufwands von rund1,4 Milliarden Euro. Dieser Rückgang des Aufwandsgeht allerdings im Wesentlichen auf eine einzige Maß-nahme zurück – die Reduzierung der Aufbewahrungs-fristen nach dem Steuer- und Handelsrecht. Ohne dieseMaßnahme wäre ein Anstieg des Erfüllungsaufwandsseit Juli 2011 von rund 1,1 Milliarden Euro zu ver-zeichnen.“ Im Bericht vom Juli 2013 wird dann dieSteigerung der Befolgungskosten um 1,5 MilliardenEuro bemängelt – Zitat – „Neuregelungen im Zusam-menhang mit Energiewende und Finanzmärkten warendabei die größten Kostentreiber.“ Die Regulierung derFinanzmärkte, die die Euro-Zone in eine tiefe Wirt-schafts- und Finanzkrise gestürzt haben, scheint ausSicht des Normenkontrollrates als reines Problemder Befolgungskosten. Eine solche Beurteilung gerätzwangsläufig schief.Im Gegensatz zur Berechnung der Befolgungs-kosten scheint die Berechnung eines Nutzens mit un-lösbaren methodischen Problemen einherzugehen.Wenn aber die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalbder Betrachtung bleibt, sind weder vernunftgeleiteteUrteile noch Abwägungen von Kosten und Nutzenmöglich.Bei aller Sinnhaftigkeit von Bürokratieabbau darfdamit keine Reduzierung von Arbeitnehmer- und Ver-braucherschutzrechten einhergehen und keiner Steuer-vermeidung Vorschub geleistet werden. Das ist abergerade nicht Prüfauftrag des Normenkontrollrates.Vermeidung von überflüssigem bürokratischem Auf-wand, Anpassung von sich widersprechenden gesetzli-chen Vorschriften sind alles gute Ziele. Doch bei derNormenkontrolle darf es nicht zu allererst um reineKostenreduzierung gehen, sondern um die qualitativeVerbesserung von Verwaltungsvorgängen.
Bürokratieabbau ist und bleibt ein Dauerthema. Infast jedem Gespräch mit Vertretern des Mittelstandeswird das Thema vorgetragen, immer wieder werdenVorschläge unterbreitet – aber nur wenig wird letzt-endlich umgesetzt. Bezeichnend ist, dass diese Debatteerst nach Mitternacht von der Koalition aufgesetztwurde und dann die Reden zu Protokoll gegeben wur-den. Das zeigt aber auch auf, dass für diese Bundesre-gierung Bürokratieabbau ein untergeordnetes Themaist.Bevor ich das bewerten will, möchte ich ein paarSätze zum vorgelegten Bericht der Bundesregierungund zum Jahresbericht des Nationalen Normenkon-trollrats sagen. Dieser hat für das Jahr 2013 einenAnstieg des sogenannten Erfüllungsaufwands um gut1,5 Milliarden Euro errechnet. Hinzu kommen einma-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3483
Dr. Thomas Gambke
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lige Erfüllungsaufwandskosten in Milliardenhöhe.Wenn man den Standpunkt vertritt, dass Bürokratie perse schlecht ist, dann klingt das zunächst ernüchternd.Wenn man den Jahresbericht des Normenkontrollratsdann aber genau betrachtet und sieht, was zu einemAufwuchs des Erfüllungsaufwands geführt hat, dannmuss man zu anderen Schlüssen kommen.Da haben wir zum Beispiel als größten Posten beimjährlichen Erfüllungsaufwand Auflagen bei Energie-einsparvorschriften bei Wohngebäuden und damit beider Energiewende. Daneben haben insbesondere neueAuflagen und Regeln für das Finanzsystem zu einemhöheren Aufwuchs der Bürokratie geführt. Und an die-ser Stelle muss ich ganz klar sagen: An der richtigenStelle ist Bürokratie richtig und wichtig. Märkte undMarktteilnehmer brauchen Grenzen und Leitplanken,in denen sie sich bewegen können. Gerade im Bereichder Ökologie müssen wir Vorgaben machen, die auchzu einem Mehraufwand bei den Erfüllungspflichtenführen können. Gleiches gilt für das Finanzsystem, dasohne nennenswerte Grenzen direkt auf den Crash derFinanz- und Eurokrise zugesteuert ist. Zu diesen Gren-zen gehören auch Anforderungen an mehr Transparenzund damit verbundenen gewisse Auskunftspflichten,die zu mehr Bürokratie führen. Da müssen Banken,Versicherungen und auch die Verwaltung im Zweifelmehr Aufwand betreiben. Um weitere Krisen so gut esgeht zu vermeiden, ist das aber mehr als gerechtfertigt.Beide Beispiele verdeutlichen: Der Begriff Bürokra-tie hat immer zwei Betrachtungsseiten. Zum einenmüssen durch Nachweise die Einhaltung von – sinn-vollen – Rahmenbedingungen und Grenzen überprüftwerden. Zum anderen muss aber darauf geachtet wer-den, dass diese Nachweise gezielt auf den Regelungs-zweck ausgerichtet werden und technisch mit einemmöglichst geringen Aufwand erfüllt werden können.Insofern muss man sich jedes einzelne Gesetzesvorha-ben ansehen und dann bewerten, ob etwaige Mehrkos-ten beim Erfüllungsaufwand gerechtfertigt sind. Beiden einmaligen Kosten verursacht das Endlagergesetzfür die Atomindustrie 2 Milliarden Euro Erfüllungs-aufwand. Wer aber glaubt, Atommüll ohne einen hohenÜberprüfungsaufwand lagern zu können, der wird denRisiken dieser Technologie nicht gerecht. Das Problemist eben hier, dass die Nutzer dieser Energie diese mitder Lagerung des Atommülls verbundenen Kosten niein der Gesamtheit erfasst, geschweige denn in dieStromgestehungskosten internalisiert hatten.Und dennoch ist es richtig und wichtig, sich immerwieder mit dem Thema Bürokratie auseinanderzuset-zen. Es gibt nach wie vor viele Regeln, die in dieserHinsicht auf den Prüfstand gehören. BürokratischeKosten sollten bei allen politischen Entscheidungenberücksichtigt werden, deshalb müssen sie ermitteltund offengelegt werden. Verantwortungslos handeltderjenige, der diese Transparenz nicht herstellt, so wiedie letzte Bundesregierung beim Gesetz zum vermin-derten Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen, beider sie durch Einbringung des Gesetzentwurfs über dieFraktionen die Bewertung durch den Normenkontroll-rat umging. Abschätzungen haben einen erheblichenBürokratie- und Umsetzungsaufwand aufgezeigt. Sonstwäre diese schon von der Sache her vollkommen fehl-geleitete Branchensubvention vielleicht vollständig in-frage gestellt worden. Übrigens schade, dass sich dieSPD an dieser Stelle mit dem Status quo abgefunden zuhaben scheint und auch der Finanzminister sich derVerantwortung für eine Korrektur dieser Fehlentschei-dung der letzten Regierungskoalition entzieht.Für die Arbeit des Normenkontrollrates ist sehrwichtig und richtig, dass nicht mehr alleine der Auf-wand von Unternehmen berechnet wird, sondern dieBürgerinnen und Bürger und die Verwaltungen in dieBetrachtung der Bürokratiekosten aufgenommen wur-den. Richtig und wichtig ist auch, dass Projekte gestar-tet wurden, um Antragsverfahren für die Bürgerinnenund Bürger zu erleichtern.Kritisieren müssen wir an dieser Stelle die Bundes-regierung, die sich keine quantitativen Bürokratieab-bauziele geben will, sondern lediglich den Status quohalten will. An zu vielen Stellen gibt es Bürokratie, dieschlanker und vor allem kundenfreundlicher seinkönnte. Aber Stillstand und fehlende Ambition ist keinesonderliche Überraschung bei einer Großen Koali-tion, die den Stillstand als Erfolg preist, sei es in derSteuerpolitik, bei der Energiewende oder eben beimBürokratieabbau.Es gilt der Satz von Robert Bosch: „Wer aufhört,besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein!“ Deshalbfordere ich die Bundesregierung auf, das Thema Büro-kratieabbau wirklich ernst zu nehmen, die Ergebnissedes Normenkontrollrates aufzugreifen und Debattenüber seine Arbeit nicht auf nach Mitternacht zu schie-ben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 18/866 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2014, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.