Protokoll:
18039

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 39

  • date_rangeDatum: 5. Juni 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:06 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/39 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 39. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Rudolf Henke, Robert Hochbaum und Herbert Behrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3315 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 11 und 12 3315 B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . 3315 B Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifauto- nomiestärkungsgesetz) Drucksache 18/1558 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3315 B Andrea Nahles, Bundesministerin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3315 D Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 3317 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3318 C Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3320 A Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3321 B Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3321 D Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3322 A Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3323 B Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 3324 B Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3325 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3326 C Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3328 A Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3329 C Wilfried Oellers (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3331 A Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3332 B Albert Stegemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3333 B Antje Lezius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3334 D Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Staats- angehörigkeitsgesetzes Drucksache 18/1312 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3336 A b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Dr. André Hahn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Aufhe- bung der Optionsregelung im Staatsan- gehörigkeitsrecht Drucksache 18/1092 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3336 A Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3336 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3337 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3338 D Aydan Özoguz, Staatsministerin BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3340 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3342 C Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3344 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3346 D Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3347 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 3347 C Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3348 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3350 D Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 3352 A Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3352 B Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3353 C Christina Kampmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 3354 B Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3355 B Tagesordnungspunkt 6: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel Höhn, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Festlegung nationaler Klima- schutzziele und zur Förderung des Klimaschutzes (Klimaschutzgesetz – KlimaSchG) Drucksache 18/1612 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3356 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Julia Verlinden, Christian Kühn (Tübingen), Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Energiewende durch Energieeffizienz voranbringen – EU- Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich umsetzen Drucksache 18/1619 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3356 C Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3356 C Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3358 A Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . 3359 B Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3360 B Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU) . . . . . . . 3362 B Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 3364 A Dr. Nina Scheer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3365 A Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3366 D Hansjörg Durz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3367 C Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3369 A Tagesordnungspunkt 32: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. Septem- ber 2013 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Phil- ippinen zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Drucksache 18/1568 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3370 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Luftverkehrsabkommen vom 25. und 30. April 2007 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und der Europäischen Ge- meinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits (Vertragsgesetz EU-USA- Luftverkehrsabkommen – EU-USA- LuftverkAbkG) Drucksache 18/1569 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3370 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftver- kehrsabkommen vom 15. Dezember 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien andererseits (Vertragsgesetz Europa-Mittelmeer-Jordanien-Luftver- kehrsabkommen – Euromed-JOR-Luft- verkAbkG) Drucksache 18/1570. . . . . . . . . . . . . . . . . 3370 C d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 26. Juni 2012 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten und der Re- publik Moldau über den Gemeinsamen Luftverkehrsraum (Vertragsgesetz EU- Moldau-Luftverkehrsabkommen – EU- MDA-LuftverkAbkG) Drucksache 18/1571 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3370 D e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform der Besonderen Aus- gleichsregelung für stromkosten- und handelsintensive Unternehmen Drucksache 18/1572 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3370 D f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Umweltinforma- tionsgesetzes Drucksache 18/1585 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3371 A g) Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zukunft der Hebammen und Entbin- dungspfleger sichern – Finanzielle Sicher- heit und ein neues Berufsbild schaffen Drucksache 18/1483 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3371 A h) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, wei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 III terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verhandlungen über die Wirt- schaftspartnerschaftsabkommen – Neu- start ohne Drohungen und Fristen Drucksache 18/1615 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3371 A i) Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bundestagsmehrheit nutzen – Pille da- nach jetzt aus der Rezeptpflicht entlas- sen Drucksache 18/1617 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3371 B j) Unterrichtung durch die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter: Jahresbericht 2013 der Bundesstelle und der Länder- kommission Drucksache 18/1178 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3371 B Tagesordnungspunkt 33: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Dezember 2010 zwischen der Euro- päischen Union und ihren Mitgliedstaa- ten einerseits und Georgien andererseits über den Gemeinsamen Luftverkehrs- raum (Vertragsgesetz EU-Georgien- Luftverkehrsabkommen – EU-GEO- LuftverkAbkG) Drucksachen 18/1224, 18/1641 . . . . . . . . . 3371 C b) Antrag der Abgeordneten Richard Pitterle, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra- tes über Gesellschaften mit beschränk- ter Haftung mit einem einzigen Gesell- schafter – KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14 – hier Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon (Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnis- mäßigkeit) – Umgehung der Unterneh- mensmitbestimmung bei Ein-Personen- GmbH verhindern Drucksache 18/1618 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3371 D c)–h) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 54, 55, 56, 57, 58 und 59 zu Petitionen Drucksachen 18/1476, 18/1477, 18/1478, 18/1479, 18/1480, 18/1481 . . . . . . . . . . . . 3372 A Tagesordnungspunkt 7: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Weiterent- wicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Fi- nanzstruktur- und Qualitäts-Weiter- entwicklungsgesetz – GKV-FQWG) Drucksachen 18/1307, 18/1579, 18/1657 3372 C – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/1660 . . . . . . . . . . . . . . 3372 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Einführung des neuen Entgeltsystems in der Psychia- trie stoppen – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unabhängige Patientenberatung stärken und ausbauen Drucksachen 18/557, 18/574, 18/1657 . . . 3372 D Annette Widmann-Mauz, Parl. Staats- sekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3373 A Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3374 C Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3375 D Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3377 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 3377 D Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3378 C Sabine Dittmar (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3379 D Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3381 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3381 C Tagesordnungspunkt 8: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Verein- ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicher- heitspräsenz (KFOR) und den Regie- rungen der Bundesrepublik Jugosla- wien (jetzt: Republik Serbien) und der IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Drucksachen 18/1415, 18/1653 . . . . . . . . . 3382 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/1654 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3383 A Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3383 A Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 3384 B Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 3385 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3386 D Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3387 C Wolfgang Hellmich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3388 C Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 3389 C Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 3390 D Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3392 C Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Angleichung der Ren- ten in Ostdeutschland an das Westniveau sofort auf den Weg bringen Drucksache 18/982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3391 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 3391 A Jana Schimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3394 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3396 A Daniela Kolbe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3397 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 3398 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 3399 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 3400 D Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU) . . . . . . . 3401 D Tagesordnungspunkt 10: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Zahl- barmachung von Renten aus Be- schäftigungen in einem Ghetto Drucksachen 18/1308, 18/1577, 18/1649 3402 D – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/1650. . . . . . . . . . . . . . . 3402 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Renten für Leistungsbe- rechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen Drucksachen 18/636, 18/1649 . . . . . . . . . 3402 D Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staats- sekretärin BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3403 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 3403 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 3404 C Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . 3406 A Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3407 A Matthäus Strebl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3408 B Zusatztagesordnungspunkt 1: Antrag der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, Tom Koenigs, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen Frie- denseinsätzen Drucksache 18/1460 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3409 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3409 D Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3411 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3412 A Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) . . . . . . . . . . . . 3413 A Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3413 C Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3414 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 3415 B Michael Vietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3416 A Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bun- desregierung: Siebte Verordnung zur Ände- rung der Verpackungsverordnung Drucksachen 18/1281, 18/1379 (neu) Nr. 2.3, 18/1583 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3417 B Michael Thews (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3417 B Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3418 D Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3419 C Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3420 C Artur Auernhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3421 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 V Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend regulieren Drucksachen 18/769, 18/1656 . . . . . . . . . . . . 3422 B Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3422 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 3423 B Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 3424 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3425 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3426 C Tagesordnungspunkt 14: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanzmarktes Drucksachen 18/1305, 18/1574, 18/1648 . . . . 3427 C Fritz Güntzler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3427 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 3428 D Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3429 D Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3430 C Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3431 C Christian Petry (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3432 C Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Trans- parenz der Selbstverwaltung im Gesund- heitswesen Drucksache 18/1462 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3433 B Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3433 C Reiner Meier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3434 C Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3435 A Dirk Heidenblut (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3435 D Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 3437 D Tagesordnungspunkt 16: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Ergänzung personalrechtlicher Bestim- mungen Drucksachen 18/1311, 18/1586, 18/1651 . 3438 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/1652 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3438 B Dr. Martin Rosemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . 3438 C Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3439 C Jutta Eckenbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 3440 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3441 C Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beabsich- tigte und unbeabsichtigte Auswirkungen des Betäubungsmittelrechts überprüfen Drucksache 18/1613 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3442 D Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3443 A Emmi Zeulner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3443 D Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3446 A Emmi Zeulner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3446 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3446 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 3447 B Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Rege- lungen an die Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts Drucksachen 18/1306, 18/1575, 18/1647 . . . . 3448 C Anja Karliczek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3448 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 3449 D Frank Junge (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3451 A Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3452 B Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 3453 C Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel der United Nations Mission in South Sudan (UNMISS) für die Unterstützung des unbe- waffneten Schutzes der Zivilbevölkerung im Südsudan Drucksache 18/1614 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3454 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3454 D Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3455 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3456 B Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 3457 B Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 3457 D Emmi Zeulner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3459 B Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rindfleischeti- kettierungsgesetzes und des Legehennen- betriebsregistergesetzes Drucksachen 18/1286, 18/1639. . . . . . . . . . . . 3460 D Thomas Mahlberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3460 D Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 3461 C Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . 3462 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 3462 D Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3463 B Tagesordnungspunkt 22: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz: zu dem Vorschlag für eine Ver- ordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) – KOM(2013) 534 endg.; Rats- dok. 12558/13 – hier: a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes, b) Politischer Dialog mit den EU-Insti- tutionen Drucksache 18/1658 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3464 A b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errich- tung der Europäischen Staatsanwalt- schaft (EPPO) – KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13 – hier: a) Stellung- nahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund- gesetzes, b) Politischer Dialog mit den EU-Institutionen Drucksache 18/1646 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3464 A Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . 3464 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3466 A Dr. Katarina Barley (SPD) . . . . . . . . . . . . . 3466 D Dr. Johannes Fechner (SPD) . . . . . . . . . . . . 3467 D Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 3468 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3469 C Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Antiterrordatei- gesetzes und anderer Gesetze Drucksache 18/1565 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3470 C b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur Evaluierung des Antiterror- dateigesetzes Drucksache 17/12665 (neu) . . . . . . . . . . . 3470 C Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . 3470 D Uli Grötsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3471 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 3473 A Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3474 A Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3474 C Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Än- derung weiterer steuerlicher Vorschriften Drucksache 18/1529 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3475 C Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 3475 D Andreas Schwarz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 3476 C Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 3477 D Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3478 C Tagesordnungspunkt 25: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung 2013 nach § 7 des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationa- len Normenkontrollrates: Bessere Recht- setzung 2013: Erfolge dauerhaft sichern – zusätzlichen Aufwand vermeiden Drucksache 18/866 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3479 A Helmut Nowak (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3479 A Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 3481 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 VII Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . 3482 B Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3482 D Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3483 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 3485 A Anlage 2 Neuabdruck der Kurzintervention der Abge- ordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (38. Sitzung, Tagesordnungspunkt 1) . . . . . . . 3485 B Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulrike Bahr, Dr. Matthias Bartke, Bärbel Bas, Lothar Binding (Heidelberg), Dr. Karl-Heinz Brunner, Martin Dörmann, Elvira Drobinski- Weiß, Michaela Engelmeier-Heite, Dr. Johannes Fechner, Gabriela Heinrich, Marcus Held, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Eva Högl, Frank Junge, Christina Kampmann, Gabriele Katzmarek, Daniela Kolbe, Dr. Matthias Miersch, Michelle Müntefering, Dr. Simone Raatz, Dr. Carola Reimann, Andreas Rimkus, Sönke Rix, Dr. Martin Rosemann, Michael Roth (Heringen), Susann Rüthrich, Annette Sawade, Dagmar Schmidt (Wetzlar), Matthias Schmidt (Berlin), Michael Thews, Bernd Westphal und Dr. Jens Zimmermann (alle SPD) zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans- Christian Ströbele und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Geset- zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . 3486 A Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Mechthild Rawert (SPD) zu den Abstimmun- gen über die Änderungsanträge der Abgeord- neten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Ent- wurf eines Gesetzes zur Anpassung steuerli- cher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Tagesordnungs- punkt 18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3486 D Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Carsten Sieling (SPD) zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans- Christian Ströbele und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Geset- zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) . . . . . 3488 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3315 (A) (C) (D)(B) 39. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 Beginn: 9.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3485 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 05.06.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 05.06.2014 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 05.06.2014 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 05.06.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 05.06.2014 Groß, Michael SPD 05.06.2014 Hänsel, Heike DIE LINKE 05.06.2014 Kampeter, Steffen CDU/CSU 05.06.2014 Klingbeil, Lars SPD 05.06.2014 Mast, Katja SPD 05.06.2014 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 05.06.2014 Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 05.06.2014 Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 05.06.2014 Schavan, Annette CDU/CSU 05.06.2014 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 05.06.2014 Tank, Azize DIE LINKE 05.06.2014 Thönnes, Franz SPD 05.06.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 05.06.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 05.06.2014 Werner, Katrin DIE LINKE 05.06.2014 Ziegler, Dagmar SPD 05.06.2014 Anlage 2 Neuabdruck der Kurzintervention der Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE), 38. Sitzung, Seite 3268 C Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Frau Kollegin Göring-Eckardt, Ihre Rede gerade erin- nerte mich an den großen Dichter und Denker Bertolt Brecht, der einmal treffend formuliert hat: Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher! (Florian Hahn [CDU/CSU]: Reden Sie über sich?) Es entsetzt mich – ich bin darüber wirklich schockiert –, dass Sie hier die Behauptung aufstellen, dass sich mit den geringen Stimmenzahlen für die Kandidaten der Swoboda oder des Rechten Sektors das Problem des Neofaschismus, das Problem des Antisemitismus in der Ukraine erledigt habe. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Unverschämt ist das!) Sie wissen ganz genau, dass das nicht stimmt. Drei Minister der Regierung in Kiew, also der Regierung der Ukraine, sind Mitglied der neofaschistischen Partei Swoboda. Ein Minister dieser Regierung steht der Swoboda nahe. Ein weiterer Minister gehört der UNA- UNSO, einer neofaschistischen Organisation, an. Das heißt, eigentlich haben fünf Minister dieser Regierung einen neofaschistischen Hintergrund. Der Rechte Sektor kontrolliert weiterhin den ukrainischen Sicherheitsappa- rat. (Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie haben vergessen, davon zu sprechen, dass der Prä- sidentschaftskandidat der extrem rechten Radikalen Par- tei, Oleg Ljaschko, über 1,5 Millionen Stimmen und damit über 8 Prozent bei der so genannten Präsident- schaftswahl bekommen hat. Sie haben von diesen Wah- len gesprochen, ohne auch nur ein einziges Mal darauf hinzuweisen, unter was für Kriegsumständen sie stattge- funden haben. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber mal Schluss hier!) Kandidatinnen und Kandidaten, zum Beispiel von Borotba oder der KP in der Ukraine, und viele andere haben ihre Kandidaturen zurückgezogen, weil sie von Faschisten bedroht worden sind. Der Kandidat der Partei der Regionen ist während seiner Kandidatur unter Haus- arrest gestellt worden. Wie kann man da eigentlich von freien, fairen Wahlen sprechen, frage ich Sie. (Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich bin wirklich entsetzt darüber, wie hier die Fa- schisten, die Antisemiten verharmlost werden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber mal Schluss! Das ist unglaublich! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anlagen 3486 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 (A) (C) (D)(B) Ich bin entsetzt über diesen Tabubruch der deutschen Außenpolitik, die von Ihnen, Frau Kollegin, mitgetragen wird. Das ist wirklich schändlich. (Beifall bei der LINKEN – Zurufe vom BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Unverschämt! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Peinlich! Peinlich für dieses Haus hier!) Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulrike Bahr, Dr. Matthias Bartke, Bärbel Bas, Lothar Binding (Heidel- berg), Dr. Karl-Heinz Brunner, Martin Dörmann, Elvira Drobinski-Weiß, Michaela Engelmeier- Heite, Dr. Johannes Fechner, Gabriela Heinrich, Marcus Held, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Eva Högl, Frank Junge, Christina Kampmann, Gabriele Katzmarek, Daniela Kolbe, Dr. Matthias Miersch, Michelle Müntefering, Dr. Simone Raatz, Dr. Carola Reimann, Andreas Rimkus, Sönke Rix, Dr. Martin Rosemann, Michael Roth (Heringen), Susann Rüthrich, Annette Sawade, Dagmar Schmidt (Wetzlar), Matthias Schmidt (Berlin), Michael Thews, Bernd Westphal und Dr. Jens Zimmermann (alle SPD) zur Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans- Christian Ströbele und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) In einer aufgeklärten Gesellschaft ohne Diskriminie- rung versteht sich die vollständige Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe von selbst. Gleichwohl lässt sich dieses Selbstverständnis nicht verordnen – es sind Kompromisse zu suchen, über die in einer Demokratie Mehrheiten entscheiden. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD wurde für diese Legislaturperiode vereinbart: Sexuelle Identität respektieren – Lebenspartner- schaften, Regenbogenfamilien Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partner- schaften Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind. Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden wir beseitigen. Wir sind froh, dass sich Vereine und Körperschaften für die Rechte Homosexueller einsetzen. Gemäß § 52 Absatz 2 Nummer 7 AO können diese Vereine und Kör- perschaften zur Förderung der Volksbildung als gemein- nützig anerkannt werden. Zu einer vollständigen Gleichstellung gehört auch, dass die Förderung der Lebenspartnerschaft als gemein- nütziger Zweck neben Ehe und Familie explizit in der Abgabenordnung verankert wird; denn sie leisten einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz von Homosexuali- tät in der Gesellschaft. Sie klären auf und unterstützen Homosexuelle bei der Bewältigung von Problemen. Hier die Förderungswürdigkeit in die Abgabenordnung auf- zunehmen, folgt unmittelbar aus der Koalitionsvereinba- rung. Wir bedauern sehr, dass CDU/CSU dieser Vereinba- rung noch nicht folgen kann und zwischen den Koali- tionspartnern hier keine Einigung über die Erweiterung der gemeinnützigen Zwecke erzielt werden konnte. Aus Rücksichtnahme auf den Koalitionsvertrag, in dem sich die Koalitionspartner auf ein einheitliches Ab- stimmungsverhalten verständigt haben, können wir dem Antrag der Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion leider nicht zustimmen. Dieses einheitliche Abstimmungsverhalten ermög- licht es uns, erfolgreich deutliche Verbesserungen für viele Menschen zu erreichen – auch im Hinblick auf ein selbstbestimmtes Leben. Damit wird also – trotz dieses einzelnen Aspekts in der Abgabenordnung – viel er- reicht. Diese Erfolge wollen wir nicht durch Zustim- mung zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ge- fährden. Wir werden uns aber weiterhin für dieses Anliegen einsetzen und eine vollständige Gleichbehandlung von Lebenspartnerschaften unterstützen. Mit dem heute ver- abschiedeten Gesetz zur Anpassung steuerlicher Rege- lungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- gerichts wird eine steuerliche Gleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft, wie vom Bundesverfas- sungsgericht gefordert, hergestellt. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Mechthild Rawert (SPD) zu den Abstimmungen über die Änderungsanträge der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Re- gelungen an die Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) Mit dem Gesetz zur Änderung des Einkommensteuer- gesetzes in Umsetzung der Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts vom 7. Mai 2013 war gegen Ende der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3487 (A) (C) (D)(B) 17. Legislaturperiode die steuerliche Gleichbehandlung von Lebenspartnerinnen und -partnern nur für das Ein- kommensteuerrecht umgesetzt worden. Die Bundesre- gierung hatte weitere Folgeänderungen angekündigt und setzt diese mit dem heute in dritter Lesung verabschiede- ten „Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ (Drucksache 18/1306) nun um. Mit dem Gesetz erfolgt eine zeitnahe Umsetzung des noch verbliebenen Anpas- sungsbedarfs zur steuerlichen Gleichbehandlung von Lebenspartnerinnen und -partnern, insbesondere in der Abgabenordnung, im Altersvorsorgeverträge-Zertifizie- rungsgesetz, im Bewertungsgesetz, im Bundeskin- dergeldgesetz, im Eigenheimzulagengesetz und im Wohnungsbau-Prämiengesetz. Mit dem heute verab- schiedeten Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelun- gen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts wird eine steuerliche Gleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft, wie vom Bundesverfassungs- gericht gefordert, hergestellt. Und das ist gut so. Der Gesetzentwurf ist gestern im Finanzausschuss mit den Stimmen aller Fraktionen beschlossen worden. Zuvor war ein klarstellender Änderungsantrag der Koali- tionsfraktionen CDU/CSU und SPD zu Artikel 1 Num- mer 2 angenommen worden. Die SPD-Fraktion stellte heraus, dass mit dem Gesetzentwurf die Lebenspartner- schaften steuerlich auf das Niveau der Ehe gehoben sind. Dies sollte auch bei der Gemeinnützigkeit geschehen, auch wenn es über andere Regelungen in der Abgaben- ordnung die Möglichkeit gebe, dieses Ziel indirekt zu er- reichen. Die SPD-Fraktion gab eine Protokollerklärung ab, wonach es in dieser Frage keine Einigung zwischen den Koalitionsfraktionen gebe. Im Ausschuss als auch bei der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung – Drucksa- chen 18/1306, 18/1575, 18/1647 – hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zwei Änderungsanträge einge- bracht (Drucksachen 18/1662, 18/1663). Im Ausschuss wurden beide Anträge von den drei Koalitionsfraktionen abgelehnt. Auch ich werde beiden Anträgen in der 2. Be- ratung – aus unterschiedlichen Gründen! – nicht zustim- men. Änderungsantrag Drucksache 18/1662 Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will mit dem Antrag erreichen, dass die Definition von gemeinnützi- gen Zwecken in der Abgabenordnung nicht nur für Ehe und Familie gilt, sondern auf die Förderung des Schutzes von Lebenspartnerschaft erweitert wird. Diese Forde- rung wird von mir grundsätzlich geteilt. Angesichts der schon heftigen gesellschaftspolitischen Debatten möchte ich darauf verweisen, dass diese Forderungen auch sei- tens Bündnis 90/Die Grünen selber als symbolische Punkte eingestuft werden. Meine Nachfragen in der Community und bei Steuerberaterinnen und -beratern haben ergeben, dass „unter Umwegen“ ein Spendenab- zug schon heute möglich sei. Ich unterstütze es, dass sich Vereine und Körperschaf- ten für die Rechte Homosexueller einsetzen. Gemäß § 52 Absatz 2 Nummer 7 AO können diese Vereine und Körperschaften zur Förderung der Volksbildung als ge- meinnützig anerkannt werden. Zu einer vollständigen Gleichstellung gehört, dass die Förderung der Le- benspartnerschaft als gemeinnütziger Zweck neben Ehe und Familie explizit in der Abgabenordnung verankert wird, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz von Homosexualität in der Gesellschaft. Sie klären auf und unterstützen Homosexuelle bei der Be- wältigung von Problemen. Hier die Förderungswürdig- keit in die Abgabenordnung aufzunehmen, folgt unmit- telbar aus der Koalitionsvereinbarung – so die SPD- Haltung. Mit großem Ärger muss ich aber konstatieren, dass CDU/CSU einer erweiterten Definition von gemeinnützi- gen Zwecken nicht folgen, weil das Bundesverfassungs- gericht dies nicht vorgegeben habe. Trotz intensiven Bemühens der SPD konnte zwischen den Koalitionspart- nern hier keine Einigung über die Erweiterung der gemein- nützigen Zwecke erzielt werden. Aus Rücksichtnahme auf den Koalitionsvertrag, in dem sich die Koalitionspartner auf ein einheitliches Abstimmungsverhalten verständigt haben, können wir dem Antrag der Bündnis 90/Die Grü- nen-Bundestagsfraktion leider nicht zustimmen. Änderungsantrag Drucksache 18/1663 Dieser Änderungsantrag betrifft nicht bestandskräf- tige Kindergeldbescheide. Die Bundesregierung hat er- klärt, dass im Rahmen des Bundeskindergeldgesetzes für alle jetzt noch offenen, nicht bestandskräftigen Kinder- gelbescheide sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit die Gleichbehandlung von Lebenspartne- rinnen und -partnern vollzogen wird. Hierzu bedürfe es keiner zusätzlichen gesetzlichen Regelung, sondern es wird im Rahmen einer Verwaltungsverordnung erfolgen. Dies ist mit dem an dieser Stelle federführendem Bun- desministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend abgestimmt. Damit hat sich der Antrag zum Kin- dergeld aufgrund der Klarstellung der Bundesregierung diskriminierungsfrei erledigt. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD ist für diese Legislaturperiode vereinbart: Sexuelle Identität respektieren – Lebenspartner- schaften, Regenbogenfamilien Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partner- schaften Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind. Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Le- benspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden wir beseitigen. Ich kann alle nur bitten, Verständnis für parlamentari- sche Abläufe, die sich aus den Wahlergebnissen ergeben, zu haben. Der gemeinsame Kampf für „100% Gleich- stellung“ geht weiter. 3488 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 (A) (C) (D)(B) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Carsten Sieling (SPD) zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Re- gelungen an die Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) Die vollständige Gleichstellung eingetragener Le- benspartnerschaften in allen Rechtsbereichen ist seit lan- gem ein Kernanliegen unserer sozialdemokratischen Politik. Dazu gehört für mich selbstverständlich auch, dass die Förderung der Lebenspartnerschaft als gemein- nütziger Zweck neben Ehe und Familie explizit in der Abgabenordnung verankert wird. Ich bin froh, dass sich Vereine und Körperschaften für die Rechte Homosexueller einsetzen, denn sie leisten ei- nen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz von Homose- xualität in der Gesellschaft. Sie klären auf und unterstüt- zen Homosexuelle bei der Bewältigung von Problemen. Gemäß § 52 Absatz 2 Nummer 7 AO können diese Ver- eine und Körperschaften zur Förderung der Volksbil- dung als gemeinnützig anerkannt werden. Darüber hinaus die Förderung der Lebenspartner- schaft als gemeinnützigen Zweck neben Ehe und Familie explizit in der Abgabenordnung aufzunehmen, folgt un- mittelbar aus der Koalitionsvereinbarung, in der wir uns darauf verständigt haben, bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen zu beenden und alle rechtli- chen Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspart- nerschaften schlechterstellen, zu beseitigen. Entsprechend bedauere ich sehr, dass CDU/CSU die- ser Vereinbarung noch nicht folgen kann und zwischen den Koalitionspartnern hier keine Einigung über die Er- weiterung der gemeinnützigen Zwecke erzielt werden konnte. Gleichwohl haben sich die Bundestagsfraktio- nen von CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag auf ein einheitliches Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag verständigt. Daher werde ich dem Antrag der Grünen nicht zustimmen. Dieses einheitliche Abstimmungsverhalten ermög- licht es uns, erfolgreich deutliche Verbesserungen für viele Menschen zu erreichen – auch im Hinblick auf ein selbstbestimmtes Leben. Damit wird also – trotz dieses einzelnen Aspekts in der Abgabenordnung – viel er- reicht. Diese Erfolge will ich nicht durch Zustimmung zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gefährden, der ja auch dann keine Mehrheit erreichen würde. Ich werde mich aber weiterhin für dieses Anliegen einsetzen und eine vollständige Gleichbehandlung von Lebenspartnerschaften unterstützen. Mit dem heute ver- abschiedeten Gesetz zur Anpassung steuerlicher Rege- lungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- gerichts wird eine steuerliche Gleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft, wie vom Bundesverfas- sungsgericht gefordert, hergestellt. 39. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 4 Tarifautonomie TOP 5 Staatsangehörigkeitsrecht TOP 6 Klimaschutz TOP 32 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 33 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 7 Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung TOP 8 Bundeswehreinsatz in Kosovo (KFOR) TOP 9 Angleichung der Renten in Ostdeutschland TOP 10 Rente aus Beschäftigung in einem Ghetto ZP 1 Anerkennung für Peacekeeper TOP 21 Änderung der Verpackungsverordnung TOP 13 Beaufsichtigung des Grauen Kapitalmarktes TOP 14 Anpassung von Gesetzen zum Finanzmarkt TOP 15 Transparenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen TOP 16 SGB II – personalrechtliche Bestimmungen TOP 17 Betäubungsmittelrecht TOP 18 Anpassung steuerrechtlicher Regelungen TOP 19 Mittel für Zivilschutz in Südsudan TOP 20 Vorschriften über Rindfleischetikettierung TOP 22 Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft TOP 23 Antiterrordateigesetz TOP 24 Steuerrechtsanpassung an den EU-Beitritt Kroatiens TOP 25 Bericht über die Normenkontrolle 2013 Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803900000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Ich beginne mit der erfreulichen Mitteilung, dass die
Kollegen Rudolf Henke und Robert Hochbaum heute
ihren 60. Geburtstag feiern.


(Beifall)


Sie haben sich dafür die bestmögliche Kulisse ausge-
sucht.


(Vereinzelt Heiterkeit)


Jedenfalls nutzen wir diese Gelegenheit gerne, Ihnen
beiden unsere herzlichen Glückwünsche für das neue
Lebensjahr zu übermitteln. Das gilt auch für den Kolle-
gen Herbert Behrens, der vor wenigen Tagen seinen
60. Geburtstag gefeiert hat.


(Beifall)


Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesord-
nungspunkt 11 abzusetzen. Statt dieses Tagesordnungs-
punktes soll der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 18/1460 mit dem Titel
„Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen
Friedenseinsätzen“ als Zusatzpunkt aufgerufen werden.
Auch der Tagesordnungspunkt 12 soll abgesetzt werden;
an dieser Stelle soll die Beratung des Tagesordnungs-
punktes 21 erfolgen. Sind Sie mit diesen Verabredungen
einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ver-
fahren wir so.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-

(Tarifautonomiestärkungsgesetz)


Drucksache 18/1558
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Ernährung und Landwirschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Hierzu ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung
eine Aussprache von 96 Minuten vorgesehen. – Auch
dazu erkenne ich keinen Widerspruch. Dann verfahren
wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea
Nahles.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und
Soziales:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute ein Gesetzesvorhaben, das eine tiefe und
grundlegende Bedeutung für unser Land hat: das Tarif-
paket. Nicht ohne Grund haben wir das Gesetz „Gesetz
zur Stärkung der Tarifautonomie“ genannt. Denn dass
Deutschland wirtschaftlich stark ist, verdanken wir ge-
rade auch der guten Tradition verlässlicher Tarifpartner-
schaft und Tarifautonomie.

Dass wir besser als andere in Europa durch die Krise
gekommen sind, dazu hat das gemeinsame verantwortli-
che Handeln von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen
wesentlichen Beitrag geleistet. Die Tarifautonomie ist
von zentraler Bedeutung für unser Arbeits- und Wirt-
schaftsleben. Sie ist ein Eckpfeiler der sozialen Markt-
wirtschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zwei gleich starke Partner handeln den Wert der Arbeit
in ihrer Branche aus. Damit sind wir über viele Jahr-
zehnte gut gefahren. Die Tarifautonomie sichert verant-
wortliche Abschlüsse und hat eine partnerschaftliche
kompromiss- und konsensorientierte Wirtschaftstradi-
tion begründet. Sie hat sozialen Frieden im Land und da-
mit auch Stabilität für die gesamte Wirtschaft gesichert.
Sie hat den Arbeitgebern Wettbewerbssicherheit gege-
ben, da in den Branchen für alle die gleichen Lohnbedin-





Bundesministerin Andrea Nahles


(A) (C)



(D)(B)

gungen gelten, und sie hat für Friedenspflicht gesorgt.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bietet sie
Schutz, Einkommenssicherheit und gleichzeitig die
Chance zur Mitbestimmung.

Gerade wegen dieser Erfolge dürfen wir die Augen
aber nicht vor den Problemen verschließen, die in den
letzten Jahren parallel zu den genannten Erfolgen immer
deutlicher geworden sind. Die Tarifautonomie hat Risse
bekommen.

Gestatten Sie mir, einige Zahlen dazu zu nennen:

Lag der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen
Betrieben in Westdeutschland 1980 noch bei 91 Prozent,
so waren es 1998 nur noch 76 Prozent, und heute liegen
wir in Westdeutschland bei 60 Prozent, während es in
Ostdeutschland sogar nur 48 Prozent sind. Betrachtet
man die Betriebe, dann stellt man fest, dass im Osten nur
noch jeder fünfte Betrieb einem Tarifvertrag unterliegt.
Das ist eine dramatische Entwicklung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im europäischen Vergleich ist Deutschland von einer
Spitzenposition ins Mittelfeld zurückgefallen. Österreich
etwa, die skandinavischen Staaten, Frankreich und Ita-
lien verzeichnen auch weiterhin eine hohe Tarifbindung
von 85 bis 97 Prozent. In diesen Staaten gibt es, wie es
in Deutschland traditionell auch der Fall ist, meist kei-
nen nationalen, sondern lediglich auf einzelne Wirt-
schaftszweige beschränkte Mindestlöhne. In Ländern
mit einer niedrigeren Tarifbindung hingegen wird über-
wiegend über ein allgemeines nationales Mindestlohnre-
gime eine Lohngrenze nach unten verbindlich festgelegt.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit sinkender
Tarifbindung in Deutschland auch die Debatte über ei-
nen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn begann.

Der Weg sollte – darüber waren wir uns in der letzten
Großen Koalition einig – zunächst über branchenbezo-
gene Mindestlöhne gehen. Inzwischen sind durch Bran-
chenmindestlöhne über 3 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer vor Lohndumping geschützt – übri-
gens ohne dass es zu dem von manchen im Land be-
fürchteten Verlust von Arbeitsplätzen gekommen ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei allen Erfolgen von branchenbezogenen Mindest-
löhnen: Es bleiben große weiße Flecken. Dort haben
branchenbezogene Mindestlöhne nicht gegriffen, und sie
würden auch in Zukunft nicht greifen.

2012 arbeiteten mehr als 5 Millionen Menschen für
einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Was ist
unsere Antwort darauf? Ich meine, eine ausgewogene
Antwort hat aus zwei Teilen zu bestehen: Zum einen
müssen wir alles dafür tun, dass wir aus dem Mittelfeld,
in das wir bei der Tarifbindung zurückgefallen sind, wie-
der zur Spitzengruppe aufschließen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum anderen brauchen wir eine klare Grenze nach un-
ten, und das geht nur mit dem flächendeckenden gesetz-
lichen Mindestlohn. Das Tarifpaket, das wir hier heute
vorlegen, verbindet vernünftig und wirksam genau diese
beiden Teile der Antwort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Stärkung der Tarifautonomie und der Sozialpart-
nerschaft erreichen wir, indem wir die Allgemeinver-
bindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern. Da-
durch geben wir den Sozialpartnern wieder das Heft des
Handelns in die Hand. Wir sorgen dafür, dass sie wieder
mehr Einfluss bekommen und die Arbeitswelt wieder
wirksam gestalten können. Die Regeln, die sie in
gemeinsamer Verantwortung für Betrieb und Branche
aushandeln, werden künftig verstärkt wieder für alle Un-
ternehmen gelten, auch die, die ansonsten nicht tarifge-
bunden sind. Die Aushöhlung der Tarifpartnerschaft
wird unterbunden, die Flucht aus gemeinsam festgeleg-
ten vernünftigen Mindeststandards wird erschwert. Das
ist Verantwortung und Gestaltungswille.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der am meisten be-
achtete und diskutierte Teil des Tarifpaketes ist zweifels-
ohne der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Auf den
ersten Blick sieht es wie ein Eingriff in die Tarifautono-
mie aus, wenn wir den Mindestlohn gesetzlich festlegen.
Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Widerspruch zu
dem, was ich vorhin gesagt habe und was wir mit der
Stärkung der Tarifautonomie in diesem Gesetz erreichen
wollen. Die weißen Flecken, von denen ich gesprochen
habe, zwingen uns aber dazu, diesen Eingriff vorzuneh-
men.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


5 Millionen Menschen arbeiten zu Dumpinglöhnen.
Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn würden sie es
nicht schaffen, aus diesem Niedriglohnbereich herauszu-
kommen und einigermaßen anständig bezahlt zu werden,
und wir könnten ihnen nicht helfen. All diesen Men-
schen sagen wir: Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar
2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehal-
ten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Aus-
nahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn
von 8,50 Euro.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ja, wir müssen eingreifen. Aber auch hier gilt die Prä-
misse der Tarifautonomie. Mit dem Gesetz sorgen wir
dafür, dass die Tarifpartner das Heft des Handelns auch
bei der Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in der





Bundesministerin Andrea Nahles


(A) (C)



(D)(B)

Hand behalten. Für die Übergangszeit bis Ende 2016
liegt es eben in der Hand der Tarifparteien, mit spezifi-
schen Übergangsregelungen eine vernünftige Einpha-
sung in den Mindestlohn für ihre Branche auszuhandeln.

Auch die künftige Entwicklung des Mindestlohns sol-
len Gewerkschaften und Arbeitgeber bestimmen. Sie
kennen die Lage in den Betrieben und Branchen und
können so am besten tragfähige und verantwortliche
Entscheidungen treffen. Dafür haben wir das Instrument
einer unabhängigen Mindestlohnkommission geschaf-
fen. Sie entscheidet in Zukunft über die Erhöhung des
Mindestlohns, und die Bundesregierung ist an diese Ent-
scheidung gebunden. Die zukünftige Festlegung des
Mindestlohns werden wir nicht der Politik, sondern, wie
es in unserem Land gute Tradition ist, den Tarifpartnern
überlassen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insoweit ist der Mindestlohn ein neuer Schritt, den
wir aber konsequent in der alten bewährten Tradition ge-
hen. Alte bewährte Tradition – ich habe es schon mehr-
fach gesagt – heißt für mich soziale Marktwirtschaft.
Nach der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes
1969, nach der Neufassung des Betriebsverfassungsge-
setzes 1972, nach der Einführung des Arbeitssicherheits-
gesetzes 1973 und nach der Zusammenlegung von Ar-
beitslosenhilfe und Sozialhilfe 2003 setzt jetzt in diesem
Jahr, 2014, der Mindestlohn eine weitere wesentliche
Leitplanke für Arbeit in Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben den So-
zialpartnern wieder mehr Einfluss und Gestaltungs-
macht. Und wir geben der Arbeit ihren Wert zurück. Der
Wert der Arbeit bemisst sich nicht nur, aber vor allem
am Lohn.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Am Lohn kann ich ablesen, ob meine Arbeit gewürdigt
und wertgeschätzt wird.

Mit dem Tarifpaket setzt die Große Koalition ein kla-
res Zeichen: Arbeit hat in Deutschland ihren Wert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803900100

Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803900200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es gibt tatsächlich vier Punkte, über die ich
mich heute ganz besonders freue.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

– Ja, da könnt ihr durchaus klatschen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann sagen Sie es halt mal! Führen Sie sich nicht auf wie ein Kasper!)


Der erste Punkt ist: Es ist tatsächlich ein Gesetzent-
wurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
vorgelegt worden. Das ist ein großer Fortschritt in
Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite, das mich freut – ich hätte gar nicht daran
geglaubt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU –,
ist die Einsicht in die Realität, dass wir diesen Mindest-
lohn brauchen. Ich finde es toll, wie Sie Ihre Meinung in
diesem Punkt geändert haben.


(Widerspruch des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])


Ich kann mich noch daran erinnern, dass das früher an-
ders klang. Ich zitiere Herrn Lehrieder: „Ein flächende-
ckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht.“
Max Straubinger hat gesagt: „Die Auswirkungen gesetz-
licher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Ar-
beitslosigkeit.“ Und so weiter.

Dass Sie sich jetzt, kurz vor Pfingsten – da kommt ja
der Heilige Geist –, dazu durchringen konnten, Ihre Mei-
nung zu ändern, ist klasse.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Das waren die Koalitionsverhandlungen, nicht der Heilige Geist! – Zuruf von der SPD: Das ist unser guter Einfluss!)


In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es – und
das freut mich sehr; ich zitiere –:

Die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge
ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.
… Dies hat den Tarifvertragsparteien die ihnen
durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes über-
antwortete Ordnung des Arbeitslebens strukturell
erschwert.

Das ist die Anerkennung dessen, dass Ihr in den letz-
ten Jahren üblicher Verweis darauf, dass die Tarifver-
tragsparteien das Problem regeln sollen, schlichtweg
nicht mehr reicht. Sie erkennen mit diesem Gesetzent-
wurf an, dass Sie damit falsch gelegen haben. Wenn die
Tarifvertragsparteien das regeln sollen, dann muss man
sie stärken. Ich freue mich über Ihren Gesinnungswan-
del. Bravo, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der LINKEN)


Das Dritte, das mich sehr freut – ich kann es nicht an-
ders sagen –, ist, dass die Partei, die sich seit Jahren in
diesem Land als sozialer Bremser dargestellt


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was?)


und den Mindestlohn konsequent abgelehnt und verhin-
dert hat, diese Debatte von der Tribüne oder vor dem





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

Fernsehgerät verfolgen kann. Auch das freut mich sehr,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Der vierte Punkt ist: Mich freut, dass an diesem Ge-
setzentwurf deutlich wird, dass sich Hartnäckigkeit
lohnt. Steter Tropfen holt den Stein.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Höhlt!)


– Was habe ich gesagt?


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Holt!)


– Er holt ihn auch. Er holt den Stein.

Herr Wadephul, Sie haben im Dezember 2010 gesagt
– Zitat –:

Diskutieren Sie mit uns über andere sozialpolitische
Themen als jede Woche über denselben Aufguss al-
ter Themen.

Diese Hartnäckigkeit der Linken hat sich gelohnt.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der SPD)


Inzwischen haben auch Sie es begriffen. Sie können sich
aufführen, wie Sie wollen: Das Thema Mindestlohn ist
ein ursächliches Thema der Linken.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der SPD)


Wir haben das schon eingebracht, als Sie alle noch dage-
gen waren. Jetzt freuen Sie sich wieder. 2006 haben wir
das Thema zum ersten Mal eingebracht. Alle waren da-
gegen, und die Einzige, die das Thema konsequent im
Parlament vertreten hat, war die Linke. Deshalb lassen
wir uns das Thema von Ihnen nicht nehmen, meine Da-
men und Herren. So ist die Welt.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der SPD)


Die Zweiten, die den Mindestlohn als Erfolg verbu-
chen können, sitzen nicht im Parlament. Das sind die
deutschen Gewerkschaften. Sie haben durch ihre Aktivi-
täten wesentlich dazu beigetragen, dass auch Sie sich ei-
nem Meinungswandel unterzogen haben. Auch das freut
mich ganz besonders, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN)


Mich freut auch, dass Sie inzwischen unsere Begrün-
dung übernehmen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803900300

Herr Kollege Ernst, lassen Sie Zwischenfragen zu?


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803900400

Ja, selbstverständlich!


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803900500

Na also. – Bitte schön.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803900600

Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie als Linke be-

reits 2006 für einen Mindestlohn gekämpft haben. Sie
sind auch Mitglied der IG Metall.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wenn ich mich richtig erinnere, war die IG Metall insbe-
sondere in ihren Führungsgremien deutlich gegen einen
Mindestlohn. Sie hat dieses Projekt damals noch be-
kämpft. Ich frage Sie ganz persönlich: Hat das bei Ihnen
eigentlich zu schizophrenen Gefühlen geführt?


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803900700

Das ist eine sehr nette Frage. Dass Sie diese Frage

stellen, ist in gewisser Weise verwunderlich.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht jetzt nicht um mich!)


Wir haben hier über die Erodierung der Tarifverträge
diskutiert. Wir lösen nun durch die Einführung eines ge-
setzlichen Mindestlohns ein Problem, das Sie in der Ko-
alition mit der SPD selbst verursacht haben, und zwar
durch die Hartz-Gesetze, durch die die Tarifverträge un-
ter Druck geraten sind. Das ist die Wahrheit, Frau
Pothmer.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie schon damals, als Sie regiert haben, auf die
Gewerkschaften gehört hätten,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir!)


dann hätten wir dieses Problem nicht; denn die Gewerk-
schaften waren gegen die Hartz-Gesetze. Sie waren da-
gegen, dass die Leistungen für Arbeitslose gekürzt wer-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Hätte Sie damals auf die Gewerkschaften gehört, hätten
Sie diese Frage nicht stellen müssen.

Ich bin im Übrigen überhaupt nicht schizophren. Ich
habe schon damals innerhalb der Gewerkschaften und
insbesondere innerhalb meiner Organisation durchaus
zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir auch in der
IG Metall Bereiche haben, die nicht mehr dem Tarifver-
trag unterliegen, weil wir nicht mehr die Stärke hatten,
dort Tarifverträge durchzusetzen. Deshalb sage ich Ih-
nen: Es ist vollkommen richtig, was in dem vorliegenden
Gesetzentwurf steht. Man muss die Tarifautonomie wie-
der stärken und darf nicht nur auf sie verweisen, in der
Hoffnung, dass diese dann das Problem löst. Ohne starke
Gewerkschaften sind die Probleme nicht lösbar. Sie ha-
ben die Tarifautonomie in Ihrer Regierungszeit ge-
schwächt.


(Beifall bei der LINKEN)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

Nun zu den Bereichen, in denen wir Probleme mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf haben. Sie überneh-
men unsere Begründung und sagen: Die Würde des
Menschen gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer. Es hat etwas mit Würde zu tun, ob ein Ar-
beitnehmer von seinem Lohn leben kann oder nicht.
Diese Begründung höre ich inzwischen auch von Ihnen
immer öfter. Aber Sie nehmen in Ihrem Gesetzentwurf
die unter 18-Jährigen aus; sie sollen vom Mindestlohn
nicht profitieren. Da frage ich Sie natürlich: Gilt für
diese nicht der Satz von der Würde? Hat nicht auch
schon ein 18-Jähriger so viel Würde, dass er vernünftig
entlohnt werden soll? Warum eigentlich? Glauben Sie
tatsächlich, dass viele junge Menschen in letzter Zeit
deshalb keinen Ausbildungsplatz hatten, weil sie woan-
ders zu hohe Löhne bekommen haben und deshalb kei-
nen Ausbildungsplatz angenommen haben? So ein
Unfug! Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, solche Ausnah-
meregelungen für unter 18-Jährige zu schaffen! Sie wol-
len solche Ausnahmeregelungen, weil Sie doch noch
nicht alles begriffen haben. Das ist die Einschränkung
meines Lobes von vorhin.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich halte es genauso für vollkommen falsch, Ausnah-
meregelungen für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Ha-
ben denn die Langzeitarbeitslosen keine Würde? Wenn
Sie sagen, dass es etwas mit Würde zu tun hat, dass man
von seiner Arbeit leben kann, dann muss das auch für
Langzeitarbeitslose gelten. Hören Sie mit diesen Aus-
nahmeregelungen auf!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der nächste Punkt, der dabei eine Rolle spielt, ist die
Altersregelung. Frau Nahles hat dazu am 3. April in der
Leipziger Volkszeitung gesagt:

Das beste Gesetz gegen Altersarmut ist der flächen-
deckende gesetzliche Mindestlohn für alle.

Für alle, also auch für Langzeitarbeitslose!

Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie hoch die
Nettorente sein müsste, damit jemand, der sein ganzes
Leben gearbeitet hat, eine Rente bezieht, die über der
Grundsicherung im Alter liegt. Die Antwort möchte ich
Ihnen nicht vorenthalten – ich zitiere –:

Um eine Nettorente … über dem durchschnittlichen
Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter … bei
einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden
über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäfti-
gung hinweg zu erreichen, wäre rechnerisch ein
Stundenlohn von rd. 10 Euro erforderlich.

Mit 8,50 Euro lösen Sie das Problem der Altersarmut in
diesem Land überhaupt nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann frage ich Sie: Was ist das für eine Regelung, die
erste Erhöhung zum 1. Januar 2018 stattfinden zu las-
sen? Gilt denn die Würde erst ab dem 1. Januar 2018
wieder? Im Übrigen sind die 8,50 Euro von heute im
Jahre 2017 nur noch 8,16 Euro wert. Das heißt, dass im
Jahr 2017 sich die meisten Mindestlohnempfänger in der
Bedürftigkeit wiederfinden und Sie somit mit der niedri-
gen Marge des Mindestlohns Ihre eigenen Ziele verfeh-
len. Das ist das Problem in diesem Zusammenhang.


(Beifall bei der LINKEN)


Mein letzter Punkt: Durch einen Tarifvertrag kann der
Mindestlohn – Frau Nahles, Sie selber haben es ange-
sprochen – bis 2017 unterlaufen werden. Was ist denn
das für eine Regelung, dass man Gewerkschaftsmitglie-
der per Tarifvertrag schlechterstellen darf als die, die
nicht gewerkschaftlich organisiert sind? Haben denn die
gewerkschaftlich Organisierten weniger Würde als die
anderen? Hören Sie auf mit diesen Ausnahmeregelun-
gen, meine Dame! Legen Sie vielmehr einen Mindest-
lohn für alle fest, wie Sie es angekündigt haben, und be-
stimmen Sie eine vernünftige Höhe! Damit erreichen Sie
Ihre eigenen Ziele.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Unsinn!)


Noch eine letzte Bemerkung. Ich habe die Äußerun-
gen von Herrn Schweitzer und anderen von der Indus-
trie, dem Handwerk und der Hotelbranche gelesen, die
sich massiv über diese Regelungen beschweren. Ich
habe gedacht, ich traue meinen Augen nicht. Herr
Schweitzer vom DIHK verweist auf die Chinesen und
die Amerikaner, die übrigens in einigen Städten teil-
weise einen Mindestlohn von 14 Dollar einführen. Dazu
sage ich nur: Lassen Sie sich – da muss ich Sie jetzt
wirklich in Schutz nehmen – davon nicht beirren! Herr
Schweitzer weiß doch genau, wo der Mindestlohn wirkt,
nämlich in Branchen, in denen hauptsächlich Frauen ar-
beiten, und im Dienstleistungsbereich.

Jetzt wird gesagt, die Chinesen seien billiger. Glaubt
denn wirklich einer, dass die Fenster, die geputzt werden
müssen, nach China zum Putzen und dann wieder zu-
rückgeschickt werden, weil es in China niedrigere Löhne
gibt? Sind die denn von allen guten Geistern verlassen?
Wie kann man denn die chinesischen Löhne im Dienst-
leistungsbereich, der ortsgebunden ist, mit unseren Löh-
nen vergleichen?

Deshalb sage ich Ihnen: Bitte bleiben Sie an der Stelle
hartnäckig! Machen Sie vor allem das, was Sie angekün-
digt haben, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohn für
alle ohne Ausnahme!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803900800

Herr Kollege Ernst, da Sie vorhin mit Blick auf das

bevorstehende Pfingstfest den Heiligen Geist für diese
Auseinandersetzung bemüht haben, erlaube ich mir den
Hinweis, dass die Frage, ob der Heilige Geist im Him-
mel Mindestlöhne eingeführt hat, bis heute unter den
Theologen nicht restlos geklärt ist.


(Heiterkeit und Beifall)


Der Kollege Schiewerling hat nun für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1803900900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen schon aufpas-
sen, dass die Diskussion über den Mindestlohn und über
die Frage der Zukunft der Arbeitswelt in unserer Gesell-
schaft nicht in einem Klamauk endet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wissen Sie, Herr Kollege Ernst: Sie können gerne Ihr
Mütchen an früheren politischen Auseinandersetzungen
kühlen. Die Union hat von Anfang an in der letzten Le-
gislaturperiode an einem Mindestlohnkonzept – ich ge-
stehe zu: etwas länger – gearbeitet und dabei konsequent
die Frage gestellt, wie wir die Tarifautonomie stärken
können. Deswegen hat sie das Konzept entwickelt, dass
in Zukunft eine Kommission einen Mindestlohn findet
und nicht der Deutsche Bundestag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen werden wir hier im Hohen Hause jetzt zum
ersten und zum letzten Mal einen Mindestlohn von
8,50 Euro festlegen; danach ist die Kommission zustän-
dig. Sie gehört dahin, wo die Verantwortung für die
Löhne liegt, und die liegt bei den Tarifpartnern. Wir wer-
den diese nicht aus der Verantwortung entlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das vorliegende Gesetz trägt nicht umsonst die Über-
schrift „Stärkung der Tarifautonomie“. In der Tat steht
die Tarifautonomie für uns im Mittelpunkt, bei aller
Sorge, die wir haben, dass die Tarifbindung abnimmt,
was zu ganz schwierigen Entwicklungen geführt hat.
Das hat zu einem großen Teil auch dazu geführt, dass
wir heute über Mindestlöhne reden müssen; denn dort,
wo Tarifautonomie vernünftig funktioniert, haben wir
mit der Zahlung von Mindestlöhnen überhaupt keine
Probleme. Nur dort, wo es keine Tarifautonomie gibt
und die Bindungskraft der Unternehmen nachlässt, weil
sie nicht Mitglied in einem Arbeitgeberverband sind,
dort, wo Arbeitnehmer einen schwachen Organisations-
grad in ihrer jeweils zuständigen Gewerkschaft haben,
genau dort haben wir die Probleme und die Schwierig-
keiten. Genau dort wollen wir ansetzen, damit wir zu ge-
rechten und ordentlichen Lösungen kommen. Dem dient
dieses Gesetz. Aber im Mittelpunkt steht die Tarifauto-
nomie. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dieses
Ziel mit großer Konsequenz, auch bei den jetzt anstehen-
den Beratungen, zusammen mit ihrem Koalitionspartner
verfolgen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Weil wir in vielen Bereichen eine schwache Tarifbin-
dung haben, wird jetzt der Ruf nach dem Staat laut. Ich
halte es für eine ganz schwierige Entwicklung in unse-
rem Land, dass überall da, wo etwas nicht mehr gelingt,
wo Subsidiarität nicht mehr funktioniert, weil die, die
dafür zuständig sind, die Verantwortung nicht überneh-
men können oder nicht übernehmen wollen, der Ruf
nach dem Staat laut wird. Ich sage Ihnen sehr deutlich:
Es ist nicht garantiert, dass dann automatisch alles besser
wird. Aber wir sind gezwungen und aufgerufen, für Ord-
nung am Arbeitsmarkt zu sorgen. Daran arbeiten wir.
Folglich wird dieses Gesetz auf den Weg gebracht.

Dies geschieht mit mehreren Waggons, die wir auf
dieses tarifpolitische Gleis gesetzt haben:

Es geht zunächst einmal um die Reform der Allge-
meinverbindlicherklärung. Es geht darum, dass Tarifver-
träge – auch solche mit einer Tarifbindung von unter
50 Prozent – dann, wenn ein besonderes öffentliches In-
teresse vorhanden ist, leichter auf diejenigen Gebiete
einer Branche, in denen keine Tarifbindung besteht, aus-
geweitet werden können. Das ist eine konsequente An-
wendung von Tarifautonomie im Hinblick auf die Stär-
kung von Arbeitgebern und Gewerkschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Wir werden – das ist der zweite Waggon, der auf dem
tarifpolitischen Gleis steht – die Ausweitung des Arbeit-
nehmer-Entsendegesetzes vornehmen. Wir werden also
eine Ausweitung insbesondere auf diejenigen Branchen
vornehmen, in denen ausländische Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer tätig sind. Auf diese Branchen wird
somit dahin gehend Druck ausgeübt, dass dort faire und
vernünftige Bedingungen herrschen. Wir werden ermög-
lichen, dass noch mehr Branchen dem Geltungsbereich
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes unterliegen. Auch
dort gelten dann zuvörderst die zwischen Arbeitgebern
und Gewerkschaften ausgehandelten Tarife.

Zum gesetzlichen Mindestlohn. Ich habe vorhin schon
gesagt: Der Deutsche Bundestag wird einmal einen Min-
destlohn festlegen, 8,50 Euro, dadurch eine Marke set-
zen und danach die Verantwortung einer Tarifkommis-
sion übertragen, die paritätisch mit Arbeitgebern und
Gewerkschaftsvertretern besetzt ist.

Ich kenne mittlerweile den Wunsch aus diesem Be-
reich, dass man möglichst genau beschreibt, was diese
Kommission zu tun hat, dass man möglichst eng ein-
grenzt, welche Aufgaben sie hat. Ich sage Ihnen: Da ha-
ben wir eine gänzlich andere Vorstellung. Wenn Arbeit-
geber und Gewerkschaften für die Findung von Löhnen
in unserem Land zuständig sind, dann haben sie auch die
Verantwortung dafür zu übernehmen. Deswegen werden
wir im Gesetzentwurf einige Kriterien formulieren, an
denen man sich zu orientieren hat.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Dazu gehört die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung
in unserem Land. Dazu gehört die Bruttolohnentwick-
lung in unserem Land. Dazu gehört die Auswirkung ei-
nes Mindestlohnes auf Branchen und Regionen. Dazu
gehört natürlich auch die Frage der Auswirkungen eines
Mindestlohnes auf bestimmte Altersgruppen. Alle diese
Fragen sollen von dieser Kommission mit bearbeitet
werden. Diese Kommission soll auch regelmäßig da-





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)

rüber berichten und eine Analyse dazu abgeben, wie was
gewirkt hat.

In der Tat, es ist richtig: Wir beschreiten mit der Im-
plementierung des Mindestlohnes, mit der Flexibilisie-
rung der Allgemeinverbindlicherklärung und der Ände-
rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes einen neuen
Weg, dessen sämtliche Auswirkungen wir letztendlich
noch nicht überblicken können. Das gilt insbesondere
für die Frage der Altersgrenze. Das gilt insbesondere für
die Frage, wie sich das Ganze auf die Älteren nun wirk-
lich auswirkt. Diesen Prozess haben wir nämlich jetzt
erst eingeleitet. Insofern ist es gut, wenn wir von der
Stunde null an die Entwicklungen beobachten und ge-
meinsam auswerten, um die Frage beantworten zu kön-
nen, wie das Ganze gewirkt hat.

Eines wollen wir erreichen: Wir wollen, dass der
Mindestlohn und das andere, was wir auf den Weg brin-
gen, den Menschen dient, Arbeitsplätze schafft und
keine vernichtet, Menschen hilft, zu faireren und gerech-
teren Bedingungen ihre Arbeit erledigen zu können.
Wenn wir gemeinsam dieses Ziel verfolgen, kann es uns
gelingen, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen,
dies auf Dauer gesehen zu bewerkstelligen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir werden noch einige
Punkte miteinander zu diskutieren und zu klären haben.
Das wird wie immer in einer guten Form in den nächsten
Wochen passieren. Unser Wunsch als Fraktion ist, dass
wir auf jeden Fall schauen, dass die Wirtschaft nicht mit
unnötiger Bürokratie überzogen wird. Unser Wunsch ist,
auf jeden Fall darauf zu schauen, dass Branchen, die
jetzt noch besondere Beschwer sehen, Übergangsfristen
bekommen, mit denen wir ihnen helfen, auf den Weg zu
kommen. Wir sind darüber miteinander im Gespräch.
Ich bin sicher, dass wir miteinander zu einvernehmlichen
Lösungen kommen.

Unser Ziel bleibt – das gilt auch für die Unionsfrak-
tion –: Es muss fair am Arbeitsmarkt zugehen. Wir wol-
len alles dafür tun, dass die Tarifpartner die Rahmenbe-
dingungen haben, um dieses leisten zu können. Wir
werden den Menschen helfen. Wir sind für die Einfüh-
rung des Mindestlohns, so wie es das Konzept jetzt vor-
sieht. Ich bin ganz sicher, dass wir damit unser Land
weiter voranbringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803901000

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schlecht

das Wort.


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803901100

Herr Schiewerling, es ist ja begrüßenswert, dass Sie

sich so viele Gedanken über die Stärkung der Tarifauto-
nomie machen, nachdem die Tarifautonomie seit zehn
Jahren durch politische Rahmenbedingungen, durch
politische Rahmensetzung unterminiert worden ist. Aber
wenn Sie es mit diesem Gesetz ernst meinen und nicht
nur ein Gesetz machen würden, das über weite Strecken
einen Etikettenschwindel darstellt, dann hätte in dieses
Gesetz über das hinaus, was drinsteht, ein Verbot der
Leiharbeit gehört. Dann hätte drinstehen müssen eine
Neuregulierung der Befristung; die Befristung hat eine
ganz verheerende Auswirkung auf die Tarifautonomie.
Dann hätte eine Regelung hineingemusst zu den Mini-
jobs, nämlich dass die Minijobs ab der ersten Stunde so-
zialversicherungspflichtig sind. Dann hätten hineinge-
musst Veränderungen zu Werkverträgen, nämlich dass
die Betriebsräte Mitbestimmungsrechte erhalten, wenn
Werkverträge in den Unternehmen geschlossen werden
sollen. Dann hätte hineingemusst ein Verbandsklage-
recht für die Gewerkschaften. Zur AVE, zur Allgemein-
verbindlicherklärung, hätte nicht eine Regelung hinein-
gehört, die nur eine sehr homöopathische Wirkung hat,
sondern eine Regelung, nach der Gewerkschaften allein
verlangen können, dass in einer Branche eine Allge-
meinverbindlichkeit hergestellt wird.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Versuchen Sie mal, eine Mehrheit zu kriegen! Dann können Sie alles in die Gesetze schreiben, was Sie wollen!)


Mit diesen Maßnahmen könnte man die verheerenden
Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Tarifbindung,
auf das Tarifsystem zurückführen. Aber das sehen Sie
nicht vor, weil Sie es nicht wollen. Insofern stellt das
Ganze in der Tat einen Etikettenschwindel dar. Es ist ein
bisschen das Vergießen von Krokodilstränen, wenn man
heute feststellt: Die Tarifbindung geht zurück. – Es ist
aber die eigene Politik – Sie haben die Politik von Rot-
Grün in dieser Frage immer unterstützt; es ist die Politik,
die man vor zehn Jahren gemacht hat –, die dazu geführt
hat, dass es überhaupt zu dieser Verschlechterung der
Tarifbindung gekommen ist.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803901200

Zur Erwiderung: Herr Kollege Schiewerling.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1803901300

Kollege Schlecht, ich danke Ihnen herzlich für die

Kurzintervention. – Dass Sie die nutzen, um das gesamte
Programm der Linken vorzustellen,


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, genau!)


ist Ihnen sicherlich nicht zu verwehren. Sie haben genau
die Argumente dafür genannt, dass es unserem Land
besser geht als anderen Ländern und es uns besser geht,
als wenn Sie regieren würden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn Sie Ihren Katalog durchgesetzt hätten, ginge es
den Menschen schlechter, weil Sie Ihnen etwas vorma-
chen würden. Deswegen ist der Katalog, den Sie vorge-
tragen haben, nicht dazu geeignet, den Menschen zu die-
nen.





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben miteinander überhaupt nicht vor, alles zu-
rückzudrehen, sondern es geht bei diesem Gesetz, das
wir jetzt auf den Weg bringen, darum, einen gewissen
Ausgleich für die Verwerfungen zu schaffen, die in man-
chen Bereichen in den vergangenen Jahren entstanden
sind. Es geht nicht darum, grundsätzlich den großen Er-
folg, den wir in der Bundesrepublik Deutschland haben
und um den wir beneidet werden, nicht nur in Europa,
sondern weltweit – niedrigste Arbeitslosigkeit, höchste
Beschäftigung, auch höchste sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigung –, durch so einen Blödsinn zu gefähr-
den, wie Sie ihn vorschlagen. Deswegen werden wir so
einen Quatsch nicht mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aufpassen, Kollege!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803901400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Andreae das Wort.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803901500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für

uns Grüne ist es ein großer Fortschritt, dass wir nicht
mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie und
Wann sprechen. Fast alle wollen diesen Mindestlohn:
Gewerkschaften, Kirchen, über 80 Prozent der Bevölke-
rung und zunehmend auch die Arbeitgeber. Der Vize-
kanzler hatte recht, als er auf dem Katholikentag sagte,
der Mindestlohn sei kein Instrument der Glückseligkeit.
Aber der Mindestlohn ist ein Instrument der Notwendig-
keit. Mit unwürdigem Lohndumping muss Schluss sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


„Arm trotz Arbeit“ darf es nicht weiter geben. 8 Mil-
lionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, zum
Teil für unter 5 Euro die Stunde. Diese Menschen müs-
sen aufstocken. Das heißt, der Steuerzahler subventio-
niert Dumpinglöhne. Dass hier ein Riegel vorgeschoben
wird, ist gut;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn Dumpinglöhne behindern fairen Wettbewerb. Ich
kenne viele Handwerker, die sagen, dass für sie der Min-
destlohn richtig ist, weil sie sich dann nicht mehr mit den
Preisdrückern auseinandersetzen müssen, die normaler-
weise die Ausschreibungen gewinnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Andere europäische Länder haben bereits entspre-
chende Regelungen und gute Erfahrungen mit dem Min-
destlohn. Deutschland zieht jetzt nach. Das ist keine Re-
volution, sondern eine Selbstverständlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wir jetzt erleben, ist, dass der Wirtschaftsflügel
der Union noch gründlich überarbeiten will. Das haben
Sie beim Rentenpaket auch gesagt; da hätten wir Ihnen
viel Erfolg gewünscht. Dort ist es leider nicht gelungen.
Auch hier werden die Backen wieder weit aufgeblasen.
Ich glaube, die Arbeitsministerin kann ganz ruhig schla-
fen. Auch dieser Tiger wird wieder als Bettvorleger lan-
den. Dabei wird nichts herauskommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei muss das Gesetz an entscheidenden Punkten
verbessert werden; denn ein Sicherheitsnetz mit lauter
Löchern ist eben kein Sicherheitsnetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ein Netz hat immer Löcher!)


Wenn Sie 2 Millionen Erwerbstätige aus dieser Rege-
lung herausnehmen, führt das zu großen Lücken beim
Mindestlohn; es höhlt ihn aus.

Ohne wirksame Kontrolle bleibt es eine Showveran-
staltung. Wir wissen, dass ungefähr 340 Milliarden Euro
pro Jahr in der Schwarzarbeit umgesetzt werden. Aber
nur 770 Millionen Euro konnten letztes Jahr aufgedeckt
werden. Sie brauchen also mehr Personal. Die Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit muss personell aufgestockt wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Zollverwaltungen brauchen mehr Stellen. Das haben
Sie aber nicht eingeplant. Wir haben beantragt, im Haus-
halt Mittel für die Personalaufstockung einzustellen, da-
mit die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert wird
und man nachprüfen kann, ob das, was heute beschlos-
sen wird, auch umgesetzt wird. Darum geht es.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wo müssen Sie noch nacharbeiten? Die Bundesregie-
rung traut sich nicht, eine unabhängige wissenschaftli-
che Evaluation zuzulassen. Das ist falsch. Der Mindest-
lohn ist keine Sozialromantik, sondern eine große
sozialpolitische Reform, die Auswirkungen hat. Es ist al-
lenthalben über die Frage diskutiert worden, was das be-
deutet. Diese Auswirkungen muss man sehr genau prü-
fen.

Wie sieht es jetzt aus? Im Gesetz steht, dass die Bun-
desregierung in sechs Jahren irgendwie prüfen will. Das
reicht nicht. Können Sie sich noch an die Handwerksno-
velle 2004 erinnern? Auch damals wurde ins Gesetz hi-
neingeschrieben, dass man irgendwann prüfen wolle.
Aber das hat man bis heute noch nicht gemacht.

Lassen Sie eine unabhängige wissenschaftliche Eva-
luation zu, und nehmen Sie die Wissenschaft mit ins
Boot! Das sollte auch für die Mindestlohnkommission
gelten, und zwar mit Stimmrecht. Die Wissenschaft
braucht ein Stimmrecht in der Mindestlohnkommission.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine starke und unabhängige Kommis-
sion, und zwar aus folgendem Grund: damit Akzeptanz
für die getroffenen Regelungen geschaffen wird, damit
der Mindestlohn nicht zum Zankapfel in Wahlkämpfen





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

und hier im Bundestag wird, damit Ruhe, Stetigkeit und
Planbarkeit in dieses Instrument hineinkommen. Dafür
brauchen Sie eine unabhängige Mindestlohnkommis-
sion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Einführung des Mindestlohns war lange überfäl-
lig. Es ist gut, dass heute der erste Schritt getan wird.
Der Mindestlohn ist gut gegen Lohndumping, und er ist
gut für fairen Wettbewerb. Da darf man sich nicht die
Butter vom Brot nehmen lassen. Der Mindestlohn nutzt
den Menschen und den Unternehmen gleichermaßen. Er
ist keine Fürsorgeleistung. Armutsbekämpfung braucht
andere Instrumente. Der Mindestlohn ist ein Mindest-
standard und hat mit der Würde der Arbeit der Menschen
zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Der Mindestlohn ist für uns von Bündnis 90/Die Grü-
nen wie für einen großen Teil der Bevölkerung elemen-
tare Grundlage sozialer Gerechtigkeit, die diesem Land
gut ansteht. Bringen Sie ihn auf den Weg. Sorgen Sie für
die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Ver-
bessern Sie die Evaluation. Lassen Sie die Ausnahmen
weg. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Dann be-
kommen Sie unsere Unterstützung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803901600

Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1803901700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ha-
ben 21 branchenübergreifende gesetzliche Mindest-
löhne. Worüber wir seit Jahren streiten, ist in Ländern
wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden
längst Normalität. Ich freue mich, dass wir heute mit der
ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs diesem
europäischen Standard einen Schritt nähergekommen
sind; denn es wird höchste Zeit, dass das, was in Europa
längst Realität ist, auch in Deutschland zur Selbstver-
ständlichkeit wird,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


nämlich dass man nicht duldet, wenn unanständig nied-
rige Löhne gezahlt werden.

Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, trotz europäi-
scher Normalität ist die Einführung des gesetzlichen
Mindestlohns in Deutschland ein bedeutender Schritt,
ein Meilenstein, für den wir Sozialdemokraten seit über
zehn Jahren kämpfen; Herr Ernst, hier muss ich Ihr
Langzeitgedächtnis bemühen. Gegen viele Widerstände
haben wir ihn jetzt durchgesetzt. Es wurde viel darüber
diskutiert, ob wir und ob sich die Unternehmen den Min-
destlohn leisten können und wie sich dieser auf die wirt-
schaftliche Entwicklung auswirkt. Das sind zweifellos
wichtige Fragen.

Genauso wichtig ist aber die Frage, ob es sich eine
Gesellschaft leisten kann, dass Millionen von Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern nicht an der wirtschaftli-
chen Entwicklung teilhaben. Ich finde, wir können uns
das nicht leisten, weil es den sozialen Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft gefährdet, wenn wir Menschen mit
Billiglöhnen ausgrenzen. Es ist deshalb Zeit, dass wir
dem endlich mit dem gesetzlichen Mindestlohn einen
Riegel vorschieben; hier sind wir, Kollegin Kerstin
Andreae, ganz dicht beieinander. In einem Land, das
wirtschaftlich so gut aufgestellt ist – besser als viele an-
dere EU-Länder, die ich gerade genannt habe –, muss
das eine Selbstverständlichkeit werden. Deshalb werden
wir dafür sorgen, dass der Mindestlohn, wie im Koali-
tionsvertrag verabredet und schon im Kabinett beschlos-
sen, auch zügig umgesetzt wird.


(Beifall bei der SPD)


Wir werden auch dafür sorgen, Frau Andreae, dass die
Umsetzung durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
kontrolliert wird und Verstößen stringent nachgegangen
wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver-
ständlich nehmen wir die Sorgen einzelner Branchen
sehr ernst. An dieser Stelle möchte ich unserer Ministe-
rin ausdrücklich dafür danken, dass sie sehr frühzeitig
auf einen konstruktiven und intensiven Dialog mit den
einzelnen Branchen gesetzt hat und nach wie vor dafür
sorgt, dass diese bei der Anpassung an den gesetzlichen
Mindestlohn die notwendige Unterstützung erhalten.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde, das Verfahren der Ministerin Nahles ist vor-
bildlich. Ich würde mir wünschen, dass das auch in ande-
ren Bereichen Schule macht.


(Beifall bei der SPD)


Dazu gehört auch, dass wir beim Übergang auf tarifver-
tragliche Lösungen setzen – das ist hier schon gesagt
worden –, um einen vernünftigen, gangbaren Weg für
die Unternehmen, die Probleme haben, zu schaffen.

Kolleginnen und Kollegen, wir haben also Regelun-
gen mit Augenmaß gefunden; ich bin sicher, dass sie
sich in der Praxis bewähren werden. Ich sage allen, die
jetzt zum wiederholten Male – das ist auch schon ange-
klungen – schwere Geschütze gegen den gesetzlichen
Mindestlohn auffahren wollen: Es wird Zeit, abzurüsten.
Der Mindestlohn kommt, und er wird für viele Millionen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut sein, aber er
wird auch unserem Land guttun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

Vom Mindestlohn wird besonders eine Gruppe profi-
tieren: die Arbeitnehmerinnen. Das ist gut, aber es zeigt
auch, dass nach wie vor insbesondere Frauen von Lohn-
ungerechtigkeiten betroffen sind. Sieben von zehn Be-
schäftigten im Niedriglohnbereich sind Frauen. Hier ist
der gesetzliche Mindestlohn ein ganz wichtiger Schritt.
Weitere Schritte müssen folgen; das ist klar. Dazu gehö-
ren konkrete Maßnahmen gegen Lohndiskriminierung,
Regelungen für Frauen in Führungspositionen und natür-
lich das große Thema der Familienarbeitszeiten.

Zum Schluss will ich ansprechen, dass der Mindest-
lohn auch Schluss machen wird mit den Auswüchsen,
die wir in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort
„Generation Praktikum“ in der Praxis erleben mussten.
Sich nach der Ausbildung, häufig nach sehr guter Aus-
bildung, von einem Langzeitpraktikum zum nächsten
hangeln zu müssen und dabei noch schlecht oder gar
nicht bezahlt zu werden – diese Praxis muss der Vergan-
genheit angehören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Praktikum heißt für uns Qualifizierung und Orientie-
rung, aber nicht Ausbeutung. Dazu gehört für uns auch
mehr Rechtssicherheit durch einen schriftlichen Vertrag
sowie eine Mindestvergütung, insbesondere für freiwil-
lige Praktika von bis zu sechs Wochen, die im vorliegen-
den Gesetzentwurf vom Mindestlohn ausgenommen
sind.


(Beifall bei der SPD)


Kolleginnen und Kollegen, das Tarifpaket wird für
mehr Ordnung und Gerechtigkeit im Wirtschafts- und
Arbeitsleben sorgen. Wir führen mit dem Mindestlohn
ein neues Ordnungsinstrument ein und stärken vor allem
mit der Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für
alle Branchen – das gilt dann auch für alle Beschäftigten,
Herr Kollege Ernst – und durch die Reform der Allge-
meinverbindlicherklärung die Tarifautonomie und die
bewährte Sozialpartnerschaft in Deutschland. Das ist
nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch ver-
nünftig.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803901800

Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803901900

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen

und Herren! Auch ich möchte wie mein Kollege Klaus
Ernst allen gratulieren, die seit über zehn Jahren für ei-
nen Mindestlohn gekämpft haben, und dabei meine ich
insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen von den
Gewerkschaften, die nicht nachgelassen haben, für die-
ses Thema immer wieder neu zu streiten.

(Beifall bei der LINKEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sehr spät begonnen haben!)


Seit 2006 legt die Linke Anträge zum Mindestlohn
vor. Ich erinnere mich, dass die SPD unsere Anträge zum
Mindestlohn seit diesem Zeitpunkt abgelehnt hat. Von
daher müssen wir nicht streiten, wer welche Anträge ein-
gebracht hat. Wenn Sie uns zugestimmt hätten, hätten
wir schon seit 2006 einen Mindestlohn.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich würde auch gerne der SPD an dieser Stelle gratu-
lieren, aber irgendwie kriege ich das nicht hin. Sie hatten
die Chance, die verheerenden Folgen der Agenda 2010
abzufedern. Wie ich der Rede von Frau Nahles entnom-
men habe, ist die Agenda 2010 der Grund dafür, warum
wir überhaupt einen Mindestlohn in Deutschland brau-
chen. Wegen der Agenda 2010 musste entsprechend kor-
rigiert werden.

Den Wert und die Würde der Arbeit in Deutschland
zu verteidigen, und das flächendeckend, das ist die Auf-
gabe, die wir unbedingt wahrnehmen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Chance haben Sie aus unserer Sicht durch das un-
selige Gefeilsche um die Ausnahmen beim ohnehin zu
niedrigen Mindestlohn verpasst.

Die Wahrheit ist, dass dem Gejammer der Arbeitge-
berseite nachgegeben wurde. Sie haben dem nichts ent-
gegengesetzt. Das Resultat ist, dass wir es jetzt mit ei-
nem Flickenteppich von Ausnahmen zu tun haben,
einem Flickenteppich im Hinblick auf Personengruppen,
denen gesagt wird: Eure Arbeit ist weniger wert als die
Arbeit eurer Kolleginnen und Kollegen.

Können Sie sich eigentlich vorstellen, was das für ei-
nen 17-Jährigen oder eine 17-Jährige bedeutet, wenn der
ein Jahr ältere Kollege oder die Kollegin mehr Geld be-
kommt als er oder sie selbst? Das ist doch nicht in Ord-
nung!


(Beifall bei der LINKEN)


Können Sie sich vorstellen, was es für einen Beschäftig-
ten, der aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt, bedeu-
tet, wenn ihm per Gesetz vom ersten Tag an mitgeteilt
wird, dass seine Arbeit weniger anerkannt wird und we-
niger wert ist? Das geht doch nicht!


(Beifall bei der LINKEN)


Das hat mit der guten Idee eines Mindestlohns nichts zu
tun. Mich ärgert das total.

Auch die Tatsache, dass Arbeitgebervertreter jetzt
tagtäglich auf der Matte stehen und eine Ausnahme nach
der nächsten fordern, macht mich unglaublich ärgerlich.
Niemand von der Regierungskoalition haut auf den
Tisch und sagt: Leute, damit ist jetzt Schluss! Wir führen
das ein, ohne Wenn und Aber! – Aber genau das machen
Sie nicht.


(Beifall bei der LINKEN)






Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

Durch Ihre Haltung, dadurch, dass Sie einfach nichts
tun, geben Sie die Interessen der Beschäftigten preis,
und das ist absolut nicht in Ordnung.

Als Linke können wir die geplanten Ausnahmen nicht
hinnehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Würde der Menschen kennt keine Ausnahmen. Für
Ihren Flickenteppich gibt es keine wirtschaftliche und
auch keine juristische Rechtfertigung. Ich fordere Sie
auf: Nehmen Sie Abstand von der Diskriminierung der
Langzeitarbeitslosen und der Jugendlichen.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, während wir hier
im Bundestag über dieses Mindestlohngesetz streiten,
stehen am Brandenburger Tor Kolleginnen und Kollegen
der Gewerkschaften und vom DGB, die unter dem Motto
„Mindestlohn für alle, jetzt. Würde kennt keine Ausnah-
men“ darauf aufmerksam machen wollen, dass sie mit
den Ausnahmeregelungen nicht einverstanden sind.

Wir von der Linken können uns dem nur anschließen.
Auf Ihren Flickenteppich Mindestlohn können sich die
Menschen da draußen nicht verlassen, aber darauf
schon: Wir, die Linke, werden nicht lockerlassen, bis alle
Beschäftigten zu ihrem Recht gekommen sind, und zwar
flächendeckend.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803902000

Matthias Zimmer erhält nun das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1803902100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre

1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA,
veröffentlichte der Schotte Adam Smith sein wohl be-
kanntestes Werk über den Wohlstand der Nationen. Es
wurde zum wirtschaftspolitischen Grundmanifest einer
ganzen Epoche. Smith begründete die politische Ökono-
mie, und er wurde zum Stammvater des wirtschaftlichen
Liberalismus. Umso überraschender ist es, dass wir in
diesem Buch auch eine Passage über den gerechten Lohn
finden. Es sei der Lohn, der einem Arbeiter zustehe, um
sich und seine Familie zu ernähren. Nein, überraschend
war das eigentlich nicht; denn Smith war Moralphilo-
soph und sah die Wirtschaft in einer auf den Menschen
bezogenen, dienenden Funktion. Nur so viel, Herr Kol-
lege Ernst: Wer hat’s erfunden? Die Liberalen waren Ih-
nen da 230 Jahre voraus.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben es nur nicht umgesetzt! Und was habt ihr gemacht?)

Meine Damen und Herren, etwas mehr als 100 Jahre
später, im Jahre 1891, griff Papst Leo XIII. in der ersten
Sozialenzyklika Rerum Novarum den Begriff des ge-
rechten Lohns wieder auf. Er ist seither fester Bestand-
teil der katholischen Soziallehre. So nahe wie damals
waren sich Liberalismus und katholische Soziallehre
vermutlich nie wieder.

Wer dagegen heute den „Sinn“-Spruch eines gleich-
namigen Münchener Ökonomen vernimmt, die Löhne
müssten nur weit genug fallen, damit jeder Arbeit be-
kommt, vermisst schmerzlich jene normative Dimen-
sion, die einmal die Attraktivität des Liberalismus aus-
gemacht hat.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Wir haben in der sozialen Marktwirtschaft viele Ant-
worten auf die Frage des gerechten Lohns gegeben. Eine
über lange Jahre gebräuchliche Antwort war: Die Lohn-
findung überlassen wir den Sozialpartnern, also den Ar-
beitnehmern und den Arbeitgebern. Der Staat soll sich
aus der Lohnfindung heraushalten, dann wird es gerecht.
Das setzt aber starke Arbeitgeberverbände und Gewerk-
schaften voraus, und diese Voraussetzung – die Ministe-
rin hat es erwähnt – ist seit den 90er-Jahren zunehmend
erodiert.


(Zurufe von der LINKEN: Genau! – Richtig!)


Wir haben dann gesagt: „Lasst uns nicht über den ge-
rechten Lohn, sondern über Einkommen diskutieren“,
und haben zu niedrige Löhne durch den Staat aufge-
stockt. Das war in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit durch-
aus eine breit akzeptierte Vorgehensweise. Wahr ist aber
auch: Diese Aufstockung ist eben auch eine Subvention
wirtschaftlicher Tätigkeit, und zwar in doppelter Weise;
denn zum einen stockt der Staat nicht hinreichende
Löhne auf, zum anderen muss er dann nach dem Arbeits-
leben nicht auskömmliche Renten durch die Grundsiche-
rung im Alter finanzieren. Ob das alles im Zeitalter eines
Fachkräftemangels noch sinnvoll ist, mag man füglich
bezweifeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Wir haben über viele Jahre – recht erfolgreich, wie
ich finde – branchenbezogene Mindestlöhne für allge-
meinverbindlich erklärt und damit in vielen Branchen
den Wettbewerb sinnvoll geregelt. Aber es gibt noch
viele weiße Flecken in der Tariflandschaft. Deshalb ist
es gut und richtig, wenn wir als Schlussstein der Ord-
nung der Lohnfindung in Deutschland heute den Gesetz-
entwurf zur Einführung eines allgemeinen Mindestlohns
diskutieren, mit dem ein angemessener Mindestschutz
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt
werden kann. Der Mindestlohn soll künftig verhindern,
dass der Wettbewerb über die Fähigkeit definiert wird,
Löhne zu drücken. Wir erkennen damit an, dass der Ar-
beitsmarkt ein abgeleiteter Markt ist und anders behan-
delt werden muss als Märkte, die vollkommen vom Spiel
von Angebot und Nachfrage geleitet werden.





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sind wir als Christdemokraten unserem Bild von Ar-
beit und unserem Bild des Menschen auch schuldig.

Wenn wir nun in die parlamentarischen Beratungen
über den Gesetzentwurf einsteigen, so habe ich einige
Wünsche dazu. Es ist nur fair, diese am Anfang der Be-
ratungen auszusprechen. Ich will nur drei nennen:

Erstens glaube ich nicht, dass wir uns mit der vorlie-
genden Form der Generalunternehmerhaftung wirklich
einen Gefallen tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zwar ist es ja durchaus ein biblisches Motiv, Haftung bis
ins sechste oder siebte Glied – das sagt einiges über die
Bibelfestigkeit der Ministerin aus –, aber ich halte das in
der Praxis gerade im Mittelstand für nicht wirklich hilf-
reich. Darüber müssen wir noch einmal intensiv nach-
denken.

Zweitens finde ich die Regelung bei Praktika – Frau
Kollegin Reimann, ich stimme Ihnen da vollkommen zu;
die Generation Praktikum wollen wir nicht –


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Richtig!)


noch nicht wirklich überzeugend. Wir nehmen zwar
Pflichtpraktika von Studierenden vom Mindestlohn aus,
aber häufig sind gerade in geisteswissenschaftlichen Stu-
dienfächern längere Praktika während des Studiums eine
Brücke in die Beschäftigung nach dem Studium. Das
sind aber in aller Regel, weil die Geisteswissenschaften
keine Pflichtpraktika kennen, freiwillige Praktika. Ver-
sperren wir hier nicht Möglichkeiten, anstatt zu helfen,
Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen? Mir fehlt im Üb-
rigen auch eine genaue Definition des Praktikums, etwa
in Abgrenzung zu einem Volontariat oder zu einem Trai-
nee-Programm.

Ein Drittes; dies regt mich ein wenig auf. Das Gesetz
soll den schönen Namen Tarifautonomiestärkungsgesetz
tragen. Dann sollten wir das auch tun. Wir haben eine
Mindestlohnkommission vorgesehen, die einen Vorschlag
zum Mindestlohn erarbeiten soll. Nun höre ich von der
BDA und dem DGB, dass man sich dieser Arbeit entzie-
hen und einfach den Tarifindex nachgehend zum Maß-
stab für die Festlegung des Mindestlohns machen will.
Ich finde das einigermaßen abenteuerlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir scheint, da will sich jemand die Hände in Unschuld
waschen und sagen: Mit dem Mindestlohn habe ich
nichts zu tun, das ist Sache der Politik. – Nein, meine
Damen und Herren vom DGB und von der BDA, das ist
Sache der Tarifparteien in der Kommission. Ich will
schon, dass sich die Mindestlohnkommission die Arbeit
macht, ihren Vorschlag genau zu begründen, sich dabei
an bestimmten Kriterien ausrichtet und dann auch aus-
führlich berichtet; denn das hilft uns am Ende bei der
Evaluation des Mindestlohns.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist gerade in ersten Lesungen eines Gesetzentwur-
fes schon beinahe parlamentarische Folklore, auf das
Struck’sche Gesetz hinzuweisen, wonach kein Gesetz
den Bundestag so verlässt, wie es in ihn hineingekom-
men ist. Ich will das Struck’sche Gesetz heute um eine
Vermutung ergänzen, dass nämlich dann, wenn beide
Regierungsfraktionen der Großen Koalition konstruktiv
zusammenarbeiten, das Gesetz nicht nur anders, sondern
besser den Bundestag verlässt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Da gibt es nichts mehr, das man besser machen könnte! Alles ist gut!)


Auf eine erste empirische Überprüfung dieser Vermu-
tung freue ich mich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803902200

Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803902300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Zimmer, Sie haben gerade gesagt: Schön, dass wir heute
über den Mindestlohn diskutieren. Ich habe einmal nach-
gezählt: In den letzten Jahren haben wir hier in diesem
Parlament mehr als 22-mal über den Mindestlohn disku-
tiert.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Mindestens!)


Ich gestehe hier ganz offen: Manchmal hatte ich, insbe-
sondere was die rechte Seite des Hauses angeht, das Ge-
fühl, dass ich auf ein totes Pferd einrede.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Dass dieser Gaul jetzt doch in Trab kommt,


(Heiterkeit des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


halte ich für einen extremen gesellschaftlichen Fort-
schritt. Ich finde, das sollten wir deutlich sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wenn wir loslaufen, sind wir nicht mehr anzuhalten!)


Aber ich finde, wir sollten auch sagen, dass wir die
Ziellinie leider noch lange nicht erreicht haben. Die
Mindestlohngegner haben noch lange nicht aufgegeben.
Dabei fällt mir die folgende Frage ein: Wo ist eigentlich
Herr Linnemann? Herr Linnemann, der über die Presse
immer Neues fordert, ist hier als Redner nicht vorgese-
hen.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Warten Sie einmal auf die zweite Lesung!)


Sie arbeiten weiter mit Hochdruck daran, den Mindest-
lohn immer weiter auszuhöhlen. Wenn Sie sich durchset-
zen und nur ein Teil der vorgesehenen Ausnahmen im
Gesetz steht, dann werden wir es nicht mit einem flä-
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu tun haben.
Dann werden wir es mit einem Niedriglohnsektor unter-
halb des Mindestlohns zu tun haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Das hätte zur Konsequenz, dass die Niedriglöhner in
Konkurrenz zu den Mindestlöhnern träten. Dann würde
der Mindestlohn zu einem Konkurrenznachteil gegen-
über den Niedriglöhnern. Das können wir auf gar keinen
Fall wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Willi Brase [SPD] und Klaus Ernst [DIE LINKE])


Deswegen, liebe Frau Nahles, betrachten wir die Aus-
nahmen, die der Gesetzentwurf vorsieht, voller Skepsis.
Ich nenne die Ausnahme für die unter 18-Jährigen. Sie
wissen, dass ich ganz persönlich – daraus habe ich nie
einen Hehl gemacht – die Sorge sehr ernst nehme, dass
der Mindestlohn tatsächlich für Jugendliche den Anreiz
setzen könnte, auf eine Ausbildung zu verzichten und
stattdessen jobben zu gehen. Deswegen hat meine Frak-
tion ein sehr hochkarätig besetztes Fachgespräch dazu
durchgeführt. Nach diesem Fachgespräch kann ich Ihnen
eines klipp und klar sagen: Ihr Vorhaben taugt nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das können Sie so nicht sagen!)


Das ist weniger als ein Placebo. Ihre Regelung trifft ge-
nau 9 000 Personen. 9 000 unter 18-Jährige sind sozial-
versicherungspflichtig beschäftigt. Das ist Ihre Ziel-
gruppe. Von Ihrer Regelung betroffen sind am Ende aber
320 000 unter 18-Jährige, die neben der Schule und ne-
ben der Ausbildung jobben gehen. 9 000 Personen wol-
len Sie treffen, aber 320 000 treffen Sie in Wirklichkeit.
Das ist ein Kollateralschaden, der sich gewaschen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn Sie wirklich etwas für junge Leute tun wollen,
dann müssen Sie dafür sorgen, dass attraktive Ausbil-
dungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und die in
Ihrer Koalitionsvereinbarung vorgesehene Ausbildungs-
platzgarantie endlich umsetzen.

Frau Nahles, richtig übel nehme ich Ihnen die Aus-
nahmen für die Langzeitarbeitslosen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie wollen uns das hier verkaufen als eine Starthilfe für
Langzeitarbeitslose, um in Arbeit zu kommen. Das ist
keine Starthilfe, das ist Stigmatisierung. Die Botschaft,
die Sie aussenden, lautet: Die können doch nichts, die
kriegt ihr billiger. Wenn das keine Stigmatisierung ist,
dann weiß ich nicht, was Stigmatisierung ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen sehr genau, dass es sich bei den Langzeit-
arbeitslosen um eine sehr heterogene Gruppe handelt.
Ich bestreite überhaupt nicht, dass es darunter auch Men-
schen gibt, die erhebliche Leistungseinschränkungen ha-
ben. Für diese Gruppe haben wir aber ein sehr zielge-
naues Instrument, nämlich die Lohnkostenzuschüsse.
Statt dieses Instrument fortzuentwickeln, stigmatisieren
Sie über 1 Million Menschen als nicht leistungsfähig.

Ihnen geht es im Übrigen gar nicht um die Integration
von Langzeitarbeitslosen. Die Langzeitarbeitslosen sind
das Bauernopfer, das die SPD der Union in Sachen Min-
destlohn geben musste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Das ist der Skalp, den die Union gefordert hat, um zu de-
monstrieren, dass die Sozialdemokratisierung der Union
noch nicht vollends abgeschlossen ist. Ich sage Ihnen
aber: Hier geht es ausdrücklich nicht um politische Ge-
ländegewinne in der Koalition; hier geht es um den
Schutz vor Lohndumping, und zwar für alle Beschäftig-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja! Ganz genau!)


Noch eine Bemerkung: Dieses Gesetz heißt ja Gesetz
zur Stärkung der Tarifautonomie. Von dieser Ausnahme
bei den Langzeitarbeitslosen profitieren übrigens auch
nur die Betriebe, die keinen Tarifvertrag haben, weil die,
die einen Tarifvertrag haben, diese Ausnahme nicht ma-
chen können. So weit zur Stärkung der Tarifautonomie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wir werden in den Bera-
tungen noch eine Menge Themen ansprechen müssen.
Auf die Konstruktion der Mindestlohnkommission ist
hingewiesen worden, auf die Evaluierung, die erst 2020
beginnen soll, ebenfalls. Auf die geplanten Ausnahmen
und ihre Folgen müssen wir ebenso eingehen wie auf das
Einfrieren des Mindestlohns bis 2018. Wissen Sie, was
das bedeutet? Das bedeutet, dass die Politik bis 2018 den
Mindestlohn festlegt, also genau das passiert, wogegen
Sie sich hier immer wieder zur Wehr setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dann müssen wir auch einmal darüber reden, ob die-
jenigen, die nicht vom Mindestlohn profitieren, eigent-
lich überhaupt geschützt werden –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803902400

Frau Kollegin.






(A) (C)



(D)(B)


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803902500

– ich komme zum Schluss – und ob deren Löhne nicht

die Grenze der Sittenwidrigkeit unterschreiten. Das kön-
nen Sie doch nicht ernsthaft wollen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das alles sind
keine Petitessen. Es geht um mehr als 5 Millionen Men-
schen hier in Deutschland. Es geht um die Bekämpfung
des Niedriglohnsektors. Ich finde, das ist des Schweißes
der Edlen wert.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803902600

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1803902700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Deutschland ist wirtschaftlich und sozial
erfolgreich. Diesen Weg des Erfolgs wollen wir fortset-
zen. Unser Erfolgsrezept lautet dabei soziale Marktwirt-
schaft. Soziale Marktwirtschaft ist immer eine Wettbe-
werbsordnung, die den sozialen Ausgleich aber niemals
beiseitelässt. Keiner darf verloren gehen; das ist unser
Anspruch. Natürlich umfasst soziale Marktwirtschaft
auch Wettbewerb: Wettbewerb um innovative Ideen, um
beste Produkte, um den Vorsprung an Wissen und Kön-
nen. All das zeichnet unser Land aus. Das wollen wir
auch unterstützen, beispielsweise in den Bereichen For-
schung und Wissenschaft, Infrastruktur und duale Aus-
bildung. In diesen Bereichen wird Zukunft gewonnen.
Deshalb geben wir hier auch in Zukunft mehr Geld aus.

Soziale Marktwirtschaft beinhaltet nach unserem Ver-
ständnis aber nicht Dumpinglöhne und Wettbewerb um
die niedrigsten Löhne und die schlechteste Bezahlung.
Wir wissen: Gute Arbeit muss sich lohnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wo Vollzeit gearbeitet wird, da sollen die Menschen, die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch angemessen
bezahlt werden. Leistung muss fair bezahlt werden.

Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe un-
serer Sozialpartner, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
in unserem Land, und nicht des Staates – nicht in erster
Linie. Die Sozialpartnerschaft hat über Jahrzehnte hin-
weg für Wohlstand und sozialen Frieden gesorgt. Gute
Tarifverträge sind die Garantie dafür, dass Leistung fair
bezahlt wird. Davon profitieren im Übrigen auch die un-
tersten Lohngruppen. Wir haben in großzügiger Art und
Weise die branchenbezogenen Mindestlöhne ausgewei-
tet. 4 Millionen Menschen profitieren derzeit davon,
doppelt so viele wie 2009. Wenn man sich die tariflichen
Mindestlöhne ansieht, dann stellt man fest, dass diese zu
fast 90 Prozent über 8,50 Euro liegen. Das ist der Erfolg
von tariflichen Mindestlöhnen. 79 Prozent liegen im Üb-
rigen bei 10 Euro und mehr. Deswegen wollen wir die
Tarifbindung in diesem Land stärken und hier auch un-
terstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Soziale Marktwirtschaft funktioniert aber nur dann,
wenn wir starke Sozialpartner haben. Deswegen müssen
wir das Interesse an der Sozialpartnerschaft hochhalten,
zum einen auf der Arbeitnehmerseite, indem wir sagen:
„Geht in die Gewerkschaften, kämpft für eure Interes-
sen“, zum anderen auf der Seite der Unternehmen, damit
diese sagen: „Ja, ich möchte Mitglied in einem Arbeitge-
berverband werden und damit auch Einfluss auf die Ta-
rifgestaltung in diesem Land nehmen.“

Tatsache ist aber auch: Die Tarifbindung hat sowohl
in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland abge-
nommen, in den letzten 16 Jahren um rund 20 Prozent.
Die Anzahl der Betriebe mit Branchentarifbindung liegt
im Westen derzeit bei 53 Prozent, im Osten bei 36 Pro-
zent. Das ist eine Entwicklung, die wir stoppen wollen.
Deswegen werden wir dafür sorgen, dass wir das Netz
an Tarifverträgen weiter ausbauen, indem wir die Allge-
meinverbindlichkeitserklärung stärken und auch den Zu-
gang zu den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz bietet, entsprechend erleichtern.

Aber dort, wo die Lohnfindung auf tarifvertraglicher
Ebene nicht funktioniert, weil die Tarifbindung nicht
gegeben ist oder weil sich die Arbeitnehmer in diesem
Bereich unzureichend organisieren, da bedarf es einer
Lohnuntergrenze. Deswegen kommt der gesetzliche
Mindestlohn von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sagen auch: Einmal werden wir den gesetzlichen
Mindestlohn hier im Rahmen des Gesetzgebungsverfah-
rens festlegen, aber in Zukunft werden bezüglich der
Entwicklung des Mindestlohns die Tarifvertragsparteien
eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind es, die in der
Mindestlohnkommission Verantwortung dafür zu tragen
haben, wie sich die Entwicklung des Mindestlohns in
Zukunft gestaltet. Da hat Automatismus keinen Platz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Platz hat hier nur eine Gesamtabwägung; denn es ist er-
forderlich, dass gut begründet wird, wie denn die Aus-
wirkungen von Mindestlohnregelungen auf Beschäf-
tigung, auf Branchen, auf Regionen sind. Diese
Auswirkungen sollen dezidiert und genau begutachtet
werden. Dann soll im Rahmen einer Gesamtabwägung
entschieden werden, welche Höhe des Mindestlohns in
Zukunft angemessen ist.

Wir haben – das müssen wir konstatieren – derzeit
keine Erfahrung mit gesetzlichen Mindestlöhnen. Wir
haben Erfahrung mit Branchenlöhnen. Hier haben wir
derzeit keine feststellbar negativen Beschäftigungsef-
fekte. Aber wir steigen sehr hoch ein – international ge-
sehen –, und wir gehen auch nicht so vorsichtig vor, wie
dies beispielsweise andere Länder gemacht haben. Des-
wegen müssen wir darauf achten, dass der Schuss für
Einzelne nicht nach hinten losgeht.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Stephan Stracke


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen darauf achten, dass wir nicht in großem
Ausmaß negative Beschäftigungseffekte kreieren. Des-
wegen war uns von Anfang an wichtig: Wenn wir jetzt
den Mindestlohn einführen, dann müssen wir das Gesetz
auch entsprechend evaluieren, damit wir tatsächlich die
Kontrolle haben, wie sich das auf die Lebenswirklichkeit
auswirkt.

Deswegen haben wir uns auch für Ausnahmen einge-
setzt. Ausnahmen gebieten die Vernunft und die Verant-
wortung beispielsweise auch gegenüber denjenigen, die
schwächer aufgestellt sind, die gering qualifiziert sind
oder langzeitarbeitslos sind. Das hat, Frau Pothmer,
nichts mit Stigmatisierung zu tun,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


sondern es hat ausnahmslos damit zu tun, dass wir hier
die Chancen auf den Einstieg in das Arbeitsleben bei-
spielsweise für diejenigen, die langzeitarbeitslos sind,
die gering qualifiziert sind, hochhalten müssen und
keine neuen, keine zusätzlichen Hürden aufbauen dür-
fen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lohnkostenzuschüsse!)


Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass Langzeit-
arbeitslose in den ersten sechs Monaten von dem Min-
destlohn ausgenommen werden. Ich glaube, das erhöht
die Chancen für Langzeitarbeitslose, in den ersten Ar-
beitsmarkt zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! Genau so ist es!)


Wir haben sichergestellt, dass Auszubildende, die bei-
spielsweise eine duale Ausbildung machen, vom Min-
destlohn ausgenommen werden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unstrittig!)


Denn wir wollen die duale Ausbildung hochhalten; sie
ist ein Erfolgsgarant für unsere hohe Beschäftigung in
Deutschland. Deswegen ist es richtig, dass wir auch hier
eine Ausnahme machen.

Es ist genauso richtig, dass wir eine Altersgrenze ein-
führen. Beides hat miteinander zu tun. Wenn ich einen
gesetzlichen Mindestlohn für einen Ungelernten ein-
führe, dann wird es attraktiver sein, nicht in eine Ausbil-
dung zu gehen. Deswegen ist die Altersgrenze von
18 Jahren bereits ein Erfolg, und wir müssen dann im
Rahmen der Evaluation des Gesetzes sehen, wie hier die
Wirkungen sind.

Im Übrigen haben wir auch klargestellt, dass Ehren-
amtlichkeit nichts mit Mindestlohn zu tun hat. Auch das
gehört in eine Gesamtordnung mit hinein.

Wir wissen auch, dass manche Branchen einen beson-
deren Anpassungsbedarf haben werden. In der Koali-
tionsvereinbarung wird bereits die Landwirtschaft ge-
nannt. Wir haben diesbezüglich zwei Regelungen
vorgesehen: zum einen, dass wir Ausnahmen für Tarif-
verträge bis Ende 2016 machen, und zum anderen hat
die Ministerin in ihrem Zuleitungsschreiben an dieses
Hohe Haus auch deutlich gemacht, dass sie in bestimm-
ten Branchen keine Verwerfungen will, insbesondere
was die Saisonarbeit angeht. Die Ministerin hat verspro-
chen, zu liefern. Wir sehen dem, was sie hier auf den
Weg bringt, mit großer Sympathie entgegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir beraten
heute in erster Lesung das Mindestlohngesetz, das auch
eine Veränderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
und der Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit sich
bringt. Es handelt sich insgesamt um ein Tarifpaket, das
die Tarifautonomie stärkt. Ich wünsche uns in der nächs-
ten Zeit gute Beratungen und hoffe, dass letztlich ein Pa-
ket herauskommt, von dem wir tatsächlich in Gänze sa-
gen können: Das bringt Deutschland weiter voran.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803902800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1803902900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Mindestlohn kommt nun endlich. Er wird für mehr Ord-
nung am Arbeitsmarkt sorgen, er wird vor Niedriglöh-
nen schützen und damit für mehr Gerechtigkeit für mehr
als 5 Millionen Menschen in Deutschland sorgen. Ich
bin stolz darauf. Wir können froh sein, dass sich die vie-
len Jahre sozialdemokratischer, aber auch gewerkschaft-
licher Anstrengung gelohnt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will ganz klar sagen – weil einige das in der
Debatte angesprochen haben –: Der Mindestlohn wird
kein stumpfes Schwert. Wir werden die Einhaltung kon-
trollieren. Wir werden nicht dulden, dass es Schlupflö-
cher gibt, zum Beispiel durch Subunternehmen. Die
8,50 Euro sind gesetzlich verankert, und sie gelten flä-
chendeckend, für alle Menschen in Ost und West, für
alle Branchen.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem gesetzli-
chen Mindestlohn betreten wir in Deutschland tatsäch-
lich Neuland. Das machen wir, weil die Auswüchse im
Niedriglohnsektor in den letzten Jahren die Politik zum
Handeln zwingen. Ich sage durchaus selbstkritisch
– nicht alle haben nämlich immer bei allem recht, wie
Sie es von sich denken, Herr Ernst –: Die Flexibilisie-
rung des Arbeitsmarktes hat für viele Menschen neue
Chancen mit sich gebracht. Aber es hätte sich am An-
fang auch niemand vorstellen können, wie sehr Unter-
nehmen sie ausnutzen, durch Dumpinglöhne und durch





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

Aufstocker, und das auf Kosten der Beschäftigten und
damit auf unser aller Kosten. Deshalb ist es notwendig
und richtig, jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn einzu-
führen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Mindestlohn ist kein Allheilmittel. Aber er ist
notwendig, um eine Spaltung des Arbeitsmarktes und
damit auch eine Spaltung der Gesellschaft zu verhin-
dern. In Europa betreten wir damit übrigens kein Neu-
land. 21 der 28 EU-Staaten haben schon einen Mindest-
lohn.

Der Mindestlohn ist eine Untergrenze, eine Haltelinie
nach unten. Noch besser sind immer gute Tariflöhne.
Deshalb ist unser Gesetz auch ein Gesetz zur Stärkung
der Tarifautonomie. Wir sorgen dafür, dass Tarifverträge
leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können.
Wir schaffen eine Übergangsregelung von zwei Jahren,
die dazu führt, dass mehr Branchen Tarifverträge ab-
schließen. In den Bereichen, in denen bisher überhaupt
keine Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herrschte – ich
nenne nur die Fleischindustrie, die wir in diesem Haus
erst vor kurzem einstimmig ins Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz aufgenommen haben –, werden endlich Tarifver-
träge geschlossen, die dann übrigens für die komplette
Branche gelten, wenn für sie das Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz gilt, und nicht nur für einige Unternehmen. Das
ist ein guter und wichtiger Schritt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mindestlohn ist
ein Stück mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Aber er ist auch ein Stück mehr Ge-
rechtigkeit für Arbeitgeber, nämlich für die Unterneh-
mer, die anständig zahlen und ehrlich wirtschaften.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ CSU])


Denn ein Arbeitgeber, dessen Geschäft nur funktioniert,
wenn er so niedrige Löhne zahlt, dass der Staat sie auf-
stocken muss, hat kein gutes Geschäftsmodell. Das wol-
len wir nicht haben. Das belastet die Allgemeinheit, und
das belastet auch die Steuerzahler.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Insofern wird es auch für die Arbeitgeber in Zukunft
gerechter werden. Der Mindestlohn ermöglicht Wettbe-
werbsgerechtigkeit. Dabei geht es nicht darum, wer die
niedrigsten Löhne zahlt und dann auf dieser Basis mit
anderen konkurriert, sondern es wird um gute Arbeitsbe-
dingungen, gute Löhne, gute Produkte und Dienstleis-
tungen gehen. Das ist eine sinnvolle Sache.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz insgesamt gu-
ter Arbeitsmarktdaten befinden sich weiterhin 1 Million
Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit; ich will auf diese
Gruppe eingehen, weil ich die Kritik, die Sie an der vor-
gesehenen Ausnahme geübt haben, durchaus nachvoll-
ziehen kann. Es ist schwierig, Menschen, von denen vie-
len eine Ausbildung fehlt, die vielfach persönliche,
gesundheitliche oder – das nimmt immer mehr zu – psy-
chische Probleme haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu
vermitteln. Deshalb sage ich ganz klar: Wir müssen und
wollen mehr tun, damit Langzeitarbeitslose eine Per-
spektive bekommen, damit sie begleitet werden, und
zwar länger als bisher, wenn sie einen Job bekommen,
damit mehr aktive Leistungen statt passiver Leistungen
finanziert werden. Wir werden mittel- und langfristig si-
cherlich auch einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, in
dem diese Menschen besonders unterstützt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einfüh-
rung eines Mindestlohnes ist für Langzeitarbeitslose,
also für Menschen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind,
eine befristete Ausnahme von sechs Monaten vorgese-
hen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass meine Fraktion
von dieser befristeten Ausnahme beim Mindestlohn für
Langzeitarbeitslose nicht begeistert ist. Man hat sich in-
nerhalb des Kabinetts aber darauf geeinigt.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir festgehalten haben,
dass es schon zum 1. Januar 2017 eine Evaluation geben
wird, damit wir sehen, ob diese Regelung eine Wieder-
eingliederung in den Arbeitsmarkt verhindert oder beför-
dert hat. Wir werden dann auch sehen, ob es sinnvoll ist,
sie beizubehalten. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir
aufpassen, dass wir nicht eine bestimmte Gruppe stigma-
tisieren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Rege-
lung sehr genau überprüfen.

Im Zuge der Beratung des Gesetzentwurfes, die wir
jetzt vor uns haben, sollten wir auch darauf achten, dass
diese Ausnahme nicht ausgenutzt wird und dazu führt,
dass zum Beispiel ein Arbeitgeber immer wieder Lang-
zeitarbeitslose für sechs Monate einstellt. Ein solches
„Hire und Fire“ werden wir nicht dulden.


(Beifall bei der SPD)


Es darf auch nicht passieren, dass ein Langzeitarbeits-
loser immer nur für sechs Monate einen Job erhält. Auch
dagegen kann man eine Regelung einbauen, sodass das
zum Beispiel nur einmal innerhalb mehrerer Jahre mög-
lich ist. Bei der Evaluation werden wir dann sehen, wie
sich das auswirkt. Uns geht es um echte Teilhabeange-
bote für Langzeitarbeitslose. Deshalb ist es gut, dass wir
die Gelder für Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit
bzw. zur Vermittlung in Arbeit nach vielen Jahren des
Sparens jetzt endlich wieder deutlich aufstocken.
350 Millionen Euro pro Jahr, also insgesamt 1,4 Milliar-
den Euro in dieser Wahlperiode: Das ist eine richtige Sa-
che.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Wir werden
den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Ost
und West für alle Branchen und ohne jede Ausnahme
einführen. Damit stärken wir auch die Tarifautonomie.

Nach vielen Diskussionen mit Gewerkschaften und
Arbeitgebern beginnen heute die Beratungen im Bundes-





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

tag, und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es noch vor
der Sommerpause schaffen werden, den gesetzlichen
Mindestlohn, beginnend mit 8,50 Euro, einzuführen. Wir
sind stolz darauf, dass wir das in dieser Regierungskoali-
tion schaffen und damit vielen Menschen wirklich hel-
fen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803903000

Das Wort erhält nun der Kollege Wilfried Oellers für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wilfried Oellers (CDU):
Rede ID: ID1803903100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir beraten heute in der ersten Lesung den Entwurf
des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Das verfassungs-
rechtlich verankerte hohe Gut der Tarifautonomie hat in
der Vergangenheit dazu geführt, dass die Tarifvertrags-
parteien in allen Bereichen stets erfolgreich gemeinsame
Regelungen und Lösungen erarbeitet haben. Dies war
zum Teil mit harten Verhandlungen verbunden, die zu
Kompromissen führten, in denen die Interessen beider
Tarifvertragsparteien akzeptabel berücksichtigt worden
sind – und das auch in schwierigen Zeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daher ist es nur konsequent, dass die Tarifautonomie
durch das hier vorliegende Tarifpaket weiter gestärkt
werden soll.

Bei der näheren Betrachtung des Gesetzentwurfs gilt
es jedoch, einige Aspekte nochmals zu bedenken. Ich
komme zunächst zur Öffnung des Arbeitnehmer-End-
sendegesetzes für alle Branchen: Diese ist grundsätzlich
zu begrüßen, da sie die Tarifautonomie stärkt. Ich bitte
jedoch, auf die Bestimmungen zur Definition der einzel-
nen Branchen ein gewisses Augenmerk zu legen, um
klare Trennungen zu regeln, damit es hier zu keinen
Überschneidungen kommt. Zur Klarstellung sollte hier
insbesondere auch eine gesetzliche Regelung erfolgen.

Zur Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitser-
klärungen von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsge-
setz sei Folgendes erwähnt: Die Allgemeinverbindlich-
keitserklärung nach dem Tarifvertragsgesetz ist ein
bewährtes Instrument, mit dem einheitliche Standards
branchenbezogen geregelt werden können. Allerdings
stellt das Erreichen der erforderlichen starren Quote in
Höhe von 50 Prozent der in den Geltungsbereich des Ta-
rifvertrags fallenden Arbeitnehmer zunehmend ein Pro-
blem dar, wenn es darum geht, auf der Arbeitgeberseite
die Voraussetzungen zu erfüllen.

Diese starre Grenze wird nun aufgehoben. Durch den
nunmehr erforderlichen gemeinsamen Antrag der Tarif-
vertragsparteien und das damit verbundene gemeinsame
Handeln wird die Tarifautonomie gestärkt. Das vom
Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu prüfende
öffentliche Interesse sollte allerdings im besonderen
Maße vorliegen, um zu verhindern, dass bereits eine re-
lative überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrages zu
dessen Allgemeinverbindlichkeit führen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das besondere öffentliche Interesse sollte weiterhin
als Korrektiv gegeben sein. Dies gilt auch für die AVE
von Tarifverträgen über eine gemeinsame Einrichtung.
Diese sollten im Übrigen auch nicht in Konkurrenz zu
anderen Tarifverträgen stehen, an die ein Arbeitgeber
bereits gebunden ist, damit die Tarifautonomie an dieser
Stelle weiterhin gestärkt bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Mindestlohngesetz sei Folgendes erwähnt: Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen einen aus-
kömmlichen Lohn erhalten. Hierfür hat sich die Union
bereits in der Vergangenheit durch die Aufnahme von
14 Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz einge-
setzt und damit jeweils bundesweit einheitliche Mindest-
löhne eingerichtet, zuletzt für die Fleischindustrie. Damit
konnten die Tarifpartnerschaft gestärkt und branchenbe-
zogene Besonderheiten berücksichtigt werden. Letzte-
res war insbesondere deswegen wichtig, um dem Um-
stand Rechnung zu tragen, dass ein Lohn erwirtschaftet
werden muss.

In einigen Bereichen besteht noch ein Lohnniveau
von unter 8,50 Euro. Um in diesen die Lohnhöhe von
8,50 Euro zahlen zu können, ist es erforderlich, gewisse
Übergangszeiten einzuräumen, damit sich das Marktni-
veau und damit das Erwirtschaften von Löhnen der
Lohnsteigerung anpassen können. Eine Möglichkeit ist,
alle bestehenden Tarifverträge für eine Übergangszeit
weiter gelten zu lassen. Für den stark betroffenen Be-
reich der Saisonarbeit sollte ebenfalls eine Übergangsre-
gelung geschaffen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Darüber hinaus sollte auch berücksichtigt werden,
dass die Lohngestaltung in Deutschland sehr vielschich-
tig ist: Bei den Zeitungszustellern wird ein Stücklohn ge-
zahlt. Beim Taxigewerbe liegt die Besonderheit vor, dass
Einnahmen bzw. Preise durch die Kommunen festgelegt
werden. Hier sollten Lösungen gefunden werden.

Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens sind
noch weitere Bestandteile des Mindestlohngesetzes zu
überdenken. Gewollt ist, einen Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro einzuführen. Hierzu steht die Union. Nicht
vereinbart ist allerdings, dass mit dem Mindestlohnge-
setz weitere allgemein geltende Regelungen hinsichtlich
der Handhabung von Überstunden oder Dokumenta-
tionspflichten eingeführt werden sollen. Dies führt zu
mehr Bürokratie, was gerade nicht beabsichtigt ist.

Beide Themenbereiche sollten genauso wie die The-
matik der Verwirkung wie bisher im Regelungsbereich
der Tarifvertragsparteien liegen. Ebenso wenig ist das
Mindestlohngesetz dafür da, strengere Haftungsregelun-
gen einzuführen. Die Unternehmerhaftung ist derart





Wilfried Oellers


(A) (C)



(D)(B)

weitgehend angelegt, dass sie eine Haftungskette ermög-
licht, die unverhältnismäßig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Begrüßenswert ist, dass der gemeinsame Wunsch be-
steht, eine Altersgrenze für die Inanspruchnahme des
Mindestlohns einzuführen, damit kein Anreiz geschaffen
wird, nach dem Schulabschluss eher ohne Ausbildung
ein Arbeitsverhältnis mit einem Stundenlohn von
8,50 Euro einzugehen als eine Ausbildung zu absolvie-
ren, in der man zunächst weniger verdient. Ob eine Al-
tersgrenze von 18 Jahren an dieser Stelle allerdings rich-
tig gewählt ist, muss infrage gestellt werden, wenn man
berücksichtigt, dass die meisten Schulabsolventen ihre
Ausbildung im Alter von über 18 Jahren beginnen. Eine
Anpassung erscheint mir hier geboten zu sein, um das
erfolgreiche duale Ausbildungssystem in Deutschland zu
stärken.

Zur Arbeit der Mindestlohnkommission ist zu erwäh-
nen, dass diese hinsichtlich der Entwicklung des Min-
destlohns keine starre gesetzliche Vorgabe erhalten
sollte. Eine Orientierung an dem Tariflohnindex ermög-
licht keine uneingeschränkte Gesamtbetrachtung aller
zur Neuberechnung des gesetzlichen Mindestlohns he-
ranzuziehenden Umstände.

Nach einer ersten Festlegung des Mindestlohns durch
den Gesetzgeber soll es im Weiteren die gemeinsame
Aufgabe der Tarifvertragsparteien sein, den Mindestlohn
weiterzuentwickeln, und zwar unter Berücksichtigung
einer wirtschaftlichen und sozialen Gesamtbetrachtung.
Da der gesetzliche Mindestlohn eine Neugestaltung des
bisherigen Lohnsystems darstellt, sollte eine Evaluie-
rung möglichst zeitnah nach Inkrafttreten erfolgen.
Auch wenn noch über Einzelheiten gesprochen werden
muss, so sind wir uns einig, dass die Tarifautonomie ge-
stärkt werden muss und der Mindestlohn in Höhe von
8,50 Euro kommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803903200

Ich erteile das Wort der Kollegin Daniela Kolbe für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1803903300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Für mich ist heute wirklich ein ganz besonde-
rer Tag: Wir beraten heute einen guten und für mich und
viele hier im Raum extrem wichtigen Gesetzentwurf.
Das Gesetz wird das Leben von Millionen Menschen in
diesem Land ganz konkret verbessern. Wir reden von
Leistungsträgern, die mit ihrer Hände Arbeit mit dazu
beitragen, dass unser Land so gut dasteht. Dieser Arbeit
geben wir mit dem Gesetzentwurf die Würde zurück, die
sie verdient.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir reden über einen konsistenten und guten Gesetz-
entwurf – ich würde fast sagen: über einen schönen Ge-
setzentwurf –, der komplett ohne Branchenausnahmen
auskommt und stattdessen – großes Kompliment an die
Ministerin und ihr Haus! – Branchengespräche anbietet,
um real existierende Herausforderungen, die es in man-
chen Branchen in der Tat gibt, außergesetzlich zu lösen.
Den Unternehmern, die jetzt noch zweifeln, kann ich zu-
rufen: Ihre Sorgen werden in Berlin von Andrea Nahles
ernst genommen und in diesen Branchengesprächen an-
gegangen. Ich finde, das ist exakt der richtige Weg, da-
mit umzugehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir als Parlament setzen den konkreten Willen der
Menschen in diesem Land um. 86 Prozent – das ist der
überwiegende Teil der Menschen in Deutschland – wol-
len den gesetzlichen Mindestlohn, übrigens auch 82 Pro-
zent der Unionsanhänger. Kluge Leute!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Grundsätzlich, ja! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber unabhängig vom Mindestlohn!)


Nach einer Forsa-Umfrage wollen ihn sogar 57 Prozent
der befragten deutschen Manager. Er scheint auch öko-
nomisch sehr viel Sinn zu machen.

Es ist kein neues Thema, Herr Ernst. Damit haben Sie
völlig recht. Gerade für die ostdeutsche Sozialdemokra-
tie – das kann ich als einzige Ostdeutsche in der Debatte
feststellen – ist heute ein ganz besonderer Tag. Ostdeut-
sche Sozialdemokraten wie Thomas Jurk oder Christoph
Matschie haben bereits im August 2004 die Einführung
von Mindestlöhnen gefordert, um Niedriglöhne, die es
schon damals in Ostdeutschland massiv gab, einzudäm-
men und den Menschen ihre Würde zurückzugeben.


(Beifall bei der SPD)


Gerade die geringe Tarifbindung hat dafür gesorgt,
dass schon damals viele Menschen nicht von ihrer
Hände Arbeit leben konnten. Ein Mindestlohn ist keine
elegante Lösung. Aber aufgrund der massiven Betroffen-
heit ist er die einzig mögliche Maßnahme, die wir treffen
können. Wir als Sozialdemokraten haben die Forderung
schon sehr früh aufgenommen, und nach langem Kampf
und vielen Diskussionen können wir heute sagen: Der
einheitliche gesetzliche Mindestlohn kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Mindestlohn ist wichtig für das gesamte Land,
aber ganz besonders für den Osten der Republik. In Ost-
deutschland haben 2012 fast 2 Millionen Menschen we-
niger als 8,50 Euro pro Stunde verdient. Das sind fast
30 Prozent der Beschäftigten. Gerade die extrem niedri-
gen Stundenlöhne sind in Ostdeutschland besonders ver-
breitet. 11,1 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten ha-





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

ben 2012 weniger als 6 Euro brutto pro Stunde verdient.
Gerade diese Menschen brauchen den Mindestlohn drin-
gend, und er kommt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Den Rest meiner Redezeit – sie ist für dieses Thema
eindeutig zu kurz –


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


möchte ich der Frage der Altersgrenze beim Mindest-
lohn widmen. Ich war immer ein bisschen verwundert
darüber, wie über junge Leute geredet wurde, die angeb-
lich keine Ausbildung antreten, wenn es einen gesetzli-
chen Mindestlohn gibt. Ich habe deshalb an die Berufs-
schulen in meinem Wahlkreis in Leipzig geschrieben
und die jungen Leute gebeten, mir zu schreiben, ob sie
eine Ausbildung begonnen hätten, wenn es bereits einen
Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gegeben hätte,
oder ob sie dann lieber gejobbt hätten. Der übergroße
Teil der Menschen hat geantwortet, natürlich hätten sie
eine Ausbildung gemacht.

Die jungen Menschen sollen das letzte Wort in der
Rede haben. Vielleicht ändert das ein bisschen das Bild,
das wir von der Jugend haben. Ich habe einen ganzen
Stapel Zitate mitgebracht.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803903400

Nein, das geht leider nicht, weil wir in unserer De-

batte keine Mindestredezeiten, sondern Höchstredezei-
ten haben.


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1803903500

Aber Sie wollen als Präsident des Bundestages sicher-

lich auch die jungen Menschen zu Wort kommen lassen.

Zum Beispiel hat jemand geschrieben: „800 Euro
netto ohne Ausbildung mein Leben lang? – Nein danke.“
Jemand anders schreibt: „Ich übe meinen Job leiden-
schaftlich aus, habe mich bewusst für ebendiese Ausbil-
dung entschieden.“ Oder: „Man braucht eine Ausbil-
dung, um im Leben etwas erreichen zu können.“ Und
schließlich: „Ausbildung ist Pflicht. Ohne geht es nicht.“ –
In diesem Sinne!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803903600

Das ist doch ein schöner Schluss.

Albert Stegemann erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Albert Stegemann (CDU):
Rede ID: ID1803903700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Heute beraten wir in erster Lesung über den Ent-
wurf eines Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Hierbei
geht es nicht nur um den viel diskutierten Mindestlohn.
Das Gesetz zielt vielmehr auf die Zukunft der Tarifland-
schaft in unserem Land. So wollen wir unter anderem
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen Branchen zu-
gänglich machen und die Hürden senken, um einen Ta-
rifvertrag allgemeinverbindlich erklären zu können.
Schaut man sich die geplanten Maßnahmen an, dann
stellt man fest, dass der Titel des Gesetzentwurfs teil-
weise für Verwirrung sorgt. Inwieweit Eingriffe seitens
des Staates die Autonomie der Tarifvertragsparteien stär-
ken sollen, erscheint auf Anhieb nicht jedem logisch.
Um allerdings die tarifstärkende Wirkung verstehen zu
können, sollte getreu dem Motto „Zukunft braucht Her-
kunft“ erst der Blick auf unsere arbeitsmarktpolitische
Vergangenheit gehen, bevor man den Blick in die Zu-
kunft richtet.

Das Tarifvertragsgesetz gehört zu den Gründungsdo-
kumenten der Bundesrepublik. Im Grundgesetz steht ge-
schrieben, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Tarif-
verträge eigenständig aushandeln können. Der Staat hält
sich dabei heraus. Diese gelebte Sozialpartnerschaft hat
sich jahrzehntelang bewährt. Sie war quasi der Motor
des Wirtschaftswunders und hat damit einen wesentli-
chen Beitrag zu unserem heutigen Wohlstand geleistet.
Die klar geregelte Ordnung des Arbeitslebens durch Ta-
rifverträge ist jedoch in jüngerer Vergangenheit zurück-
gedrängt worden. Machen wir uns nichts vor: Fast jeder
zweite Beschäftigte wird bald ohne Tarifvertrag arbei-
ten, sollte sich diese Entwicklung fortsetzen.

Dafür sind verschiedene Einflüsse verantwortlich.
Zum einen hat sich unser Industriestaat zu einer Indus-
trie- und Dienstleistungsgesellschaft weiterentwickelt.
Form und Organisation von Arbeit haben sich grundle-
gend verändert. Darüber hinaus steht unser Land in einem
globalen Wettbewerb. Deutschland ist wirtschaftlich in
vielen Bereichen Vorreiter. Damit unsere Wirtschaft
wettbewerbsfähig bleiben konnte, waren politische Wei-
chenstellungen nötig. Diese sind jedoch nicht ohne Fol-
gen für die Tariflandschaft geblieben. Letztlich haben
auch die Tarifvertragsparteien selbst zu dieser Entwick-
lung beigetragen. Während Gewerkschaften seit Jahren
Mitglieder verlieren, scheiden Arbeitgeber aus der Tarif-
bindung aus. Damit verlieren die Tarifvertragsparteien
auch ihre Grundlage, um für alle Beschäftigten sprechen
zu können. Für Politik und Gesellschaft bleibt die Er-
kenntnis: Das System der Tarifverträge ist löchriger ge-
worden. Damit steigt die Gefahr, dass der einzelne Ar-
beitnehmer durch das Raster fällt.

Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Heraus-
forderung auf. Politik kann zwar viel bewirken, jedoch
keine Tarifstrukturen stellen. Daher liegt es nahe, die be-
stehenden Strukturen zu stützen und zu stärken. Wir
wollen tariffreie Zonen schließen und das bestehende
System ergänzen. Mit der geplanten Allgemeinverbind-
licherklärung und der Erweiterung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes greifen wir lediglich dort ein, wo die
Sozialpartner aus eigener Kraft nicht mehr zu angemes-
senen Lösungen kommen können. Aber für die Union ist
auch klar: Wir sind klug beraten, in den kommenden
Wochen Details genau zu prüfen. Wir dürfen hier in den





Albert Stegemann


(A) (C)



(D)(B)

zwei genannten Elementen nicht über das Ziel hinaus-
schießen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Kommen wir nun zum medial viel beachteten Min-
destlohngesetz. Der zentrale Anspruch der Union war es
immer, dass jeder von seiner Hände Werk leben kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Indem wir einen Mindestlohn einführen, schützen wir
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft vor
Ausbeutung. Zugleich war immer eine zentrale Forde-
rung der Union: Eine verbindliche Lohnuntergrenze ist
nur in Absprache mit den Tarifvertragsparteien machbar. –
Dazu stehen wir noch immer. Der Bundestag soll die
Einführung beschließen. Die weitere Ausgestaltung le-
gen wir in die Hände der Tarifvertragsparteien. Das
heißt, die geplante Tarifkommission setzt damit künftig
den Mindestlohn fest, und keine Politiker im Bundestag.
Das ist Aufgabe der Tarifvertragsparteien.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Mindestlohn muss aber auch mit den wirtschaftli-
chen Realitäten vereinbar sein. Wir verschließen unsere
Augen nicht vor möglichen Nebenwirkungen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803903800

Herr Kollege Stegemann, darf Ihnen der Kollege

Ernst eine Zwischenfrage stellen?


Albert Stegemann (CDU):
Rede ID: ID1803903900

Ich würde das lieber nach meiner Rede in einem bila-

teralen Gespräch klären.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann mache ich eben eine Kurzintervention!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803904000

Gut.


Albert Stegemann (CDU):
Rede ID: ID1803904100

Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,

sondern auch deren Arbeitsplätze müssen geschützt wer-
den.

Ich bin mir sicher, dass die im Regierungsentwurf
aufgeführte Generalunternehmerhaftung, die jährliche
Abrechnung der Arbeitszeitkonten, die Ausschlussfris-
ten oder Dokumentationspflichten, um nur einige offene
Diskussionspunkte zu nennen, dem Ziel einer tariflichen
Ausgewogenheit entgegenstehen. Für alle diese Punkte,
die im Regierungsentwurf Erwähnung finden, gibt es
keine Grundlage im Koalitionsvertrag.

Weiterhin sind aber auch Dinge entscheidend, die
sehr wohl im Koalitionsvertrag stehen, jedoch offen-
sichtlich im Regierungsentwurf vergessen wurden. So
finden zum Beispiel die explizit im Koalitionsvertrag er-
wähnten Saisonarbeiter im Regierungsentwurf noch
keine Berücksichtigung. Hier muss an Lösungen gear-
beitet werden, die auf die besonderen Lebensrealitäten
und den außergewöhnlichen Arbeitsalltag der Saisonar-
beit in geeigneter Weise eingehen. Ansonsten gibt es in
diesem Bereich nur Verlierer, sowohl aufseiten der Ar-
beitgeber als auch aufseiten der Arbeitnehmer und
schließlich auch aufseiten der Verbraucher.

Dabei haben wir im letzten Herbst so viel Herzblut in
die Ausarbeitung eines sehr guten Koalitionsvertrages
gesteckt. Liebe Freunde von der SPD, wer seine Partei in
einer Mitgliederbefragung über ebendiesen Koalitions-
vertrag abstimmen lässt, sollte dann auch im Sinne sei-
ner Mitglieder einmal nachschauen, was dort vereinbart
wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich jedenfalls werde gerne meinen Beitrag dazu leis-
ten, dass es im parlamentarischen Verfahren zu einer
weiteren Annäherung des Regierungsentwurfs an den
Koalitionsvertrag kommt. Daneben bedarf es noch
Nachbesserungen für die Situation der Praktikanten und
bei der Altersgrenze mit 18 Jahren. In beiden Fällen ist
es unstrittig, dass es hier eine Lösung geben muss. Nach
dem derzeitigen Stand verfehlen die Regelungen aber ihr
Ziel.

Wir alle wissen, dass wir den Gesetzentwurf in der
ersten Juliwoche in einer anderen Form verabschieden
werden, als er heute vorliegt. Eines ist für uns als Koali-
tionsfraktionen aber klar: Wir wollen eine Tarifland-
schaft, die drohende soziale Verwerfungen auf dem Ar-
beitsmarkt genauso im Auge behält wie die Bedürfnisse
einer im globalen Wettbewerb stehenden Wirtschaft. So
war es auch in der Vergangenheit. Ich hoffe, dass wir
heute den Grundstein legen, dass dieser Grundsatz auch
in Zukunft gilt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803904200

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Antje Lezius (CDU):
Rede ID: ID1803904300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ge-
setzentwurf, über den wir heute verhandeln, ist, wie wir
schon mehrmals gehört haben, eine Herzensangelegen-
heit für viele Bürger und Bürgerinnen in diesem Land.
Von den drei Bestandteilen, die darin enthalten sind, ist
das Mindestlohngesetz derjenige mit der größten Signal-
wirkung. Laut BMAS befürworten rund 80 Prozent der
Bundesbürger einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Zwei Drittel der Deutschen haben uns als
Große Koalition auch deswegen gewählt, weil wir ver-
sprochen haben, für einen tariflichen Mindestlohn zu
sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer hat das versprochen? – Weitere Zurufe von der SPD)






Antje Lezius


(A) (C)



(D)(B)

Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir jetzt noch im
Detail beraten, löst damit nun ein weiteres Versprechen
der Koalition ein. Er basiert vor allem auf dem Grundge-
danken, dass jeder von seiner Arbeit leben können muss.

Wenn wir uns fragen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, wie Arbeit in Zukunft beschaffen sein soll, so gibt
es zahlreiche Anforderungen und Wünsche, die so ver-
schieden sind wie die Menschen selbst. Allerdings müs-
sen wir uns Gedanken darüber machen, welche Auswir-
kungen der demografische Wandel auf unsere
Gesellschaft und unseren Arbeitsmarkt haben wird.

Es wird in Zukunft weniger jüngere und mehr ältere
Menschen geben; darauf müssen wir uns einstellen. Wir
von der Union setzen dabei sowohl auf die Eigenverant-
wortung des Einzelnen als auch auf solidarische Unter-
stützung. Wir wollen nicht nur die Qualität der Arbeit
durch moderne und gesunde Arbeitsplätze besser gestal-
ten, wir wollen auch, dass die Menschen existenzsi-
chernde Einkommen haben, von denen sie auch für das
Alter vorsorgen können, sei es durch eigene Beiträge
oder durch private Vorsorge. Bei der Lohnfestsetzung ist
die Tarifautonomie seit Jahrzehnten ein bewährtes Er-
folgsmodell der sozialen Marktwirtschaft, wovon wir
auch heute schon mehrmals gehört haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Wir sind stolz
auf die Errungenschaften der Tarifvertragspartner. Die-
ser Gesetzentwurf ist aber auch eine Antwort auf die seit
Jahren immer schwächer werdende Tarifbindung. Hier
müssen wir entgegenwirken. In Zeiten des Fachkräfte-
mangels bedeutet die Stärkung der Tarifbindung auch
die Stärkung der Attraktivität des Standortes im Wettbe-
werb mit den Regionen.

Uns ist wichtig, dass die Tarifvertragspartner auch
weiterhin die Verantwortung für die Lohngestaltung in
unserem Land übernehmen. Die Politik hat nicht die
Aufgabe, Löhne festzusetzen. Wir sind gegen eine staat-
liche Bevormundung und für die bewährte Balance
zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen.
Deswegen sehen wir die Tarifkommission in der Verant-
wortung, wenn es darum geht, die Höhe des Mindest-
lohns zu überprüfen und anzupassen. Die Sorge über die
Auswirkungen des Mindestlohns zeigt sich auch in den
zahlreichen Schreiben diverser Institutionen von Wirt-
schaftsverbänden bis hin zu Gewerkschaften, die wir alle
seit einiger Zeit bekommen.

Eines der wichtigsten Anliegen unserer Politik ist die
Erhaltung der Arbeitsplätze für die Menschen in diesem
Land. Insbesondere der Mittelstand mit 99,6 Prozent al-
ler Unternehmen der Privatwirtschaft ist es, der Arbeits-
plätze schafft und es Menschen ermöglicht, durch
Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Des-
wegen sollten wir auch die Einwände der Arbeitgeber
nicht einfach ignorieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Höhe des Mindestlohns ist ein wichtiger Faktor.
Hier müssen wir behutsam vorgehen. Die Kollegen von
der Linken sowie Verdi träumen hier öffentlich von ei-
nem Mindestlohn von 10 Euro. Das wäre für den Ar-
beitsmarkt in manchen Regionen jedoch ein Albtraum.
Grundsätzlich gönnen auch wir den Menschen einen
möglichst hohen Stundenlohn. Das ist hier nicht die
Frage, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition uns das jetzt nicht recht glauben. Auch wir
sehen die Menschen, die für gute Arbeit zu wenig ver-
dienen. Das Problem ist nur, dass dieses Einkommen zu-
nächst von den Unternehmen erwirtschaftet werden
muss. Wir finden es unehrlich, den Menschen etwas zu
versprechen, was nicht eingehalten werden kann.

Unternehmen können natürlich nur dann höhere
Löhne zahlen, wenn sie sie erwirtschaften können. Am
Beispiel einer Tankstelle wird dies deutlich: Pächter sind
selbstständige Handelsvertreter und haben keinen Ein-
fluss auf die Benzinpreisgestaltung. Sie können auch die
Shopartikel nicht beliebig verteuern. Wenn sie den Preis
trotzdem erhöhen, beobachten sie einen Effekt, den zum
Beispiel auch die Friseure fürchten: Die Kunden bleiben
aus. Bedauerlicherweise nämlich sind dieselben Kunden,
die zu 80 Prozent den Mindestlohn befürworten, oft
nicht bereit, den daraus resultierenden höheren Preis
auch zu zahlen.

Ich habe in meinem Wahlkreis zahlreiche Betriebe be-
sucht, die mir dies bestätigt haben. Hier hat sich übrigens
auch gezeigt, dass sich Arbeitgeber grundsätzlich im
Klaren darüber sind, dass es ohne guten Lohn schwer ist,
jemanden für offene Stellen zu gewinnen, gerade in
ländlichen Regionen. Auf der anderen Seite müssen sich
Löhne aber auch an der Qualifikation messen lassen.

Wir sehen auch die reale Gefahr, dass durch den Min-
destlohn unproduktive Arbeitsplätze wegfallen. Darun-
ter würden gerade diejenigen leiden, die von der Erhö-
hung der Lohnuntergrenze eigentlich profitieren sollten.
Diese Fehlentwicklungen wollen wir vermeiden, und wir
werden deswegen einige Beschäftigungsgruppen ganz
bewusst aus dem Mindestlohn herausnehmen, wie zum
Beispiel Auszubildende, Praktikanten und Jugendliche
unter einer bestimmten Altersgrenze ebenso wie Lang-
zeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten.

In Rheinland-Pfalz, wo sich mein Wahlkreis befindet,
berichten die jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Ar-
beit von 11 400 jungen Menschen unter 25 Jahre ohne
Arbeit und von 39 200 Langzeitarbeitslosen. Diese Zah-
len sind mir deutlich zu hoch. Es ist vernünftig, wenn
wir hier einen Anreiz schaffen, um diese Menschen in
Arbeit zu bringen.

Über die Frage der Lohnhöhe hinaus können wir aber
sagen: Wir sind kein Volk von Mindestlöhnern. Wir sind
ein Volk von fleißigen, kreativen und innovativen Ar-
beitnehmern und Unternehmern, und wir haben mit star-
kem Zusammenhalt die Krise gemeistert.

Ich wünsche mir für die Zukunft, sehr geehrte Damen
und Herren, den gleichen Zusammenhalt, indem die Be-
völkerung, die sich in großer Mehrheit für einen Min-
destlohn ausspricht, diesen am Ende auch mitträgt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1803904400

Ich schließe die Aussprache.

Dass das Präsidium, Frau Kollegin Kolbe, Ihre Ein-
schätzung teilt, dass dieses Thema sicher noch eine län-
gere Beratungszeit verdient hätte, kommt schon darin
zum Ausdruck, dass wir jetzt nachweislich deutlich län-
ger debattiert haben, als wir zu Beginn dieser Debatte
gemeinsam beschlossen haben.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 18/1558 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu alternative Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgeset-
zes

Drucksache 18/1312
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Sevim Dağdelen, Dr. André Hahn, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Aufhebung der Optionsregelung im Staatsan-
gehörigkeitsrecht

Drucksache 18/1092
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Auch für diese Aussprache sollen nach einer inter-
fraktionellen Vereinbarung 96 Minuten vorgesehen wer-
den. – Das ist offenkundig allgemeine Auffassung. Dann
verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für
die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Günter Krings.


(Beifall des Abg. Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU] – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja richtige Begeisterung gerade!)


D
Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1803904500


Warten Sie erst einmal ab! – Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege
Schuster! Ich will zu Beginn meiner Ausführungen nicht
versäumen, den Herrn Bundesinnenminister zu entschul-
digen. Er hätte die Rede zur Einbringung des Gesetzent-
wurfs zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts gern
selber gehalten. Durch die Teilnahme am Justiz-und-In-
neres-Rat der Europäischen Union ist er allerdings heute
in Luxemburg gebunden. Ich bitte dafür um Verständnis,
will aber ergänzen: So gern der Minister die Rede selber
gehalten hätte, so gern vertrete ich ihn heute hier.

Meine Damen und Herren, Deutschland war lange
Zeit ein Land mit geringer Zuwanderung aus anderen
Staaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch sein
gesamtes Leben in der Region, in der Stadt oder gar in
dem Dorf verbrachte, in dem er geboren wurde, war für
viele Generationen vor uns jedenfalls dann sehr groß,
wenn sie nicht etwa Opfer von Krieg und Vertreibung
wurden.

Heute leben wir in einer Gesellschaft, die mobiler ist
denn je. Die Menschen wechseln ihren Lebensmittel-
punkt über regionale und nationale Grenzen hinweg: zur
Ausbildung, um eine Familie zu gründen, aus wirtschaft-
licher Not oder der Karriere wegen. In Deutschland
wohnen über 15 Millionen Menschen mit Migrationshin-
tergrund. Das entspricht fast einem Fünftel der deut-
schen Wohnbevölkerung.

Damit einher geht die Frage: Was ist Heimat? Und ich
meine hier „Heimat“ nicht in einem nostalgischen Be-
deutungssinn. Das Wort „Heimat“ war bis zu seiner ro-
mantischen Verklärung ein eher nüchterner, im Grunde
juristischer Begriff zur Bezeichnung eines Aufenthalts-
status, des Heimatrechts: Man hatte besondere Rechte
– etwa das Recht auf Aufenthalt und Armenpflege – und
Pflichten in der Gemeinde, zu der man gehörte. Daraus
hat sich dann die Staatsangehörigkeit moderner Prägung
historisch entwickelt.

Beide Ansätze des Staatsangehörigkeitsrechts, das ius
sanguinis und das ius soli, hatten dasselbe Ziel: festzule-
gen, wer zu einer Gemeinde, wer zu einem bestimmten
Staat gehört, wobei man annahm, dass er oder sie dort
verwurzelt sei und in aller Regel einen dauerhaften Be-
zugs- oder Lebensmittelpunkt haben würde. Da die indi-
viduelle Mobilität geringer war als heute, liefen Abstam-
mung und Geburtsort eben häufig auf dasselbe hinaus.

Seither hat die grenzüberschreitende Mobilität die
Verhältnisse verkompliziert, nicht nur was die nostalgi-
sche Seite des Begriffs „Heimat“ betrifft – wenn sich der
Einzelne heute fragen mag, wo er eigentlich zu Hause ist –,
sondern auch was seine einstmals juristische Bedeutung
betrifft: das Heimatrecht als eine besondere Rechtsstel-
lung zu einem bestimmten Gemeinwesen. Die mitunter
heftigen Diskussionen um die doppelte Staatsangehörig-
keit spiegeln genau das wider.

Die Lebensgewohnheiten haben sich in den vergange-
nen Jahrzehnten rasant verändert, in Deutschland wie
überall. Dem trägt die Bundesregierung Rechnung, in-
dem sie für die Optionspflicht im Staatsangehörigkeits-
recht eine neue Regelung vorschlägt. Das haben wir so
auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU,
CSU und SPD beschlossen, und diesen Auftrag setzen
wir mit dem Gesetzentwurf um.

Der Entwurf findet einen Ausgleich zwischen den In-
teressen junger Deutscher mit mehrfacher Staatsangehö-
rigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem
staatlichen Interesse, die Staatsangehörigkeit als eine be-





Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)

sondere Loyalitäts- und Verantwortungsbeziehung zwi-
schen Gemeinwesen und Bürger zu erhalten.

Der Gesetzentwurf geht von der Einführung der soge-
nannten Ius-soli-Regel im deutschen Staatsangehörig-
keitsrecht vor über einem Jahrzehnt aus: Hat ein Eltern-
teil seit mindestens acht Jahren seinen gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland, so erwirbt das in unserem
Land geborene Kind die deutsche Staatsangehörigkeit
eben unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Eltern.

Nach bisheriger Rechtslage mussten sich diese Kin-
der aber spätestens mit Vollendung des 23. Lebensjahres
zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der
Staatsangehörigkeit der Eltern entscheiden.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das verzapft?)


Die jungen Erwachsenen, die eine solche Entscheidung
bisher treffen mussten, haben sich ganz überwiegend für
die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden. Ich halte
das für einen großen Vertrauensbeweis für unseren Staat
und für die Bestätigung einer erfolgreichen Integrations-
politik. Ich meine: Als Politiker, die wir für unser Ge-
meinwesen Verantwortung tragen, können wir darauf stolz
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dennoch dürfte diese Entscheidung nicht allen Be-
troffenen leichtgefallen sein. Genau aus diesem Grund
sieht unser Gesetzentwurf eine deutliche Einschränkung
der sogenannten Optionspflicht vor: Wer in Deutschland
geboren ist und hier auch aufwächst, braucht sich nicht
mehr zwischen zwei Staatsangehörigkeiten zu entschei-
den. Nur für den, der als Kind ausländischer Eltern in
Deutschland geboren wird, dann aber nicht hier auf-
wächst, gilt weiterhin die Optionspflicht. Nach der Neu-
regelung muss der Optionshinweis bis zum 22. Lebens-
jahr zugestellt werden. Ab Zustellung hat der Betroffene
dann zwei Jahre Zeit, zu optieren. Das heißt, spätestens
vor dem 24. Geburtstag muss er dann diese Entschei-
dung treffen.

Diese Lösung folgt einer plausiblen Abwägung: Die-
jenigen, die hier zur Welt kommen und hier aufwachsen,
bauen hier eine prägende Bindung auf. Sie sind bei uns
verwurzelt. Deutschland ist ihre Heimat – im ursprüngli-
chen Bedeutungssinn und hoffentlich auch dem Gefühl
nach.


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir gestehen ihnen aber die Mehrstaatigkeit als Teil ih-
rer persönlichen Biografie zu. Wir wollen ihnen die Ent-
scheidung zwischen ihren Staatsangehörigkeiten erspa-
ren, und zwar nicht, um ihre Integration zu fördern,
sondern weil wir gerade davon ausgehen, dass sie bei
uns bereits gut integriert sind.

Bei denjenigen, die durch Geburt die deutsche Staats-
angehörigkeit erworben haben, die dann aber nicht hier
aufgewachsen sind, überwiegt allerdings weiterhin das
Interesse, Mehrstaatigkeit zu vermeiden. Denn mehrfa-
che Staatsangehörigkeit birgt auch Komplikationen und
Konflikte. Diese wiegen im Regelfall schwerer als ein
gewisser, aber eben sehr überschaubarer Verwaltungs-
aufwand, der mit der Feststellung verbunden ist, ob je-
mand in Deutschland aufgewachsen ist oder nicht.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ich möchte gern mal Argumente dazu hören!)


Diese Komplikationen haben wir sogar jüngst bei
Mehrstaatigkeit innerhalb der EU mit Blick auf die Wah-
len zum Europäischen Parlament erlebt. Auch wenn die
Unionsbürgerschaft innerhalb der EU gleichsam das
Dach für die 28 nationalen Staatsangehörigkeiten bildet
und die Hinnahme der Mehrstaatigkeit innerhalb der Eu-
ropäischen Union schon von daher nicht weiter begrün-
dungsbedürftig ist, so entstehen selbst in dieser Konstel-
lation wegen der Mehrstaatigkeit offenbar besondere
Probleme, die wir in diesem konkreten Fall – vorzugs-
weise durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht –
einer Lösung zuführen können.


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist aber nur ein Beispiel dafür, dass Mehrstaatig-
keit rechtlich mit einem Verlust an Eindeutigkeit ein-
hergeht. Deswegen ist es richtig, Mehrstaatigkeit im
Regelfall zu vermeiden, wo es keine echte inhaltliche
Rechtfertigung dafür gibt. Und deswegen dürfen wir ge-
rade von denen, die nicht schon mit ihrer Biografie be-
weisen, dass sie ein plausibles Interesse daran haben, die
deutsche Staatsangehörigkeit auf Dauer zu erhalten, er-
warten, dass sie dieses Interesse dokumentieren, indem
sie die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern dann aufgeben.

Mit meinem Verständnis von Staatsangehörigkeit
wäre es nicht vereinbar, wenn wir auf die Optionspflicht
auch bei den Ius-soli-Deutschen verzichten würden, die
seit ihrer Geburt kaum etwas mit Deutschland zu tun hat-
ten, hier vielleicht nur wenige Jahre oder Monate gelebt
haben. Wer bis zu seinem 21. Geburtstag keine signifi-
kante Beziehung zu Deutschland aufgebaut hat, kann
nicht verlangen, lebenslang zwei Staatsangehörigkeiten
zu behalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803904600

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Volker Beck?

D
Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1803904700


Ich freue mich immer über die Verlängerung meiner
Redezeit und ganz besonders, wenn das durch Herrn
Volker Beck geschieht.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803904800

Verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade davon

gesprochen, dass man sich zwischen den beiden Staats-
angehörigkeiten entscheiden soll, wenn keine intensi-
vere Beziehung zu Deutschland besteht. Haben Sie dabei
bedacht, dass die deutsche Staatsangehörigkeit auch zur





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

EU-Freizügigkeit berechtigt und dass es sein kann, dass
jemand seine EU-Bürgerschaft und damit auch sein Auf-
enthaltsrecht innerhalb der EU aus dem deutschen Pass
ableitet? Ihre Regelung hätte zur Folge, dass jemand, der
sich mit seinen Eltern in Griechenland, in Frankreich, in
Portugal aufgehalten hat und deshalb nicht die Zeiten er-
reicht, die in Ihrem Gesetz stehen, den deutschen Pass
verlieren würde. In einigen Mitgliedstaaten würde sich
dann unter Umständen die Frage stellen, ob er als Dritt-
staatler überhaupt innerhalb der Europäischen Union
noch aufenthaltsberechtigt ist. Halten Sie diese Konse-
quenz nicht auch wie ich für unverhältnismäßig?

D
Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1803904900


Selbstverständlich haben wir diese europarechtlichen
Implikationen geprüft. Aus gutem Grund ist das Staats-
bürgerschaftsrecht primär nationales Recht. Dabei soll es
bleiben. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, dies zu einem
rein europäischen Recht zu machen. Das ist der erste
Teil meiner Antwort auf Ihre Frage.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Frage nicht verstanden!)


Zweitens. Natürlich hat es derjenige in der Hand,
diese Konsequenz auszuschließen, indem er sich für die
deutsche Staatsbürgerschaft entscheidet. Er muss diese
Konsequenz also gar nicht tragen. Nur wenige Hundert
haben sich anders entschieden. Das habe ich eben ausge-
führt.

Drittens. Ich komme gleich noch dazu, was das Krite-
rium „aufgewachsen“ heißt und welche Bedingungen es
dafür gibt, zwei Staatsbürgerschaften zu erhalten. Wir
haben beispielsweise auch eine Härtefallklausel vorgese-
hen.

Es gibt also drei Antworten auf Ihre Frage. Jede für
sich wäre eine überzeugende Antwort. Wir haben das
Problem somit dreifach gelöst, lieber Herr Kollege.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man kann – hier sind wir beim Thema der konkreten
Ausgestaltung – darüber streiten, was die Formulierung
in unserem Koalitionsvertrag „in Deutschland … aufge-
wachsen“ konkret heißt. Darüber haben wir in den letz-
ten Monaten diskutiert. Der Gesetzentwurf zieht aus
meiner Sicht eine sehr überzeugende Linie. In Deutsch-
land aufgewachsen ist danach jeder, der hier eine Schul-
oder Berufsausbildung abgeschlossen hat. Wer hier kei-
nen Abschluss gemacht hat, der muss bis zu seinem
21. Geburtstag über acht Jahre hier gelebt haben oder
sechs Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Das
sind einfache Regeln. Gerade der Nachweis des Schul-
abschlusses wird in den meisten Fällen die einfachste
Möglichkeit sein. Selbst derjenige, der sein Zeugnis ver-
loren hat, wird noch wissen, wo seine Schule war, und
sich ein neues besorgen können. Wer hierin Bürokratie
sieht, hat die Regelung nicht richtig verstanden. Damit
sind in Zukunft voraussichtlich über 90 Prozent der Ius-
soli-Deutschen von der Optionspflicht befreit.
Die neue Regelung lässt sich in der Praxis einfach
umsetzen. Diese Voraussetzungen sind in aller Regel
einfach nachweisbar. Oft genügen der Blick ins Melde-
register oder die Vorlage eines Schul- oder Berufsschul-
abschlusszeugnisses. Ein einfacher Weg, sich in diesen
Fällen die doppelte Staatsangehörigkeit dauerhaft zu er-
halten.

Meine Damen und Herren, die Staatsangehörigkeit ist
– da sind wir uns hoffentlich in weiten Teilen des Hauses
einig – mehr als ein nützliches Papier in Form eines Pas-
ses, das mir die Einreise erleichtert oder ein Aufenthalts-
recht garantiert. Sie ist ein besonderes Verhältnis zwi-
schen Staat und Bürger, geprägt durch Verantwortung
und Loyalität. Dem muss jede Neuregelung der Options-
pflicht Rechnung tragen. Wer meint, man könne Mehr-
staatigkeit generell und voraussetzungslos hinnehmen,
ignoriert das Wesen und die Bedeutung der Staatsange-
hörigkeit. Und wer darauf setzt, dass notfalls solche Ver-
änderungen in dem eben dargestellten Sinn auch mit
knappen politischen Mehrheiten durchzusetzen wären,
versündigt sich an einem Kerngedanken der Demokratie.

Das Staatsangehörigkeitsrecht ist aufgrund seiner be-
sonderen Bedeutung für unser Gemeinwesen auf einen
breiten Konsens angewiesen. Über die Staatsangehörig-
keit definiert unsere Verfassung, wer zum Staatsvolk ge-
hört, wer der Souverän ist. Neben anderen Rechtswir-
kungen vermittelt die Staatsangehörigkeit das Recht,
über unser Gemeinwesen mitzubestimmen. Aus diesem
Grunde ist es nicht klug, zu versuchen, parteipolitische
Maximalpositionen durchzusetzen. Keine Parlaments-
mehrheit sollte je in den Verdacht geraten, das Volk, das
sie demokratisch trägt, auf streitigem Wege neu zusam-
menzustellen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten mal den Textbaustein ändern, er ist aus einer anderen Zeit!)


Mit der Neuregelung der Optionspflicht haben wir
eine gute Chance zu einem breiten Konsens. Wenn wir
diesen Konsens auch gemeinsam aktiv vertreten, ist er
eine klare Botschaft an die jungen Menschen, deren El-
tern oder Großeltern einst nach Deutschland kamen, dass
sie voll und ganz zu Deutschland gehören.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803905000

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächste Rednerin

ist Sevim Dağdelen von der Linken.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803905100

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle-
gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht
drin ist.





Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

Dies erklärte der Vorsitzende der SPD und jetzige Vize-
kanzler Sigmar Gabriel auf dem SPD-Parteitag – nach
den Bundestagswahlen, vor dem Koalitionsvertrag – am
2. November 2013.

Im Vorfeld, im Bundestagswahlkampf, ging es vor al-
len Dingen auch darum, Wählerinnen- und Wählerstim-
men unter Migrantinnen und Migranten zu bekommen.
So suchte man die Nähe zu Migrantenselbstorganisatio-
nen und warb um die Unterstützung bei der Wahl. Das
konkrete Versprechen lautete: Man wird sich für die
Rechte der Migrantinnen und Migranten, besonders die
der Türkinnen und Türken, einsetzen. Was steht jetzt im
Koalitionsvertrag? Darin steht nichts von doppelter
Staatsangehörigkeit und nichts von der Abschaffung der
Optionspflicht. Darin steht:

Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,
soll seinen deutschen Pass nicht verlieren und kei-
ner Optionspflicht unterliegen.

Wie befürchtet – von unserer Seite, aber auch von
vielen Migrantinnen und Migranten –, entpuppte sich
der Kompromiss im Koalitionsvertrag von CDU, CSU
und SPD als faul; denn was die Formulierung „in Deutsch-
land geboren und aufgewachsen“ bedeutet, machte im Fe-
bruar dieses Jahres Bundesinnenminister Thomas de
Maizière deutlich: Entfallen solle die Optionspflicht bei
denjenigen, die bis zu ihrem 23. Lebensjahr zwölf Jahre
hier gelebt haben, davon mindestens vier Jahre zwischen
ihrem 10. und 16. Lebensjahr. Nachgewiesen werden
könne dies anhand von Meldebescheinigungen, alterna-
tiv reiche auch ein deutscher Schulabschluss.

Bereits seit Jahren wird der bürokratische Aufwand
– man nennt es auch Bürokratiemonster – bei den Op-
tionspflichtigen in den Einbürgerungsbehörden kritisiert.
Gerade dieser enorme Bürokratieaufwand hat drei von
der SPD mitregierte Länder eine Initiative in den Bun-
desrat einbringen lassen, mit der die generelle Abschaf-
fung der Optionspflicht gefordert wird.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Ich sage an dieser Stelle: Wir als Linke loben diese Bun-
desratsinitiative ausdrücklich.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber leider, leider wurde die mutige Tat dieser drei
Bundesländer sofort von der SPD-Generalsekretärin, die
den Unionsparteien Treue schwor, einkassiert. Noch im
April, also vor zwei Monaten, hatten viele Organisatio-
nen und Verbände den SPD-Vorsitzenden Sigmar
Gabriel in einem offenen Brief aufgefordert, gegenüber
den Unionsparteien an der vollständigen Abschaffung
der Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsrecht festzu-
halten und Wort zu halten. Doch auch dieser Appell
blieb leider ohne Erfolg. So ist der vorliegende Gesetz-
entwurf kümmerlich geblieben; denn herausgekommen
ist ein kleingeistiger, engstirniger, ja ein fauler Kompro-
miss zwischen den Koalitionsfraktionen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aber ein Fortschritt!)

In Deutschland aufgewachsen und von der Options-
pflicht befreit ist nach dem vorliegenden Gesetzentwurf,
wer bei Vollendung seines 21. Lebensjahres mindestens
acht Jahre in Deutschland lebt, sechs Jahre lang eine
Schule in Deutschland besucht hat, einen deutschen
Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbil-
dung hat. Falls kein Antrag der betroffenen Person vor-
liegt, prüft die Behörde nach dem 21. Geburtstag die Vo-
raussetzungen von Amts wegen.

Die Mehrheit wird in Zukunft überhaupt nicht mehr
in Kontakt zu den Behörden treten müssen,

so heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf. Über 90 Pro-
zent der Betroffenen werden die Nachweise über das
Aufwachsen in Deutschland erbringen können. Einen
Wohnsitz im Ausland haben derzeit laut Melderegister
lediglich 3 Prozent, so das Bundesinnenministerium.
Angesichts der wirklich kleinen Zahl von überwiegend
im Ausland aufgewachsenen Kindern ist es unserer Mei-
nung nach nicht zu rechtfertigen, diesen Riesenaufwand
mit Zehntausenden Optionsverfahren pro Jahrgang wei-
ter zu betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist wirklich absurd und nur mit ideologischer Bor-
niertheit zu erklären, dass an diesen Zehntausenden Op-
tionsverfahren pro Jahr festgehalten werden soll – ab
2018 etwa 40 000 im Jahr –, nur damit am Ende einigen
wenigen Menschen der Doppelpass vorenthalten werden
kann.


(Beifall bei der LINKEN)


So bleibt es bei diesem Wahnsinn der Optionspflicht
in Deutschland, einer weltweit wirklich einmaligen Re-
gelung. Die völlig gleichberechtigte Zugehörigkeit, also
die deutsche Staatsbürgerschaft, hier geborener Kinder
wird in einer oft ohnehin schwierigen Lebensphase – das
müsste hier eigentlich jeder wissen – infrage gestellt.
Künftig wird es – so das Gesetz – Deutsche nach Ab-
satz 1 des § 29 Staatsangehörigkeitsgesetz geben, das
bedeutet nichts anderes als Deutsche zweiter Klasse.

Meine Damen und Herren, insbesondere türkische
Migrantinnen und Migranten fühlen sich erneut vor den
Kopf gestoßen; denn Kinder mit einer deutsch-EU- oder
deutsch-schweizerischen Doppelstaatsangehörigkeit sol-
len künftig generell nicht mehr optieren müssen. Man
sieht: Was für sehr viele gilt, gilt nicht für türkische
Migrantinnen und Migranten. Sie müssen nachweisen,
dass sie wirkliche, tatsächliche Deutsche sind, wenn sie
ihren Doppelpass behalten wollen. Dieser diskriminie-
rende Effekt ist etwas, was wir abschaffen wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Diskriminierungen müssen aus Sicht der Lin-
ken ein Ende haben. Deshalb fordern wir Sie auf: Öffnen
Sie die Fenster, schaffen Sie endlich die Optionspflicht
bedingungslos ab, und akzeptieren Sie auch endlich et-
was, was mittlerweile zum Normalzustand in der Euro-
päischen Union gehört, nämlich die doppelte Staatsbür-
gerschaft!


(Beifall bei der LINKEN)






Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

Wir als Linke wollen es Ihnen wirklich leichtmachen.
Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im
Wortlaut eins zu eins der von mir angesprochenen Bun-
desratsinitiative der drei SPD-mitregierten Bundesländer
entspricht. Glauben Sie mir wirklich: Es geht nicht da-
rum, Sie in irgendeiner Art und Weise im Bundestag vor-
zuführen. Es geht lediglich darum, dass diese Initiative
endlich diese Diskriminierungen beseitigt. Es gibt eine
Mehrheit im Deutschen Bundestag und auch im Bundes-
rat für die bedingungslose Abschaffung dieser wirklich
unsäglichen Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam
diesen Schritt gehen, und lassen Sie uns sagen: Diese
wahnsinnige, weltweit einmalige Regelung gibt es in
Deutschland nicht mehr, wir sind für ein fortschrittliches
Staatsbürgerschaftsrecht, wir sind für die Abschaffung
der Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam dieses
Zeichen setzen für Integration,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


gegen Diskriminierungen und gegen neue Bürokratie-
monster, die hiermit heute auch geschaffen werden!


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803905200

Für die Bundesregierung erteile ich als nächster Red-

nerin der Staatsministerin Aydan Özoğuz das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt bin ich gespannt auf den Spagat!)


A
Aydan Özoğuz (SPD):
Rede ID: ID1803905300


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Bundespräsident Joachim Gauck hat
am 22. Mai 2014 eine bemerkenswerte Rede bei einer
Einbürgerungsfeier im Schloss Bellevue gehalten. Ich
habe mich sehr über seine Worte gefreut; denn sie haben
auf den Punkt gebracht, dass wir unverkrampft mit der
Vielfalt in unserem Land umgehen sollten, auch im
Staatsangehörigkeitsrecht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich zitiere ihn:

Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck der
Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von
Menschen. … Unser Land lernt gerade, dass Men-
schen sich mit verschiedenen Ländern verbunden
und trotzdem in diesem, in unserem Land zu Hause
fühlen können.

Es war überdeutlich für alle, die dort gewesen sind: Bun-
despräsident Gauck hat dabei allen Anwesenden aus der
Seele gesprochen. Ein schönes und richtiges Signal aus
dem Schloss Bellevue, wie ich finde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Liebe CDU, das ist auch euer Präsident!)


In Deutschland sprechen wir in diesen Tagen sehr viel
über Einwanderung. Wir werden sogar gelobt, zum Bei-
spiel von der OECD, dass Deutschland nun ein sehr be-
liebtes Einwanderungsland geworden sei, auch für Men-
schen, die es sich aussuchen können, wohin sie gehen
wollen. Das war lange Zeit nicht so, wie wir wissen.

Leider unterscheiden wir aber gerade in solchen Zei-
ten viel zu wenig, wer bei uns eigentlich alles zu dieser
Kategorie Migrant zählt und was uns dabei von der Zähl-
weise anderer Länder unterscheidet. Denn auch wenn
wir in diesen Tagen sagen, dass unsere Quote zeigt, wir
seien das beliebteste Land gleich nach den USA, muss
doch hinzugefügt werden, dass in dieser Quote auch
viele Kriegsflüchtlinge enthalten sind, die es sich nicht
aussuchen können, wohin sie denn nun fliehen. Und: Die
USA zählen keine jungen Menschen, die dort geboren
werden, zu Migranten. Die Second Generation, wie sie
dort genannt wird, gilt als einheimisch-amerikanisch –
ohne Wenn und Aber. Bei uns sind solche Menschen
zum Teil Deutsche, aber mit Migrationshintergrund.
Dass sie überhaupt zum Teil Deutsche sein können, ver-
danken wir der Einführung des Geburtsortprinzips, also
des Ius soli, das im Jahr 1999 durch die rot-grüne Bun-
desregierung eingeführt wurde.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damals war die große Neuerung: Wer unter bestimmten
Voraussetzungen – es wurde ja gesagt, welche Voraus-
setzungen das sind – als Kind ausländischer Eltern in
Deutschland geboren wurde, sollte neben seiner Ur-
sprungsidentität eben auch deutscher Staatsbürger sein
können. Das war bis dahin nicht der Fall. Ich finde, man
muss schon noch daran erinnern: Es galt das Staatsange-
hörigkeitsrecht von 1913. Nach diesem Gesetz aus der
Kaiserzeit konnte nur derjenige Deutscher sein, der Kind
eines Deutschen war, nicht einmal einer Deutschen.
Auch das möchte ich betonen: Deutsche Frauen zählten
an dieser Stelle nicht. Eine deutsche Frau konnte ein
Kind in Deutschland bekommen, das als Ausländer galt,
nämlich wenn der Vater nicht deutsch war. 1974 hat man
immerhin erkannt, dass auch deutsche Frauen das Recht
haben sollten, die Staatsangehörigkeit zu vererben.

Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass Bundes-
tagsabgeordnete von heute wie Cemile Giousouf, Sevim
Dağdelen – die gerade gesprochen hat –, Cem Özdemir
oder Mahmut Özdemir allesamt in Deutschland geboren
wurden, als – vielleicht war das bei Mahmut Özdemir
schon anders; er ist ja der Jüngste von allen – kaum je-
mand daran dachte, dass die Gesellschaft der Nach-
kriegszeit sich erheblich verändern würde.

Heute machen wir nun nach 1999 den nächsten gro-
ßen Schritt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na! Das ist allenfalls ein Katzensprung!)






Staatsministerin Aydan Özoğuz


(A) (C)



(D)(B)

Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, soll
nicht bis zur Volljährigkeit Deutscher unter Vorbehalt
sein und dann womöglich zum Ausländer in Deutsch-
land erklärt werden – wie es ja bereits einigen ergangen
ist. Es wird zukünftig nicht vom Herkunftsland abhän-
gen, ob bei in Deutschland geborenen und aufgewachse-
nen Kindern die Mehrstaatigkeit hingenommen wird.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Das, meine Damen und Herren, ist ein riesengroßer
Schritt, den wir machen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hunderttausende Jugendliche werden damit endlich von
der belastenden Entscheidung befreit, sich mit dem Er-
reichen des Erwachsenenalters entweder gegen ihre fa-
miliäre Herkunft oder gegen Deutschland entscheiden zu
müssen. Es ist einfach lebensfremd, dass wir junge Men-
schen in unserem Land vor diese Wahl stellen.


(Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Das haben wir auch immer wieder betont. Ich weiß aus
unzähligen Gesprächen der letzten Jahre – erst vor kur-
zem habe ich optionspflichtige Jugendliche ins Bundes-
kanzleramt eingeladen, um direkt von ihnen noch einmal
Meinungen und Gefühle zu hören; der Tenor war eindeu-
tig –: Die Jugendlichen verstehen nicht, warum wir ih-
nen diese Entscheidung abnötigen; sie empfinden es an-
ders; ihre Realität und Lebenswirklichkeit ist, in
mehreren Kulturen zu Hause zu sein. Das bekommen sie
übrigens von der Gesellschaft auch immer wieder zu
spüren: dass sie Deutsche sind, aber eben auch etwas an-
deres.

Frau Dağdelen, diese jungen Menschen haben das,
was wir machen, als einen riesigen Schritt empfunden;
die haben nicht das gesagt, was Sie hier gerade kundta-
ten; die freuen sich, dass wir endlich noch einen Schritt
weitergehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer weiß, was Sie denen erzählt haben!)


Die Zahlen brauche ich jetzt nicht weiter zu unter-
mauern – es wurde schon gesagt –: 15,3 Millionen Men-
schen – also jeder Fünfte in unserem Land – hat familiär
eine Zuwanderungsgeschichte. Wichtig ist, dass mehr
als die Hälfte, 55 Prozent der Menschen mit Migrations-
hintergrund, die in Deutschland einst geboren wurden,
minderjährig sind und ein Teil dieser jungen Menschen
– das wurde schon richtig gesagt – ohnehin beide Pässe
behalten darf. Für die anderen ist unser Gesetzentwurf
wichtig; denn wir zeigen, um es noch einmal mit den
Worten von Bundespräsident Gauck zu sagen, dass wir
lernen, „vielschichtige Identitäten“ zu akzeptieren – ge-
nau das ist es, was wir heute tun – und „niemanden zu ei-
nem lebensfremden Purismus“ zu zwingen.


(Beifall bei der SPD)

In den Koalitionsverhandlungen haben wir uns – das
möchte ich natürlich nicht unerwähnt lassen – nach har-
ten und langen Verhandlungen – alle wissen: das war
wohl morgens um fünf oder halb sechs – auf die Formu-
lierung geeinigt: Für in Deutschland geborene und auf-
gewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zu-
kunft der Optionszwang.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fordern Sie jetzt mildernde Umstände für Übernächtigte? – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Entschuldigung!)


– Das habe ich auch nicht gesagt.

Die Union hatte bekanntlich auf dem Kriterium des
Aufwachsens in Deutschland bestanden. Da mussten wir
uns erst einmal einige Zeit überlegen, wie das nun mess-
bar sein soll, zumal – das möchte ich dann schon erwäh-
nen – keine Zahlen vorlagen, die belegt hätten, dass rei-
henweise Kinder nicht in Deutschland aufwachsen
würden. Auch das Bundesinnenministerium konnte sol-
che Zahlen nicht vorlegen.

Von diesem Pult aus wurde immer wieder erklärt, das
sei eine große Gefahr für unser Land. Ich bitte, wenn
man solche Aussagen macht, sie auch zu belegen. Doch
genau das war nicht möglich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem Gesetzentwurf setzen wir nun das um, wo-
rauf wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Ich bin
überzeugt, dass das Kriterium des Aufwachsens eine
gute Lösung ist, auch wenn wir uns diesbezüglich viel-
leicht nicht einig sind. Bis zum 21. Lebensjahr muss der
Jugendliche acht Jahre in Deutschland gelebt haben oder
sechs Jahre die Schule besucht haben oder einen deut-
schen Schul- oder Berufsbildungsabschluss besitzen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, dass diese Koalition in Europa nicht angekommen ist!)


Das wird auf über 95 Prozent zutreffen. Hier wurde von
90 Prozent gesprochen. Ich denke, es werden weit über
95 Prozent sein. Es wäre interessant, zu wissen, wie
viele nicht betroffen sein werden. Ich finde, dass Hun-
derttausende Jugendliche ab dem Jahr 2018 nicht in die
Ämter laufen müssen, wie es ursprünglich gedacht war,
sondern nur im Bedarfsfall nachgefragt wird, ist ein ganz
großer Schritt, den wir mit diesem Gesetzentwurf tun.
Damit sind die Kinder faktisch mit acht Jahren von der
Optionspflicht befreit, und mit acht Jahren diskutiert
man in der Regel noch nicht darüber.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte unterstreichen, dass es mir wichtig ist,
dass der Gesetzentwurf eine Härtefallklausel enthält. Die
Juristen wissen es wahrscheinlich am besten: Wir kön-
nen gar nicht so kreativ denken, wie manche Lebens-
wege verlaufen. Ich kann mir viele Beispiele vorstellen
– hier wurden einige bereits genannt –, die deutlich ma-





Staatsministerin Aydan Özoğuz


(A) (C)



(D)(B)

chen, dass es wichtig ist, auf einzelne Fälle eingehen zu
können


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und woher erfährt der kundige Bürger, dass er Einzelfall ist?)


– Sie kommen doch gleich dran, Herr Beck –, wo der
Bezug zu Deutschland vielleicht sehr deutlich nachge-
wiesen werden kann, aber das Gesetz trotzdem nicht
greift.

Mein Kollege Rüdiger Veit hat in der vergangenen
Debatte darauf hingewiesen, dass im hessischen Koali-
tionsvertrag von Schwarz-Grün Folgendes zu lesen ist
– Zitat –:

Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Auf-
hebung der Optionspflicht … für in Deutschland
geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer
Eltern unterstützen.

Es freut mich ausdrücklich, Herr Beck, dass Sie das tun
wollen.


(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufhebung! – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Vielleicht haben Sie ja noch eine Idee dazu.

Ich möchte noch auf das eingehen, was Frau
Dağdelen hier erwähnt hat. Es zeugt nicht von riesengro-
ßer Kreativität, wenn man Anträge von einer Initiative
dreier rot-grüner Bundesländer wortgleich abschreibt
und hier einbringt. Ich glaube, das könnte man auch an-
ders machen. Wir sind uns unter den Kollegen einig,
dass auch Sie das machen dürfen.


(Beifall bei der SPD)


Wir sehen: Wir sollten den Gesetzentwurf rasch bera-
ten. Wir dürfen keine Zeit verlieren; denn jeden Tag
müssen Jugendliche nach dem alten Gesetz optieren. Je-
den Tag droht einem jungen Menschen, der 23 wird,
möglicherweise die Ausbürgerung, obwohl er oder sie
hier geboren und aufgewachsen ist. Das sollten wir den
jungen Menschen ersparen. Die Bundesländer warten
darauf, dass wir hier endlich weiterkommen, weil sie den
jungen Menschen genau das ersparen wollen.

Wir wissen, dass diese Abschaffung für einige zu spät
kommt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie keine Regelung!)


Es ist ganz wichtig, dass wir darüber sprechen. Es gibt
ungefähr anderthalb Jahrgänge, die optieren mussten,
also einen Pass abgeben mussten. Einige sind nun tat-
sächlich zu Ausländern in dem Land, in dem sie groß ge-
worden sind, geworden. Diese jungen Menschen auszu-
schließen, nur weil sie zufällig ein oder zwei Jahre zu
früh geboren wurden, halte ich für einen schwer vermit-
telbaren und unwürdigen Zustand. Da erhoffe ich mir
eine Lösung im parlamentarischen Verfahren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte zum Abschluss noch ein Zitat des Bun-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1803905400


Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptie-
ren. Wir wollen dieses vielfältige „Wir“. Wir wol-
len es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen
es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.

Ich hoffe, mit dieser Denke gehen wir in die parlamenta-
rischen Verhandlungen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803905500

Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der

Kollege Volker Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803905600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben

mit dem Bundespräsidenten geschlossen, Frau Özoğuz.
Ich will mit ihm beginnen. Der Bundespräsident sagte
am 22. Mai:

Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Re-
form des Staatsbürgerschaftsrechts.


(Christine Lambrecht [SPD]: Genau!)


Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdem
kann Deutscher werden, wer in Deutschland gebo-
ren wurde, auch wenn seine Eltern es beide nicht
sind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit,
doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlich
hinzunehmen.

So weit der Bundespräsident. – Ihrem Gesetzentwurf
und der Rede von Herrn Krings merkt man die Gelassen-
heit, von der der Bundespräsident spricht, aber nicht an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Er war sehr gelassen! Das muss man ihm lassen!)


Sie setzen eine Diskriminierungspolitik fort; die
schwarze Pädagogik der Integrationspolitik der Union
führt die Feder. Für ein kleines Häuflein von Menschen,
wie der Deutsche Anwaltverein schreibt, bauen Sie ein
bürokratisches Monstrum auf, um den jungen Deut-
schen, die hier geboren sind, deren Eltern aber aus dem
Ausland stammen, weiter zu sagen: Ihr seid Deutsche
auf Bewährung. Ihr seid Deutsche mit Verfallsdatum. Ihr
seid Deutsche auf Probe. – Das ist das Gegenteil von
Willkommenskultur. Deshalb muss die Optionspflicht
ganz fallen. Erst das wäre ein richtiger Schritt nach
vorne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich will noch eines sagen. Der Bundespräsident
spricht davon, dass man dann, wenn man in Deutschland
geboren ist, auch Deutscher ist. Das ist allerdings etwas,





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

was wir noch verwirklichen müssen. Das fassen Sie
überhaupt nicht an. Nach dem heutigen Staatsangehörig-
keitsrecht müssen die Eltern erst acht Jahre eine Aufent-
haltserlaubnis haben, bevor ihre hier geborenen Kinder
auch als Deutsche geboren werden. Ich frage: Warum
reicht es nicht aus, einen legalen Aufenthalt in Deutsch-
land zu haben, damit der, der hier Kinder bekommt,
Deutsche und keine Ausländer gebiert?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In anderen Ländern besteht darüber Konsens. In Frank-
reich sind sich von den Gaullisten bis zu den Kommu-
nisten alle einig. Die Einzigen, die dagegen sind, sind
die Anhänger des Front National; die wollen wir uns
politisch wohl nicht zum Vorbild nehmen.

Vor dem Hintergrund Ihrer Argumentation bezüglich
des Kriteriums „aufgewachsen sein“, Frau Kollegin,
sollten Sie sich vielleicht einmal den Artikel von Profes-
sor Zimmermann zu Ihrem Gesetzentwurf durchlesen.
Er legt nämlich dar, dass das Kriterium „aufwachsen“
bzw. „aufgewachsen sein“ im Staatsangehörigkeitsrecht
eigentlich schon dann zutrifft, wenn die Eltern dauerhaft
hier leben und das Kind hier geboren ist, da man dann
davon ausgehen kann, dass es in der Regel hier aufwach-
sen wird. Insofern setzen Sie hier ein Kriterium zweimal
ein.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Ich fand Ihren Koalitionsvertrag in dem Punkt vollkom-
men in Ordnung. Was Sie dann umgesetzt haben, finde
ich allerdings nicht mehr in Ordnung. Es ist auch lebens-
fremd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie reden sich ja bei allen Problemen auf die Härte-
fallklausel heraus. Ich habe vorhin schon Herrn Krings
gefragt: Was machen wir eigentlich mit Menschen, die
mit ihrem deutschen Pass die EU-Freizügigkeit wahr-
nehmen und, wenn sie im Ausland womöglich noch
nicht einmal erfahren haben, dass sie optionspflichtig
sind, plötzlich die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren
und dann Drittstaatausländer in einem anderen europäi-
schen Land sind und sich damit die aufenthaltsrechtli-
chen Fragen für diese jungen Menschen auf einmal neu
stellen? Das zeigt: Ihr Gesetzentwurf ist national ge-
dacht. Sie sind nicht in Europa angekommen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Auch Migrantenkinder können innerhalb Europas mi-
grieren und ihre Freizügigkeit wahrnehmen.

Wir haben bei der Bundesregierung ein paar Fälle ab-
gefragt. Was ist zum Beispiel mit denen, die sieben Jahre
in Deutschland gelebt haben, hier fünf Jahre zur Schule
gegangen sind und dann in Österreich Matura gemacht
haben? Nach Ihrem Gesetzentwurf ist nicht klar, was mit
denen passiert. Was ist mit denen, die im Ausland waren
und eine deutsche Auslandsschule besucht haben? Die
haben keinen inländischen Schulabschluss gemacht. Was
ist mit denjenigen, die in Frankreich das Baccalauréat
machen und dann zurückkommen, aber erst nach dem
21. Lebensjahr ihr Bachelorstudium in Germanistik auf-
nehmen? Haben sie keinen Bezug zu Deutschland? Nach
dem Wortlaut Ihres Gesetzes sind sie alle draußen. Die
Bundesregierung sagt: Das könnten Sachverhalte für ei-
nen Härtefall sein. Aber welche Gesetzgebung ist das,
wo der Bürger nicht weiß, unter welche Regelung er
fällt, und alle konkreten Einzelfälle unter eine Härtefall-
klausel fallen, bei der keiner von Ihnen hier sagen kann,
was das Ausländeramt damit konkret macht,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


und Sie hoffen können, dass das Bundesverwaltungsge-
richt das irgendwann in zehn Jahren klarstellt? Das ist
keine Integrationspolitik. Das ist schlechte Gesetzge-
bung!

Sie müssen auch einmal sagen, warum wir bei Kin-
dern zwei Klassen von deutschen Doppelstaatlern haben.
Wir haben einerseits die Kinder, von denen beide Eltern-
teile Ausländer sind. Sie werden durch Geburtsrecht
Deutsche. Dann haben wir die Kinder von binationalen,
also deutsch-ausländischen Ehepaaren, die, weil eine
Deutsche oder einer Deutscher ist, sie also eine deutsche
Abstammung haben, auch beide Pässe haben. Die kom-
men für die Optionspflicht freilich nicht infrage. Ich
muss Ihnen sagen: Das ist eine ethnische Diskriminie-
rung derjenigen, die keine deutsche Abstammung haben,
weil ihnen eine Pflicht auferlegt wird, die für alle ande-
ren Bürgerinnen und Bürger richtigerweise nicht gilt.

Was muten Sie damit eigentlich dem Bundesrat zu,
der in seinem NPD-Verbot-Schriftsatz gesagt hat, dass
der ethnische Volksbegriff überkommen ist, und sich da
ausdrücklich auf die Staatsbürgerschaftsdiskussion be-
zogen hat, wenn Sie ihm einen solchen Gesetzentwurf
vorlegen? Deshalb rate ich Ihnen: Denken Sie noch ein-
mal gut nach! Lohnt es den Verwaltungsaufwand wirk-
lich, für eine Handvoll Leute – ein Häuflein Menschen,
wie der DAV sagt – hier dazu zu kommen, dass wir ih-
nen die Staatsbürgerschaft wieder aberkennen und dafür
jedes Jahr 40 000 Verwaltungsverfahren durchführen?

Der Deutsche Städtetag hat Ihnen ins Stammbuch ge-
schrieben, dass Sie mit den Begriffen beim Härtefall und
mit der Auslegung des „sonstigen Bezugs zu Deutsch-
land“ nicht zurechtkommen, und Ihnen dann noch dar-
gelegt, dass die von Ihnen verlangten Daten der Mel-
debehörden nach Nummer 4 und 5 bei den Gemeinden
gegenwärtig gar nicht zur Verfügung stehen


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


und sie keine Antwort haben für den Fall, dass jemand
zwischendrin seine Meldekarriere in Deutschland durch
einen Auslandsaufenthalt unterbrochen hat; denn dann
sind die Meldedaten nicht mehr miteinander verbunden
und es kommt ein riesiger Sermon an Verwaltung auf sie
zu.

Der Städtetag, die beiden großen Kirchen und der
Deutsche Anwaltverein sagen Ihnen allen: Es ist unver-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

hältnismäßig, wegen dieser kleinen Gruppe einen sol-
chen Verwaltungsaufwand zu betreiben. Sie betreiben
ihn ja auch gar nicht wegen dieser kleinen Gruppe; Sie
wollen allen hier sagen: Ihr müsst euch bewähren. –
Nein, Deutsche müssen sich nicht bewähren. Allen
Deutschen steht nach unserer Verfassung gleiches Recht
zu. Das gilt auch für die Kinder von Menschen, die im
Ausland geboren sind. Deshalb: Machen Sie einen
Schritt in Richtung Integration! Schaffen Sie die Op-
tionspflicht ab! Liebe SPD, Sie haben das noch im Zu-
sammenhang mit dem Koalitionsvertrag Ihren eigenen
Mitgliedern versprochen, als es um die Abstimmung
ging. Nehmen Sie sich unseren Gesetzentwurf oder den
des Bundesrates zum Vorbild, und sagen Sie: Wir besei-
tigen die Optionspflicht ganz. Das bringt nichts, kostet
nur und funktioniert am Ende nicht, sondern führt nur zu
vielen Verfahren.

Es wäre schön, wenn die Union, die sonst immer ge-
gen Bürokratie ist – ich erinnere mich noch an die
Diskussion über das Allgemeine Gleichbehandlungsge-
setz –, hier einmal zu ihrem Wort stünde und sagte: we-
niger Bürokratie, mehr Bürgerrechte, mehr Welt-
offenheit. – So käme Deutschland tatsächlich voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Genau das machen wir!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803905700

Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege

Helmut Brandt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1803905800

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
noch gar nicht so lange her, da dominierte die Überzeu-
gung, dass Einwanderer, die die deutsche Staatsangehö-
rigkeit erwerben, vor allem Kinder und Nachfahren, den
deutschen Pass nur unter Aufgabe ihrer ursprünglichen
Staatsangehörigkeit erwerben bzw. behalten können.
Ausdruck dieser Überzeugung waren unter anderem in-
ternationale Verträge zur Vermeidung doppelter Staats-
angehörigkeit. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Aber
wir leben in einer globalisierten, mobilen Welt, und der
Doppelpass wird weltweit zunehmend zur Realität.
Deutschland hat sich sukzessive zu einem Einwande-
rungsland entwickelt mit einem heute bestehenden ho-
hen Bedarf an Fachkräften.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Doch worin besteht denn nun eigentlich der Wert ei-
nes Passes – für uns Politiker, aber insbesondere für die
Bürgerinnen und Bürger? Staatsangehörigkeit bedeutet
unter anderem Sicherheit und Schutz vor einer Reihe
staatlicher Maßnahmen. Sie bedeutet uneingeschränkten
Zugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zu öffentlichen
Dienstleistungen, Recht auf Bildung und Teilhabe, Ge-
sundheitsversorgung und nicht zuletzt – auch ein wichti-
ger Aspekt – das Recht auf Familienzusammenführung.
Die deutsche Staatsangehörigkeit erleichtert jedem das
Reisen; das ist sicherlich ein zunehmend wichtiges Gut.
Das alles sind sehr praktische Gründe. Die Frage, die
sich mir allerdings aufdrängt, ist, ob eine Staatsangehö-
rigkeit tatsächlich auch einen integrationspolitischen
Wert hat, ob sie das Gefühl der Zugehörigkeit stärkt und
damit unser Zusammenleben fördert.

Abgeordnete von der Linken und vom Bündnis 90/
Die Grünen behaupten immer wieder, die Optionspflicht
sei integrationsfeindlich. Woher das genommen wird, er-
schließt sich mir, offen gesagt, nicht. Der Wert eines Gu-
tes steigt bekanntlich nicht, wenn es leichter zu erwerben
ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Leute haben das erworben! Es geht doch nicht um den Erwerb!)


Eine Staatsangehörigkeit, die man bekommt – Herr
Beck, Sie haben ja eben lange genug geredet –, ohne die
Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes aufgeben zu
müssen, wird womöglich gerade nicht wertvoller, son-
dern „billiger“.

Herr Beck, Sie zitieren ja so gerne die juristische
Fachliteratur und den Deutschen Anwaltverein. Mein
Repetitor hat immer gesagt: Was nichts kostet, ist auch
nichts wert.


(Heiterkeit der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Das lag daran, dass man den Repetitor bezahlen muss
und damit offensichtlich der Wert der Anhörung steigt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, gegen Gebühr erkläre ich Ihnen das dann noch mal!)


Steigert nicht gerade die Auseinandersetzung mit der
Frage, welche Staatsangehörigkeit man denn nun gerne
behalten möchte, den Wert einer solchen, und fördert
man nicht gerade dadurch die Integration, wenn am
Ende einer solchen Auseinandersetzung das klare Be-
kenntnis zur deutschen Staatsangehörigkeit steht? Wel-
chen höheren Wert muss zum Beispiel ein junger Mensch
seinem deutschen Pass beimessen, der sechs Jahre in
Deutschland zur Schule ging, dann aber – aus welchen
Gründen auch immer – in das Heimatland seiner Eltern
zurückkehrt und dort lebt? Sicher, er möchte und wird
den Pass aus praktischen Gründen gerne behalten, zum
Reisen und als Sicherheitsgarantie. Aber das ist doch
nicht der Sinn einer Staatsangehörigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Gestatten Sie mir deshalb an dieser Stelle eine weitere
Frage: Sollte es nicht unser Ziel sein, dass Menschen, die
in Deutschland leben und hier bleiben möchten, den
deutschen Pass haben möchten, weil sie sich uns zuge-
hörig fühlen und von unserem Land überzeugt sind? Das
ist der Maßstab, den jedenfalls ich an die Staatsangehö-
rigkeit anlege.

Hinter unserer bisherigen Skepsis gegenüber der dop-
pelten Staatsangehörigkeit stand – das gebe ich offen
zu – selbstverständlich auch die Frage, ob wir im Gegen-





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)

zug zur Staatsangehörigkeit auf die Loyalität der Dop-
pelstaatler zählen können. Schließlich reden wir hier
über die deutsche Staatsangehörigkeit und nicht über
eine Parkerlaubnis, wie der Kollege Strobl in der letzten
Debatte über dieses Thema so markant sagte. Staatsan-
gehörigkeit umfasst ein Bündel an Pflichten und Rech-
ten, darunter das Wahlrecht und den Zugang zu öffentli-
chen Ämtern bis hin zum Beamtentum. Das ist übrigens
ein Punkt, den ich für äußerst wichtig halte. Unser Be-
streben muss sein, mehr Menschen mit Migrationshin-
tergrund in das Beamtentum zu bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Selbstverständlich müssen wir uns vor diesem Hinter-
grund fragen, wer in den Genuss dieser Rechte kommen
soll und muss, und wir sollten so weit wie möglich si-
cherstellen, dass diese Rechte nicht missbraucht werden.

Sie haben es selbst erwähnt, Frau Dağdelen: Weil
Menschen mit türkischem Hintergrund den proportional
größten Anteil ausmachen, möchte ich – das habe ich
vorhin etwas vermisst – auf Ihren bzw. auf den – Gott sei
Dank nicht Ihren – Ministerpräsidenten Erdogan zu spre-
chen kommen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das verbitte ich mir! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist doch nicht ihr Ministerpräsident!)


– Ich wollte von Ihnen ja nur die Bestätigung, dass es
nicht Ihr Ministerpräsident ist.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, wie Sie denken! Was hat das mit ihr zu tun?)


– Genau. Das frage ich sie auch. – Aber lassen Sie mich
einfach einmal ausreden; Sie haben ja schon genug da-
zwischengerufen.

Erdogan hat bekanntlich eine Behörde ins Leben ge-
rufen, die sich speziell an die im Ausland lebenden Tür-
ken wendet, und verfolgt damit offenkundig das Ziel, sie
für seine speziellen Interessen zu gewinnen. Dass jeden-
falls die aktuelle Regierung der Türkei im Vergleich zu
uns eine andere Vorstellung von Demokratie hat, hat
Präsident Erdogan in der jüngsten Vergangenheit mehr
als einmal gezeigt. Sein jüngster Besuch in Köln zeigte
einmal mehr, dass er völlig unbeeindruckt von zahlrei-
chen hier lebenden türkischen Gegendemonstranten ver-
sucht, im Zuge des Wahlkampfes hier lebende Lands-
leute für seine Ziele zu gewinnen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Gerade deshalb sollten Sie sie nicht in die Arme von Erdogan treiben! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Erfolg, wie Sie gesehen haben! 70 000 waren auf der Straße!)


– Sie müssen all das, was Sie dazwischenrufen, einmal
zu Ende denken. Dann kommen Sie zu dem gleichen Er-
gebnis wie ich.

Dass ausländische Staatspräsidenten, noch dazu auf
deutschem Boden, versuchen, Menschen mit doppelter
Staatsbürgerschaft für ihre Ziele zu vereinnahmen, die
nicht zwangsläufig mit unseren Wertvorstellungen über-
einstimmen,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen habe ich gegen Erdogan demonstriert!)


empfinde ich als grotesk, Herr Beck, und Sie sollten das
auch tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Obama! Was halten Sie von Obamas Rede? Der hat auch hier geredet!)


Das kann doch nicht in unserem Interesse sein. Man
stelle sich nur vor, unsere Bundeskanzlerin würde dem-
nächst als Parteivorsitzende Wahlkampf auf Mallorca
machen. Ich würde gerne einmal sehen, was die Spanier
zu einem solchen Auftritt sagten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP hat das schon gemacht! Herr Möllemann!)


– Es gibt Leute, die vor nichts zurückschrecken, Herr
Beck. Dazu gehören Sie auch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unterirdisch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihre Rede ist auch ein großer Schrecken!)


– Sie können den Saal ja verlassen. In unserem Land gibt
es die Freiheit, dass man sich alles anhören kann, aber
nicht anhören muss.

Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen – das ist
schon angeklungen –, welche Probleme die Doppelstaa-
tigkeit mit sich bringt. Der Zeit-Chefredakteur Giovanni
di Lorenzo hat im Fernsehen offen bekundet, dass er bei
der Europawahl sowohl in Deutschland als auch in sei-
nem Konsulat gewählt hat.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte er auch mit einem italienischen Pass gedurft! Sie sollten sich einmal im Europawahlrecht kundig machen!)


– Herr Beck, wir werden das prüfen lassen. – Ich glaube,
8 Millionen Menschen könnten von einer solchen Mög-
lichkeit Gebrauch machen. Deshalb muss man sich doch
die Frage stellen: Haben sie ein doppeltes Wahlrecht?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das haben sie nicht!)


Ist die Europawahl damit noch gültig?

Wie ich eingangs bereits sagte, leben wir in einer glo-
balisierten Welt, und der Doppelpass wird zunehmend
selbstverständlich. Die Bundesregierung hat nun einen
Gesetzentwurf vorgelegt, der junge Menschen nicht mehr
in die für sie – jedenfalls teilweise – offensichtlich unan-
genehme Situation bringt, sich zwischen zwei Staatsbür-
gerschaften entscheiden zu müssen, wenn sie hier gebo-
ren und aufgewachsen sind. Die Entscheidung zwischen





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)

der deutschen Staatsangehörigkeit und der des Her-
kunftslandes der Eltern, ist – zumindest zum Teil – ein
Problem für diese jungen Migranten, die hier geboren
sind und hier leben wollen. Diese Gruppe wollen wir
durch diese Neuregelung entlasten.

Bei aller Erleichterung aufseiten der vehementen Be-
fürworter der doppelten Staatsangehörigkeit sollten wir
eines aber nicht vergessen: Das Problem, um das es hier
eigentlich geht, nämlich die Integration dieser jungen
Menschen, ist kein politisches, sondern ein gesellschaft-
liches Problem. Integration ist nicht durch einen Verwal-
tungsakt zu erreichen und kann auch nicht verordnet
werden. Integration findet in den Schulen, im Arbeitsle-
ben, in der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis und
nicht zuletzt natürlich in der eigenen Familie statt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie denn jetzt für das Gesetz oder dagegen? Ich verstehe gar nichts!)


– Frau Künast, wenn Sie es nicht verstehen, sage ich es
für Sie gleich vielleicht noch einmal deutlicher.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, gerne! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir verstehen Sie auch nicht!)


– Sie können noch so viel brüllen: Es nutzt nichts. Sie
müssen sich meine Argumente trotzdem anhören.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Argumente?)


Seit 2005 haben wir als CDU/CSU gemeinsam mit
unseren jeweiligen Koalitionspartnern sehr viel für Zu-
wanderer getan. Mit Blick auf die demografische Ent-
wicklung haben wir in den letzten Jahren begonnen, Zu-
wanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche
Vorgaben zu schaffen, um Zuwanderern den Start in
Deutschland zu ermöglichen und ihren Integrationspro-
zess zu fördern. Seitdem sind über 1 Milliarde Euro in
Integrationsmaßnahmen und Sprachkurse geflossen, und
zwar mit steigender Tendenz. Diesen Weg wollen und
müssen wir fortsetzen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Studentin an der Humboldt-Uni braucht gar keinen Sprachkurs! Die kann doch besser Deutsch als wir!)


– Das trifft auf eine Gruppe von Menschen zu, natürlich.
Aber Herr Beck spricht ja immer von den Minderheiten.
Es gibt eben auch Zuwanderer, die Schwierigkeiten mit
der deutschen Sprache haben.

Eines steht fest: Das Wohlergehen und der Zusam-
menhalt einer Gesellschaft werden gestärkt, wenn alle
Beteiligten, seien sie Einheimische oder Zuwanderer, ein
Gefühl der Zugehörigkeit empfinden. Staatsangehörig-
keit auf eine Weise zu verleihen, die uns bei diesem Ziel
voranbringt, ist die eigentliche Herausforderung, der wir
uns stellen müssen, wenn wir auch in Zukunft eine sta-
bile soziale und ökonomisch erfolgreiche Gesellschaft
sein wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir nun die hier lebenden jungen Migranten, die
hier geboren sind und hier leben wollen, entlasten kön-
nen, indem wir die Optionspflicht durch eine praktikable
Neuregelung ihrer Lebenswirklichkeit anpassen, dann
sollten wir dies tun.

Trotzdem wollen und müssen wir sicherstellen, dass
die betroffenen Personen einen konkreten Bezug zu
Deutschland haben. Ich kann darin beim besten Willen,
Herr Beck, keine Zumutung für die Betroffenen erken-
nen. Ich fände es im Gegenteil völlig realitätsfern, unan-
gemessen und gefährlich, wenn wir dies an keine Vo-
raussetzungen binden würden. Wir wollen und brauchen
hier Menschen, die gut integriert sind, die die deutsche
Sprache sprechen, die unsere Werte nicht nur kennen,
sondern sie auch teilen. Das ist die Zukunft für uns und
unser Land.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und da ist die österreichische Matura schädlich?)


Es ist ein guter Kompromiss, den die Koalition hier ge-
funden hat. Ich bitte um Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christina Kampmann [SPD])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803905900

Ich erteile jetzt das Wort für eine Kurzintervention

dem Kollegen Volker Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803906000

Ich möchte jetzt nicht auf die Argumente von Ihnen

eingehen, Herr Brandt, sondern nur eine Sache klarstel-
len. Giovanni di Lorenzo konnte zweimal abstimmen,
nicht weil er einen deutschen und einen italienischen
Pass hat, sondern weil er einen italienischen Pass hat und
in Deutschland lebt. Gegenwärtig ist es so, dass wir, ob-
wohl das nach dem Europäischen Wahlakt und auch
nach dem Europawahlgesetz nicht zulässig ist, keine or-
ganisatorischen Vorkehrungen getroffen haben, um sol-
che Doppelabstimmungen durch ein einheitliches Wahl-
register zu verhindern. Das ist ein Defizit bei der
Exekution des Gesetzes durch die Verwaltung. Das hat
mit dem Besitz von zwei oder drei Pässen oder einem
Pass überhaupt nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Damit die Bürgerinnen und Bürger das wissen, wollte
ich das hier richtigstellen.

Sie haben auch den Auftritt von Herrn Erdogan in
Köln angesprochen. Frau Dağdelen und ich haben auf
der Gegendemonstration zusammen mit Ihrem Kollegen
Hirte gesprochen und mit 50 000 Deutschen, Türken und
Kurden gegen diesen Auftritt demonstriert. Aber ich
habe auch schon deutsche Politiker Wahlkampf in Spa-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

nien machen sehen. Schauen Sie einmal in den Gazetten
nach, was die FDP im Wahlkampf alles gemacht hat. Ich
weiß, dass das auch manche bei uns machen. Das ist
nicht ehrenrührig. Die Politik, die Herr Erdogan macht,
ist anzugreifen, nicht aber die Tatsache, bei einer Ge-
meinde im Ausland aufzutreten und mit den Menschen
zu diskutieren. Wir sollten dies auseinanderhalten. In Ih-
rer Rede klang das so: Wenn das ein Türke macht, ist es
schlimm. Wenn das ein deutscher Politiker auf Mallorca
macht, ist es nicht mehr so schlimm. – Das erschließt
sich mir nicht, es sei denn, Türken und Deutsche unter-
scheiden sich doch so wesentlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803906100

Herr Kollege Brandt, wollen Sie auf die Kurzinter-

vention erwidern?


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1803906200

Ja, gerne. – Herr Beck, ob es zulässig war oder nicht,

was Herr di Lorenzo gemacht hat, spielt im Endeffekt
doch keine Rolle und kann hier und heute gar nicht ent-
schieden werden.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber nichts mit dem Tagesordnungspunkt zu tun!)


– Sie rufen ja immer noch dazwischen. – Aber mit die-
sem Beispiel wollte ich nur deutlich machen, dass Dop-
pelstaatigkeit auch Probleme mit sich bringt


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch mit Doppelstaatigkeit nichts zu tun! Das hat mit dem Woanderswohnen zu tun!)


und dass diese Probleme sich dann auch – und in diesem
Zusammenhang ist das erwähnt worden – manifestieren.

Was die andere Frage angeht, Herr Beck, ob und wel-
che Menschen im Ausland für ihre Sache werben: Ich
habe kein Problem damit, dass jemand das tut. Ich frage
nur, ob das richtig und sinnvoll ist. Ich denke, dass Herr
Erdogan – ich bin froh, dass Sie unter denen waren, die
dagegen demonstriert haben – genug damit zu tun hätte,
in seinem Heimatland für Ordnung zu sorgen, statt sich
in Köln von Menschen bejubeln zu lassen, die er hier in
Deutschland bewusst für seine Sache in Anspruch
nimmt. Genau das kritisiere ich. Davor will ich aber
auch warnen. Wir müssen doch davon ausgehen können,
dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben und
die ich alle sehr schätze, sich auch zu uns bekennen,
statt irgendjemandem nachzulaufen, der in Deutschland
Wahlkampf betreibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803906300

Vielen Dank. – Frau Kollegin Jelpke, jetzt haben Sie

das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803906400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn

will ich anhand eines aktuellen Beispiels erläutern, wa-
rum die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft so
wichtig für die Demokratie ist. Beim Volksentscheid in
Berlin zum Tempelhofer Feld konnten nur diejenigen ab-
stimmen, die einen deutschen Pass haben. Es ging da-
rum, ob dieses Feld eine Fläche für Freizeit, Erholung
und Sport bleibt. Aber diejenigen, die dort leben, jedoch
keinen deutschen Pass haben – das sind knapp eine halbe
Million Menschen –, waren ausgeschlossen. Dieses de-
mokratische Defizit, dass Menschen an Entscheidungen,
die sie unmittelbar betreffen, nicht beteiligt werden, darf
es in Deutschland nicht mehr geben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch bei den Wahlen ist es regelmäßig so: Ein großer
Teil der Bevölkerung ist ausgeschlossen, weil ihm der
deutsche Pass bzw. das richtige Papier fehlt. Wer Einbür-
gerung erschwert, der erschwert oder verhindert demo-
kratische Teilhabe und Gleichberechtigung. Wir dürfen
im 21. Jahrhundert solche demokratiefeindlichen Zonen
nicht mehr zulassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach den Bundestagswahlen war – das wurde schon
angesprochen – gerade von der SPD immer wieder zu
hören: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss her. Meine
Kollegin hat schon Sigmar Gabriel zitiert:

Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle-
gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht
drin ist.

Man kann nicht oft genug wiederholen, dass dieses Ver-
sprechen gegeben wurde. Aber wenige Wochen später
waren diese markigen Worte vom Tisch. Es sollte jetzt
nicht einmal mehr die Abschaffung der Optionsregelung
geben, nach der sich viele junge Menschen zwischen der
deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern ent-
scheiden müssen. Das ist übrigens nicht nur eine Riesen-
blamage für den Vorsitzenden der SPD und Vizekanzler,
sondern, wie ich finde, auch für die SPD. Diese Vor-
würfe müssen Sie sich gefallen lassen: Es ist Wahlbetrug
an den Wählern und Wählerinnen, und für die Betroffe-
nen ist es eine riesengroße Enttäuschung.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, auch in diesem Haus ist in
den vergangenen Monaten viel von Willkommenskultur,
einer Anerkennung der Verdienste von Einwanderern
und einer offenen Gesellschaft die Rede gewesen. Doch
was folgt aus diesen hehren Worten? Angesichts der bis-
herigen Bilanz dieser Bundesregierung kann ich nur sa-
gen: Es ist weniger als nichts.

Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen. Im Ent-
wurf des Haushalts für das laufende Jahr sind 200 Mil-
lionen Euro für Integrationskurse eingestellt. Das hört
sich erst einmal viel an. Tatsächlich liegt der Bedarf aber
weit höher. Das wissen Sie von der Union ganz genau.
Das hat nämlich sogar das Innenministerium einge-





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

räumt; es hat gesagt, dass schon nach bisheriger Planung
46 Millionen Euro fehlen.

Bei den Beratungsstellen für Migrantinnen und Mi-
granten werden Kürzungen vorgenommen. Spezielle
Kurse für Frauen werden zusammengestrichen. Gerade
von der Union kommt immer wieder das Argument, dass
die Einbürgerung am Ende des Integrationsprozesses
stehen muss. Sie verweigern aber mit solchen Sparmaß-
nahmen genau diesen letzten Schritt zur Integration. Sie
legen den Menschen damit schon vorher Steine in den
Weg. Das Herumstolpern dieser Bundesregierung beim
Staatsangehörigkeitsrecht steht in einer Linie mit der
verfehlten Integrationspolitik. Ich möchte darauf hinwei-
sen, dass das zusammengehört.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren von der konservativen
Seite, Sie halten den Inhabern zweier Staatsangehörig-
keiten immer wieder – soeben haben wir es auch ge-
hört – einen Loyalitätskonflikt vor; man könne nicht
Diener zweier Herren sein. Aber ich finde, dass es ein
Treppenwitz der Geschichte ist, dass solche Argumente
von einer Partei kommen, die in Niedersachsen sogar ei-
nen Ministerpräsidenten mit doppelter Staatsangehörig-
keit gestellt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


David McAllister war der erste Ministerpräsident mit
doppelter Staatsangehörigkeit in der Geschichte der
Bundesrepublik. Ich kann Sie nur aufrufen: Kommen Sie
doch endlich in der Realität an! Mehrfache Staatsbürger-
schaften schwächen die Demokratie nicht, sondern stär-
ken sie, weil sie mehr Menschen zu demokratischer Teil-
habe und Mitwirkung berechtigen, nach dem Motto „Ein
Mensch, eine Stimme“.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat in eigenen Anträgen schon zu Beginn
dieser Legislaturperiode die Anforderungen an ein
modernes und fortschrittliches Staatsangehörigkeitsrecht
genannt. Dazu gehört in erster Linie: Mehrstaatlichkeit
muss bei Einbürgerung und Geburt in Deutschland gene-
rell hingenommen werden. Hier noch einmal ganz deut-
lich gesagt: Nicht nur in anderen EU-Staaten, sondern
auch in den USA, Israel sowie in vielen anderen Ländern
dieser Welt ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ein
Mensch die Staatsbürgerschaft des Landes erhält, in dem
er geboren wurde. Er muss sich nicht verbiegen und
irgendwelche Schul- und Ausbildungsabschlüsse nach-
weisen, wie es bei uns der Fall ist. Das kann doch wohl
nicht sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur in Deutschland gibt es nun enorme Hürden. Ich
will betonen: Die Optionsstaatsbürgerschaft wird nicht
abgeschafft. Ist es nicht komisch, dass bei vielen doppel-
ten Staatsbürgerschaften wie bei der des ehemaligen
Ministerpräsidenten von Niedersachsen überhaupt kein
Problem besteht? Aber einer großen Gruppe unserer
Bevölkerung, deren ursprüngliches Herkunftsland die
Türkei ist, werden Steine in den Weg gelegt.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803906500

Frau Kollegin Jelpke, denken Sie an die Redezeit!


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803906600

Ich komme sofort zum Ende. – Gegen diese

Ungleichheiten treten wir an. Es gibt keinen Grund, der
es rechtfertigt, nicht endlich die doppelte Staatsbürger-
schaft für alle einzuführen. Dafür wird die Linke weiter-
hin streiten; denn das ist das Einzige, was demokratie-
förderlich sein wird.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803906700

Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin

Dr. Eva Högl.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1803906800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute in erster Lesung hier im
Deutschen Bundestag mit dem Zweiten Gesetz zur Än-
derung des Staatsangehörigkeitsgesetzes über ein zwei-
tes wichtiges Gesetz der Großen Koalition nach dem
Gesetz zur Einführung eines Mindestlohns, über das wir
vorhin beraten haben, und damit über ein Thema, das zu
den Prioritäten der Großen Koalition gehört. Mit diesem
Gesetz wollen wir – ebenso wie mit dem Gesetz zum
Mindestlohn – Verbesserungen für viele Menschen in
diesem Land erreichen.


(Beifall bei der SPD)


Mit diesem Gesetz zur Staatsangehörigkeit verändern
wir unsere Gesellschaft; das ist uns sehr wichtig. Wir
machen also einen großen Schritt nach vorne.

Nach vielen Jahren gesellschaftlicher Diskussion
– wir haben um das Für und Wider gerungen – legen wir
nun den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung der
Optionspflicht vor. Es ist ein wirklicher Erfolg, dass uns
das gelingt.


(Beifall bei der SPD – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist keine Aufhebung! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist keine Aufhebung!)


Das stellt eine wichtige Verbesserung für viele junge
Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesell-
schaft dar. Wir tragen dazu bei, dass unser Staatsange-
hörigkeitsrecht weiter modernisiert wird. Das ist ein
wichtiges Signal und eine wichtige Reform.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks ist das!)






Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Ich finde es sehr gut, dass dieses wichtige Thema zu
den ersten großen Projekten der Großen Koalition
gehört. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz aus-
drücklich Bundesinnenminister Thomas de Maizière – er
ist heute nicht da, aber Sie nehmen den Dank stellvertre-
tend entgegen –, Bundesjustizminister Heiko Maas – der
Staatssekretär nimmt den Dank entgegen – und unserer
Staatsministerin Aydan Özoğus – sie ist da – danken,
weil sie an einem Kompromiss gearbeitet haben und uns
hier – wir beraten das Gesetz heute in erster Lesung – ei-
nen wirklich guten Vorschlag vorlegen. Herzlichen Dank
dafür.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich sage einmal ganz deutlich hier: Wir haben das im
Koalitionsvertrag vereinbart, und wir halten unser Wort.
Natürlich ist das ein Kompromiss.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks ist das!)


Das wissen alle hier im Haus. Die Rede von Herrn
Brandt hat gezeigt, dass auch wir in der Koalition ver-
schiedene Akzente setzen und Unterschiede haben. Es
ist ein offenes Geheimnis, dass einige mehr wollen – da-
von sitzen einige in den Reihen der SPD-Bundestags-
fraktion –


(Beifall bei der SPD)


und einigen das, was wir heute diskutieren und dann vor
der Sommerpause verabschieden werden, vielleicht
schon zu viel ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber wir haben uns darauf verständigt, und deswegen
ist der Gesetzentwurf über die Abschaffung der Options-
pflicht, über den wir heute beraten, ein erster wichtiger
Schritt. Es ist ein guter Vorschlag, über den wir beraten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Erika Steinbach [CDU/CSU])


Ich möchte ganz kurz zurückblicken – ich will das
nicht lange ausführen; es ist schon gesagt worden, woher
die Optionspflicht kommt – und daran erinnern, dass
das, was uns alle geschmerzt hat, ist, dass mit diesem
Optionszwang junge Menschen zu Deutschen auf Probe
wurden. Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren und
was nicht sein darf. Deswegen schaffen wir den Options-
zwang ab. Niemand, der oder die hier in Deutschland ge-
boren ist, ist bei uns Deutscher oder Deutsche auf Probe.
Das ist ein wichtiges Signal.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU] – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie den Optionszwang abschaffen!)


Ich erinnere die Grünen daran, dass der Options-
zwang nicht einfach so in das Gesetz gekommen ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Rainer Brüderle, Rheinland-Pfalz! Ich war dabei!)

Wir haben unter Rot-Grün gemeinsam das Staatsangehö-
rigkeitsrecht 1999 reformiert. Das war ein ganz großer
Schritt weg vom Abstammungsprinzip hin zum Prinzip
des Geburtsortes. Wir machen jetzt, 15 Jahre danach,
den nächsten Schritt mit der Abschaffung der Options-
pflicht, die uns schon immer geschmerzt hat.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen nicht ab!)


Das Optionsmodell war im Übrigen auch ein Integra-
tionshemmnis in unserer Gesellschaft; denn wenn wir
jungen Leuten sagen, sie seien Deutsche auf Probe, dann
sind sie auch auf Probe in unserer Gesellschaft.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie ja leider!)


Dieses Signal wollen wir nicht mehr senden. Wir wollen
vielmehr sagen: Ihr alle seid hier herzlich willkommen,
ihr gehört dazu,


(Beifall bei der SPD)


ihr seid Teil unserer Gesellschaft, und wir stellen deswe-
gen keine hohen Hürden auf, damit ihr Deutsche werdet.

Mir ist es ganz wichtig, nach der Rede von Herrn
Brandt eines zu sagen: Natürlich ist die Frage der Loya-
lität zu einem Staat keine einfache Frage. Wir wissen,
dass in Ihren Reihen die Frage eine große Bedeutung
hat, ob man überhaupt eine Loyalität zu zwei Staaten ha-
ben kann und ob es zwei Staatsangehörigkeiten geben
kann. Wir glauben, dass man in unserer Gesellschaft
mittlerweile ganz viele Identitäten haben kann. Man ist
Berlinerin, so wie ich, man kommt ursprünglich aus
Niedersachsen oder woanders her, man ist Europäerin,
wenn man in anderen Ländern ist. So sehen wir an vielen
konkreten Beispielen in unserer Gesellschaft, dass die
Identitäten ganz bunt und vielfältig sind und von dem
jeweiligen Kontext abhängen. Sie sind keine Gefahr für
unsere Gesellschaft, sondern es ist eine Bereicherung,
wenn wir mehrere Identitäten haben.


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ihnen glaube ich das!)


Auch zwei Staatsangehörigkeiten können eine Berei-
cherung sein. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass wir
nicht die Wurzeln der Menschen kappen, die sie haben,
die Wurzeln ihrer Familie, ihrer Eltern und Großeltern.
Wir müssen ihnen vielmehr signalisieren: „Diese Wur-
zeln kappen wir nicht, sondern ihr könnt sie behalten“,
und das mit der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck brin-
gen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Für mich war
es ein sehr bewegender Moment, als wir am 23. Mai im
Deutschen Bundestag den 65. Geburtstag des Grund-
gesetzes gefeiert haben und hier Navid Kermani gespro-
chen hat, ein Deutscher, in Deutschland geboren, mit
iranischen Wurzeln, ein Muslim. Wir hatten ihn eingela-
den, das Jubiläum unseres deutschen Grundgesetzes zu
feiern. Das empfand ich als eine ganz starke Geste





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Helmut Brandt [CDU/CSU] – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was er zu Artikel 16 gesagt hat?)


und ein ganz starkes Signal in unsere Gesellschaft hi-
nein. Er hat uns sehr viel mitgegeben. Dass das möglich
ist, zeigt, dass man mit vielen Identitäten umgehen kann
und dass mehrere Identitäten und damit auch mehrere
Staatsangehörigkeiten überhaupt kein Problem, sondern,
wie ich schon sagte, eine Bereicherung sind.

Insofern ist das, was wir heute besprechen – die
Abschaffung der Optionspflicht –, für die betroffenen
Personen ganz wichtig. Wir orientieren uns dabei nicht
an Einzelfällen, die vielleicht schwierig sind, nicht an
Problemen, die es vielleicht im Zusammenhang mit dem
Nachweis des Bezugs zu Deutschland gibt. Vielmehr
orientieren wir uns an der Mehrheit der Fälle: Das sind
beinahe 40 000 junge Menschen jährlich, für die die Op-
tionspflicht entfällt. In über 90 Prozent der Fälle brau-
chen wir überhaupt keine weitere Prüfung, sondern al-
lein die melderechtliche Lage dient dazu, gleich sagen
zu können: Du kannst beide Staatsangehörigkeiten be-
halten, und du bist vollständig integriert. Du gehörst
dazu, und wir müssen nichts weiter überprüfen. – Der
Erfolg besteht darin, dass wir dies für die große Mehr-
heit ermöglichen. Allein dafür lohnt sich dieses Gesetz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Uns als SPD war es besonders wichtig, deutlich zu
machen, dass die Mehrheit der Menschen nicht zum Amt
muss, dass wir keinen bürokratischen Aufwand betrei-
ben und dass wir die Mehrheit der Menschen nicht zu
einer Aktivität verpflichten, sondern dass von vornhe-
rein für viele klar ist, dass sie zwei Staatsangehörig-
keiten bekommen können, Stichwort „wenig Verwal-
tungsaufwand“. Aber natürlich geht es nicht ganz ohne
Verwaltungsaufwand. Denn selbstverständlich müssen
wir in einzelnen Fällen die entsprechenden Vorausset-
zungen prüfen. Dafür gibt es logischerweise Kriterien.

Wir legen diese Kriterien an, weil wir vereinbart ha-
ben, dass diejenigen, die hier geboren und aufgewachsen
sind, unbefristet die deutsche Staatsangehörigkeit erhal-
ten, aber auch, weil die Staatsangehörigkeit natürlich
keine Bagatelle ist. Das ist klar geworden, und das be-
tone ich hier noch einmal. An die Staatsangehörigkeit
sind viele Rechte und auch Pflichten geknüpft, die nicht
unwesentlich sind, zum Beispiel die Übernahme des
Amtes eines Schöffen, einer Wahlhelferin, eines Wahl-
helfers oder ähnlicher Dinge in unserer Gesellschaft.
Vieles ist an die Staatsangehörigkeit geknüpft, nicht nur
das Wahlrecht als solches, sondern eben auch andere
Dinge. Deswegen müssen wir genau schauen, was mit
der Staatsangehörigkeit verbunden ist. Dafür brauchen
wir bestimmte Kriterien.

Einen Punkt möchte ich noch ansprechen – dabei
blicke ich in die Richtung des Koalitionspartners –,
Stichwort „Altfälle“; kein schöner Begriff. Es geht dabei
um die Frage, was wir mit denjenigen machen, die eine
Staatsangehörigkeit jetzt schon haben zurückgeben müs-
sen, die also eine Staatsangehörigkeit verloren haben,
obwohl sie mit Blick auf den von uns unterschriebenen
Koalitionsvertrag eigentlich hätten Deutsche bleiben und
auch Türkinnen und Türken sein können.


(Beifall bei der SPD)


Ich wäre sehr dankbar – wir beraten diesen Gesetzent-
wurf heute in erster Lesung –, wenn wir noch einmal da-
rüber ins Gespräch kommen könnten, um zu klären, ob
wir für die infrage kommenden wenigen Hundert jungen
Menschen eine Regelung finden können,


(Beifall bei der SPD)


damit wir ihnen sagen können: Auch ihr seid von dieser
Reform betroffen. Auch für euch eröffnen wir eine Mög-
lichkeit zur doppelten Staatsangehörigkeit. Auch ihr
könnt beide Staatsangehörigkeiten haben. Auch euch
umfasst dieser Gesetzentwurf. – Wenn wir dazu noch
einmal beraten könnten, würden jedenfalls wir Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten uns sehr freuen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage es noch einmal: Ein guter Kompromiss liegt
zur Beratung vor. Ich freue mich auf die weiteren Bera-
tungen hier bei uns im Deutschen Bundestag, und vor
allen Dingen freue ich mich, dass wir in der Koalition
vereinbart haben, diesen Gesetzentwurf noch vor der
Sommerpause zu verabschieden. Es wäre ein ganz
starkes Signal und eine schöne Sache, wenn wir vor der
Sommerpause sagen könnten: Wir haben die Options-
pflicht abgeschafft. Es gibt die Möglichkeit einer dop-
pelten Staatsangehörigkeit. – Das ist ein erster Schritt,
aber ein wichtiger Schritt. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten bleiben an diesem Thema dran, und
wir wollen noch weitere Schritte machen. Dazu werden
wir weitere Anläufe unternehmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803906900

Vielen Dank, Frau Kollegin Högl, auch für die punkt-

genaue Landung und Ausschöpfung der Redezeit.

Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der
Kollege Özcan Mutlu.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803907000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte hier einmal deutlich sagen: Hören Sie einfach
auf mit dem Märchen, dass Sie die Optionspflicht ab-
schaffen.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Sie schaffen sie nicht ab, Sie heben sie nicht auf; denn
§ 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bleibt.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Dieser Paragraf bleibt nicht nur, sondern er wird in sei-
nen Ausführungen sogar noch präzisiert, wodurch ein
Bürokratiemonster geschaffen wird. Das ist offensicht-
lich. Das sehen Sie zum Beispiel, wenn Sie sich § 34 des





Özcan Mutlu


(A) (C)



(D)(B)

Staatsangehörigkeitsgesetzes anschauen. Darin steht,
was alles für Pflichten die Meldebehörden plötzlich be-
kommen. Sie ignorieren die Lage vor Ort bei den Kom-
munen, bei den Ländern und geben den Behörden dort
Aufgaben, die sie vermutlich gar nicht lösen können.
Zum Beispiel sollen die Meldebehörden wissen und der
zuständigen Staatsangehörigkeitsbehörde melden – und
das bis zum zehnten Tag jedes Kalendermonats –, wo
welcher Optionspflichtige lebt. Das soll keine Bürokra-
tie sein? Das soll eine Abschaffung der Optionspflicht
sein? Hören Sie auf mit diesem Märchen, und belügen
Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese melderechtliche Sache ist ein richtiges Problem
und wichtiger Punkt; denn das zeigt genau, dass Sie
überhaupt nicht daran interessiert sind, die Options-
pflicht abzuschaffen.

Ich habe den Kollegen von der Union zugehört. Der
Herr Krings hat gesagt: Man kann stolz sein auf dieses
Staatsangehörigkeitsgesetz. – Tut mir leid; ich bin nicht
stolz darauf. Ein modernes Staatsangehörigkeitsgesetz,
lieber Kollege Krings, sieht anders aus. Wenn tatsächlich
nur 5 Prozent der Optionspflichtigen von der neuen Re-
gelung betroffen sind, warum nehmen wir dann die rest-
lichen 95 Prozent in Haftung? Warum schaffen wir die-
ses Bürokratiemonster? Warum sagen wir nicht, wie
unser Bundespräsident es getan hat: „Jeder, der hier zur
Welt kommt, dessen Eltern legal in unserem Land leben,
bekommt aufgrund des ius soli bedingungslos die deut-
sche Staatsbürgerschaft“? Punkt. Aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Da kann ich nur sagen: Hören Sie auf den Bundespräsi-
denten!

Und kommen Sie mir nicht immer wieder mit Ge-
schichten von Erdogan und der Türkei! Damit zeigen Sie
nur, dass es Ihnen anscheinend um eine Lex Türkei geht.
Während in der Kölnarena 20 000 Leute Erdogan zuge-
hört haben, haben draußen 50 000 ihr demokratisches
Recht genutzt und gegen ihn demonstriert.


(Helmut Brandt [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Sehr gut!)


Hören Sie also auf mit der Frage der Illoyalität oder der
fehlenden Loyalität zu diesem Land!

Außerdem: Deutschland und die Türkei als NATO-
Partner werden nie gegeneinander Krieg führen, sodass
auch die Frage „Wo diene ich?“ irrelevant ist. Es ist ein-
fach unsinnig, darüber zu reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Herr Krings hat in seiner Rede irgendetwas von
Volkszugehörigkeit und von Heimatrecht gesagt und sol-
che Begriffe verwendet. Ich habe mich da gefragt: Wel-
chen Redezettel benutzt er? Den von vor zehn Jahren,
oder was? Wir sind doch viel weiter. Wir haben zum Jahr
2000 das Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert und uns
von dem Wilhelminischen Gesetz, das auf dem Bluts-
recht basierte, verabschiedet. Wir haben das ius soli,
wenn auch nicht vollständig, aber optional. Deshalb: Die
Staatsangehörigkeit ist hier wichtig und nicht die Volks-
zugehörigkeit; das sollten Sie als Staatssekretär inzwi-
schen auch gemerkt haben, Herr Krings.

Wir wollen weiter gehen als Sie. Wir wollen gern das
umsetzen, liebe Frau Staatsministerin Özoğuz, was Sie
am 29. März 2014 – also in diesem Jahr, nicht irgendwie
vor drei Jahren oder im Wahlkampf – gesagt haben, etwa
in der FAZ nachzulesen: Das Ziel der SPD bleibt die
volle Abschaffung der Optionspflicht. – Wir nehmen Sie
beim Wort.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist ja kein Widerspruch!)


Lassen Sie uns gemeinsam etwas dafür tun! Lassen Sie
sich nicht mit solchem Unsinn und Murks von der Union
über den Tisch ziehen!

Es ist keine Abschaffung, was Sie hier betreiben; es
ist einfach eine Mogelpackung. Wenn Ihnen junge
Leute, denen Sie natürlich erzählen, was Sie Tolles ge-
leistet haben, sagen: „Wir sind zufrieden mit dem Ge-
setz“, dann kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie denen
diesen Entwurf, den Sie vorgelegt haben! Dann werden
die jungen Leute sehr wohl sagen, was das für eine Mo-
gelpackung ist. – Mit diesem Entwurf sind wir auf kei-
nen Fall einverstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier ist des Öfteren Hessen zitiert worden. Ich kann
Ihnen wirklich sagen: Ein Freund der hessischen CDU
bin ich nie gewesen, werde ich auch nicht so ohne Wei-
teres; aber wenn diese hessische CDU, die noch 1999
auf der Straße Unterschriften gegen die doppelte Staats-
bürgerschaft gesammelt hat und gegen Migranten gewet-
tert hat, heute in einem schwarz-grünen Koalitionsver-
trag unterschreibt, dass sie quasi der eingeschränkten
Abschaffung des Optionsmodells zustimmt,


(Rüdiger Veit [SPD]: Seien Sie doch mit uns zufrieden, bitte schön!)


dann ist das doch ein Schritt. Seien Sie doch zufrieden!
Was wollen Sie denn? Ich bin nicht unzufrieden damit.
Ich denke, die CDU in Hessen wird auch noch weiter da-
zulernen.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich bin ge-
spannt auf die Beratungen in den Ausschüssen. Ich
hoffe, dass das, was Frau Högl hier angekündigt hat,
auch tatsächlich umgesetzt wird und der Entwurf der
Bundesregierung hinsichtlich der Altfälle verändert und
weiter verbessert wird.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803907100

Herr Kollege Mutlu, der Kollege Reichenbach

möchte Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen.






(A) (C)



(D)(B)


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803907200

Ja, bitte.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1803907300

Herr Kollege, können Sie mir die Logik Ihres Satzes

von vorhin erklären? Auf der einen Seite sagen Sie, dass
die Tatsache, dass die CDU in Hessen diesen großen
Schritt gegangen ist, indem sie den Koalitionsvertrag un-
terschrieben hat, eine ganz enorme Leistung der Grünen
sei. Auf der anderen Seite behaupten Sie, dass das Be-
streben der SPD, die CDU auf Bundesebene zu diesem
großen Schritt in Richtung der Position der SPD zu be-
wegen, eine kritikwürdige Leistung sei.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Armin Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU] – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Deutlich erklären!)



Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803907400

Wir haben in Hessen nicht gesagt, wir unterschreiben

keinen Koalitionsvertrag, in dem nicht eine doppelte
Staatsbürgerschaft enthalten ist. Das haben Sie gesagt.


(Zuruf von der SPD: Oh! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: In Hessen war es wohl nicht so wichtig! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Sie wollen das also gar nicht!)


Wir kämpfen in Hessen weiterhin dafür. Aber ich bin
Bundestagsabgeordneter, und ich bin gespannt auf die
Debatten in den Ausschüssen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Michael Frieser [CDU/ CSU])



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803907500

Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege

Michael Frieser, dem ich hiermit das Wort erteile.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1803907600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich glaube, dass wir gerade eine Stern-
stunde der logischen Beweisführung erlebt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, diese Debatte – da-
mit greife ich ein Wort eines ehemaligen Bundespräsi-
denten auf – unverkrampft zu führen.

Der Kollege hat gerade in seinem Beitrag einen etwas
laxen Tonfall gewählt. Ich erlaube mir daher, angesichts
der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft dieses
vielleicht etwas laxe Bild vom Doppelpass zu wählen.
Dieses taktische und strategische Mittel setzt mehrere
Dinge voraus: Es muss genau zum richtigen Zeitpunkt
sein, es muss zielgenau eingesetzt werden, und der Über-
blick muss gegeben sein. Nur dann funktioniert der Dop-
pelpass.
Ich als Vertreter der CDU/CSU habe keinerlei
Gründe, die SPD von ihren Wahlkampfversprechen zu
erlösen. Aber wenn eines richtig ist, dann doch wohl,
dass in diesem Koalitionsvertrag die Frage der doppelten
Staatsangehörigkeit nicht nur angesprochen, sondern tat-
sächlich geregelt wird, und das mit Sicherheit nicht
schlecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die etwas marktschreierische Art, die wir heute hier
erleben, ist der Sache nicht besonders dienlich. Natürlich
war die Optionspflicht immer ein Kompromiss mit allen
Nachteilen und Unwägbarkeiten. Vor allen Dingen war
damit eine große Bürokratie verbunden. Uns geht es da-
rum, dass man einerseits das Ganze nicht zu einem büro-
kratischen Monstrum aufbläst und andererseits die Men-
schen nicht in Loyalitätskonflikte bringt.

Interessant ist das Ergebnis der Optionspflicht: Am
Ende haben sich weit über 90 Prozent zur deutschen
Staatsbürgerschaft bekannt und damit eine Confessio ab-
gegeben: Jawohl, das will ich, das ist meine Entschei-
dung.

Interessant ist weiterhin, dass es beim Staatsbürger-
schaftrecht neben Staatsrecht und Staatslehre immer
auch um eine Werte- und Kulturgemeinschaft geht. Die
Linke macht es sich da ganz einfach. Sie drücken sozu-
sagen „copy & paste“ und bringen die Bundesratsvor-
lage als Plagiat im Deutschen Bundestag ein. Dabei
könnten Sie es sich noch einfacher machen, indem Sie
das sagen, was Sie wollen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das tun wir doch!)


Die Linke will die Abschaffung einer deutschen Staats-
bürgerschaft. Dann sagen Sie es auch, wenn Sie es so
meinen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann wären wir alle staatenlos!)


Dann sagen Sie auch, dass es für Sie ein überkommenes
Modell ist, dass ein Bekenntnis zu diesem deutschen
Staat nicht gewollt ist. Dann sagen Sie es aber auch so
und verbergen es nicht hinter einer Kritik, die sich letzt-
endlich in einem Werfen von Nebelkerzen abbildet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich meine, dass wir bei der Frage, den Menschen in
besonderen Ausnahmefällen eine doppelte Staatsbürger-
schaft zuzubilligen, heute einen ganz großen Schritt wei-
ter sind, weil wir mit einem Akt des Vertrauens auf die
Menschen zugehen. Wir sagen: Sie haben durch fami-
liäre Zugehörigkeit oder durch ein Aufwachsen hier den
Beweis geführt. Es ist nicht irgendein Hirngespinst, son-
dern es ist ein Beleg, dass man in diesem Land Fuß ge-
fasst hat, dass man seine Wurzeln gerade nicht kappt,
dass man nicht vergessen muss, woher man kommt, dass
man seine Identität nicht gegeneinander ausspielen
muss. Es geht darum, dass man bezüglich seiner Vergan-
genheit und seiner Perspektiven Fuß gefasst hat, das
heißt, dass man sich eine Zukunft in diesem Land, eine
Zukunft mit den Menschen, eine Zukunft im Miteinan-





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

der einer deutschen Kultur und Wertegemeinschaft vor-
stellen kann. Das bedeutet dieser heutige Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe bisher kein einziges Argument gehört, was
diese Frage zum Einsturz brächte. Ich habe kein einziges
Argument gehört, warum es falsch sein soll, zu erwarten,
dass ein Mensch in diesem Land aufwächst, zur Schule
geht und letztendlich auch Kontakte für seine Zukunft,
seine Lebensperspektive knüpft. Es tut mir leid: kein
einziges Argument. Es geht ausschließlich darum, dass
wir von den Menschen, die mit einer Migrationsge-
schichte, der Zuwanderung ihrer Familie in diesem Land
sind, nicht eine Entscheidung verlangen. Natürlich sind
es immer Kappungen, Fristen und Entscheidungsgrund-
lagen, die in Jahren, in bestimmten Akten fußen. Staats-
bürgerschaftsrecht ist so. Das können wir mit der heuti-
gen Diskussion nicht abschaffen. Letztendlich müssen
wir immer noch deutlich machen: Die deutsche Staats-
bürgerschaft ist etwas Wertvolles, und zwar im Sinne des
Wortes: voll Werten. Das bedeutet auch, dass die Men-
schen wissen müssen, womit sie umzugehen haben.

Hier bin ich bei dem Thema Integrationspolitik. Es
gehört schon viel Chuzpe dazu, zu sagen, dass wir mit
diesem Gesetz die Integrationspolitik verhindern oder
behindern würden.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Integration als letzter Schritt zur Einbürgerung!)


Seit einer Dekade, zehn Jahre hintereinander, wird der
bundesdeutsche Haushalt bezüglich der Integrations-
kurse – im Haushalt des Innenministers – tatsächlich
aufgestockt. Er wird aufgedoppelt. Wir legen ständig zu:
Milliarde um Milliarde. Deshalb kann ich nur sagen:
Wer am Ende des Tages behauptet, es sei ein integra-
tionspolitischer Fehlakt, verkennt die Realität total.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Gegenteil. Integrationspolitisch muss man deut-
lich sagen: Wir wollen den Menschen eine Perspektive
der Integration geben, weil sie bereits selber ein Be-
kenntnis abgelegt haben, indem sie in diesem Land auf-
wachsen und vor allem auch ausgebildet wurden, Kon-
takte geknüpft haben. Das bedeutet Integration.

Ich muss aber den Menschen auch sagen, wohin sie
sich integrieren sollen. Wenn diese Gesellschaft etwas
komplett Beliebiges hat, wenn sie in ihrem Kern nicht
mehr existiert, dann weiß der Betreffende eigentlich
nicht mehr, ob es überhaupt einen Sinn hat, außer prakti-
schen Gründen des Reisens und vielleicht ein bisschen
Sicherheit, dass er im Ernstfall auch noch die deutsche
Staatsbürgerschaft hat. Es muss noch eine besondere Art
und Weise sein, warum wir sagen: Eine doppelte Staats-
bürgerschaft kann und soll zugelassen werden.

Das bedeutet aber auch, dass wir an die Ausnahmen
denken müssen. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll im-
mer noch die Ausnahme sein, weil wir die Menschen
trotzdem in einen Wettbewerb schicken. Wir schicken
sie in einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Natio-
nen und Abstammungen. Das kann auch sehr sinnvoll
sein. Im Ergebnis sage ich am Ende des Tages: Natürlich
hat es auch mit einem demografischen Faktor zu tun.
Der Kollege Brandt hat es angeführt. Es geht hier nicht
um die Frage der Quantität. Vielmehr geht es darum,
dass die Menschen, die hier ausgebildet wurden, hier
Abschlüsse gemacht haben, hier etwas gelernt haben, ih-
rerseits eine Bindung zu diesem Land entwickeln und sa-
gen: Das, was diese Gesellschaft in mich investiert hat,
diese Kenntnisse möchte ich versuchen, in sie einzubrin-
gen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803907700

Herr Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Mutlu?


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1803907800

Ich dachte schon, ich hätte mich versehen. Bitte

schön, Herr Kollege, stellen Sie Ihre Frage.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803907900

Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Frieser. – Ich

habe eine ganz banale und kurze Frage. Ist Ihnen be-
kannt, dass in unserem Land bereits circa 5 Millionen
Menschen einen Doppelpass haben und dass die Bundes-
republik Deutschland mit 53 Ländern dieser Erde soge-
nannte Abkommen zur doppelten Staatsangehörigkeit
oder die Hinnahme der Mehrstaatigkeit vereinbart hat?
Und warum sehen Sie vor diesem Hintergrund ein Pro-
blem darin, dass man diese Vereinbarungen auch auf den
Rest der Menschen, die in unserem Land leben, auswei-
tet? Wovor haben Sie Angst?


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1803908000

Herr Kollege, schon der Begriff „Rest“ macht Ihre

Haltung zu diesem Thema deutlich. Dass es die von
Ihnen genannten Vereinbarungen gibt, hat etwas mit der
Historie unseres Landes zu tun. Vor dem Hintergrund
unserer Geschichte tun wir in vielen Einzelfällen
gut daran, also zum Beispiel aus Sicherheitsgründen und
-bedenken eine doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen.
Dass wir in diesen Ausnahmefällen so etwas zulassen,
heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass wir nun auto-
matisch auch sofort akzeptieren, dass alle anderen in die-
sen Genuss kommen. Das wäre nichts anderes als
Gleichmacherei, aber die Voraussetzungen für doppelte
Staatsbürgerschaft sind da aus meiner Sicht nicht erfüllt.

Zweiter Teil der Antwort: Gerade weil sich die Euro-
päische Union als Kultur- und Wertegemeinschaft be-
greift, macht es Sinn, zu sagen: Wir nehmen doppelte
Staatsbürgerschaften gegenseitig wirklich ernst.

Tun Sie mir einen Gefallen: Mit Ihrer stilistischen
Volte, mit der Reductio ad Absurdum, also indem Sie sa-
gen, dass ich das jeweils übertriebe, haben Sie immer
noch kein Argument dafür geliefert, warum die doppelte
Staatsbürgerschaft nicht ein besonderer Akt bleiben soll,
so wie das derzeit der Fall ist: In bestimmten Fällen wird
gegebenenfalls die doppelte Staatsbürgerschaft verlie-
hen.





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das überzeugt nicht!)


Liebe Kollegen, der entscheidende Punkt bleibt, dass
wir die jungen Menschen, auch wenn wir ihnen die dop-
pelte Staatsbürgerschaft ermöglichen, dazu auffordern,
mit ihren Wurzeln, mit ihren Kenntnissen, mit ihren
Möglichkeiten und mit ihren Perspektiven in einen Wett-
bewerb zu treten. Wir ermöglichen den Menschen, ihre
Herkunft in unser Land einzubringen, und wir hoffen,
dass dabei der optimale Fall eintritt. Um bei dem Bild zu
bleiben, das ich eingangs gebracht habe: Der schlech-
teste Fall wäre, dass ein Doppelpass im Nirgendwo ver-
schwindet. Es wäre schade, wenn wir Menschen verlö-
ren, die bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landes
mithelfen und Perspektiven eröffnen könnten. Der beste
Fall wäre, dass wir Brücken bauen, dass wir die Men-
schen tatsächlich zusammenbringen und dass sie sich
mit all dem, was sie ausmacht, was sie können und was
sie auch an Hoffnungen haben, in Deutschland einbrin-
gen – sogar vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie
irgendwann die Entscheidung treffen, dass sie in unse-
rem Land bleiben, sich einbringen und ihre Zukunft ge-
stalten wollen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]: Zu dem Beispiel klatsche ich!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803908100

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Christina Kampmann, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christina Kampmann (SPD):
Rede ID: ID1803908200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nehmen wir einmal an, alles wäre anders, alles wäre ir-
gendwie umgekehrt: Ich wäre als Kind deutscher Eltern
in der Türkei geboren; die Türkei wäre Mitglied in der
Europäischen Union, Deutschland nicht; und es gäbe
dort genau wie hier das Optionsmodell; meine Eltern
hätten in der Türkei einen kleinen Betrieb; und welche
Staatsangehörigkeit ich habe, das hat mich eigentlich nie
so wirklich interessiert – bis zu dem Tag, an dem die Be-
hörde mir sagt, ich müsse mich entscheiden: für die eine
oder für die andere Staatsangehörigkeit. In der Zeitung
lese ich von einem Politiker mit einem britisch klingen-
den Namen. Er hat die türkische und die britische Staats-
angehörigkeit. Seine Eltern kommen aus EU-Mitglied-
staaten, sagt man mir. Ganz schön ungerecht, finde ich.
Wieso muss ich mich entscheiden und andere nicht? Ich
frage bei der Behörde nach. Die sagen: Es geht um die
Vermeidung von Mehrstaatigkeit. Und ich frage mich:
Warum geht es nur bei mir darum und nicht bei diesem
Politiker?

Ich habe gerade angefangen, zu studieren. Vielleicht
möchte ich einmal als Ärztin in Deutschland arbeiten.
Meine Großeltern haben dort einen Hof, und früher habe
ich die Sommerferien dort verbracht. Auch dieser Ort ist
irgendwie ein Teil von mir. Vielleicht möchte ich aber
auch in der Türkei bleiben, eine Familie gründen und
den Betrieb meiner Eltern übernehmen. – Aber weiß ich
das jetzt, mit Anfang 20?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein fiktives Bei-
spiel, das deutlich macht, vor welch schwierige Ent-
scheidung wir junge Menschen mit der Optionspflicht
stellen. Es ist vor allem eine Entscheidung, die Men-
schen, die hier geboren sind, in Bürger erster und zweiter
Klasse unterteilt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann schaffen wir sie ab! Aber vollständig!)


Wenn ich von erster und zweiter Klasse rede, dann geht
es dabei nicht um Banalitäten, dann geht es um nichts
Geringeres als um politische Teilhabe in dem Land, in
dem diese Menschen leben, in dem sie arbeiten, in dem
sie Steuern zahlen und dessen Gesetze sie zu respektie-
ren haben, ohne dass sie in Form von Wahlen darüber
entscheiden können – es sei denn, sie geben die Staats-
angehörigkeit ihrer Eltern auf.

Doch was sich vielleicht einfach anhört, ist es ganz
und gar nicht; denn für die meisten Menschen ist die
Staatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass. Viele sind,
auch wenn sie nicht dort leben, durch die Kultur ihres
Landes stark geprägt. Sie verbinden damit Menschen,
die ihnen etwas bedeuten, Freunde, Familie, vielleicht
auch die Großeltern, und nicht selten verbinden sie da-
mit auch ein zweites Zuhause, zu dem sie immer wieder
gerne zurückkehren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele gute
Gründe, die für die Abschaffung der Optionspflicht spre-
chen.

Der erste ist: Wir kommen zu einem Abbau von Büro-
kratie. Das ist in einem Land, in dem nicht gerade ein
Mangel an Bürokratie herrscht, immer schon einmal ein
richtig guter Grund, glaube ich.

Der zweite ist: Mehrstaatigkeit ist in einer globalisier-
ten Welt bereits gelebte Realität, und die funktioniert im
Übrigen ganz wunderbar.

Der dritte und damit wichtigste Grund ist, dass wir bis
zu 36 000 jungen Menschen pro Jahr mit dieser Rege-
lung helfen werden. So viele werden davon profitieren,
und das finde ich richtig gut und wichtig, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Denn die Optionspflicht ist wie das Haar in der Suppe
einer modernen Einwanderungsgesellschaft. Man könnte
auch sagen: Sie ist wie die vier Tore des österreichischen
FC Nationalrat in einem interparlamentarischen Fußball-
turnier für unseren FC Bundestag: Niemand will sie, nie-
mand braucht sie. Deshalb ist es richtig, dass wir endlich





Christina Kampmann


(A) (C)



(D)(B)

eine Antwort gefunden haben, die nichts anderes als die
Abschaffung der Optionspflicht bedeuten kann.


(Beifall bei der SPD)


Damit sind wir einen wichtigen Schritt weiter, wenn
es darum geht, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, wenn es
darum geht, Menschen die Hand auszustrecken und ein-
fach einmal zu sagen: „Schön, dass ihr da seid!“, und
wenn es darum geht, zu respektieren, dass auch Men-
schen, die einen deutschen Pass haben, eine tiefe Verbin-
dung zu einem anderen Land haben können, die sie zu
Recht gar nicht aufgeben wollen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Ich bin stolz darauf, dass sich die SPD für die Ab-
schaffung der Optionspflicht starkgemacht hat. Damit
beenden wir einen langen Weg und bekennen uns end-
gültig zu unserem Dasein als Einwanderungsland. Und
ich begrüße es außerordentlich, dass wir gemeinsam mit
unserem Koalitionspartner einen ebenso guten wie prak-
tikablen Kompromiss gefunden haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, da haben Sie den Mund ja voll genommen!)


Ich sage aber auch: Das ist nicht unser letzter Schritt,
Herr Beck.


(Beifall bei der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Koalitionsvertrag steht, es ist der letzte Schritt!)


Die generelle Anerkennung der Mehrstaatigkeit bleibt
das Ziel der SPD.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?)


Zunächst bin ich aber froh, dass wir einen Anfang ge-
macht haben, dass wir einen Weg gefunden haben, damit
es für junge Menschen in Zukunft nicht mehr entwe-
der – oder heißt, sondern einfach nur: Schön, dass du da
bist, und hoffentlich bist du – ganz im Sinne der Band
„Wir sind Helden“ – Gekommen um zu bleiben.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803908300

Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs-

punkt ist für die CDU/CSU die Kollegin Erika
Steinbach, der ich hiermit das Wort erteile.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1803908400

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Frau Kampmann hat völlig zu Recht gesagt: Für die
meisten Menschen ist die Staatsangehörigkeit viel mehr
als ein Pass. Das ist vollständig richtig. Vor dem Hinter-
grund haben wir uns auch gemeinsam entschieden, zu
sagen: Die vorliegende Änderung des Staatsangehörig-
keitsgesetzes rüttelt nicht daran, dass eine doppelte
Staatsangehörigkeit weiterhin kein Normalfall sein
sollte, vielmehr bleibt die doppelte Staatsangehörigkeit
die Ausnahme.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausnahme mit 5 Millionen!)


Wir wollen aber – auch gemeinsam – mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf die hier geborenen Zuwanderer-
kinder weitgehend nicht mehr in die emotional wirklich
schwierige Situation bringen, sich spätestens zum
23. Lebensjahr entweder für die deutsche Staatsangehö-
rigkeit oder für die ihrer Eltern entscheiden zu dürfen
oder zu müssen – je nachdem, wie es der Einzelne
empfindet. Dazu müssen aber aus unserer Sicht Mindest-
anforderungen erfüllt sein, und darauf haben wir uns er-
freulicherweise gemeinsam verständigen können.

Ganz entscheidend ist für uns der Aspekt, dass eine
Bindung an Deutschland, die über eine emotionale Bin-
dung hinausgeht, erkennbar sein muss. Deswegen haben
wir einen Kriterienkatalog aufgestellt. Die Pflicht, sich
für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, entfällt mit
der vorgesehenen Gesetzesänderung für die junge Gene-
ration, und zwar für die Kinder, die hier acht Jahre gelebt
haben oder sechs Jahr zur Schule gegangen sind oder die
Schule bzw. die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen
haben. Eine Härtefallklausel für all die Fälle, die man
nicht prognostizieren kann, zu denen aber jeder Mensch
mit Vernunft sagt: „Das darf ja wohl nicht wahr sein,
dass in diesem Fall keine Lösung möglich ist“, ist natür-
lich auch enthalten. Uns von der CDU/CSU ist also
wichtig, dass mit der vorgesehenen Gesetzesänderung si-
chergestellt wird, dass bei denjenigen, die die doppelte
Staatsbürgerschaft erlangen, eine Bindung an Deutsch-
land erkennbar ist. Das halten wir für erforderlich und
sinnvoll für dieses Land, für die Gemeinsamkeit in die-
sem Land.

Die Betroffenen können die Frage, ob sie nach dem
Gesetz in Deutschland aufgewachsen und damit von der
Optionspflicht befreit sind, schon sehr früh, bereits mit
Vollendung des achten Lebensjahrs, wenn sie acht Jahre
lang hier gelebt haben, klären lassen. Das gibt ihnen Si-
cherheit, auch emotionale Sicherheit für die Zukunft;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn eine frühe Rechtssicherheit stabilisiert.

Aus den Reihen der Opposition wird die Forderung
nach einer grundsätzlichen Möglichkeit zur doppelten
Staatsbürgerschaft erhoben. Das wollen wir ausdrücklich
nicht. Aber ich habe mich schon amüsiert, dass der
Redner der Grünen diesen Gesetzentwurf in Bausch und
Bogen verdammt und gleichzeitig die hessische Landes-
regierung gelobt hat. Als Frankfurterin freue ich mich
natürlich, dass die schwarz-grüne Landesregierung ge-
lobt wird. Also, Herr Kollege, das, was Sie da losgelas-
sen haben, war ein Bumerang.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

Es geht bei dieser gesetzlichen Regelung auch nicht
um die grundsätzliche Neuordnung der Einbürgerungen,
sondern tatsächlich ausschließlich um die hier geborenen
und aufgewachsenen Menschen, die sich sonst als junge
Erwachsene hätten entscheiden müssen, welche Staats-
bürgerschaft sie fortan weiterführen wollen. Es geht also
nicht um den generellen Doppelpass – allen, die solche
Sorgen haben, sei das hier noch einmal deutlich gesagt.

Zu einer völligen Gleichstellung – den Hinweis will
ich auch noch geben – der Inhaber mehrerer Staatsange-
hörigkeiten mit den Menschen, die nur eine Staatsange-
hörigkeit haben, kommt es auch nicht. So ist etwa der
diplomatische und konsularische Schutz von Deutschen,
die weitere Staatsangehörigkeiten besitzen, im Ausland
eingeschränkt. Sie können sich beispielsweise gegen-
über dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie auch
noch besitzen, nicht auf ihre deutsche Staatsangehörig-
keit berufen. Ich glaube, auch das ist ein Akt der Gerech-
tigkeit.

Meine lieben Freunde, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ich glaube, wir haben, wenn wir jetzt in die
Beratungen eintreten, eine gute Vorlage. Ich bin sehr zu-
versichtlich, dass wir sie gemeinschaftlich über die
Rampe kriegen, und das auch noch vor der Sommer-
pause; daran würde mir liegen.

Alles Gute!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803908500

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzesent-
würfe auf den Drucksachen 18/1312 und 18/1092 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu einen anderweitigen Vorschlag? –
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel
Höhn, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Festlegung nationaler Kli-
maschutzziele und zur Förderung des Klima-
schutzes (Klimaschutzgesetz – KlimaSchG)


Drucksache 18/1612
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Julia
Verlinden, Christian Kühn (Tübingen), Oliver
Krischer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Energiewende durch Energieeffizienz vo-
ranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie
unverzüglich umsetzen

Drucksache 18/1619
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in dieser
Aussprache ist die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/
Die Grünen, der ich hiermit das Wort erteile.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803908600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

wenigen Monaten wurde meine jüngste Enkeltochter ge-
boren, die Hannah.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Danke schön. – Am vergangenen Samstag haben wir
Taufe gefeiert. Was heißt das?


(Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär: Christliche Erziehung!)


Das heißt, Verantwortung zu übernehmen für eine gute
Zukunft, und das heißt, sie vor Schaden zu bewahren.
Ich bin ganz sicher, dass jeder von Ihnen in so einer Si-
tuation genauso denkt wie ich. Dabei geht es nicht nur
darum, dass wir sagen, wir wollen Verantwortung über-
nehmen in akuter Not, sondern es geht auch darum, lang-
fristigen Schaden von diesen kleinen Krabbelkindern ab-
zuwenden. Deshalb müssen wir heute und jetzt etwas
gegen den Klimawandel unternehmen; denn diese Klei-
nen, auch Hannah, haben eine gute Chance, das nächste
Jahrhundert zu erleben. Dann werden die Vorhersagen
der Wissenschaftler eintreten. Dann werden die Schäden
eingetreten sein. Wenn wir heute nicht handeln, dann
hinterlassen wir diesen Kindern eine dramatische Bürde.
Das wollen wir doch alle nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir haben zu Recht eine Schuldenbremse eingebaut,
weil wir gesagt haben, wir wollen unsere Kinder nicht
mit Schulden belasten. Aber wir müssen ebenso eine
CO2-Bremse einbauen; denn ansonsten werden wir ih-
nen diese Schäden aufbürden.

Der Punkt ist, dass nicht nur die Generation meiner
Enkelkinder betroffen ist, sondern auch unsere eigene





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

Generation. Vor einem Jahr haben wir hier über das
Hochwasser an der Elbe und die dramatischen Schäden
dort diskutiert. Von diesem Pult aus möchte ich sagen:
Herzlichen Dank an die vielen Helfer! Danke für die
große Solidarität, auch der Privatleute, die hingegangen
sind und geholfen haben! Danke auch an Bund und Län-
der, die 8 Milliarden Euro Finanzhilfe gegeben haben,
um die Schäden zu beseitigen. Das war gut, das war not-
wendig, und das war richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nicholas Stern sagt: Wir müssen etwas gegen den
Klimawandel tun, ansonsten werden wir die Schäden
nicht mehr bezahlen können. Die Wetterextreme kom-
men: Dürren, Fluten, Stürme. Das alles wird enorm viel
Geld kosten, und es geht offensichtlich schneller, als wir
alle gedacht und die Wissenschaftler vorhergesagt ha-
ben.

Jetzt werden viele von Ihnen sagen: Ja, aber Deutsch-
land tut doch so viel; sollen doch die anderen erst einmal
was machen. Stimmt das wirklich? Schauen wir uns die
Fakten an: In Deutschland haben wir pro Kopf einen
Ausstoß von 10 Tonnen CO2 pro Jahr. Wie viele sind es
in der EU? Gut 7 Tonnen. In Deutschland steigt der CO2-
Ausstoß in den letzten zwei Jahren wieder und sinkt
nicht. Wir nähern uns den Zielen des Kioto-Abkommens
von der falschen Seite. Von daher müssen wir etwas tun.
Deutschland ist auf den Klimakonferenzen nicht mehr
der Vorreiter in der EU. Mittlerweile bewegen sich an-
dere – zugegebenermaßen auf hohem Niveau. Aber die
USA bewegen sich, und auch China muss sich bewegen,
weil es so viele schmutzige Kohlekraftwerke hat, dass
die Luft gesundheitsschädlich ist. Deshalb müssen auch
wir in Deutschland uns bewegen. Das heißt: Deutsch-
land muss aus der Braunkohlenutzung raus; sonst wer-
den wir unsere Klimaziele nicht erreichen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb empfand ich es als ein schlimmes Zeichen,
dass dieser Tage das Kabinett in Brandenburg den
Braunkohleplan genehmigt hat und damit dem Klimakil-
ler Braunkohle für 40 weitere Jahre eine Bestandsgaran-
tie gegeben hat.

Das Umweltbundesamt warnt seit Jahren davor, dass
wir das Ziel, die CO2-Emissionen um 40 Prozent zu re-
duzieren, krachend verfehlen werden. Die neue Bundes-
ministerin hat gesagt: Mit den jetzigen Maßnahmen wer-
den es wohl nur 33 Prozent. – Experten sagen: Auch eine
Reduktion um 33 Prozent werden wir nicht erreichen.
Das werden eher unter 30 Prozent sein, die wir schaffen.

Es wird gesagt, die Bundesministerin lege jetzt ein
„Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ auf, um etwas zu
tun. Dieses Aktionsprogramm wird aber erst diskutiert.
In der Zeit, in der es diskutiert wird, werden von anderen
Ministerien schon wieder Fakten geschaffen. Das, liebe
Kolleginnen und Kollegen, geht nicht. Wenn Gabriel
gleichzeitig den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie
im neuen EEG ausbremst, dann heißt das nämlich nichts
anderes, als dass er gegen den Klimaschutz handelt;
denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist die er-
folgreichste Klimaschutzmaßnahme überhaupt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Energieeffizienz kommt nicht vom Fleck. Das ist
bei den Gebäuden so, aber auch bei der schmutzigen
Braunkohle. Diese boomt, weil der Emissionshandel
nicht funktioniert. Die Krönung war der Vorschlag, den
Eigenverbrauch der schmutzigen Braunkohle von der
EEG-Umlage auszunehmen, aber Eigenverbrauch von
Photovoltaik bezahlen zu lassen. Ich finde ja interessant,
dass Gabriel von diesem Vorschlag schon heute ein
Stück abrückt, aber ich bin einmal gespannt, was am
Ende herauskommt. Vielleicht ist das aber auch unter
dem Druck der Anhörung geschehen, in der die Experten
ja gesagt haben: Den Klimakiller Braunkohle zu befreien
und die Photovoltaik zu belasten, ist absolut unsinnig; so
etwas Verrücktes habe ich selten gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir legen deshalb unser Klimaschutzgesetz vor. Wir
wollen damit nicht nur langfristig Ziele erreichen, son-
dern auch Kontrolle, Verlässlichkeit und Planungssicher-
heit. Vor allen Dingen wollen wir eines: Wir wollen ei-
nen Mindestpreis für CO2; denn die Klimakiller müssen
für das, was sie tun, auch bezahlen. Wir wollen es so ma-
chen wie in Großbritannien, den Niederlanden und
Schweden: Der Ausstoß von CO2 muss etwas kosten.
Wir müssen an die Ursachen ran, um das hinzubekom-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Meine Enkeltochter Hannah und ihre Krabbelgruppe
werden irgendwann einmal erwachsen sein. Dann wer-
den sie uns fragen: Warum habt ihr eigentlich nicht an-
ders gehandelt? Die Wissenschaftler haben euch die
Fakten auf den Tisch gelegt, und es wäre eure Verant-
wortung gewesen, uns diese Schäden nicht zuzumuten. –
Deshalb ist es, glaube ich, Zeit, nicht nur in Sonntagsre-
den für den Klimaschutz zu sprechen, sondern endlich
auch an Werktagen für den Klimaschutz zu handeln. Wir
legen deswegen heute ein Gesetz vor, das Klimaschutz
verbindlich macht, ein grünes Klimaschutzgesetz. Lasst
uns darüber diskutieren!

Ein Vertreter des IPCC hat bei der Vorstellung des
jüngsten IPCC-Berichtes gesagt: „Es kostet nicht die
Welt, unseren Planeten zu retten“. Ich füge hinzu: „Aber
es kostet unsere Existenz, wenn wir nichts tun.“ In dem
Sinne: Lasst uns über Instrumente diskutieren, damit wir
unsere Kinder und Enkelkinder vor den Schäden bewah-
ren, die wir ansonsten anrichten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803908700

Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Dr. Anja

Weisgerber.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Anja Weisgerber (CSU):
Rede ID: ID1803908800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-

ginnen und Kollegen! Die Folgen des Klimawandels
sind bereits heute zu beobachten. Dies hat der letzte Be-
richt des Weltklimarates vor Augen geführt. Deshalb
sind wir uns über alle Fraktionen hinweg einig, dass wir
einen ambitionierten Klimaschutz brauchen und auch
wollen.

Deutschland hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Wir
wollen bis 2020 40 Prozent der CO2-Emissionen einspa-
ren.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie auch etwas dafür!)


Das ist doppelt so viel, wie sich die EU bis 2020 vorge-
nommen hat. Nach aktuellen Prognosen – Frau Höhn hat
es erwähnt – werden wir ohne zusätzliche Anstrengun-
gen aber nur 33 bis 35 Prozent erreichen; diesbezüglich
gibt es unterschiedliche Meinungen bei den Experten.
Um diese Lücke zu schließen – das zu der Frage, ob wir
etwas dafür tun –, arbeiten wir gerade an einem „Ak-
tionsprogramm Klimaschutz 2020“. Umweltministerin
Hendricks hat im April Eckpunkte dazu vorgelegt. Die
Verabschiedung des Aktionsprogramms ist für Novem-
ber dieses Jahres geplant.

Darüber hinaus will die Bundesregierung 2016 einen
nationalen „Klimaschutzplan 2050“ verabschieden. Da-
rin sollen dann Zwischenziele für die Zeit nach 2020
zum Erreichen des langfristigen Klimaschutzziels, das ja
sehr ehrgeizig ist – bis 2050 80 bis 95 Prozent Treib-
hausgasminderung –, enthalten sein.

In den Eckpunkten zum Aktionsprogramm werden
für sämtliche relevanten Sektoren von der Energiewirt-
schaft über die Industrie, den Verkehr, die Kreislaufwirt-
schaft bis hin zur Landwirtschaft mögliche Maßnahmen
aufgezeigt. In einem umfangreichen Dialogprozess wer-
den diese jetzt gemeinsam mit allen betroffenen Ressorts
– das ist auch wichtig, dass alle Ressorts eingebunden
werden –, den Bundesländern und den Verbänden kon-
kret erarbeitet und festgelegt. Sie sehen, meine Damen
und Herren, die Bundesregierung handelt und schlägt
ganz konkrete Klimaschutzmaßnahmen vor.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD])


Da die Energiewirtschaft der Sektor mit den höchsten
Treibhausgasemissionen und den größten Minderungs-
potenzialen ist, werde ich mich im Folgenden darauf
konzentrieren. Das, was in diesem Bereich am meisten
zur Treibhausgasminderung beiträgt, sind der Ausbau
der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopp-
lung, der Emissionshandel und die Steigerung der Ener-
gieeffizienz, die auch im Sektor Industrie, Gewerbe,
Handel und Dienstleistungen eine große Rolle spielt.
Sehr große Einsparpotenziale gibt es in Deutschland
im Gebäudebereich. Dort fallen rund 40 Prozent des
Endenergieverbrauchs und etwa ein Drittel der CO2-
Emissionen an. Deshalb setzen wir weiterhin durch zahl-
reiche Programme der KfW Anreize zu energieeffizien-
tem Bauen. Das ist auch gut so, meine Damen und Her-
ren. Aber – ich werde nicht müde, es zu erwähnen –:
Daneben brauchen wir auch die steuerliche Absetzbar-
keit von Investitionen in die Gebäudesanierung.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Da sind auch die Bundesländer in der Pflicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung der
Treibhausgasemissionen muss auch der Emissionshan-
del leisten. Deshalb machen wir uns auch auf europäi-
scher Ebene für eine Reform des Emissionshandels
stark. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel und Um-
weltministerin Hendricks kämpfen in Brüssel dafür, dass
der Emissionshandel durch eine Reform wieder flottge-
macht wird. Dann werden umweltfreundliche Kraft-
werke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke endlich
wieder eine faire Chance auf den Märkten erhalten. Das
ist ganz wichtig zur Treibhausgasemissionsminderung.
Wir setzen uns sogar an die Spitze der Bewegung für
diesen Reformprozess und fordern diese Reform schon
für einen Zeitraum vor 2020.

Diskutieren müssen wir auch darüber – Sie haben an-
geregt, dass wir diskutieren –, wie wir jetzt diese Reform
machen, wie die Reform ganz konkret aussehen soll.
Lassen Sie uns doch darüber sprechen! Ein Mindest-
preis, wie die Grünen und die Linke ihn vorschlagen, ist
meiner Meinung nach nicht der Schlüssel zu einem funk-
tionierenden Emissionshandel. Der Vorschlag der Ein-
führung einer sogenannten Marktstabilitätsreserve, der
jetzt auf dem Tisch liegt, also automatisch ab einer be-
stimmten Schwelle Zertifikate aus dem Markt zu neh-
men oder auch wieder in den Markt zu geben, ist meiner
Meinung nach eine gute Basis, auf der wir aufbauen
können.

Sie sehen also: Wir handeln, und wir liegen auch in
unseren Absichten gar nicht so weit auseinander. Ob Kli-
maschutzgesetz oder „Aktionsprogramm Klimaschutz
2020“ und „Klimaschutzplan 2050“: Das Einzige, was
meiner Meinung nach zählt, ist das Ergebnis. Das Wie,
also wie man dort hinkommt, ob über ein Gesetz oder
ein Aktionsprogramm, sollte an dieser Stelle im Sinne
der Sache nachrangig sein.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das eine hängt mit dem anderen zusammen!)


Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über
Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland, aber alleine
können wir die Welt nicht retten. Deshalb müssen wir
den Klimaschutz auf europäischer und auf globaler
Ebene weiter vorantreiben.


(Zurufe des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Dr. Anja Weisgerber


(A) (C)



(D)(B)

Wie unsere Bundeskanzlerin gestern in ihrer Regie-
rungserklärung sagte: Wir müssen alles daransetzen,
dass Lima und dann Paris Erfolge werden. Deshalb ist es
wichtig, dass wir als europäische Staaten an einem
Strang ziehen und gemeinsam mit ambitionierten Zielen
nach Paris fahren. Genau dafür setzt sich Deutschland
aktuell in Brüssel weiterhin mit aller Kraft ein wie auch
für die Beibehaltung der bewährten Zieltrias. Dabei soll-
ten wir die Bundeskanzlerin und die Umweltministerin
bestärken, statt alles schlechtzureden, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden nichts schlecht!)


Wenn Deutschland und Europa weiterhin so ehrgeizig
voranschreiten, dann könnte es gelingen, dass die ande-
ren Staaten außerhalb Europas von uns mitgerissen wer-
den und endlich auch mehr Verantwortung übernehmen.
Ich freue mich sehr darüber, dass in den letzten Tagen
positive Signale aus den USA kamen. US-Präsident
Obama hat eine für sein Land noch nie dagewesene Kli-
marevolution angestoßen. Und Bundeskanzlerin Angela
Merkel hat angekündigt – das ist auch entscheidend –,
Deutschland wird seine G-7- bzw. G-8-Präsidentschaft
auch nutzen, um international dafür zu werben, dass wir
bei den Klimaverhandlungen wirklich vorankommen.
Dies kann – Frau Höhn, Sie haben das schon einmal er-
wähnt – entscheidend dazu beitragen, dass die interna-
tionalen Klimaverhandlungen erfolgreich abgeschlossen
werden. Deshalb begrüße ich diese Ankündigung von
Angela Merkel besonders.

Meine Damen und Herren, die nächsten Monate wer-
den entscheidend dafür sein, wie es mit dem Klima-
schutz weitergeht. Die Wahrnehmung, die Sie von unse-
rer Klimapolitik haben, ist nicht die gleiche wie die, die
die Welt von ihr hat. Das erkennt man auch an so man-
chen Aussagen. Zum Beispiel hat US-Präsident Obama
vor einigen Jahren an der Siegessäule hier in Berlin ge-
sagt, dass er die Treibhausgasminderung mit der glei-
chen Ernsthaftigkeit angehen möchte wie wir Deut-
schen. Lassen Sie uns bei all den Unterschieden in den
Details gemeinsam mutig voranschreiten, damit
Deutschland und Europa bei der Klimakonferenz in Pa-
ris der große Wurf gelingt!

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1803908900

Nächste Rednerin für die Linken ist die Kollegin Eva

Bulling-Schröter.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803909000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass wir heute auf Antrag der Grünen über Klimaschutz
sprechen, ist gut und richtig. Es ist wichtig, dass wir
trotz zunehmender sozialer Verwerfungen in Deutsch-
land,

(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ja, wo denn?)


trotz Euro-Krise und trotz internationaler Konflikte wei-
ter über den Klimaschutz reden. Dieses wichtige Thema
darf nicht in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerk-
samkeit rücken.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Diskussionen darüber, wie mehr effektiver Kli-
maschutz ohne den Verlust von Arbeitsplätzen und ohne
zu hohe Energiepreise zu schaffen ist, sind natürlich
nicht neu. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede und wie
dick die Bretter sind, die wir zu bohren haben. Seit Mitte
der 90er-Jahre setze ich mich im Bundestag für nachhal-
tiges Wirtschaften ein und werbe auf internationalen
Konferenzen für globalen Klimaschutz. Der Antrag der
Grünen geht aus unserer Sicht ganz klar in die richtige
Richtung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bindende Verpflichtungen statt Klima-Wischiwaschi,
genau das ist das Motto der Stunde. Denn wenn natio-
nale Ziele zur CO2-Reduktion per Gesetz festgeschrie-
ben werden und es zu Verstößen gegen definierte Klima-
zielzusagen kommt, sind die politisch Verantwortlichen
klar zum Handeln gezwungen. Dann können sie sich ge-
rade nicht hinter reinen Absichtserklärungen verstecken,
über die sich die Kohlelobby bisher genüsslich hinweg-
gesetzt hat.

Immer mehr Menschen begreifen, dass der Klima-
wandel bereits Tatsache ist. Das weiß übrigens auch die
Bundesregierung, die uns in ihrer Antwort auf eine
Kleine Anfrage zu Klimaflüchtlingen bestätigt hat, dass
2012 weltweit über 31 Millionen Klimavertriebene ge-
zählt wurden. Über 31 Millionen! Tätig werden will man
im Kanzleramt aber nicht, etwa den rechtlichen Schutz-
status für Klimaflüchtlinge verbessern, so wie wir uns
das wünschen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber nicht nur aus humanitären, sondern besonders
auch aus realwirtschaftlichen Gründen, die vor unserer
eigenen Haustür eine Rolle spielen, ist mehr Klima-
schutz angesagt. Schenkt man dem Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung Glauben, so kommen bei
„business as usual“ bis zum Jahr 2050 Folgekosten des
Klimawandels in Höhe von 800 Milliarden Euro auf un-
sere Volkswirtschaft zu; das sind keine Peanuts. Allein
300 Milliarden Euro davon entstehen übrigens durch er-
höhte Energiepreise, hier vor allem für private Haus-
halte. Auch der jüngste Klimasachstandsbericht der Ver-
einten Nationen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die
Entscheidung der Bundeskanzlerin, nicht zum Klimagip-
fel der Regierungschefs nach New York zu fahren, halte
ich da natürlich für ein Unding; ich denke, Sie auch.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer über Klimaschutz redet, der muss natürlich auch
über Energie reden. Weltweit ist die Energiegewinnung





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

für zwei Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. In
Deutschland kommt weiterhin fast jede zweite Kilowatt-
stunde aus Braun- und Steinkohle. Die Energiewende ist
die beste Medizin gegen den voranschreitenden Klima-
wandel. Allein durch den Ausbau der Energie aus Wind,
Sonne und Biogas konnten für das Jahr 2012 über
145 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Fast ein
Drittel des Bruttoenergieverbrauchs stammt heute aus
erneuerbaren Energien. Hunderttausende Arbeitsplätze
werden in dieser Branche gesichert. Investitionen in Mil-
liardenhöhe sorgen für ökologischen Wohlstand.

Wer es mit dem Klimaschutz also ernst meint, der
muss den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ganz
oben auf die Agenda setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat dazu einen Antrag zu einem Kohleaus-
stiegsgesetz vorbereitet; denn nur über eine saubere
Energieversorgung ist echter Klimaschutz möglich – sei
es in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803909100

Als nächster Redner hat Frank Schwabe von der SPD

das Wort.


(Beifall bei der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sag mal was zum EEG!)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1803909200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vielen lieben Dank an die Grünen – zum einen für die
Fleißarbeit,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


was ja auch hilfreich für weitere Beratungen ist, und
zum anderen dafür, dass wir hier noch einmal über die
Klimaschutzpolitik in Deutschland und darüber hinaus
resümieren und auch ausblicken können.

Wenn man sich die Phasen der Klimaschutzpolitik an-
guckt – ich rede jetzt nur von diesem Jahrhundert –,
dann kann man, glaube ich, feststellen, dass die Klima-
schutzpolitik zum Anfang dieses Jahrhunderts sehr enga-
giert war. Die Hochphase lag zwischen 2003 und 2008,
die sicherlich auch durch neue Erkenntnisse angeheizt
wurde, die wir auf internationaler Ebene über die Aus-
wirkungen des Klimawandels gewonnen hatten.

Ich muss leider sagen, dass in den Jahren 2009 bis
2013 – das kann der Koalitionspartner ja auf die FDP
schieben –


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, kann er nicht!)


auf diesem Gebiet nicht sehr viel passiert ist, sondern
– diesen Eindruck habe ich – eher Rückschritte zu ver-
zeichnen waren. Gerade auf europäischer Ebene haben
wir den Klimaschutz eher blockiert als vorangetrieben.

Das führt mich zum Jahr 2015. Es wird Sie nicht ver-
wundern, dass ich finde, dass wir gerade dabei sind, zu
einer konsolidierten deutschen Klimaschutzpolitik zu-
rückzufinden. Dafür will ich hier der Ministerin Barbara
Hendricks ausdrücklich danken, die jetzt bei den Ver-
handlungen in Bonn ist.


(Beifall bei der SPD)


Das war im Übrigen auch dringend notwendig – zu-
mindest aus zweierlei Gründen:

Erstens ist eine konsolidierte deutsche Klimaschutz-
politik aufgrund der Erkenntnisse des Weltklimarats not-
wendig: Der Klimawandel schreitet voran, er ist men-
schengemacht, er bringt Not und Elend über viele
Menschen und Regionen auf der Welt, und – das ist die
vierte und vielleicht wichtigste Erkenntnis – wir können
zu relativ überschaubaren Preisen etwas dagegen tun.
Deshalb müssen wir handeln.

Zweitens ist es notwendig, zu einer konsolidierten
deutschen Klimaschutzpolitik zu kommen, weil es ent-
gegen einer Fehlwahrnehmung, der wir, glaube ich, auch
in der Öffentlichkeit in Deutschland unterliegen, sehr
wohl Veränderungen auf der Welt gibt. Das bildet sich
noch nicht immer in internationalen Prozessen ab. Noch
verpflichten sich in den internationalen Verträgen nicht
genügend Länder zu einer ambitionierten Klimaschutz-
politik, aber in den Ländern geschieht eine ganze
Menge, zum Beispiel beim Ausbau der erneuerbaren
Energien – übrigens orientiert an der Bundesrepublik
Deutschland. Die Kollegin Baerbock, die Vizepräsiden-
tin und meine Wenigkeit reisen gleich zu einer Konfe-
renz nach Mexiko City. Dort werden wir die deutsche
Politik im Bereich der erneuerbaren Energien internatio-
nal präsentieren. Andere Länder haben sich in den letz-
ten Jahren schon daran orientiert und werden das, glaube
ich, auch in den nächsten Jahren tun.

Wir sehen zum Beispiel auch in China enorme Verän-
derungen. Es gibt gerade Hinweise darauf, dass im
nächsten Fünfjahresplan ab 2016 feste Treibhausgas-
obergrenzen – das wäre eine Revolution – für China fest-
gelegt werden sollen. Wer das Land ein bisschen kennt,
der weiß, dass das Thema „Umwelt und Auswirkungen
von Umweltverschmutzung“ eines der zentralen The-
men, wenn nicht sogar das zentrale Thema, in der Volks-
republik China ist.

Über die USA ist ja gerade schon gesprochen worden.
Mit dem, was Obama jetzt vorgelegt hat, hat er nur ein
Versprechen eingelöst, das er der Weltgemeinschaft ge-
geben hat. Das ist hochinteressant. Ich komme gleich
noch auf einzelne Maßnahmen zu sprechen.

Klimaschutz ist nicht nur eine Frage des Umwelt-
schutzes, sondern auch eine Frage der Technologiefüh-
rerschaft. Wenn man sich die Kommentare zu dem an-
guckt, was Obama jetzt angestoßen hat, dann sieht man,
dass Technologieführerschaft ein wichtiges Thema ist.

Es ist auch die Frage, welche Rolle ein Land interna-
tional spielen will und spielen kann. Deswegen will ich





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

die Frau Bundeskanzlerin an einer Stelle ein bisschen
kritisieren: Ich jedenfalls habe nicht verstanden – viel-
leicht erklärt sie es noch einmal –, warum sie nicht an
dem Ban-Ki-moon-Gipfel in New York teilnimmt.


(Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will sie aber ausdrücklich dafür loben, dass sie ge-
sagt hat, sie werde das Thema Klimaschutz – das ist
nicht das erste Mal – zu einem zentralen Thema der G-8-
oder G-7-Präsidentschaft – was auch immer es ist – ma-
chen. Es ist richtig und gut, dass dort entsprechender
Druck aufgebaut wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist gut und richtig, dass diese Bundesregierung mit
der Ministerin an der Spitze in wenigen Wochen und
Monaten zwei Dinge erreicht hat: Erstens. Wir sind in
der EU wieder zu einem eher führenden Land in Sachen
Klimaschutz geworden. Zweitens. Deutschland macht
sich ehrlich in der Frage: Wie weit sind wir im Bereich
des Klimaschutzes hinsichtlich der Zielerreichung?

Zur Europäischen Union. Es sind nur wenige Tage
vergangen, bis es Deutschland – auch dank der guten
Absprachen zwischen Ministerin Hendricks und Minis-
ter Gabriel – gelungen ist, auf europäischer Ebene beim
Thema Emissionshandelsreform und hinsichtlich der
Ziele für das Jahr 2030 zu guten Regelungen und Posi-
tionen zu kommen.

Es gibt innerhalb der Europäischen Union drei Ziele
– das jedenfalls ist die Position der Bundesrepublik
Deutschland – für das Jahr 2030: Die CO2-Reduktion
soll mindestens 40 Prozent betragen. Der Anteil der er-
neuerbaren Energien soll bei 30 Prozent liegen. Die
Energieeffizienz – ich finde, der diesbezügliche Vor-
schlag der Unionsfraktion ist sehr gut und sollte von der
Bundesregierung aufgegriffen werden – soll bis zum
Jahr 2030 um 40 Prozent verbessert werden. Ohne Zwei-
fel – das kann wohl niemand bestreiten – sind wir damit
wieder am progressiven Ende der Europäischen Union
angelangt. All das wurde auf europäischer Ebene er-
reicht.

Was wurde in Deutschland erreicht? Deutschland
macht sich ehrlich, habe ich gerade gesagt. Wir alle ge-
meinsam haben hier im Deutschen Bundestag bezüglich
der CO2-Reduktion ein 40-Prozent-Ziel beschlossen. Es
ist gerade schon festgestellt worden: Wir sind noch
längst nicht dabei, dieses Ziel zu erreichen, sondern wir
liegen bei 33 Prozent, vielleicht noch weniger.

Leider ist es so, dass es seit dem Meseberger Pro-
gramm von 2007 kein vernünftiges Programm mehr ge-
geben hat, um sich der Herausforderung des Klimaschut-
zes umfassend zu stellen. Deswegen ist es richtig, dass
die Ministerin deutlich gemacht hat: Es soll – ich will es
einmal so nennen – ein mittelfristiges Sofortprogramm
bis zum Ende des Jahres geben –


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

ich nenne das einmal Meseberg II –, um in diesem Jahr
wirklich zu konkreten Veränderungen und Verbesserun-
gen zu kommen.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn ein „mittelfristiges Sofortprogramm“? Erkläre uns das bitte!)


Ich will ausdrücklich die Kollegin Weisgerber unterstüt-
zen: All das ist nicht die Aufgabe einer Ministerin. Nicht
nur eine Ministerin ist für Klimaschutz zuständig,


(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die ganze Bundesregierung!)


sondern es ist die Aufgabe aller Ministerien, hierzu ihren
Beitrag zu leisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei wäre die Unterstützung des ganzen Hauses sinn-
voll.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die anderen Minister dürfen das nicht konterkarieren!)


Es soll ein Klimaschutzgesetz geben – man könnte es
auch „Klimaschutz mit Gesetzescharakter“ nennen –,
weil wir eben wissen müssen – ich glaube, das ist der
Kardinalfehler der letzten Jahre gewesen –: Wo stehen
wir eigentlich bei der Zielerreichung? Ambitionierte
Ziele haben wir uns gegeben, aber bei der Zielerreichung
wird es kompliziert. Deswegen sage ich: Wir brauchen
so etwas wie ein KEÜG. Eigentlich brauchen wir kein
Klimaschutzgesetz, sondern ein Klimaschutz-Errei-
chungs-Überprüfungs-Gesetz. Mit einem solchen Gesetz
wissen wir immer: Wo stehen wir gerade? Da lobe ich
noch einmal die grüne Fraktion: Das, was von ihr vorge-
legt wurde, ist zumindest eine Möglichkeit, sich in den
nächsten Monaten in die lebendige Debatte einzubrin-
gen.

Vor einer Debatte werden wir uns alle nicht drücken
können – das will ich hier ganz offen sagen –: Wenn wir
das Ziel, die CO2-Emissionen in Deutschland um min-
destens 40 Prozent zu reduzieren, ernst nehmen, dann
müssen wir sehen, dass die Hälfte davon über den Emis-
sionshandel erreicht werden müsste, im Bereich der
Kraftwerke und im Bereich der Industrie. Ich will aus-
drücklich sagen, dass dies innerhalb der SPD noch nicht
ausdiskutiert ist. Aber es ist wohl klar – das müssen wir
alle feststellen –: Der Emissionshandel sendet im Mo-
ment nicht ausreichend Signale, um dieses Ziel zu errei-
chen.

Aus meiner Sicht gibt es hier, wenn wir ehrlich damit
umgehen, vier Möglichkeiten:

Die erste Möglichkeit ist: Wir werden das 40-Prozent-
Ziel nicht erreichen. Ein Scheitern wollen wir aber ver-
hindern; darin sind wir uns einig. Wir haben im Deut-
schen Bundestag festgelegt, dass wir dieses Ziel errei-
chen wollen.





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

Die zweite Möglichkeit ist: Wir müssen in den Berei-
chen, die der Emissionshandel nicht umfasst, mehr leis-
ten, also im Verkehrsbereich oder im Landwirtschafts-
bereich. Ich glaube, wir wissen alle: Es ist ziemlich
unrealistisch, das zu erreichen.

Die dritte Möglichkeit ist, dass wir den Emissions-
handel in der Tat wieder flottmachen. Dafür bleibt aber
nicht viel Zeit. Das können wir nicht auf den Sankt-Nim-
merleins-Tag verschieben. Möglicherweise können wir
ihn auch dadurch flottmachen, dass wir auf nationaler
Ebene komplementäre Maßnahmen, wie ich es einmal
nennen will, ergreifen.

Die vierte Möglichkeit wäre, dass wir zu der Auffas-
sung kommen, der Emissionshandel reicht nicht als Re-
gulierungsinstrument, sondern wir müssen uns auch der
Frage des Kraftwerksparks widmen. Dann werden wir
über das diskutieren müssen, was gerade in den USA im
Bereich der Effizienzziele gemacht wird.

Wenn wir das alles nicht tun und die Dinge einfach
laufen lassen, dann werden wir am Ende die Ziele ver-
fehlen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Kopf in den
Sand zu stecken, wird nicht funktionieren. Das ist keine
Lösung. Wenn man mit Menschen aus allen Teilen der
Welt spricht – das werden wir ja in den nächsten Tagen
wieder tun –, dann merkt man, welche dramatischen
Auswirkungen der Klimawandel hat und welche Verant-
wortung wir haben. Wir haben die Lösungsmöglichkei-
ten durchaus in der Hand, um anders zu wirtschaften und
Energie auf andere Weise zu produzieren. Es ist unsere
Verantwortung, das wahrzunehmen, und das sollten wir
im deutschen Parlament gemeinsam tun.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803909300

Als nächste Rednerin hat Herlind Gundelach von der

CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Herlind Gundelach (CDU):
Rede ID: ID1803909400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir debattieren heute neben dem Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen zur Etablierung eines Klima-
schutzgesetzes, zu dem meine Kollegin Weisgerber
schon ausführlich Stellung genommen hat, erneut einen
Antrag der Grünen zur Energieeffizienz. Neben dem
Ausbau der erneuerbaren Energien, den wir mit der No-
velle des EEG auf stabile Füße stellen, zählt die Energie-
effizienz zweifellos zu den tragenden Säulen der Ener-
giewende. Dessen sind sich die Bundesregierung und die
sie tragenden Fraktionen wohl bewusst.

Derzeit stehen wir aber aufgrund des Beihilfeverfah-
rens unter dem Zugzwang, die EEG-Novelle bis zur
Sommerpause verabschiedet zu haben, weil sonst die
Besondere Ausgleichsregelung für die energieintensi-
ven Betriebe im nächsten Jahr nicht mehr greift. Daher
haben wir uns zunächst auf das EEG konzentriert.

Vor genau drei Jahren, nämlich am 6. Juni 2011, ha-
ben wir eine Energiewende beschlossen. Bei dieser
Energiewende geht es eben nicht nur um die Steigerung
des Anteils der erneuerbaren Energien an der deutschen
Stromversorgung. Insoweit liegen Sie mit dem Thema
Ihres Antrags absolut richtig. Das unterstreicht aber auch
schon der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
SPD,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)


der die Verbesserung der Energieeffizienz als zweite
wichtige Säule für den Umbau der Energieversorgung in
Deutschland beschreibt. Dabei brauchen wir einen sek-
torübergreifenden Ansatz, der Gebäude, Industrie, Ver-
kehr, Gewerbe und private Haushalte gleichermaßen
umfasst.

Außerdem müssen wir Strom, Wärme und Kälte
ebenfalls in den Blick nehmen, und zwar gemeinsam.
Daher haben wir bereits konkrete Ziele im Koalitions-
vertrag festgelegt, die Sie ganz offensichtlich unterstüt-
zen. Denn bei genauem Lesen Ihres Antrags fällt auf,
dass Sie viele unserer Forderungen in Ihren Antrag auf-
genommen haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch wunderbar! Dann machen wir das doch!)


Wenn ich daraus den Schluss ziehen darf, dass Sie uns
bei der Umsetzung dieser Ziele tatkräftig unterstützen,
würde mich das sehr freuen; im Interesse der Sache wäre
es übrigens auch geboten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich daher einige Punkte aus dem Koali-
tionsvertrag nennen. Wir wollen einen Nationalen Ak-
tionsplan Energieeffizienz vorlegen, und zwar in der
zweiten Jahreshälfte. Wir wollen die KfW-Programme
aufstocken, verstetigen und vereinfachen. Wir wollen
eine unabhängige Energieberatung fördern und kosten-
lose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Ein-
kommen ausbauen. Wir wollen auf europäischer Ebene
anspruchsvolle Standards durchsetzen und gegebenen-
falls in dem einen oder anderen Punkt Forerunner sein,
und wir brauchen eine bessere Kennzeichnung von Pro-
dukten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Was mich dann allerdings doch wieder etwas nach-
denklich stimmt, ist die Tatsache, dass Sie uns Untätig-
keit unterstellen, nur weil die konkreten Vorschläge den
Bundestag noch nicht erreicht haben. Den Grund dafür
habe ich Ihnen schon erklärt. Wir haben uns entschieden,
sorgfältig vorzugehen und keine Schnellschüsse ins
Land abzufeuern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das höre ich seit acht Jahren!)






Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)

Ich kann Ihnen aber versichern, dass sowohl in der
Regierung als auch in den Fraktionen bereits seit vielen
Monaten an Ideen gearbeitet wird; wir werden sie in den
nächsten Monaten und Jahren hier sicherlich intensiv de-
battieren.

Nun aber zur Umsetzung der EU-Energieeffizienz-
richtlinie: Ich finde, Sie zeichnen in Ihrem Antrag ein
sehr dramatisches Bild und verzerren damit die Realität.
Die EU-Energieeffizienzrichtlinie ist am 4. Dezember
2012 in Kraft getreten, und sie soll von den Mitglied-
staaten bis zum Juni dieses Jahres umgesetzt werden.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis heute! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau heute!)


– Genau. – Die Frist ist aus meiner Sicht sehr ambitio-
niert.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch zugestimmt!)


So haben beileibe noch nicht alle Länder die Richtlinie
vollständig umgesetzt. Wir stehen da nicht alleine.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch wohl ein Witz!)


Hinzu kommen bei uns – ich denke, das muss man auch
ins Kalkül ziehen – eine Bundestagswahl und eine Re-
gierungsneubildung mit sorgfältigen Koalitionsverhand-
lungen, die ebenfalls Zeit beansprucht haben.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das passiert in anderen Ländern auch!)


Es ist außerdem gut nachvollziehbar, dass der neue
Minister in dem von ihm vorzulegenden Maßnahmenka-
talog seine Handschrift wiederfinden will. Im Übrigen
– das übersehen Sie völlig – sind Teile der Energieeffi-
zienzrichtlinie bei uns schon geltendes Recht. So sind
die Artikel 9 bis 11 beispielsweise weitestgehend umge-
setzt.

Außerdem stimmt es nicht, dass Deutschland bei sei-
nen Reduktionszielen und Effizienzzielen weit hinter-
herhinkt. So steigern wir seit 1990 die Endenergiepro-
duktivität jährlich um ungefähr 1,8 Prozent. Wir haben
kontinuierlich unsere Ausgaben für die Förderung der
Energieeffizienz beispielsweise im Gebäudebereich auf-
gestockt und verstetigt. Wir haben noch nie zuvor so viel
Geld für die Förderung der energetischen Gebäudesanie-
rung ausgegeben wie heute. Aber ich stimme Ihnen zu:
Man kann noch mehr tun, und wir werden auch noch
mehr tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich mache nun seit über 25 Jahren Umwelt- und Ener-
giepolitik. Für viele Fachleute ist Energieeffizienz schon
immer ein schlafender Riese gewesen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lassen ihn weiter schlafen!)


Deshalb bin ich froh, dass dieses Thema endlich die Öf-
fentlichkeit erreicht hat und entsprechende Aufmerk-
samkeit vorhanden ist.
Mit Sorge sehe ich aber die von der EU-Richtlinie
vorgesehenen Energieeffizienzverpflichtungssysteme. Hier
verfolgen wir ausdrücklich einen anderen Ansatz und
setzen auf Anreize, Beratung und Förderung; denn staat-
licher Zwang bringt gerade an den Stellen, wo Eigentum
und persönliches Handeln tangiert sind, in der Regel we-
nig, wie wir in den letzten Jahren bei vielen Projekten
deutlich erfahren mussten. Ganz im Gegenteil: Die Men-
schen suchen nach Auswegen, um die Maßnahmen nicht
durchführen zu müssen, oder sie verschieben sie auf der
Zeitachse. Auch bürokratische Monster, wie sie in Ihrem
Antrag durchschimmern, sind der Effizienz in der Regel
nicht förderlich.

Effizienzfortschritte und Effizienzsteigerungen sind
auf eine gut ausgebaute Forschungslandschaft angewie-
sen. Daher ist es notwendig, dass die Forschungsgelder
im Bereich der Energieeffizienz weiterhin auf dem ho-
hen Niveau gehalten werden, auf dem sie sich befinden.
Ich plädiere sogar ausdrücklich dafür, sie zu steigern. In
diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, dafür zu
sorgen, dass in Deutschland endlich die Forschungsleis-
tungen von Unternehmen steuerlich geltend gemacht
werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir alle wissen, dass gerade im privaten Bereich noch
erhebliche Effizienzen zu stemmen sind. Smart Grid und
Smart Metering bergen hier große Potenziale; denn mit
ihnen kann der Energieeinsatz auch im privaten Bereich
optimal gestaltet werden. Auf die energetische Gebäude-
sanierung ist meine Kollegin schon eingegangen; ich
kann das nur noch nachträglich unterstützen. Glückli-
cherweise haben wir in Deutschland bereits gut funktio-
nierende Strukturen im Energiedienstleistungsmarkt.
Auch diese müssen wir nutzen und mit Vernunft und Au-
genmaß an die Sache herangehen.

Vernunft und Augenmaß, das wiederum führt mich
zurück zu Ihrem Antrag. Wie bereits gesagt: Sie spre-
chen zum Teil durchaus sinnvolle Maßnahmen an und
haben marktwirtschaftliche Ansätze, was bei Ihnen nor-
malerweise nicht so häufig vorkommt. Dennoch bietet
Ihr Antrag auch blanken Aktionismus, nach dem Motto
„Viel hilft viel“. Aber das ist bei der Förderung der Ener-
gieeffizienz so nicht immer richtig. Betrachtet man bei-
spielsweise die deutschen Förderprogramme, dann stellt
man fest: Hier gibt es für die Bürgerinnen und Bürger in-
zwischen eine so große Bandbreite, dass viele die Förde-
rung gar nicht mehr durchschauen und deswegen gar
nichts machen. Das kann auch nicht Sinn der Übung
sein; denn mehr Geld bringt nichts, wenn es nicht abge-
rufen wird.

Hingegen unterstütze ich Ihre Forderung nach mehr
Informations- und Aufklärungsarbeit. Wir haben bereits
im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir die unab-
hängige Energieberatung fördern werden und die kosten-
lose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Ein-
kommen ausbauen möchten; denn es ist uns allen doch
bewusst, dass der Rebound-Effekt eines unserer größten
Probleme ist. Dem können wir nur durch gute Informa-
tionsarbeit begegnen.





Dr. Herlind Gundelach


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Energieeffizienz ist
kosteneffektiv, verbessert die Energieversorgungssicher-
heit und hilft, Emissionen zu senken. Deshalb kann
Energieeffizienz in mancherlei Hinsicht als Europas
größte Energieressource betrachtet werden. Ich lade Sie
gerne ein, gemeinsam mit uns an diesem Projekt zu ar-
beiten, allerdings realistisch, innovationsoffen und nicht
ideologisch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803909500

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Caren Lay das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803909600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst meinen,
dann müssen wir heute auch über das Thema der energe-
tischen Gebäudesanierung sprechen; denn die energeti-
sche Gebäudesanierung – das wissen viele – ist der un-
gehobene Schatz beim Thema Energieeinsparung.


(Beifall bei der LINKEN)


Hier fällt fast ein Drittel der Treibhausgase an. Das
heißt, wir müssen das Tempo bei der Sanierung anzie-
hen, vor allen Dingen beim Bestand. Wenn wir die Kli-
maschutzziele erreichen wollen, dann müssen doppelt so
viele Häuser saniert werden, wie es derzeit der Fall ist.
Das ist die eine Seite.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die andere Frage ist, wer das Ganze bezahlen soll. In
der gegenwärtigen Situation tragen die Kosten dafür fast
ausschließlich die Mieterinnen und Mieter. Modernisie-
rung – das wissen Sie – ist eine der zentralen Ursachen
für die Vertreibung aus den Innenstädten, weil sich die
Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können.
Wenn Sie die Zeitung aufschlagen, dann finden Sie Bei-
spiele hier aus der Nähe. In Berlin-Prenzlauer Berg soll
ein Haus saniert werden. Die Mieterinnen und Mieter
sollen nachher fast eine Verdreifachung ihrer Mieten
hinnehmen. So etwas müssen wir unterbinden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen brauchen wir zum einen eine wirkliche
Änderung der Modernisierungsumlage für Mieterinnen
und Mieter. Es muss sich auch die öffentliche Hand an
diesen Kosten beteiligen. Dafür brauchen wir eine an-
dere Finanzierung. Wenn wir uns die Lücke ansehen, die
zwischen den Kosten der Sanierung auf der einen Seite
und den Einsparungen bei den Heizkosten auf der ande-
ren Seite besteht, dann stellen wir fest, dass es sich um
einen Betrag von 5 bis 9 Milliarden Euro handelt. Das
heißt, dass das Gebäudesanierungsprogramm mit 1,5 Mil-
liarden Euro viel zu niedrig angesetzt ist. Wir fordern
deswegen gemeinsam mit vielen Expertinnen und Ex-
perten eine Aufstockung auf 5 Milliarden Euro.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir können das Thema Klimawandel und das Thema
energetische Gebäudesanierung nur anpacken, wenn wir
auch Menschen mit geringem Einkommen mitnehmen.
Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Der Heizkos-
tenzuschuss beim Wohngeld muss wieder eingeführt
werden. Schwarz-Gelb hat ihn in der letzten Legislatur
mit der abenteuerlichen Begründung abgeschafft, die
Heizkosten seien gesunken. Schauen Sie sich einmal
Ihre eigenen Zahlen an! Auf meine Anfrage zu dem
Thema wurde geantwortet, sie seien in fünf Jahren um
fast 24 Prozent gestiegen. Wenn wir den Heizkostenzu-
schuss beim Wohngeld wieder einführen, dann müssen
wir eine Klimakomponente hinzufügen; denn mit einer
solchen Klimakomponente bekommen wir eine Gebäu-
desanierung hin, die ökologisch und sozial ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wenn wir über Klimaschutz reden, dann sollten wir in
der Tat auch über das aktuelle Thema EEG-Umlage und
Industrieprivilegien sprechen. Frau Kollegin Gundelach,
ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, als Sie
gesagt haben, man dürfe hier keine Schnellschüsse ma-
chen; denn die EEG-Novelle, die der Minister vorgelegt
hat, ist ein solcher Schnellschuss.

Kommen wir zum Thema Industrieprivilegien. In der
derzeitigen Form sind und bleiben die Industrieprivile-
gien eine Einladung zur Energieverschwendung. Das
dürfen wir überhaupt nicht mitmachen, wenn wir es mit
dem Klimaschutz ernst meinen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist gestern in der Anhörung klar geworden: Die Ef-
fizienzkriterien sind viel zu schwach. Wir sagen: Wir
wollen eine deutliche Reduzierung der Industrieprivile-
gien, und wir wollen Privilegien nur dort, wo wirklich
verbindliche, klare und anspruchsvolle Einsparpläne
vorliegen. Ansonsten können diese Privilegien der Groß-
industrie überhaupt nicht gewährt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die EEG-Novelle geht insgesamt in die völlig falsche
Richtung. Der Ausbaudeckel für die erneuerbaren Ener-
gien, die Direktvermarktung, die Ausschreibungspflicht –
das alles wird die erneuerbaren Energien ausbremsen.
Das alles ist dem Klimaschutz überhaupt nicht förder-
lich. Wir müssen alles tun, um dieses EEG zu ändern.
Das Beste wäre, Sie zögen diese Novelle zurück; denn
mit dieser Novelle gehen Sie in die völlig falsche Rich-
tung. Das Gegenteil wäre richtig. Wir müssen alles tun,
um die erneuerbaren Energien zu fördern, damit wir
schnellstmöglich aus Kohle- und Atomenergie heraus-
kommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Caren Lay Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: Dann kann die Linke in Brandenburg ja schon mal anfangen!)





(A) (C)


(D)(B)


Klimaschutz ist keine Ökospinnerei, er ist auch kein
Hippiethema, er ist für viele Menschen schon jetzt eine
knallharte Existenzfrage. Deswegen müssen wir uns
deutlich mehr anstrengen. Das geht nicht so nebenbei
nach dem Motto „Noch 148 Mails checken und dann
mal schnell die Welt retten“. Hier müssen wir deutlich
mehr tun. Deswegen unterstützen wir diese Anträge. Ich
freue mich auf die weitere Debatte zum Klimaschutz und
auch zum EEG.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803909700

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Nina Scheer

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Nina Scheer (SPD):
Rede ID: ID1803909800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Es ist gut, dass uns der Antrag der
Grünen „Die Energiewende durch Energieeffizienz
voranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüg-
lich umsetzen“ nun vorliegt, da darin Handlungsbedarfe
angesprochen werden, wodurch wir alle aufgefordert
werden, tätig zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der LINKEN)


Ich möchte voranschicken, dass die im Antrag enthal-
tene Unterstellung, die Regierung sei untätig bzw. auf
diesem Gebiet sei noch nichts passiert, so nicht zutrifft.
Wir wissen alle – darauf hat auch die Kollegin
Gundelach hingewiesen –, dass ein Regierungswechsel
stattgefunden hat, dass gewisse Neuordnungen in den
Ministerien stattfinden mussten und dass wir mit der
EEG-Novelle derzeit ein großes Projekt zu bewältigen
haben.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist genau das Gegenteil von Klimaschutz!)


Insofern ist vielleicht erwähnenswert, dass selbst in
der EEG-Novelle im Kontext der Besonderen Aus-
gleichsregelung ein Passus enthalten ist, der zwar nicht
im Sinne der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie
zu werten ist – so ist es in der Begründung auch nicht
dargestellt –, der aber sehr wohl anklingen lässt, dass
Energieeffizienzbemühungen ernsthaft aufgegriffen wer-
den. In dieser Novelle ist zum ersten Mal die Einführung
von vollwertigen Energie- und Umweltmanagementsys-
temen verbindlich verankert, so wie es der Antrag der
Grünen verlangt. Wenn der Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung verabschiedet wird, werden solche Systeme
kommen.

Man sieht daran: Das ist eine Neuauflage von Ener-
gieeffizienzpolitik, wie sie mit dem Regierungswechsel
möglich wird. Ich denke, wir sollten das als ersten
Schritt in diese Richtung anerkennen und die nächsten
Schritte in diesem Sinne entschlossen vollziehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Klar ist auch – das sieht man auch an den von mir ge-
rade erwähnten Punkten –, dass wir keine Erkenntnis-
lücken haben. Uns allen ist klar, dass wir unsere Energie-
effizienzziele nicht infrage stellen dürfen, auch wenn wir
uns darüber bewusst sind, dass es in diesem Zusammen-
hang Umsetzungslücken gibt. Selbst wenn die Umset-
zungslücken schwierig zu schließen sind, so ist trotzdem
eindeutig, dass das Ganze eine Herausforderung und
keine Offenbarung ist, dass wir diese Aufgabe einfach
zu bewältigen haben. Ich denke, das werden wir hier
nicht infrage stellen. Von meiner Seite wird das jeden-
falls nicht geschehen. Damit spreche ich mit Sicherheit
auch für die Bundesregierung, unsere Koalition und für
meine Fraktion.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wäre ich mir nicht so sicher!)


Ein kurzer Überblick: Seit den 90er-Jahren ist durch
Studien belegt, welche Handlungsaufforderungen an uns
formuliert sind. Es gibt Studien über Studien – etwa vom
Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie; neuere
Studien stammen von der Agora Energiewende –, die
nachweisen, welche Effizienzmaßnahmen wir ergreifen
müssen bzw. inwieweit wir die Energieeffizienz steigern
und Ressourcen schonen müssen, um unsere Klima-
schutzziele zu erreichen.

Insofern gibt es kein Erkenntnisdefizit.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ein Handlungsdefizit!)


– Es ist ein Handlungsdefizit; das habe ich eingestanden. –
Ich denke schon, dass es wichtig ist, sich deutlich zu ma-
chen, was für Schritte man nun zu gehen hat. Zwar ist
schnell von einem Handlungsdefizit gesprochen; damit
ist aber noch keine Zielerreichung in Sicht, und man hat
damit noch keine Umsetzungsschritte definiert.

Wichtig ist also, dass wir uns noch einmal vergegen-
wärtigen, was die Chancen von Energieeffizienz-
maßnahmen sind. Häufig wird darüber folgendermaßen
diskutiert: Verzicht tut weh, Verzicht ist nichts Schönes.
Dass Energieeinsparmaßnahmen natürlich einen Benefit
für die Gesellschaft bedeuten, dass Energieeinsparmaß-
nahmen in den Wertschöpfungskreisläufen und mit Blick
auf die Ressourcenschonung langfristig ein Benefit sind,
muss uns noch stärker bewusst werden. Ein typisches
Phänomen von Langfristpolitiken, wie ich sie gerne
nenne, ist, dass sie, anders als kurzfristige Maßnahmen,
erst langfristig effektiv sind; erst die langfristig erzielten
Benefits verschaffen uns Erfolge.





Dr. Nina Scheer


(A) (C)



(D)(B)

Grundsätzlich sind die damit verbundenen politischen
Herausforderungen nicht so einfach zu bewältigen, weil
die Umsetzung der Maßnahmen kurzfristig manchmal
unbequem ist. Sich unbequeme Maßnahmen vorzuneh-
men, ist in der Vergangenheit unzulänglich geschehen.
Aber ich denke, wir haben mit den Beispielen, die ge-
nannt wurden, die ersten Schritte dargelegt, woraus man
erkennen kann, dass das ernsthaft aufgegriffen wird.

Klar ist auch, dass mit Energieeffizienzmaßnahmen
eine soziale Aufgabe wahrgenommen wird. Sie vermin-
dern das Risiko von Energiearmut. Es ist natürlich auch
klar, dass der Weg hin zu einem vollständigen Umstieg
auf erneuerbare Energien damit verkürzt wird.

Wir sollten dabei in den Mittelpunkt stellen, dass die
Umsetzungsdiskrepanz – davon sprechen wir ja –
Beschleunigung in der politischen Umsetzung verlangt.
Sonst bräuchten wir nicht von einer Diskrepanz zu spre-
chen; sonst käme die Umsetzung ja von allein. Die Dis-
krepanz fordert also Beschleunigung. Das heißt, dass die
Politik gefordert ist, wie es auch die Umsetzung der
Energieeffizienzrichtlinie verlangt. Der Staat ist gefor-
dert. Das müssen wir als Chance begreifen, als Chance,
die Langfristziele zu erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn der Staat eine aktiv gestaltende Rolle einneh-
men möchte, darf er nicht einfach nur auf freiwillige
Vereinbarungen, auf Selbstverpflichtungen der Industrie
setzen – das hat in der Vergangenheit nicht gereicht –,
sondern er muss verlässliche Rahmenbedingungen
schaffen, die Effizienzinvestitionen ermöglichen. Effizi-
enzinvestitionen sind meist sehr kostenintensiv und
amortisieren sich erst nach längerer Zeit.

Insofern müssen wir uns auch ehrlich die Frage stel-
len: Welche Schritte sind wir bereit zu tun? Ist das nur
über das Ordnungsrecht zu machen, oder sind es eher
monetäre Anreize, die wir geben müssen? Bei den
monetären Anreizen ist die Frage: Regulieren wir Men-
gen oder Preise? Es ist weiterhin in der Koalition und
natürlich auch in der Bundesregierung im ersten Schritt
die Frage zu diskutieren, ob die monetären Anreize aus-
schließlich aus Haushaltsmitteln oder auch aus haus-
haltsunabhängigen Mitteln gegeben werden können.

Zur Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen
möchte ich erwähnen, dass die OECD kürzlich auf eine
Schwäche in unserem Steuersystem hingewiesen hat. Ich
finde, das sollten wir ernst nehmen. Die OECD hat ange-
mahnt, dass in Deutschland ein ausgewogenes, sozial
inklusives und umweltfreundliches langfristiges Wachs-
tum die Zielvorgabe sein sollte. Das sehe ich auch als
Aufforderung an uns im Parlament, für eine sozialökolo-
gische Transformation im Steuersystem zu sorgen.

Hervorzuheben ist hierbei auch, dass von der OECD
Steuervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitä-
ten negativ vermerkt wurden. In diesem Zusammenhang
finde ich es gut, dass Bundesminister Sigmar Gabriel das
schon aufgegriffen hat und die umweltschädlichen
Dienstwagenvergünstigungen unter die Lupe nehmen
möchte.


(Beifall bei der SPD)

Zum Schluss noch ganz kurz: Eine sehr große He-
rausforderung – das ist ein alter Hut; aber die Frage, wie
wir damit umgehen, ist nach wie vor ungelöst – ist der
Rebound-Effekt. Wir alle wissen: Nach Energieeinspar-
erfolgen kommt es meist zu einem gesteigerten
Verbrauch. Ganz klar muss sein, dass es hier eine Ausge-
wogenheit geben muss zwischen Energiepreisen und
Energieeffizienzgewinnen. Die Effekte der beiden Kom-
ponenten müssen sich die Waage halten, müssen sich
ausgleichen, sodass sich als Endwirkung von Energie-
einsparmaßnahmen und –effizienzmaßnahmen tatsäch-
lich ein Erfolg erzielen lässt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielleicht noch ein letzter Schlusssatz, wenn mir das
erlaubt ist. – Ich möchte noch eine Brücke zu den drei E
der Energiewende schlagen. Energieeffizienz und Ener-
gieeinsparung, das ist im Kontext der Energiewende zu
sehen. Die Energiewende gibt uns eine Chance. Das ha-
ben wir auch in der Regierungserklärung von Angela
Merkel gestern gehört, in der auf den Erfolg beim Aus-
bau der erneuerbaren Energien im Stromsektor – 25 Pro-
zent – hingewiesen wurde. Hier geht es darum, dass sich
eine daran aktiv beteiligte Bevölkerung dessen bewusst
wird. Nur eine aktiv beteiligte Bevölkerung hat die Mög-
lichkeit, Know-how zu sammeln und die Initiativen und
die Motivation zu entwickeln, um auch im Energieeffizi-
enzbereich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

Auf dieser Grundlage bitte ich uns alle, uns diesem
wichtigen Thema erneut zu widmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803909900

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Julia Verlinden

das Wort.


Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803910000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Heute ist ein schlechter Tag für den
Klimaschutz und auch für die Energiewende. Es ist ein
schlechter Tag für wirtschaftliche Innovationen in
Deutschland. Denn heute ist der Stichtag, zu dem die
EU-Energieeffizienzrichtlinie hätte umgesetzt werden
müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Doch außer Sonntagsreden hat die Bundesregierung
nichts vorzuweisen. Ich sage Ihnen: Sie hätten schon
längst handeln müssen.

Die von der Bundesregierung eingesetzte Experten-
kommission schreibt in ihrer Stellungnahme zum Ener-
giewende-Monitoringbericht, dass zwei Drittel der CO2-
Minderung über die Energieeinsparung erreicht werden
müssen. In einer Befragung im Rahmen des Eurobaro-
meters sagen über 90 Prozent der Europäerinnen und





Dr. Julia Verlinden


(A) (C)



(D)(B)

Europäer, dass die Regierungen Energieeffizienzmaß-
nahmen unterstützen sollten. Leider scheint diese Er-
kenntnis immer noch nicht bei Ihnen angekommen zu
sein, Frau Zypries.

Die Bundesregierung brüstet sich ja gerne damit, dass
Deutschland Effizienzweltmeister sei. Doch den Welt-
meistertitel kann Deutschland nur verteidigen, wenn die
Regierung jetzt nicht die Füße hochlegt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Weltmeisterschaften kann man eben nur mit kontinuier-
lichem Training, klugen Strategien und schneller Re-
aktion gewinnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beim Thema Effizienz – das haben schon viele Vor-
redner gesagt – würden so viele Akteure profitieren: die
Unternehmen, die Effizienztechniken entwickeln, und
das Handwerk, zum Beispiel bei der energetischen Ge-
bäudesanierung, die schon angesprochen wurde, und
auch bei der Installation von Hocheffizienztechnologien
gerade in den kleinen und mittelständischen Betrieben.
Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die
Kommunen, die unter den hohen Energiekosten leiden,
sie alle würden von einer ambitionierten Energieeffizi-
enzpolitik profitieren. Deshalb verlange ich das jetzt von
Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bis 2020 könnten laut dem Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung 150 000 neue Jobs durch Energie-
effizienz geschaffen werden. Zusätzlich würden jährlich
45 Millionen Tonnen CO2 vermieden und rund 10 Mil-
liarden Euro Energiekosten eingespart.

Während die Europäische Union den Zieleinlauf für
das Energiesparwettrennen heute schon schließt – heute
ist die Deadline –, ist Deutschland noch nicht einmal los-
gelaufen. Herr Gabriel hat den Startschuss nicht gehört
und setzt damit leichtfertig die eigenen Energiewende-
ziele aufs Spiel. Die Große Koalition bremst also den
Klimaschutz aus. Obendrein riskiert die Regierung ein
Vertragsverletzungsverfahren aus Brüssel wegen Untä-
tigkeit beim Energiesparen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfui!)


Dabei ist doch klar: Je früher wir in Energiespartech-
nik und Effizienz investieren, desto höher fällt am Ende
die Dividende aus, desto weniger müssen Haushalte und
Industrie für teure Energieimporte bezahlen. Deswegen
ist es grob fahrlässig, wenn die Energieeffizienzrichtlinie
jetzt nicht zügig umgesetzt wird und wir keine vernünf-
tige Energieeffizienzpolitik von Ihnen bekommen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803910100

Als nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Durz

von der CDU/CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hansjörg Durz (CSU):
Rede ID: ID1803910200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
alle in diesem Hause wollen die Klimaschutzziele errei-
chen. Darüber herrscht Einigkeit. Daher bekennen wir
uns ausdrücklich zum 20-20-20-Ziel in den Bereichen
Treibhausgasreduktion, Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien und Energieeffizienz.

Der Verpflichtung, in Deutschland die Effizienz um
20 Prozent zu steigern, kommt dabei eine ganz beson-
dere Bedeutung zu. Auch wenn beim Thema Energie-
wende im Fokus der öffentlichen Diskussion seit langem
und aktuell im Besonderen der Ausbau der erneuerbaren
Energien steht, so wird bei Betrachtung der Energiever-
brauchsstruktur in Deutschland deutlich, dass Strom
eben nur ein Fünftel ausmacht. Einen größeren Anteil an
Energie, nämlich ein Drittel, verbrauchen wir für Ver-
kehr; den größten Anteil, nämlich die Hälfte, macht die
Wärme aus. Damit wird deutlich, welche Bedeutung der
Energieeffizienz zukommt, aber auch, wie vielschichtig
das Thema ist.

Andererseits sind die Einsparpotenziale riesig. Laut
einer Studie des Fraunhofer-Instituts bietet sich EU-weit
ein wirtschaftliches Einsparpotenzial von 41 Prozent bis
2030. Insofern verstehe ich den Ansatz der zwei Vorla-
gen, die wir heute beraten, als Chance, die Bedeutung
der Energieeffizienz zu bekräftigen und in einer Phase,
in der die Novelle des EEG das alles beherrschende
Thema der Energiepolitik in unseren Sitzungen und Ge-
sprächen sowie in der öffentlichen Wahrnehmung ist,
darzustellen, welche Bedeutung Effizienzsteigerung und
Einsparungen haben bzw. bekommen müssen.


(Beifall der Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/ CSU] und Marco Bülow [SPD])


Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Wirt-
schaft, öffentliche Hand und private Verbraucher deut-
lich mehr als bisher zu Energieeffizienzmaßnahmen mo-
tiviert werden. Die Fragen, die wir uns in diesem
Zusammenhang immer wieder stellen sollten, sind: Wie
schaffen wir es, das Thema Energieeffizienz besser in
den Köpfen der Menschen zu verankern? Wie setzen wir
Anreize, vor allem solche, die finanzierbar sind?

Mit der Energiewende geht Deutschland einen Weg,
den kein anderes Land der Welt einschlägt. Klimaschutz
darf aber an Ländergrenzen nicht haltmachen, sondern
muss gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn
und in enger Abstimmung umgesetzt werden. Deshalb
ist es so wichtig, dass die Energieeffizienzmaßnahmen
auf europäischer Ebene angegangen werden. Deshalb ist
die europäische Energieeffizienzrichtlinie auch der rich-
tige Weg.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wird sie nicht umgesetzt!)






Hansjörg Durz


(A) (C)



(D)(B)

Allerdings lässt sich die Umsetzung der Energieeffi-
zienzrichtlinie nicht wie eine Checkliste stur nach
Schema F abhandeln. Es handelt sich um eine Richtlinie,
die ein sehr breites Spektrum energiepolitischer Berei-
che betrifft, deren Umsetzung in nationales Recht durch
unterschiedliche Normen geregelt wird. Ich bin mir si-
cher, dass die Bundesregierung intensiv daran arbeitet,
die Richtlinie so umzusetzen, dass die nationalen und
europäisch verabredeten Ziele auch erreicht werden kön-
nen. Aber dies geschieht nicht anhand eines einzigen na-
tionalen Gesetzes, sondern durch ein ganzes Bündel an
Maßnahmen. Die Richtlinie sieht eine solche alternative
Vorgehensweise ausdrücklich vor, was wir begrüßen.

Die Einführung von Einsparverpflichtungssystemen,
wie es die Richtlinie auch ermöglicht, ist für uns defini-
tiv keine Lösung. Wir dürfen nicht riskieren, dass in
Konsequenz der Umsetzung der EED etwa die Energie-
preise weiter steigen oder mehr Bürokratie aufgebaut
wird. Wir wollen vor allem kein System, das auf Zwang
oder Bevormundung basiert. Statt starrer Vorgaben brau-
chen wir flexible Lösungen.

Die Branche für Energieeffizienzprodukte und -dienst-
leistungen in Deutschland hat sich enorm entwickelt und
verzeichnet einen starken Zuwachs. Ein Umsatz von
162 Milliarden Euro und die Tatsache, dass dort
800 000 Menschen tätig sind, verdeutlichen das Poten-
zial, welches das Thema Energieeffizienz auch unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten hat.

Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung nimmt unser
heimisches Handwerk ein; das ist bereits erwähnt wor-
den. Nicht nur große Konzerne, sondern insbesondere
die kleinen und mittelständischen Betriebe haben sich
diesem Thema verschrieben. Bei jedem Unternehmens-
besuch in meinem Wahlkreis erlebe ich, wie sehr dieses
Thema im unternehmerischen Bewusstsein an Bedeu-
tung gewonnen hat. Allein aufgrund der Entwicklung
der Energiekosten ist es für jedes Unternehmen unerläss-
lich, die Effizienz des Energieverbrauchs zu steigern.
Dabei wird immer auch deutlich, dass es nicht die Lö-
sung gibt, sondern ganz individuelle Ansätze, auf das je-
weilige Unternehmen zugeschnitten. So wird in der Pra-
xis immer wieder deutlich, warum in Deutschland
Erstaunliches gelungen ist: Während die Wirtschaftsleis-
tung in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zu-
gelegt hat, ist der Energieverbrauch gleichzeitig gesun-
ken.

Aber auch in den Privathaushalten ist das Thema Effi-
zienz längst angekommen, weil uns allen klar ist, dass
wir in diesem Bereich deutlich mehr tun müssen. Fast
90 Prozent des Energieverbrauchs eines privaten Haus-
haltes in Deutschland werden für Heizung und Warm-
wasser verwendet. Hier besteht ein riesiges Einspar-
potenzial, das durch bessere Dämmung und effizientere
Heizungen gehoben werden kann. Wie können wir die
Menschen motivieren, dies zu tun? Die Politik hat zual-
lererst die Aufgabe, zu informieren und aufzuklären so-
wie ein Bewusstsein für Effizienz und Energieeinspa-
rung zu schaffen.

Es entspricht dabei unserem Gesellschaftsbild, dieses
Bewusstsein nicht durch Zwang oder durch von oben ge-
steuerte Auflagen zu schärfen, sondern durch Anreize.
Die Energieeffizienzrichtlinie lässt neben den genannten
Energieeinsparverpflichtungssystemen den Mitgliedstaa-
ten auch die Möglichkeit, die Zielvorgaben durch alter-
native Maßnahmen zu erreichen. Der von uns gewählte
marktorientierte Ansatz ist sicher der schwierigere, aber
der richtige.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie das auch!)


– Das machen wir. – Mit einem vielfältigen Maßnah-
menmix sorgen wir für Aufmerksamkeit und Sensibili-
sierung, Information und Motivation, setzen aber auch
Vorhaben zu Beratung, Finanzierung und Förderung um.

Wir werden an der Politik der Anreize festhalten und
bereits bestehende und bewährte Fördersysteme voran-
treiben, so wie wir es im Koalitionsvertrag festgeschrie-
ben haben. So wollen wir zum Beispiel die Mittel für das
KfW-Programm zur energetischen Gebäudesanierung
aufstocken und das Programm verstetigen und deutlich
vereinfachen.

Allein das CO2-Gebäudesanierungsprogramm 2012
bis 2014 ist ein bedeutender Beitrag zur Steigerung der
Energieeffizienz. Schon jetzt bietet es Unternehmen und
privaten Haushalten vielfältige Möglichkeiten, Unter-
stützung bei der Umsetzung von Energieeffizienzmaß-
nahmen zu erhalten. Wir müssen die Maßnahmen aber
auch ausbauen und verstetigen. Wir müssen auch alles
daransetzen, die schon jetzt vorhandenen Mittel und
Möglichkeiten noch besser zu kommunizieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie kritisieren, dass die Richtlinie noch nicht fristgerecht
umgesetzt ist. Das ist nachvollziehbar, Ihr gutes Recht
und letztlich auch die Aufgabe der Opposition. Entschei-
dend ist aber vor allem, was bis 2020 gegenüber 2008
konkret umgesetzt ist.


(Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das eine ist doch die Voraussetzung für das andere!)


Das ist schon heute einiges – zugegeben: noch nicht aus-
reichend –, hätte aber mit Ihrer Unterstützung bereits in
der letzten Legislaturperiode deutlich mehr sein können.
Ich denke da an das Scheitern der steuerlichen Förde-
rung der energetischen Gebäudesanierung im Bundesrat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Energieeffizienz ist eine Schlüsselfrage im Rahmen
der Energiewende. Wir müssen hier unsere gemeinsa-
men Anstrengungen deutlich verstärken. Ich bin ge-
spannt auf die Vorschläge des Bundeswirtschaftsminis-
ters zur Umsetzung der Richtlinie, die uns sicher bald
vorliegen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch! Da warten wir schon seit Jahren drauf! – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können es kaum noch erwarten!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803910300

Als nächster Redner hat der Kollege Carsten Müller

von der CDU/CSU das Wort.


Carsten Müller (CDU):
Rede ID: ID1803910400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Debatte hat eines gezeigt: Was das Ziel an
sich angeht, sind wir hier im Hause eng beieinander; al-
lerdings gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen
darüber, wie man das Ziel konkret und am besten errei-
chen kann.

Ich persönlich begrüße es beispielsweise ausdrück-
lich, dass wir das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020
auf den Weg bringen und damit ein fest anvisiertes Ziel
erreichen wollen. Ich halte es auch für einen wesentli-
chen Baustein, dass es 2016, darauf aufbauend, einen na-
tionalen Klimaschutzplan 2050 geben wird, in dem die
Langfristziele festgeschrieben werden sollen, zum Bei-
spiel – ein kleiner Ausblick –, dass wir bis 2050 die
Treibhausgasemissionen um bis zu 95 Prozent abgesenkt
sehen wollen.

Der Beratungsprozess zu diesem ambitionierten Pro-
gramm, auch über die langfristigen Ziele, läuft. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass die Vorschläge, die die Grünen
sowohl in ihrem heute eingebrachten Antrag als auch in
ihrem heute eingebrachten Gesetzentwurf gemacht ha-
ben, zum Teil berücksichtigt werden können. Auf jeden
Fall werden sie die Diskussion beleben.

Wir sind uns Gott sei Dank völlig einig darüber, dass
wir die Treibhausgasemissionen absenken und erneuer-
bare Energien ausbauen wollen. Verschiedentlich hat
mich die Diskussion leider an eine vorweggenommene
EEG-Debatte erinnert. Aber, ehrlich gesagt, das ist für
die Debatte über die Energieeffizienz und für die Fokus-
sierung auf das wichtige Thema der Energieeffizienz
nicht immer hilfreich.

Wir haben auch weitgehende Einigkeit darüber er-
zielt, dass die Energieeffizienz gesteigert werden muss.
Wir brauchen hierzu – und das ist der CDU/CSU-Frak-
tion besonders wichtig – ein eigenständiges verpflichten-
des Ziel, nämlich eine Verbesserung der Energieeffizienz
um 40 Prozent bis zum Jahr 2030.

Dass das Thema für die CDU/CSU-Fraktion nicht nur
ein Lippenbekenntnis ist, zeigt sich beispielsweise daran,
dass die Unionsfraktion hierzu einen eigenen Arbeitskreis
gegründet hat, der vor einigen wenigen Wochen mit
durchaus ambitionierten Zielen an die Öffentlichkeit ge-
treten ist und – was mich besonders freut – eine außeror-
dentlich belebende Wirkung auf die Bundesministerin
Hendricks gehabt hat, die sich relativ schnell, daran ori-
entierend, neu positioniert hat.

An dieser Stelle möchte ich ein ausdrückliches Dan-
keschön an die Bundesregierung richten, verbunden mit
dem Zuruf an Herrn Gabriel und an Frau Hendricks, zu
diesen ambitionierten Zielen, über die wir hier Einigkeit
erzielen, auf EU-Ebene kluge Verhandlungen zu führen
und sie im Ergebnis durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, fest steht: Wirksamer Kli-
maschutz gelingt nur, wenn wir der Energieverschwen-
dung Einhalt gebieten. Dieser Tage passiert auf diesem
Gebiet einiges Bemerkenswertes – ich sehe das nicht an-
nähernd so schwarz wie meine Kollegin Verlinden –,
weil wir beispielsweise nicht nur darüber diskutieren,
welche Menge an Geld wir dafür vorsehen, sondern eben
auch darüber, wie wir dieses Geld effizient einsetzen. Ich
finde es gut, dass, nachdem beispielsweise der VKU, die
DENEFF und auch der BUND schon vor einigen Jahren
wettbewerbliche Modelle im Bereich der Energieeffi-
zienz in die Diskussion gebracht haben, mittlerweile, in
der letzten Woche, auch die dena diesen von ihr einst-
mals sehr kritisierten Weg als richtig erkannt hat. Ich
glaube, das hat eine enorm belebende Wirkung auf die
Anstrengungen, die wir unternehmen wollen.

Die Anstrengungen sind erheblich. Bis 2020 müssen
wir noch 1 500 Petajoule einsparen, um der EU-Energie-
effizienzrichtlinie Rechnung tragen zu können. Dafür
brauchen wir mehr Anstrengungen. Es ist in den Vorre-
den schon eine ganze Menge Richtiges erwähnt worden.
Wir müssen das also ganzheitlich in Angriff nehmen.
Wir brauchen den Blick auf die Energiewirtschaft: Wie
erzeugt sie Energie, wie transportiert sie sie? Wir müs-
sen der Industrie Anreize zur Energieeffizienz geben.
Gewerbe und Handel sind angesprochen worden, die
Landwirtschaft ist eine wichtige Säule, die wir nicht aus
dem Blick verlieren dürfen. Der Verkehr und die priva-
ten Haushalte haben hier zum Teil Erwähnung gefunden.
Deswegen – ich habe es eben erwähnt – haben wir uns in
der Unionsfraktion intensiv mit diesem Thema auseinan-
dergesetzt.

Wir brauchen Ziele und Anreize – das hat mein Vor-
redner Durz richtigerweise gesagt –, beispielsweise für
Hausbesitzer und Unternehmer. Wir haben einen ganzen
Strauß von Maßnahmen, die wir kurzfristig umsetzen
oder ausbauen wollen: Wir wollen die KfW-Mittel für
die energetische Gebäudesanierung aufstocken, versteti-
gen und Investitionssicherheit geben sowie energetische
Investitionen der Haus- und Eigenheimbesitzer steuer-
lich fördern – ein leider in der letzten Legislaturperiode
nicht zum Erfolg geführtes Projekt. Wir brauchen einen
aussagefähigen Energieausweis; auch da gibt es im Mo-
ment konkrete Überlegungen. Wir müssen darauf achten
– da bin ich zuversichtlich –, dass wir die aus meiner
Sicht ganz wichtige Kraft-Wärme-Kopplung zum Bei-
spiel im Rahmen der EEG-Novelle nicht verunmögli-
chen. Wir müssen – das hat der Kollege Schwabe
richtigerweise angesprochen – dazu kommen, dass for-
mulierte Energieeffizienzanforderungen an die Industrie
schließlich auch überprüft und nachgehalten werden.
Das ist ein wichtiger Baustein. Da sind wir uns Gott sei
Dank in diesem Haus auch weitgehend einig.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschlie-
ßend noch ein Blick auf einige ganz wesentliche Punkte.
Wenn wir uns über Klimaschutz und Energieeffizienz-
politik unterhalten, dann sprechen wir immer auch über
Wirtschaftspolitik. Es arbeiten bereits heute 800 000 Be-
schäftigte in der Energieeffizienzbranche in Deutsch-
land, stark bzw. überdurchschnittlich aufwachsend. Die
Produkte, die diese 800 000 Menschen herstellen, kön-





Carsten Müller (Braunschweig)



(A) (C)



(D)(B)

nen zum Exportschlager werden, sind es zum Teil auch
schon.

Ein wichtiger Punkt, der zu meiner Überraschung in
dieser Diskussion noch nicht angesprochen worden ist,
ist, dass uns Energieeffizienz und das Einsparen von
Energie unabhängiger von Energieimporten machen.
Das berührt nicht nur die Diskussion um Gasimporte aus
Russland, sondern es gilt generell, weil wir das Geld, das
wir jetzt für die Energiebeschaffung einsetzen, viel sinn-
voller im örtlichen Handwerk einsetzen könnten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenngleich heute dem Antrag der Grünen und dem
Gesetzentwurf wegen verschiedener Details die Zustim-
mung versagt bleiben muss,


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie würden doch sicher supergern zustimmen! Seien Sie doch ehrlich!)


so hat doch die bisherige Diskussion und insbesondere
die Nachsichtigkeit der Frau Präsidentin bei leichter
Überschreitung der Redezeiten gezeigt, dass es eine
wichtige Debatte war und dass wir uns ganz wesentlich
einig sind. Ich erinnere mich insbesondere daran – und
das mit Freude; dafür nutze ich die letzte Überschreitung
der Redezeit gerne –, dass sich Vertreter aller Fraktionen
darauf verständigt haben, dem Thema Energieeffizienz
eine besondere Bedeutung dadurch zu verleihen, dass es
einen Parlamentskreis geben wird. Ich lade Sie herzlich
ein, auch im Namen der Vertreter anderer Fraktionen,
sich daran zu beteiligen.

Vielen lieben Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803910500

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich

die Debatte und bitte, die Nachsichtigkeit der Präsiden-
tin jetzt nicht für alle weiteren Debatten einzufordern.
Aber es ist richtig: Es ist wirklich eine sehr wichtige De-
batte, die wir heute miteinander geführt haben.

Ich komme jetzt zu der interfraktionell vorgeschlage-
nen Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
18/1612 und 18/1619 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 j
auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 9. September 2013 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik der Philippinen zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
Drucksache 18/1568
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Luftverkehrsabkommen vom 25. und 30. Ap-
ril 2007 zwischen den Vereinigten Staaten von
Amerika einerseits und der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten an-

(Vertragsgesetz EU-USA-Luftverkehrsabkommen – EU-USA-LuftverkAbkG)


Drucksache 18/1569
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen
vom 15. Dezember 2010 zwischen der Euro-
päischen Union und ihren Mitgliedstaaten ei-
nerseits und dem Haschemitischen König-

(Vertragsgesetz Europa-Mittelmeer-Jordanien-Luftverkehrsabkommen – Euromed-JOR-LuftverkAbkG)


Drucksache 18/1570
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 26. Juni 2012 zwischen der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaa-
ten und der Republik Moldau über den Ge-

(Vertragsgesetz EU-Moldau-Luftverkehrsabkommen – EU-MDA-LuftverkAbkG)


Drucksache 18/1571
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re-
form der Besonderen Ausgleichsregelung für
stromkosten- und handelsintensive Unterneh-
men

Drucksache 18/1572
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Umweltinformationsgesetzes

Drucksache 18/1585
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Birgit Wöllert, Sabine
Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Zukunft der Hebammen und Entbindungs-
pfleger sichern – Finanzielle Sicherheit und
ein neues Berufsbild schaffen

Drucksache 18/1483
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Verhandlungen über die Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen – Neustart ohne Drohun-
gen und Fristen

Drucksache 18/1615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine
Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Bundestagsmehrheit nutzen – Pille danach
jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen

Drucksache 18/1617
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

j) Unterrichtung durch die Nationale Stelle zur
Verhütung von Folter

Jahresbericht 2013 der Bundesstelle und der
Länderkommission

Drucksache 18/1178
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 h auf.
Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorla-
gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 33 a auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 2. Dezember
2010 zwischen der Europäischen Union und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien
andererseits über den Gemeinsamen Luftver-

(Vertragsgesetz EU-GeorgienLuftverkehrsabkommen – EU-GEO-Luftverk AbkG)

Drucksache 18/1224
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur

(15. Ausschuss)

Drucksache 18/1641

Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/1641, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 18/1224 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen, so-
weit ich das sehe. Wer stimmt dagegen? – Einige Mit-
glieder der Linken.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die Fraktion!)


Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist der Gesetzent-
wurf damit in zweiter Beratung angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? – Das ist die Fraktion der Linken. Wer
enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf
mit den Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ange-
nommen worden.

Ich komme zum Tagesordnungspunkt 33 b:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Richard
Pitterle, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit
einem einzigen Gesellschafter
KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro-
tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon

(Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit)

Umgehung der Unternehmensmitbestimmung
bei Ein-Personen-GmbH verhindern
Drucksache 18/1618

Wer stimmt für diesen Antrag? – Das ist die Fraktion
Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Wer enthält sich? – Das ist Bündnis 90/
Die Grünen. Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 c bis
33 h, den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
schusses.

Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 33 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 54 zu Petitionen
Drucksache 18/1476

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch
niemand. Damit ist die Sammelübersicht 54 mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 55 zu Petitionen
Drucksache 18/1477

Wer stimmt dafür? – Wiederum alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch
niemand. Damit ist die Sammelübersicht 55 ebenfalls
mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 56 zu Petitionen
Drucksache 18/1478

Wer stimmt hierfür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Wer enthält
sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammel-
übersicht 56 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
angenommen worden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 57 zu Petitionen
Drucksache 18/1479

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Wer stimmt da-
gegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand.
Damit ist die Sammelübersicht 57 mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 58 zu Petitionen
Drucksache 18/1480

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktionen
und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die
Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit
ist die Sammelübersicht 58 mit den Stimmen der Koali-
tion und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen wor-
den.

Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 59 zu Petitionen
Drucksache 18/1481

Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit
ist die Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition
angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Weiterentwicklung der
Finanzstruktur und der Qualität in der ge-

(GKVFinanzstrukturund Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG)

Drucksachen 18/1307, 18/1579
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit (14. Ausschuss)

Drucksache 18/1657


(8. Ausschuss)

Drucksache 18/1660

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald

Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung des neuen Entgeltsystems in
der Psychiatrie stoppen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Unabhängige Patientenberatung stärken
und ausbauen
Drucksachen 18/557, 18/574, 18/1657





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz von der Bun-
desregierung das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


A
Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1803910600


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung
der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen
Krankenversicherung gehen wir drei wichtige Ziele für
unser Gesundheitswesen an, die wir im Koalitionsver-
trag festgehalten haben: Sicherheit für die Versorgung,
Stärkung der Qualität und die Orientierung an den Inte-
ressen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten.
Diese Ziele bedingen einander, und keines ist ohne das
andere wirklich zu erreichen. Das will ich an diesem Ge-
setzentwurf und wenigen Regelungsbereichen dieses
Gesetzes zeigen.

Wir stellen die Finanzierung der gesetzlichen Kran-
kenversicherung auf eine dauerhaft solide Grundlage.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Scherz!)


Wir machen die Finanzstruktur der gesetzlichen Kran-
kenversicherung zukunftsfest, indem wir einen allgemei-
nen paritätisch finanzierten Beitragssatz von 7,3 Prozent
für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer gesetzlich fest-
schreiben. Das ist kein Selbstzweck. Wir befördern da-
mit eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt; denn
mehr Arbeit und sichere Arbeitsplätze bedeuten mehr
Beiträge und damit mehr Sicherheit, im Krankheitsfall
eine gute medizinische Versorgung erhalten zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir legen fest, dass die Krankenkassen ihren zusätzli-
chen Finanzierungsbedarf über kassenindividuelle ein-
kommensabhängige prozentuale Zusatzbeiträge decken
können.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen, nicht können!)


Die Mitglieder haben bei der erstmaligen Einführung
oder bei einer späteren Erhöhung des Zusatzbeitrags das
Recht, die Krankenkasse zu wechseln. Sie werden in Zu-
kunft rechtzeitig und in einem separaten Schreiben auf
die Beitragsänderung und ihr Sonderkündigungsrecht
hingewiesen. Sie erhalten darüber hinaus Zugang zu
Beitragsvergleichen der gesetzlichen Krankenkassen.

Wir gehen im Übrigen davon aus, dass im kommen-
den Jahr bis zu 20 Millionen Versicherte finanziell
entlastet werden können. Die Erhebung von Zusatzbei-
trägen erfolgt für die Krankenkassen über einen vollstän-
digen Einkommensausgleich. Damit sorgen wir für faire
Wettbewerbsbedingungen zwischen den Kassen, und wir
vermeiden Fehlanreize wie zum Beispiel die Bevorzu-
gung von Besserverdienenden im Wettbewerb.

Durch diese neue Struktur mit wirksamen Informa-
tionspflichten der Kassen, Transparenz für die Versicher-
ten und dem Recht zum Krankenkassenwechsel setzen
wir den Rahmen so, dass die Krankenkassen ihre Bei-
träge möglichst gering halten, maßvoll und effizient
wirtschaften, aber zugleich ein großes Interesse an hoch-
wertigen Leistungen, guten Versorgungsstrukturen und
gutem Service haben. Das befördert den Qualitätswett-
bewerb zwischen den Kassen,


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


und genau das wollen wir.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute setzen wir einen weiteren überaus wichtigen
Eckstein für die Zukunft unseres Gesundheitswesens,
der in der Fachwelt und sogar über Parteigrenzen hinweg
auf breite Zustimmung stößt. Mit der sehr zügigen Ein-
richtung eines unabhängigen wissenschaftlichen Instituts
für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheits-
wesen richten wir die medizinische Versorgung noch
stärker grundsätzlich an Qualitätsaspekten und den Be-
dürfnissen der Patientinnen und Patienten aus. In diesem
Institut werden unter anderem Instrumente und Verfah-
ren entwickelt werden, die zur Messung und zur Darstel-
lung von Qualität in der ambulanten und der stationären
Versorgung geeignet und sachgerecht sind. Damit erhal-
ten die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, insbe-
sondere in der Selbstverwaltung, belastbare Qualitätskri-
terien, die sie zum Beispiel bei der Krankenhausplanung
oder bei der Vergütung von Leistungen einsetzen kön-
nen. Gleichzeitig schaffen sie mehr Transparenz über die
Qualität der Versorgung und bieten damit Patientinnen
und Patienten verständlichere Informationen an, ja sie
helfen ihnen zum Beispiel auch bei der Entscheidung auf
der Suche nach einem guten Krankenhaus. Das ist eine
sehr anspruchsvolle und schwierige Aufgabe, aber sie ist
des Schweißes der Edlen wert; denn Qualität ist ein
wichtiger Parameter für unser Gesundheitswesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Qualität geht nicht ohne oder gar gegen diejenigen,
die für die gesundheitliche Versorgung im Alltag stehen
und die die medizinischen und pflegerischen Leistungen
erbringen. Deshalb wird dieses vom Gemeinsamen Bun-
desausschuss als oberstes Organ der gemeinsamen
Selbstverwaltung zu gründende Institut auch von einer
Stiftung getragen. Die Patienteninteressen werden bei
der inhaltlichen Arbeit des Qualitätssicherungsinstituts,
also bei der Entwicklung der Verfahren und der Instru-
mente zur Qualitätssicherung, durch ein Mitberatungs-
recht der Patientenvertretung berücksichtigt.





Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz


(A) (C)



(D)(B)

Zu einer verbesserten Patientenorientierung gehört
für uns auch die Stärkung und Weiterentwicklung der
unabhängigen Patientenberatung. Insbesondere mit der
Ausweitung des telefonischen Serviceangebots wird
diese Beratungs- und Verbraucherschutzeinrichtung in
Zukunft einer noch deutlich größeren Zahl von Patien-
tinnen und Patienten zugänglich werden.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenigstens das!)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, neben diesen
grundsätzlichen Maßnahmen steht seit Wochen und Mo-
naten die Sicherstellung der geburtshilflichen Versorgung
durch Hebammen und damit das Recht der Schwangeren
auf freie Wahl des Geburtsorts ganz oben auf der ge-
sundheitspolitischen Themenliste. Wir sind sehr froh,
dass wir in diesem Gesetz eine Regelung gefunden ha-
ben, durch die die Hebammen im Hinblick auf steigende
Prämien für ihre Berufshaftpflichtversicherung dauer-
haft finanziell entlastet werden können. Von dem befris-
teten Vergütungszuschlag werden Hebammen profitie-
ren, die typischerweise nur eine geringe Anzahl von
Geburten betreuen, also Hebammen, die Hausgeburten
betreuen, freiberuflich in Geburtshäusern oder als Beleg-
hebammen in der Eins-zu-eins-Betreuung tätig sind.

Ab dem 1. Juli des nächsten Jahres wird es dann einen
dauerhaften Sicherstellungszuschlag geben, der generell
Hebammen hilft, die Haftpflichtprämie aufzubringen,
die aufgrund zu geringer Geburtenzahlen durch die Prä-
mien wirtschaftlich überfordert sind und die – das ist uns
sehr wichtig – die an sie gestellten Qualitätsanforderun-
gen auch erfüllen. Auch damit ist das Thema für uns im
Übrigen noch nicht erledigt, sondern wir gehen weitere,
langfristig wirksame Maßnahmen an. Bundesminister
Gröhe hat zur Begrenzung der Prämiendynamik in die-
sem Bereich einen Regressverzicht von Kranken- und
Pflegekassen zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag
wird jetzt innerhalb der Bundesressorts sorgfältig ge-
prüft und weiter konkretisiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Ge-
setz bringt unser Gesundheitswesen strukturell und qua-
litativ weiter. Es bringt spürbare Verbesserungen für die
Versicherten und insbesondere für die Patientinnen und
Patienten in unserem Land. Es bringt uns den drei gro-
ßen Zielen der Großen Koalition in der Gesundheitspoli-
tik deutlich näher: mehr Versorgungssicherheit, bessere
Qualität in der Versorgung und mehr Patientenorientie-
rung.

Ich danke am heutigen Tag den Kolleginnen und Kol-
legen der Koalition und im Ausschuss, insbesondere den
Berichterstattern, für die konstruktiven Beratungen im
parlamentarischen Verfahren. Ich freue mich heute auf
Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803910700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner

hat der Kollege Harald Weinberg von der Linken das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803910800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Das zentrale
Finanzierungsgesetz zur gesetzlichen Krankenversiche-
rung für diese Wahlperiode ist auf der Zielgeraden. Es
macht alles ein wenig anders, aber kaum etwas besser.
Im Gegenteil: Gesetzlich Krankenversicherte werden
sich auf Mehrkosten einstellen müssen. Sie zahlen zu-
künftig mehr. Dagegen werden ihre Arbeitgeber nicht an
den absehbar steigenden Kosten beteiligt. Das ist ganz
klassische Umverteilung von unten nach oben. Das Ge-
meine daran ist, dass kaum jemand wirklich versteht,
wie genau ihm in die Taschen gegriffen wird.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Zerschlagung der Solidarität!)


Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert sich
derzeit im Wesentlichen über einen bundesweit einheitli-
chen Beitragssatz von 15,5 Prozent. Davon zahlen die
Arbeitgeber 7,3 Prozent, die Versicherten 8,2 Prozent.
Die Versicherten zahlen also jetzt schon 0,9 Prozent
mehr.

Die Bundesregierung wird nun den bundesweit ein-
heitlichen Versichertenbeitrag wie auch den Arbeitge-
berbeitrag bei 7,3 Prozent festschreiben; insgesamt
14,6 Prozent. Damit fehlt den Krankenkassen Geld, das
sie zur Versorgung brauchen. Das Geld müssen die ein-
zelnen Kassen nun von den Versicherten verlangen. Die
Arbeitgeber zahlen nichts.

Da bei dem momentanen Beitragssatz von 15,5 Pro-
zent die Einnahmen und die Ausgaben in etwa gleich
hoch sind, werden die Kassen von den Versicherten ei-
nen Zusatzbeitrag in Höhe von durchschnittlich 0,9 Pro-
zent verlangen müssen. Die Kassen haben dabei einen
Gestaltungsspielraum. Kassen, denen es gut geht, wer-
den einen Zusatzbeitrag von weniger als 0,9 Prozent ver-
langen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das sind wenige!)


Dazu ist ja gesagt worden, 20 Millionen Versicherte
seien da sozusagen im Vorteil. Nach unserer Kenntnis
sind es nach wie vor sieben Kassen, die das angekündigt
haben, davon nur eine große Versorgerkasse. Da kom-
men keine 20 Millionen Versicherte zusammen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)


Kassen, denen es durchschnittlich geht, werden so um
die 0,9 Prozent nehmen. Also, für die Versicherten än-
dert sich im ersten Jahr erst einmal nichts. Kassen, denen
es schlecht geht, werden mehr als 0,9 Prozent nehmen
müssen. Das heißt also, der Beitragssatz steigt. Im
Durchschnitt zahlen zunächst alle gleich viel, es wird
nur von Anfang an zwischen den Kassen anders verteilt





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)

sein. Das ist aber auch gewollt, denn diese Koalition will
ja – wie es gesagt wurde – den Preiswettbewerb zwi-
schen den Kassen anheizen.

Aber auch dieses „gleich viel“ wird sich bald ändern.
In den vergangenen zehn Jahren sind die Einnahmen der
Kassen jährlich um 2 Prozent gestiegen, die Ausgaben
jährlich um 3,7 Prozent. Damit stieg der Beitragssatz re-
gelmäßig an. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass
sich das in der Zukunft ändern wird.

Aber jetzt sind die Zusatzbeiträge die einzige Stell-
schraube für die Kassen, um zukünftige Kostensteige-
rungen auszugleichen. Die Versicherten werden alle
diese Kosten allein tragen müssen. Sie tragen also einen
immer größeren Anteil an den steigenden Kosten. Und
das geht richtig ins Geld.

Derzeit zahlen die Versicherten durch den um
0,9 Prozent höheren Beitragssatz jährlich etwa 10 Mil-
liarden Euro mehr als die Arbeitgeber. Im Jahr 2020
wird dieser Betrag auf 34 Milliarden Euro im Jahr ange-
wachsen sein. In Summe werden die Versicherten bis
2020 rund 150 Milliarden Euro mehr zahlen als die Ar-
beitgeber. Das sind pro Beitragszahler durchschnittlich
3 000 Euro.

Begründet wird dies in unschöner Tradition
Schröder’scher Agenda-Politik mit der notwendigen
Stabilisierung der Lohnnebenkosten zur Stärkung insbe-
sondere der deutschen Exportindustrie. Einmal abgese-
hen davon, dass jede Wechselkursschwankung einen
weitaus größeren Einfluss auf die Kostensituation der
Unternehmen hat, und einmal abgesehen davon, dass
diese Exportorientierung


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt kommen die Weltökonomen!)


zumindest ein Grund dafür ist, dass sich die Bankenkrise
zur europäischen Wirtschaftskrise ausgeweitet hat, ist es
ein Raubzug durch die Geldbörsen derer mit kleinen und
mittleren Einkommen, der da vorbereitet wird. Das hat
weder etwas mit sozialdemokratischer noch mit christli-
cher Politik zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke lehnt diese Politik ab, und deshalb lehnen
wir auch dieses Gesetz ab, obwohl darin – neben der
Finanzierung – im Omnibusverfahren auch einige posi-
tive Regelungen getroffen werden. Es handelt sich hier-
bei um Forderungen, die wir selbst seit langem erhoben
haben, denen wir eigentlich zustimmen würden und de-
nen wir übrigens im Ausschuss auch zugestimmt haben.
Dazu gehört zum Beispiel die Verschiebung der Entgelt-
reform für psychiatrische Kliniken. Am Anfang der
Wahlperiode haben wir selbst einen Antrag eingebracht,
der den Stopp dieses Entgeltsystems fordert, weil sich
sonst die Versorgung psychisch kranker Menschen
verschlechtern würde. Nachdem wir und diverse Fach-
verbände Druck gemacht haben, verschiebt die Bundes-
regierung nun die Einführung um zwei Jahre.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber nicht wegen euch!)

Wir sollten die zwei Jahre nutzen, um dieses Entgelt-
system von Grund auf zu reformieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu gehört auch die verbesserte und verlängerte
Finanzierung der unabhängigen Patientenberatung, die
jedem kostenlose Beratung in allen Fragen rund um die
Krankenversicherung und die Versorgung anbietet –


(Beifall bei der LINKEN)


hier hat die Regierung unseren Vorschlag ja fast über-
nommen –, und das gilt auch für die Sicherstellung der
Hebammenversorgung. Der würden wir ebenfalls gern
zustimmen, auch wenn die Bundesregierung hier nur
eine kurzfristige Lösung in das Gesetz geschrieben hat,
die nur bis 2016 halten wird. Aber diese ganzen durch-
aus positiven Punkte schaffen nicht genügend Zucker-
glasur, um die Linke dazu zu bringen, die bittere Pille ei-
ner grundfalschen Finanzierungsreform zu schlucken.
Deshalb werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803910900

Als nächster Redner hat der Kollege Karl Lauterbach

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1803911000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst einmal: Die Umwandlung der kleinen
Kopfpauschalen in kassenindividuelle, prozentuale Zu-
satzbeitragssätze ist ein Schritt in Richtung mehr Solida-
rität in unserem Gesundheitssystem;


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Zusatz beim Zusatz!)


daran ändert auch Ihre Kritik nichts. Sie ist, wie gesagt,
ein Schritt in Richtung mehr Solidarität. Ich möchte
mich ausdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kolle-
gen von der Union bedanken, dass sie diesen Schritt mit
uns gegangen sind. Er bedeutet den endgültigen Ab-
schied von kleinen oder großen Kopfpauschalen. Das ist
ein wichtiger Schritt. Das ist ein Schritt, den wir gemein-
sam gegangen sind. Das ist ein Schritt, der sowohl
christlich als auch sozial und sozialdemokratisch ist.

Zu dem von Ihnen vorgetragenen Kritikpunkt, Herr
Weinberg, dass zunächst nur die Arbeitgeber entlastet
würden, die Arbeitnehmer aber nicht, muss ich sagen: Es
ist genau umgekehrt. Wenn Sie es also umgekehrt gesagt
hätten, wäre es richtig gewesen. Vielleicht geht es um
20 Millionen Menschen, vielleicht auch um 18 Millio-
nen Menschen. Eine andere Zahl haben Sie ja nicht ge-
nannt. Die Zahl, die wir berechnet haben und die von
Ihnen in keinem Dokument widerlegt wurde, ist also die
Zahl, die unwidersprochen im Raum steht. Die
Menschen, die entlastet werden, sind ausschließlich Ar-





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

beitnehmer. Arbeitgeber werden zunächst einmal nicht
entlastet.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn für ein Quatsch?)


Daher ist es nicht so, wie Sie gesagt haben, sondern ge-
nau umgekehrt. Wir entlasten zunächst einmal aus-
schließlich die Arbeitnehmer.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Von einer Entlastung der Arbeitgeber ist keine Rede. Sie
haben daher schlicht und ergreifend die Fakten falsch
dargestellt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Karl Lauterbach, das glaubst du doch wohl selber nicht!)


– Doch, es ist tatsächlich so. Zunächst einmal werden
nur die Arbeitnehmer entlastet; daran ändert auch der
Zwischenruf von den Grünen nichts. Auch hier im
Plenum muss das Faktische noch eine Rolle spielen. Es
gibt keine einzige Kasse, die zum jetzigen Zeitpunkt
eine Belastung der Arbeitnehmer angekündigt hat. Es
gibt aber zahlreiche Kassen, die eine Entlastung ange-
kündigt haben.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sieben, nicht „zahlreiche“!)


– Das betrifft aber Millionen Versicherte.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: 9 Millionen!)


Millionen Versicherte, die Arbeitnehmer sind, werden
entlastet. Kein Arbeitgeber wird entlastet, und kein
Arbeitnehmer wird belastet.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir fragen dich im Herbst!)


Daher ist das ein Schritt in die richtige Richtung, ein
Schritt in Richtung mehr Solidarität.


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das ist Quatsch! – Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Oh! Das hätte ich jetzt nicht gemacht!)


– Das ist kein Quatsch; das ist die Wahrheit.


(Lachen der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE])


Sie reden ohne Bezug zum Gesetz.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Oh nein! – Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das hätte ich nicht gemacht! Den zweiten Schritt hätte ich nicht gemacht!)


Das Gleiche gilt auch an einer anderen Stelle. Es
wurde eben vorgetragen, demnächst gebe es nur noch
einen Preiswettbewerb. Durch das neu eingeführte Qua-
litätsinstitut werden wir die Qualitätsunterschiede der
Kliniken und sogar der einzelnen Kassen und einzelnen
medizinischen Leistungen transparent machen. Das ist
der erste gewichtige Schritt in Richtung evidenzbasierter
Transparenz und Qualitätskontrolle in unserem Gesund-
heitssystem, wenn man von Zulassungs- und Erstat-
tungsfragen einmal absieht. Somit ist das auch der erste
richtige Schritt in Richtung eines Qualitätswettbewerbs
und weg vom Preiswettbewerb, den wir derzeit haben.
Der Qualitätswettbewerb ist die einzige Begründung,
weshalb wir keine Einheitskasse haben und weshalb wir
überhaupt einen Wettbewerb zwischen mehr als 130
Krankenkassen haben wollen.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Es sind 132!)


Wir wollen ausschließlich einen Qualitätswettbewerb,
aber keinen Preiswettbewerb, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das kriegst du so doch nicht hin!)


Es ist richtig, dass die SPD bei dieser Reform natür-
lich nicht mit allem einverstanden sein kann. Sie ist ein
Kompromiss. Aus meiner Sicht ist sie ein guter Kompro-
miss, ein Kompromiss mit Augenmaß. Durch die Kom-
bination der Stärkung des Qualitätswettbewerbs und der
kurzfristigen Entlastung der Arbeitnehmer


(Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Die ist ganz kurzfristig!)


schaffen wir Raum für die langfristig aus Sicht der SPD
unbedingt notwendige Einführung einer Bürgerversiche-
rung. Für die SPD bleibt es natürlich dabei: Unser lang-
fristiges Ziel ist die Bürgerversicherung. Aber dieser
Kompromiss ist ein Kompromiss mit Augenmaß, ein
Schritt in die richtige Richtung, ein Schritt, der die Soli-
darität in unserem Gesundheitssystem stärkt und nicht
schwächt.

Es wird die unabhängige Patientenberatung weiter
ausgebaut. Sie kann auf die Ergebnisse des neu einge-
richteten Qualitätsinstituts zurückgreifen. Wir stärken
die Solidarelemente im Kernstück des Wettbewerbs, des
Risikostrukturausgleichs. Wir werden den 15 Jahre lang
geforderten – übrigens auch von Grünen und Linken ge-
forderten – vollständigen Einkommensausgleich im
Rahmen des Risikostrukturausgleichs einführen. Das
führt zu einer Entlastung der Einkommensschwachen
und der Krankenkassen, die viele Einkommensschwache
versichern, und ist ein wichtiger Schritt in Richtung
Solidarität.

Folgende Bemerkung sei mir erlaubt: Wir haben die
besonderen Anliegen der Arbeitslosen und der Empfän-
ger von Sozialhilfeleistungen berücksichtigt, indem Zu-
satzbeiträge von ihnen gar nicht erhoben werden. Das
wäre eine Erwähnung wert gewesen – gerade von einer
Partei wie der Linken –; denn wir haben hier auf die Zu-
satzbeiträge derjenigen, die sie sich am wenigsten leisten
können, komplett verzichtet. Das halte ich für eine wich-
tige Leistung und es darf nicht vergessen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)

Somit ist zusammenzufassen: bessere Qualität, wich-
tiger und richtiger Schritt in Richtung mehr Solidarität
und in Richtung eines Qualitätswettbewerbes, weg vom
derzeitigen Preiswettbewerb, der das Gesundheitssystem
nicht effizienter macht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803911100

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Klein-

Schmeink das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erneut konnten wir erleben, dass die Große
Koalition versucht hat, sich einen Gesetzentwurf, der
zutiefst ungerecht ist – im Wesentlichen soll nämlich der
einkommensunabhängige Zusatzbeitrag der CDU/CSU-
FDP-Koalition abgeschafft und dafür ein prozentualer
Zusatzbeitragssatz eingeführt werden, mit der Gemein-
samkeit, dass dieser Zusatzbeitrag alleine durch die Ver-
sicherten zu zahlen ist –, schönzureden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hat er gut gemacht!)


Das wird nicht gelingen, weil es im Kern darum geht,
Zusatzlasten den Versicherten aufzubürden.

Harald Weinberg hat gerade vorgerechnet, was das
bedeutet. Ich nenne noch einmal die Zahlen: Im Kern
geht es darum, dass die Versicherten in den nächsten vier
Jahren jährlich 10 Milliarden Euro mehr tragen müssen.
Das ist der Kern des Gesetzentwurfes, der heute verab-
schiedet werden soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das soll aus der Tasche gezogen werden!)


Karl Lauterbach hat sich sehr viel Mühe gegeben,
darum herumzureden: Das überzeugt nicht. Ich muss
ehrlich sagen: Man kann als Verhandlungsführer stolz
sein, wenn man meint, man hätte eine Kopfpauschale
ausgehebelt. Wenn man aber im Gegenzug akzeptieren
muss, dass die Versicherten sämtliche Lasten aufgrund
des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen tragen müs-
sen, kann man das nicht mehr sein. Das ist nicht gerecht
und nicht solidarisch, sondern eine einseitige Belastung
der Versicherten, und darüber kann man überhaupt nicht
hinwegreden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich finde es auch perfide – Sie versuchen, ein Mäntel-
chen darum herumzuhängen –, dass darauf verwiesen
wird, dass die Versicherten jetzt auf einem Ver-
gleichsportal nachgucken können, welche Versicherung
aufgrund eines geringeren Zusatzbeitrages etwas billiger
ist. Das kann doch nicht die Lösung dafür sein. Es muss
doch darum gehen, dass wir zu einer solidarischen
Finanzierung zurückkehren. Mit Verlaub gesagt: Das
wäre einer Sozialdemokratie würdig! Aufgrund Ihrer
Niederlage im Verhandlungsprozess hätte ich mir an die-
ser Stelle durchaus ein bisschen mehr Demut gewünscht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich komme nun zu dem anderen Teil des Gesetzent-
wurfes. Sie haben im Gesetzestext betont – die Staatsse-
kretärin hat das gerade noch einmal wiederholt –, es
ginge um eine solide und nachhaltige Finanzierung.
Nichts da! Jeder von uns hier im Saal weiß, dass wir spä-
testens in der nächsten Wahlperiode erneut über die
Finanzierung reden müssen, weil es in der Debatte und
auch gesellschaftlich natürlich nicht zu vermitteln ist,
dass die Belastungen durch Kostensteigerungen einseitig
nur den Versicherten aufgebürdet werden sollen. Sie
werden im Wahlkampf die Frage beantworten müssen,
ob es sein kann, dass jeder Versicherte eine Zusatzbelas-
tung von mehr als 2 bis 3 Prozent zu tragen hat, während
der Beitrag der Arbeitgeber eingefroren bleibt. Das wer-
den Sie der Gesellschaft nicht verkaufen können, und
natürlich werden wir in der nächsten Wahlperiode da-
rüber wieder diskutieren müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803911200

Frau Klein-Schmeink, lassen Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Vogler zu? – Bitte.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803911300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Frau

Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe einmal
nachgeschaut, was die SPD in ihrem Wahlprogramm
hierzu versprochen hat, und möchte gern Ihre Meinung
dazu hören, inwieweit das umgesetzt wurde.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Was ist das denn?)


Die SPD schreibt in ihrem Programm:

Wir wollen … die Solidarität zwischen den hohen
und den niedrigen Einkommen stärken. Und Ar-
beitgeber sollen wieder den gleichen Beitrag leisten
wie Beschäftigte, die

– und das Folgende ist fettgedruckt –

tatsächliche Parität muss wiederhergestellt werden.

Der nächste Satz lautet:

Wir werden mehr Nachhaltigkeit durch die Einfüh-
rung einer stetig ansteigenden Steuerfinanzierung
erreichen.

Können Sie uns vielleicht erklären, ob diese Anforde-
rungen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und auch
mit dem Haushalt, der uns für den Einzelplan 15 vor-
liegt, eingehalten werden?


(Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Ein knappes „Ja“!)


(B)







(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke herzlich, liebe Kollegin, für diese Frage,
weil die Antwort mir Gelegenheit gibt, mehr Zeit dafür
aufzuwenden, auf Folgendes hinzuweisen:


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist abgesprochen!)


Es ist in der Tat ein gemeinsames Anliegen dieser Oppo-
sition und der SPD im letzten Wahlkampf gewesen,
deutlich zu machen: Wir wollen zu einer paritätischen
Finanzierung zurückkehren. – Genau dieses Ziel wird
mit diesem Gesetzentwurf in keiner Weise erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Gegenteil: Durch die Kürzung des Steuerzuschus-
ses zum Gesundheitsfonds wird der Gang in die Zusatz-
beiträge beschleunigt. Auch das wird dazu führen, dass
es noch eher zu den ungerechten Zusatzbeiträgen kom-
men wird. Genau so stellt es sich dar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Kommen wir noch einmal zum Thema „solide und
nachhaltige Finanzierung“. Es stellt sich die Frage: Müs-
sen wir nicht tatsächlich zu einer nachhaltigen Finanzie-
rung kommen? Genau das sollte mit der Bürgerversiche-
rung erreicht werden. Mit der Bürgerversicherung hätten
wir die Gelegenheit gehabt, alle einzubeziehen: sowohl
die Besserverdienenden als auch die kleinen Selbststän-
digen, die dadurch eine bessere Chance auf faire Bedin-
gungen bei ihrer Krankenversicherung hätten.

Auf der anderen Seite hätten wir die Möglichkeit ge-
habt, andere Einkommensarten einzubeziehen. Das hätte
zu einer soliden, nachhaltigen und sicheren Finanzierung
unserer ansteigenden Gesundheitskosten führen können.
Genau das wäre der Weg, den wir hätten gehen müssen.
Davon, liebe Sozialdemokratie, sind Sie weiter denn je
entfernt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich komme zum letzten Teil. Ich habe leider nicht
mehr genug Redezeit, um das Positive in diesem Gesetz-
entwurf zu betonen. Uns ist es wichtig, dass es mit der
UPD, der unabhängigen Patientenberatung, vorangeht
und dass wir sie stärken. Uns ist es wichtig, dass wir zu
einer wirklichen Psychiatriereform kommen.


(Hilde Mattheis [SPD]: Sehr gern!)


Dazu gehört natürlich die Verlängerung der Options-
phase im Psychiatrie-Entgeltsystem.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist uns gelungen!)


Das halten wir für richtig, und wir finden, dass Sie da
den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir haben mit
unseren Anträgen gezeigt, wie weit das Ganze gehen
müsste. Da hoffen wir auf eine weitere Debatte.

Ein letzter Satz zu den Hebammen. Auch da sind wir
froh, dass da etwas in die Gänge gekommen ist. Wir ha-
ben leider in der letzten Wahlperiode erleben müssen,
dass eine Problemlösung verschoben worden ist. Sie ge-
hen dieses Problem an. Aber wir sind von einer nachhal-
tigen Regelung noch immer weit entfernt. Die Hebam-
men wissen zwar bis zum nächsten Jahr, wie es
weitergeht. Aber die eigentliche Lösung der Haftpflicht-
problematik im Gesundheitswesen steht noch immer
aus. Auch das werden wir massiv einklagen und diesen
Diskussionsprozess vorantreiben.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803911400

Als nächster Redner hat der Kollege Georg Nüßlein

das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1803911500

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir

reden über die Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
versicherung nicht unter den üblichen Vorzeichen. Übli-
cherweise wird über Leistungseinschränkungen und
Kostendämpfungen diskutiert. Wir haben hier die einma-
lige Chance, über mehr Transparenz, mehr Wettbewerb
und mehr Qualität bei der Versorgung zu reden. Ich
stelle das deshalb an den Anfang meiner Rede, weil ich
glaube: Das ist der eigentlich wichtige Aspekt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun geben wir zu: Das geschieht unter dem Vorzei-
chen einer guten Finanzlage, die einer guten Wirtschafts-
und Beschäftigungslage geschuldet ist. Wir alle wissen,
dass das nicht zwangsläufig so bleiben muss und dass
natürlich das Thema Kostenbewusstsein auf lange Sicht
für uns alle als Gesundheitspolitiker ganz entscheidend
bleibt.

Weil die Frau Kollegin Klein-Schmeink das Thema
Kürzung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds
angesprochen hat, will ich deutlich sagen: In der jetzigen
Situation ist das vertretbar. Es ist insbesondere deshalb
vertretbar, weil es keine Kürzungen bei den Zuweisun-
gen an die Krankenkassen und mithin auch keine Leis-
tungskürzungen geben wird. Ich bitte Sie deshalb drin-
gend, die Patientinnen und Patienten nicht zu
verunsichern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ende 2015!)


Ich will unterstreichen, dass wir auch schon den um-
gekehrten Weg gegangen sind. Der Bund ist sich seiner
Verantwortung absolut bewusst. Wir haben in den Kri-
senjahren 2009 und 2010 im Rahmen des Konjunktur-
paketes II den Bundeszuschuss erhöht. Dazu habe ich
keine Kritik gehört, meine Damen und Herren. Ich will
klarmachen, dass das keine Einbahnstraße ist und dass
dieser Betrag wieder aufgefüllt wird. Deshalb wird der





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds ab 2017 und
über das Jahr 2018 hinaus dauerhaft auf 14,5 Milliarden
Euro erhöht, sodass wir wieder den Ausgleich schaffen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran werden wir Sie erinnern!)


Ein zentrales Thema der Vorredner der Opposition
waren die paritätisch getragenen Versicherungsbeiträge.
Frau Kollegin Klein-Schmeink hat mehr Demut einge-
fordert. Diese hätte ich an ihrer Stelle selber. Denn dass
die Arbeitnehmer anteilig mehr bezahlen als die Arbeit-
geber und der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird – aus
wohlüberlegten Gründen, nämlich weil es um Arbeits-
plätze geht –, ist keine Erfindung dieser oder der vorher-
gehenden Koalition. Das wurde vielmehr unter einer rot-
grünen Bundesregierung eingeführt. Daran waren die
Grünen mit beteiligt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Damals waren Sie der Auffassung, dass das der rich-
tige Weg sei.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die sind wenigstens lernfähig! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch! Eingefroren wurde der Arbeitgeberanteil nie. Es wurde ein Sonderbeitrag eingeführt!)


Sie haben nichts dazu gesagt, warum Sie der Meinung
sind, dass das jetzt geändert werden sollte und es nicht
mehr auf die Arbeitsplätze ankommt.

Im Übrigen gehört zur Wahrheit auch, dass die Ar-
beitgeber über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
immerhin rund 30 Milliarden Euro – das entspricht drei
Beitragssatzpunkten – zusätzlich zahlen. Das muss man
der Vollständigkeit halber in diese Rechnung mit einbe-
ziehen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die erste Errungenschaft, die es überhaupt in der Sozialversicherung gegeben hat! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sechswöchiger Streik hat dazu geführt!)


– Die erste Errungenschaft, die es überhaupt gegeben
hat, wie Sie sagen, haben Sie dann offenkundig mit auf-
gekündigt. Es ist schon ein bisschen Demut nötig, wenn
man so etwas in diesem Zusammenhang vorträgt.

Wir gehen einen anderen Weg. Wir stärken die Bei-
tragsautonomie der Krankenkassen und verfolgen den
Weg zu mehr Transparenz und Wettbewerb, versehen
mit einem Sonderkündigungsrecht, sodass man nicht
dazu verurteilt ist, Herr Kollege, höhere Beiträge zu zah-
len, sondern wie in einem richtigen Wettbewerb die
Krankenkasse wechseln kann.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wie viele Kassen haben wir dann noch?)


Für entscheidend halte ich auch, dass man darauf hinge-
wiesen wird, und zwar per Brief, statt irgendwo auf der
linken Seite ganz unten in der Mitgliederzeitschrift. So
kann jeder diese Möglichkeit nutzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist ein wichtiges Thema, genauso wie viele an-
dere Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle
spielen. Mit der Regelung zum Risikostrukturausgleich
versuchen wir, Gerechtigkeit zwischen den Kassen zu
schaffen. Dazu soll eine verbesserte Anrechnung von
Sterbefällen auf der einen Seite und ein Ausgleich für
Krankengeldzahlungen auf der anderen Seite beitragen.
Dabei melden wir allerdings auf Unionsseite noch einen
gewissen Gesprächsbedarf für die Zukunft an. Denn wir
alle wissen, dass das Einkommen bzw. der Grundlohn
eine Rolle spielt. Wir wollen, dass das im Rahmen der
anstehenden Diskussion stärker berücksichtigt wird. Das
ist ganz klar.

Zu dem Thema Hebammen möchte ich unterstrei-
chen, dass wir jetzt eine Lösung und einen gangbaren
Weg gefunden haben. Es geht um die Hebammen. Ganz
wichtig ist aber auch die freie Wahl des Geburtsortes,
und es geht um die Versorgung im ländlichen Raum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ganz aus-
drücklich dem Bundesgesundheitsminister dafür danken,
dass er sich außerordentlich dafür engagiert hat, in die-
sem Bereich den richtigen Weg einzuschlagen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803911600

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Dittmar

das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sabine Dittmar (SPD):
Rede ID: ID1803911700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem umfangreichen Gesetz zur Weiter-
entwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der
gesetzlichen Krankenversicherung und den 25 Ände-
rungsanträgen, die wir gestern im Gesundheitsausschuss
beraten und beschlossen haben, werden wir die Finan-
zierung der gesetzlichen Krankenversicherung gerechter
und nachhaltiger ausgestalten sowie die Qualität der Pa-
tientenversorgung verbessern. Zuallererst – das ist die
gute Botschaft heute –: Die unsägliche Kopfpauschale
wird in wenigen Minuten hier in diesem Plenum beer-
digt.


(Beifall bei der SPD)


Die notwendigen Zusatzbeiträge werden zukünftig pro-
zentual und einkommensabhängig erhoben und sind na-
türlich ein Stück weit gerechter und solidarischer, Frau
Kollegin Klein-Schmeink. Ich habe Ihnen schon das
letzte Mal gesagt: Uns ist die Mehrbelastung der Arbeit-
nehmer durchaus bewusst. Wir werden darauf einen
scharfen Blick haben. Aber ich sage Ihnen auch: Wir
hätten, wie Sie wissen, gerne eine ganz andere Finanzie-
rung gehabt. Hätten Sie im September letzten Jahres ein





Sabine Dittmar


(A) (C)



(D)(B)

besseres Wahlergebnis erzielt, dann hätten wir das hier
vielleicht auch umsetzen können.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Seien Sie froh, dass Sie mit uns regieren können! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hochmut kommt vor dem Fall!)


Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Gesetzent-
wurfs ist die vorgesehene Gründung des Qualitätsinsti-
tuts. Für mich ist das ein echter Meilenstein in der Wei-
terentwicklung der Versorgungsqualität, und zwar
sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich.


(Beifall bei der SPD)


Mit der Erarbeitung, Erhebung und Dokumentation von
Qualitätskriterien im Gesundheitswesen wird das Institut
dem Gemeinsamen Bundesausschuss in der Qualitätssi-
cherung sektorenübergreifend massive Unterstützung
leisten. Auf Grundlage dieser sicheren, belastbaren und
transparenten Daten können dann effiziente Maßnahmen
zur Qualitätsverbesserung entwickelt und eingeleitet
werden. Für mich ist hierbei aufgrund meiner Erfahrun-
gen, die ich in 15 Jahren Hausarzttätigkeit gesammelt
habe, und angesichts der Verunsicherung der Patienten
ein wesentlicher Aspekt, dass zukünftig Qualitätsbe-
richte der Krankenhäuser in verständlicher Sprache ver-
öffentlicht werden. Hiermit bekommen die Patientinnen
und Patienten eine echte Orientierungs- und Entschei-
dungshilfe an die Hand, um sich in unserer vielfältigen
Versorgungslandschaft zurechtzufinden.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage in aller Offenheit: Gerne hätten wir die Pa-
tientenvertretung im Vorstand des Qualitätsinstituts stär-
ker verankert. Hier war leider keine Verständigung mög-
lich. Ich meine, dass wir hier eine echte Chance vertan
haben. Wir werden aber darauf achten, dass die Interes-
sen der Patientenvertretung über das Beantragungsrecht
beim Gemeinsamen Bundesausschuss in ausreichendem
Maße berücksichtigt werden.

Wenn ich schon bei den Patientinnen und Patienten
bin, komme ich nicht umhin, hier und heute meiner
Freude über die massive Stärkung der unabhängigen Pa-
tientenberatung Ausdruck zu verleihen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn sowohl die Etablierung als auch die Stärkung der
UPD sind für uns Sozialdemokraten eine wirkliche Her-
zensangelegenheit. Deswegen erfreut es mich, dass wir
den entsprechenden Etat auf 9 Millionen Euro aufsto-
cken


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und so sowohl die telefonische Beratung verbessern als
auch die Möglichkeit eröffnen, mehr Beratungsangebote
vor Ort zu schaffen. Mit der Verlängerung des Förder-
zeitraums haben wir für die Träger mehr Planungssicher-
heit erreicht. Das ist ein großer Erfolg der Koalition und
wird die Patientensouveränität und die Patientenkompe-
tenz weiter stärken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In den vergangenen Wochen wurde sehr viel über das
pauschalierte Entgeltsystem in der Psychiatrie, PEPP,
gesprochen. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf,
der unter anderem eine Verlängerung der Optionsphase
um zwei Jahre vorsieht, nehmen wir den Druck von den
Kliniken. Das schafft Zeit, das System einer eingehen-
den Überprüfung zu unterziehen. Ich möchte an dieser
Stelle darauf hinweisen, dass hier auch externer Sachver-
stand und externe Expertise notwendig sind. Der Minis-
ter hat Offenheit gegenüber dieser Thematik signalisiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Weiterentwicklung des Morbi-RSA hat in der öf-
fentlichen Anhörung breiten Raum eingenommen. Es
wurde deutlich gezeigt, dass hier noch großer For-
schungsbedarf besteht. Ich bin der Meinung, dass die
von der Koalition beabsichtigte Vorgehensweise, Gut-
achten in Auftrag zu geben, die den Einfluss von Grund-
lohn, krankengeldauslösender Morbidität sowie sozio-
ökonomischen und soziodemografischen Faktoren sehr
differenziert untersuchen, sinnvoll ist und dass die bis
dahin getroffene Übergangsregelung 50/50 eine sachge-
rechte und politisch vernünftige Lösung darstellt.

Zur Hebammenversorgung ist heute schon einiges
ausgeführt worden. Ich möchte nur unterstützen, dass
mit diesen Sicherstellungszuschlägen und auch den ver-
einbarten Qualitätssicherungsmaßnahmen ein erhebli-
cher Beitrag geleistet wird, um die Versorgung aufrecht-
zuerhalten. Es ist aber auch ganz deutlich, auch von der
Frau Staatssekretärin, gesagt worden, dass noch weiterer
Handlungsbedarf besteht.

Auf die Regionalkennzeichen, die für die Versor-
gungsforschung sehr wichtig sind, möchte ich jetzt nicht
näher eingehen. Wir werden auch diese einführen und
wichtige Daten gewinnen, vor allem für die regionale
Versorgungsforschung. Das ist auch notwendig; denn
wir werden uns in wenigen Monaten mit einem neuen
Versorgungsstrukturgesetz hier beschäftigen und werden
die Herausforderungen der Versorgungsstrukturen sehr
intensiv diskutieren.

Jetzt bin ich erst einmal froh, dass wir heute dieses
Gesetz auf den Weg bringen. Ich sage: Es ist ein gutes
Gesetz, wir stärken unser Gesundheitssystem nachhaltig
und fördern Qualität und Transparenz zum Wohle unse-
rer Patientinnen und Patienten.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803911800

Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Kol-

lege Rudolf Henke das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1803911900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnen, Frau Klein-
Schmeink und Herr Weinberg, dankbar, dass Sie dem
Parlament sagen, was es mit diesem Gesetzentwurf tun
soll. Sie sagen, das Parlament solle diesen Gesetzent-
wurf ablehnen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Jetzt muss man sich einmal fragen, was eigentlich
passiert, wenn das Parlament Ihrer Empfehlung in dieser
Debatte folgt. Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig,
dass die unabhängige Patientenberatung eine stärkere
Grundlage erhalte. Da reden Sie, und wir handeln.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie mal, Herr Henke, das ist unser Antrag! Das ist unverschämt!)


Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig, dass wir mit
den Monopolverträgen bei Impfstoffen für Schutzimp-
fungen Schluss machen und keine Exklusivverträge
mehr haben. Jedenfalls haben Sie das im Ausschuss ge-
sagt. Hier im Plenum haben Sie es nicht gesagt. Ihre
Empfehlung würde dazu führen, nichts zu tun; wir han-
deln.

Sie haben davon gesprochen, dass die Versorgung der
Hebammenhilfe verbessert werden müsse.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das haben wir schon in der letzten Wahlperiode gefordert!)


Sie haben recht damit, aber wenn man so handelt, wie
Sie das wollen, dann bedeutet das, nichts zu tun; wir
handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben von der Notwendigkeit gesprochen, das
PEPP-Entgeltsystem für zwei Jahre auszusetzen und die
Chancen in der Zwischenzeit zu nutzen. Wenn man Ihrer
Empfehlung folgt, wird das nicht geschehen, sondern es
bleibt, wie es ist. Sie tun nichts, wir handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen muss man sich die Frage stellen, aus wel-
chem Grund Sie das alles fordern. Da nennen Sie beide
eine einzige Begründung. Die Begründung ist, dass Sie
das Finanzierungssystem, das Schwarz-Gelb eingeführt
hat, behalten wollen, während Sie das Finanzierungssys-
tem, das wir von der CDU/CSU jetzt mit der SPD im
Kompromiss ausgehandelt haben, ablehnen. Weil Sie an
der schwarz-gelben Politik festhalten wollen, lehnen Sie
die Änderungen bei der UPD, bei den Hebammenhilfen,
bei den Impfstoffen und bei der Frage der PEPP-Syste-
matik ab.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das müssen Sie einmal Ihren Wählerinnen und Wählern
erläutern. Sie drehen doch Pirouetten, wie es schlimmer
nicht sein kann.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das hätten Sie mit uns vor den Koalitionsverhandlun-
gen mit der SPD diskutieren müssen. Dann wären wir
vielleicht zusammengekommen. Aber das wollten Sie
nicht. Sie haben gesagt: Das machen wir nicht. – Dass
Sie jetzt unseren guten Kompromiss mit der SPD torpe-
dieren, weil Sie an schwarz-gelber Politik festhalten
wollen – damit torpedieren Sie die ganzen anderen Ver-
besserungen –, ist wirklich nicht zu fassen. Die Linke
macht dabei mit, obwohl sie den Änderungsanträgen
gestern im Ausschuss sogar zugestimmt hat. Das ist
wirklich nicht zu fassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803912000

Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage zulas-

sen?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1803912100

Ja, gerne.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803912200

Bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
Sie im Grunde froh sind, dass die Ergebnisse der vierjäh-
rigen Regierungszeit von Schwarz-Gelb jetzt begraben
worden sind und dass man den einen Zusatzbeitrag, der
zugegebenermaßen mit sehr viel Bürokratie verbunden
war, nun gegen einen anderen Zusatzbeitrag ausge-
tauscht hat? Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die
letzten vier Jahre im Ergebnis eine relativ schlechte Poli-
tik gemacht haben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1803912300

Nein, da verstehen Sie mich völlig falsch. Das glau-

ben Sie auch nicht im Ernst.

Die Welt dreht sich natürlich weiter. Ich habe Sie an
Ihren eigenen Ansprüchen gemessen. Ich finde, das ist
ein wesentlicher Punkt.

Lassen Sie mich noch auf das Thema „Institut für
Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswe-
sen“ zu sprechen kommen. Ich möchte auf etwas auf-
merksam machen, was in den bisherigen Debatten viel-
leicht nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Herr
Kollege Lauterbach hat bei der Einbringung dieses Ge-
setzentwurfs von einem Quantensprung gesprochen. Die
Aufgabe, Qualität zu bewerten, ist natürlich sehr kom-
plex. Das kann in der Praxis zu riesigen Problemen füh-
ren, beispielsweise beim Vergleich von Krankenhäusern.

Derzeit gibt es in Deutschland ungefähr 30 Listen, die
die Qualität von Krankenhäusern zu vergleichen bean-





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)

spruchen. Die besten dieser Listen – Krankenhaus-Di-
rectory, Weiße Liste, Qualitätskliniken.de – sind einmal
einer Untersuchung unterzogen worden. Dabei ist fol-
gendes Dilemma zutage getreten: Wenn man die Emp-
fehlungen dieser drei Listen, die alle beanspruchen, das
jeweils beste Krankenhaus zu nennen, miteinander ver-
gleicht, dann stellt man fest, dass es nur für sehr wenige
Krankenhäuser übereinstimmende Empfehlungen gibt.
Das heißt, der eine Führer empfiehlt eine bestimmte Kli-
nik und der andere rät vom Besuch des gleichen Kran-
kenhauses ab.

Wir haben etwas Wichtiges getan: Durch unsere gest-
rigen Änderungsanträge wurde ein Punkt in die Aufträge
an das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz
im Gesundheitswesen aufgenommen, nämlich die Risi-
koadjustierung der Daten. Sie ist von zentraler Bedeu-
tung; denn nur mit einer solchen Risikoadjustierung ver-
hindert man, dass man Äpfel mit Birnen vergleicht.
Schließlich vergleicht man auch nicht die Leistungskraft
eines Läufers, der in der Ebene läuft, mit der eines Läu-
fers, der eine 10-prozentige Steigung zu überwinden hat.
Beide unterliegen nämlich einer unterschiedlichen Auf-
gabensetzung. Die Risikoadjustierung, auf die wir uns
als Auftragsbestandteil für die Vergleiche und für die
Untersuchungen des Instituts verständigt haben, ist ein
enormer Schritt.

Ich will angesichts der Tatsache, dass in der Ärzte-
schaft noch der eine oder andere ein bisschen zurückhal-
tend hinsichtlich dieses Instituts ist, sagen: Ich glaube,
dieses Institut hat die Chance, den Ärztinnen und Ärzten,
den Pflegekräften, den Angehörigen anderer Gesund-
heitsberufe, etwa den Physiotherapeutinnen und -thera-
peuten, dabei zu helfen, ihr Ziel einer Qualitätsorientie-
rung der Arbeit in den Krankenhäusern leichter zu
erreichen und davon wegzukommen, dass man sich aus-
schließlich an Preisen orientiert.

Ich bitte alle darum, sich für dieses Institut einzuset-
zen. Wie für die Patientenvertretung besteht auch für an-
dere die Möglichkeit, sich im Beirat daran zu beteiligen,
konstruktive Vorschläge für die Beauftragung dieses In-
stituts zu machen. Ich glaube, dass dieses Institut die
Chance bieten wird, denen zu helfen, auf die es in der
Versorgung eigentlich ankommt, nämlich denen, die sich
für die Patientinnen und Patienten direkt einsetzen.

Ich bedanke mich sehr, dass Sie mir zugehört haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1803912400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Henke

feiert heute seinen 60. Geburtstag. Herr Henke, dazu
möchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren.


(Beifall)


Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Quali-
tät in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Aus-
schuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1657, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-
chen 18/1307 und 18/1579 in der Ausschussfassung an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen?
– Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke.
Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzent-
wurf mit den Stimmen der Koalition angenommen wor-
den.

Ich komme zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 18/1664. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koali-
tionsfraktionen. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist
dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koali-
tion abgelehnt worden.

Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
18/1657 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe
b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/557 mit
dem Titel „Einführung des neuen Entgeltsystems in der
Psychiatrie stoppen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Die Koalition. Wer stimmt dagegen? –
Die Linke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen.
Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition angenommen worden.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 18/574 mit dem Titel „Unabhängige
Patientenberatung stärken und ausbauen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktio-
nen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Nie-
mand. Damit ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls
mit den Stimmen der Koalition angenommen worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)

des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-
nischen Abkommens zwischen der internatio-





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugosla-
wien (jetzt: Republik Serbien) und der Repu-
blik Serbien vom 9. Juni 1999

Drucksachen 18/1415, 18/1653

Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/1654

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Wenn die Kolleginnen und Kollegen im Saal sich ge-
setzt haben, können wir auch mit der Aussprache begin-
nen. – Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe dazu als ers-
tem Redner das Wort an Dietmar Nietan.


(Beifall des Abg. Niels Annen [SPD])



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1803912500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Europäische Rat hat mit Beschluss vom 23. Mai das
EULEX-Mandat bis in den Oktober 2014 verlängert.
Wer sich diesen Beschluss anguckt, findet einen Satz –
sagen wir einmal: in der EU-Sprache formuliert –, der
nachdenklich macht. Da heißt es nämlich unter Punkt 6:
Die EULEX-Kosovo-Mission wird in einer Lage durch-
geführt, die sich möglicherweise verschlechtern könnte.
– Ich glaube, dieser Satz bringt es auf den Punkt, warum
es wichtig ist, das KFOR-Mandat zu verlängern.

Es gibt unbezweifelbar Erfolge in der Heranführung
des Kosovos an die Europäische Union, es gibt große Er-
folge in der Normalisierung der Beziehungen zwischen
Serbien und dem Kosovo, aber das ist immer noch erst
der Anfang eines Weges, von dem wir natürlich hoffen,
dass er am Ende dazu führen wird, dass ein unabhängi-
ges Kosovo von allen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union anerkannt wird und dass das Kosovo gute nach-
barschaftliche Beziehungen nicht nur zu Serbien hat.

Aber auf diesem Weg gibt es auch Risiken. Deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir, glaube ich,
beides tun: Wir müssen dieses Mandat verlängern; wir
müssen uns aber auch sehr gut überlegen, was wir als
Deutscher Bundestag, als Bundesregierung, als Europäi-
sche Union tun können, um von der militärischen Mis-
sion Schritt für Schritt immer mehr zu einer zivilen Mis-
sion zu kommen; denn es ist kein Selbstzweck, dass es
KFOR weiterhin als Mandat gibt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Gädechens [CDU/CSU])


Ein Punkt ist für mich in diesem Zusammenhang be-
sonders wichtig: Die Menschen, nicht nur die im Ko-
sovo, sondern im gesamten sogenannten Westbalkan,
dürfen nicht nur das Gefühl haben, sondern sie müssen
die Überzeugung haben, dass wir in der Europäischen
Union weiterhin ein großes Interesse daran haben, dass
die gesamte Region, der gesamte sogenannte Westbal-
kan, eine faire Chance bekommt, am Ende des Tages
Schritt für Schritt mit seinen Staaten Mitglied in der Eu-
ropäischen Union zu werden. Deshalb darf es ein Signal
von uns nach dem Motto „Nach dem Beitritt Kroatiens
war Schluss, und jetzt geht es nicht mehr“ nicht geben.
Das wäre in dieser Lage, wie sie sich jetzt darstellt, kon-
traproduktiv, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen uns mehr engagieren. Das heißt für mich
aber nicht, dass es automatisch mehr Geld geben sollte
oder dass es einen Rabatt auf dem Weg zum Beitritt zur
Europäischen Union geben sollte. Vielleicht wäre es
schon sehr hilfreich, wenn es für die Region, insbeson-
dere auch für die Menschen im Kosovo, mehr Interesse
und mehr Empathie seitens der europäischen Staaten ge-
ben würde. Manchmal hat man das Gefühl, dass diese
Region von vielen einfach vergessen wird oder nicht
mehr beachtet wird. Ich glaube, das frustriert gerade die
vielen Menschen im Kosovo, die daran glauben, dass sie
eine europäische Perspektive haben.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will in diesem Zusammenhang an einen bemer-
kenswerten Artikel von Una Hajdari, einer jungen Koso-
varin, die als Bosch-Stipendiatin zurzeit hier weilt, erin-
nern, der am 21. Mai, einen Tag vor der Debatte zur
ersten Lesung, in der taz zu lesen war. Sie hat in diesem
Artikel geschrieben:

Sie wollen ein Opfer. … Von den Problemen des
Opfers wollen sie nicht allzu viel wissen.

Mit „sie“ in diesem Artikel meint sie die politischen Eli-
ten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich
empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre, weil er, wie
ich glaube, zum Ausdruck bringt, wie sich viele Men-
schen im Kosovo fühlen. Sie haben eher das Gefühl,
dass KFOR eine Besatzungsarmee ist, als dass sie das
Gefühl haben, dass wir uns für sie interessieren und mit
ihnen diesen Weg nach Europa gehen wollen.

Weil das so ist, müssen wir alles dafür tun, dass wir
mit unserem Engagement denjenigen zur Seite stehen,
die im Kosovo rechtsstaatliche Strukturen aufbauen wol-
len. Wir müssen noch mehr in die Entwicklung der ge-
samten Region investieren. Vielleicht macht es ange-
sichts der Erfahrungen in der Ukraine Sinn, darüber
nachzudenken, ob der Westbalkan nicht so etwas wie ei-
nen zweiten Stabilitätspakt Südosteuropa braucht.

Wir sollten außerdem fair mit allen Ländern des
Westbalkans umgehen. Das heißt für mich: Wir sollten
endlich denjenigen in der Europäischen Union auf die
Füße treten, die wie zum Beispiel Spanien oder Zypern
eine Visaliberalisierung aus plumpen egoistischen Grün-
den verhindern. Das führt nämlich dazu, dass viele, ge-
rade junge Menschen im Kosovo das Gefühl haben, dass





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

es ihnen vor der EU-Beitrittsperspektive im ehemaligen
Jugoslawien zumindest hinsichtlich der Reisefreiheit
besser ging als heute. Ich glaube, das kann nicht in unse-
rem Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diejenigen in der Europäischen Union, die den Ko-
sovo noch nicht als Staat anerkannt haben, müssen wir
davon überzeugen, den Abschluss eines Stabilisierungs-
und Assoziierungsabkommens nicht zu blockieren. Mit
diesen Schritten – Visaliberalisierung, Stabilitäts- und
Assoziierungsabkommen – wollen wir den Menschen im
Kosovo signalisieren: Es geht weiter; es gibt eine politi-
sche und ökonomische Perspektive.

Das müssen wir tun, damit eines nicht passiert – nicht
nur im Kosovo; wir erleben es leider an vielen Stellen in
Europa –: dass Perspektivlosigkeit gerade bei jungen
Menschen dazu führt, dass das Gift des Nationalismus
– nicht nur im Kosovo – um sich greift. Ob wir es wollen
oder nicht: Für diese Region und insbesondere für das
Kosovo tragen wir die Verantwortung dafür, dass es vor-
wärtsgeht.

In diesem Sinne sollten wir das Mandat für KFOR
verlängern, aber auch an die zivile Perspektive denken.
Nur in Kooperation mit den Menschen und mit Empathie
für die Menschen vor Ort wird es dort einen Fortschritt
geben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803912600

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Inge Höger, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803912700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich

zum Kosovo komme, möchte ich ein paar Worte zur
Lage in Bosnien-Herzegowina sagen. Das Land wurde
unlängst von einer Jahrhundertflut erfasst. Angesichts
der humanitären Katastrophe in dieser Region ist es be-
dauerlich, dass die Notlage der Menschen so wenig Be-
achtung in Deutschland findet.


(Beifall bei der LINKEN)


Beobachter gehen davon aus, dass die materiellen Schä-
den größer sind als die im Krieg vor 20 Jahren. Ich selbst
werde mir nächste Woche die Hochwasser- und Erd-
rutschgebiete ansehen und mit den Betroffenen reden.
Die Menschen dort brauchen keine Bundeswehr, son-
dern humanitäre Hilfe und Unterstützung.


(Beifall bei der LINKEN)


In Bosnien wie im Kosovo hängen zwei Probleme
eng zusammen: Armut und ethnischer Nationalismus.
Beides wird durch die Balkanpolitik der Bundesregie-
rung nicht bekämpft, sondern befördert. Knapp 40 Pro-
zent der Bevölkerung des Kosovo leben in Armut, etwa
15 Prozent in extremer Armut. Die Hälfte der Menschen
ist erwerbslos. Diese Situation hat ihre Ursache auch in
den Privatisierungen, die die EU und Deutschland dem
Kosovo als Bedingung für Unterstützung vorschreiben.
Die KFOR-Truppen sorgen dafür, dass diese Privatisie-
rungen notfalls militärisch abgesichert werden. Das ist
unglaublich.


(Dietmar Nietan [SPD]: Das, was Sie sagen, ist wirklich unglaublich!)


Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel. Im Jahr 2000 ha-
ben KFOR-Soldaten die von Arbeiterinnen und Arbei-
tern besetzte Trepca-Mine in der Nähe von Mitrovica
militärisch geräumt. Das blüht den Menschen, wenn sie
sich gegen den Ausverkauf ihres Landes zur Wehr set-
zen. Die Linke lehnt es ab, die Bundeswehr zur Auf-
standsbekämpfung in den Kosovo zu schicken.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung hat wohl auch deshalb ein Inte-
resse an der Stationierung von Soldatinnen und Soldaten
im Kosovo, weil deutsche Unternehmen dort Geld ma-
chen wollen. Nun ist der Kosovo nicht gerade ein lukra-
tiver Markt, aber paradoxerweise subventioniert die
Bundesregierung den Unterhalt deutscher Kohlekraft-
werke in diesem Land. Deutsche Steuergelder werden
dafür eingesetzt, dass Vattenfall und Co. Profite machen
und die Luft im Kosovo verpesten.


(Dietmar Nietan [SPD]: Das ist unglaublich!)


Gleichzeitig tönt Herr Gabriel von einer Energiewende.
Das ist Heuchelei. Die Linke wird das nicht akzeptieren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das tut einem weh, körperlich weh, was Sie hier erzählen!)


– Stimmt es oder stimmt es nicht? Nehmen Sie dazu ein-
mal Stellung.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das stimmt: Die Rede tut körperlich weh! – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das ist eine gewisse Dialektik!)


Auch an den ethnischen Spannungen im Kosovo ist
die Bundesregierung nicht unbeteiligt. Dass sich die
Bundesregierung 1999 einseitig auf die kosovo-albani-
schen Separatisten gestützt hat und sich für sie starkge-
macht hat, ist hinlänglich bekannt. Aktuell muss ich
mich aber sehr wundern, dass Ministerin von der Leyen
meint, es sei gelungen, den Kosovo von einer gespalte-
nen in eine inklusive Gesellschaft zu verwandeln.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Auf diesem Weg sind wir!)


Frau Ministerin, haben Sie sich auch mit den einfachen
Menschen des Landes unterhalten oder nur mit Soldatin-
nen und Soldaten?

Ungeachtet des Brüsseler Abkommens, das eine Nor-
malisierung der Beziehung zwischen Serbien und dem
Kosovo postuliert, nehmen die Spannungen zwischen





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)

Albanern und Serben nicht ab. Sinti, Roma, Juden und
andere Minderheiten sind von massiver Diskriminierung
bedroht. Ich habe den Kosovo mehrere Male besucht
und muss sagen, dass zur Bezeichnung „inklusive Ge-
sellschaft“ sehr viel Fantasie gehört. Schönreden hilft
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag
stehen unter keinem guten Stern. Das Handelsblatt vom
1. Juni findet dazu sehr klare Worte – ich zitiere –:

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Parteien in
der Regel von einigen wenigen Oligarchen abhän-
gig sind, die durch Stimmenkauf und Manipulatio-
nen der Wählerlisten größeren Einfluss auf den
Wahlausgang haben als die Bürger selbst.


(Dietmar Nietan [SPD]: Gott sei Dank gibt es das in Russland nicht!)


Dass sich im Kosovo in Zukunft etwas Grundlegen-
des ändern könnte, wird nicht erwartet, weil die
Kandidaten fürs Parlament in der Regel bekannte
Gesichter sind.


(Dietmar Nietan [SPD]: Was machen wir jetzt?)


Wie in der Ukraine unterstützt die Bundesregierung auch
im Kosovo eine Clique von Oligarchen, die sich berei-
chern, während der Großteil der Menschen in Armut
lebt. Mit dieser Politik muss endlich Schluss sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Die KFOR-Truppen sind ein fester Bestandteil des
ganzen Schlamassels. Die NATO hat 1999 bei ihrem
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien
auch Uranmunition eingesetzt. Besonders betroffen ist
der Kosovo. Ein hoher Staatsbeamter aus Pristina hat
mir unter vier Augen verraten, dass die KFOR den Be-
hörden im Kosovo untersagt hat, Untersuchungen zu
Umfang und Folgen des Einsatzes von Uran durchzufüh-
ren. Bezeichnenderweise importiert die KFOR Trink-
wasser für ihre Soldatinnen und Soldaten. Kenner wis-
sen eben, dass Uran das Trinkwasser verseucht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Kenner trinken Württemberger! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Linke bleibt dabei: Bundeswehr und KFOR rich-
ten im Kosovo nur Schaden an und müssen schnell abge-
zogen werden. Wir sagen Nein zum KFOR-Mandat.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803912800

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1803912900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Verehrte Gäste! Frau Höger, nur ganz kurz am An-
fang sei gesagt: Diese Geschichts- und Wahrheitsverzer-
rung, ja Wahrheitsverfälschung, die Sie hier betreiben,
ertragen wir nicht.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Das kann ich alles belegen!)


Das können wir fast nur unter Schmerzen wahrnehmen.
Das soll es aber auch schon zu Ihren Ausführungen über
den KFOR-Einsatz gewesen sein.

Im Übrigen ist das eine Beleidigung für die Soldatin-
nen und Soldaten, die dort Dienst tun. Das darf ich an
dieser Stelle auch einmal sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


15 Jahre nach dem Ende des Kosovo-Krieges geht es
darum, die Geschichte des Annäherungsprozesses zwi-
schen ehemaligen Kriegsfeinden verantwortungsvoll
fortzuschreiben. Es geht darum, die Sicherheit für die
Menschen auf dem westlichen Balkan zu stärken und ih-
nen damit Hoffnung auf eine attraktive Zukunft zu ge-
ben. Die Spuren des Guerillakrieges nach dem Ausein-
anderbrechen Jugoslawiens sind nicht erst nach der
verheerenden Flut der vergangenen Wochen gewisser-
maßen an das Tageslicht geschwemmt worden.

Das Kosovo zählt zu den ärmsten Ländern in Europa,
und die Menschen brauchen greifbare Perspektiven. Das
haben wir Ihnen 2003 auf dem Gipfel von Thessaloniki
versprochen. Daran hat sich nichts geändert. Dazu ste-
hen wir noch heute.

Die Geschichte zeigt uns in den Ländern des westli-
chen Balkans auf beeindruckende Weise, wie man aus
einer schier ausweglos erscheinenden Situation gleich-
wohl den Weg in eine friedliche Zukunft finden kann,
obwohl die ethnischen, religiösen und politischen Ge-
gensätze zwischen Kosovaren und Serben unverändert
sind und das Konflikt- und Eskalationspotenzial nach
wie vor hoch ist, besonders im Norden des Landes.

Die Soldatinnen und Soldaten der Schutztruppe
KFOR sind nach wie vor ebenso wie die Rechtsstaatlich-
keitsmission EULEX ein Sicherheitsanker, den wir noch
nicht lichten können. Wir sollten allerdings für die nä-
here Zukunft eine weitere Absenkung der Obergrenze
der Truppenstärke andenken.

Gewissermaßen als Sinnbild für den nicht beendeten
Konflikt und das Überwinden bestehender Ängste steht
die immer noch verbarrikadierte Brücke über den Fluss
Ivar in der geteilten Stadt Mitrovica. Immer wieder
kommt es hier zu Explosionen, zuletzt vor circa zwei
Wochen. Auch vor den Kommunalwahlen Ende letzten
Jahres war es wiederholt zu gewalttätigen Auseinander-
setzungen gekommen. Die anhaltenden Spannungen und
das gegenseitige Misstrauen zwischen den Bevölke-
rungsgruppen im Norden machen den Einsatz der KFOR
in dieser Phase der Integrationsbemühungen unabding-
bar.

Meine Damen und Herren, anfangs – und das sollten
wir uns noch einmal in Erinnerung rufen – waren 40 Na-





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)

tionen mit rund 50 000 Soldaten am KFOR-Einsatz be-
teiligt. Mittlerweile leisten noch knapp 5 000 Soldaten
Dienst. Seit 1999 waren zusammengenommen über
100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Kosovo
im Einsatz. Für ihren wichtigen Beitrag zu Stabilität,
Frieden und Sicherheit an der serbisch-kosovarischen
Staatengrenze sage ich ausdrücklich Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD])


Solange der Normalisierungsprozess nicht abge-
schlossen ist und niemand die Sicherheit und den Frie-
den für die Region garantieren kann, wäre es schier
unverantwortlich, das aktuelle internationale Sicher-
heitsgefüge im Kosovo aufzugeben. Es gilt, das Er-
reichte für die Menschen vor Ort zu sichern und Rück-
schritte zu verhindern.

Das Normalisierungsabkommen vom April letzten
Jahres, das sogenannte Brüsseler Abkommen, ist ein
wichtiger Schritt auf einer vielsprossigen Leiter vom
Dauerkonflikt hin zu einer friedlichen Koexistenz und
damit zu einer sicheren Nachbarschaftspolitik. Die kon-
krete Implementierung als nächste Sprosse auf dem Weg
in die angestrebte EU-Mitgliedschaft erfordert dabei ak-
tives und konkretes Handeln, gerade in Bezug auf den
technischen Dialog.

Die Auflösung der Parallelstrukturen im finanziellen
und im Justizbereich im Norden des Kosovo ist nach wie
vor nicht erreicht. Hier ist Serbien in der Pflicht.

Besonders heikel ist die Regelung zum Appellations-
gericht. Nach wie vor liegen keine Auflistung und keine
Übersicht aller von Serbien geleisteten Zahlungen vor.
Die vollständige Einrichtung des serbischen Gemeinde-
verbundes ist nicht vollzogen. Das alles sind Herausfor-
derungen, ja Bedingungen für eine erfolgreiche Heran-
führung an europäische Standards.

Zur Wahrheit gehört auch, zu sagen, dass Europa
bedauerlicherweise selbst noch nicht bereit für eine
Aufnahme des Kosovo in die Staatengemeinschaft ist.
Kollege Nietan hat es ausgeführt: Immer noch verwei-
gern fünf EU-Mitgliedstaaten dem Kosovo die völker-
rechtliche Anerkennung. Das ist wenig ruhmreich und
muss sich alsbald ändern. Zudem halte ich es für überfäl-
lig, den Menschen des Kosovo Reisefreiheit einzuräu-
men. Es ist das einzige Land der gesamten Region, für
dessen Bürger eine Visumspflicht für den Schengenraum
besteht. Auch hier sollten die Anstrengungen zur Anpas-
sung der Situation verstärkt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Einiges ist bereits im Kosovo geleistet worden. So ist
die Einrichtung eines Sondertribunals als positiv zu
werten. Es soll die mutmaßlichen Verbrechen der koso-
varischen Befreiungsarmee untersuchen. Gerade für die
politische Landschaft im Kosovo spielt diese Entschei-
dung eine wichtige Rolle; denn diese wurde – nach eini-
gen Widerständen – von einer breiten Mehrheit im Parla-
ment getragen. Zu den anerkennungswerten Punkten
zählt auch die Fortsetzung der EU-Rechtsstaatsmission
EULEX sowie die insgesamt gut verlaufenen Kommu-
nalwahlen Ende vergangenen Jahres.

Niemand sollte dabei allerdings in der Illusion leben,
sich ausruhen zu können. Die dringend erforderliche
Wahlrechtsreform, die eine Durchführung von Wahlen
nach internationalen Standards garantieren sollte, ist an-
zumahnen. Noch nicht beantwortet wurde die Frage
nach den Sitzen für Minderheiten im Parlament. Darüber
hinaus wird sich bei den Wahlen am 8. Juni 2014 zeigen,
wie die Eingliederung des Nordens gelingt und ob in Zu-
kunft der bereits angemahnte Abbau von Parallelstruktu-
ren sowie eine stärkere Einbindung in das kosovarische
Staatengefüge wirklich erkennbar werden.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803913000

Herr Kollege, ein kurzer Blick auf die Zeit, bitte.


Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1803913100

Genau, ich komme zum Schluss. – Auch mit Blick

auf die bevorstehenden Parlamentswahlen am kommen-
den Sonntag erwarten wir, dass der Dialogprozess mit
Serbien von beiden Seiten mit großer Ernsthaftigkeit
fortgesetzt wird; denn wer beitreten will, muss beitragen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803913200

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Vorrednerinnen und Vorredner haben es schon
gesagt: Die Annäherung zwischen Serbien und dem
Kosovo geht in den nächsten Monaten in eine kritische
Phase. Das Abkommen vom April des letzten Jahres
wurde schon erwähnt. Wir wissen aber gleichzeitig auch,
dass es immer noch Kräfte gibt – rechtsextreme Serben,
aber auch Angehörige der organisierten Kriminalität, die
gar nicht unbedingt eine nationale Agenda verfolgen –,
die eine Annäherung verhindern wollen. Sie schrecken
vor Gewalt nicht zurück. Das zeigen die Angriffe auf die
Kommunalwahlen im November und auch wiederholte
Beschüsse der EULEX-Mission im Norden. Deshalb ist
der KFOR-Einsatz in dieser Übergangsphase der – zu
hoffenden – Annäherung immer noch notwendig.

Sie haben schon die Parlamentswahlen erwähnt, die
jetzt am Sonntag anstehen. Wir sollten den Grund dafür
in Erinnerung rufen: Das war eine Abstimmung über
eine eigene kosovarische Armee im Parlament, für die es
keine Mehrheit gab. Alle Serben haben dabei den Saal
verlassen. Darum gibt es jetzt Neuwahlen. In der Diskus-
sion um eine eigene kosovarische Armee – die vielleicht
in dieser Phase nicht sehr hilfreich für den Annäherungs-





Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

prozess ist – war es für die Gegner dieser eigenen Armee
wichtig, sagen zu können: KFOR ist ja da. – In dieser Si-
tuation KFOR abzuziehen, wäre fatal und politisch nicht
wünschenswert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Für Serbien muss aber auch klar sein: Ein EU-Beitritt
ist nur möglich, wenn das Kosovo bis dahin völkerrecht-
lich anerkannt ist. Ein zweites Zypern kann sich die
Europäische Union nicht leisten, und Serbien darf den
Beitritt des Kosovo nicht blockieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen, dass die Bedrohung immer noch vorhan-
den ist, dass wir im Kosovo eine Art zweite Republika
Srpska bekommen können und die serbischen Strukturen
nicht wirklich in das Land integriert werden. Das müs-
sen wir verhindern. Wir müssen daran arbeiten, dass
auch diese Menschen sich im Kosovo wirklich zu Hause
fühlen.

Ich hoffe sehr, dass die serbischen Kosovaren bei den
Parlamentswahlen, die jetzt anstehen, ihr Wahlrecht
wahrnehmen, sich beteiligen und nicht auf die Boykott-
forderungen einzelner Vertreter der serbischen Minder-
heit eingehen. Wir hoffen, dass der Friedensprozess
durch die Wahl gestärkt werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Uns belastet die Hypothek, dass die Anerkennung des
Kosovo durch fünf Mitgliedsländer der Europäischen
Union immer noch aussteht. Es ist wirklich eine Krux,
dass sie das Kosovo immer noch nicht anerkannt haben.
EULEX hat deswegen Probleme vor Ort. Die Mission ist
nicht so stark, wie sie sein sollte, von ihren Rechten her,
von ihrem Ansehen her, von der Komplexität der Struk-
turen her. Dass wir es immer noch nicht hinbekommen
haben, dass die gesamte EU das Kosovo anerkennt, ist
eigentlich eine Schande für die Europäische Union. Ich
hoffe, dass die Bundesregierung ihren Beitrag dazu leis-
tet, dass endlich die letzten fünf Länder davon überzeugt
werden können, das Kosovo anzuerkennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Lassen Sie mich am Ende ein Wort zur Lage der
Roma im Kosovo sagen: Ihre Situation ist unverändert
schlecht. UNICEF berichtet auch von der unzumutbaren
Lage der Rückkehrer, vor allem der Kinder. Drei Viertel
der Kinder gehen nach der Rückkehr in das Kosovo
nicht mehr zur Schule. Sie erkranken körperlich und see-
lisch. In der Regel sprechen diese Kinder Deutsch, aber
weder Albanisch noch Serbisch. Insgesamt ist die Lage
dort weiterhin von Ausgrenzung und Diskriminierung
geprägt. UNICEF und Amnesty International fordern
deswegen, die Abschiebung von Minderheitenangehöri-
gen in das Kosovo zu stoppen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] und Dr. Katarina Barley [SPD])


Wir brauchen endlich einen bundesweiten Abschiebe-
stopp für Roma und andere Minderheitenangehörige aus
dem Kosovo und eine Visumfreiheit für die Bürger des
Kosovo, um zu verhindern, dass es als einziges, letztes
kleines Land keinen Anschluss an Europa hat.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803913300

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Julia Bartz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1803913400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor zwei Monaten hat die NATO, 15 Jahre
nach dem Ende des Kosovokrieges, den oberen Luft-
raum über dem Balkanstaat wieder für zivile Flugzeuge
geöffnet – ein kleines Stück Normalität, das viele posi-
tive Begleiteffekte mit sich bringt.

Seit 15 Jahren entsenden wir Jahr für Jahr unsere
Soldatinnen und Soldaten in das Kosovo, seit 15 Jahren
verlängern wir Jahr für Jahr das Mandat. Mittlerweile ist
das Amselfeld vielen Bürgerinnen und Bürgern nur mehr
als Weinbauregion bekannt, und das „Land der Skipeta-
ren“ wird vermehrt wieder als Schauplatz der Geschich-
ten Karl Mays betrachtet. Wer aber denkt, wir bräuchten
den Einsatz nicht mehr, den dürfte spätestens die Krise
in der Ukraine eines Besseren belehrt haben. Präsident
Putin bemühte in aller Unsachlichkeit eine von ihm
konstruierte Parallele, nämlich zwischen der Unabhän-
gigkeit des Kosovo und dessen unverändert bestehenden
Problemen mit der Situation auf der Krim sowie der
Lage in der Ostukraine. Doch der völkerrechtliche Ver-
gleich des Kosovokrieges mit der Kriminvasion hinkt;
die Hinter- und Beweggründe sind vollkommen ver-
schieden.

Seit 15 Jahren stabilisieren wir eine Region, in der ein
Völkermord geplant war, der in letzter Minute abgewen-
det werden konnte,


(Inge Höger [DIE LINKE]: Immer die gleichen Parolen!)


vor unserer Haustür, in Europa, in einer Region, in der
28 Staaten friedlich miteinander leben, an der Schwelle
zwischen Abendland und Morgenland. Nicht erst seit
Ivo Andrics Schilderungen in seinem Werk Die Brücke
über die Drina wissen wir, welch langes kulturelles Ge-
dächtnis und welcher Stolz die Völker dieser Region
verbinden – Eigenschaften, die uns mitunter fremd er-
scheinen, wo wir selbst mit ehemaligen Gegnern heute
wunderbare Freundschaften pflegen. Doch gerade die
Vertreter nationaler Maximalpositionen beziehen sich
noch heute auf Geschehnisse, die vor 600 Jahren stattge-





Julia Bartz


(A) (C)



(D)(B)

funden haben, und empfinden für das Amselfeld wie an-
dere für Jerusalem. Diese Maximalpositionen wurden in
den letzten 15 Jahren so weit verlassen, dass heute mitei-
nander geredet und nicht mehr aufeinander geschossen
wird. Deshalb sind heute nicht mehr 50 000 Soldatinnen
und Soldaten nötig, sondern nur noch ein Zehntel davon.
Doch die sind eben noch nötig. Im Norden des Kosovo,
wo sich die serbische Bevölkerungsminderheit konzen-
triert, weigern sich die meisten Serben immer noch, die
Zentralregierung in Pristina anzuerkennen. Im Parla-
ment, wo sie aufgrund von Schutzklauseln großen
Einfluss haben, boykottieren sie die Bildung einer eige-
nen Armee. Parlamentsauflösung und Neuwahlen sind
derzeit die Folge, aber eben kein Bürgerkrieg.

Die Region bewegt sich in die richtige Richtung, aber
nur langsam. Zu Gesprächen und Verhandlungen, wie
schmerzhaft und schwer sie für alle Seiten in Zukunft
auch sein mögen, gibt es keine Alternative, zumindest
keine, die wir uns für Europa wünschen. Dafür brauchen
wir den Schutz von KFOR. 15 Jahre KFOR, das ist eine
lange Zeit; das entspricht fast vier Legislaturperioden.

Sehr geehrte Gäste und Zuschauer! Gerne möchte ich
die Mandatsverlängerung zum Anlass nehmen, zu erklä-
ren, wie wir solche Entscheidungen treffen. Unsere aus-
schlaggebenden Kernfragen bei allen Einsätzen der Bun-
deswehr lauten: Was ist unser nationales Interesse?
Welchen beabsichtigten Zielzustand legen wir zu-
grunde? Was wollen wir mit dem Einsatz wirklich errei-
chen, und wann beenden wir den Einsatz? Für den Ein-
satz im Kosovo sind die naheliegenden Antworten auch
die Erklärung, warum 15 Jahre gar nicht so lang sind und
wir vielleicht noch eine 20. oder 25. Verlängerung erle-
ben werden: Es liegt in unserem besonderen nationalen
Interesse, in einem einigen und friedlichen Europa zu le-
ben. Dazu gehört auch der Westbalkan. Eine rechtsstaat-
liche Entwicklung dieser Länder ist der Schlüssel zum
Erfolg. Einen Misserfolg würden wir zu spüren bekom-
men. Organisierte Kriminalität kennt nämlich keine
Grenzen.


(Zuruf der Abg. Inge Höger [DIE LINKE])


Dieser Einsatz darf erst beendet werden, wenn diese
Länder stabile Demokratien sind, in denen man ethnien-,
religions- und kulturübergreifend friedlich über die ge-
meinsame Geschichte sprechen kann, eine Geschichte,
die auch ein wesentlicher Teil unserer europäischen
Geschichte darstellt. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre
Zustimmung für die weitere Unterstützung unserer
Nachbarn.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803913500

Nächster Redner ist der Abgeordnete Wolfgang

Hellmich, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wolfgang Hellmich (SPD):
Rede ID: ID1803913600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie der
Debatte folgen! Frau Höger, ich will vorab zwei Punkte
klarstellen: Sie waren gestern ebenso wie ich in der Sit-
zung, in der wir uns über die Frage unterhalten haben,
wie wir mit den Minen in Bosnien-Herzegowina umge-
hen. Sie haben den Ausführungen des Vertreters des
Auswärtigen Amtes zugehört und haben erfahren, an
welchen Initiativen sich die Bundesregierung beteiligt
und dass mehr Geld gegeben wird, um das Problem zu
lösen. Angesichts dessen ist das, was Sie hier gesagt ha-
ben, schlichtweg eine Frechheit. Oder Sie waren in einer
anderen Sitzung als ich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Der zweite Punkt. Dass 25 Jugendliche aus dem
Kosovo, die ehemals Flüchtlinge waren, aber in den
Kosovo zurückgekehrt sind, unterstützt von der Hand-
werkskammer Dortmund in einem dualen System – in
Dortmund und im Kosovo – als Handwerker ausgebildet
werden, ist für mich ein gutes Beispiel. Es zeigt, was
dieses Land tatsächlich braucht: Es braucht Initiativen,
mit denen die Wirtschaftskraft gestärkt und die Bildung
verbessert wird. Das ist garantiert kein Beispiel dafür,
dass das Land ausgebeutet wird, wie Sie vonseiten der
Linken das behaupten. Ich glaube, es ist richtig, dieses
Programm weiterzuführen. Wir brauchen mehr solcher
Initiativen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


An dieser Stelle danke ich den Soldatinnen und Sol-
daten der KFOR, die mit ihrem Einsatz die Rahmenbe-
dingungen für solche Initiativen aufrechterhalten. Es
geht darum, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, da-
mit all diese Initiativen im Kosovo Platz greifen können,
damit diese Initiativen den Raum haben, politisch, ge-
sellschaftlich und zivil zu wirken. Das ist der Kern. Es
geht nicht nur um militärische Fragen, sondern es geht
vor allem darum, über den KFOR-Einsatz die zivile Ent-
wicklung dieses Landes zu ermöglichen. Das ist Kern,
Sinn und Auftrag aller Missionen, über die wir in diesem
Zusammenhang reden.

Wir können auf der Habenseite Fortschritte im
Kosovo verzeichnen. Diese Fortschritte müssen wir auf-
zählen, weil das die Punkte sind, um die wir uns geküm-
mert haben: Im Herbst soll der Beschluss über das SAA-
Abkommen zwischen dem Kosovo und der EU gefasst
werden. Bei der Polizei wurden die Parallelstrukturen im
Norden des Kosovo abgebaut; die Bezahlung der
kosovarischen Polizei erfolgt jetzt komplett durch den
Kosovo und nicht über Serbien. Wir haben vorgestern
Abend gehört, wie aus Belgrad der Aufruf an die serbi-
schen Minderheiten im Norden des Kosovo erging, sich
bitte an der Parlamentswahl zu beteiligen und diese nicht
zu boykottieren. Ich glaube, das alles sind positive Si-
gnale, mit denen die Nachbarn, die Kosovaren selber
und auch die Serben im Kosovo deutlich machen, dass
sie an einer friedlichen Entwicklung des Landes interes-





Wolfgang Hellmich


(A) (C)



(D)(B)

siert sind und vorankommen wollen. Wir sollten das
nicht behindern.


(Beifall bei der SPD)


Im Gegenteil: Wir sollten durch eine positive Entschei-
dung über dieses Mandat deutlich machen, dass wir un-
serer europäischen Verantwortung nachkommen, Sicher-
heit, Stabilität und die Sicherheit des öffentlichen
Raumes für die Menschen im Kosovo zu garantieren.

Erfreulich ist, dass wir in diesem Zusammenhang als
„third responder“ über die KFOR immer weniger gefragt
sind. Das zeigt, dass die kosovarischen Institutionen auf-
grund der Strukturen auch selber zunehmend mehr in der
Lage sind, die öffentliche Sicherheit herzustellen und im
öffentlichen Raum aufzutreten. Wir schätzen die Bedro-
hungslage insgesamt als mittel, im Norden als etwas
stärker ein. Die Menschen dort sagen uns, dass, wenn
wir die KFOR zurückziehen, sie nicht wissen, in welche
Richtung sich das Land entwickeln wird. Sie bitten uns,
einem solchen Mandat zuzustimmen und ihnen zu hel-
fen, ihr Land friedlich weiterzuentwickeln.

Ja, es gibt lokale Konflikte, aber Gott sei Dank keine
ethnischen Konflikte. Wir wissen, dass eine traumati-
sierte Situation, die sich tief in die Seelen der Kosovaren
eingegraben hat, nicht unbedingt in 10 oder 15 Jahren zu
beseitigen ist. Es wird eine Generation und mehr dauern
– diese Erfahrung haben wir selber gemacht –, um die
Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, et-
was dafür zu tun, um in einem sicheren Land zu leben.
Diejenigen, die im Ausland Gelder erwirtschaften und
diese in den Kosovo schicken, um ihre Familien zu er-
nähren, müssen im Kosovo selber eine Chance haben, zu
arbeiten, zu wirken, produktiv zu sein und ihr Land wei-
terzuentwickeln. Es geht auch darum, Arbeitsplätze zu
schaffen, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dort
gut gearbeitet werden kann, und funktionierende Justiz-
strukturen aufzubauen. Wir wissen, dass dazu im Kern
auch die Bekämpfung der Korruption im Kosovo gehört.


(Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Das muss die Aufgabe staatlicher Institutionen sein, die
wir durch entsprechende Ausbildung stärken. Unsere
Missionen sind auf die Stärkung des Staates Kosovo aus-
gerichtet, damit seine Gesellschaft entsprechend organi-
siert werden kann.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Solange es nötig ist, eine friedliche Entwicklung zu
begleiten, sollten wir das mit allen Instrumenten, die wir
haben, tun, abgesichert durch die entsprechenden Man-
date. Ich bitte Sie herzlich, diesem Mandat zuzustim-
men, weil es dem Kosovo und den Menschen dort hilft,
ihre Gesellschaft und ihren Staat weiterzuentwickeln. An
der Stelle bitte ich Sie um Zustimmung. Wir helfen da-
mit dem Land.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803913700

Liebe Kolleginnen und Kollegen – insbesondere die,

die sich jetzt unterhalten –, jeder möge sich einmal kurz
vorstellen, dass er hier am Pult steht und als einer der
letzten Redner in einer solchen Debatte zu sprechen hat
und dann in ein allgemeines Gemurmel hineinspricht.
Ich finde das erstens unkollegial und unfair.


(Beifall)


Zweitens müssen unsere Besucher auf den Tribünen ei-
nen unguten Eindruck von uns bekommen. Deswegen
wäre es schön, wenn es etwas zu besprechen gibt, das
draußen zu tun oder jetzt dem letzten Redner zuzuhören.

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Roderich
Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1803913800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube,
am Ende dieser sehr klugen und übergreifend geführten
Debatte – bis auf eine Ausnahme: die Linken –


(Beifall des Abg. Peter Beyer [CDU/CSU])


können wir als Bundestag uns durchaus einmal in Erin-
nerung rufen, was in den letzten 15 Jahren erreicht
wurde.

Wer hätte sich vorstellen können, dass wir heute im
Bundestag laut und offen darüber debattieren, ob nicht
dem Kosovo in gewissem Rahmen eine Visafreiheit zu-
gestanden wird? Ich bin dem Kollegen Beyer ausdrück-
lich dankbar für diesen Hinweis. Wer hätte sich vor
15 Jahren vorstellen können, dass die EU nach den Ver-
einten Nationen in verantwortlicher Mission dort mit
über 2 000 Angestellten und Beamten für Rechtsstaat-
lichkeit sorgt? Wer hätte sich vorstellen können, dass wir
von seinerzeit über 50 000 Soldaten heute bei knapp
5 000 sind und wir selbst als deutsche Bundeswehr, die
wir hier entsenden, von über 6 500 Soldaten bei knapp
700 sind? Trotzdem ist unser Land in der Verantwortung,
die der Bundestag wahrnimmt, mit den Vereinigten Staa-
ten stärkster Truppensteller.

Lassen Sie mich, weil vieles Gute und Richtige schon
gesagt wurde, nur auf einige wenige Aspekte eingehen.
Wer hätte sich noch vor drei oder vier Jahren vorstellen
können, dass sowohl die serbische Regierung, ein Pre-
mierminister Vučić, als auch der Kosovo KFOR begrü-
ßen? Wir hatten erst in dieser Woche in der Arbeits-
gruppe eine klare Diskussion und Aussprache mit dem
serbischen Gesandten, der uns ausdrücklich aufgerufen
hat, es bei der Höhe im KFOR-Mandat zu belassen.

An dieser Stelle sollten wir aber auch – nicht nur mit
Blick auf die anstehenden Wahlen im Kosovo – einen
Appell an den Kosovo richten. Die kosovarischen Si-
cherheitskräfte werden zahlenmäßig deutlich erhöht und
in bewaffnete Kräfte umbenannt. Das ist eine historische
Chance für den Kosovo, dafür zu sorgen, dass diese
Streitkräfte multiethnisch zusammengesetzt werden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

dass in der Bevölkerung Vertrauen in diese Streitkräfte
herrscht, dass diese nicht zur Eskalation eingesetzt wer-
den, sondern dass diese Selbstverteidigungskräfte für ei-
nen Ausgleich innerhalb des Landes und – das ist auch
der Zweck militärischer Kräfte – über Militärdiplomatie
für Aussöhnung in der Nachbarschaft sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sollten wir alles daransetzen, dass die Präsenz
solcher kosovarischen Kräfte auch im Nordkosovo
selbstverständlich wird – nicht nur einvernehmlich, son-
dern so, wie es sich für ein souveränes Land gehört.

Ein Wort an die Adresse Serbiens: Vom Bundestag,
von unserer CDU/CSU-Fraktion ging vor zwei Jahren
ein Sieben-Punkte-Plan aus. Fünf dieser sieben Punkte
sind bereits umgesetzt. Zwei Punkte sind noch nicht um-
gesetzt: erstens die endgültige Anerkennung des Kosovo
durch Serbien – das erwarten wir am Ende des Prozesses –
und zweitens – das erwarten wir ebenfalls von Serbien –
die Ermittlung derjenigen, die die deutsche Botschaft in
Belgrad im Jahr 2008 in Brand setzen wollten, und deren
Inhaftnahme. Ich glaube, diese Forderungen dürfen wir
nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sollten auch deutlich anerkennen, wie sich der
Außenminister des Kosovo darum bemüht, den Kosovo
international als einen verlässlichen Partner weiterzuent-
wickeln. Ich appelliere aber auch an Albanien, weiter
mäßigend auf die albanischen Minderheiten außerhalb
Albaniens einzuwirken, wie das in der Vergangenheit
schon geschehen ist. Es ist wichtig, dass die Staaten des
westlichen Balkans gemeinsam begreifen, dass sie eine
Perspektive brauchen und es nur gemeinsam erreichen
können, in die Europäische Union zu kommen, und zwar
nicht durch den Wettbewerb des Schlechten, sondern
durch die Auswahl des Besten und eine Bewerbung mit
gegenseitiger Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir heute dem KFOR-Mandat zustimmen, soll-
ten wir uns erstens bewusst sein, dass wir vor weiteren
Reduzierungsschritten stehen. Diese Reduzierungs-
schritte müssen nicht nur im Einklang mit der Sicher-
heitslage sein, sondern auch dazu führen, dass EULEX
bei ihrer schwierigen Aufgabe abgesichert bleibt. Denn
neben den Rechtsstaatlichkeitsaufgaben geht es immer
noch um das Aufspüren, Verfolgen und die Festnahme
von Kriegsverbrechern. Hier braucht EULEX Absiche-
rung, die zuverlässig ist.

Zweitens. Es gibt Überlegungen, möglicherweise in
einem weiteren Mandat die Europäische Union verant-
wortlich zu machen. Hier warne ich vor Übereile; denn
es haben von den Schengen-Staaten mit Deutschland nur
24 Staaten den Kosovo anerkannt. Wir dürfen uns hier
keine Spaltung leisten. Das hat Frau Kollegin Brantner
deutlich angesprochen.

Angesichts der Entwicklungen in der Ukraine ist es
für mich als überzeugtem Transatlantiker auch erforder-
lich, dass die USA weiterhin in unsere Missionen einge-
bunden sind. Es ist wichtig, dass sie Teil von KFOR
sind. Mögen sie uns dort noch lange erhalten bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was im
Kosovo erreicht wurde, ist auch für unseren Bundestag
ein Ausweis guter sicherheitspolitischer Arbeit. Es ist
die am besten erklärte Mission, über deren Fortsetzung
wir heute abstimmen; sie ist viel besser erklärt als bei-
spielsweise der Einsatz in Afghanistan. Sie könnte als
Paradebeispiel dafür dienen, wie eine notwendige si-
cherheitspolitische Diskussion aussehen könnte: mit kla-
ren Interessen, die wir im Kosovo haben, mit definierten
Aufgaben, die wir lösen wollen, mit einer klaren Zielset-
zung und vor allen Dingen – das ist das Wichtigste – mit
einer guten Erklärung für unsere Bevölkerung, warum
unsere Soldatinnen und Soldaten dort sind. Ich bitte um
Zustimmung.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803913900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 18/1653 zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 18/1415 anzunehmen. Wir stimmen über die
Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an den Urnen be-
setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze im
Plenum wieder einzunehmen. – Wir kommen nun zur
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1665.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen mit
Ausnahme der Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, die für ihren Antrag gestimmt hat, abgelehnt.

1) Ergebnis Seite 3392 C





Vizepräsident Peter Hintze


(C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann

(Zwickau), Caren Lay, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion DIE LINKE

Angleichung der Renten in Ostdeutschland
an das Westniveau sofort auf den Weg brin-
gen

Drucksache 18/982
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Haushaltsauschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält Matthias
W. Birkwald, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803914000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Zur Angleichung der Renten in Ostdeutschland an
das Westniveau hat die Bundeskanzlerin gesagt – ich zi-
tiere –:

Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichung
von Ost und West brauchen. Ich würde … sagen,
dass das Thema in den ersten beiden Jahren der
nächsten Legislaturperiode erledigt sein wird.

Herr Kollege Weiß, das hat die CDU-Vorsitzende
Angela Merkel Anfang Juni 2009 bei der Eröffnung des
9. Deutschen Seniorentages in Leipzig versprochen, also
vor der Bundestagswahl vor fünf Jahren. – Im Koali-
tionsvertrag 2009 hieß es dann – Zitat –:

Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli-
ches Rentensystem in Ost und West ein.

Nach der Bundestagswahl 2009: Pustekuchen! Nach der
Bundestagswahl ist nichts passiert – bis heute, Juni
2014. Versprochen, gebrochen – das ist die beschämende
Rentenpolitik der CDU für die Rentnerinnen und Rent-
ner im Osten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Und die SPD? Die SPD forderte im Juni 2013, also
vor der vergangenen Bundestagswahl, in einem Extra-
Wahlkampfantrag, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten,
„der die vollständige Angleichung des aktuellen Renten-
wertes (Ost) an den aktuellen Rentenwert in Stufen“ vor-
sah. Dieses Gesetz sollte 2014 in Kraft treten. Tja, so
spricht man vor der Wahl. Nach der Wahl ist davon
nichts mehr zu sehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt: Ein Standardrentner in Rostock erhält nach
45 Jahren Arbeit zum Durchschnittslohn noch immer
100 Euro weniger Rente als ein Rentner in Stuttgart, der
auf die gleiche Lebensleistung zurückschauen kann – im
25. Jahr nach dem Mauerfall. Das war ungerecht, das ist
ungerecht, und das bleibt ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Ungerechtigkeit ändert auch Ihr Rentenpaket
nichts. Die Rente ab 63 ist für die vielen Hartz-IV-Be-
troffenen im Osten nicht zu realisieren, und bei der
neuen Mütterrente ist ein Kind im Osten noch immer
4,44 Euro weniger wert als ein Kind im Westen. Das war
ungerecht, und das bleibt ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Ursache dafür ist: Ein Vierteljahrhundert nach dem
Einheitsvertrag liegt der Rentenwert im Osten mit
26,39 Euro noch immer knapp 7,8 Prozent unter dem
Rentenwert im Westen mit 28,61 Euro.

Es stimmt: Der Abstand hat sich über die Jahre lang-
sam verringert. Aber keine Bundesregierung hat bisher
die Gerechtigkeitslücke geschlossen. CDU, CSU, SPD,
Grüne, sie alle haben hier gemeinsam versagt.


(Beifall bei der LINKEN – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Es stimmt: Ein einheitlicher flächendeckender gesetzli-
cher Mindestlohn wird die Rentenlücke verkleinern,
aber besonders dann, wenn er bei 10 Euro liegen würde;
denn im Osten erhalten rund 40 Prozent der Beschäftig-
ten weniger als 10 Euro brutto die Stunde. 10 Euro Min-
destlohn, das würde die Ostrenten den Westrenten ein
deutliches Stück näherbringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha-
ben in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, erst 2016 zu
prüfen, ob man 2017 vielleicht etwas machen muss, um
dann irgendwie zu einer Angleichung der Renten im Jahr
2020 zu kommen. Das alles erzählen Sie seit Jahren. Da-
von stimmt kein Wort. Ich sage Ihnen: Die Ostdeutschen
haben Ihre Vertröstungen satt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mit Tippelschritten und dem Hoffen auf eine automa-
tische Lohnangleichung kommen wir hier nicht weiter.
Die Lohnangleichung stagniert seit Mitte der 90er-Jahre
bei unter 80 Prozent. Da tut sich nichts. Deshalb sagen
wir Linken als einzige Partei in diesem Hause: Die An-
gleichung der Renten im Osten an das Westniveau muss
jetzt sofort auf den Weg gebracht werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fordere Sie auf: Führen Sie zum 1. Juli dieses Jahres
einen steuerfinanzierten und stufenweise steigenden Zu-
schlag ein, und zwar so, dass die Rentenwerte in Ost und
West bis zum Jahresende 2017 vollständig angeglichen
sein werden! Das würde jede Steuerzahlerin und jeden
Steuerzahler in diesem Jahr durchschnittlich nur 1,80 Euro

(A)






Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(B)

im Monat kosten. 1,80 Euro – das ist doch finanzierbar.
Das sollte Ihnen die Umsetzung des Prinzips „Gleiche
Rente für gleiche Lebensleistung“ wert sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Löhne und Gehälter in den östlichen Bun-
desländern im Durchschnitt 100 Prozent der Löhne und
Gehälter der westlichen Bundesländer erreicht haben
werden, dann ist auch die Linke dafür, die Umrechnung
der ostdeutschen Löhne für die Rente abzuschaffen, aber
eben erst dann und nicht vorher.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann ja noch Jahre dauern!)


Ansonsten bekäme die Friseurin in Weimar für die glei-
che Menge an frisierten Ostköpfen nicht nur weniger
Lohn als die Friseurin in Nürnberg für die gleiche Zahl
an frisierten Frankenköpfen, sondern auch noch weniger
Rente für die völlig gleiche Leistung, und das ist nicht in
Ordnung.


(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Schluss. Unser Antrag beruht im
Kern auf dem Stufenmodell des Bündnisses für die An-
gleichung der Renten in den neuen Bundesländern. Dazu
gehören Verdi, die GEW, die EVG, die GdP und die
Volkssolidarität, der Sozialverband Deutschland, die Ar-
beiterwohlfahrt, der Beamtenbund und sogar der Bun-
deswehrVerband. Deswegen sage ich: Liebe Große Ko-
alition, liebe Frau Nahles, hören Sie auf dieses breite
Bündnis! Erkennen Sie endlich die Lebensleistung der
Ostdeutschen an!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803914100

Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er-

mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationa-
len Sicherheitspräsenz in Kosovo, Drucksachen 18/1415
und 18/1653, liegt vor: abgegebene Stimmen 598. Mit Ja
haben gestimmt 532, mit Nein haben gestimmt 59, Ent-
haltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit ange-
nommen.

(D)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 597;
davon

ja: 531
nein: 59
enthalten: 7

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach

(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Andreas Jung
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Thomas Stritzl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Hubertus Heil (Peine)

Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim

Schabedoth
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Dagmar Schmidt (Wetzlar)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ursula Schulte
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Volker Beck (Köln)

Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)

Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Irene Mihalic
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Dr. Valerie Wilms

Nein

SPD

Klaus Barthel
Dr. Ute Finckh-Krämer

DIE LINKE

Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold (Havelland)

Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele

Enthalten

SPD

Petra Hinz (Essen)

Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Als nächster Rednerin in unserer Debatte erteile ich
das Wort Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jana Schimke (CDU):
Rede ID: ID1803914200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Deutschland hat kürzlich gewählt. Auch bei den
Kommunalwahlen in Brandenburg, woher ich stamme,
wo ich geboren bin und wo mein Wahlkreis liegt, gab es
interessante Ergebnisse: Die Union hat erwartungsge-
mäß zugelegt,


(Beifall bei der CDU/CSU)


und die Linke hat verloren, und zwar ordentlich.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wie sich das gehört!)






Jana Schimke


(A) (C)



(D)(B)

Das zeigt nicht nur, dass die Linke dort, wo sie in Regie-
rungsverantwortung ist, das Vertrauen der Wähler stetig
verliert.


(Beifall der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU])


Es zeigt vor allen Dingen auch, dass ihre Strategie des
Schlechtredens nicht mehr länger aufgeht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Seit Jahren reden Sie den Menschen in Ostdeutschland
ein, dass deren Lebensleistung nicht gewürdigt wird.
Doch indem Sie Vorbehalte zementieren und Wahrheiten
verklären, sind Sie es, die Lebensleistung nicht anerken-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?)


Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer dürfen wir
eines nicht vergessen: Die Wiedervereinigung und auch
die Überleitung des Rentenrechts auf die neuen Länder
war und ist ein gesamtgesellschaftlicher, solidarischer
Kraftakt. Diese Leistung zeigt sich auch bei den Renten
in den neuen Ländern. Die Renten in Ostdeutschland
werden noch heute um circa 18 Prozent hochgewertet,
und bei gleichem Brutto gibt es im Osten einen höheren
Rentenanspruch als im Westen. So viel zur Klarheit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Falschherum gedacht!)


Das durchschnittliche Lohnniveau im Osten, verur-
sacht durch eine unterschiedliche Wirtschafts- und Bran-
chenstruktur, ist aber immer noch niedriger als im Wes-
ten. Das ist ein Umstand, den auch meine Kollegen aus
den neuen Ländern und ich bedauern; aber das sind nicht
die Folgen von politisch gewollter Ungerechtigkeit. Das
sind immer noch die Auswirkungen von 40 Jahren staat-
lich verordneter Plan- und Misswirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb bin ich froh und dankbar darüber, dass wir die
Angleichung der Lebensverhältnisse als gesamtdeutsche
Aufgabe anerkennen und auch im Rentenrecht berück-
sichtigen. Zur Erinnerung: 1990 lag das Verhältnis des
Rentenwerts Ost im Vergleich zum Rentenwert West bei
durchschnittlich 40 Prozent. Heute sind wir bereits bei
über 90 Prozent und ab 1. Juli 2014 sogar bei 92,2 Pro-
zent. Das ist Anerkennung von Lebensleistung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 100 Euro im Schnitt!)


Wir sind gut beraten, nicht vorschnell in die Renten-
formel einzugreifen. Sowohl die Rentenanpassung durch
jetzt steigende Löhne als auch die zusätzliche Hochwer-
tung gleichen bestehende strukturelle Unterschiede aus.
Das schafft ein höchstmögliches und für die Solidarge-
meinschaft verträgliches Maß an Gerechtigkeit.

Sie aber wollen mit Steuererhöhungen auf Unterneh-
mensgewinne, Erbschaften und Vermögen Ungerechtig-
keiten beseitigen.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1,80 Euro!)


Aber Sie schaffen damit Ungerechtigkeiten. Wissen Sie
eigentlich, dass der größte Teil des Vermögens in
Deutschland selbst erarbeitet ist,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wage ich zu bezweifeln!)


dass er in Betrieben und mitunter im selbstgebauten Ei-
genheim steckt? Wie passt diese Politik zu Ihrem selbst-
erklärten Ziel, bessere Rahmenbedingungen für eine po-
sitive Lohnentwicklung im Osten zu schaffen? Sie
rütteln an dem Fundament, auf dem unser Land fußt, und
gefährden Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze auch
in Ostdeutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Als Brandenburgerin sage ich Ihnen: Das ist nicht

mein Verständnis und auch nicht das Verständnis der
Ostdeutschen von einer guten Politik für die neuen Bun-
desländer. Sprechen Sie doch einmal über das, was uns
stark macht! So drückt sich die Lebensleistung der Ost-
deutschen heute konkret auch im Rentenzugang aus. Ge-
rade Frauen sind und waren im Osten öfter und länger
erwerbstätig. Diese kontinuierlichen Erwerbsbiografien
ermöglichen es heute vielen, früher in Rente zu gehen.
Frauen in den neuen Ländern gehen im Schnitt fast zwei
Jahre früher in Rente als Frauen in den alten Ländern.
Das ist möglich, weil sie so lange erwerbstätig waren.
Dadurch liegt ihre durchschnittliche Rente heute um
44 Prozent höher – das ist also wesentlich mehr – als in
den alten Bundesländern.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das lag daran, dass die Vereinbarung von Familie und Beruf im Osten so gut war, Frau Schimke!)


Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Zum
1. Juli 2014 steigt der Rentenwert. Er wird in den neuen
Bundesländern von 91,5 Prozent auf 92,2 Prozent des
Westwertes ansteigen. Damit steigen die gesetzlichen
Renten im Osten einmal mehr stärker als im Westen.

Meine Damen und Herren, auch die Union möchte die
Angleichung der Lebensbedingungen in Ost- und West-
deutschland weiter voranbringen. Das haben wir auch im
Koalitionsvertrag so festgeschrieben. Die Renten bis
2020 anzugleichen, ist politisch vernünftig und liegt in
einem zeitlich vertretbaren Rahmen. Das bleibt eines un-
serer wichtigsten politischen Ziele.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da werden viele Bestandsrentner nichts mehr von haben!)


Wir sehen uns in der Verantwortung und werden den An-
gleichungsprozess deshalb auch schrittweise fortführen.

Aber wir können Folgendes daraus lernen: Eine strin-
gente Erwerbsbiografie ist die beste Altersvorsorge.
Auch deshalb sollten die weitere Integration von Frauen
in den Arbeitsmarkt sowie die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie ein zentraler Punkt unserer Sozial- und Ar-
beitsmarktpolitik sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Jana Schimke


(A) (C)



(D)(B)

Das ist eine Stärke der neuen Bundesländer. Auch soll-
ten wir alle Säulen des Rentensystems im Blick behal-
ten. Die gesetzliche Rentenversicherung wird dies künf-
tig nicht mehr alleine leisten können.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das könnte sie, wenn man nur wollte! Es fehlen nur die politischen Mehrheiten!)


Bereits heute erwerben über 70 Prozent der Deutschen
Rentenansprüche aus der privaten und betrieblichen
Altersvorsorge. Diesen Weg müssen wir künftig konse-
quent weiterführen. Nur so schaffen wir eine zukunftsfä-
hige Altersvorsorge, die im Sinne der gesamten Solidar-
gemeinschaft in Ost und West ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803914300

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordnetem Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803914400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Frau Schimke, Sie haben zwar sehr wortreich gespro-
chen, aber zur tatsächlichen Problematik, zur Anglei-
chung der Renten im Osten an die im Westen sowie zu
Gleichstellung und Gleichbehandlung haben Sie fast
nichts gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich habe noch eine Bitte – auch mit Blick auf die folgen-
den Redner –, bevor ich zu meiner eigentlichen Rede
komme. Lassen Sie doch einmal die Platte von den
40 Jahren SED-Misswirtschaft im Schrank stehen! Das
bringt doch nichts. Wirklich geistreicher macht es das
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist sinnvoll, dass diese Debatte aufgesetzt ist. Ich
will gleich mit den Kernforderungen von Bündnis 90/
Die Grünen beginnen. Wir wollen die Anhebung des
Rentenwertes Ost auf das Westniveau. Wir wollen die
Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze Ost auf das
Westniveau. Wir wollen in der Vergangenheit erworbene
Rentenansprüche unangetastet lassen. Wir wollen die
Gleichstellung auf allen Ebenen. Das bedeutet auch –
das sagen wir ganz offen – einen Verzicht auf die Höher-
wertung nach einer sofortigen Angleichung der Renten-
punkte Ost an das Westniveau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb kann ich jetzt nicht klatschen!)


Weil wir wissen, dass die Abschaffung der Höherwer-
tung kurzfristig eine leichte Absenkung des Niveaus be-
deutet und dann möglicherweise zu Armutsproblematik
führt – das kommt allerdings auch im Westen vor –, wol-
len wir eine Garantierente einführen und nach 30 Versi-
cherungsjahren einen Mindestanspruch sicherstellen.
Wir glauben, dass man auf diese Art und Weise zielge-
nauer als mit einer pauschalen, je nach Region gewichte-
ten Höherwertung Armutsvermeidungspolitik betreiben
kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist mit der Lebensstandardsicherung?)


Der einzige Punkt, in dem sich die Union gegenüber
der letzten Legislaturperiode als lernfähig erwiesen hat,
ist, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag vor-
sichtiger sind und die Ankündigungen nicht mehr ganz
so vollmundig sind.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Allerdings!)


Kollege Birkwald hat schon die Aussagen der Kanzlerin
aus dem Jahr 2009 zitiert. Ich möchte einen Satz aus
dem Koalitionsvertrag vortragen:

Zum 1. Juli 2016 wird geprüft,

– geprüft! –

wie weit sich der Angleichungsprozess bereits voll-
zogen hat, und auf dieser Grundlage entschieden,
ob mit Wirkung ab 2017 eine Teilangleichung

– eine Teilangleichung! –

notwendig ist.

Das ist im Grunde nichts weiter als die verkappte An-
kündigung, dass Sie überhaupt nichts gegen das Problem
unternehmen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kennen wir schon!)


Ich möchte noch etwas zu der sogenannten Höher-
wertung sagen, die nach dem Vorschlag der Fraktion Die
Linke – Sie wollen das in mehreren Stufen machen –
beibehalten werden soll. Wir glauben: Wer im Osten
3 000 Euro verdient, der soll den gleichen Rentenan-
spruch erwerben wie jemand, der im Westen ebenfalls
3 000 Euro verdient.

Die Maßeinheit ist das Gehalt und nicht die Zahl fri-
sierter Köpfe.

Man muss schon der Tatsache Rechnung tragen, dass
sich in der Tariflandschaft in den letzten Jahren einiges
verändert hat. Wirft man einen Blick in das Tarifarchiv
der Hans-Böckler-Stiftung, stellt man fest, dass die Ta-
rifniveauunterschiede laut WSI – es stimmt, dass nicht
alles tariflich abgedeckt ist – im Jahr 2013 nur noch
3 Prozent betragen. In vielen Tarifverträgen ist mittler-
weile die gleiche Bezahlung in Ost und West vereinbart.
Wenn man sich die regionalen Unterschiede anschaut,
dann stellt man fest, dass die Himmelsrichtung West/Ost
nicht mehr so aufschlussreich ist. Es gibt auch im Wes-
ten Regionen mit einem sehr niedrigen Lohnniveau. Ich
komme aus dem Ruhrgebiet. Wenn man insbesondere





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

das nördliche Ruhrgebiet mit Stuttgart oder dem Münch-
ner Umland vergleicht, dann kommt man zu ganz erheb-
lichen Lohnunterschieden, die die Lohnunterschiede
zwischen Ost und West weitaus übersteigen.

Wir wollen daher zielgerichtet über Instrumente wie
die Garantierente und Maßnahmen, die das Rentenni-
veau stabilisieren, die Rente armutsfest machen und uns
dabei möglichst nahe an einer lebensstandardsichernden
Rente orientieren. Es sollen aber keine Ausgleiche mehr
nach Himmelsrichtung erfolgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das trifft auch auf den Solidarpakt zu. Selbst die ost-
deutschen Länder haben inzwischen erkannt, dass sich
die Situation fast 25 Jahre nach dem Mauerfall verändert
hat. Strukturschwache Regionen gibt es in ganz
Deutschland. Insofern muss sich eine öffentliche Inter-
vention nach dem Bedarf und darf sich nicht nach der
Himmelsrichtung richten. Wenn wir in den weiteren Be-
ratungen in diesem Sinne zusammenkommen könnten,
wäre das gut.

Ich halte fest: Wir brauchen möglichst schnell, am
besten zum 1. Juli, zum nächsten jährlichen Rentenan-
passungstermin, eine Gleichberechtigung und Gleich-
stellung von Rentnerinnen und Rentnern in Ost und
West.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803914500

Als nächste Rednerin erhält Daniela Kolbe, SPD-

Fraktion, das Wort.


(Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] meldet sich zu Wort)


– Der Kollege Birkwald hatte eine Kurzintervention an-
gemeldet. Er hat aber vorhin selber gesprochen. Deswe-
gen kann er zwar eine Frage stellen, aber eine Kurzinter-
vention ist nicht möglich; denn die Idee der
Kurzintervention besteht darin, dass ein Redner, dem
spontan etwas einfällt, etwas sagen kann. Es soll nicht so
sein, dass einer, der schon etwas gesagt hat, noch etwas
sagen soll.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an den Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Hast du Glück gehabt! Ich wollte dich in Ruhe reden lassen!)


Bitte, Frau Kollegin.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1803914600

Jetzt habe ich wieder etwas über die Geschäftsord-

nung des Deutschen Bundestages gelernt.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803914700

Man lernt hier laufend.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1803914800

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Erst einmal danke an die Linke, dass wir über
das Thema sprechen können. Jeder, der in den neuen
Bundesländern Wahlkampf macht, weiß, dass es kaum
ein Thema gibt, das so emotional diskutiert wird. Man
spürt immer wieder, dass wegen der Tatsache, dass es
zwei unterschiedliche Rentensysteme in Ost und West
gibt, ein massives Ungerechtigkeitsempfinden nach wie
vor vorhanden ist. Ich war 1989 neun Jahre alt. Es ist ir-
gendwie schon verrückt, dass wir 25 Jahre nach der
friedlichen Revolution immer noch zwei unterschiedli-
che Rentensysteme haben. Aber es lohnt durchaus ein
Blick zurück.

Im Rentenüberleitungsgesetz nach der Wiedervereini-
gung sind Regelungen für die bestehenden und für die
zukünftigen Renten in den damals wirklich noch neuen
Bundesländern getroffen worden. Ich finde, diese Rege-
lungen verdienen unser aller Hochachtung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn damals sind zwei völlig unterschiedliche Rechts-
systeme zusammengeführt worden, auch mit dem impli-
ziten Versprechen, dass die Unterschiede lediglich für
eine Übergangszeit gelten sollten. Profitiert davon haben
insbesondere die Rentnerinnen und Rentner in der ehe-
maligen DDR, die für ihre Rentenanwartschaften Renten
bekommen haben und hoffentlich immer noch bekom-
men, die sie nach DDR-Rentenrecht nie und nimmer be-
kommen hätten. Ich weiß, einige wollen und können es
nicht mehr hören, dennoch sollte man nicht unerwähnt
lassen: Das Ganze war und ist immer noch eine riesige
gesamtgesellschaftliche Leistung in Ost und West.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


So weit zur Vergangenheit. Die Rentenüberleitung
war klug konzipiert. Mit der Lohnangleichung in Ost
und West sollten sukzessive gleiche Anwartschaften in
Ost und West erreicht werden. Irgendwann sollte dann
der Durchschnittslohn gleich sein, damit auch der Ren-
tenwert in Ost und West gleich. Dann brauchte man
keine Höherwertung mehr und hätte sozusagen automa-
tisch ein Rentensystem.

Leider sieht die Realität anders aus. Die Rentenwerte
haben sich zwar in der Vergangenheit zunächst sehr
schnell angeglichen, in den letzten Jahren hat sich aber
das Tempo verlangsamt. Die Frage stellt sich natürlich,
ob wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten wollen,
bis sich diese Rentensysteme automatisch angleichen.
Das könnte auch erst in einigen Jahrzehnten sein, wenn
man sich die Lohnentwicklung anschaut, womöglich
auch niemals. Wir, die SPD-Fraktion, sagen: Nein, na-
türlich nicht, auch wenn es anders schöner wäre und es
morgen in Ostdeutschland die gleichen Löhne wie in
Westdeutschland gäbe; den letzten Schritt dieser Renten-
angleichung müssen wir politisch hier im Deutschen
Bundestag beschließen.


(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann? Tun Sie es!)


Mit dem Passus zur Rentenangleichung haben wir mit
unserem Koalitionspartner im Koalitionsvertrag auf
Seite 53 eine vernünftige Formulierung gefunden. Die
wird auch im Antrag der Linken zitiert. Es steht darin,





Daniela Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

dass es einen Fahrplan zur vollständigen Angleichung
geben soll, gegebenenfalls mit einem Zwischenschritt.
Das Ganze soll in einem Rentenüberleitungsabschluss-
gesetz noch in dieser Legislatur festgeschrieben werden.
Das ist für uns eine der zentralen Forderungen für die
18. Legislaturperiode. Ich schaue an dieser Stelle zu der
neuen Ministerin Andrea Nahles. Wir haben Sie jetzt als
Ministerin kennengelernt, die das, was im Koalitionsver-
trag beschlossen wurde, auch umsetzt. Insofern verglei-
chen Sie uns bitte nicht mit vorangegangenen Koalitio-
nen, sondern messen Sie uns an unseren Taten.


(Beifall bei der SPD)


Nach dem Koalitionsvertrag muss spätestens zum
1. Juli 2016 geprüft werden, wie weit der Angleichungs-
prozess vorangekommen ist. Rein mathematisch gese-
hen, kann man ja relativ leicht sagen, wo dieser Prozess
stehen müsste. Würde er automatisch ablaufen, müsste
der durchschnittliche Rentenwert im Osten bei ungefähr
95 Prozent des durchschnittlichen Rentenwertes im Wes-
ten liegen. Wenn dieser Rentenwert im Osten darunter-
liegt und eine Anpassung nötig sein sollte, dann muss
sie, wenn Sie mich fragen, möglichst schnell und mög-
lichst auch noch in dieser Legislaturperiode erfolgen.

Der Passus im Koalitionsvertrag, erst 2016 zu prüfen,
ist wichtig und auch richtig. Mit Blick auf die Einfüh-
rung des gesetzlichen Mindestlohns, den wir heute Mor-
gen diskutiert haben, bin ich mir hundertprozentig si-
cher, dass wir bis 2016 eine deutliche Anhebung der
Löhne im Osten erleben werden; sie werden deutlicher
als in Westdeutschland steigen. Ich hoffe auch, dass die-
ses kluge Gesetz zur Einführung flächendeckender Min-
destlöhne zu einer höheren Tarifbindung in Ostdeutsch-
land führen wird. Es ist vernünftig, abzuwarten, welche
Impulse für die Lohnangleichung und dann auch für die
Rentenangleichung notwendig sind. Denn wenn es ohne
einen Anpassungsschritt gehen könnte, dann wäre das,
ehrlich gesagt, deutlich eleganter. Insofern finde ich die-
sen Passus im Koalitionsvertrag wirklich klug.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir, die SPD-Fraktion, wollen mit dem Auslaufen des
Solidarpaktes ein deutsches Rentensystem. Davon rü-
cken wir auch nicht ab. Ich denke, es wird auch nicht
erst am Sankt-Nimmerleins-Tag kommen, wie es im
Linken-Antrag steht.


(Widerspruch des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


– Auch Sie fordern die Rentenangleichung ja nicht für
morgen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zunächst für den 1. Juli und dann bis Ende 2017!)


und dafür haben Sie auch gute Gründe.

Zur Ehrlichkeit gehört, festzustellen, dass mit dem
Höherwertungsfaktor, den wir derzeit haben, die ost-
deutschen Löhne nach oben gewertet werden. Wenn man
dem Vorschlag der Grünen folgen würde und die Renten
vieler Menschen schon morgen angeglichen würden,
dann würden gerade die jetzt arbeitenden Menschen
massive Einbußen hinnehmen müssen. Es ist ganz wich-
tig, dass wir uns auf die Lohnpolitik konzentrieren und
uns 2016 anschauen, ob das Tarifpaket gewirkt hat.
Dann können wir im Sinne des Koalitionsvertrags voran-
schreiten.

Ich sage aber auch: Dadurch, dass die Unterschiede
eben nicht mehr allein zwischen Ost und West verlaufen,
dass es durchaus Konflikte innerhalb des Ostens und des
Westens gibt, dass es auch Unterschiede gibt zwischen
Beitragszahlern Ost und Rentnern Ost, dass es unter-
schiedliche Interessen zwischen Beitragszahlern im
Westen und Beitragszahlern im Osten gibt, tun wir gut
daran, das Projekt „Angleichung der Rentensysteme“
nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern zu einem
guten Abschluss zu bringen.

Stichwort „Abschluss“: Ich danke für Ihre Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803914900

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-

gen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803915000

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Da in drei der ostdeutschen Bundesländer dieses Jahr
noch Landtagswahlen stattfinden, muss die Linke natür-
lich einen Antrag zum Thema Rente im Deutschen Bun-
destag einbringen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das machen wir auch, wenn keine Landtagswahlen sind, Herr Kollege!)


Der Punkt ist nur: Die Linke erzählt den Menschen in
den neuen Bundesländern nie die wirkliche Wahrheit
zum Thema Rente.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ihr könnt das! Da bin ich einmal gespannt!)


Das Rentensystem ist zwischen Ost und West deswe-
gen immer noch gespalten, weil es zwei Faktoren sind,
nach denen die Rente im Osten berechnet wird. Weil der
Lohnunterschied zwischen Ost und West leider immer
noch relativ groß ist – Gott sei Dank nimmt er ab; aber er
ist immer noch relativ groß –, wird der Rentenanspruch,
den ein ostdeutscher Arbeitnehmer oder eine ostdeutsche
Arbeitnehmerin bis heute erworben hat, morgen, wenn
er oder sie den Rentenantrag stellt, um 18,7 Prozent er-
höht. Das heißt, sie oder er hat ein besser gefülltes Ren-
tenkonto als jemand Vergleichbares in Westdeutschland.
Das ist die sogenannte Höherwertung. Das ist das Erste.

Das Zweite ist: Das, was auf diesem Rentenkonto
liegt, wird mit einem Zahlbetrag multipliziert, dem soge-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

nannten Rentenwert. In der Tat ist der Rentenwert West
derzeit noch 8 Prozent höher als der Rentenwert Ost.
Aber jeder, der ein bisschen etwas von Mathematik ver-
steht, wird erkennen: Wenn man morgen auf einen
Schlag, sofort, gleiches Rentenrecht in Ost und West ein-
führt, also der gleiche Zahlbetrag gilt und es keine
Höherwertung um 18,7 Prozent gibt, dann hat der
Ostrentner oder die Ostrentnerin weniger, als ihm oder
ihr nach dem derzeitigen Rentenrecht zusteht. Das ist der
Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um es klar und deutlich zu sagen: Wer einfach nur al-
les angleicht, der sorgt für ein Minus für die Rentnerin-
nen und Rentner im Osten. Das ist der Punkt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswegen brauchen wir ja die Umrechnung!)


Die Grünen erklären hier mutig: Ja, das wollen wir.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist falsch!)


Die Linke verschweigt, was sie wirklich vorhat. Sie
will nämlich nicht gleiches Rentenrecht in Ost und West
– das beantragt sie auch nicht –, sondern sie will, dass
Deutschland in Sachen Rente weiter in zwei Zonen auf-
geteilt wird.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Unsinn! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig! Da sind Sie gar nicht so weit weg voneinander!)


Sie will Folgendes machen: Sie will die Höherwertung
der Rentenansprüche, die man gesammelt hat, beibehal-
ten, aber den höheren Zahlbetrag West darauf anwenden.
Was hat das zur Folge? Dass ein Arbeitnehmer oder eine
Arbeitnehmerin im Osten, der oder die die gleiche Ar-
beit hinter sich gebracht hat und das Gleiche verdient hat
wie ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin im Wes-
ten,


(Zuruf von der LINKEN: Hat er ja nicht!)


eine höhere Rente bekommt als der Arbeitnehmer oder
die Arbeitnehmerin im Westen. Man schafft also eine
neue Ungerechtigkeit, nämlich für die Westrentner und
Westrentnerinnen. Das ist die Politik der Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803915100

Herr Kollege Weiß, der Herr Kollege Matthias W.

Birkwald möchte jetzt gern eine Zwischenfrage stellen
oder eine Zwischenbemerkung machen; beides ist mög-
lich.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803915200

Bitte schön.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803915300

Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr

Weiß, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.

Zunächst möchte ich Ihnen sagen: Selbstverständlich
haben wir nicht das vor, was Sie hier eben vorgetragen
haben.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803915400

Doch!


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803915500

Nein.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803915600

Guckt doch euren Antrag an!


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803915700

Ich möchte Ihnen das jetzt gern noch einmal erklären.

Sie vergleichen immer diejenigen im Osten mit einem
Gehalt von beispielsweise 2 000 Euro mit denjenigen im
Westen, die ebenfalls 2 000 Euro verdienen. Das Pro-
blem ist, dass es solche Fälle nur selten gibt. Wir haben
nur ein, zwei Branchen, vielleicht auch zwei oder drei
mehr – aber es sind insgesamt wenige –, in denen der
Lohn Ost und der Lohn West jeweils gleich sind.

Die Tarifbindung im Osten ist deutlich niedriger. Im
Westen arbeiten 60 Prozent der Beschäftigten mit Tarif-
vertrag, im Osten nur 48 Prozent. Deswegen ist es so,
dass – das habe ich vorhin auch gesagt; ich halte die Ta-
belle gern noch einmal hoch – die Beschäftigten im
Osten 79 Prozent der Einkommen im Westen haben. Das
stagniert seit Jahren bei unter 80 Prozent; da tut sich
nichts.

Das bedeutet, dass man auch in dem Bundesland mit
dem höchsten Durchschnittslohn im Osten – das ist
Brandenburg im Jahr 2013 mit 25 600 Euro brutto – im-
mer noch deutlich unter dem Bundesland im Westen mit
dem niedrigsten Durchschnittseinkommen – das ist
Schleswig-Holstein mit 27 600 Euro – liegt. Solange es
so ist, dass selbst in dem östlichen Bundesland, in dem
am besten verdient wird, weniger verdient wird als in
dem westlichen Bundesland mit dem niedrigsten Ein-
kommen, so lange ist die Umrechnung, wie der korrekte
Begriff heißt, notwendig.

Was würde sonst passieren? Ich will es an einem Bei-
spiel zeigen. Nehmen wir jetzt nicht eine Friseurin, son-
dern eine Floristin. Eine Floristin hat in Teilzeit im Wes-
ten 1 000 Euro und im Osten 790 Euro im Monat. Die im
Osten hat natürlich auch nur für 790 Euro Beiträge ge-
zahlt. Wenn die beiden am selben Tag in Rente gehen,
nachdem sie, die eine in Köln, die andere in Leipzig,
45 Jahre Blumen verkauft haben, kriegt die Rentnerin in
Leipzig nach wie vor 7,8 Prozent weniger als ihre Kolle-
gin im Westen. Das sind bei Durchschnittslöhnen, wenn
man alles zusammen betrachtet, 100 Euro im Monat.

So herum muss man vergleichen. Man muss dieselben
Jobs vergleichen. Außerdem ist im Osten die Arbeitszeit
länger, und es gibt weniger Sonderzahlungen. Das heißt,





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)

insgesamt hat die Kollegin im Osten die deutlich
schlechtere Ausgangsposition und die niedrigere Rente.
Das könnte man mit dem Stufensystem deutlich ändern.
Machen Sie es ab dem 1. Juli!


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803915800

Herr Kollege Birkwald, erstens haben wir in der Tat

in vielen Berufen nach wie vor einen deutlichen Lohnun-
terschied zwischen Ost und West.


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Aber nicht nur da!)


Deswegen haben wir die Höherwertung von Rentenan-
sprüchen um 18,7 Prozent. Deswegen wollen wir diese
Höherwertung nicht auf einen Schlag abschaffen.

Zweitens. In der Tat haben wir auch sonst Lohnunter-
schiede. Die Rentenversicherung ist so gebaut, dass sie
beitragsbezogen ist. Weil wir aber wissen, dass im Osten
weniger verdient wird, gibt es diese Höherwertung.

Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Ich komme aus
Baden-Württemberg, einem Bundesland, in dem durch-
schnittlich sehr gut verdient wird. Schleswig-Holstein
dagegen hat ein Lohnniveau, das bei 75 Prozent des ba-
den-württembergischen Niveaus liegt. Die Kolleginnen
und Kollegen aus Schleswig-Holstein könnten mit glei-
chem Recht fragen: Warum ist angesichts solcher Lohn-
unterschiede 1 Euro Rentenbeitrag in Baden-Württem-
berg und in Schleswig-Holstein gleich viel wert? Diese
Frage könnte zum Beispiel Frau Kollegin Hiller-Ohm
aus Lübeck stellen.

Ja, wir wollen ein einheitliches Rentenrecht in Ost
und West. Aber wenn wir es auf einen Schlag einführen
würden, hieße dies, die Höherwertung würde wegfallen,
und damit hätten die Rentnerinnen und Rentner im Osten
weniger, wenn sie morgen einen Rentenantrag stellen
würden, als es nach heutigem Recht der Fall wäre. Das
wollen wir von der Großen Koalition nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Birkwald, wenn die Linken Gerechtigkeit tat-
sächlich ernst nehmen – das tun sie angeblich –, dann
darf nicht das passieren, was gemäß Ihrem Antrag pas-
sieren würde, nämlich dass plötzlich die Beitragszahlung
eines westdeutschen Arbeitnehmers oder einer westdeut-
schen Arbeitnehmerin weniger wert ist als die von je-
mandem aus Ostdeutschland. Es geht erst recht nicht,
dass die Verhältnisse umgekehrt werden. Ihr Antrag be-
deutet: Spaltung Deutschlands auf Dauer.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich bin Kölner!)


Damit habe ich dieses komplexe System einmal dar-
gestellt. Natürlich ist es richtig, dass wir 24 Jahre nach
der deutschen Einheit zu einem gemeinsamen System in
der Rente kommen müssen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha!)

aber doch bitte so, dass es nicht auf der einen oder ande-
ren Seite Verliererinnen und Verlierer in großer Zahl
gibt.

Das Rentensystem – Frau Kollegin Kolbe hat es ja er-
klärt – ist deshalb unterschiedlich angelegt worden, weil
man gedacht hat, dass die Lohngleichheit in Ost und
West relativ schnell zustande kommt. Bei Lohngleich-
heit müsste es keine Höherwertung geben, und der Ren-
tenwert in Ost und West wäre der gleiche. Wir wissen
heute, dass dies nicht automatisch geschieht.

Aber wir haben in der Ost-West-Angleichung eine
neue Dynamik. Letztes Jahr gab es eine deutliche Anhe-
bung des Rentenwerts Ost. Zum 1. Juli dieses Jahres
wird dies erneut der Fall sein. Das Lohnniveau gleicht
sich also schneller an, als wir gedacht haben.

Zum Schluss werden wir – Zielmarke ist das Jahr
2019, also das Auslaufen des Solidarpakts – hoffentlich
ein gemeinsames Rentenrecht in Ost und West durch ei-
nen Gesetzgebungsakt des Deutschen Bundestages
schaffen. Aber wir sollten dies bitte so tun, dass es weder
im Osten noch im Westen Verlierer und Verliererinnen
gibt und dass keine neuen Ungerechtigkeiten geschaffen
werden, die dafür sorgen, dass sich plötzlich Rentner aus
dem Westen bei uns über das Rentenrecht beschweren.
Wir müssen wirklich ein gleiches Rentenrecht schaffen,
was bedeutet, dass jeder in die Rentenversicherung ein-
gezahlte Euro das gleiche wert ist – im Osten und im
Westen. Das ist unser Ziel, das wir miteinander erreichen
wollen.

Wenn die Linken im Osten diese Wahrheit im Wahl-
kampf erzählen würden, dann wüssten die Menschen,
dass die Rentnerinnen und Rentner in Ost und West bei
der Großen Koalition besser aufgehoben sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803915900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1803916000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir mer-
ken alle, wie emotional die Rentendebatte ist. Das ist
nicht nur im Wahlkampf im Osten der Republik so, son-
dern auch hier. Aber wir wissen auch, dass der geringere
Rentenwert bei den Menschen im Osten ganz eindeutig
als ungerecht empfunden wird. Sie haben einfach das
Gefühl, dass ihre Lebensleistung weniger wert ist. Nach
so langer Zeit eines gemeinsamen Deutschlands wollen
sie eine gleiche Rente.

Ich kann diesen Wunsch verstehen und finde ihn auch
berechtigt. Genau darum bin ich sehr froh, dass wir im
Koalitionsvertrag einen ganz klaren Fahrplan zur Ren-
tenangleichung verankert haben. 2020 wird es keine Un-





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)



(A) (C)



(D)(B)

terschiede mehr geben. Das beschließen wir in dieser
Legislaturperiode.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
manchmal ist die Koalition schneller, als Sie vermuten.


(Beifall bei der SPD)


Heute Morgen gab es die erste Lesung zum Mindest-
lohn und zum Tarifpakt. In der letzten Sitzungswoche
haben wir das Rentenpaket beschlossen. Also, meine
Bitte: Hören Sie doch auf, im Kaffeesatz immer nur das
Schlechte herauszufischen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wenn Sie dafür unsere Gesetzentwürfe lesen würden,
dann wüssten Sie, dass der Mindestlohn bereits 2015
kommt und dass es spätestens 2017 überhaupt keine
Übergänge mehr gibt. Ich finde es sehr unlauter, gerade
an einem Tag wie heute das schlechtzumachen, was wir
für Juli 2016 angekündigt haben. Wir haben einen klaren
Fahrplan, und der gilt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur die SPD ist mit
einem ganz klaren Konzept für die Rentenangleichung
Ost/West in den Wahlkampf gegangen.


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, das stimmt nun wirklich nicht! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


– Auch die Grünen brauchen sich nicht aufzuregen. Hier
gibt es weder einen Fahrplan noch eine richtige Pro-
grammatik und keine festen Zusagen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch gar nicht! Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden!)


Aber wir müssen eines gemeinsam zur Kenntnis neh-
men: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Men-
schen im Osten der Republik die Linke mit 21,2 Prozent
und die SPD mit 19 Prozent gewählt haben. Das Ver-
trauen jedoch hat die Union bekommen. Meine Damen
und Herren, hier hat man auch Grenzen für das, was man
im Wahlkampf versprochen hat.

Die Unterschiede im Rentenrecht sind nach über
20 Jahren natürlich nicht mehr akzeptabel. Das haben
wir in der Großen Koalition im Koalitionsvertrag festge-
schrieben. Zwar wird der Unterschied in den Durch-
schnittslöhnen mit dem Höherwertungsfaktor ausgegli-
chen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an den Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] gewandt: Gut zuhören, Herr Weiß!)


aber alles das, was in der Rente pauschal berücksichtigt
wird, ist für Rentnerinnen und Rentner in den neuen
Bundesländern noch immer weniger wert: Kindererzie-
hungszeiten, Wehrpflicht, Zivildienst, Pflegezeiten und
Arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderun-
gen. Die Renten sind an die Lohnentwicklung gekoppelt.
Wir sind stolz darauf, dass Renten sich wie die Löhne
entwickeln. Das soll auch so bleiben. Das heißt – das
schreiben Sie auch in Ihrem Antrag –: Wir brauchen eine
positive Lohnentwicklung in Ostdeutschland. Nur mit
einer solchen Politik können wir die Probleme bei den
Renten im Osten wirklich lösen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sind wir uns einig!)


Das Problem, das wir in Ostdeutschland haben, ist,
dass durch den Zusammenbruch der desolaten Industrie
Tausende Erwerbsbiografien ein abruptes Ende gefun-
den haben, eine wirkliche Erholung der Wirtschaft aus-
blieb. Bis heute haben wir schlecht bezahlte und schlecht
abgesicherte Jobs, die damals entstanden sind, und im
Osten der Republik spielen Betriebsrenten so gut wie
keine Rolle. Diese Unterschiede, die ich eben genannt
habe, meine Damen und Herren, können wir über die
Angleichung des Rentenwertes nicht ausgleichen. Da-
rum muss etwas anderes passieren. 2015 kommt der
Mindestlohn. Etwa 30 Prozent der Beschäftigten im
Osten Deutschlands werden davon direkt profitieren. Sie
erhalten höhere Löhne. Dadurch steigen die Entgelt-
punkte für die Rente. Dadurch wiederum steigt auch der
Rentenwert: weil das Lohnniveau steigt. Meine Damen
und Herren, das kommt bei den Menschen in den neuen
Bundesländern an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Rentenpaket ist beschlossen. Auch die Mütter-
rente hilft. Die Solidarrente ist im Koalitionsvertrag fest-
geschrieben. Auch dadurch kommen höhere Renten.
Also: Wir haben einen festen Fahrplan zur Rentenanglei-
chung. Wir machen Politik für gerechtere Löhne und hö-
here Renten. Wir packen das an. Daran sollen uns die
Menschen im Land messen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803916100

Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich

das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Astrid Freudenstein (CSU):
Rede ID: ID1803916200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-

trag der Linkspartei ist nichts Neues. Sie fordern in re-
gelmäßigen Abständen das Parlament auf, die Renten in
Ost und West anzugleichen


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und verschweigen dabei, dass der Angleichungsprozess
seit Jahren in vollem Gange ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In vollem Gange?)


Dass Sie den Menschen im Osten einreden, sie seien ek-
latant benachteiligt, ist also nicht in Ordnung.





Dr. Astrid Freudenstein


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen. 1990, im
Jahre der Wiedervereinigung, hatte ein Entgeltpunkt im
Osten einen Wert von 15,95 D-Mark, im Westen waren
es 39,58 D-Mark. Das war ein riesiger Unterschied.
Doch schon im Jahr 2000 lag der Rentenwert im
Osten dann bei 42,26 D-Mark und im Westen bei
48,58 D-Mark. Innerhalb von zehn Jahren hatte eine rie-
sige Angleichung stattgefunden. Im kommenden Jahr
wird der Rentenwert im Osten auf 26,39 Euro gestiegen
sein und damit nur noch sehr knapp unter dem Wert im
Westen von 28,61 Euro liegen. Sagen Sie das den Men-
schen im Osten, statt beharrlich von einer Benachteili-
gung zu sprechen, die in dem Ausmaß nicht gegeben ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sagen wir! Genau so sagen wir es!)


Die Zahlen belegen, dass das Rentensystem mit der
Wiedervereinigung die bis heute größte Herausforde-
rung seiner Geschichte mit Bravour gemeistert hat. Nur
mit der von Adenauer eingeführten umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung war es überhaupt mög-
lich, die ostdeutsche Alterssicherung in das deutsche
Rentenversicherungssystem einzugliedern. Das war eine
ganz große Solidarleistung der Rentenbeitragszahler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Sie von der Linken sprechen in Ihrem Antrag von ei-
ner vergleichbaren Lebensleistung, die nicht in gleicher
Weise anerkannt würde. Sie beziehen sich dabei allein
auf den aktuellen Rentenwert. Das ist aber zu kurz ge-
dacht; das wurde in der Debatte mehrfach erwähnt.

Nach der Wiedervereinigung galt es, ein ausgeklügel-
tes, faires und allgemein akzeptiertes Verfahren zu fin-
den, das verschiedene Erwerbsbiografien, Lohnunter-
schiede und eben auch andere Faktoren berücksichtigt.
Die Gerechtigkeit an der Gleichheit eines einzigen Werts
festzumachen, ist deswegen hanebüchen, gerade in Be-
zug auf die Komplexität des Angleichungsprozesses.
Kollege Weiß hat das ja sehr schön erklärt.

Damit den Rentnern in Ostdeutschland aus den nied-
rigen DDR-Arbeitsentgelten kein Nachteil entsteht, wer-
den diese mit einem Umrechnungsfaktor um gut 18 Pro-
zent erhöht; auch das wurde erwähnt. So haben die
Versicherten in den neuen Bundesländern heute teils hö-
here Ansprüche als in den alten Bundesländern: Bei den
Männern sind es im Schnitt 77 Euro mehr, bei den
Frauen sogar 209 Euro mehr im Jahr.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil es nicht so viel Arbeitslosigkeit gab!)


Es gab – das hören Sie wieder ungern – in der sozia-
listischen Planwirtschaft eine vermeintliche, eine künst-
liche Vollbeschäftigung, somit durchgängige Erwerbs-
biografien und längere Lebensarbeitszeiten.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Arbeitslosigkeit am Arbeitsplatz! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben mehr gearbeitet!)


Frauen konnten oder mussten – wie auch immer – ihre
Kinder abgeben

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das glaubt Ihnen ja nicht einmal der Koalitionspartner!)


und gingen einer Erwerbsarbeit nach. Deshalb bekom-
men sie heute auch mehr Rente als ihre westdeutschen
Mitbürgerinnen, die auch gearbeitet haben, aber eben da-
heim in der Kindererziehung; und das ist nicht weniger
wert. Wenn sich jemand beschweren kann, dann sind es
tatsächlich die älteren Frauen im Westen.

Das feine und akzeptierte System, das gegenwärtig
die Renten organisiert, funktioniert, und wir wollen es
deshalb auch nicht verändern. In zwei Jahren, zum
1. Juli 2016, wird geprüft, wie weit sich der Anglei-
chungsprozess bereits vollzogen hat, und auf dieser
Grundlage werden wir dann entscheiden, was zu tun ist.
Wie man daraus eine Ankündigung ableiten kann, man
wolle nichts tun, kann ich nicht erkennen.

Eine Angleichung des Rentenwerts durch Zulagen,
wie Sie sie fordern, würde neue Ungerechtigkeiten
schaffen, anstatt alte abzuschaffen. Wir wollen zu einem
gemeinsamen Rentensystem in Ost und West kommen,
wir wollen aber keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803916300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/982 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäfti-
gungen in einem Ghetto

Drucksachen 18/1308, 18/1577

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


Drucksache 18/1649

Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/1650

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan
Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-
Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträg-
lich auszahlen

Drucksachen 18/636, 18/1649

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie einver-
standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Als erster Rednerin erteile ich das Wort Frau Staatsse-
kretärin Gabriele Lösekrug-Möller für die Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


G
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1803916400


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Bei der ge-
meinsamen Sondersitzung von Bundestag und Bundesrat
zum Gedenken an das Kriegsende hat der damalige Bun-
despräsident Horst Köhler am 8. Mai 2005 Folgendes
gesagt:

Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham
zurück auf den von Deutschland entfesselten Zwei-
ten Weltkrieg und auf den von Deutschen begange-
nen Zivilisationsbruch Holocaust.

Was wir heute beschließen werden, macht nichts gut
von all dem Schrecken, den die Nationalsozialisten wäh-
rend der Jahre 1933 bis 1945 verbreitet haben, nichts
von dem unermesslichen Leid, das sie Millionen von
Menschen angetan haben.

Der vorliegende Gesetzentwurf, kurz Ghettorentenge-
setz, ist aber ein wichtiges Zeichen der Anerkennung,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


der Anerkennung der Arbeit, die Menschen in Ghettos,
die im nationalsozialistischen Einflussbereich lagen, un-
ter unwürdigen Bedingungen geleistet haben. Sie taten
das – das Wort geht mir schwer über die Lippen – frei-
willig, wobei der Begriff „freiwillig“ aufgrund der Rea-
lität im Ghetto einen bitteren Beigeschmack hat; denn
die Menschen hegten die verzweifelte Hoffnung, der De-
portation und dem Tod entgehen zu können, wenn sie
eine Arbeit hatten. Das Leid, das sie erlitten haben, ist
heute unvorstellbar. Diese Menschen – es leben immer
noch Zehntausende von ihnen – wollen in der großen
Mehrzahl statt einer einmaligen Entschädigungszahlung
eine tatsächliche Sozialversicherungsrente für die Zeiten
der Beschäftigung im Ghetto.

Dass es sich bei Ghettoarbeit nicht automatisch um
Zwangsarbeit handelt, hat das Bundessozialgericht be-
reits im Jahr 1997 festgestellt. 2002 hat der Deutsche
Bundestag beschlossen, dass Renten aus Beschäftigun-
gen im Ghetto auch tatsächlich ab dem 1. Juli 1997 ge-
zahlt werden können. Allerdings war die Rechtsausle-
gung anfangs so strikt, dass viele Anträge zunächst
abgelehnt wurden. Erst 2009 wurde diese Rechtsausle-
gung geändert. Jetzt wurden die Renten zwar bewilligt,
aber aufgrund einer Ausschlussfrist nur für vier Jahre
rückwirkend, also meist ab 2005 mit einem Zuschlag.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern wir das.
Ab dem 1. Juli 2014 erhalten nun alle ehemaligen Ghet-
tobeschäftigten ihre Renten rückwirkend ab 1997. Zu-
dem werden alle Renten auf Antrag der Berechtigten von
Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt. Jeder und jede
entscheidet selbst, ob er oder sie eine Nachzahlung der
Rente wünscht – ohne die bisherigen Zuschläge – oder
ob er oder sie stattdessen die bisherige Rente mit Zu-
schlägen – jedoch ohne weitere Nachzahlung – behalten
möchte.

Aufgrund ihres hohen Alters müssen die ehemaligen
Ghettobeschäftigten nun schnell zu ihrem Recht kom-
men. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum
Ghettorentengesetz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ab-
schließend noch einmal betonen: Durch die Neuregelung
bei den Ghettorenten können wir nichts wiedergutma-
chen, doch wir stehen zu unserer Verantwortung für die
Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Wir
setzen ein Zeichen gegen das Vergessen. Und wir sorgen
dafür, dass die Arbeit im Ghetto anerkannt wird und die
Betroffenen nun zügig und unbürokratisch die Rente er-
halten, die ihnen zusteht.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803916500

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten

Matthias W. Birkwald von der Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803916600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Im Jahr 1997 stellte das Bundessozialgericht fest,
dass NS-Verfolgten, die in einem Ghetto arbeiteten, eine
Rente nach deutschem Recht zustehe. 2002 hatte dann
der Bundestag zum ersten Mal beschlossen, allen Über-
lebenden der Nazighettos eine Rente rückwirkend bis
zum Zeitpunkt des Urteils, also bis 1997, zu gewähren.
Aber erst heute, 17 Jahre nach dem BSG-Urteil, können
40 000 betroffene hochbetagte Jüdinnen und Juden in al-
ler Welt nun endlich hoffen, dass dieser Anspruch zum
ersten Mal Wirklichkeit werden wird. Dafür danke ich
der Bundesregierung und dem Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, namentlich Frau Ministerin Nahles
und Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller, und allen
anderen daran Beteiligten im Namen der Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie, meine Damen und Herren, haben sich erstens im
Gegensatz zu all ihren Vorgängerregierungen endlich





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)

den komplizierten rechtlichen Problemen gestellt, statt
sich hinter ihnen zu verstecken, haben die mehreren
Hundert Petitionen dazu ernst genommen; beispielhaft
sei hier nur die Petition des engagierten Sozialrichters
Dr. Jan-Robert von Renesse erwähnt. Sie haben zweitens
nun schnell eine Lösung gefunden. Drittens haben Sie
alle Regelungsvorschläge meiner Fraktion aus unserem
Antrag in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen.

Ich danke Ihnen aber vor allem dafür, dass Sie mit
dem heute zu verabschiedenden Gesetz seine unrühmli-
che zwölfjährige Vorgeschichte beenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn gegen eine angemessene und schnelle Auszahlung
der Ghettorenten gab es in Deutschland leider massive
Widerstände. Ich will das gerade heute sehr ehrlich und
sehr deutlich sagen: Die jüdischen Opfer sahen sich über
ein Jahrzehnt lang bürokratischen Blockaden durch die
Rentenversicherungsträger ausgesetzt. Ausführlich hat
das der Warschauer Historiker Stephan Lehnstaedt in ei-
nem Aufsatz in den Vierteljahresheften für Zeitge-
schichte im vergangenen Jahr beschrieben. Die Opfer lit-
ten unter einer meist restriktiven richterlichen Praxis,
wenn sie gegen ihre abgelehnten Bescheide klagten. Die
Bundes- und auch die Landesregierungen versagten als
Aufsichtsbehörden. Denn sie wussten um die Unzuläng-
lichkeiten des Gesetzes, aber sie weigerten sich bis
heute, daran etwas zu ändern, auch aus Sorge vor finan-
ziellen Belastungen. Im Jahr 2008 gab es deshalb 6 100
bewilligte Anträge und 65 000 abgelehnte Anträge. Erst
das BSG-Urteil aus dem Jahr 2009 hat dazu geführt, dass
Zehntausende von abgelehnten Bescheiden überprüft
wurden. 24 000 Bescheide wurden anschließend positiv
beschieden. Aber den Betroffenen – das ist das Pro-
blem – wurde der rückwirkende Rentenbeginn ab 1997
versagt.

Diese Vorgeschichte des heutigen Gesetzes ist kein
Ruhmesblatt für die deutschen Bundesregierungen die-
ser Zeit und auch nicht für die Rentenversicherungsträ-
ger dieser Jahre.

Sicher, es ist viel, viel zu spät dafür; aber ich bin den-
noch froh, dass den Ghettoarbeiterinnen und Ghettoar-
beitern als Opfern der faschistischen Gewaltherrschaft
heute nun endlich ein Stück Gerechtigkeit widerfahren
wird. Deswegen wird meine Fraktion diesem Gesetzent-
wurf zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es bleibt aber noch eine
Gerechtigkeitslücke. Es war die Klage einer polnischen
Jüdin, die zum Urteil von 1997 führte und den Stein bei
den Ghettorenten ins Rollen brachte. Aber ausgerechnet
für die Jüdinnen und Juden und die Sinti und Roma, die
seit dem 31. Dezember 1990 durchgängig in Polen woh-
nen, gibt es immer noch keine Lösung. Dem steht leider
das deutsch-polnische Rentenabkommen aus dem Jahre
1975 im Weg. Es blockiert in seiner derzeitigen Fassung
die Auszahlung von Ghettorenten in Polen. Darum for-
dern wir in unserem Entschließungsantrag die Bundesre-
gierung auf, hier ebenfalls schnell zu einer Lösung mit
der polnischen Seite im Interesse der hochbetagten Be-
troffenen zu kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte Sie, diesen letzten fehlenden Stein aus dem Weg
zu räumen und das Ghettorentengesetz so zu einem gu-
ten Abschluss zu bringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803916700

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten

Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1803916800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag mit dem Ge-
setz zur Ghettorente einen wichtigen Beitrag geleistet,
indem den Menschen, die von der Nazidiktatur in Ghet-
tos zusammengepfercht wurden und die dort selbstver-
ständlich um ihren Lebensunterhalt gekämpft und dafür
gearbeitet haben, erstmalig ein eigener Rentenanspruch
zuerkannt wurde. Es war 2002 eine wirklich großartige
Leistung des deutschen Parlaments, dies endlich zu be-
schließen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Mit dieser Entscheidung von 2002 haben wir dafür ge-
sorgt, dass denen, denen die Nazis durch die Verbrin-
gung in Ghettos ihre menschliche Würde rauben wollten
und geraubt haben, mit dem eigenen Rentenanspruch für
ihre in den Ghettos geleistete Arbeit ein Stück ihrer
Würde zurückgegeben wurde. Bei der Ghettorente geht
es in Wahrheit nicht nur um eine finanzielle Leistung; es
geht zuallererst um die Achtung der Würde des Men-
schen und um die Achtung der Würde der Arbeit. Das
war das Entscheidende bei dem Ghettorentengesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun war es leider so, dass viele Männer und Frauen,
die nach der Intention des Gesetzgebers einen Anspruch
auf Ghettorente hatten, erfahren mussten, dass aufgrund
hoher bürokratischer Hürden und einer ziemlich proble-
matischen Auslegung durch die Rentenversicherung ihre
Anträge abgelehnt wurden. Als nun das Bundessozialge-
richt hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes neues
Recht gesprochen hatte, konnte man eine solche Ghetto-
rente aber nur vier Jahre rückwirkend beantragen.

Mit der heutigen Gesetzesnovelle sorgen wir für Klar-
heit. Jeder und jede, der oder die unter den schrecklichen
Zuständen in einem Ghetto leben und arbeiten musste,
kann rückwirkend ab dem Jahr 1997 Rente beantragen.
Damit sorgen wir dafür, dass alle, die Anspruch auf eine
Ghettorente haben, gleichbehandelt werden. Das, was





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

2002 die eigentliche Absicht des Gesetzgebers war, wird
im Zuge dieser Novellierung deutlich und klar ins Ge-
setz geschrieben. Damit sorgen wir hoffentlich ein Stück
weit für mehr Gerechtigkeit bei der Ghettorente.


(Beifall im ganzen Hause)


Wie die Frau Staatssekretärin schon dargestellt hat,
kann jeder für sich berechnen lassen, ob er die bisherige,
vier Jahre rückwirkend gewährte Rente beziehen will
oder ob er sie neu berechnen lassen will und sich ab dem
Jahr 1997 ausbezahlen lassen will. Wir sorgen also für
Wahlfreiheit. Jeder Betroffene kann selbst für sich ent-
scheiden.

Zum Zweiten unterliegt derjenige, der es bislang viel-
leicht versäumt hat, einen Antrag zu stellen, dann, wenn
er erstmalig einen Antrag stellt, keiner Verfallsfrist.
Auch das ist wichtig.

Zum Dritten kann auch die Witwe oder der Witwer ei-
nes mittlerweile verstorbenen Ehepartners, der diese
Ghettorente hätte beantragen können und Anspruch auf
sie gehabt hätte, nachträglich für sich diese Witwenrente
beantragen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir de-
nen, die als Hinterbliebene von Anspruchsberechtigten
heute hochbetagt unter uns leben, die Möglichkeit eröff-
nen, die ihnen und ihrem Ehepartner zustehende Rente
in Form der Witwenrente zu beziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Recht ist
darauf hingewiesen worden – die Opposition will ja
überall ein Haar in der Suppe finden –, dass wir in Bezug
auf Polen eine Sondersituation haben, weil es ein
deutsch-polnisches Sozialversicherungsabkommen gibt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat nichts mit „Haar in der Suppe finden wollen“ zu tun, sondern ist ganz einfach im Interesse der Menschen!)


Darin ist geregelt – was ja auch nicht dumm, sondern ei-
gentlich gescheit ist –, dass Rentenansprüche, die ein
polnischer Staatsbürger gegenüber der Deutschen Ren-
tenversicherung hat, durch die polnische Sozialversiche-
rung eingelöst werden. Wenn wir hier im Deutschen
Bundestag ein Gesetz beschließen, hat das aufgrund die-
ses Sozialversicherungsabkommens nicht unmittelbar
Auswirkungen für jemanden in Polen. Aber natürlich
wünschen wir uns, dass jemand, der in Polen lebt, in
Polen, wenn auch nach polnischem Recht, eine eigene
Rente für im Ghetto geleistete Arbeit bekommt. Dass er
diese vorgesehene Ghettorente bekommt, die wir ihm
zugestehen, ist unser Wille.

Insofern begrüße ich es, Frau Bundesministerin
Nahles, dass die Bundesregierung bereits, bevor wir
heute dieses Gesetz beschließen, also sozusagen schon
in vorauseilendem Gehorsam, mit der polnischen Regie-
rung Gespräche aufgenommen hat, wie wir unter den
Bedingungen des deutsch-polnischen Sozialversiche-
rungsabkommens dafür sorgen können, dass möglichst
auch in Polen lebende ehemalige Ghettoarbeiterinnen
und -arbeiter ihre Rentenansprüche einlösen können.
Dafür ein herzliches Dankeschön an die Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Also doch kein Haar in der Suppe!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns
heute Lebende ist ja überhaupt nicht vorstellbar, was es
bedeutete, zusammengepfercht und vom normalen Le-
ben ausgeschlossen in einem Ghetto unter der Nazidikta-
tur zu leben und zu arbeiten. Eine Betroffene aus Ungarn
hat mir in meiner Eigenschaft als Präsident des
Maximilian-Kolbe-Werks – nicht in meiner Eigenschaft
als Abgeordneter – einen Brief geschrieben, nachdem sie
zu einem von deutscher Seite mitfinanzierten Erholungs-
aufenthalt eingeladen worden war. Sie schreibt Folgen-
des:

Die Frage „warum“ stellt sich ein jeder, der
Auschwitz überlebt hat. Warum wurde gerade ich
begünstigt oder bestraft? Dass dort, wo vollkom-
mene Familien spurlos verschwunden waren, wo
aus zehn Personen im Durchschnitt nicht mehr als
zwei zurückgekehrt waren, ich am Leben geblieben
bin, warum?

Ich brauchte nach Kriegsende 45 Jahre, um in 1990
nach Deutschland zu reisen, und 59 Jahre, um den
Mut zu fassen, nach Auschwitz – freiwillig aus ei-
genem Wunsch – in 2003 zurückzufahren. 1990
wollte ich meinen Augen nicht glauben. Ich habe
ein ganz anderes Deutschland gefunden …

Nach so vielen Jahren – das kann ich im Namen
meiner ehemaligen Lagergeschwister und Lager-
brüder auch sagen – hassen wir schon niemanden.
Wir sind zumeist weit über 80 Jahre alt, unsere Tä-
ter leben schon nicht. Wen sollen wir denn jetzt has-
sen? Das Leben hat uns auch überzeugt, dass Hass
nur weiter Hass und Angst als Erfolg hat.

Ich finde es menschlich bewegend und großartig, dass
diejenigen, denen so unendliches Leid geschehen ist,
heute – hochbetagt – zu einer solchen Haltung, zu einer
solchen Aussage fähig sind.


(Beifall im ganzen Hause)


Deshalb freue ich mich, wenn wir heute – hoffentlich
einstimmig – die Änderung des Ghettorentengesetzes
beschließen und solch großartigen Menschen, die
Schreckliches und Schlimmes in ihrem Leben erfahren
haben, durch die Ghettorente ein Stück ihrer Würde zu-
rückgeben können.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803916900

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
hat jetzt zwölf Jahre gedauert, bis der Deutsche Bundes-
tag es schafft, den damals einstimmigen Beschluss recht-
lich so klarzustellen, dass dem Willen, den der Deutsche
Bundestag vor zwölf Jahren geäußert hat, tatsächlich
auch Geltung verschafft wird. Die Phase dazwischen war
durchaus beschämend. Das ist beschrieben worden. Der
Wille wurde in der Verwaltung nicht umgesetzt. Deshalb
hat es bis zum Sozialgerichtsurteil von 2009 gedauert,
bis rechtliche Klarstellung erfolgt ist. Dann wurden halt
nur rückwirkend ab 2005 die Renten gezahlt, im Gegen-
satz zu dem Willen des Gesetzgebers, dass das ab 1997
passieren sollte.

Es ist gut, dass wir so einmütig sind. Aber für diese
beschämende Phase können wir uns bei den Betroffenen
– auch wenn es nicht unser Wunsch war – eigentlich nur
entschuldigen. Von ihnen sind in der Zwischenzeit ja
auch schon viele gestorben; das muss man an der Stelle
ja auch noch einmal sagen. Das ist mehr als bitter. Das
ist eine bewegende Geschichte.

Ich will noch einmal kurz beschreiben, was in den
letzten vier Jahren passiert ist, denn es war für mich und,
wie ich glaube, auch für alle Beteiligten ein ganz beson-
derer Prozess – nicht nur wegen des Themas, sondern
weil wir da einen Parlamentarismus gelebt haben, der in
meinen Augen vorbildlich ist. Wir haben nämlich ge-
meinsam darum gerungen, wie wir eine Lösung hinkrie-
gen, damit die Menschen ab 1997 ihre Renten bekom-
men.

Ich möchte mich an der Stelle auch noch einmal bei
allen seinerzeit beteiligten Berichterstattern bedanken:
bei Karl Schiewerling, bei Peter Weiß, bei Volker Beck
aus meiner Fraktion, bei Ulla Jelpke und Matthias
Birkwald von den Linken, aber auch bei Heinrich Kolb
von der FDP und last, not least bei Toni Schaaf von der
SPD, der wesentlich mit dazu beigetragen hat, dass wir
das Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, und da-
bei immer eine treibende Kraft war.


(Beifall im ganzen Hause)


Es war eine schwierige Geschichte; denn es ist ren-
tenrechtlich so, dass man dann, wenn man später Rente
bezieht, einen Zuschlag bekommt. Die Menschen, die ab
2005 ihre Rente bekommen haben, haben eine höhere
Rente bekommen als dann, wenn sie sie schon ab 1997
bekommen hätten.

Bis es dazu kam, dass heute der Gesetzentwurf auf
dem Tisch liegt, gab es vielfältige Überlegungen. Es
wurde die Möglichkeit erörtert, dass die Menschen eine
Nachzahlung bekommen, dafür aber für die Zukunft eine
geringere Rente erhalten. Da haben wir gefragt: Kann
man das den Menschen wirklich zumuten, dass man
sagt, ihr kriegt eine geringere Rente? Dann haben wir
über steuerfinanzierte Entschädigungslösungen nachge-
dacht. Das ist alles sehr kompliziert, aber alles durchaus
machbar.
Es gab einen Moment, in dem der Prozess fast ge-
stoppt worden wäre, weil gesagt worden ist: Durch die
Rentenaufschläge wird doch ausgeglichen, dass die
Menschen erst später Rente bekommen haben. Wir
konnten aber nachweisen, dass dem nicht so ist. Es ist
vielmehr so, dass Verluste in der Größenordnung eines
vierstelligen Euro-Betrages entstehen. Das sind keine
Beträge, mit denen man die Schuld wieder begleichen
kann, aber sie sind mehr als symbolisch und für die Be-
troffenen teilweise durchaus viel Geld. Es ist gut, dass
wir das hinbekommen haben, dass die Menschen dieses
Geld nun auch ausgezahlt bekommen können.

Wir hatten dann eine Anhörung, in der gesagt worden
ist, beide Wege – Entschädigungen und Rentennachzah-
lungen – sind prinzipiell möglich; beide sind schwierig.
Es gab aber eine klare Äußerung von den Betroffenen
und von den Betroffenenverbänden; sie haben gesagt:
Wir wollen eine rentenrechtliche Lösung, wir wollen
keine Entschädigung. Wir wollen kein Almosen, son-
dern wir haben gearbeitet und möchten dafür unsere
wohlverdiente Rente haben.

Wir waren eigentlich vor einem Jahr fast schon so
weit, wie wir heute sind. Leider ist es uns nicht schon
vor einem Jahr gelungen, das Gesetz zu verabschieden.
Es gab Widerstände. Ich weiß nach wie vor nicht, von
wem und mit welchen Gründen. Ich kann es nicht wirk-
lich nachvollziehen. An der Stelle muss ich es einfach
sagen: Ich finde, die Leute, die dafür verantwortlich
sind, dass wir das Gesetz nicht schon vor einem Jahr ver-
abschiedet haben, sollten sich etwas schämen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn in der Zwischenzeit sind wieder mehr Menschen
gestorben. Im politischen Prozess ist ein Jahr wenig, für
Menschen, die 85 Jahre alt sind, die 90 Jahre alt sind, ist
ein Jahr sehr viel. Umso besser ist es – dafür möchte ich
der Bundesregierung und allen Beteiligten danken –,
dass diese Widerstände überwunden worden sind, wir
den Gesetzentwurf sehr zügig beraten haben und dass
wir dieses Gesetz heute einstimmig verabschieden kön-
nen.

Ich möchte mit einem Zitat aus der Anhörung enden.
Uri Chanoch, einer der Überlebenden, hat gesagt:

Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen,
es ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghettoin-
sassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekom-
men, und das ist einfach. … Es ist wirklich nicht
viel. … macht das mit dem Termin 1997 und fertig.
Und damit ist dann Schluss, mehr wollen wir nicht
von euch. Wir bitten nur darum, dass das erledigt
wird.

Das schaffen wir heute – viel zu spät, aber wir schaf-
fen es und senden damit, wie ich finde, ein gutes Signal
an die Betroffenen.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803917000

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1803917100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestern haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales
der Änderung des Ghettorentengesetzes einstimmig zu-
gestimmt. Alle Fraktionen sind sich einig, dass die Än-
derungen, die wir heute in zweiter und dritter Lesung be-
schließen, für die Betroffenen endlich etwas mehr
Gerechtigkeit bedeuten. Ich bedanke mich schon zu Be-
ginn meiner Rede ganz herzlich für diese Einmütigkeit
im Deutschen Bundestag.


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht – das wurde
schon gesagt – um Menschen, die in der NS-Zeit unter
schlimmsten Bedingungen und zu Hungerlöhnen in von
den Nazis errichteten Ghettos gearbeitet haben. Ihre Ar-
beitskraft wurde ausgenutzt, ihr Leben sollte keine Zu-
kunft haben. Dennoch wurden für sie Rentenbeiträge ab-
geführt. Die Betroffenen selbst haben jahrzehntelang
gefordert, dass sie für diese Zeit eine Rente und nicht
etwa eine Entschädigung bekommen, weil sie das, was
sie dort unter Zwangsbedingungen, eingesperrt im
Ghetto, erlitten haben, dennoch als Arbeit empfunden
haben.

Bis Ende 2013 sind insgesamt rund 57 000 Ghettoren-
ten bewilligt worden. 21 500 dieser Renten wurden we-
gen der Anwendung der Regelung, nur vier Jahre rück-
wirkend zu zahlen, und knapp 17 000 von ihnen wegen
versäumter Antragsfrist erst später ausgezahlt. Etwa
zwei Drittel aller Renten werden jetzt durch dieses Ge-
setz rückwirkend ab 1997 ausgezahlt. Etwa zwei Drittel
der Antragsteller werden jetzt eine entsprechende Unter-
stützung bekommen.

Als der Bundestag das Ghettorentengesetz 2002 be-
schlossen hat, war für uns nicht abzusehen, dass es dazu
führen wird, dass in den ersten Jahren etwa 90 Prozent
der Anträge, also der allergrößte Teil, abgelehnt werden.
Erst durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts
2009 hat sich das verändert. Etwa die Hälfte aller bislang
abgelehnten Anträge wurde dann rückwirkend bewilligt.
Aber das Problem war, dass sie nur vier Jahre rückwir-
kend bewilligt wurden; das liegt an unserem Sozialrecht.
Dies wurde von den Betroffenen als Unrecht empfun-
den, weil andere diese Rente ja ab 1997 bekamen. Es
ging um Ansprüche, die die Menschen verdient haben.
Auch durch die Möglichkeit, stattdessen Zuschläge zu
bekommen, wurde man dem Gerechtigkeitsbedürfnis der
Opfer nicht gerecht. Sie wollten ihr gutes Recht. Sie
wollten die Ghettorenten ab 1997, wie sie ihnen auch
laut Gesetz zustehen.

Es ging und geht den Opfern um die Anerkennung ih-
rer geleisteten Arbeit. Mit den drei Änderungen, um die
es heute geht, erzielen wir tatsächlich Fortschritte: Wir
geben erstens die zurückwirkende Vierjahresfrist auf.
Wir schaffen zweitens die Optionsmöglichkeit einer
rückwirkenden Zahlung ab 1997 oder einer Zahlung mit
Zuschlägen ab 2005. Drittens – auch das ist interessant –
streichen wir die Antragsfrist, die bisher im Jahre 2003
endete. Noch heute stellen Menschen Anträge. Noch
heute erfahren Menschen, dass sie aufgrund ihrer Arbeit
in Ghettos in der damaligen Zeit eine Rente bekommen
können. Deshalb ist es gut, dass wir die Antragsfrist
streichen.


(Beifall im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Beratungen,
die wir sehr intensiv geführt haben, sind von den Grünen
und den Linken zwei Anliegen vorgetragen worden; sie
sind auch hier gerade vorgestellt worden. Ich will dazu
gerne etwas sagen.

Die Fraktion Die Linke hat die Überlebenden, die
heute in Polen leben, ins Gespräch gebracht. Viele Men-
schen waren ja aufgrund der deutschen Besatzung
Polens im Zweiten Weltkrieg dort in Ghettos. Für diese
Personengruppe gilt das Ghettorentengesetz nicht, weil
es ein Sozialabkommen zwischen Deutschland und
Polen aus dem Jahr 1975 gibt, in dem vereinbart ist, dass
alle Menschen, die in Polen leben, vom dortigen Sozial-
versicherungsträger auch für in Deutschland geleistete
Arbeit – das Gleiche gilt auch umgekehrt – eine Rente
bekommen. Deshalb kann dieses Abkommen nicht ein-
seitig von uns verändert oder aufgekündigt werden. Ich
bin sehr froh, dass die Bundesregierung bereits Gesprä-
che führt – diese Gespräche wird sie auch weiterhin
führen –, um dieses Problem im Sinne der polnischen
Ghettobeschäftigten einvernehmlich so zu lösen, dass sie
den anderen Personen gleichgestellt werden.

Mit dem Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke, der uns gerade eben erst vorgelegt wurde, wird
also eigentlich das gefordert, was wir schon tun, nämlich
Gespräche in diese Richtung zu führen. Wir unterstützen
die Bundesregierung bei ihren Gesprächen und wün-
schen ihr viel Erfolg im Sinne der Betroffenen. Wir ma-
chen das aber auf dem diplomatischen Weg und nicht
über diesen Antrag.

Die Fraktion der Grünen hatte vorgeschlagen, dass es
den Hinterbliebenen – dem Witwer bzw. der Witwe –
von Ghettorentenberechtigten möglich sein soll, auch
nach dem Tod der bzw. des Berechtigten einen Antrag
auf Ghettorente zu stellen. Diese Forderung habe ich aus
den Reihen der Betroffenen zwar noch nicht gehört; aber
selbst wenn jemand sagt, dass die betroffene Person zeit-
lebens keinen Antrag auf Ghettorente gestellt hat, weil
die Sorge vor einer Ablehnung so groß war oder weil
man keine schlimmen Erinnerungen wecken wollte,
kann man, da die Rente durch eine individuelle Willens-
erklärung beantragt werden muss, nach deren Tod keine
Rente für diese Person beantragen. Man kann aber sehr
wohl eine Hinterbliebenenrente beantragen. Auch das
passiert heute noch, und es ist wichtig, dass das weiter-
geht. Wir haben die Forderung allerdings sehr ernsthaft
geprüft und sind zu dem heute vorliegenden Gesetzent-
wurf gekommen.





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Präsident des
Zentralrates der deutschen Juden, Dieter Graumann, hat
vor ein paar Wochen in der Jüdischen Allgemeinen ge-
schrieben – ich zitiere –:

Das Leid, das diese mittlerweile hochbetagten
Menschen erfahren haben, lässt sich mit nachträg-
lich gezahlter Rente gewiss nicht wiedergutmachen.

Er betonte, dass die früheren Ghettoarbeiter bisher mit
bürokratischen Vorschriften abgekanzelt worden seien.
Jetzt würden sie aber endlich ernst genommen und wür-
dig behandelt. Herr Graumann bezeichnet diese Renten-
regelung als eine „Geste der Menschlichkeit“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beschämend,
dass wir diesen Beschluss erst so spät, 69 Jahre nach
Ende des Zweiten Weltkrieges, 69 Jahre nach Ende der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, fassen, aber es
ist gut, dass wir es heute tun, und es ist vielleicht ein be-
sonderes Zeichen, dass wir diese überfällige „Geste der
Menschlichkeit“ einstimmig zeigen werden. Herzlichen
Dank dafür an die Bundesregierung und an alle Fraktio-
nen im Deutschen Bundestag.


(Beifall im ganzen Hause)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803917200

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Strebl

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Matthäus Strebl (CSU):
Rede ID: ID1803917300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter
Lesung die Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Die-
ses Gesetz betrifft einige Zehntausend Menschen und ist
in mehrfacher Hinsicht von hoher Symbolkraft. Es ist
ein deutlicher Hinweis auf die schwärzesten Jahre deut-
scher Geschichte und der in deutschem Namen begange-
nen Verbrechen. Die heutige Debatte zeigt zugleich aber
auch, dass wir uns als Deutscher Bundestag unserer Ver-
antwortung stellen – wenn auch mit großer Verspätung.

Rund 70 Jahre sind nunmehr vergangen – das ent-
spricht zwei Generationen –, seitdem das nationalsozia-
listische System zusammengebrochen ist. Zur men-
schenverachtenden Politik der damaligen Zeit gehörte
es, Menschen in Ghettos zu sperren, weil sie anders wa-
ren, als die Führung es sich vorstellte. Nicht nur in den
Konzentrationslagern, sondern auch in diesen Ghettos
kämpften die Menschen – vornehmlich jüdische Mitbür-
gerinnen und Mitbürger – um ihr Leben.

Historiker befassen sich damit, und die Geschehnisse
von damals sind heute zumeist Gegenstand von Gedenk-
veranstaltungen. Es zeigt sich, dass sie zwar untrennbar
zu unserer Geschichte gehören, aber keineswegs Vergan-
genheit sind – bewältigte Vergangenheit schon gar nicht.

Wir können damit erlittenes Unrecht nicht wiedergut-
machen. Mit dem Gesetz zur Ghettorente wollen wir ei-
nen Beitrag dazu leisten, die Folgen dieses Unrechts we-
nigstens teilweise zu mildern.

Lassen Sie mich in wenigen Worten den Weg nach-
zeichnen, der zu der heutigen Beschlussfassung geführt
hat:

1997 hatte eine ehemalige Näherin aus dem Ghetto
Lodz auf Zahlung ihrer deutschen Rente geklagt und
auch gewonnen. Daraus entstand 2002 das Gesetz zur
sogenannten Ghettorente. Alle ehemaligen Ghettoinsas-
sen, die in einem Ghetto gearbeitet hatten, konnten nun
Rentenanträge stellen.

Rund 70 000 Betroffene machten davon Gebrauch,
doch fast alle Anträge wurden leider abgelehnt. Die Be-
gründung damals lautete: Die Arbeit im Ghetto war nicht
freiwillig, sondern Zwangsarbeit, und Zwangsarbeit war
aus den Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwor-
tung und Zukunft“ zu entschädigen. Viele Sozialrechtler
gaben dem damaligen Zeitgeist entsprechend den Ren-
tenträgern recht.

Es stellte sich allerdings schon bald, wie der Histori-
ker Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitge-
schichte formulierte, die Frage nach dem Unterschied
zwischen einem KZ-Häftling, der einem Kommando un-
terstellt ist, der durchgezählt wird, der eingeordnet wird,
und einem Ghettoinsassen, der sich selbst bemühen
muss, eine Arbeit zu bekommen. Man konnte sich nicht
vorstellen, dass Arbeit in einem Ghetto freiwillig und
ohne Zwang geleistet werden konnte. 2009 hat es dann
eine Änderung in der Beurteilung gegeben, und im Juni
2009 hat das Bundessozialgericht dementsprechend ent-
schieden.

Unter den gegebenen Umständen reicht es seitdem
zur Bestätigung der Freiwilligkeit aus, wenn der Antrag-
steller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden
musste. Alle abgelehnten Bescheide werden seither neu
bearbeitet. Exakt 23 818 von 26 186 überprüften und ab-
gelehnten Rentenanträgen wurden nunmehr bewilligt.

Allerdings gab es weiterhin ein als Unrecht empfun-
denes Problem: Die Renten wurden nicht rückwirkend
ab dem Jahr 1997, sondern wegen der im allgemeinen
Sozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal vier
Jahren erst ab Januar 2005 gezahlt. Zum Ausgleich für
diesen späteren Rentenbeginn erhielten die Betroffenen
Rentenzuschläge in Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Wegen
des verschobenen Rentenbeginns ergaben sich also Zu-
schläge bei nachträglich bewilligten Ghettorenten von
rund 45 Prozent.

Trotz dieser begrüßenswerten finanziellen Regelun-
gen wurde der spätere Rentenbeginn von den Rentenbe-
rechtigten, ungeachtet der hohen Rentenzuschläge, als
ungerecht empfunden. Das heute zur Verabschiedung
stehende Gesetz ermöglicht es, dass künftig auch die
nachträglich nur für vier Jahre rückwirkend bewilligten
Renten auf Antrag bereits ab Juli 1997 ausgezahlt wer-
den können – in diesem Fall jedoch ohne die entspre-
chenden Rentenzuschläge.

Um weitere Ungerechtigkeiten zu vermeiden, können
auch diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen ei-





Matthäus Strebl


(A) (C)



(D)(B)

nen Antrag auf Ghettorente nicht innerhalb der bisher
geltenden Antragsfrist 30. Juni 2003 gestellt haben, ihre
Rente rückwirkend ab 1997 erhalten, vorausgesetzt, die
Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Uns allen in die-
sem Hohen Hause ist bewusst, dass die Berechtigten
überwiegend hochbetagt sind. Wir stellen daher sicher,
dass sie selbst unmittelbar nach Erhalt ihres Rentenbe-
scheides über ihre Rentennachzahlung verfügen können.

Im Vertrag der Großen Koalition haben CDU/CSU
und SPD festgelegt – ich zitiere –:

Wir sind uns der historischen Verantwortung für die
Überlebenden des Holocaust, die in der NS-Zeit un-
sägliches Leid erlebt haben, bewusst.

Wir wollen daher, dass den berechtigten Interessen
der Holocaustüberlebenden mit einer angemessenen Ent-
schädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit
Rechnung getragen wird.

Diese Koalition ist nicht einmal ein halbes Jahr im
Amt. Sie erfüllt mit dem vorliegenden Gesetz zwar auch
eine finanzielle Verpflichtung, mehr noch aber ein mora-
lisches Gebot. Alle Fraktionen dieses Hohen Hauses tra-
gen dieses Gesetz mit. Ich bin mir sicher, dass wir dieses
Gesetz heute geschlossen verabschieden werden.

Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803917400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Ren-
ten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1649, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/1308 und 18/1577 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Stimmt jemand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Enthält
sich ein Mitglied des Hauses? – Auch das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen aller
Mitglieder des Hauses angenommen.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir sind noch immer bei Tagesordnungspunkt 10 a
und kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
18/1661. – Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak-
tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 10 b. Wir setzen die Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/1649 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 18/636 mit dem Titel
„Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentenge-
setzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, Tom
Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Anerkennung für Peacekeeper in inter-
nationalen Friedenseinsätzen

Drucksache 18/1460
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
würde gerne mit der Geschichte von Stephan Fantham
beginnen. Er ist Neuseeländer und hat sich im Rahmen
der UN-Friedensmission UNMIS in Juba für mehr Frie-
den und Sicherheit engagiert. Er ist verwundet worden,
als der UNMIS-Wagen über eine Landmine gefahren ist,
und hat dabei einen Fuß verloren. Nur ein paar Monate
später war er wieder dort. Ich finde, dieses Engagement
ist sehr beeindruckend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Er ist einer von derzeit über 240 000 Menschen welt-
weit, die sich in den Krisenregionen dieser Welt für die
Menschen dort, für bessere Lebensbedingungen und mehr
Sicherheit engagieren. Sie tun das als zivile Experten, Sol-
daten oder Polizisten im Rahmen von Missionen der Ver-
einten Nationen, der Europäischen Union, der OSZE, von
NGOs oder Durchführungsorganisationen der Entwick-
lungszusammenarbeit. Sie nehmen so wichtige Aufga-





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

ben wahr wie Wahlbeobachtung, Menschenrechtsschutz
und Entwicklung, oder sie tragen zur Entstehung eines
gerechten Justizsystems bei oder unterstützen eine Re-
gierung darin, Good Governance zu leisten.

Viele von uns haben von diesem Pult aus schon ge-
sagt, dass sich die Konflikte und Krisen dieser Welt – ei-
gentlich ist das eine Binsenweisheit – nicht mit militäri-
schen Mitteln lösen lassen. Es ist ein langer und steiniger
Weg, bis es zu Frieden und Sicherheit kommt. Die Men-
schen, die sich dafür engagieren, tun das unter hohem
persönlichem Einsatz, getrennt von ihren Familien und
oft unter der Gefahr, verwundet oder sogar getötet zu
werden. Diese Menschen verdienen unseren Dank und
unsere Anerkennung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es ist nicht damit getan, dass Gewalt endet oder dass
es einen Waffenstillstand gibt. Echter Friede ist letztlich
mehr als nur die Abwesenheit von Gewalt. Die frühzei-
tige Prävention von Krisen und Gewaltausbrüchen ist si-
cherheitspolitisch effizienter und ökonomischer. Sie ist
in der Regel erfolgreicher und häufig politisch konsens-
fähiger als der Einsatz militärischer Mittel. Aktuell gibt
es eine große Debatte über die Zukunft der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik. Ich habe mich an eini-
gem in den Reden von Bundespräsident Gauck, Verteidi-
gungsministerin von der Leyen und Bundesaußenminis-
ter Steinmeier gestört. Aber ganz besonders verwundert
war ich darüber, dass in diesen Reden die Vereinten Na-
tionen kaum vorgekommen sind, dass man sie sozusagen
mit der Lupe suchen musste und dass gerade auf die zi-
vilen und diplomatischen Mittel kaum eingegangen
wurde.

Laut einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung da-
rüber, was die deutsche Bevölkerung über die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik denkt, ist die Unterstüt-
zung für zivile Mittel und außenpolitisches Engagement
groß. Auch die Zustimmungswerte betreffend humani-
täre und friedenserhaltende Einsätze sind – das hat mich
überrascht – hoch. Wenn man sich aber einige Zahlen in
diesem Zusammenhang anschaut, dann sieht man:
Deutschland ist zwar der viertgrößte Geldgeber für VN-
Friedensmissionen; aber bei der Personalbereitstellung
belegen wir Rang 48. Von 6 155 deutschen Einsatzkräf-
ten sind derzeit genau 333 in VN-Friedensmissionen ak-
tiv. 5 700 Soldaten und Soldatinnen sind im Auslands-
einsatz. Die Zahl der zivilen Experten und der Polizisten
beträgt 147 bzw. 188. Ich finde, da geht mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Ute Finckh-Krämer [SPD])


Wenn wir uns alle so einig sind, dass Konflikte vor al-
lem zivil gelöst werden müssen, dann müssen wir uns
schon die Frage stellen: Haben wir in ausreichendem
Maße Instrumente, finanzielle Mittel, Strukturen und
Aufmerksamkeit dafür zur Verfügung? Es gibt gute An-
sätze. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Zentrum
für Internationale Friedenseinsätze. Wir haben unter
Rot-Grün einiges auf den Weg gebracht. Wir schlagen in
unserem Antrag, der heute zur Debatte steht, noch eini-
ges vor, was dazu dient, gerade die Vereinten Nationen,
die Europäische Union und die OSZE und ihre krisen-
präventiven Instrumente zu stärken. Dazu braucht es
aber auch mehr politischen Willen.

Wir müssen uns noch eine zweite Frage stellen: Wid-
men wir den Menschen und ihrem Engagement in den
entsprechenden Missionen genügend Aufmerksamkeit?
Ist in Bezug auf deren Betreuung und Fürsorge, aber
auch in Bezug auf Dank und Anerkennung alles in Ord-
nung? Wir haben als grüne Bundestagsfraktion im letz-
ten Jahr ein Fachgespräch für zivile und militärische
Rückkehrerinnen und Rückkehrer organisiert. Das waren
sehr unterschiedliche Gruppen mit sehr unterschiedli-
chen Ansichten. Aber eines war ihnen allen gemeinsam:
Sie alle hatten das Gefühl, sich in einem wichtigen Ein-
satz engagiert zu haben. Aber nicht alle hatten, als sie
zurückgekehrt waren, das Gefühl, dass Interesse an ihren
Erfahrungen und Erlebnissen bestand, dass die Lessons
Learned im politischen Raum angekommen sind. Viel-
leicht haben Sie, meine Damen und Herren, auch Ge-
spräche mit Polizeibeamten geführt, die in Afghanistan
eingesetzt waren. Diese erzählen, dass sie, nachdem sie
einen so wertvollen Beitrag für die Ausbildung der af-
ghanischen Sicherheitskräfte geleistet haben, von ihren
Kollegen nach der Rückkehr gefragt wurden: Einen
schönen Urlaub in Afghanistan gehabt? – Wie oft lesen
wir in den Medien von Menschen, die sich in solchen
Friedensmissionen engagieren?

Meine Damen und Herren, nächste Woche, am
11. Juni, begehen wir zum zweiten Mal den Tag des
Peacekeepers in Deutschland. Das ist ein bisschen der
Aufhänger unseres heutigen Antrags. Es ist ein guter
Anfang, dass es einen solchen Tag gibt und dass wir ihn
zum zweiten Mal feiern. Aber er sollte für uns auch An-
sporn sein, mehr zu tun; denn wir können noch einiges
machen. Es geht um eine bessere Versorgung und Be-
treuung der zivilen Einsatzkräfte, aber auch darum, für
diese Mittel mehr Öffentlichkeit zu schaffen sowie an
Schulen und Universitäten von dem Engagement dieser
Menschen zu berichten. Die Menschen, die solche Auf-
gaben übernehmen, dürfen ihr Engagement nicht als
Karrierehemmnis erleben. Vielmehr muss das etwas
Positives in ihrer politischen Laufbahn sein. Auf all das
zielen unsere Vorschläge ab, die wir heute mit unserem
Antrag vorlegen.

Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich kann mir
nicht vorstellen, dass man wirklich etwas dagegen haben
kann. Ich möchte Sie gerne dazu einladen, dass wir uns
gemeinsam an einen Tisch setzen und wir uns hier viel-
leicht überlegen, was wir verbessern wollen und können,
und dass Sie bei unserer Initiative mitmachen. Ich
glaube, es wäre ein schönes Zeichen, wenn wir nächstes
Jahr ein drittes Mal den Tag des Peacekeepers feiern.
Auf diesem Weg sollten wir ein gutes Stück vorankom-
men. Ich finde, dass die Menschen, die diese wertvollen
Aufgaben erfüllen und dieses gefährliche Engagement
auf sich nehmen, das auch verdient haben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803917500

Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1803917600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein-
mal möchte ich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gerne dafür danken, dass sie mit ihrem Antrag die Frage,
wie wir mehr Wertschätzung für Peacekeeper in interna-
tionalen Friedensmissionen erreichen können, zum
Thema gemacht und damit in die Debatte eingebracht
hat.

Ich glaube, wir alle haben vor dem Hintergrund der
öffentlichen Anhörung unseres Unterausschusses für Zi-
vile Krisenprävention zwei wesentliche Punkte im Kopf,
wenn wir an das Thema denken: zum einen, dass in den
vergangenen zehn, zwölf Jahren unheimlich viel passiert
ist, und zum anderen, dass es natürlich noch viele Aufga-
ben gibt und die Wegstrecke in die Zukunft lang ist. In-
sofern haben Sie durchaus einige Punkte angesprochen,
die aus meiner Sicht vollkommen richtig sind.

Es ist vieles passiert. Wir haben es in den letzten zehn
Jahren geschafft, die Infrastruktur zu implementieren
und letztlich auch zu professionalisieren. Sie haben bei-
spielsweise das Zentrum für Internationale Friedensein-
sätze angesprochen. Auch die Bundesakademie für
Sicherheitspolitik ist hier zu nennen oder der Zivile Frie-
densdienst. Außerdem wurde die wissenschaftliche Be-
gleitforschung in diesem Zusammenhang angesprochen.

Es ist schon sehr viel passiert. Die Tatsache, dass viel
Geld fließt, dass Deutschland 7,14 Prozent des Haus-
halts der Vereinten Nationen finanziert, dass wir gemein-
sam mit den USA und Japan 40 Prozent der Friedens-
missionen finanzieren, zeigt vor allem zwei Dinge:
Erstens. Deutschland ist multilateral unterwegs: im Rah-
men von Missionen der Vereinten Nationen, im Rahmen
von Missionen der OSZE und im Rahmen von EU-Mis-
sionen. Zweitens. Wir lassen uns diese Einsätze viel
Geld kosten. Auch damit ist eine Botschaft ausgedrückt.

Es ist natürlich noch einiges zu tun. Wir sind uns da-
rüber einig, dass es darum geht, ein Leitbild für die zi-
vile Krisenprävention zu entwickeln, ressortübergreifend
die Koordinierung der Akteure zu verbessern und im Be-
reich der Krisenfrüherkennung besser zu werden. Wir
müssen auch besser werden, wenn es darum geht, von
Early Warning zu Early Action zu kommen, und vieles
andere mehr. Wir brauchen mehr öffentliche Anerken-
nung für diejenigen, die in Peacekeeping-Einsätzen sind.
Es sind immerhin 49 solcher Einsätze, an denen wir
Deutsche beteiligt sind.

Es ist also vieles zu tun. Trotzdem muss ich Ihnen sa-
gen, dass der Antrag Ihrer Fraktion letztlich in vielen
Fällen alter Wein in neuen Schläuchen ist; denn wir ha-
ben vieles von dem, was Sie fordern, bereits umgesetzt.
Wer einen Blick in die Koalitionsvereinbarung wirft, der
sieht, dass wir diesen Weg ganz konsequent weiterge-
hen. Wir haben den festen Willen, das im Laufe dieser
Legislaturperiode umzusetzen. Ich denke beispielsweise
daran, dass wir in der Tat mehr Polizeikräfte in zivilen
Friedensmissionen benötigen. Dabei geht es darum, dass
wir im Rahmen einer Bund-Länder-Vereinbarung zu gu-
ten Lösungen kommen. Wenn Sie mithelfen, dass wir
mit der grün-roten und den rot-grünen Landesregierun-
gen am Ende zu einem guten Ergebnis kommen, dann
haben wir, glaube ich, alle etwas beigetragen.

Frau Brugger, Sie haben es angesprochen: Sowohl der
Bundespräsident als auch die Verteidigungsministerin und
der Bundesaußenminister haben in München Anfang des
Jahres bemerkenswerte Reden gehalten. Ich habe offen-
sichtlich noch etwas mehr gehört als Sie: Ganz zentral
war, dass die Frage, wie sich Deutschland aufgrund sei-
ner Größe und wirtschaftlichen Kraft in der Welt enga-
gieren soll – früher, effizienter und auch substanzieller –,
eindeutig so beantwortet wurde, dass das Engagement
nicht nur militärische Mittel beinhaltet, sondern darüber
hinaus natürlich auch diplomatische, wirtschaftliche und
krisenpräventive Mittel. Das hat im Übrigen bereits sei-
nen Niederschlag in den „Afrikapolitischen Leitlinien
der Bundesregierung“ gefunden. Dort wird ganz eindeu-
tig gesagt, dass wir den kompletten Instrumentenkasten
ausbreiten möchten und dass die zivilen Mittel dabei ge-
radezu von zentraler Bedeutung sind.

Ich glaube, es geht auch darum, mehr öffentliche
Wertschätzung zu erhalten. Das erreichen wir dadurch,
dass wir dieses Thema in den Mittelpunkt rücken. Auch
weniger schöne Dinge wie beispielsweise die Vorkomm-
nisse in der Ukraine bzw. der Einsatz der OSZE-Be-
obachter dort haben in das Blickfeld der Öffentlichkeit
gerückt, dass da viele in einer schwierigen Mission sind,
häufig unter Einsatz ihres Lebens, und dass sie dafür die
notwendige Wertschätzung benötigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass da sehr viel passiert ist und dass wir die-
sen Weg konsequent weitergehen müssen.

Das beinhaltet beispielsweise den „Tag des Peace-
keepers“, der am 11. Juni 2014 das zweite Mal veranstal-
tet wird. Dabei werden alle beteiligten Bundesminister
in einer öffentlichen und würdevollen Zeremonie den
Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizis-
ten, aber auch den zivilen Einsatzkräften für ihren wich-
tigen und wertvollen Einsatz danken und diesen Einsatz
würdigen.

Denken Sie beispielsweise daran, dass die Bundesver-
teidigungsministerin vor wenigen Tagen ihre Pläne vor-
gestellt hat, wie wir es schaffen können, die Bundeswehr
attraktiver zu machen und den Dienst in der Bundeswehr
besser mit der Familie zu vereinbaren.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was hat denn das mit dem Thema zu tun?)


Ich verweise auf viele andere Dinge darüber hinaus, an
denen man schon sehen kann, dass wir einiges erreichen.

Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anspre-
chen. Ich war vor wenigen Tagen beim Zentrum für In-





Thorsten Frei


(A) (C)



(D)(B)

ternationale Friedenseinsätze. Ich weiß, dass wir dort
noch bessere Ergebnisse erzielen könnten, wenn dessen
Mannschaft größer wäre und wenn wir aus dem Bundes-
haushalt noch mehr Geld als 2,3 Millionen Euro zur Ver-
fügung stellen würden. Wir werden mit dem nächsten
Haushalt etwa fünf zusätzliche Stellen für das ZIF schaf-
fen und damit ganz markant deutlich machen, wie wich-
tig und wertvoll uns diese Arbeit ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In diesem Sinne sind wir, glaube ich, auf einem sehr gu-
ten Weg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803917700

Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803917800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Grünen wollen mit ihrem Antrag, über den wir heute
reden, mehr Anerkennung für Peacekeeper in internatio-
nalen Friedenseinsätzen. Einerseits möchte auch ich da-
für Danke sagen, dass sie dieses wichtige Thema auf die
Tagesordnung gesetzt haben; aber andererseits müssen
wir natürlich genau aufpassen, worüber hier gesprochen
wird, wenn von Friedenseinsätzen die Rede ist.

Mir ist wichtig, dass wir klar unterscheiden zwischen
Maßnahmen, die wirklich dem Frieden dienen, und sol-
chen, die nur als Friedenseinsätze etikettiert werden. Da-
rin, alle möglichen Militäreinsätze, die allen möglichen
Interessen und Zwecken dienen, als Friedenseinsätze zu
maskieren,


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha!)


sind sich leider alle anderen Fraktionen hier im Haus
sehr oft einig, und da haben wir nun einmal einen grund-
sätzlichen Widerspruch.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Ihr Anliegen hat einen sinnvollen Kern. Sicher
sind in diesem Antrag einige Punkte, auf die wir uns po-
sitiv beziehen werden, etwa wenn es darum gehen wird,
die Arbeit der zivilen Fachkräfte anzuerkennen, die – ich
zitiere – „unter schwierigen Bedingungen in den Kon-
fliktregionen lokale und regionale Akteure bei der
Schaffung von Frieden und Sicherheit unterstützen“.

Da bin ich ganz bei Ihnen, gerade als jemand, der aus
der Friedensbewegung kommt. Ich frage mich aber, ob
wir den Peacekeepern in internationalen Friedenseinsät-
zen wirklich einen Gefallen tun, wenn wir sie mit den
Militärs, die in bewaffneten Einsätzen Dienst tun, immer
in einen Topf werfen. Es ist wirklich nicht wahr, dass der
Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Ausland zu wenig
wahrgenommen wird, wie der Antrag ebenfalls sugge-
riert. Leider wird verallgemeinernd immer wieder von
Einsatzkräften gesprochen; aber das wird der unter-
schiedlichen Situation ziviler und militärischer Einsatz-
kräfte, die Sie, Frau Brugger, selber angesprochen ha-
ben, überhaupt nicht gerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich muss leider sagen, dass sich dieser Antrag für
mich in ein Medien- und Öffentlichkeitskonzept ein-
reiht, mit dem die große Mehrheit der Politik die große
Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land schlicht hin-
ter die Fichte führen will. Nur 13 Prozent der Bevölke-
rung stehen nämlich nach einer aktuellen Umfrage den
Auslandseinsätzen der Bundeswehr positiv gegenüber.
Viele Menschen wissen, dass nicht überall Frieden drin
ist, wo „Frieden“ draufsteht.

Ein besonders krasses Beispiel der Verschleierungs-
taktik habe ich einmal mitgebracht. Sie sehen hier vom
Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, ZIF, das
schon mehrfach angesprochen worden ist, eine Karte mit
der Überschrift „Friedenseinsätze“. Hier werden 60 ver-
schiedene Missionen dargestellt, in denen im Augen-
blick Deutsche im Einsatz sind. Welche Mission ist die
größte? Das ist der Bundeswehrkampfeinsatz in Afgha-
nistan, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun
wirklich kein Friedenseinsatz.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke meint, dass man die zivilen Fachkräfte in
Friedenseinsätzen würdigen sollte, indem man ihren ei-
genständigen Beitrag betont. Genau das leistet der An-
trag der Grünen aber leider nicht. Zivil und militärisch,
das geht bei Ihnen immer munter durcheinander.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn!)


Ich würde einen Vorschlag machen wollen: Warum
nehmen wir nicht den von den Vereinten Nationen zum
Internationalen Tag des Friedens erklärten 21. Septem-
ber zum Anlass, um das eigenständige zivile Engage-
ment wertzuschätzen?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen diejenigen ehren, die sich mit gewaltfreien
Mitteln um Frieden und Versöhnung, um die Beendi-
gung von Gewalt und die Vorbeugung kümmern.

Schon seit einigen Jahren begehen viele Organisatio-
nen, die mit ziviler Konfliktbearbeitung zu tun haben,
diesen Tag in Bonn mit einem großen Programm. Eine
ganze Woche lang gibt es Diskussionsveranstaltungen,
Vorträge, aber auch sportliche und kulturelle Events. Ich
könnte mir sehr gut vorstellen, dass eine offizielle Ver-
anstaltung von Parlament und Regierung die Wertschät-
zung für diese Arbeit gut zum Ausdruck bringen könnte.
Warum sprechen wir nicht darüber, genau diese Wert-
schätzung getrennt von der Wertschätzung der militäri-
schen Einsatzkräfte zu organisieren, um damit auch die
Menschen einzubeziehen, die zum Beispiel im Rahmen
des zivilen Friedensdienstes in Auslandseinsätzen sind?
Das wäre, glaube ich, ein wirklich schönes Zeichen der





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

Wertschätzung. Daran würden wir uns auch gern beteili-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803917900

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin

Dr. Ute Finckh-Krämer.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Vietz [CDU/CSU])



Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1803918000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den
Tribünen! Als langjährig friedenspolitisch Engagierte
begrüße ich das Grundanliegen des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich. Auch ich setze
mich seit langem dafür ein, die Arbeit von Friedensfach-
kräften und anderen im Bereich Peacekeeping und Frie-
densförderung engagierten Menschen öffentlich zu wür-
digen und das deutsche Engagement in diesem Bereich
zu verstärken. Daher werde ich, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, gerne im Unterausschuss für
Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und ver-
netztes Handeln über Ihre Vorschläge diskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Vorgriff auf diese Diskussion möchte ich einige
Worte zum Inhalt Ihres Antrags sagen. Er enthält viele
berechtigte Forderungen. Einige hoffen wir zeitnah um-
setzen zu können – wie die schon erwähnte Erhöhung
der Mittel für das ZIF, aber auch für den Zivilen Frie-
densdienst.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Allerdings hätte ein roter Faden Ihrem Anliegen nicht
geschadet. Einen wichtigen Aspekt haben Sie leider
komplett ausgelassen: die Forderung nach einer umfas-
senden Evaluation. Eine Bilanzierung deutscher Inter-
ventionen, sowohl militärischer als auch ziviler, steht
nämlich immer noch aus.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Ich erinnere an den Abschlussbericht des Unterausschus-
ses für Zivile Krisenprävention aus der letzten Legisla-
turperiode, in dem eine systematische Auswertung der
Aktivitäten im Bereich der zivilen Krisenprävention und
Konfliktbearbeitung empfohlen wird.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803918100

Kollegin Finckh-Krämer, gestatten Sie eine Bemer-

kung oder Zwischenfrage der Kollegin Brugger?


Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1803918200

Ja, gern.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, liebe
Frau Kollegin Finckh-Krämer. – Ich stimme Ihnen abso-
lut zu. Wir als Grüne haben schon in der letzten Legisla-
turperiode, auch gemeinsam mit Ihrer Fraktion, gefor-
dert, dass wir die Einsätze besser evaluieren – das gilt
insbesondere für den Afghanistan-Einsatz – und dass wir
daraus Lehren ziehen sollten. Wir haben diese Forderung
auch in der neuen Legislaturperiode schon mehrfach er-
hoben.

Habe ich Ihre Ausführungen richtig verstanden, dass
die Bundesregierung jetzt doch vorhat, den Afghanistan-
Einsatz wirklich in einem angemessenen Maß zu evalu-
ieren und nicht nur im Rahmen kleinerer Anhörungen,
die schon stattgefunden haben?


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])



Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD):
Rede ID: ID1803918300

Ich kann nicht für die Bundesregierung sprechen.

Aber ich kann sagen, dass ich das im Unterausschuss für
Zivile Krisenprävention gerne einbringe. Ich hoffe, dass
das auch von unserem Koalitionspartner unterstützt
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Erst eine solche ehrliche Bestandsaufnahme ermög-
licht es uns, die Frage zu beantworten, wie Deutschland
effektiver zum Frieden in der Welt beitragen kann als
bisher. Insbesondere müsste also eine außenpolitisch in-
tegrierte Strategie für Friedensförderung und Konflikt-
transformation entwickelt werden. Der Antrag, den wir
heute hier debattieren, leistet hierzu leider keinen sub-
stanziellen Beitrag.

Dass die Frauen und Männer, die sich aktuell in Frie-
densmissionen engagieren, Anerkennung verdienen, ist
in diesem Haus wohl unstrittig. Allerdings sollten wir
auch das ernst nehmen, was der Geschäftsführer des Fo-
rums Ziviler Friedensdienst, einer der Durchführungsor-
ganisationen des Zivilen Friedensdienstes, letztes Jahr
zum Tag des Peacekeepers formuliert hat. Ich zitiere:

Bitter erscheint zudem, dass hier mit großem Auf-
wand der Fokus auf einen kleinen Teilaspekt des in-
ternationalen Friedensengagements gelegt wird.
Peacekeeping, zu deutsch Friedenserhaltung, meint
nur jene Einsätze, die der Eskalation von Gewalt
unmittelbar entgegenwirken. Mit vor allem militäri-
schem Peacekeeping kann also im besten Fall un-
mittelbare Gewalt verhindert werden. Frieden wird
damit nicht erreicht.
Ein wichtiger Teil … internationalen Friedensengage-
ments gerät dabei aus dem Blickfeld: die Programme
ziviler Konfliktbearbeitung und langfristiger Frie-
densförderung, die Ursachen von Konflikten ange-
hen und verhindern, dass Konflikte zu Krieg und
Gewalt eskalieren.

So weit das Zitat.





Dr. Ute Finckh-Krämer


(A) (C)



(D)(B)

In Ihrem Antrag fordern Sie zwar, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, „in geeigneter Form auch
die Arbeit und die Leistungen der anderen Frauen und
Männer anzuerkennen, die im Rahmen der Durchfüh-
rungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit,
von NGOs und Hilfsorganisationen in Krisenregionen
arbeiten“. Aber auch damit werden diejenigen, die kri-
senpräventiv arbeiten, nicht erfasst.

Die Würdigung ist das eine, liebe Kolleginnen und
Kollegen, eine umfassende friedenspolitische Strategie,
die es diesen Frauen und Männern auch ermöglicht, mit
ihrem Engagement den bestmöglichen Beitrag zu leis-
ten, ist das andere. Dies möchte ich an einem Beispiel
aus Ihrem Forderungskatalog kurz verdeutlichen.

Sie fordern, die Voraussetzungen für die Entsendung
von mehr Polizisten in Missionen der Vereinten Natio-
nen und der Europäischen Union zu verbessern. Zu die-
sen Missionen gab es in der letzten Legislaturperiode
eine Anhörung im Unterausschuss für Zivile Krisenprä-
vention, bei der auch Experten zu Wort kamen, die in
diesen Missionen eingesetzt waren. Es wurde sehr deut-
lich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten waren, weil eine
Einbindung in eine Gesamtstrategie fehlte. Deswegen ist
es aus meiner Sicht wichtig, zu diesem Thema unter Fe-
derführung des Innenausschusses eine weitere Anhörung
durchzuführen, und zwar möglichst noch in diesem Jahr.

Lassen Sie uns also gemeinsam und partnerschaftlich
die Herausforderung angehen, eine friedenspolitische
Strategie zu entwickeln, nicht nur, um den zivilen Fach-
kräften, die in Friedenseinsätzen aller Art aktiv sind, zu
der Anerkennung zu verhelfen, die sie verdienen, son-
dern auch, um ihr Engagement möglichst wirksam wer-
den zu lassen.

Die Fraktion der Grünen und alle anderen Fraktionen
des Hauses sind herzlich eingeladen, ihre Forderungen
in den Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Kon-
fliktbearbeitung und vernetztes Handeln einzubringen,
damit wir – hoffentlich fraktionsübergreifend – in die-
sem Politikbereich ein Stück weiterkommen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803918400

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die

CDU/CSU Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Stimme der Vernunft!)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1803918500

Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Die Präambel des Grundgesetzes erteilt
uns bereits den Auftrag, für den Frieden in der Welt zu
sorgen. Ich glaube, ein stabiles und wirtschaftlich pros-
perierendes Deutschland hat auch die Verantwortung, für
den Frieden in der Welt einzutreten.

Als die Präambel geschrieben wurde, konnte man sich
die vernetzte und globalisierte Welt von heute noch nicht
vorstellen, eine Welt mit einem Europa ohne Grenzen.
Wie soll da der soziale Friede in Deutschland gewähr-
leistet werden, wie wollen wir angesichts dieser neuen
Welt unsere Sicherheit erhalten?

Wir sind abhängiger geworden von scheinbar weit
entfernten Regionen. Deswegen erwächst daraus die
Verantwortung, uns um diese Regionen zu kümmern.
Wir müssen dafür sorgen, dass in weit entfernten Regio-
nen mit unserer Hilfe rechtsstaatliche Strukturen und
funktionierende Sicherheitsbehörden eingerichtet wer-
den.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel – sehr aktuell –: Nigeria.
In Nigeria leben bereits heute 170 Millionen Menschen.
Es sind mehr als doppelt so viele Menschen wie in
Deutschland. Das Durchschnittsalter in Nigeria beträgt
19 Jahre. Es wird erwartet, dass sich die Bevölkerung bis
zum Jahr 2050 – nicht so weit weg – verdreifacht. Wie
sieht es in diesem Land mit dieser großen Bevölkerungs-
zahl aus? Zwei Drittel leben schon jetzt in Armut. Was
islamistische Kräfte, wie zum Beispiel Boko Haram mit
der Massenentführung von 230 Schulmädchen, anrich-
ten können, wissen wir alle.

Das heißt, das Konfliktpotenzial in solchen Regionen
mit einem solch ungeheuren Bevölkerungswachstum
wächst von Tag zu Tag. Diese wachsende junge Genera-
tion, die in Armut und Gewalt aufwächst, will auch ein
friedliches Leben in Wohlstand und mit Perspektive er-
reichen und für sich einklagen. Das heißt, auch sie wol-
len glücklich werden und suchen deshalb ihr Glück in
anderen Ländern. Wer sollte ihnen das übel nehmen? Sie
suchen ihr Glück bei uns. Ich glaube, auch wir würden
dies so tun, wenn wir in deren Lage wären. Das heißt,
massenhafte Migrationswellen in Richtung Europa sind
unumgänglich. In diesem Jahr rechnen wir mit circa
200 000 neuen Asylbewerbern. Das ist nur ein Zwi-
schenergebnis.

Wir sollten also alles tun, um Hilfe zur Selbsthilfe in
solchen Regionen und Ländern zu organisieren. Wir
müssen das Konfliktmanagement in diesen Ländern stär-
ken. Wir müssen Sicherheitskräfte ausbilden, sie beraten
und sie ausrüsten. Wir müssen für rechtsstaatliche
Grundsätze sorgen. Wir müssen unser Rechtssystem, so-
weit es dort passt, zu übertragen versuchen. Wir haben
hiermit einen Markenartikel auf der ganzen Welt. Unser
Rechtsstaat, den wir uns nach vielen Irrungen und Wir-
rungen in unserer Geschichte geschaffen haben, der in
den letzten Jahrzehnten erprobt und eingeübt wurde, ist
ein Markenartikel auf der ganzen Welt, mit dem wir uns
sehen lassen können. Wir sind auch willkommen.

Mehr Polizei, mehr zivile Sicherheitskräfte und nicht
mehr Soldaten ist die Losung des Tages. Das entspricht
auch dem Geist des Afrika-Papiers, das in dieser Woche
im Auswärtigen Ausschuss präsentiert wurde, in dem
vor allem von zivilen Sicherheitskräften die Rede ist.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir soll-
ten nicht künstlich einen Konflikt herbeireden, der nicht
da ist. Wir sind uns darin einig, dass die zivilen Sicher-
heitskräfte wichtiger sind als militärische Einsätze.





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube auch, dass wir diesbezüglich eine Grund-
satzdebatte in diesem Hause brauchen, und zwar aus
mehreren Gründen: Wir haben den Vorsatz, mehr zu tun,
aber es fehlt in der Tat noch am Vollzug. Wir sollten an-
gesichts der komplizierten Struktur unserer polizeilichen
Kräfte in einem föderalen Deutschland mit 16 Ländern
und dem Bund endlich dafür sorgen, dass eine Struktur
entsteht, bei der wir in großer Zahl Polizeikräfte zur
Ausbildung in das Ausland schicken können. Dies sollte
hier diskutiert werden. Es sollte nicht der einzelne Ein-
satz legitimiert werden, sondern es sollte im Bundestag
eine Grundsatzdebatte über die Frage geführt werden, in
welcher Art und Weise und unter welchen Bedingungen
wir ins Ausland gehen. Das ist mein Vorschlag.

Ich glaube, es gibt genügend Menschen, die dazu be-
reit sind, ins Ausland zu gehen. Dies ist angesichts unse-
rer Polizeistrukturen keine Frage von Planstellen und
Kosten. Wir haben bei den Ländern und beim Bund ge-
nügend pensionierte Polizeibeamte von 60 Jahren, die
gern bereit sind, ihre Expertise freiwillig in verschiede-
nen Teilen der Welt einzubringen. Man muss nicht un-
sere Polizeistrukturen sozusagen entvölkern, um im
Ausland tätig zu sein. Das alles ist möglich.

Wir sollten unseren Koalitionsvertrag, in dem wir
dies alles formuliert haben, aber auch die „Afrikapoliti-
schen Leitlinien der Bundesregierung“ ernst nehmen,
umsetzen und zur Tat schreiten – daran fehlt es –, indem
wir ganz konkrete Beispiele umsetzen, die wir bisher so
noch nicht haben. Ich möchte mich bei all denen bedan-
ken, die sich dieser Aufgabe stellen und ihren Beitrag
dazu leisten. Ich möchte insbesondere die Opposition
bitten, nicht etwas künstlich zu zerreden, das von uns al-
len bereits als gemeinsames Engagement anerkannt wor-
den ist und das nur noch hier oder da der Umsetzung be-
darf.

Wir alle wollen letztlich dasselbe: Wir wollen den
Frieden in der Welt erhalten. Wir danken den Menschen,
die für andere Menschen da sind. Wir wollen alles tun,
damit wir möglichst wenigen Menschen Grund geben,
ihr Leben bei uns leben zu müssen, weil ihres in der Re-
gion, in der sie leben, unerträglich geworden ist, zum
Beispiel in Nigeria. Wir wollen, dass ein Land mit einer
hohen Bevölkerungszahl wie Nigeria selbstständig für
Sicherheit, Ordnung, Frieden und Wohlstand sorgen
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803918600

Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat nun für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1803918700

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zwei
Wochen stand ich mit einigen Kolleginnen und Kollegen
auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew.
Es war gutes Wetter, die Familien gingen spazieren, Kin-
der tobten herum. Es herrschte eine fast ausgelassene
Stimmung vor all den Barrikaden, ausgemusterten Pan-
zern und Bildern von zahllosen Toten, dort, wo manch
einer eine Träne verdrückte und Blumen niederlegte.

Das Wochenende und die Präsidentenwahl standen
vor der Tür. Wir hatten aus der Presse erfahren, dass alle
politischen Kräfte in diesem Land Einfluss haben kön-
nen, wovon wir bisher gar keine Ahnung hatten. Doch
eines hätte ich nie für möglich gehalten: Die Augen der
Menschen strahlten vor Zuversicht, die die Krise fast
vergessen ließ. Bei jedem Gespräch, das ich als Mitglied
der deutschen NATO-PV-Delegation, als Deutscher, als
EU-Bürger geführt habe, war diese aufrichtige Zuver-
sicht und Offenheit sichtbar. Mir wurde klar: Die Men-
schen – ob in der Ukraine oder anderswo auf der Welt –
wollen nach Umbrüchen, nach teilweise verheerender
Politik endlich Ruhe, und sie wollen eine Perspektive.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was heißt
das für uns? Die Menschen erwarten von uns keine
Wunder, sie erwarten kein überambitioniertes NATO-
Engagement, sie erwarten keine Mitgliedschaften, kein
Geld sofort, keine warmen Worte oder Anschuldigun-
gen. Sie erwarten von uns eigentlich nichts anderes als
eine klare Linie, eine Position, mit der man arbeiten
kann. Ich bin davon überzeugt: Wir haben uns lange ge-
drückt, doch jetzt müssen wir über die Möglichkeiten
und Grenzen von Außenpolitik, Friedenspolitik und
nicht zuletzt über unsere Rolle, die Rolle Deutschlands,
diskutieren.

In dieser Debatte reicht es nicht, sich in unbekümmer-
tem Vertrauen zu wiegen. Ich finde – und ich zitiere frei
unseren Außenminister Frank-Walter Steinmeier –, un-
sere Kultur der Zurückhaltung darf nicht zu einer Kultur
des Heraushaltens und schon gar nicht zu Gleichgültig-
keit werden. Wir sind keine Insel – wir sind das in keiner
Hinsicht –, und ich sage: Gott sei Dank sind wir einge-
bettet in der Mitte Europas.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, was können wir tun, um unsere
Nachbarschaft zu stabilisieren? Im Osten? In Afrika?
Tun wir alles, um unseren Beitrag zum Frieden zu leis-
ten? Was müssen wir tun gegen den Terrorismus? Denn
er ist da, und er wird in seiner Brutalität nichts einbüßen,
wenn wir uns einigeln. Interessieren wir uns überhaupt
für manche Gegenden dieser Welt? Engagieren wir uns
humanitär und militärisch ausreichend dort, wo unsere
Stärken liegen, nämlich in der Konfliktprävention, in der
Mittlerrolle, als Scharnier zwischen Mächten, als Schar-
nier, das Krieg vermeidet? Diese Fragen sind vielschich-
tig, und wir haben keine eindeutigen Antworten. Entge-
gen jeder Verschwörungstheorie führt das aber nicht
zwangsläufig zu mehr Militär.

Die Debatte darüber – angestoßen von unserem Au-
ßenminister Frank-Walter Steinmeier, von unserem Bun-
despräsidenten und von unserer Bundesverteidigungsmi-
nisterin – kann Klarheit schaffen, und ich bin fest davon
überzeugt: Sie muss auch Klarheit schaffen. Insofern
verdient der Antrag der Grünen zu den Peacekeepern
wenige Tage vor dem 11. Juni, an dem der „Tag des





Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)

Peacekeepers“ begangen wird, Anerkennung und Re-
spekt. Er enthält gute Bausteine, er zeigt in die richtige
Richtung.

Was mir allerdings noch mehr am Herzen liegt – denn
es hängt damit innerlich zusammen; es leistet hervorra-
gende Arbeit und denkt einen Schritt weiter –, ist das
Zentrum für Internationale Friedenseinsätze selbst. Das
ZIF vermittelt trotz eines viel zu unsicheren Budgets zi-
vile Expertinnen und Experten in Missionen der OSZE,
der EU oder der Vereinten Nationen. Sie vermitteln ein
Bild von und Erwartungen an Deutschland, die ich auch
bei der Mission in der Ukraine erfahren habe: Verant-
wortung übernehmen, Friedenseinsätze mit Weitblick,
konkrete vertrauenswürdige Außen- und Sicherheitspoli-
tik. Diesen Erwartungen müssen wir gerecht werden.
Das lohnt sich nicht nur für die Menschen, sondern auch
für uns und vor allen Dingen für die Wertschätzung der
Peacekeeper.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803918800

Das Wort hat der Kollege Michael Vietz für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Vietz (CDU):
Rede ID: ID1803918900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ein asiatisches Sprichwort sagt: „Erkennen ist eine
große Leistung des Geistes, Anerkennen eine solche des
Herzens.“ In diesem Hause – wir haben es vielfach ge-
hört – mangelt es nicht an Anerkennung für die Männer
und Frauen, die für unser Land direkt oder indirekt im
Bereich der Friedenssicherung weltweit im Einsatz sind.
Dies gilt weder für uns noch für unsere Bürgerinnen und
Bürger.

Peacekeeping steht für die Bewahrung des Friedens,
Peacekeeper sind Hüter des Friedens. Nächste Woche
– auch das haben wir schon mehrmals gehört – findet der
zweite deutsche „Tag des Peacekeepers“ statt – eine Ver-
anstaltung, die eine junge Tradition begründet und die
vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze beglei-
tet wird.

Gleich drei Minister werden an diesem Tag Soldaten,
Polizisten und zivile Experten für ihren Einsatz im Be-
reich der internationalen Friedenssicherung ehren, stell-
vertretend für Hunderte andere, die sich tagtäglich ein-
bringen. Das ist ein deutliches Zeichen, dass deren
Arbeit geschätzt und gewürdigt wird. Insofern wird zu-
mindest in einem Bereich der Forderung des vorliegen-
den Antrags schon entsprochen.

Zivile Experten jeder Couleur stehen direkt im Dienst
Deutschlands, deutscher NGOs oder internationaler Or-
ganisationen. Um es deutlich zu sagen: Ich danke all die-
sen Männern und Frauen, die sich hier einbringen, die
auch als unsere Vertreter den Frieden weltweit sichern
und ermöglichen – ob in Uniform oder in Zivil. Ein herz-
liches Danke an dieser Stelle!


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir diskutieren hier im Plenum regelmäßig intensiv,
leidenschaftlich und kontrovers – und zu Recht – über
jeden Einsatz der Bundeswehr im Ausland, unabhängig
von der Art der Mission oder der Anzahl der eingesetz-
ten Soldaten. Um Frieden zu sichern, braucht es jedoch
den vernetzten Ansatz, den unsere Kräfte auch in Kri-
sengebieten verfolgen. Auf militärischer Seite steht es
bereits lange außer Frage, dass es vielseitige Spezialisten
und Experten braucht, um Ordnungsstrukturen wieder-
herzustellen. Gleiches gilt für zivile Einsatzkräfte. Hier
sind wir auf dem richtigen Weg.

Wolfgang Schäfer – der Name mag den meisten nicht
bekannt sein – wurde im letzten Jahr am „Tag des Peace-
keepers“ für sein Engagement in Afghanistan ausge-
zeichnet. Auf die Frage seiner Heimatzeitung, ob er noch
einmal als Friedenshelfer nach Afghanistan gehen
würde, antwortete er, dass er offen dafür sei; Arbeit für
ihn als Polizeiausbilder gebe es noch auf Jahre hinaus.
Er betonte aber auch, dass seine Arbeit ohne den Schutz
der Bundeswehr nur schwer machbar gewesen sei.

Gerade dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur wir wis-
sen, was wir an unseren Peacekeepern haben, sondern
auch, dass sie wissen, was sie aneinander haben. Glei-
ches gilt für unsere Gesellschaft, für unsere Bürgerinnen
und Bürger. Niemand zweifelt an der Anerkennung und
dem Respekt, die beispielsweise den Helfern von THW
und GIZ entgegengebracht werden. Nur manchmal wer-
den die Töne leiser.

Natürlich sollten wir generell mehr und lauter darüber
sprechen, auch und gerade weil die jüngsten außenpoliti-
schen Debatten gern allein auf den militärischen Part re-
duziert werden. Das Ziel der Bundesregierung – wie
auch von Minister Steinmeier formuliert – ist, dass
Deutschland bereit sein muss, sich außen- und sicher-
heitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller
einzubringen. Das umfasst im Wesentlichen und in erster
Linie auch die Bündelung unserer zivilen Kompetenzen,
die zugegebenermaßen auch militärisch flankiert sein
müssen, wenn es die Situation verlangt. National wie in-
ternational mangelt es dabei nicht an Anerkennung für
die Experten der Friedenssicherung. Sie sind und bleiben
eine elementare Stütze unserer Außen- und Sicherheits-
politik. Dies belegt auch die Arbeit des Unterausschus-
ses für Zivile Krisenprävention. Unser internationales
Engagement, unsere Verantwortung geht weit über das
Militärische hinaus. Unser Handwerkszeug umfasst eben
mehr als nur den Hammer und die Brechstange.

Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in unserer
Gesellschaft wider. Laut einer Umfrage der Körber-Stif-
tung ist eine große Mehrheit unserer Bevölkerung durch-
aus bereit, international mehr Verantwortung zu über-
nehmen. Eine deutliche Mehrheit, mehr als zwei Drittel
der Befragten, ist der Meinung, Deutschland solle sich in
der humanitären Hilfe, bei Projekten zur Stärkung der





Michael Vietz


(A) (C)



(D)(B)

Zivilgesellschaft, bei der Ausbildung von Polizei- und
Sicherheitskräften oder der Hilfe beim Aufbau staatli-
cher Institutionen – klassische Elemente der Friedenssi-
cherung – stärker engagieren. Das ist kein Zeichen man-
gelnder Anerkennung; es bleibt einfach das gute Gefühl,
dass wir hier gut aufgestellt sind.

Ich begrüße eine breitere Diskussion zu unserer Rolle
bei der Friedenssicherung auf dem internationalen Par-
kett und dementsprechend auch die Intention des Antra-
ges. Der vorliegende Antrag mag insofern ein Denk-
anstoß sein. Er bietet einen bunten Strauß an Ideen,
Anregungen und möglichen Maßnahmen – vor allem
dazu, wo wir noch mehr Geld in die Hand nehmen soll-
ten. Nur ist Geld allein kein Allheilmittel. Einige Ihrer
Vorschläge haben sich bereits erledigt oder werfen prak-
tische Probleme auf. Lassen Sie uns einfach darüber dis-
kutieren.

Lassen Sie mich auf mein einleitendes Zitat zurück-
kommen. Unser Geist ist in der Lage, zu erkennen, was
unsere Peacekeeper leisten, und unsere Anerkennung
kommt von Herzen. – Meine Redezeit ist zu Ende.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803919000

Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1460 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu
der Verordnung der Bundesregierung

Siebte Verordnung zur Änderung der Verpa-
ckungsverordnung
Drucksachen 18/1281, 18/1379 (neu) Nr. 2.3,
18/1583

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Thews für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Thews (SPD):
Rede ID: ID1803919100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Ich denke, wir sind uns über alle Fraktionen hinweg
einig, dass der Missbrauch der Verpackungsverordnung,
wie er in den letzten Monaten verstärkt stattgefunden
hat, dringend mit dieser siebten Novelle gestoppt werden
muss. Einige möchten zwar gleich das ganze Duale Sys-
tem abschaffen, aber wir halten es für sinnvoll, das be-
stehende System – zumindest als Übergangslösung auf
dem Weg zu einem Wertstoffgesetz – zu stabilisieren.

Die Verpackungsverordnung regelt die Rücknahme
und Verwertung von Verpackungsabfällen, und zwar ba-
sierend auf dem Prinzip der Produktverantwortung. Das
Prinzip, dass Produzenten oder Vertreiber für die Samm-
lung und Verwertung ihrer Verpackungsprodukte verant-
wortlich sind und dass sie und nicht die Bürger für den
Abtransport der gelben Tonne zahlen, ist seit Anfang der
90er-Jahre in Deutschland etabliert. Insbesondere die
Produktverantwortung als Regelinstrument zur Errei-
chung der Ziele der Kreislaufwirtschaft – Abfallvermei-
dung und besseres Recycling – sollte ausgebaut werden.

Das Duale System hat seine Fehler und Schwächen
und bietet, wie wir jetzt sehen, auch Missbrauchsmög-
lichkeiten. Aber die Grundidee halte ich nach wie vor für
schützenswert und nicht für gescheitert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es wurde aber in letzter Zeit Missbrauch betrieben, und
zwar im Zusammenhang mit den sogenannten Eigen-
rücknahmen und den Branchenlösungen. Diese Instru-
mente wurden als Schlupflöcher genutzt, um Kosten zu
sparen und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.
Das hat im Ergebnis zu einer erheblichen Finanzlücke
und letztendlich zu einer Destabilisierung des Dualen
Systems geführt.

Die gemeldeten Mengen, die im Rahmen der Eigen-
rücknahme oder der Branchenlösungen gesammelt
worden sein sollen und damit im Ergebnis nicht der Li-
zenzpflicht unterlagen, stimmen nicht mit der Lebens-
wirklichkeit überein. Gemäß den gemeldeten Mengen
müsste ein Großteil der Verpackungen im Rahmen der
Eigenrücknahme vom Käufer in den Laden zurückge-
bracht bzw. gleich dagelassen worden sein. Wir alle wis-
sen aus eigener Erfahrung, dass das nicht mit der Reali-
tät übereinstimmt. Diese sogenannte Eigenrücknahme
als Ausnahme von der Lizenzpflicht hat sich nicht be-
währt. Sie führte verstärkt zum Missbrauch des Systems.
Deshalb wollen wir sie streichen. Das trifft bei fast allen
Beteiligten auf Zustimmung; diesbezüglich gibt es einen
breiten Konsens.

Zumindest einschränken wollen wir die Branchenlö-
sung. Sie wurde mit der fünften Novelle der Verpa-
ckungsverordnung eingeführt. Es sollte für Branchen,
bei denen die Verpackungen an der Übergabestelle direkt
anfallen, die Möglichkeit geschaffen werden, diese sel-
ber ohne vorherige Lizensierung über das Duale System
zu entsorgen oder entsorgen zu lassen. Laut Gesetzesbe-
gründung hatte man damals zum Beispiel an die Entsor-
gung und Verwertung von Verbrauchsverpackungen von
in Kfz-Werkstätten eingesetzten Kfz-Ersatzteilen ge-
dacht oder eben an Behälter für Öl und Schmierstoffe in
Kfz-Werkstätten, Tankstellen oder im Einzelhandel. Das
sind durchaus sinnvolle Branchenlösungen. Oft sind es
herstellerbasierte Lösungen mit eigenen Sammelsyste-
men, die auch in Zukunft möglich sein werden.

Seit der fünften Novelle sind die Verpackungsmen-
gen, die als Teil einer Branchenlösung gemeldet wurden,
allerdings massiv angestiegen. Von einigen Unterneh-





Michael Thews


(A) (C)



(D)(B)

men, unter anderem in der Lebensmittelindustrie, wur-
den so unrealistische Mengen gemeldet, dass der Miss-
brauch offensichtlich wurde. Manchmal war es sogar so,
dass die Anfallstelle, die als Teil einer Branchenlösung
angegeben wurde, selbst gar nichts davon wusste und
den Verpackungsmüll ganz normal über die gelbe Tonne
oder den gelben Sack im Dualen System entsorgt hat.

Zusammenfassend kann man festhalten: Das bishe-
rige System der Branchenlösung funktioniert nicht; es ist
nicht transparent und auch nicht überprüfbar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Regelung wird deshalb so geändert, dass die
Branchenlösungen, die wir damals mit der fünften No-
velle zulassen wollten, weiter möglich sind, der Miss-
brauch aber so weit wie möglich beseitigt wird und das
System insgesamt transparenter und damit kontrollierba-
rer wird.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Artur Auernhammer [CDU/CSU])


Das fordert sowohl von den Herstellern oder Vertreibern
als auch von den Anfallstellen mehr Dokumentations-
aufwand. So wird zum Beispiel die Möglichkeit, den
Nachweis über die als Teil einer Branchenlösung gelie-
ferten Produkte über allgemeine Marktgutachten zu füh-
ren – Gutachten, die man kaum überprüfen kann –, abge-
schafft. Die Anfallstellen müssen die im Rahmen der
Branchenlösung gelieferten Verpackungsmengen doku-
mentieren, beispielsweise anhand von Lieferbelegen.
Das ist zumutbar, machbar und notwendig, um wieder
faire Bedingungen zwischen den Herstellern und dem
Dualen System herzustellen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Idee der Pro-
duktverantwortung nicht gescheitert ist. Sie ist schon
deshalb nicht gescheitert, weil das Verpackungsrecyc-
ling effektiv zur Ressourcenschonung beigetragen hat
und damit auch zur Energieeinsparung und zur Reduzie-
rung von Treibhausgasemissionen. Sie ist auch deshalb
nicht gescheitert, weil die gelben Tonnen und Säcke von
Bürgerinnen und Bürgern mit großem Engagement ge-
nutzt werden. Vor allem aber ist uns durch dieses System
ein wichtiger Paradigmenwechsel in Deutschland ge-
glückt, der erstens zu der Verantwortung der Hersteller
und Vertreiber für die Entsorgung und Verwertung ihrer
Verpackungen und die daraus entstehenden Abfälle ge-
führt hat, zweitens zu einer qualitativ hochwertigen
stofflichen Verwertung von Verpackungen und drittens
zum Aufbau einer leistungsstarken Recyclingindustrie
und einer vorbildlichen Recyclingtechnik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Voraussetzungen müssen wir jetzt nutzen, um
die Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz
weiterzuentwickeln. Wie im Koalitionsvertrag verein-
bart, wollen wir die rechtlichen Grundlagen zur Einfüh-
rung einer gemeinsamen haushaltsnahen Wertstofferfas-
sung nicht nur für Verpackungen, sondern auch für
andere Wertstoffe schaffen. In vielen Kommunen stehen
heute schon Wertstofftonnen, in denen nicht nur Verpa-
ckungen aus Plastik, Metall und Verbundstoffen gesam-
melt werden, sondern auch sogenannte stoffgleiche
Nichtverpackungen wie alte Gießkannen, Kochtöpfe
oder Plastikspielzeug. Diese Wertstofftonnen wollen wir
bundesweit auf der Grundlage eines Wertstoffgesetzes
einführen; denn für sinnvolles und effektives Recycling
müssen Abfälle nach Stoffen und nicht nach ihrem Ver-
wendungszweck getrennt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die praktizierte Trennung wurde vom Bürger weder ak-
zeptiert noch verstanden. Deswegen sprechen wir ja vom
intelligenten Fehlwurf.

In unserem Abfall gibt es noch jede Menge Potenzial.
Urban Mining, also das Heben von Wertstoffen aus dem
Abfall und das Zurückführen in den Wirtschaftskreis-
lauf, muss unser Ziel sein. Wir können es uns nicht leis-
ten, darauf zu verzichten. Diese Woche wurde Friedrich
Schmidt-Bleek, der ehemalige Vizepräsident des Wup-
pertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, einer der
Pioniere der Umweltbewegung, im Spiegel mit der An-
merkung zitiert, wenn die Politik den Klimawandel stop-
pen wolle, müsse sie an der Wurzel des Übels ansetzen,
am Verbrauch natürlicher Ressourcen.

Hierzu können wir heute mit unserer Entscheidung auf
dem eingeschlagenen Weg zu einem Wertstoffgesetz ei-
nen wichtigen Beitrag leisten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803919200

Kollege Thews, das Protokoll des Deutschen Bundes-

tages verzeichnet zwar schon eine Rede des Abgeordne-
ten Thews, aber diese wurde zu Protokoll gegeben. Des-
halb sind wir heute Zeuge Ihrer ersten tatsächlich
gehaltenen Rede im Bundestag geworden. Ich gratuliere
Ihnen recht herzlich. Im Namen des ganzen Hauses wün-
sche ich Ihnen alles Gute.


(Beifall)


Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803919300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und

Herren! Die gelbe Tonne ist ein Dauerbrenner. Die Tinte
unter der Sechsten Verordnung zur Änderung der Verpa-
ckungsverordnung ist noch nicht trocken, da kommen
Sie bereits mit der siebten Änderung um die Ecke. Wann
begreifen Sie, dass jede weitere Änderung der Verpa-
ckungsverordnung, ob die sechste, siebte, achte oder
zwanzigste, sinnlos ist, solange Sie nicht das Übel selbst
anpacken? Denn die von Ihnen gehätschelten elf priva-
ten Großfirmen kriegen die Verpackungsentsorgung im
Dualen System nicht in den Griff. Sie sind keine Opfer,
sie sind das Problem.





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

Wir alle kennen die Zahlen. 2,4 Millionen Tonnen
Verpackungsabfall fielen 2013 an, aber nur für 1 Million
Tonnen stellten die elf Firmen Rechnungen aus. Wie
kann das sein? Wenn eine Entsorgungsfirma ihrem po-
tenziellen Kunden die Lizenzgebühr gemessen an der
vollen Menge an Verpackungen berechnet – mit den vol-
len Entsorgungskosten –, dann wechselt der Kunde zum
nächsten Systemanbieter, der kundenfreundlicher rech-
net. Diesen Wettbewerb des kreativen Gestaltens der Li-
zenzgebühren ignorieren Sie von Union, SPD und Grü-
nen. Lieber toben Sie sich auf Nebenschauplätzen aus.

Ein Beispiel: Dem Möbelanbieter, der bisher fast alle
Verpackungen selbst einsammelte, streichen Sie die Ei-
genrücknahme, weil einige Kunden die Verpackungen
manchmal in die gelbe Tonne warfen. Jetzt muss er nach
Ihren Vorstellungen eine der elf Firmen zur Verpa-
ckungsentsorgung über die gelbe Tonne bezahlen. Da
werden dann wohl seine Kundendienstmonteure zukünf-
tig Folien, Schaumpolysterol und Luftpolster stets beim
Kunden lassen. Wenn dann plötzlich die gelben Tonnen
vor den Haustüren überquellen, weil die Mehrmengen
beim Abholen nicht eingeplant waren oder die dünnen
Sammelsäcke reißen, ist die nächste, die achte Änderung
der Verpackungsverordnung schon vorprogrammiert.

Ein zweites Beispiel: PU-Schaumdosen werden bis-
her über eine Branchenlösung gesammelt. 90 Prozent
werden erfasst. Daran waren die elf Firmen nicht betei-
ligt. 18 echte Branchenlösungen funktionieren – alle
ohne die glorreichen Elf. Ein paar Dutzend Branchenlö-
sungen dagegen funktionieren nicht. Und wer organisiert
diese? – Die elf Firmen. Jetzt zerschlagen Sie alle Bran-
chenlösungen zugunsten der elf Firmen. Erklären Sie es!
Mit einer Ausnahme: Wenn eine Branche eine vollstän-
dige Erfassung und Selbstabholung ihrer Verpackungen
nachweist, darf sie ihre Lösung weiterbetreiben.
100 Prozent Nachweis: Was für ein Bürokratiemonster!
Mit dessen Hilfe schanzen Sie den elf Firmen weiteres
Geschäft zu.


(Beifall bei der LINKEN)


Übrigens: Die elf Firmen des Dualen Systems ver-
brauchen bei 1 Milliarde Euro Umsatz rund 60 Prozent,
also 600 Millionen Euro, für Verwaltung, Ausschreibun-
gen und Gewinne. Nur 400 Millionen Euro werden aus-
gegeben für Sammlung und Verwertung der Verpackun-
gen. Das bringt zwar wenig für die Umwelt, aber der
Rubel rollt.

Wir, die Linke, wollen eine Verpackungsverordnung,
die funktioniert. Führen wir Verpackungsabgaben für
Hersteller pro Kilogramm Verpackungsmaterial ein. Das
verhindert Betrug und fördert Verpackungsvermeidung –
im Handel und bei Produzenten. Beauftragen wir die
Kommunen mit der Erfassung der Verpackungen, be-
zahlt aus der Verpackungsabgabe. Geschätzte 60 Prozent
der Verwaltungskosten könnten entfallen.

Beerdigen wir das Duale System! Die siebte Ände-
rung der Verpackungsverordnung ist der erneute Ver-
such, tote Pferde zu reiten. Schaffen wir dafür eine le-
bensfähige und ökologische Verpackungsverordnung,
und lassen Sie das Duale System in Frieden ruhen!


(Beifall bei der LINKEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803919400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege

Dr. Thomas Gebhart das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Michael Thews [SPD])



Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1803919500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Anfang der 90er-Jahre in Deutschland: Die
Rede war vom Müllnotstand. Das war die Situation.
Dann hat der damalige Umweltminister Klaus Töpfer et-
was auf den Weg gebracht, was ein echtes Erfolgsmodell
wurde: die Verpackungsverordnung. Sie war wegwei-
send. Viele Länder haben dieses Konzept in der Zwi-
schenzeit übernommen.

Die Idee basierte auf dem Prinzip der Produktverant-
wortung. Diejenigen, die Verpackungen in den Markt
bringen, sind also auch dafür verantwortlich, diese Ver-
packungen wieder zurückzunehmen und möglichst wie-
derzuverwerten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist eine marktwirtschaftliche Lösung. Die Entsor-
gungskosten werden Teil des Preises, und es entsteht ein
Anreiz, Verpackungen möglichst von Anfang an zu ver-
meiden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Und die Wirkungen? Die Kosten für die Verbraucher
sind zurückgegangen. Wir haben in Deutschland hoch-
moderne Recyclingtechnologien entwickelt – es war
eine echte Innovation –, und Abfälle sind zu wichtigen
Rohstoffen geworden. 14 Prozent der Rohstoffe, die die
deutsche Wirtschaft heute einsetzt, stammen aus Abfäl-
len.

In Zukunft, meine Damen und Herren, muss dies
noch mehr gelten: Es kommt immer mehr darauf an,
dass wir Kreisläufe dort schließen, wo dies ökologisch
und ökonomisch sinnvoll ist. In Zukunft wird das vor
dem Hintergrund, dass die Nachfrage nach Ressourcen
weltweit stark steigt, noch mehr notwendig sein. Und
diese Ressourcen sind begrenzt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen daher das Prinzip der Produktverantwor-
tung stärken, den Wettbewerb erhalten und möglichst
stärken. Es wäre verrückt, wenn wir dieses gute Prinzip
der Produktverantwortung aufgeben würden.

Vor kurzem haben wir hier im Deutschen Bundestag
über die sechste Novelle der Verpackungsverordnung
debattiert und sie beschlossen. Damit haben wir europäi-
sche Vorgaben umgesetzt. Wir haben eine Liste von Bei-
spielen dafür übernommen, was als Verpackung gilt und
was nicht als Verpackung gilt. Seit der sechsten Novelle
wissen wir daher, dass zum Beispiel die Kleiderbügel,
die als Teil des Kleidungsstücks verkauft werden, als
Verpackung gelten, aber die gleichen Kleiderbügel, die





Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)

separat verkauft werden, eben nicht als Verpackung gel-
ten. Das klingt fast schon absurd.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Aber, meine Damen und Herren, es weist uns auf einen
zentralen Punkt hin: Wir müssen das Kreislaufwirt-
schaftssystem weiterentwickeln. Künftig sollten wir
Verpackungen und sonstige Abfälle aus den gleichen
Materialien in einer einheitlichen Wertstofftonne entsor-
gen. Wir müssen das jetzt angehen, und wir werden dies
in einem Wertstoffgesetz angehen. Die Verbraucher sind
übrigens schon weiter – das Stichwort wurde schon ge-
nannt –: intelligente Fehlwürfe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Daher ist klar: Die siebte Novelle, die wir heute be-
schließen werden, ist ein Zwischenschritt. Aber es ist ein
notwendiger Zwischenschritt.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Zur achten!)


– Ja, selbstverständlich. –


(Lachen des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])


Warum ist dieser Zwischenschritt notwendig? Weil die
Verpackungsverordnung so, wie sie ausgestaltet ist,
Schwachstellen aufweist, die zu akuten Schwierigkeiten
führen. Diese müssen wir beheben. Konkret bedeutet
dies: Erstens. Die Möglichkeit der Eigenrücknahme wird
gestrichen. Was steckt dahinter? Die Eigenrücknahme
wird offenkundig teilweise als Schlupfloch genutzt, um
Lizenzgebühren zu sparen. Die Pflicht, sich am Dualen
System zu beteiligen, wurde verstärkt umgangen. Der
Wettbewerb ist an dieser Stelle verzerrt.

Zweitens. Die Anforderungen an die Nachweise bei
sogenannten Branchenlösungen werden erhöht. Bei der
Branchenlösung war uns als Union wichtig, dass es eben
nicht zu einer ausschließlichen Einengung auf direkte
Lieferbeziehungen kommt. Dafür haben wir uns starkge-
macht. Dies sieht die Verordnung jetzt auch genau so
vor.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir leisten mit der siebten
Novelle einen wichtigen Beitrag, um das System zu sta-
bilisieren. Der nächste Schritt steht mit dem Wertstoffge-
setz vor der Tür. Dann wird es vor allem darum gehen,
anspruchsvolle Recyclingquoten durchzusetzen, für eine
bessere Organisation der Kreislaufwirtschaft insgesamt
zu sorgen und vieles mehr. Wir haben eine ganze Menge
Arbeit vor uns. Aber das ist auch eine gewaltige Chance;
denn wir können unser Land in einem wichtigen Zu-
kunftsfeld weiter fit machen. Diese Chance sollten wir
nutzen. Gehen wir es an!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803919600

Der Kollege Peter Meiwald hat für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803919700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben nur eine Erde. Ich glaube, in ähnlicher Form
haben wir das heute schon einmal von Bärbel Höhn ge-
hört. Ich kann zwar nicht mit Enkelkindern aufwarten.
Trotz alledem glaube ich, das sollte uns auch weiterhin
bewegen. Wir sollten bei der Müllproblematik ähnlich
wie bei der Klimaproblematik darauf hinweisen: Wir ha-
ben Verantwortung. Die Rohstoffe, von denen wir leben,
sind begrenzt. Ihr Abbau ist oftmals mit großen Umwelt-
belastungen verbunden. Deshalb befassen wir uns als
Parlamentarier immer wieder mit dem Ressourcen-
schutz, mit dem sparsamen Umgang mit Ressourcen und
mit Recycling. Das ist auch richtig so.

„Änderung der Verpackungsverordnung“ klingt nicht
besonders ambitioniert in Richtung Ressourcenschutz.
Aber sie hat natürlich damit zu tun. Am 20. März dieses
Jahres haben wir uns zuletzt mit dem Thema Verpackun-
gen befasst, und zwar anlässlich der sechsten Novelle;
das ist eben schon angesprochen worden. Schon da ha-
ben wir zum Ausdruck gebracht, dass für uns nur schwer
verständlich ist, warum man die damals schon vorliegen-
den Anträge, die nun in die siebte Novelle eingeflossen
sind, im Rahmen der sechsten Novelle nicht gleich mit
bearbeitet hat. Wir haben auch entsprechende Anträge
eingebracht; Nordrhein-Westfalen hatte dies schon län-
ger thematisiert. Wir müssen nun damit leben, dass wir
in zwei Schritten vorgehen; deswegen stehen wir heute
wieder hier. Trotzdem – das ist verschiedentlich gesagt
worden – ist es inhaltlich richtig, am System zu arbeiten,
auch wenn das, was wir tun, in der Tat – Kollege Lenkert
hat darauf hingewiesen – nicht der große Wurf ist. Das
ist vollkommen klar, und ich glaube, das haben alle in
dieser Form mitgetragen.

Auch der Öffentlichkeit ist mittlerweile bekannt, dass
immer mehr Unternehmen die Lizenzgebühren umge-
hen; auch das haben wir eben schon gehört. Es stellt sich
die Frage: Was können wir kurzfristig tun, und was müs-
sen wir langfristig tun? Im Moment umgehen einige
Marktteilnehmer die lästigen Lizenzgebühren. Dem
muss man zunächst einmal Einhalt gebieten. Aber das ist
nur eine Übergangslösung. Die Änderungen, die wir
jetzt vornehmen – die Streichung der Eigenrücknahme
und die deutliche Einschränkung von Branchenlösun-
gen –, sind in dieser Form notwendig. Sie sind zwar
nicht schön und bringen uns nicht wirklich voran. Aber
wir werden diesen Änderungen zustimmen, weil wir das
System erst einmal so weit bringen müssen, dass wir
endlich ein Wertstoffgesetz bekommen können.


(Beifall der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Es handelt sich in der Tat nur um eine Zwischenlö-
sung. Dass die Verpackungsentsorgung grundlegend neu
organisiert werden muss, um auch andere Wertstoffe aus
dem Hausmüll zu holen und dem Recycling zuzuführen,
ist wohl klar; das ist offensichtlich. Verbrennen kann da-





Peter Meiwald


(A) (C)



(D)(B)

bei nicht mehr die Hauptlösung sein. Im Moment ist es
ja so, dass alles, was sich unterhalb der Quoten noch ir-
gendwie nutzen lässt, direkt verwendet wird. Aber das
meiste landet in der Verbrennung. Das darf, wenn es zu-
künftig ein Wertstoffgesetz gibt, nicht mehr so sein. Da-
ran müssen wir dringend etwas ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Als wir uns im Umweltausschuss mit diesem Thema
befasst haben, hat das Umweltministerium angekündigt
– Kollege Gebhart hat gerade darauf hingewiesen –, dass
ein Wertstoffgesetz in Arbeit ist. Alle Fraktionen arbei-
ten in dieser Richtung. Ich freue mich, dass wir ge-
meinsam an einem System arbeiten, das dynamische
Recyclingquoten mit sich bringt, sodass Deutschland
auch in der Müllpolitik wieder Vorreiter in Europa wird.
Das waren wir ja schon einmal; das ist zu Recht erwähnt
worden. Mittlerweile aber versinken die meisten Abfälle
in der sogenannten thermischen Verwertung. Das ist des
Wertes, den die in den einzelnen Produkten enthaltenen
Rohstoffe haben, nicht würdig. Deswegen werden wir
aufmerksam verfolgen, ob jetzt schnell ein Wertstoffge-
setz auf den Weg gebracht wird. Nur so ist sichergestellt,
dass die Öffentlichkeit angemessen an dieser Diskussion
beteiligt werden kann. Wir müssen eine breit angelegte
Debatte führen. Gerade haben wir schon in einigen
Nebensätzen gehört, dass wir die Kommunen und die
Länder mit einbinden müssen. Damit müssen wir jetzt
endlich beginnen, damit die Diskussion auch in der
Breite stattfinden kann.

Wir erwarten deutlich höhere und dynamisch anstei-
gende Recyclingziele im Wertstoffgesetz; denn die
jetzigen Vorgaben – das sagen selbst die verwertenden
Unternehmen – werden im Moment spielend erreicht.
Alles andere wird dann einfach möglichst kostengünstig
erledigt. Müllverbrennung ist einfach billiger. Daher
wird im Moment alles, womit die Recyclingquoten über-
erfüllt würden, verbrannt.

Das widerspricht mittlerweile nicht nur der Überzeu-
gung der Grünen, sondern – das habe ich in der breiten
Diskussion hier im Plenum ja mit Freuden zur Kenntnis
genommen – auch unser aller Vorstellung von einer zu-
kunftsfähigen Welt. Deswegen freue ich mich auf die
hoffentlich sehr bald anstehenden Debatten zu einem
echten Wertstoffgesetz.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803919800

Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Artur Auernhammer (CSU):
Rede ID: ID1803919900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland
ist Weltklasse im Fußball, wie wir in den nächsten Wo-
chen sicherlich erleben werden.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Na ja!)


Wir sind aber auch Weltklasse, wenn es darum geht,
Rohstoffe zu recyceln.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man erkennt, dass die Kreislaufwirtschaft funktio-
niert und dass sie bei einem Jahresumsatz von 50 Mil-
liarden Euro auch ökonomisch Sinn macht. Recycling ist
zu einem echten Wirtschaftsfaktor geworden. Das erste
dieser Systeme besteht bereits seit den 90er-Jahren; wir
haben das schon gehört.

An das damals zugrunde gelegte System, die Tren-
nung von Abfällen, hat sich auch der Verbraucher grund-
sätzlich gewöhnt, und er nimmt es erfolgreich an. An
dieser Stelle sollten wir auch einmal ein großes Lob an
die Verbraucherinnen und Verbraucher aussprechen, die
ihren Müll trennen und diese Systeme erfolgreich nut-
zen. Herzlichen Dank dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um diese bewährten Systeme zu erhalten, müssen wir
aber auch da nachsteuern, wo ein System in Schieflage
geraten ist, und das ist bei der Verpackungsverordnung
der Fall. Heute zeigt sich: Das Zusammenspiel von Li-
zenzsystem, Eigenrücknahme und Branchenlösungen
funktioniert nicht. Die Eigenrücknahme wird miss-
braucht.

Ein Teil der Branche macht Gewinne, die anderen
zahlen die Zeche. Hersteller und Vertreiber nutzen dieses
Zusammenspiel anscheinend gezielt, um das System zu
umgehen. Klar erkennbar ist dies am deutlichen Rück-
gang der lizenzierten Verpackungsmengen, während die
tatsächlich gesammelten verwertbaren Mengen konstant
bleiben.

Die vor allem in den vergangenen Jahren beobachte-
ten Folgen waren ein hohes finanzielles Defizit und
teilweise ein drohender Zusammenbruch des gesamten
Systems. Sowohl Branchenlösungen als auch die Eigen-
rücknahme werden wohl teilweise genutzt, um Verpa-
ckungsmengen aus den lizenzierungspflichtigen Mengen
herauszurechnen – wahrscheinlich, um Kunden attrakti-
vere Angebote zu machen.

Dieses bewusste Umgehen hat auch einen Nebenef-
fekt, der nicht so häufig diskutiert wird und auch heute
noch nicht angesprochen wurde. Ich selbst bin Landwirt
und Milcherzeuger. Unsere Molkerei muss natürlich wie
jeder andere Hersteller auch ihre Beiträge an das Duale
System zahlen. Leider können diese Beiträge nicht an
die Handelsketten weitergereicht werden, sondern im
Endeffekt zahlen wir Milcherzeuger das. Deshalb muss
es ein Anliegen von uns sein, hier eine vernünftige Re-
gelung zu finden. Dabei ist es wichtig, dass wir die
schwarzen Schafe in der Abfallwirtschaft erkennen und
benennen und diesen Missstand beseitigen.





Artur Auernhammer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser siebten
Verordnung streichen wir den Tatbestand der Eigenrück-
nahme, weil wir das bewährte Gesamtsystem erhalten,
stärken und ausbauen wollen. Gerade deshalb ist es
wichtig, dieses Schlupfloch zu schließen.

Wir schaffen die Branchenlösung nicht ab, konzen-
trieren sie aber auf die Bereiche, in denen wirklich funk-
tionierende Systeme bestehen und sich ein Missbrauch
ausschließen lässt; denn der Ansatz „Wettbewerb bei der
Entsorgung“ ist und bleibt auch in Zukunft wichtig. Des-
halb geht es hier vor allem darum, die Möglichkeit eines
Mengenabgleichs zu schaffen.

Kurz gesagt: Unser Ziel ist, eine flächendeckende
Entsorgung von Verkaufsverpackungen unter Beibehal-
tung des Prinzips der Produktverantwortung zu sichern
und faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet die heute zur
Abstimmung stehende Novelle. Sie wird dazu beitragen,
dass Deutschland auch in Zukunft Weltklasse bleibt: bei
der Mülltrennung und beim Fußball.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803920000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung zur
Änderung der Verpackungsverordnung. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 18/1583, der Verordnung der Bundesregierung auf
Drucksache 18/1281 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Susanna
Karawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend
regulieren

Drucksachen 18/769, 18/1656

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1803920100

Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Lin-
ken, ist wieder einmal ein Sammelsurium an finanzpoli-
tischen Forderungen. Sie haben wieder einmal alles in
einen Topf geworfen.

Erstens. Es ist kein regulatorischer Missstand, dass es
einen legalen Grauen Kapitalmarkt gibt, sondern das ist
ganz einfach Ausdruck von Gewerbefreiheit. Crowd-
investing und Crowdfunding beispielsweise ermöglichen
Innovationen, die sonst keine Chancen hätten.

Mehr als 3 000 Anleger haben zum Beispiel in den
Kinofilm Stromberg Geld investiert. Der fertige Film
mag dem einen oder anderen vielleicht nicht als High-
light des kulturellen Daseins, nicht als eine große Pro-
duktion erscheinen, aber man kann nicht leugnen: Wirt-
schaftlich war der Film sehr erfolgreich. Die Investoren
haben nicht nur ihr Geld, sondern darüber hinaus noch
eine ansehnliche Rendite erhalten. Aber es hätte auch al-
les komplett anders kommen können. Wenn niemand
sich den Film angesehen hätte, wäre das Geld einfach
weg gewesen. Nun die Frage: Muss man die Menschen
vor solchen Anlagen schützen? Wir sagen Nein. Wir
wollen solche Innovationen nicht totregulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweitens. Es ist auch falsch, wenn Sie unterstellen,
dass der Graue Kapitalmarkt komplett unreguliert sei.
Schon in der letzten Wahlperiode haben wir die Aufsicht
im Bereich des Grauen Kapitalmarkts und auch die
Transparenz der Produkte deutlich verbessert. Wir haben
auch den Sach- und Fachkundenachweis eingeführt.

Wir gehen auf diesem Weg noch ein Stück weiter. Wir
ziehen Konsequenzen aus der Pleite des Windkraftbe-
treibers Prokon. Wir haben ein ganzes Maßnahmenpaket
zum Schutz von Kleinanlegern vorgelegt. Die Unterneh-
men werden dadurch zu mehr Transparenz verpflichtet,
und auch der Vertrieb wird so geregelt werden, dass
Finanzprodukte nicht systematisch an Anleger vertrie-
ben werden, für die sie sich nicht eignen.

Wir wollen auch die Verbraucherzentralen mit zusätz-
lichen Millionen Euro ausstatten, damit sie den Markt
noch besser und systematischer beobachten und so viel-
leicht auch Missstände schneller aufdecken können.
Dies alles tun wir mit einem Ziel: einen Ausgleich zwi-
schen der staatlichen Regulierung auf der einen Seite
und der Eigenverantwortung der Verbraucher auf der an-
deren Seite zu schaffen.

Die Kollegin Lay von den Linken hat in einer Presse-
mitteilung dieses Maßnahmenpaket kritisiert. Sie hat ge-
sagt – ich zitiere –:

Im Kern bleibt es an den Verbraucherinnen und
Verbrauchern hängen, sich zu informieren und
dementsprechend zu handeln.

Ja, Frau Kollegin, so kann man das sagen. Am Ende ent-
scheidet immer der Verbraucher und nicht der Staat; so
wollen zumindest wir das.





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

Aber schauen wir uns doch einmal genau an, was Sie
vorschlagen. Sie fordern zum Beispiel einen Finanz-
TÜV, der alle Finanzinstrumente und -akteure prüfen
soll. Mit welchem Ergebnis soll er prüfen? Sie denken
dabei an ein Ampelsystem. Rot bedeutet demnach Ge-
fahr. Das kann ich noch verstehen. Gefahr heißt, das Pro-
dukt darf nicht auf den Markt, weil Totalverlust droht.
Das bedeutet auch: kein Geld für Filme wie Stromberg.

Ihr Konzept – das zeigt das kleine Beispiel – ist nicht
sinnvoll. Ich schlage Ihnen vor: Packen Sie es einfach in
die Tonne, am besten wird es auch nicht wieder hervor-
geholt und recycelt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine weitere Forderung von Ihnen ist, die provisions-
basierte Beratung zu verbieten. Sie unterstellen, alle Be-
rater empfehlen Produkte nicht nach der Qualität, son-
dern nach der Höhe der Provision. Sie verleumden damit
einen ganzen Berufszweig. Aber darauf will ich nicht
weiter eingehen. Sie wollen eine Vertriebsform unterbin-
den, die fast den gesamten Markt ausmacht. Was würden
wir damit erreichen? Welchen Vorteil hätte der Kunde
bzw. der Verbraucher dadurch?

Nach Ihrem Wunsch müssten die Kunden dann auch
für jede Hausratversicherung oder Haftpflichtversiche-
rung eine Honorarberatung bezahlen. Der Stundensatz
einer Honorarberatung gerade in diesen Bereichen ist
viel höher als die heutige Provision. Das nutzt den Ho-
norarberatern, aber sicherlich nicht den Verbrauchern.


(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU])


Wir wollen dagegen die honorarbasierte Beratung als
Alternative zum provisionsbasierten Modell weiter aus-
bauen und fest im Markt etablieren. Denn beide Modelle
haben ihre Vorteile für den Verbraucher, und wir wollen,
dass der Verbraucher selber auswählen kann, was für ihn
gut ist.

Mit unseren Maßnahmen zum finanziellen Verbrau-
cherschutz schützen wir die Verbraucher, ohne sie zu
überfordern oder zu entmündigen. Das ist unser Ziel,
und auf dieses Ziel richten wir auch alle weiteren Maß-
nahmen aus.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803920200

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Susanna Karawanskij das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803920300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir Linken wollen mit
unserem Antrag den Grauen Kapitalmarkt, der eben
nicht staatlich reguliert ist, umfassend regulieren, damit
nicht länger ein lax regulierter Grauer Kapitalmarkt ne-
ben dem Weißen Kapitalmarkt existiert.
Heute wird in der FAZ – das ist nicht gerade ein Par-
teiblatt – Bundestagspräsident Norbert Lammert zitiert:

Es gibt eine Reihe von Phantasieprodukten, die
schon in ihrer Konstruktion schlicht unanständig
sind.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bei Ihnen ist alles unanständig!)


Daimler-Finanzvorstand Manfred Gentz sagt dazu in der
FAZ – lassen Sie mich auch das zitieren –:

Man wird wahrscheinlich für bestimmte Produkte
ganz simpel zu Verboten kommen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist kein Zitat der Linken, sondern eine Aussage des
Daimler-Chefs.

Dass wir eine Regulierung brauchen, zeigt sich auch
daran, dass Sie jetzt einen Aktionsplan und ein Maßnah-
menpaket vorhaben. Sie sagen selber: Wir brauchen die
Verbesserung des Schutzes der Kleinanleger im Grauen
Kapitalmarkt.

Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Sie denken nicht
im Traum daran, den Grauen Kapitalmarkt zu regulieren.
Sie möchten lediglich den Verbraucherschutz, also sozu-
sagen den Anlegerschutz im Grauen Kapitalmarkt regu-
lieren, statt diesen endlich von der Bildfläche verschwin-
den zu lassen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung, was wir schon gemacht haben!)


Wir wollen ebenfalls einen finanziellen Verbraucher-
schutz, aber das schließt noch lange nicht aus, dass man
dem Grauen Kapitalmarkt nicht das Wasser abgraben
und ihn schlussendlich schlicht und ergreifend beseiti-
gen kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Um es ganz klar zu sagen: Unter den von Ihnen vor-
geschlagenen Maßnahmen sind einige bemerkenswerte
und sinnvolle Regulierungen. Das möchte ich gar nicht
verheimlichen.

Herr Sieling von der SPD hat uns bei der ersten Bera-
tung des Antrages keck vorgeworfen, dass wir unsere
Forderungen nur bei Google zusammengesucht hätten.
Sie haben jetzt ein Maßnahmenpaket mit 20 Einzelmaß-
nahmen vorgelegt.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: 22!)


Ihrer Koalition hätte eine ausführlichere Google-Suche
gutgetan. Denn Sie rücken dem Grauen Kapitalmarkt
nicht wirklich zuleibe; Sie gehen das halbherzig an. Dass
Sie das nur gebremst tun, zeigt sich auch daran, dass Sie
ständig auf die mündigen Anleger und auf die Eigenver-
antwortung verweisen. Gewiss muss jeder Verantwor-
tung für seine Anlageentscheidungen übernehmen. Die
Entscheidungen wollen wir den Anlegern auch gar nicht
abnehmen. Aber wir wollen die Anleger nicht in das of-
fene Messer laufen lassen.


(Beifall bei der LINKEN)






Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

Sie selbst haben zugegeben, dass die Finanzbranche sehr
kreativ ist und einige Produkte sehr undurchsichtig sind.
Die mündigen Anleger und Verbraucher werden und
können das Spiel gegen die mächtige Finanzbranche
nicht gewinnen. Da sind Sie auf dem Holzweg; das muss
ich Ihnen einfach so klar sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir legen in unserem Antrag tatsächlich einen weit-
räumigeren Blick an den Tag. Wir wollen, dass jede
Geld- und Vermögensanlage in einschlägigen Gesetzen
reguliert wird.


(Beifall bei der LINKEN)


An Sie geht die Aufforderung, die Lücken im Kapitalan-
lagegesetzbuch zu schließen. Darüber hinaus wollen wir
den Grauen Kapitalmarkt einer wirksamen Finanzauf-
sicht unterstellen. Dazu gehört beispielsweise, dass die
Finanzanlagevermittler nicht länger von den Gewerbe-
ämtern kontrolliert werden. Das hat im Übrigen auch die
SPD in der letzten Legislaturperiode gefordert. Der Fall
Prokon ist tatsächlich der Aufhänger für unseren Antrag.
Aber Sie müssen weiterdenken, damit wir – erlauben Sie
mir bitte dieses Wortspiel – dem Grauen Kapitalmarkt
das Grauen nehmen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Da meine Redezeit abläuft,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gut so!)


komme ich zum Schluss. In Sachen Vertrieb sollten Sie
strenger sein. Sie sollten den provisionsbasierten Ver-
kauf von Finanzprodukten aller Art unterbinden und als
Alternative die unabhängige Finanzberatung durch Ver-
braucherzentralen bzw. Honorarberater stärken. Da Sie
sicher gleich von Erfolgsgarantien und Finanzplaketten
sprechen werden: Wenn ein Fahrer oder eine Fahrerin ei-
nes Pkw mit TÜV-Plakette einen Auffahrunfall provo-
ziert, dann wird deswegen nicht gleich der TÜV infrage
gestellt bzw. in Haftung genommen. Aus unserer Sicht
führt an einem Finanz-TÜV – egal ob es um die Einfüh-
rung einer Ampelkennzeichnung oder schlicht um die
Frage der Zulassung eines Finanzprodukts geht – ge-
nauso wenig ein Weg vorbei wie an einer vollständigen
Überwindung des Grauen Kapitalmarkts.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803920400

Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1803920500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als
Erstes sagen, dass ich mich ausgesprochen freue, Frau
Kollegin Karawanskij, dass Sie sich in Ihrer Rede sehr
ausführlich auf das 22-Punkte-Papier der beiden zustän-
digen Minister, nämlich des Ministers der Justiz und für
Verbraucherschutz, Heiko Maas, und des Ministers der
Finanzen, Herrn Schäuble, bezogen haben, das dazu
dient, die Beratungen über das voranzubringen, was wir
in der Großen Koalition auf der Grundlage unseres Ko-
alitionsvertrags zum Schutz der Sparerinnen und Sparer,
der Anlegerinnen und Anleger sowie aller Verbrauche-
rinnen und Verbraucher, aber auch zur weiteren Regulie-
rung der Finanzmärkte auf den Weg bringen wollen. Das
ist doch eigentlich ein gutes Zeichen für die Debatte in
diesem Parlament.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir von der Koalition können stolz darauf sein, dass
wir nun diesen Weg gehen und entsprechende Maßnah-
men ergreifen. Wir sind in der glücklichen Situation,
dass schon in der vergangenen Legislaturperiode an ver-
schiedenen Stellen Schritte gemacht wurden, auch wenn
diese teilweise unterschiedlich bewertet wurden. Wir
sind allein schon deshalb weiter, weil mittlerweile in die-
sem Parlament in der Frage betreffend die notwendige
Regulierung und den Schutz der Sparerinnen und Sparer
sowie der Anlegerinnen und Anleger und die Vermei-
dung von Fehlentwicklungen eine ganz große Koalition
besteht. Das war in der letzten Legislaturperiode noch
nicht der Fall. Hier können wir gute Fortschritte ver-
zeichnen. Wir werden nun Lücken schließen müssen.

Kollegin Heil hat schon einige Punkte des Antrags
der Linksfraktion angesprochen. Wir werden und kön-
nen den dort skizzierten Weg so nicht mitgehen. Ange-
sichts der Aufgaben, vor denen wir stehen, darf man das
Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es gibt eine fach-
liche und eine politische Dimension. Die fachliche Di-
mension besteht darin, dass man keine Maßnahmen er-
greifen darf, die am Ende negative Effekte für die
Menschen, um die es uns geht, haben werden. Das Pro-
blem des Provisionsverbots – ich komme gleich darauf
zurück – ist angesprochen worden. Wenn man so vor-
geht, wie Sie es vorschlagen, wird man dieselben negati-
ven Erfahrungen machen, die die Briten gemacht haben.
In Großbritannien gibt es das Verbot. Das ist schlecht für
die Verbraucherinnen und Verbraucher. Darum gehen
wir einen solchen Weg nicht mit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man muss auch beachten, dass man am Ende politische
Wege suchen muss. Auch da darf man das Kind nicht
mit dem Bade ausschütten. Man muss unterschiedliche
Kräfte bündeln und Mehrheiten finden. Auch dazu sind
Teile Ihrer Vorschläge nicht geeignet.

Ich will an der Stelle den zweiten Punkt aus meiner
Sicht ansprechen. Das ist der sich gut anhörende Vor-
schlag eines Finanz-TÜVs. Das Problem besteht darin,
dass wir insgesamt 1 Million Produkte haben, die sich zu
einem großen Teil immer wieder verändern, weil sie sehr
individuell zugeschnitten werden und in dem Zusam-
menhang neu konstruiert werden. Wenn Sie alle diese
Produkte einer Behörde, in dem Fall der BaFin, überge-





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

ben wollen – das wäre eine Superbehörde für eine Super-
aufsicht –, dann wird das nicht klappen. Die BaFin wird
nicht hinterherkommen können, die Aufsicht wird nicht
wirksam sein. Deshalb lehnen wir den Finanz-TÜV ab
und halten seine Einführung für einen Schritt in die fal-
sche Richtung.

Ich habe gesagt, dass es an der Stelle eine ganz große
Koalition gibt. Die haben wir natürlich auch deshalb
– das hat sich so gesellschaftlich herausgebildet –, weil
wir mit S&K, Phoenix, aber natürlich auch zuletzt Pro-
kon Fälle haben, die wir angehen müssen. Ich will des-
halb auf das kommen, was die Zukunft in unserem Land
bestimmen wird, nämlich das Eckpunktepapier, das von
den beiden zuständigen Ministerien vorgelegt worden
ist.

Es ist nicht so, wie der Eindruck zu erwecken ver-
sucht wurde, dass damit nur – „nur“ in Anführungsstri-
chen – Verbraucherschutz betrieben wird. Natürlich wird
Verbraucherschutz betrieben, aber es wird auch eine Re-
gulierung der Anleger und der Finanzmärkte geben. Es
wird zum Beispiel die Frage des Vertriebs aufgegriffen,
und die Werbung soll eingeschränkt werden. Dazu
möchte ich zwei Zahlen nennen, die einen wirklich er-
schrecken und die deutlich machen, wie wirksam es sein
wird, wenn wir die Werbung für gewisse Produkte ein-
schränken.

Prokon hatte einen Werbeetat für seine Produkte in
Höhe von 85 Millionen Euro. Irgendwie musste das, was
über die Bildschirme flackerte, bezahlt werden. Der Au-
tomobilkonzern Ford hat einen Jahresetat von 100 Mil-
lionen Euro für seine Werbung. Wenn man die beiden
Zahlen ins Verhältnis setzt, sieht man, welcher Aufwand
bei Prokon betrieben worden ist und was für eine ver-
zerrte Vertriebsstrategie gefahren worden ist. Dass das
eingeschränkt wird, ist, glaube ich, eine sehr wichtige
Angelegenheit.

Die zweite wichtige Angelegenheit, an der wir arbei-
ten werden, ist, dass die BaFin natürlich eine erweiterte
Aufgabe erhält. Wir als SPD haben lange gefordert, dass
sie auch die Zuständigkeit für den Verbraucherschutz er-
hält. Das ist ein Riesenschritt voran, weil sie dann natür-
lich – aber nur in Fällen, in denen es richtig schiefgehen
kann – auch die Möglichkeit haben wird, Produkte zu
verbieten. Das Instrument muss sie auch bekommen,
wenn sie wirksam und durchschlagend sein will. Sie soll
aber nicht Genehmigungen für 1 Million Produkte ertei-
len, sondern gezielt vorgehen, quasi mit dem Florett ar-
beiten, um diejenigen, die den Markt ausnutzen und
Übergriffe tätigen, aus dem Markt zu nehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich noch eines zum Schluss sagen. Wir
werden große Schritte vorangehen, indem wir auch
Maßnahmen ergreifen, um den kollektiven Verbraucher-
schutz zu stärken, beispielsweise mit dem Aufbau von
Marktwächtern. Auch das sagt das Eckpunktepapier der
beiden Ministerien. Aber wir werden auch – auch Kolle-
gin Heil hat das hier schon angesprochen; das ist ein
wichtiges Vorhaben – dafür sorgen, dass ein Wettbewerb
zwischen jetziger provisionsorientierter Beratung und
zukünftiger Honorarberatung stattfindet. Wir müssen
Honorarberatung auf Augenhöhe ermöglichen. Das
werden wir mit dem, was wir machen, schaffen. Das ist
vernünftiger als das, was Sie heute hier vorlegen. Aber
vielleicht bringen wir ja eine konstruktive Diskussion
zustande, und am Ende steht bei der Beschlussfassung
über das, was dieses Haus irgendwann als Gesetzentwurf
erreicht, eine große und das ganze Haus umfassende
Mehrheit. Ich glaube, das wäre gut, um den Grauen Ka-
pitalmarkt einzuschränken und die Verbraucherinnen
und Verbraucher zu schützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803920600

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu dem Antrag der Fraktion Die Linke werden wir uns
enthalten, obwohl er viele richtige Punkte enthält. Die
Linke fordert einen Finanz-TÜV, der alle Finanzinstru-
mente, -akteure und -praktiken vor ihrer Zulassung da-
raufhin untersucht, ob sie – ich zitiere – „gesamtwirt-
schaftlich keine unerwünschten Nebenwirkungen haben,
ob das gesamt- und betriebswirtschaftliche Risiko be-
herrschbar ist und ob sie verbraucherfreundlich sind“.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Planwirtschaft!)


Das halten wir nicht für sinnvoll; denn solche Wirt-
schaftlichkeitsprüfungen sind mit hohen Prognoserisiken
behaftet. Ein positives Urteil eines solchen Finanz-
TÜVs könnte wie eine Erfolgsgarantie verstanden wer-
den, ganz zu schweigen von der drohenden Amtshaf-
tung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Erfolgreiche Planwirtschaft à la DDR!)


Als wir den Antrag der Fraktion Die Linke bei seiner
Einbringung hier im Plenum behandelt haben, schloss
ich meine Rede mit einem Appell an den Verbraucher-
schutzminister Maas. Ich habe gesagt, bezüglich seiner
Ankündigungen, ausgehend vom Fall Prokon im Bereich
des Grauen Kapitalmarkts jetzt etwas zu tun, würden wir
ihn schon beim Wort nehmen; denn eine Ankündigungs-
ministerin Aigner hatten wir im Verbraucherschutzmi-
nisterium lange genug.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mittlerweile hat der Verbraucherschutzminister zu-
sammen mit dem Bundesfinanzminister Schäuble einen
Aktionsplan zum Verbraucherschutz im Finanzmarkt
vorgelegt. Dieser besteht aus einem Maßnahmenpaket
insbesondere zur Verbesserung des Schutzes von Klein-





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

anlegern im Grauen Kapitalmarkt. Ich muss sagen:
Wenn das so im Gesetz Niederschlag findet, dann hat der
Verbraucherschutzminister meinen Respekt; denn dieser
Aktionsplan enthält viele Punkte, die wir Grünen seit
langem fordern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Beispiel begrüßen wir sehr, dass nun Umge-
hungsmöglichkeiten für Anbieter von Graumarktproduk-
ten eingeschränkt werden sollen und dass der Katalog
der nach dem Vermögensanlagegesetz geregelten Anla-
geformen erweitert wird. Es gibt am Markt nämlich er-
hebliche Ausweicherscheinungen, zum Beispiel partiari-
sche Darlehen oder Nachrangdarlehen. Darauf muss
man reagieren. Es ist richtig, dass das vorgesehen ist.

Zu begrüßen sind auch die Vorschläge zur verstärkten
Transparenz von Vermögensanlagen und die Offenle-
gung ihrer Risiken. Es ist zum Beispiel eine Selbstver-
ständlichkeit, dass verpflichtende Angaben zu personel-
len Verflechtungen im Umfeld des Anbieters für den
Anleger transparent gemacht werden müssen; denn das
kann er selber nicht erkennen. Richtig ist auch, dass die
Finanzaufsicht Befugnisse bekommt, Werbeverbote und
Vertriebsbeschränkungen bei unseriösem und aggressi-
vem Anbieterverhalten auf dem Grauen Kapitalmarkt
vorzunehmen.

Trotz alldem gibt es zwei zentrale Schwachpunkte,
und ich sehe noch nicht, dass Sie sie angehen:

Erstens. All die neuen anlegerschützenden Maßnah-
men gehören auch umgesetzt. Aber von personellen Ver-
besserungen für die Aufsicht ist nirgendwo die Rede.
Auf einer Pressekonferenz hat Herr Schäuble auf Nach-
frage einer Journalistin an dieser Stelle deutlich den
Kopf geschüttelt. Ich befürchte daher, dass die Durchset-
zung dieser Punkte an mangelnden personellen Kapazi-
täten scheitern wird. Das darf nicht passieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Eine Finanzaufsicht mit Befugnissen aus-
zustatten, ist das eine. Das andere ist, dass sie auch da-
von Gebrauch machen will. Es irritiert mich massiv, dass
die BaFin ihre Handlungsmöglichkeiten nicht nutzt.
Zum Beispiel hat die BaFin bereits 2008/2009, als sie
gegenüber Prokon das Erbringen eines unerlaubten
Bankgeschäfts monierte, Handlungsspielräume gehabt,
um die Geschäftstätigkeit zu untersagen; aber sie hat es
nicht gemacht. Wir haben ein massives Vollzugsdefizit
in der deutschen Finanzaufsicht zulasten der Verbrau-
cher, und das muss korrigiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle gibt es eine klare Verantwortungszu-
teilung: Die Bundesfinanzaufsicht untersteht der Rechts-
und Fachaufsicht des Bundesfinanzministers.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Wenn sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise noch
immer ein solches Vollzugsdefizit besteht, dann ist das
an dieser Stelle einfach eine miserable Leistung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn sich hier nichts tut, dann werden die geplanten
Maßnahmen ins Leere laufen. Deswegen lautet unsere
zentrale Aufforderung heute: Tun Sie etwas an diesen
zwei zentralen Schwachpunkten!

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Susanna Karawanskij [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803920700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege

Dr. Volker Ullrich das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1803920800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der De-
batte um den Grauen Kapitalmarkt klaffen Anspruch und
Lebenswirklichkeit auseinander. Ähnlich verhält es sich
mit der ökonomischen Theorie und der Wirklichkeit. In
der idealen Welt haben alle Teilnehmer Informationen
über das gesamte Marktgeschehen und handeln rein am
ökonomischen Nutzen orientiert. In der Praxis verhält es
sich anders. In der Politik stellt man in der Theorie der
idealen Welt Anträge in Kenntnis dessen, was bislang
passiert ist. In der Praxis liegt ein Antrag wie der der
Linksfraktion auf dem Tisch. Sie verkennen, dass die
Problematiken des Grauen Kapitalmarkts und das
strukturelle Versagen, das auf diesem Markt zulasten der
Verbraucher aufgetreten ist, von der unionsgeführten
Bundesregierung in den letzten Jahren erkannt und beho-
ben worden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In den Jahren 2011 und 2013 sind mit dem Vermö-
gensanlagengesetz und mit dem Kapitalanlagegesetz-
buch wesentliche Schutzlücken geschlossen worden.
Gleichwohl erkennt eine vorausschauende Politik, dass
der Schutz im Augenblick nicht ausreicht. Angesichts
der aktuellen Fälle, die wir alle bedauern, sehen wir ei-
nen Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, weiter tätig
zu werden, und zwar umsichtig und besonnen und unter
Berücksichtigung der besonderen Aufgaben, die ein Ka-
pitalmarkt auch für das Funktionieren unserer Wirtschaft
hat.

Dementsprechend haben die Bundesminister der Fi-
nanzen und der Justiz vor zwei Wochen ein weiteres
Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, welches in den
nächsten Wochen und Monaten in die parlamentarische
Debatte eingebracht werden wird. Ich glaube, es ist ein
gutes Signal, dass wir diese Debatte führen werden. Mit
dem Maßnahmenpaket können wir weitere Schutzlücken
schließen.

Es darf aber nicht vergessen werden, dass bei der De-
batte um den Grauen Kapitalmarkt auch die Funktion für
unsere Wirtschaft nicht aus den Augen verloren werden
darf.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Welche Funktion hat er denn?)






Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

Sie können nicht einige Fälle, die wir alle bedauern und
in denen Menschen auch ganz konkret betrogen worden
sind, zum Anlass nehmen, Kapitalbeschaffungsmaßnah-
men für den Mittelstand, für neue Projekte, für Wind-
energie, für Solarenergie, für andere innovative Themen
unmöglich zu machen. Sie müssen erkennen, dass in un-
serer Marktwirtschaft – wir sind davon geprägt – auch
die Allokation von Kapital noch entsprechend funktio-
nieren muss.


(Widerspruch der Abg. Susanna Karawanskij [DIE LINKE])


Alles andere ist Planwirtschaft.

Es ist doch Planwirtschaft, wenn Sie durch einen Fi-
nanz-TÜV alles regeln wollen, weil Sie damit den Staat
zu einer Art Wirtschaftsprüfer machen, letzten Endes
Amtshaftungsansprüche begründen und Erwartungen
wecken, die der Staat nicht erfüllen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es sei in dieser Debatte weiter daran erinnert, dass es
auch um die Bildung unserer Mitbürger in finanziellen
Fragen geht. Ich meine, Eigenverantwortung und Bil-
dung in finanziellen Fragen, das ist der notwendige Ei-
genbeitrag, den alle leisten müssen, und das ergänzt den
staatlichen Anlegerschutz. Nur zusammen kann damit
ein Schutzniveau erreicht werden, das für alle tauglich
ist. Um es mit den Worten eines bedeutenden Investors,
Warren Buffett, zu sagen: Kaufen Sie nichts, was Sie
nicht kennen!


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Was Sie nicht verstehen! – Zuruf des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE])


Dementsprechend ist „Eigenverantwortung“ nicht ir-
gendwie nur ein liberales Wort, sondern Eigenverant-
wortung ist letzten Endes etwas, was den Menschen im
Kern angeht. Wir müssen und dürfen den Menschen
etwas zutrauen, ohne dass wir vergessen, dass der Staat
eine gewisse Schutzpflicht hat.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Ja! Nehmen Sie die wahr!)


Ich bin überzeugt, dass wir mit dem Maßnahmenpa-
ket einen Schutz des Grauen Kapitalmarkts vor proble-
matischen Anbietern erreichen, der dem Niveau unserer
Volkswirtschaft entspricht und die Menschen ruhiger
schlafen lässt, weil sich die Politik darum kümmert.
Gleichzeitig erlauben wir, dass die Kapitalfunktion in
unserer Wirtschaft beibehalten werden kann.

In diesem Sinne: Warten Sie ab, was wir zukünftig
vorlegen werden. Wir werden damit den Grauen Kapital-
markt auf eine anlegerfreundliche Art und Weise regu-
lieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Wenn Sie das wollen, können Sie auch gleich unserem Antrag zustimmen!)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803920900

Vielen Dank. – Das war der letzte Redner in dieser

Debatte.

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend re-
gulieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/1656, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/769 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Ge-
biet des Finanzmarktes

Drucksachen 18/1305, 18/1574

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)


Drucksache 18/1648

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre
hierzu keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De-
batte ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
Bitte schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Fritz Güntzler (CDU):
Rede ID: ID1803921000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Vor vier Wochen haben wir
hier in erster Lesung über den Entwurf eines Gesetzes
zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Fi-
nanzmarktes beraten. Daraufhin folgen die Anhörung,
aber auch viele intensive Gespräche mit Verbänden und
dem Ministerium. Diese haben zu Änderungsanträgen
geführt, über die wir heute ebenfalls beschließen wollen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden im We-
sentlichen aber nur redaktionelle Korrekturen und euro-
parechtlich notwendige Anpassungen vorgenommen.
Dies ist insbesondere notwendig, weil die Definition von
offenen und geschlossenen Fonds im KAGB an die dele-
gierte Verordnung der EU-Kommission angepasst wer-
den muss. Diese Verordnung wird voraussichtlich im
Juli 2014 in Kraft treten. Als geschlossen gelten dann
nur noch Fonds, deren Anteile nicht vor Beginn der Li-
quidation oder Auslaufphase auf Ersuchen eines Anteils-
eigners zurückgenommen werden können. Vorher waren
dies solche Fonds, bei denen die Rückgabe nicht min-
destens einmal jährlich möglich war. Dies ist also eine
weitaus restriktivere Auslegung des Begriffs.





Fritz Güntzler


(A) (C)



(D)(B)

Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an ei-
nen geschlossenen bzw. einen offenen Fonds hat diese
Änderung der Definition erhebliche Auswirkungen.
Viele bisherige geschlossene Fonds wären damit zu offe-
nen Fonds geworden. Deshalb wird den bestehenden
Fonds, den sogenannten Altfonds, durch das Gesetz nun-
mehr Bestandsschutz gewährt. Das ist notwendiger Ver-
trauensschutz.

Meine Damen und Herren, weiter hätte diese Ände-
rung erhebliche negative Auswirkungen auf die zahlrei-
chen Energiegenossenschaften gehabt, sofern sie denn in
den Anwendungsbereich des KAGB fallen, also als In-
vestmentvermögen anzusehen sind. In diesem Zusam-
menhang möchte ich aber auch einmal darauf hinweisen,
dass weit über 90 Prozent der mittlerweile über 800 be-
stehenden Energiegenossenschaften operativ tätig sind.
Diese werden somit von der Regulierung des KAGB gar
nicht erfasst. Diese Tatsache wird in der Diskussion teil-
weise nicht richtig gewürdigt.

Für die unter das KAGB fallenden Energiegenossen-
schaften – das ist also der weitaus geringere Teil – war
noch in den letzten Zügen der Ausschussberatung im
vergangenen Jahr eine Ausnahmeregelung geschaffen
worden, um diese Bürgerenergieprojekte – um diese
handelt es sich zumeist – nicht durch zu große Regulie-
rung und Anforderungen zu gefährden. Die Ausnahme-
regelung für diese Genossenschaften wäre aufgrund der
nach dem Genossenschaftsgesetz vorgesehenen Kündi-
gungsmöglichkeiten ausgehebelt worden. Daher haben
wir die Ausnahmeregelung an die neue Definition ent-
sprechend angepasst. Wir wollen allen Bürgerenergiege-
nossenschaften weiterhin ermöglichen, einen wichtigen
Beitrag zur Energiewende in der Bundesrepublik zu leis-
ten.

Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf einen
weiteren Punkt hinweisen, den ich auch schon in der
Einbringung des Gesetzentwurfes angesprochen habe.

Wir haben auch in den Beratungen intensiv über den
Nachweis der fachlichen Eignung von Geschäftsleitern
von Bürgerenergiegenossenschaften diskutiert. Die
CDU/CSU-Fraktion und ich halten es für richtig und
wichtig, dass auch diese – neben der Zuverlässigkeit des
Geschäftsleiters – geprüft wird. Die BaFin soll künftig
bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und Eignung der
Geschäftsleitung einer Genossenschaft aber auch die
Stellungnahme des zuständigen genossenschaftlichen
Prüfungsverbandes einbeziehen. Mit diesem Hinweis
wird berücksichtigt, dass die Eignung der Geschäftslei-
ter bereits bei der Gründung der Energiegenossenschaf-
ten durch die genossenschaftliche Prüfung festgestellt
wird. Weiterhin geht von uns an die BaFin das klare Si-
gnal, bei ihrer Prüfung ihren Maßstab an der Größe, der
Komplexität und dem Risikogehalt der Geschäftstätig-
keit auszurichten. Wir wollen bürgerliches Engagement
unterstützen und nicht durch übertriebene Anforderun-
gen verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Darum haben wir auch eine Evaluierung dieser Ausnah-
mevorschriften für Energiegenossenschaften zum Ende
des Jahres 2015 vereinbart, um gegebenenfalls, falls not-
wendig, nachsteuern zu können.

Ich möchte noch zwei weitere Punkte, die auch Ge-
genstand der Anhörung gewesen sind, kurz ansprechen.
Durch die Änderung im KAGB ermöglichen wir jetzt
auch das sogenannte Derivatenclearing, also die Auf-
rechnung von in der Verrechnung des Sondervermögens
begründeten Forderungen und Ansprüchen, künftig auch
für börslich gehandelte Derivate. Bisher war das Clea-
ring nur für außerbörslich gehandelte Derivate möglich.
Die deutlich strenger regulierten börslich gehandelten
Derivate sind im Rahmen der AIFM-Umsetzung verse-
hentlich außen vor geblieben. Das machte so keinen
Sinn. Darum haben wir dies angepasst.

Nicht übernommen haben wir den Vorschlag aus der
Anhörung, der auch von den Grünen übernommen wor-
den ist, Ausnahmeregelungen für sogenannte Kleinst-
AIF in der Rechtsform einer Genossenschaft zu schaf-
fen. Bei denen sollte unter anderem die Höchstanlage bei
2 500 Euro liegen und das Anlagevolumen einen Betrag
von 5 Millionen Euro nicht übersteigen. Ich vermag
nicht einzusehen, warum Anleger bei diesen Gesell-
schaften einen schlechteren Anlegerschutz erhalten sol-
len. Für so manchen von uns sind auch 2 500 Euro viel
Geld. Auch diesen Anlegern gebührt ein angemessener
Anlegerschutz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf haben wir bewusst keine größeren materiel-
len Änderungen im KAGB vorgenommen. Um zu wis-
sen, an welchen Stellen wir gegebenenfalls noch
Anpassungen vorzunehmen haben, sollten wir den Pra-
xistest der umfangreichen und komplexen Finanzmarkt-
regulierung abwarten. Ich bin sicher, dass das Finanz-
marktanpassungsgesetz nicht die letzte Etappe bei der
Regulierung des Kapitalmarktes ist. Weitere werden si-
cher folgen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803921100

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt

Susanna Karawanskij das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803921200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir sprechen – wir ha-
ben es gerade gehört – über die Anpassung von Finanz-
marktgesetzen in einem begrenzten, redaktionellen Sinn.
Das haben Sie, Herr Kollege, gerade treffend gesagt. So
weit, so gut. Gesetze müssen immer mal wieder überar-
beitet werden, wenn sich die Bezeichnungen von Sach-
verhalten, aber auch die Relationen ändern. Aber: Ihr
Vorgehen beinhaltet gleichzeitig eine ganz klare Bot-
schaft, dass nämlich die Bundesregierung über die tech-





Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

nokratische Aktualisierung von Gesetzen im Finanzsek-
tor hinaus keinen Handlungsbedarf sieht. Das ist, ehrlich
gesagt, ein Armutszeugnis, und das vor dem Hinter-
grund, dass wir uns immer noch im siebten Jahr der Ban-
ken- und Finanzkrise befinden. Sie werden jetzt sagen:
Das ist das siebte Jahr nach der Krise. – Aber wenn Sie
immer wieder behaupten, dass diese vorbei sei, schauen
Sie einmal über den Tellerrand nach Europa, und dann
sehen Sie: Wir stecken immer noch in dem Schlamassel.


(Beifall bei der LINKEN)


Die EZB, die Europäische Zentralbank, führt wieder
einmal Stresstests durch, wonach Banken und deren Ei-
genkapital hinsichtlich ihrer Risikotragfähigkeit über-
prüft werden. Hier geht es darum, dass man Prävention
zu dem Zweck betreibt, dass bei einem erneuten Crash
nicht wieder die Hosen heruntergelassen werden müs-
sen. Es ist eher eine Prüfung der großen Banken dahin
gehend, ob Europa im Ernstfall wieder einspringen darf.
Ich finde, der Koalitionsvertrag war, was Ihre Ambitio-
nen zu weiteren Regulierungen der Finanzmärkte
angeht, beschämend zahm. Dieses Thema plätschert ein-
fach dahin. Ehrlich gesagt verspielen Sie die Gelegen-
heit, aus der größten Finanzkrise, die wir seit 1929 bzw.
den 30er-Jahren hatten, die notwendigen Schlüsse zu
ziehen. Sie brauchen sich nicht hinter Europa und der
Euro-Krise zu verstecken. Die Bundeskanzlerin hat in
Europa die unsoziale, ökonomisch kontraproduktive
Sparpolitik mit aller Härte gegen die Euro-Krisenländer
durchgesetzt. Wenn Sie als Bundesregierung nur halb so
entschlossen wären, den hochriskanten Finanzgeschäf-
ten und dem Grauen Kapitalmarkt den Kampf anzusagen
– von den Schattenbanken rede ich gar nicht –, dann wä-
ren wir im Hinblick auf eine europäische Regulierung
deutlich weiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Uns ist natürlich nicht entgangen, dass Sie, vor allem
auf Druck der Finanzbranche selbst, wenige inhaltliche
Veränderungen vorgenommen haben. Auf diese will ich
kurz eingehen.

Zur Anzahl der Aufsichtsmandate. Wir finden es voll-
kommen richtig, dass die Begrenzung der Aufsichtsman-
date die Sparkassen gegenüber den Privatbanken nicht
benachteiligen darf. Wir hätten uns aber eine andere Re-
aktion gewünscht: nicht die, dass Sparkassen nun mehr
Mandate wahrnehmen dürfen, sondern dass die Zahl der
Mandate der privaten Banken eingeschränkt wird.

Durch die Finanzkrise wurde flächendeckend bestä-
tigt, dass neben dem Management und der Finanzauf-
sicht auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Ban-
ken ihre Kontrollfunktion eben nicht erfüllt haben. Es
wäre nur konsequent, dass man der Ämterhäufung bei
Kontrollmandaten entgegentritt und damit die Bürde auf
mehr Schultern verteilt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Machen wir doch!)


Wir brauchen mehr kompetentes Personal mit entspre-
chender Zeit, um den verbundenen Instituten – sei es nun
im Konzernverbund, sei es im öffentlichen-rechtlichen
Institutsverbund – intensiver auf die Finger zu schauen
und, wenn nötig, eben halt auch mal auf die Finger zu
klopfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend möchte ich noch etwas zum Kapitalan-
lagegesetzbuch sagen. Die dortigen Vorschriften lassen
unseres Erachtens noch viel zu viele Umgehungsmög-
lichkeiten und Ausweichkonzepte für unseriöse Anbieter
von Kapitalanlagen zu. Das wurde auch in der Anhörung
ganz deutlich. Man muss sich das Tatbestandsmerkmal
„operativ tätig sein“ erst einmal zu Gemüte führen. Wie
ist das mit der Grenze zum Tatbestand „Investitionsver-
mögen“, der unter die Bestimmungen des Kapitalanlage-
gesetzbuches fällt? Das alles ist sehr schwammig. Das
hatten wir ja schon in der Debatte vorher: Die seit Pro-
kon berühmt-berüchtigten Genussrechte oder auch die
Nachrangdarlehen bleiben immer noch unreguliert.

Um es auf den Punkt zu bringen: Das Kapitalanlage-
gesetzbuch muss endlich wasserdicht gemacht werden.
Die Finanzkrise ist immer noch nicht vorbei, auch wenn
Sie diese Falschaussage mantraartig wiederholen.

Beenden Sie Ihren Dienst nach Vorschrift! Werden
Sie aktiv, und ziehen Sie vor allen Dingen die notwendi-
gen Schlüsse aus der Finanzkrise, und setzen Sie die ge-
wonnenen Erkenntnisse in wirklich wirksame und gute
Gesetze um!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803921300

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1803921400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ein Gesetz „Finanzmarktanpassungsgesetz“ heißt,
dann könnte man vermuten, es gehe um ganz viel Geset-
zestechnik. Das ist in der Tat auch richtig. Der Gesetz-
entwurf soll im Nachgang zu europaweiten Regelungs-
vorhaben – es hat viele Regelungsvorhaben gegeben; das
muss man fairerweise sagen, auch wenn wir in der letz-
ten Legislaturperiode in der Opposition waren und auch
manche Kritik geübt haben; ich nenne nur CRD IV, liebe
Kollegin Karawanskij, ein riesiges Regulierungswerk,
oder das AIFM-Umsetzungsgesetz – Korrekturen und
europarechtlich notwendige Anpassungen vornehmen.

Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich
um ein Mantelgesetz, mit dem insgesamt elf andere Ge-
setze geändert werden. Ganz häufig sind es in der Tat rein
redaktionelle Korrekturen. Liebe Kollegin Karawanskij,
das kann man als technokratische Weiterentwicklung be-
zeichnen, aber so funktioniert unser Rechtsstaat nun ein-
mal: Wir müssen die Gesetze entsprechend anpassen;
denn nur dann ist eine saubere Regulierung möglich, und
nur dann ist der Staat in der Lage, seine Vorstellungen
überhaupt durchzusetzen. Das machen wir hier.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe mich gefragt: Wie kann man in einer Rede
mit einem solch umfangreichen Werk umgehen? Ich
habe mich entschieden, zwei politisch wichtige Punkte
herauszugreifen.

Das erste Stichwort ist die Mandatsbegrenzung. Wo-
rum geht es? Es geht um die grundsätzliche Frage: Wie
viele Aufsichtsratsmandate kann eine Person in unter-
schiedlichen Bereichen sinnvoll wahrnehmen? Wie groß
darf die Zahl sein, sodass es noch möglich ist, wirklich
Aufsicht und Kontrolle über das Geschäftsgebaren aus-
zuüben? Wir haben in der Finanzmarktkrise erlebt, dass
es häufig ein Versagen in diesem Bereich gegeben hat,
dass die Aufsicht nicht mit der nötigen Sorgfalt durchge-
führt wurde. Das hat im Ergebnis zu existenzbedrohen-
den Schieflagen von Banken geführt, die dann mit Steu-
ergeldern gerettet werden mussten. Dieses darf sich
nicht wiederholen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb brauchen wir eine sinnvolle Beschränkung der
Zahl der Mandate.

Ich glaube, wir haben gemeinsam eine sehr sinnvolle
Regelung gefunden, die der Struktur des deutschen Kre-
ditsystems Rechnung trägt. Wir haben bei kleinen Insti-
tuten die alte Rechtslage beibehalten; das sind nicht sys-
temrelevante Institute. Wir haben in Deutschland zum
Glück sehr viele sehr kleine Institute. Aber bei Instituten
von erheblicher Bedeutung, von denen eine Systemge-
fährdung ausgehen kann, wollen wir an der strikten
Mandatsbegrenzung festhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wenn man das einmal in Zahlen übersetzt, kann man
sagen, dass ungefähr 1 900 Institute unter die alte Rege-
lung fallen. Es sind kleine und sehr kleine Institute.
52 Institute fallen unter die sehr stark begrenzende Re-
gelung. Wir haben die Grenze bei einem Bilanzvolumen
von 15 Milliarden Euro gezogen. Das ist eine vernünf-
tige Regelung, vor allen Dingen wenn wir uns vor Au-
gen führen, dass in Zukunft die EZB für systemrelevante
Banken zuständig ist und dafür die Aufsicht übernimmt.

Ein zweiter Punkt, den ich noch kurz herausgreifen
möchte. Es hat Probleme bei der Frage gegeben, was ei-
gentlich zum harten Kernkapital einer Bank zählt und
was nicht. Angesichts des bevorstehenden Stresstests der
EZB ist das eine wichtige Frage, die geregelt werden
muss, damit Klarheit herrscht; denn das Ganze wird
auch veröffentlicht. Wir haben in diesem Gesetzentwurf
klargestellt, dass in Zukunft bestimmte Reserven als har-
tes Kernkapital anzusehen sind, weil sie diese Funktion
erfüllen. Das Ganze war mehr ein rechtstechnisches als
ein inhaltliches Problem.

Wir haben ansonsten in dem Gesetz eine Reihe von
Detailregelungen gefunden – beim Kreditmeldewesen,
beim Geldwäschegesetz, bei der Gewerbeordnung usw.
Der Kollege Petry wird gleich noch auf ein paar andere
Punkte hinweisen.

Die Auswirkungen der einzelnen Regelungen in der
Praxis sind nicht immer präzise vorhersagbar. Von daher
ist es wichtig, dass der Gesetzgeber flexibel reagiert. Das
Wort „Nachbesserung“ ist in diesem Zusammenhang
kein Schimpfwort. Vielmehr wollen wir das Ganze eva-
luieren, also überprüfen, wie es wirkt, und an den ent-
sprechenden Stellschrauben drehen, wenn wir erkennen,
dass Nachbesserung notwendig und möglich ist.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803921500

Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.


Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1803921600

Das ist vernünftige Gesetzgebung, die wir in dieser

Legislaturperiode umsetzen werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803921700

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden eine Reihe
Fehler in bestehenden Regelungen korrigiert, und das ist
auch richtig so. Bei der Begrenzung von Aufsichtsrats-
mandaten haben wir einvernehmlich eine gute Lösung
gefunden. Wir werden uns allerdings trotzdem bei der
Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten; denn
wir sehen Schwächen bei der Korrektur des Kapitalanla-
gegesetzbuches.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Schade!)


Das betrifft zum einen die Energiegenossenschaften.
Da bleibt immer noch eine gewisse Rechtsunsicherheit,
die die dezentrale Energiewende erschwert. Zum ande-
ren meinen wir, dass die Schwelle für die Ausnahme-
regelung mit 100 Millionen Euro deutlich zu hoch be-
messen ist und deswegen noch viele kritische
Anlagemöglichkeiten bestehen, die Anleger in die Irre
führen könnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich haben Sie unseren Vorschlag abgelehnt,
für Kleinstgenossenschaften Erleichterungen zu schaf-
fen. Wir meinen: Dort, wo große Risiken bestehen, muss
man hart durchgreifen, aber dort, wo es sich um kleine
Institutionen handelt, die einen sehr begrenzten Bereich
bewirtschaften, ist es auch richtig, bürokratische Lasten
zu reduzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will aber heute einen anderen, etwas grundsätzli-
cheren Aspekt thematisieren. Die Bundeskanzlerin sagte
neulich, 80 Prozent der Finanzmarktregulierung seien
gemeistert. Doch diese Angabe basiert auf einer verfehl-
ten Analyse. Als die jetzige Regulierungsagenda beim
G-20-Gipfel 2009 in Pittsburgh skizziert wurde, geschah
das unter Anleitung der Experten, die das Regulierungs-
regime prägten, das uns in diese Krise geführt hat. Der





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

Glaube an die Möglichkeit, Risiko zu berechnen, blieb
ungebrochen. So begann eine Bekämpfung von Sympto-
men, die noch heute die Regulierungsagenda dominiert.
Der Fehler dieser Agenda von Pittsburgh war der
Glaube, dass man die Komplexität an den Finanzmärk-
ten mit immer komplexeren Regeln bekämpfen kann.
Ich finde, es ist Zeit, zu erkennen, dass das nicht funktio-
niert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Werden die vielen Gesetze, die wir in der vergange-
nen Legislaturperiode durch den Bundestag gebracht ha-
ben, eine neue Krise verhindern? Ich bin da sehr skep-
tisch. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit einer
Finanzkrise heute leider nicht geringer als vor fünf Jah-
ren. Die Finanzmärkte sind größer als 2007; sie sind
schneller und komplexer geworden. Nach Berechnungen
der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sind
weltweit Anleihen im Volumen von gut 100 Billionen
Dollar im Umlauf – das sind 43 Prozent mehr als beim
Ausbruch der Finanzkrise 2008. Christine Lagarde, die
Chefin des Internationalen Währungsfonds, schrieb im
vergangenen Jahr: „Derivatemärkte sind so groß und un-
durchsichtig wie zuvor.“ Die entscheidenden Reformen
am Finanzmarkt stehen also noch aus. Von wegen
„80 Prozent sind geschafft“! Die große Arbeit, die Fi-
nanzmärkte kleiner, langsamer und weniger komplex zu
machen, haben wir noch vor uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Finanzaufsichtsbehörden haben häufig keinen
wirklichen Überblick darüber, was auf den Märkten ge-
schieht. Wir Politiker können an vielen Stellen die Um-
setzung der von uns beschlossenen Regelungen und ihre
Wirkung in der Praxis nicht ausreichend nachvollziehen.
Komplexe Regulierung und komplexe Finanzmärkte be-
dingen sich hier gegenseitig. Wir Grünen plädieren des-
halb für eine neue Regulierungsagenda, die auf einfa-
chere, aber harte Regelungen setzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine solche Regulierung ist möglich. Dazu gehört ganz
zentral wesentlich mehr Eigenkapital, damit Verluste
dort anfallen, wo der Gewinn landet, nämlich bei den Ei-
gentümern der Finanzinstitute. Es geht um ein Steuer-
system, mit dem die Privilegierung von Fremdkapital
überwunden wird, ein solides Trennbankensystem, das
zusammen mit der europäischen Bankenunion wirklich
eine Abwicklung auch größerer Banken ermöglicht, ein
Verbot des parasitären Hochfrequenzhandels und vor al-
lem klare Haftungsregeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was jetzt ansteht, ist, eine neue Regulierungsagenda
auf den Weg zu bringen, die die Finanzmärkte kleiner,
langsamer und weniger komplex macht. Hierzu erwarten
wir Initiativen der Bundesregierung.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803921800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Philipp

Murmann, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1803921900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Sehr geehrte Besucher! Meine Damen und Herren!
Wir sind noch bei der Abarbeitung der Krise von 2008 –
das ist sicherlich richtig. Es ist natürlich bedenkenswert,
woran Wolfgang Schäuble erinnerte, als er neulich bei
uns im Ausschuss war: Der internationale Bankensektor
hat unserer Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik
in den letzten Jahren tatsächlich viel zugemutet.

Herr Schick, ich gebe Ihnen insoweit recht, dass es si-
cherlich auch notwendig ist, an die Wurzeln der Proble-
matik heranzugehen. Aber Ihrer Behauptung, man könne
zukünftige Krisen allein durch Regulierungen und im-
mer weiter gehende Regulierungen vermeiden, kann ich
mich nicht anschließen. Im Moment müssen wir erst ein-
mal dafür sorgen, dass eine Krise, wie sie das letzte Mal
eingetreten ist, sich nicht wiederholen kann. Ich denke,
dazu sind inzwischen viele Maßnahmen ergriffen wor-
den, Maßnahmen, die unser Finanzsystem insgesamt
deutlich stabilisiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was brauchen wir? Wir brauchen sicherlich die Rück-
kehr zu mehr Verantwortung im Bankensektor; das ist
ein ganz zentrales Element. Sie haben einige Beispiele
genannt. Die Eigenkapitalbildung ist sicherlich ein wich-
tiger Aspekt, den wir ja auch aufgreifen. Man darf es
aber auch nicht übertreiben; denn sonst kann das Ban-
kensystem für unsere Wirtschaft nicht die Rolle erfüllen,
die es erfüllen muss, nämlich Kredite zu vergeben, Risi-
ken einzugehen und viele Dinge mehr.

In unserem Grundgesetz steht:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Diesen Aspekt müssen wir bei all dem, was wir tun, im-
mer berücksichtigen. Natürlich müssen wir das auch den
Banken und all denen, die in diesem System arbeiten,
immer wieder mit auf den Weg geben; denn sie sind Ei-
gentümer von zum Teil großen Instituten und tragen des-
wegen natürlich eine erhebliche Verantwortung.

Die Regulierung, die wir nun auf den Weg bringen,
besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Haftung
durch Eigenkapital, Eigentümer in die Verantwortung
zwingen und Reserven aufbauen. Das Aufbauen von Re-
serven durch die Bankenabgabe ist ein wichtiges Ele-
ment – über eine europäische Bankenabgabe wird disku-
tiert –, mit dem wir das Finanzsystem insgesamt robuster
gegenüber einer eventuellen neuen Krise machen kön-
nen.

Der Gesetzentwurf zur Anpassung von Gesetzen auf
dem Gebiet des Finanzmarktes, den wir heute verab-
schieden, enthält viel Technik; das haben wir schon von
verschiedenen Seiten gehört. Wir haben im Ausschuss
zu dem Ursprungsgesetzentwurf acht Änderungsanträge





Dr. Philipp Murmann


(A) (C)



(D)(B)

eingebracht; die Linken übrigens überhaupt keinen. An-
gesichts der Kritik, die sie hier vortragen, darf man das
sicherlich sagen. Herr Troost hat an dem gemeinsamen
Berichterstattergespräch teilgenommen und mehreren
dieser Änderungsanträge, die wir gemeinsam verabredet
haben, zugestimmt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So ist es!)


Wie gut unsere Große Koalition zusammenarbeitet,
können Sie daran erkennen, dass Herr Zöllmer und ich
unter anderem am Himmelfahrtswochenende miteinan-
der telefoniert haben, um uns abzustimmen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war gut!)


und daran, dass genau die Punkte, die Herr Zöllmer ge-
nannt hat, auch auf meinem Zettel stehen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist Transparenz in der Großen Koalition!)


Auch ich bzw. wir glauben, dass diese Elemente von
großer Relevanz sind:

Ein wesentliches Element sind die drei Kategorien bei
den Mandaten: erstens die systemrelevanten großen
Banken – das sind nur 35 –, zweitens die Banken von er-
heblicher Bedeutung, die eine Bilanzsumme zwischen
15 und 30 Milliarden Euro ausweisen, und drittens die
1 800 neuen Kleininstitute, die wir sozusagen in die alte
Regelung zurückführen und damit aus der Überregulie-
rung – so sage ich es einmal – herausnehmen.

Das zweite wesentliche Element ist, die Kernkapitalbil-
dung bei den Banken zu ermöglichen. Dadurch werden,
so wurde es uns gesagt, für die Banken auch für den Kri-
senfall 1,3 Milliarden Euro mehr Kernkapital verfügbar
sein. Ich denke, auch das ist eine sinnvolle Sache. Ganz
herzlichen Dank an alle, die daran mitgearbeitet haben.

Zum Schluss möchte ich anmerken, dass es auch da-
rum geht, dass unsere Banken international wettbe-
werbsfähig bleiben. Herr Schick, es kann doch nicht
sein, dass wir hier in Deutschland wild vor uns hinregu-
lieren – so sage ich es einmal – und das am Ende dazu
führt, dass unser deutsches Bankensystem auf dem Welt-
markt nicht mehr agieren kann. Wenn Sie sich die Grö-
ßenordnung, um die es bei den amerikanischen Banken
geht, vor Augen führen, stellen Sie fest, dass es sich da-
bei um ganz andere Dimensionen handelt als bei uns, vor
allem, da es bei uns ja viele Kleininstitute gibt.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass unsere Banken
wettbewerbsfähig bleiben. Sie müssen vor allen Dingen
für unseren starken Mittelstand Kapital zur Verfügung
stellen und Risiken finanzieren. Wenn wir mehr Gründer
in Deutschland haben wollen und wenn wir wollen, dass
unsere Unternehmen in neue Technologien investieren,
brauchen wir an deren Seite Banken, die in der Lage
sind, dafür Kapital zur Verfügung zu stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])


Deswegen müssen wir für eine gute Balance sorgen, um
diese Möglichkeiten nicht zu verschenken.
Nochmals herzlichen Dank für die gute Diskussion.
Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, in den
unsere sehr guten Änderungsanträge eingeflossen sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803922000

Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der

Kollege Christian Petry.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Petry (SPD):
Rede ID: ID1803922100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Murmann, dass Sie mit Herrn Zöllmer am
Himmelfahrtswochenende telefoniert haben, ist sehr
schön. Ich kann auch etwas bieten: Mit Herrn Güntzler
habe ich mich beim Fußballspielen ausgetauscht. Inso-
weit hat die Zusammenarbeit hervorragend funktioniert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Dieser Gesetzentwurf bezieht sich auf eine Reihe von
Gesetzen. Er steht in einer Linie mit anderen Gesetzen,
mit denen wir mehr Transparenz, mehr Verbraucher-
schutz, mehr Aufsicht und mehr Sicherheit in die Fi-
nanzmärkte bringen. Wir waren in Brüssel und haben
uns dort informiert. Dort haben wir die Information er-
halten, dass es mittlerweile über 100 verschiedene Rege-
lungen gibt, mit denen die Finanzmärkte stärker reguliert
werden sollen, damit solche Krisen wie die der Vergan-
genheit nicht wieder auftreten. Wir haben die Aufgabe,
das nationale Recht anzupassen; das ist ja schon gesagt
worden.

Diese erforderliche Umsetzung bzw. Anpassung be-
trifft neben vielen anderen Gesetzen auch das Kapitalan-
lagegesetzbuch. Wir wollen dabei zwischen Erleichte-
rungen und Kontrollen die Balance wahren, damit
niemand durch eine zu harte Prüfung Erschwernisse hin-
nehmen muss oder unter Umständen am Ende in dem
Bereich nicht mehr tätig sein darf.

In diesem Zusammenhang sind, denke ich, die ent-
sprechenden bürgerschaftlichen Engagements in Ener-
giegenossenschaften und genossenschaftliches Engage-
ment insgesamt zu nennen. Wir haben das Thema
Kleinstgenossenschaften ja behandelt; sie sind ein Bei-
spiel. Wir sind davon ausgegangen, dass die BaFin dies
pragmatisch regelt. Wir sind – das wurde genannt – der
Auffassung, dass sich die Prüftiefe an der Größe der ent-
sprechenden Einheit orientieren muss und dass entspre-
chend der Größe die Maßstäbe hier auch niedriger ange-
legt werden müssen. Wir haben die entsprechenden
Eignungen bei der Genossenschaft so angelegt, dass eine
Prüfung, sofern sie durch eine andere Behörde oder Or-
ganisation, zum Beispiel nach dem Genossenschafts-
recht, bereits vorgenommen worden ist, maßgeblich be-
rücksichtigt wird bzw. in die Entscheidung einfließt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Christian Petry


(A) (C)



(D)(B)

Davon gehen wir aus. Ich glaube, dass damit die Balance
zwischen gewünschter Aufsicht und Kontrolle und den
Erleichterungen, die man braucht, um im Rahmen dieses
ehrenamtlichen bürgerschaftlichen Engagements tätig zu
sein, erreicht wird.

Wir werden nach einer Überprüfung durchaus über
weitere Änderungen beraten können. Wir gehen davon
aus, dass es praktikabel ist, wenn Ende 2015 eine ent-
sprechende Überprüfung stattfindet. Dann werden wir
sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob das
Gesetz so gewirkt hat, wie wir uns das heute vorstellen.
Wir sind damit aber weiterhin auf einem richtigen Weg
für mehr Verbraucherschutz, für mehr Transparenz, für
mehr Kontrolle und Aufsicht und für sicherere Märkte.

Glück auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803922200

Danke schön. – Der Kollege Petry war der letzte Red-

ner in dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanz-
marktes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/1648, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
18/1305 und 18/1574 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetz-
entwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink,
Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im
Gesundheitswesen

Drucksache 18/1462
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der
Debatte hat der Kollege Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803922300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Selbstverwaltung ist das tragende Prinzip bei der Orga-
nisation der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit unse-
res Gesundheitswesens; das wissen wir alle. Das ist so
gewollt. Ihre Bedeutung dokumentiert sich deshalb auch
dadurch, dass die Selbstverwaltungskörperschaften ge-
setzlich als Körperschaften öffentlichen Rechts veran-
kert sind. Der Gesetzgeber hat die Verantwortung für das
Funktionieren des Gesundheitssystems auf diese Selbst-
verwaltungskörperschaften übertragen und mithin natür-
lich auch die Verantwortung für fast 200 Milliarden Euro
Versichertengelder und Steuermittel. Allerdings sind so-
zialrechtlich – besonders im SGB V – eine vielschich-
tige Zweckbindung und grundsätzlich der Maßstab der
Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit verankert wor-
den. Ich glaube, das ist auch richtig so. Deshalb kann man
sagen: Solidarisch aufgebrachte Beitragsgelder – ich
glaube, darüber sind wir uns alle einig – und Steuergel-
der müssen dem Solidarsystem zugutekommen und dür-
fen nicht zweckentfremdet werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Im Rahmen einer Kleinen Anfrage interessierte uns,
ob es eine ausreichende Transparenz bei der Mittelver-
wendung und eine ausreichende Aufsicht über die Mit-
telverwendung insbesondere bei den bundesweit agie-
renden Selbstverwaltungskörperschaften gibt. Seitens
des Bundesministeriums ist auf eine entsprechende
Frage geantwortet worden:

Es besteht keine gesetzliche Regelung, die zu einer
… Veröffentlichung der Jahresrechnungen und
Haushaltspläne

– zum Beispiel des GKV-Spitzenverbandes oder der
KBV –

verpflichtet oder sie ausdrücklich untersagt.

Die Schlussfolgerung war für uns ein bisschen überra-
schend – Zitat –:

Für eine Veröffentlichung … sind gesetzliche Än-
derungen daher nicht erforderlich.

Das sehen wir anders. Wir fordern deshalb aus Gründen
der größeren Transparenz und aus Aufsichtsgründen in
Punkt 1 unseres Antrags eine vollständige Offenlegung
der Haushaltspläne und Jahresrechnungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Anlass für diese Kleine Anfrage waren Medienbe-
richte über Unregelmäßigkeiten im Finanzsektor einer
dieser größeren bundesweiten Körperschaften. Es ging
dort auch um eine Unternehmensbeteiligung. In der Ant-
wort des BMG war interessant, dass das BMG, obwohl
es formulierte, dass es selbst mit Nachdruck auf Aufklä-
rung gedrängt habe, mehr als ein halbes Jahr später noch
nicht abschließend informiert war. Hier wiederholt sich
für uns nicht zum ersten Mal, dass vom Gesetzgeber be-
auftragte Körperschaften – manchmal sind es auch Stif-





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)

tungen – nur widerstrebend auskunftsbereit sind. Ich
finde, das darf nicht hingenommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb fordern wir in unserem Antrag speziell zur bes-
seren Transparenz und Aufsicht, dass auch Unterneh-
mensgründungen oder Unternehmensbeteiligungen, die
nicht mit gesetzlichem Auftrag erfolgten, geprüft wer-
den und sich das entsprechende Prüfrecht der zuständi-
gen Rechtsaufsicht auch auf private Gesellschaften
überträgt, bei denen die entsprechenden Selbstverwal-
tungskörperschaften die Mehrheit haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte unterstützen
Sie unseren Antrag. Gern können Sie ihn auch noch ver-
bessern. Er trägt auf jeden Fall zur Transparenz und zur
besseren Aufsicht bei.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803922400

Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-

Fraktion ist der Kollege Reiner Meier.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Reiner Meier (CSU):
Rede ID: ID1803922500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich das eben Gesagte auf mich wirken lasse, habe
ich das dringende Bedürfnis, einige Dinge klarzustellen.

Die Selbstverwaltung ist ein bewährtes System, das
im Großen und Ganzen seit Jahrzehnten gut funktioniert.
Es ist ein Markenzeichen der guten Sozialpartnerschaft
in unserem Land, dass sich Versicherte, Leistungserbrin-
ger und Beitragszahler an einen Tisch setzen und die
Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung
weitgehend eigenständig regeln. Ich halte es auch für
richtig, dass sich der Staat auf die Rechtsaufsicht be-
schränkt. Das bürokratische Monster, das wir hätten,
wenn sich der Staat in jede kleine Sachentscheidung ein-
mischen würde, möchte ich mir besser nicht vorstellen.

Wie wir alle wissen, gab es auch in der Vergangenheit
unschöne Einzelfälle. Ich denke da besonders an die
Vorgänge um die Bürogebäude der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung hier in Berlin. Zu diesen Vorgängen
hat das Bundesministerium für Gesundheit unverzüglich
eine Prüfung eingeleitet, die gegenwärtig noch andauert.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)


Allein die Tatsache, dass diese Kontrollen laufen, zeigt
doch, dass die Rechtsaufsicht bereits heute gut funktio-
niert. Genau deshalb ist es noch zu früh, um reflexartig
nach mehr Kontrolle, nach schärferen Vorschriften zu ru-
fen.

(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das mit der Transparenz?)


Lassen Sie uns doch erst einmal das Ergebnis dieser Un-
tersuchung abwarten, bevor wir über gesetzliche Schluss-
folgerungen diskutieren, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er will es nicht wissen!)


Ich darf Sie übrigens daran erinnern, dass es die
christlich-liberale Bundesregierung war, die in den
letzten zwei Jahren die einschlägigen Vorschriften im
SGB IV deutlich verschärft hat. Ein besonderer Schwer-
punkt war zum Beispiel die Vorstandsvergütung. Seit der
Gesetzesänderung müssen die Arbeitsverträge aller Vor-
stände vom Ministerium genehmigt werden; sonst werden
sie unwirksam. Die Genehmigung erteilt das Ministe-
rium aber nur, wenn das Vorstandsgehalt in einem ange-
messenen Verhältnis zu den Aufgaben des Betreffenden
steht. Überzogene Gehälter wird es deshalb also nicht
mehr geben. Auch Mietverträge zum Beispiel für Büroge-
bäude können die Selbstverwaltungskörperschaften nicht
mehr frei nach Belieben abschließen. Ab einer bestimm-
ten Fläche und einer Mietdauer von zehn Jahren muss
der Mietvertrag dem Ministerium vorgelegt werden. Da-
mit haben wir langfristige und teure Verpflichtungen
wirksam unterbunden.

Ich meine, wenn Ihnen wirklich etwas an Transparenz
in der Selbstverwaltung läge, hätten Sie diesen Änderun-
gen vor einem Jahr in diesem Hohen Hause Ihre Zustim-
mung geben müssen. Das haben Sie aber nicht getan.
Das sagt schon einiges aus.


(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Vielleicht weil sie unzureichend waren?)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
über Selbstverwaltung sprechen, dürfen wir das nicht
mit einem Tunnelblick tun und uns nur auf Einzel-
aspekte in der Gesundheitsverwaltung oder im Gesund-
heitswesen fokussieren. Stattdessen sollten wir das Sys-
tem der Selbstverwaltung als Ganzes betrachten.


(Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir!)


Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, die
Selbstverwaltung weiterzuentwickeln und insbesondere
die Sozialwahlen zu modernisieren. Die Stichworte dazu
lauten „Onlinewahlen“ und „mehr Direktwahlen“, vor
allem in der gesetzlichen Krankenversicherung.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Da bin ich mal gespannt!)


Die Selbstverwaltung soll wieder stärker in das Bewusst-
sein rücken, damit möglichst viele Menschen von ihrem
Wahlrecht Gebrauch machen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Und wir brauchen mehr Transparenz!)






Reiner Meier


(A) (C)



(D)(B)

Mit Blick auf meine Redezeit lege ich Ihnen hierzu den
Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2011 ans Herz, der
diese Thematik sehr gut darstellt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die konse-
quente Weiterentwicklung der Selbstverwaltung ist für
uns ein zentrales Thema, das wir in all seinen Facetten
anpacken werden. Wenn die laufenden Untersuchungen
der Unregelmäßigkeiten abgeschlossen sind, werden wir
daraus selbstverständlich unsere Schlüsse ziehen. Der
heutige Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, ist aber verfrüht. Er bleibt auch den Nachweis
schuldig, dass die derzeitigen Regelungen unzureichend
sind. Da habe ich bessere Schaufensteranträge von Ihnen
aus der letzten Zeit in Erinnerung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie denen denn zugestimmt, den „besseren“?)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803922600

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Harald Weinberg,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803922700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben
einen Antrag vorgelegt, dessen Titel hohe Ansprüche
weckt. „Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Ge-
sundheitswesen“ – diese hohen Erwartungen kann Ihr
Antrag meines Erachtens nicht ganz erfüllen, da ledig-
lich die Rechnungsprüfung, nicht aber das sonstige Han-
deln der Selbstverwaltung transparenter würde. Dennoch
geht dieser Antrag aus unserer Sicht völlig in Ordnung.
Er wird von den Linken wohlwollend begleitet werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was war Anlass für diesen Antrag? Die Kassenärztli-
che Bundesvereinigung, die KBV, wollte beim Umzug
von Köln nach Berlin ein neues Gebäude beziehen. Die
Aufsicht lehnte dies ab. Daraufhin gründete die KBV ge-
meinsam mit einer Bank eine Partnerschaft, die die Im-
mobilie baute und dann an die KBV vermietete. Im Rah-
men dieser intransparenten Geschäfte kam es sogar zu
einigen strafrechtlichen Ermittlungen wegen Steuerhin-
terziehung. Die Aufsichtsbehörde bekam von vielem erst
viel später etwas mit, weil es bislang keine ausreichende
Verpflichtung gibt, relevante Rechnungslegungsdaten
oder Unternehmensbeteiligungen an die Aufsichtsbe-
hörde zu übermitteln. Die Aufsichtsbehörde ist in dieser
Frage also quasi blind. Das ist die Situation, vor der wir
stehen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Wenn der Bundestag diesen Antrag annähme, dann
würde sich dies ändern. Man würde die Selbstverwal-
tung damit nicht schwächen, sondern meines Erachtens
sogar stärker machen, weil glaubwürdiger.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Jahresrechnungen und die Haushaltspläne des Ge-
meinsamen Bundesausschusses, des GKV-Spitzenver-
bandes, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung
und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung müssten
veröffentlicht werden. Es geht schließlich um Körper-
schaften des öffentlichen Rechts – das ist bereits gesagt
worden –, die sich aus Geldern der gesetzlich Kranken-
versicherten finanzieren. Außerdem müssten diese Kör-
perschaften die Absicht zur Ausgründung privatrecht-
lichter Unternehmen der jeweiligen Aufsichtsbehörde
anzeigen und zur Genehmigung vorlegen.

Zusätzlich wird mit diesem Antrag ein Prüfrecht der
Aufsichtsbehörde bei Ausgründungen gefordert. Hätte
es diese Regelung schon vor 15 Jahren gegeben, dann
hätte sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung nicht
über eine Ausgründung eine Immobilie kaufen können,
deren Erwerb von der Aufsicht zuvor untersagt worden
war.

Nur am Rande: Der GKV-Spitzenverband ist nach ei-
genen Angaben – wir haben mit ihm darüber diskutiert –
mit diesem Antrag einverstanden, wenngleich er bislang
nicht selbsttätig und proaktiv alle Haushaltsberichte und
Jahresrechnungen veröffentlicht hat. Es gibt bisher
schließlich kein Gesetz, das die Veröffentlichung unter-
sagt. Insofern hätten die Verbände schon mehr Transpa-
renz zeigen können. Da sie dies bisher nicht getan haben,
halte ich es für erforderlich, dass man sie gesetzlich dazu
verpflichtet.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich gehe davon aus, dass nicht nur der GKV-Spitzen-
verband, sondern auch der Gemeinsame Bundesaus-
schuss, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die
Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung nichts gegen
diese neue Transparenz einwenden werden; denn im
Kern geht es ja darum, die Versichertengelder wirt-
schaftlich, solidarisch und transparent einzusetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803922800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dirk

Heidenblut, SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dirk Heidenblut (SPD):
Rede ID: ID1803922900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesund-
heitswesen“, so lautet der Titel des plakativen Antrags,
der heute eingebracht wurde.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist sehr materiell!)






Dirk Heidenblut


(A) (C)



(D)(B)

Ich denke, es ist gar keine Frage: Das System der
Selbstverwaltung mit seiner enormen Verantwortung für
fast 200 Milliarden Euro Versichertengelder – auch ich
will hier nicht vergessen: einschließlich der Steuergelder –
baut vor allen Dingen darauf, dass die Versicherten auf
das Verantwortungsbewusstsein der Handelnden ver-
trauen dürfen und dass diese die Mittel im Bewusstsein
der Verantwortung zielgerichtet, wirtschaftlich, sparsam
und mit der gebotenen Effizienz gerade auch im Verwal-
tungshandeln – das ist hier ja häufig der strittige Punkt –
verwenden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Immer wieder liest oder hört man, dass dies womög-
lich nicht geschieht – der Kollege Meier hat schon da-
rauf hingewiesen – oder verbesserungsbedürftig ist.
Meist sind es die Verwaltungen der Selbstverwaltung,
die dabei in der Diskussion stehen. Es gibt aber auch
konkrete Erkenntnisse – wie zuletzt bei der KBV –, dass
etwa die Wirtschaftlichkeit und die erwartete zielgerich-
tete Verwendung nicht gegeben sind. Neben solchen
konkreten Erkenntnissen oder zumindest begründeten
Verdachtsmomenten gibt es auch so etwas – ich denke,
das ist bei diesen Summen ganz klar – wie ein gesundes
Misstrauen. Das ist hier quasi systemimmanent. Umso
mehr ist der Wunsch nach größtmöglicher Transparenz
und einer darauf fußenden effektiven Aufsicht und Auf-
klärung von möglichen Problemen verständlich und
– um das auch zu sagen – zunächst einmal durchaus be-
rechtigt.

Transparenz schafft Vertrauen, beseitigt vor allen
Dingen das unwohle Bauchgrummeln und hilft nicht zu-
letzt, vor tatsächlichen Problemen zu schützen oder
schnell zur Klärung von Sachverhalten beizutragen. Da-
her kann man nicht deutlich genug sagen: Die Forderung
nach Transparenz – gerade in Bezug auf das Finanzgeba-
ren aller Beteiligten – findet ganz sicher politische Zu-
stimmung, muss aber eigentlich auch ein klares Anlie-
gen der Selbstverwaltung sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung letzt-
lich selbst aufgedeckte Fall belegt, dass das auch so ist.

Strittig bei der Diskussion zu diesem Antrag kann
aber sicherlich sein, wie tatsächlich mehr Transparenz
geschaffen werden kann, nicht nur scheinbare Transpa-
renz aufgrund einer völlig verwirrenden Informations-
flut. Da haben wir im Gesundheitsbereich durchaus das
eine oder andere Beispiel, wo am Ende für den Versi-
cherten und auch den Betreuten keine Transparenz mehr
vorhanden war.

Natürlich ist auch die Frage, wie man die vorhandene
Transparenz bewertet und deren Wirksamkeit einschätzt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kannst du alles gesetzlich festlegen!)

Dass Fehlverhalten offenkundig wird und letztlich zu
Korrekturen führt, ist ein Zeichen dafür, dass wir hier
keinesfalls über ein komplett intransparentes System re-
den. Das signalisiert erfreulicherweise auch der Antrag;
denn „mehr Transparenz der Selbstverwaltung“ heißt ja:
Es gibt bereits Transparenz im System.

Die Diskussion über Transparenz sollte nicht als
grundsätzliches Misstrauen in die durchaus gut aufge-
stellte Selbstverwaltung missdeutet werden. Die Ant-
wort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen,
die diesem Antrag letztlich zugrundeliegt, macht deut-
lich – da muss ich Ihnen widersprechen –, dass die Auf-
sicht keineswegs blind ist.


(Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU])


Alle Abschlüsse der Körperschaften werden extern von
renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ge-
prüft. Ergeben sich daraus Beanstandungen oder weite-
rer Prüfungsbedarf – das macht der zuletzt erkennbar ge-
wordene Fall sehr deutlich –, werden ergänzende
Prüfungen beauftragt, und es wird eine Klärung herbei-
geführt. Diese kann natürlich eine gewisse Zeit dauern.

Das zuständige Ministerium reagiert ebenfalls in an-
gemessener Form. Wie der Antragsteller aus der umfas-
senden und sehr detaillierten Antwort der Bundesregie-
rung, die mehr als deutlich macht, wie ernst das
Ministerium seine Aufsicht nimmt und wie klar die Er-
kenntnisse sind, schließen kann, dass die Bundesregie-
rung an mehr Transparenz nicht interessiert sei, er-
schließt sich zumindest mir nicht wirklich.

Der Hinweis, dass mehr Transparenz, also etwa die
Offenlegung von Jahresabschlüssen, eine gesetzliche
Regelung nicht entgegensteht, kann so kaum gedeutet
werden. Vielmehr macht das zuständige Ministerium in
seiner Antwort deutlich, wie gut die Erkenntnisse sind,
wie damit umgegangen wird und dass die Bundesregie-
rung die Aufgaben, die sich aus der schon lange beste-
henden Transparenz ergeben, sehr ernst nimmt. Selbst-
herrlichkeit im Umfang mit Versichertengeldern – da
sind wir absolut sicher – wird keinesfalls geduldet.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist sicherlich auch richtig und im Sinne der Interes-
sen der Versicherten, dass Transparenz nicht nur für die
Körperschaften selbst, sondern auf jeden Fall auch für
deren Beteiligungen gelten muss, soweit hier nicht un-
wesentlich Mittel der Körperschaft eingesetzt oder in
Haftung genommen werden oder in Haftung genommen
werden können, wobei sich hier, je nach Art der Beteili-
gung, zum Teil aus anderen gesetzlichen Regelungen
schon Vorschriften ergeben können.

Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, gerade auch
wegen der Besonderheit der Selbstverwaltung. Aber wir
haben auch dafür Sorge zu tragen, dass Mittel, die von
Versicherten aufgebracht werden, nur insoweit erhoben
werden, wie sie für das Gesundheitssystem tatsächlich
nötig sind, und daher auch nur genau dort eingesetzt
werden. Das schränkt den Spielraum für die Mittelver-
wendung ganz klar und deutlich ein. Es ist unsere





Dirk Heidenblut


(A) (C)



(D)(B)

Pflicht, immer wieder genau hinzuschauen, ob sich die
Selbstverwaltung an diese Vorgabe hält.

Wir werden uns im Ausschuss mit dem Antrag einge-
hend auseinandersetzen. Ob er letztlich tatsächlich ein
Mehr an Transparenz ermöglicht, ob das dort Beschrie-
bene dem wirklich gerecht wird und wie das im Verhält-
nis zu bestehenden Regelungen, aber auch zu den ge-
setzlichen Rahmenbedingungen am Ende zu bewerten
ist, das wird die weitere Diskussion zeigen.

Uns ist wichtig: Die, die am Ende die Kosten zu tra-
gen haben, müssen neben allem nötigen Vertrauen in die
Selbstverwaltung – ohne das geht es im Gesundheitssys-
tem nicht – auch die Sicherheit haben, dass das bereitge-
stellte Geld dem richtigen Zweck dient. Wir als SPD-
Fraktion und damit auch die Große Koalition setzen
– das macht der Koalitionsvertrag mehr als deutlich –
auf eine gute und fortschrittliche Weiterentwicklung des
Gesundheitswesens.


(Beifall der Abg. Heike Baehrens [SPD])


Wir setzen auf Qualität und Transparenz und damit ganz
klar auf eine ordnungsgemäße Mittelverwendung, die
genau diesen Kriterien entspricht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803923000

Vielen Dank. – Jetzt erhält die Kollegin Karin Maag,

CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1803923100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Beim Antrag der Grünen, lieber Harald Terpe, handelt es
sich sehr wohl um das Erbe von Biggi Bender, die die
Aufdeckung im Zusammenhang mit den Unregelmäßig-
keiten bei der KBV mit viel Herzblut betrieben hat. Ihr
führt ihre Arbeit jetzt einem Ergebnis zu.

Bei der KBV ging es im Wesentlichen um unprofes-
sionelles Wirtschaften und fehlende interne und externe
Genehmigungen. Ein finanzieller Schaden ist, soweit die
Ermittlungen bisher gediehen sind, allerdings nicht ent-
standen. Die KBV hat übrigens diese Fehler und Ver-
säumnisse eingeräumt. Das Ministerium prüft intensiv
und nachhaltig. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlos-
sen. Aber bislang ist von der Rechtsaufsicht noch kein
Grund für die endgültige Versagung der fehlenden Ge-
nehmigungen gesehen worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
bin versucht, zu Ihrem Antrag Ja zu sagen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])


Ich bin versucht;


(Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich weiß! Ich führe dich immer wieder in Versuchung!)

aber der Antrag schießt doch über das Ziel hinaus.

Ich gebe zu: Auch mich ärgert es, wenn mit solchen
Fehlern die gesamte Selbstverwaltung in ein schiefes
Licht gebracht wird. Die Selbstverwaltung – das haben
Sie deutlich gemacht – ist ein tragendes System dieses
Gesundheitswesens. Deshalb muss jeder Anschein ver-
mieden werden, dass mit den Mitteln der Beitragszahler,
aber auch der Leistungserbringer und der Verbände nicht
sorgfältig genug umgegangen wird. Die Frage, ob diese
Mittel tatsächlich zur Erfüllung der gesetzlich vorge-
schriebenen Aufgaben verwendet werden, stellt sich na-
türlich nicht nur in dem beschriebenen Fall. Ich denke
auch an eine Krankenversicherung, die laut Zeitungsbe-
richten als Sponsor der deutschen Handball-National-
mannschaft 700 000 bis 1 Million Euro ausgibt. Ich
meine, es ist grundsätzlich richtig, solche Fragen zu stel-
len. Ob die Körperschaften ihren Handlungs- und Er-
messensspielraum verlassen haben, klären aber nicht wir
oder die Öffentlichkeit, sondern immer noch die Auf-
sichtsbehörden. Deswegen hilft der Antrag nicht wirk-
lich weiter.

Welche weiteren Vorteile zum Beispiel aus der Veröf-
fentlichung der Jahresrechnung oder der Haushaltspläne
erreicht werden, erschließt sich mir aus Ihrem Antrag
nicht unbedingt. Die Haushalte der KBV, der KZBV und
des GKV-Spitzenverbandes machen nämlich nur einen
sehr kleinen Teil der 194 Milliarden Euro Gesamtausga-
ben aus. Darüber werden natürlich nicht nur die Mittel
der GKV abgewickelt. Worin liegt denn der Nutzen für
die Öffentlichkeit, wenn sie weiß, wie viel Geld die
KBV beispielsweise für IT-Systeme oder Personal aus-
gibt? Die Rechtsaufsicht kennt die Zahlen. Die Öffent-
lichkeit kann damit nichts anfangen.

Wenn es um die Beteiligung an privatrechtlichen Un-
ternehmen geht, gilt die Verordnung über das Haushalts-
wesen in der Sozialversicherung, die ausreichende
Schutzmechanismen enthält.

Es ist auch nicht Sache der Rechtsaufsicht, Fragen zur
Zweckmäßigkeit zu stellen. Selbstverwaltung gibt Ge-
staltungsfreiheit. Diese muss man aber auch zulassen
und gegebenenfalls sogar ertragen. Der Rechtsaufsicht
vorgeschaltet – auch das darf man nicht vergessen – sind
die Kontrollen durch die internen Gremien, die Vertre-
terversammlung und die Verwaltungsräte. Wofür die je-
weiligen Körperschaften Geld ausgeben dürfen bzw. die
Aufgaben, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehen-
den Mitteln zu erfüllen haben, sind gesetzlich festgelegt.
Ein Vorstand, der bewusst dagegen verstößt, riskiert
nicht nur strafrechtliche Konsequenzen, sondern muss
persönlich für diesen Schaden haften.

Was die Frage betrifft, wie die Kassen geprüft werden:
Das Bundesversicherungsamt und die Landesversiche-
rungsämter prüfen zusätzlich für die Kassen mindestens
alle fünf Jahre Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebsfüh-
rung. Das BMG prüft mindestens alle fünf Jahre beim
GKV-Spitzenverband und bei der KBV. Der Bundes-
rechnungshof ist beteiligt. Ich meine, wir haben ausrei-
chend Sicherungssysteme eingebaut. Falls der Vorstand
wirklich versuchen sollte, diese Regeln zu umgehen,





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)

wird es jedenfalls nicht im Haushaltsplan widergespie-
gelt.

Meines Erachtens sind die Regelungen detailliert. Die
Rechtsaufsicht funktioniert. Dass sie funktioniert, be-
weist gerade der Fall der KBV. Die Rechtsaufsicht ist ih-
ren Aufsichtsbefugnissen umfassend und nachdrücklich
nachgekommen, und die KBV hat entsprechende Konse-
quenzen gezogen. Das Fehlermanagement wurde ver-
bessert, eine Sonderprüfung veranlasst. Es gibt jetzt eine
Innenrevision. Ich kann aber zusagen: Wenn am Ende
die Prüfung zeigen sollte, dass noch Handlungsbedarf
besteht, werden wir entsprechende Änderungen voran-
treiben.

Ich will zusammenfassen. Dort, wo Probleme beste-
hen, schaffen wir Abhilfe. Der Kollege hat an die Neure-
gelung der Vorstandsbezüge erinnert. Wir sollten unsere
Energie aber vor allem darauf verwenden, die Versor-
gung zu verbessern; das ist die wichtige Aufgabe. Noch
mehr Verwaltungsvorschriften, die möglicherweise dazu
dienen, auch die Rechtsaufsicht zu kontrollieren, sind für
uns jedenfalls keine Option.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803923200

Vielen Dank. – Das war die letzte Rednerin in dieser

Debatte. Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1462 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch – Ergänzung personalrecht-
licher Bestimmungen

Drucksachen 18/1311, 18/1586

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


Drucksache 18/1651

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/1652

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Erster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Martin Rosemann (SPD):
Rede ID: ID1803923300

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Zu dieser späten Stunde beraten wir abschließend
über den Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung
des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Es geht um drei
unterschiedliche Aspekte personalrechtlicher Bestim-
mungen. Es geht um drei Regelungen, die für Klarheit
und Rechtssicherheit für die Arbeit der Jobcenter sorgen
sollen. Erstens geht es um die Zuständigkeit bei daten-
schutzrechtlichen Ordnungswidrigkeiten. Es gibt bisher
eine unklare sachliche Zuständigkeit für die Verfolgung
und Ahndung bei datenschutzrechtlichen Ordnungswid-
rigkeiten. Die Klarstellung, die durch das Gesetz der
Bundesregierung hier vorgenommen werden soll, be-
steht darin, dass für kommunale Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den gemeinsamen Einrichtungen die
oberste Landesbehörde sowie für die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit das Minis-
terium für Arbeit und Soziales zuständig ist.

Zweitens geht es um Erstattungsansprüche der Träger
der Grundsicherung gegenüber der Rentenversicherung.
Das Problem, das sich dahinter verbirgt, ist, dass insbe-
sondere nach einem Urteil des Bundessozialgerichts
vom 31. Oktober 2012 Unsicherheit über die Entstehung
von Erstattungsansprüchen der Jobcenter besteht. Es
geht um den Fall, dass ein Jobcenter, also der Träger der
Grundsicherung, in Vorleistung durch Leistungen des
SGB II getreten ist und es dann rückwirkende Leistun-
gen durch den Rententräger – konkret: Erwerbsminde-
rungsrenten – gibt. Hier wird durch das Gesetz klarge-
stellt, dass es in Zukunft einen Rückerstattungsanspruch
der Träger der Grundsicherung, also der Jobcenter, ge-
genüber den Trägern der Rentenversicherung gibt.

Drittens geht es – das ist wohl der politisch bedeu-
tendste Punkt – um die Verstetigung der Zuweisung von
Tätigkeiten und damit von Personal bei den gemeinsa-
men Einrichtungen. Hintergrund ist, dass die Regelun-
gen zur gesetzlichen Erstzuweisung von Tätigkeiten in
die gemeinsamen Einrichtungen bis Ende 2015 befristet
sind und dass daher dringend eine neue Rechtsgrundlage
geschaffen werden muss. Die Lösung, die uns mit dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt, ist, eine
unbefristete Rechtsgrundlage für die Zuweisung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Jobcenter zu
schaffen, und zwar für bereits in den Jobcentern tätige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunft ohne
Zustimmung des Geschäftsführers oder der Geschäfts-
führerin und für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
weiterhin mit Zustimmung des Geschäftsführers oder
der Geschäftsführerin der jeweiligen Grundsicherungs-
stelle. Bei dringendem dienstlichen Interesse ist in Zu-
kunft auch eine Zuweisung ohne die Zustimmung des
Betroffenen möglich – allerdings, und das betone ich:
nur bei dringendem dienstlichen Interesse. Damit wer-
den die Hürden sehr hoch gelegt. Die Möglichkeit der
Rückkehr der Beschäftigten in die Kommune oder die
Bundesagentur für Arbeit bleibt durch die gesetzliche
Neuordnung unberührt.

Mit diesen Lösungen sorgen wir für eine Verstetigung
des Personals in den Jobcentern. Wir schaffen damit
mehr Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-





Dr. Martin Rosemann


(A) (C)



(D)(B)

ter, Planungssicherheit für ihre berufliche Zukunft, aber
auch in privater Hinsicht. Wir schaffen weiterhin Sicher-
heit für die Jobcenter selbst hinsichtlich ihrer Personal-
entwicklung, und wir sorgen damit auch dafür, dass der
Betreuungsprozess der Kundinnen und Kunden in den
Jobcentern kontinuierlicher erfolgen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist besonders wichtig, weil der Erfolg des Betreu-
ungsprozesses gerade von der Beziehung des Betreuers
zum Kunden abhängt. Darüber hinaus ist es so, dass wir
durch die dauerhafte Zuweisung erst die Grundlage da-
für legen, dass vernünftige Personalentwicklung und
Personalqualifizierung in den Jobcentern betrieben wer-
den kann. Das ist eine zentrale Voraussetzung für einen
guten Betreuungs- und Beratungsprozess.


(Beifall bei der SPD)


Warum ist das so wichtig? Es handelt sich bei der Ar-
beit, die die Menschen in den Jobcentern verrichten, um
eine Dienstleistung von Menschen an Menschen. Es
handelt sich um eine Dienstleistung gegenüber Kundin-
nen und Kunden mit häufig sehr komplexen Problem-
lagen und Vermittlungshemmnissen. Das stellt sehr hohe
Anforderungen an die Leute, die in den Jobcentern ar-
beiten, an ihre soziale Kompetenz, die sehr hoch sein
muss, an ihre Empathie, Gesprächsführung und ihre
Konfliktfähigkeit.

Es setzt voraus, dass die Leute, die in den Jobcentern
arbeiten, auch komplexe Problemlagen erkennen. Es
setzt voraus, dass sie gemeinsam mit den Kunden Pro-
blemlösungsstrategien entwickeln und mit den Kunden
die Problemlösung dann auch angehen. Es setzt voraus,
dass man erkennt, wenn eine Problemlösungsstrategie
eben nicht zum Ziel führt, und dass man dann in der
Lage ist, diese zu ändern. Es setzt voraus, dass man
weiß, welche Instrumente, welche Hilfe man einsetzen
kann, um Menschen wieder Perspektiven auf dem Ar-
beitsmarkt zu vermitteln. Es setzt eine gute Kenntnis der
Arbeitsmarktlage und die Kenntnis vieler unterschiedli-
cher Berufe voraus.

Das ist in meinen Augen eine Qualifikationsanforde-
rung, die sehr komplex ist, was häufig der Öffentlichkeit
und auch vielen hier im politischen Raum nicht so klar
ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Das macht deutlich, dass es gerade auf einen guten und
auf einen stabilen Personalkörper in den Jobcentern an-
kommt.

Wir schaffen mit dem heutigen Gesetzentwurf wich-
tige Grundlagen, um an der Ausgestaltung und Qualität
dieses Personalkörpers weiterzuarbeiten. Wir wissen
auch, dass das nur die ersten Grundlagen sind, dass wir
als politisch Verantwortliche in Regierung und Parla-
ment aufgerufen sind, daran weiter zu arbeiten. Ich
glaube, dass gute Betreuungsschlüssel und eine gute
Qualität der Betreuung durch qualifiziertes Personal
letztlich die beste Voraussetzung dafür sind, um Lang-
zeitarbeitslosen in Deutschland wieder eine bessere Per-
spektive zu geben.

Wir legen dafür heute die Grundlagen, und ich
begrüße ausdrücklich, dass das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales auch mit einem eigenen Gutachten
die Personalsituation in den Jobcentern, insbesondere im
Leistungsbereich, genauer unter die Lupe nimmt. Ich
denke, wir müssen gemeinsam die Voraussetzungen wei-
ter dafür schaffen, in die Qualität der Betreuung und in
die Qualität des Personals in den Jobcentern zu investie-
ren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803923400

Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt

die Kollegin Sabine Zimmermann das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803923500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Heute geht es wieder einmal um die Arbeits-
fähigkeit der Jobcenter. Ich muss Ihnen sagen: Uns allen
muss es doch eigentlich darum gehen, dass wir gute,
qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, die
gute Arbeitsbedingungen haben und dadurch natürlich
eine optimale Vermittlung vornehmen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht
erklärt, dass die Mischverwaltung von Bundesagentur
für Arbeit und Kommunen, damals „Argen“ genannt,
unzulässig ist. Kurzerhand haben Sie daraufhin das
Grundgesetz geändert und die Verwaltungspraxis dem
Hartz-IV-System angepasst. Jetzt heißen die zuständigen
Einrichtungen Jobcenter.

Nun muss die Bundesregierung wieder gesetzgebe-
risch handeln, da die Zuweisung von Personal an die
Jobcenter für fünf Jahre bis Ende 2015 befristet war und
somit deren Arbeitsfähigkeit nicht gewährleistet wäre.
Die nun geplante dauerhafte Rechtsgrundlage für Zuwei-
sungen schafft natürlich schon eine Planungssicherheit,
auch für die Beschäftigten in den Jobcentern. Doch an
der grundsätzlich völlig verfehlten Hartz-IV-Konstruk-
tion ändert das natürlich überhaupt nichts, und das ist
das Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Betroffene und Beschäftigte befinden sich in der
Hartz-IV-Verwaltung von Beginn an in einem dauerhaf-
ten Umstellungsprozess. Die Beschäftigten arbeiten dort
über ihre Belastungsgrenze hinaus. Strukturelle Defizite
in der Betreuung, zum Beispiel von Menschen mit
Behinderung, sind nach wie vor ungelöst. Eine hohe
Anzahl von oft erfolgreichen Klagen vor den Sozial-
gerichten ist ein treuer Begleiter des Hartz-IV-Systems.

Sie wissen doch alle selbst, wie viele Tausende
Klagen vor den Gerichten Jahr für Jahr notwendig sind.





Sabine Zimmermann (Zwickau)



(A) (C)



(D)(B)

Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis: Die
Beschäftigten in einem Jobcenter leiden von Beginn an
unter einer zu geringen Personalausstattung. Das geht
natürlich auch zulasten der Betroffenen, für die nicht ge-
nügend Zeit bleibt, um wirklich helfen zu können. Die
Unterfinanzierung der Jobcenter erkennt man auch da-
ran, dass alljährlich die Gelder zwischen den Bereichen
Arbeitsmarktmaßnahmen und Verwaltungskosten hin-
und herjongliert werden. Das Spiel „linke Tasche, rechte
Tasche“ geht eindeutig zulasten der erwerbslosen Men-
schen. Die Linke sagt ganz klar: Das ist aus unserer
Sicht im höchsten Maße verantwortungslos.


(Beifall bei der LINKEN)


Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie sind in einem
Jobcenter angestellt und selbst prekär beschäftigt. Dann
erklären Sie mir einmal, wie die Mitarbeiter voll moti-
viert auf die Probleme von Erwerbslosen eingehen sol-
len. Mit prekärer Beschäftigung erreichen Sie einfach
nicht das, was wir in den Jobcentern erreichen wollen.

Seit 2005 teilen Sie die Menschen in Menschen erster
und zweiter Klasse ein, in diejenigen, die Arbeitslosen-
geld I bekommen, und in diejenigen, die Hartz-IV-Emp-
fänger sind – obwohl sie alle das gleiche Schicksal ver-
bindet, nämlich Arbeitslosigkeit.

Wir kritisieren im vorliegenden Gesetzentwurf, dass
das Personal die Möglichkeit haben soll, einzuschrän-
ken. Eine Zuweisung ohne Einverständnis des Beschäf-
tigten ist alles andere als eine verantwortungsbewusste
und motivierende Personalpolitik. Natürlich ist aus unse-
rer Sicht die unterschiedliche Bezahlung für gleiche
Arbeit – die Tarifverträge für die Beschäftigten der BA
und für die Beschäftigten der Kommunen sind nicht die-
selben – ungerecht. Hier muss einfach eine einheitliche
Bezahlung geschaffen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren der Großen Koalition,
wenn Sie etwas für die erwerbslosen Menschen und für
die Beschäftigten in den Jobcentern tun wollen, hören
Sie endlich auf, an dieser Fehlkonstruktion notdürftig
herumzudoktern. Schaffen Sie klare Strukturen, über-
winden Sie das System, und organisieren Sie Hilfe aus
einer Hand.


(Beifall bei der LINKEN)


Statten Sie die Jobcenter ausreichend mit finanziellen
Ressourcen aus, sodass die Beschäftigten dort vernünftig
arbeiten können und die Betroffenen wirklich unterstützt
und eben nicht nur verwaltet werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803923600

Vielen Dank. – Jutta Eckenbach ist die nächste Red-

nerin für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jutta Eckenbach (CDU):
Rede ID: ID1803923700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ideolo-

gische Vorgaben werden wir hier heute nicht ändern. Die
Linke ist an dieser Stelle in der Tat ideologisch behaftet.
Sie wettert immer wieder gegen die Hartz-IV-Reform,
obwohl sich gezeigt hat, dass Deutschland gerade mit
diesem Instrument


(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Prekäre Beschäftigung in Massen bekommen hat!)


seine Wirtschaftskraft aufrechterhalten konnte, während
es praktisch allen anderen europäischen Ländern
schlechter geht. Das dürfte eigentlich auch bei Ihnen an-
gekommen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben heute Morgen im Plenum die erste Lesung
des Mindestlohngesetzes gehabt. Auch dort gab es Ein-
sprüche. Auch dort war etwas, was von Ihnen kam, nicht
in Ordnung. Ich gestehe Ihnen ja ein bisschen Opposi-
tion zu,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber großzügig! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir dürfen auch kritisieren?)


aber es ist so, dass an dieser Stelle auch einmal etwas po-
sitiv gesehen werden kann. Ich glaube, das sollte ein
bisschen mehr Anerkennung insgesamt bekommen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe die Bundesregierung heute schon gelobt!)


Wir haben heute schon viel zu dem Thema gehört. Ich
kann natürlich vieles davon wiederholen. In Anbetracht
der langen Sitzung heute werde ich auf das eine oder an-
dere verzichten.

Es sind mir aber ein paar Dinge ganz wichtig. Es geht
in der Tat darum – Dr. Rosemann hat das vorhin schon
angesprochen –, dass wir jetzt eines schaffen, nämlich
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern
wirklich Planungssicherheit geben, die sie bisher nicht
hatten. Wir ermöglichen eine Personalplanung, indem
wir befristet beschäftigte Mitarbeiter in unbefristete Ar-
beitsverhältnisse überführen. Das hat viele positive Sei-
ten, die man hier ansprechen und auch begrüßen muss.
Eine Planung nur über fünf Jahre – das weiß jeder –
kann keine vernünftige langfristige Personalplanung
sein. Insofern ist es ein richtiger Schritt, den wir heute
hier beschließen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damit einhergehend können wir auch mehr für die
Mitarbeiter tun. Wir können sie stärker qualifizieren,
besser ausbilden. Wir können die Potenziale nutzen, die
alle Mitarbeiter mitbringen, die in den Jobcentern ange-
siedelt sind. Wir können Sorge dafür tragen, dass sie
durch Fortbildung und Qualifikation auch in höherwer-
tige Beschäftigungsverhältnisse kommen können. Es ist





Jutta Eckenbach


(A) (C)



(D)(B)

wichtig, dass Aufstiegschancen für die Zukunft gewahrt
bleiben, auch wenn man im Jobcenter ist.

Dabei wissen wir alle, wie die Wirklichkeit in den
Jobcentern nun einmal ist: Wer einmal dort ist, hat es na-
türlich sehr schwer, wieder herauszukommen. Aber die
unbefristeten Arbeitsverhältnisse können auch dazu füh-
ren, dass das kommunal besser ausgestattet wird. Das
muss eine Zielrichtung sein.

Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen will und
der ganz wichtig ist. Natürlich ist es nicht schön, dass in
den Jobcentern einmal durch den Bund bezahlte Beamte
und zum anderen durch die Kommune besoldete Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter sind, dass sozusagen die Ta-
rifeinheit dort nicht gegeben ist. Aber das muss vor Ort
geregelt werden. Gesetzliche Regelungen in die Kom-
munen hinein werden wir vom Bund aus nicht schaffen
können; das wissen wir. Aber dafür, dass das Ungleich-
gewicht beseitigt werden kann, werden wir alle Sorge
tragen. Dafür haben wir auch schon etwas getan. Wir ha-
ben gerade 6 Milliarden Euro zur Entlastung der Kom-
munen gegeben. Ich glaube, dass wir damit Spielraum
schaffen können. Wenn die Haushalte ausgeglichen wer-
den, haben auch die Kommunen mehr Spielraum, um ein
Missverhältnis an dieser Stelle zu beseitigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben auch noch darauf hinzuweisen – das ist im
Gesetzgebungsverfahren ganz wichtig –, dass es nicht
nur darum geht, Mitarbeiter unbefristet zu beschäftigen.
Wir haben auch an einer anderen Stelle Handlungsbedarf
gesehen. In der Frage der Ausgestaltung von Regelun-
gen zu Ordnungswidrigkeiten schaffen wir jetzt auch
Rechtssicherheit. Wir schaffen Rechtssicherheit ferner in
einem dritten Bereich – auch das werden wir heute mit
verabschieden –, indem wir Überzahlungen und Doppel-
zahlungen ausgleichen werden. Das führt ebenfalls zur
Entlastung bei den Kommunen und im Bundeshaushalt.

Insofern sind wir auf dem richtigen Wege. Wir wer-
den uns aber nicht auf diesem Gesetz – das ist die erste
Gesetzgebungsmaßnahme dieser Art – ausruhen, son-
dern es wird weitergehen. Die Bund-Länder-Kommis-
sion wird sich noch mit organisatorischen Fragen und
mit der Ausgestaltung im Bereich der Jobcenter beschäf-
tigen. Wir haben in der letzten Ausschusssitzung gehört,
dass der Zeitplan schon festgelegt worden ist.

Wir sind schon sehr gespannt auf die Ergebnisse des
Gutachtens, das vom Bundesministerium dankenswer-
terweise in Auftrag gegeben worden ist. Wir werden da-
raus Erkenntnisse ziehen können und auch müssen, da-
mit wir da weiter an den richtigen Schrauben drehen
können. An der ersten richtigen Schraube haben wir be-
reits gedreht.

Insgesamt gesehen ist es wichtig, dass wir heute ein
gutes Signal an die Mitarbeiter der gemeinsamen Ein-
richtungen und der Jobcenter der Optionskommunen
aussenden, die ich an dieser Stelle einbeziehe. Beide ha-
ben sich grundsätzlich bewährt. Letztere sind von dieser
Gesetzgebung aber nicht betroffen. Ich will auch noch
einmal deutlich machen, dass wir in den Jobcentern ins-
gesamt hervorragendes Personal haben. Die Mitarbeiter
handeln im Rahmen ihrer jetzigen Möglichkeiten im In-
teresse der Kunden, also der Arbeitslosen und der Leis-
tungsempfänger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir wollen diesen Weg weitergehen. Wir wollen die
rechtliche Situation weiter verbessern und bleiben nicht
bei dem Gesetz stehen, das wir heute verabschieden. Wir
werden in dieser Legislaturperiode eine weitere Runde
beginnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803923800

Letzte Rednerin ist Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die

Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803923900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Eckenbach, Frau Zimmermann hat zwar das Hartz-IV-
System kritisiert, sie hat aber nicht gesagt, Hartz IV
müsse weg. Das ist schon einmal ein Fortschritt, den Sie,
Frau Eckenbach, hätten würdigen können.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Ja, gut!)


Herr Rosemann, Sie haben vollkommen recht: Ein
kompetentes Fallmanagement ist tatsächlich die Grund-
voraussetzung für Integration. Dafür brauchen wir quali-
fiziertes Personal. Dieses qualifizierte Personal muss
aber die Freiheit haben, auf individuelle Problemlagen
mit individuellen Lösungen zu reagieren.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat Herr Rosemann gesagt!)


– Wenn Herr Rosemann das gesagt hat, dann gebe ich
ihm einfach mal recht.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wissen auch, dass mit dieser gesetzlichen Rege-
lung die Fluktuation und die Zahl der Befristungen bei
weitem noch nicht auf dem Stand sind, den wir erreichen
müssen. Noch immer sind die Jobcenter extrem unterfi-
nanziert. Das gilt sowohl für das Personal als auch für
den Verwaltungsbereich insgesamt und vor allen Dingen
für die Eingliederungsmittel.

Noch immer fehlt es den Jobcentern an flexiblen In-
strumenten, insbesondere für die immer schwieriger
werdende Gruppe von Menschen, die bereits Kunden bei
den Jobcentern sind. Auch da haben wir einen extrem
großen Handlungsbedarf.

Noch immer belohnen die Jobcenter durch das vor-
handene Steuerungssystem eher statistische Effekte, be-
lohnen die Bestenauslese, belohnen aber nicht die nach-
haltige Integration der schwierigsten Personen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Angesichts dieser Problemlagen begrüßen wir jeden
Schritt, der in die richtige Richtung geht und der zu Ver-
besserungen führt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Rosemann, Sie haben gesagt, dass dieses Gesetz
die Grundlagen für Verbesserungen legen würde. Ich
finde, da blasen Sie die Backen ein bisschen zu sehr auf.
Das heutige Gesetz ist zwar ein kleiner Schritt in die
richtige Richtung; deswegen werden wir ihm auch zu-
stimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber eine Grundlage ist das wirklich nicht. Ich sehe an
einigen Punkten extremen Handlungsbedarf.

Erstens. Es wurde die Bürokratisierung angespro-
chen. Ich finde, es wäre ein richtiger Fortschritt, wenn
sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe tatsächlich dazu
durchringen könnte, den Bewilligungszeitraum für Be-
scheide auf ein Jahr zu verlängern. Das wäre gut für die
Verwaltung. Das wäre gut für das Personal. Aber es wäre
vor allen Dingen auch gut für die Arbeitslosen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber auf keinen Fall darf es unter dem Deckmantel der
Entbürokratisierung zu Verschärfungen im System kom-
men. Darauf werden wir achten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Die Zahl der Befristungen muss deutlich
zurückgefahren werden. Insbesondere vor dem Hinter-
grund der schwierigen Gruppen, die jetzt in den Jobcen-
tern betreut werden, brauchen wir einen besseren Be-
treuungsschlüssel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist inzwischen nachgewiesen, dass ein besserer Be-
treuungsschlüssel tatsächlich zu einer nachhaltigen Inte-
gration von Arbeitslosen führt. Mit anderen Worten:
Mehr und besseres Personal in den Jobcentern zahlt sich
aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Hat Herr Rosemann gesagt!)


Drittens. Wer über die Personalausstattung redet, darf
über die Finanzen nicht schweigen. Da sind die 350 Mil-
lionen Euro wirklich ein Witz, Herr Rosemann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit können die Jobcenter noch nicht einmal die Per-
sonalkostensteigerung der letzten Jahre auffangen. Für
Eingliederungsmittel bleibt nichts übrig. Diese schlichte
Formel – ich komme zum Schluss, ich verspreche es –:
weniger Arbeitslose ist gleich weniger Geld, geht nicht
auf.

Das sind eine Menge Baustellen, an denen wir drin-
gend arbeiten müssen. Es muss dringend etwas passie-
ren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter
warten darauf. Vor allem die Arbeitslosen warten darauf.
Der Ball liegt in Ihrem Spielfeld.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803924000

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Ich komme damit zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch –
Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen. Der Aus-
schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/1651, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den
Drucksachen 18/1311 und 18/1586 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den
Stimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Bera-
tung angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Beabsichtigte und unbeabsichtigte Auswir-
kungen des Betäubungsmittelrechts überprü-
fen

Drucksache 18/1613
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De-
batte ist der Kollege Frank Tempel, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(C)



(D)(B)


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803924100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Rund die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren
unseres Landes fordert in einer Resolution an den Bun-
destag eine Evaluierung des Drogenstrafrechts. Also
dürfte es im Sinne von uns allen sein, wenn Linke und
Grüne nun einen entsprechenden Antrag hier vorlegen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Während die Positionen in der Politik wie in Beton
gegossen wirken, ist in der Öffentlichkeit längst eine of-
fene und sehr sachliche Debatte in Gange. Verbände und
Organisationen wie die Deutsche Hauptstelle für Sucht-
fragen, die Deutsche Aids-Hilfe oder der Schildower
Kreis halten diese Verbotspraxis schon längst für über-
holt und stehen ihr kritisch gegenüber. International
hört man Namen wie Javier Solana, Kofi Annan oder
Ban Ki-moon, die den Krieg gegen die Drogenkartelle
als nicht gewinnbar einordnen und von einer grundle-
genden Umkehr in der Drogenprohibition sprechen.

Der neue „Europäische Drogenbericht“ weist übri-
gens aus, dass in Europa bereits 73 Millionen Erwach-
sene Cannabis konsumiert haben. Hier hört sich das oft
so an, als würden wir diese Droge erst bekommen, wenn
sie legalisiert wird. Diese Millionen sind übrigens nicht
alles Holländer;


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn dort ist ganz ohne Kriminalisierung der Pro-Kopf-
Anteil an Cannabiskonsumenten in der Bevölkerung
nicht höher als in Deutschland.

Vor viereinhalb Jahren wechselte ich vom Kriminal-
dauerdienst in Gera in den Bundestag und begann, mir
das Thema Drogenpolitik völlig ergebnisoffen neu zu er-
schließen. Ich habe sozusagen die Ermittlungen aufge-
nommen – gründlich, offen und in alle Richtungen –, so
wie ich es gelernt habe.

Der Drogenkonsument – das ist eine Besonderheit –
wird aufgrund einer potenziellen Selbstgefährdung mit
Strafe bedroht. Er hat bei Besitz und Erwerb von Drogen
niemand Fremdes geschädigt. Wir wissen: Wenn der
Staat in die Grundrechte seiner Bürger eingreift, muss
das – und das macht er hier sehr drastisch mit einem Ver-
bot, dem sogar eine Haftstrafe folgen kann – verhältnis-
mäßig sein; das heißt: geeignet, erforderlich und ange-
messen.

Die polizeiliche Sicht kannte ich bereits; denn ich
selbst war einige Jahre in der Rauschgiftbekämpfung tä-
tig. Mein Weg als Bundestagsabgeordneter führte mich
also zu Streetworkern, Suchtkliniken und Präventions-
einrichtungen. In vielen Gesprächen traf ich Rechtswis-
senschaftler, Sozialwissenschaftler und Gesundheitswis-
senschaftler ebenso wie Praktiker aus der Suchthilfe. Ich
nahm auch die internationale Drogenpolitik genauer un-
ter die Lupe, schaute auf Länder wie die Niederlande,
Spanien, Portugal oder die Schweiz genauso wie auf
Mexiko, Brasilien, Kolumbien, Afghanistan und, natür-
lich nicht zu vergessen, die USA.
Kann ein Verbot wirklich Angebot und Nachfrage re-
duzieren?


(Zuruf von der LINKEN: Nein!)


Welche Nebenwirkungen hat das Verbot, und welches
Ausmaß haben diese Nebenwirkungen? Mit Nebenwir-
kungen meine ich einen Schwarzmarkt, wo Milliarden in
die Kriminalität fließen, ein Markt übrigens, auf dem es
keinen Verbraucherschutz und keinen Jugendschutz gibt.
Glauben Sie mir: Einen Dealer auf dem Schwarzmarkt
interessiert nicht, ob der Kunde 14, 20 oder 40 Jahre alt
ist. Er gibt auch keine Auskunft darüber, welche Sub-
stanz er in welcher Konzentration und mit welchen
Streckmitteln abgibt. Er ist auch nicht verpflichtet, Prä-
ventionsprogramme zu unterstützen. Dieser Schwarz-
markt macht so gefährliche Drogen noch gefährlicher,
unberechenbarer und vor allen Dingen auch erreichbarer
für die Jugend, als sie jetzt schon sind. Auch mit diesen
Nebenwirkungen des Verbots müssen wir uns offen aus-
einandersetzen; denn sie verursachen zusätzlich Krank-
heit, Tod und Sucht.

Aus dem Ergebnis dieser „Ermittlungen“ habe ich
Forderungen entwickelt, aber diese Forderungen sind
explizit nicht in dem heute vorliegenden Antrag enthal-
ten. Was wir anbieten, ist ein wirklich offenes Herange-
hen an ein sehr strittiges Thema. Bei manchen Anträgen
sagen Sie – das höre ich von der SPD immer wieder –:
Das ist ja ganz richtig, aber der Antrag ist schlecht ge-
schrieben, schlecht gemacht, und deshalb können wir lei-
der nicht zustimmen. Diese Antwort kennen wir schon.
Deswegen sage ich ausdrücklich: Wir sind zur Zusam-
menarbeit bei der Weiterentwicklung dieses Antrages
hin zu anderen Fragekomplexen jederzeit bereit; denn es
soll ein gemeinsames Herangehen an ein strittiges
Thema werden.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Öffnen Sie sich einem solchen Prozess! Arbeiten Sie
mit uns gemeinsam! Denn die Resolution der Straf-
rechtsprofessoren war an uns alle gerichtet.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803924200

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Emmi Zeulner,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1803924300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Prinzipiell arbeite ich sehr gerne mit Polizis-
ten zusammen; denn die sind in der Regel sehr nett.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Ausnahmen bestätigen die Regel!)


– Ja, so ist es. – Der gemeinsame Antrag der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen aber, der vorder-
gründig lediglich auf die Überprüfung des Betäubungs-

(A)






Emmi Zeulner


(A) (C)



(D)(B)

mittelrechts abzielt, kommt für mich wie ein Wolf im
Schafspelz daher.

So fordern Sie eine ergebnisoffene Debatte über die
Entkriminalisierung von Drogen und meinen, dass die
Wurzel allen Übels in der Verbotspolitik und nicht im
Konsum selbst liegt.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einfach mal lesen, die Resolution!)


Sie stellen den möglichen gesellschaftlichen und ge-
sundheitlichen Abstieg eines Drogenabhängigen in
kausalen Zusammenhang mit dem Sanktionssystem
des Betäubungsmittelrechts und verharmlosen dabei das
eigentliche Übel: die Suchtkrankheit.

Was Sie im Grunde fordern – da brauche ich Ihre
Wahl- und Parteiprogramme nur aufzuschlagen –, ist
langfristig die Legalisierung von Drogen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


So fordern die Grünen im ersten Schritt die Entkrimina-
lisierung aller Drogen, die aber bei Drogen wie Cannabis
fließend in die Legalisierung übergehen soll. Die Linke
geht sogar noch weiter und fordert in ihrem Parteipro-
gramm – ich zitiere wörtlich –: „langfristig eine Legali-
sierung aller Drogen“.


(Zurufe von der LINKEN: Ja!)


Wobei es mir persönlich egal ist, in welcher Form der
Wolf auftritt; denn die Entkriminalisierung bedeutet,
vereinfacht gesagt, dass ich ein Verbot habe, die Hand-
lung aber ohne sanktionsrechtliche Folgen bleibt. Wenn
der Gesetzgeber den Weg einer Legalisierung beschrei-
ten wollte, müsste er bereits vorher ansetzen und die
Handlung als nicht verboten definieren.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803924400

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Tempel?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Er hat doch gerade gesprochen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wenn es etwas Substanzielles ist!)



Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1803924500

Er hat doch gerade gesprochen. – Ich bleibe dabei,

was ich am Anfang gesagt habe: Schlussendlich bleibt
der Wolf ein Wolf, und dem legalen Konsum von Dro-
gen wird Tür und Tor geöffnet. Das Ziel der Antragspar-
tei ist eine Abkehr von der aktuellen Drogenpolitik und
damit ein kompletter Systemwechsel. Die Notwendig-
keit einer solchen Abkehr erkenne ich nicht. Genau des-
halb werden wir Ihren Antrag ablehnen.

Die Drogenpolitik der Bundesregierung hat sich be-
währt. Sie steht im Einklang mit den internationalen Ab-
kommen der UNO und wurde über Jahrzehnte – meist
über Parteigrenzen hinweg – von den Parlamentariern
erfolgreich getragen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Sie folgt einem ganzheitlichen Ansatz und ist von Konti-
nuität geprägt. Die Gesundheit der Menschen steht dabei
an oberster Stelle.

Unsere Drogenbeauftragte Marlene Mortler steht wie
ich für eine ausgewogene Drogenpolitik mit den bewähr-
ten vier Säulen: Prävention, Beratung und Behandlung,
Hilfe zum Ausstieg als Mittel zur Schadensminimierung
und Bekämpfung der Drogenkriminalität.


(Beifall bei der CDU/CSU – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles gescheitert!)


Die Zahlen geben uns recht. Der Konsum illegaler Dro-
gen und die damit verbundenen gesundheitlichen Risi-
ken sind in den letzten Jahren insgesamt rückläufig, was
vor allem diesem in sich schlüssigen Konzept geschuldet
ist. Das Konzept sollte nicht gefährdet werden, indem
einzelne Elemente herausgebrochen werden.

Die für mich wichtigste Säule ist die Prävention, wie
sie zum Beispiel die Aufklärungskampagnen der Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der ent-
sprechenden Landeszentralen, die Suchtverbände und
auch die Polizei seit vielen Jahren wirkungsvoll und en-
gagiert betreiben. Diese Aufklärung setzt bereits bei den
jüngeren Mitgliedern unserer Gesellschaft an. Damit
entmündigen wir die Jugendlichen nicht etwa, sondern
schützen diese. Wir werden unserem im Grundgesetz
festgelegten Auftrag des sozialen Rechtsstaates gerecht.

Die allgemeine Handlungsfreiheit des Artikels 2 des
Grundgesetzes erkennen wir selbstverständlich an, je-
doch hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem
wegweisenden Cannabis-Beschluss von 1994 festge-
legt, dass ein „Recht auf Rausch“ nicht besteht. Diesen
entscheidenden Tenor hat das Gericht wiederholt in aller
Deutlichkeit bestätigt. Eine Legalisierung würde die Prä-
ventionsbemühungen gegenüber potenziellen Erstkonsu-
menten nachhaltig schwächen und ist ein falsches Si-
gnal.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sucht ist eine Krankheit mit einer meist langen Ent-
wicklungsgeschichte. Die Sucht bildet hierbei meist den
Endpunkt dieser Entwicklung. Deswegen ist Prävention
so wichtig. Dazu, die Prävention weiter zu stärken und
die bereits bestehenden erfolgreichen Ansätze weiter
auszubauen, wird uns in dieser Legislaturperiode auch
das Präventionsgesetz dienen.

Auch im Rahmen der zweiten und dritten Säule sehe
ich keine gravierenden Lücken, die einer Überprüfung
bedürften. Die primäre Zielsetzung der Drogenbekämp-
fung ist zwar, Sucht und Abhängigkeit zu verhindern,
aber dennoch arbeiten wir stetig daran, den Hilfesuchen-
den die optimale Unterstützung für eine Heilung und
Wiedereingliederung zukommen zu lassen. Die Hilfe
zum Ausstieg – zum einen als Mittel zur Schadensmini-
mierung und zum anderen als Ausweg aus dem oftmals
leider vorprogrammierten sozialen Abstieg – ist Teil un-
serer politischen Agenda. Sozialer Abstieg beginnt nicht
mit der Kriminalisierung, sondern ist oftmals eine Be-
gleiterscheinung des Drogenkonsums selbst. Der regel-





Emmi Zeulner


(A) (C)



(D)(B)

mäßige Konsum illegaler Substanzen verändert die Per-
sönlichkeit, er schädigt die Gesundheit und treibt die
Menschen in die soziale Isolation.


(Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Wie beim Alkohol, wo Sie sich sogar vor Werbeverboten drücken! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie beim Alkohol!)


Auch bei der vierten Säule, dem Sanktionsrecht im
Hinblick auf die Drogenkriminalität, kann ich keine gra-
vierenden Mängel erkennen. Ja, Ihre These, dass eine
förmliche Strafverfolgung zu einer Stigmatisierung ju-
gendlicher Straftäter führen kann, lässt sich nicht be-
streiten. Sie wissen genau, dass dies in allen Bereichen
der Kriminalität zu beobachten ist. Es ist jedoch keines-
wegs so, dass, wie in der Resolution des Schildower
Kreises suggeriert wird, bei jedem kleinen Verstoß sofort
eine dauerhafte Stigmatisierung stattfindet. Es fließen
selbstverständlich auch das Alter und die Reife mit in die
Sanktionsausgestaltung ein. Denn im Gegensatz zum Er-
wachsenenstrafrecht liegt dem Jugendstrafrecht der Er-
ziehungsgedanke zugrunde. Speziell für den Bereich des
Betäubungsmittelrechts hat das Bundesverfassungsge-
richt in seinem Cannabis-Beschluss festgelegt, dass bei
einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldge-
halt die Möglichkeit besteht, von der Strafverfolgung ab-
zusehen. Gerade hierdurch wird einer unnötigen Stigma-
tisierung heute schon entgegengewirkt, und der Staat
wird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zielsetzung des Betäubungsmittelrechts ist nicht nur,
Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, sondern es geht
dem Gesetzgeber viel mehr um die Gestaltung des sozia-
len Zusammenlebens. Der Schutz vor den sozialschädli-
chen Wirkungen des Umgangs mit Drogen steht im Mit-
telpunkt der Überlegungen.

Wir dürfen uns natürlich nichts vormachen: Die Re-
sultate der strafrechtlichen Bekämpfung des Drogenhan-
dels sind nicht durchweg ermutigend. Aber daraus dür-
fen wir doch nicht den Umkehrschluss ziehen, wie Sie es
in Ihrem Antrag tun, dass die derzeitige Drogenpolitik
und insbesondere die Strafverfolgung untauglich sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sagen 122 Strafrechtsprofessoren! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Die sollen alle keine Ahnung haben?)


Es ist und bleibt unser zentrales Anliegen, den Handel
mit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. Doch weder die
Entkriminalisierung noch die Legalisierung können ge-
eignete Mittel sein, um der Drogenkriminalität ihre wirt-
schaftliche Grundlage zu entziehen. Bitte vergessen Sie
nicht: Auch beim Handel mit legalen Waren existiert ein
Schwarzmarkt, und die Beteiligung der organisierten
Kriminalität ist nicht ausgeschlossen. Eine Schattenwirt-
schaft, wie die Resolution sie beschreibt, entsteht doch
nicht allein aus der Verbotspolitik.
Eine grundlegende Schwäche Ihres Antrags besteht in
einem weiteren Punkt. Liest man die Resolution des
Schildower Kreises, auf die Sie sich beziehen, stellt man
fest, dass keinerlei Differenzierung nach Härte oder Art
der Drogen vorgenommen wird. Wollen Sie ernsthaft
eine Situation wie in Portugal? – In Portugal findet der
Konsum von Kokain, Ecstasy und Amphetaminen auf-
grund der liberalen Drogenpolitik in aller Öffentlichkeit,
zum Beispiel in Diskotheken, statt.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Bei uns auch! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich lade Sie mal ein!)


Möchten Sie junge Menschen abends in einem solchen
Umfeld wissen?

Bei aller Liebe zur Eigenverantwortlichkeit und Mün-
digkeit: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es einen
verantwortungsvollen Konsum von Crystal oder anderen
schweren Drogen geben kann. Eine Droge, die bereits
nach der ersten Einnahme zu einer Abhängigkeit führen
kann,


(Zuruf von der LINKEN: Das tun Zigaretten im Übrigen auch!)


nimmt dem Konsumenten gerade die Eigenverantwort-
lichkeit.

Zentrales Argument gegen eine Liberalisierung bleibt
für mich schlussendlich – da sind wir uns doch hoffent-
lich alle einig –, dass bei einer Entkriminalisierung die
Hemmschwelle, die Drogen tatsächlich auszuprobieren
und einzunehmen, definitiv sinkt. Dafür kann ich in mei-
ner Funktion als Abgeordnete keine Verantwortung
übernehmen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Sosehr ich die europäischen Freiheiten schätze, die
uns etwa das Schengener Abkommen mit der Aufhebung
der Zollgrenzen gewährt, so bewusst müssen wir uns da-
rüber sein, dass wir die Auswirkungen der liberalen
Drogenpolitik in manchen Anrainerstaaten zu spüren be-
kommen. Unsere Drogenpolitik steht vor der Herausfor-
derung, hier geeignete Maßnahmen zu finden. Gerade
bei Crystal kämpfen wir derzeit gemeinsam mit unseren
tschechischen Kollegen dafür, dieses mittlerweile ge-
samtgesellschaftliche Problem in den Griff zu bekom-
men.

Sie wissen, wovon ich spreche; auch Sie bekommen
regelmäßig Briefe von besorgten Müttern und Vätern,
die wollen, dass die Kinder vor dieser gravierenden
Droge geschützt werden.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Ja, genau!)

– Sie sagen: „Ja, genau!“ – Was soll ich diesen Eltern Ih-
rer Ansicht nach antworten? Dass das Experimentieren
mit Drogen zum Erwachsenwerden nun mal dazugehört?
Dass „ideologische Vorbehalte“, wie Sie es in Ihrem An-
trag nennen, aufzubrechen sind? – Bei aller Liebe: Eine
solche Argumentation kann und darf nicht die Antwort
auf die Gefahren illegaler Drogen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803924600

Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention

hat jetzt der Kollege Tempel.


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803924700

Ich muss leider antworten, weil Sie offensichtlich ein

Problem damit hatten, meinem Vortrag vorhin zu folgen.
Es war sehr freundlich, dass Sie aus den Wahl- und Par-
teiprogrammen unserer Parteien zitiert haben. Wir haben
aber extra gesagt: In unseren Antrag haben wir keine
Forderungen übernommen. Wir wollen eine ergebnis-
offene Evaluierung.


(Beifall bei der LINKEN)


Und wir wollen sie deswegen, weil das auch die Fach-
gremien befürworten, in denen die verschiedenen Wis-
senschafts- und Praxisbereiche zusammentreffen, bei-
spielsweise die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen,
die jedes Jahr eine dreitätige Fachtagung durchführt. In
den letzten drei Jahren habe ich weder einen Landes-
noch einen Bundespolitiker der CDU dort angetroffen.
Ich bin dort Stammgast. Ich höre den Fachleuten zu.
Diese fordern den Dialog mit der Politik, um endlich
eine Änderung herbeizuführen.

Wenn Sie bei solchen Gelegenheiten dabei wären,
würden Sie auch Vorträge zur Drogenpolitik in Portugal
hören,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


wo nach einer Liberalisierung die Zahl der Drogentoten
gesunken und die Zahl der Konsumenten nicht angestie-
gen ist. Die Konsumenten müssen sich jetzt nicht mehr
verstecken – man sieht sie jetzt; das stimmt –, aber die
Zahl der Konsumenten ist nicht angestiegen. Gesunken
ist hingegen die Zahl der Erstinfektionen mit Aids und
Hepatitis. Gesunken ist auch die Affinität von Konsu-
menten, süchtig zu werden. Das besagt eine Studie über
zehn Jahre liberalisierte Drogenpolitik in Portugal. Wenn
Sie dieses Arbeitsfeld hier im Bundestag bearbeiten wol-
len, wäre es sehr nett, wenn Sie solche Studien auch ein-
mal lesen würden. Dann müssten Sie hier nicht so ver-
drehte Sachen erzählen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt sehr viel Material. Gerade deswegen, weil die-
ses Material in Ihrer Fraktion nicht ankommt, weil Sie
sich damit nicht beschäftigen und sich hier im Haus, wo
Sie eine Mehrheit haben, fernab jeglicher wissenschaftli-
cher Erkenntnisse des Landes bewegen, fordern wir eine
unabhängige wissenschaftliche Evaluierung.

Ich möchte von Ihnen wissen: Wenn Sie glauben, dass
Ihre Position richtig ist, warum kneifen Sie dann, wenn
es um eine unabhängige Evaluierung durch Fachleute
geht?


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803924800

Frau Kollegin Zeulner, möchten Sie antworten? –

Bitte.

Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1803924900

Die Zielrichtung Ihres Antrages ist schon eindeutig.

Ich freue mich, dass wir jetzt bald zusammen einen Aus-
flug unternehmen werden, dass Sie mich mitnehmen. Im
Zusammenhang mit dem Präventionsgesetz werden wir
im Ausschuss Gelegenheit haben, darüber zu diskutie-
ren. Auf diese Diskussion freue ich mich ganz beson-
ders.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803925000

Vielen Dank. – Jetzt spricht der Kollege Harald Terpe,

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803925100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Natürlich muss ich zu Anfang auf meine Kollegin
Zeulner reagieren. Ich glaube, dass es wichtig ist – ich
versuche ja nur, Erfahrung weiterzugeben –, dass man
sich auch in der Politik mit bestimmten Fragen ergebnis-
offen auseinandersetzt. Ich habe in Ihrer Rede sehr viel
vorgefasste Meinung gefunden. Ich kann jetzt nur noch
einmal betonen, dass hier ein Antrag vorliegt, mit dem
eine ergebnisoffene, ohne Vorbedingungen geführte Dis-
kussion in Gang gesetzt werden soll.

Wichtig ist auch, wie ich glaube, noch einmal zu sa-
gen, dass Anlass für diesen Antrag war, dass über 120
Strafrechtsprofessoren – das sind knapp 50 Prozent –
eine Evaluation gefordert haben. Was hier noch nicht ge-
sagt worden ist, ist, dass sich nur 8 der 250 Professoren
ausdrücklich dagegen ausgesprochen haben. Jedenfalls
vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Exper-
tise ist eine Evaluation also überfällig. Viele wissen-
schaftliche Fachgesellschaften setzen sich dafür ein. Im
Übrigen setzt sich auch der Bund der Kriminalisten
mehrheitlich dafür ein. Viele Verbände und viele Teile
der Gesellschaft unterstützen diese Forderung nach einer
Evaluation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir sagen ja auch ausdrücklich, dass wir Parteipolitiker
an dieser Evaluation gar nicht teilnehmen wollen. Wa-
rum sollten wir das auch? Damit würden wir ja nur die
Grabenkämpfe der Vergangenheit weiterführen. Doch
das führt ja zu nichts.

Die Fakten sind, denke ich, relativ eindeutig. Ich will
jetzt keine juristische Exegese betreiben; aber wenn man
sich das Ziel, das vor 40 Jahren mit dem Betäubungsmit-
telgesetz verbunden wurde, vor Augen führt, entwickelt
man große Zweifel, dass das große Versprechen, die Ju-
gend vor den Gefahren des Drogenkonsums zu schützen,
wirklich eingelöst wurde. Trotz 40 Jahren Betäubungs-
mittelgesetz kann man faktisch flächendeckend an jeder
Schule Drogen erwerben. Das muss man nicht gut fin-
den, aber es ist Fakt. Mit anderen Worten: Das Gesetz
hat an dieser Praxis überhaupt nichts geändert. Weder
Drogenerwerb noch Handel noch Verbreitung von Dro-
gen sind verhindert worden, nicht einmal bei Jugendli-
chen.





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)

Angesichts dessen kann ich nur wiederholen: Der
Schwarzmarkt, der ja Folge der Illegalisierung ist, kennt
keinen Jugendschutz und keinen Gesundheitsschutz. Er
kennt nichts dergleichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben also im Gegenteil erhebliche Chancen, wenn
wir uns einer unabhängigen Evaluation aussetzen. Wel-
che Chancen haben wir? Wir haben Chancen bei der Prä-
vention. Wir haben Chancen beim Gesundheitsschutz.
Wir haben Chancen beim Jugendschutz. Wir haben
Chancen bei der Behandlung.

In Ihrer Darstellung sind im Übrigen die Abhängigen
in den Vordergrund geschoben worden.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Prävention!)


Auch ich bedaure, dass wir in unserem System nicht ge-
nug Mittel dafür einsetzen, damit abhängig Erkrankte –
das sind keine Verhaltensgestörten; das sind Kranke –
ausreichend behandelt werden können. Das liegt unter
anderem auch daran, dass die Mittel so ungleich einge-
setzt werden.

Zu Ihrer Bemerkung, dass es ein Präventionsgesetz
geben wird und dass Sie mit der Bundeszentrale für ge-
sundheitliche Aufklärung schon eine ganze Menge ma-
chen: Das Bundesministerium hat im Haushalt 10 Mil-
lionen Euro zur Aufklärung über den Konsum legaler
und illegaler Drogen bereitgestellt. Demgegenüber wer-
den 3,3 Milliarden Euro für die Strafverfolgung ausge-
geben. Das heißt also: Haushaltspolitisch gibt es prak-
tisch eine Fixierung auf die Prohibition, verbunden mit
der Folge der Entstehung eines Schwarzmarktes.

Ich bitte Sie, rein nüchtern unseren Vorschlag, eine
unabhängige Evaluation in Angriff zu nehmen, zu prü-
fen, und selbst dafür zu sorgen, dass dort politisch kein
Einfluss genommen wird. Dann können wir anhand der
Ergebnisse schauen, was wir in Zukunft ändern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist doch das Entscheidende. Daher kann ich nur da-
rum bitten, das wirklich vorurteilslos mit uns gemeinsam
zu machen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803925200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Burkhard

Blienert, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Blienert (SPD):
Rede ID: ID1803925300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu Beginn
der Legislaturperiode haben die besagten Strafrechtspro-
fessoren mittels einer Resolution zur Reform des Dro-
genstrafrechts eine wichtige Debatte angestoßen. Die
Rechtsgelehrten fordern in ihr die Einsetzung einer En-
quete-Kommission des Bundestages zum Thema „Er-
wünschte und unbeabsichtigte Folgen des geltenden
Strafrechts“.

Zwar hat 1994 das Bundesverfassungsgericht – das ist
auch schon mehrmals angeklungen – das Betäubungs-
mittelstrafrecht für verfassungsgemäß befunden, aber al-
len Beteiligten war die damalige lückenhafte Erkenntnis-
lage deutlich bewusst. Nun, 20 Jahre später, sind wir hier
ein ganzes Stück weiter. Mittlerweile liegen uns durch-
aus umfangreiche Erkenntnisse vor. Ich möchte einige
einfach nur kurz anreißen.

Wir sehen zum Beispiel die Entwicklungen in ande-
ren Staaten, die dort gemachten Erfahrungen und auch
die Korrekturen in der staatlichen Drogenpolitik. Dabei
sind es jedoch auch immer sehr spezifische und unter-
schiedliche Aspekte, die zu Neuausrichtungen in den je-
weiligen Ländern geführt haben. Wir nehmen natürlich
die Resultate, wie beispielsweise die aus den Niederlan-
den und aus Portugal, zur Kenntnis.

Warum jedoch einige Staaten neue Wege gehen, hat
wiederum sehr unterschiedliche Gründe. Uruguay gibt
zum Beispiel den Marihuana-Anbau komplett frei. Der
Bundesstaat Colorado hat den Handel legalisiert, unter
anderem auch, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen.
Auch das muss man natürlich bedenken.

Wir sollten daher auch erst einmal politisch beginnen,
gemeinsame Ziele einer fortschrittlichen Drogen- und
Suchtpolitik zu formulieren. Das Angebot nehme ich da-
her persönlich erst einmal auch an. In diesem Zusam-
menhang gilt es, Risiken und Nebenwirkungen etwaiger
Maßnahmen genauestens abzuwägen. Das Minimieren
von Gesundheitsrisiken und die Prävention muss bei al-
len Überlegungen höchste Priorität haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein auf Basis der
fünf Thesen der Staatsrechtler – auch wenn es wirklich
eine große Gruppe deutscher Staatsrechtler ist – zu ar-
beiten, halte ich jedoch für uns als Bundestag für zu
dünn. Darauf gegründet eine hundertköpfige Experten-
kommission ins Leben zu rufen, die mittels der soge-
nannten Delphi-Methode neue Erkenntnisse zu den Wir-
kungen des Betäubungsmittelrechts herausarbeiten soll,
halte ich doch für recht experimentell.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin zwar einverstanden, wenn wir uns frei von
Ideologie diesen Themen nähern; frei von Politisierung
kann es aber nicht gehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich bin daher nicht sicher, ob diese Methode, die Sie in
Ihrem Antrag erwähnen, tatsächlich ein geeignetes Inst-
rumentarium zum Erkenntnisgewinn sein kann. Auch
Sie selber sind sich da offensichtlich nicht ganz sicher,
wenn Sie in Ihrem Antrag auch andere Verfahren für
denkbar erachten.





Burkhard Blienert


(A) (C)



(D)(B)


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir bauen Brücken, wo wir können! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Wir wollen es leicht machen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt sich daher,
für eine Debatte im Ausschuss einmal die Erkenntnisse,
die vorhanden sind, zusammenzutragen.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat zum Beispiel bereits
im Juni 2013 eine entsprechende Studie mit dem Titel
„Entkriminalisierung und Regulierung“ veröffentlicht,
die viele interessante Aspekte hierzu behandelt. Es lohnt
sich schon, dort auch einmal hineinzuschauen.


(Beifall bei der SPD)


Dabei wird deutlich, dass es eben um mehr als um das
Strafrecht bzw. um rechtspolitische Fragestellungen
geht. Es geht natürlich um gesundheitspolitische Fragen,
um ökonomische Auswirkungen, um sozialpolitische
Aspekte, auch um ethische Fragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mein Fazit ist aber: Man kann und muss auch eine
Debatte zu den Auswirkungen des Betäubungsmittel-
rechts führen. Ihr Antrag greift den wichtigen Beitrag
der Strafrechtsprofessoren und die medialen Bericht-
erstattungen hierzu auf. Ihr Antrag insgesamt ist aber ei-
gentlich ein Schnellschuss. Sie versuchen mit ihm, erst
einmal kurzfristig Punkte zu machen, wohl wissend,
dass mit der Einsetzung einer derart umfangreichen Ex-
pertengruppe dann wohl kaum mit Handlungsempfeh-
lungen in dieser Wahlperiode zu rechnen sein dürfte.
Auch wenn der Antrag gut gedacht ist, er scheitert an
Praktikabilität und zum Teil eben auch an Plausibilität.


(Beifall bei der SPD – Frank Tempel [DIE LINKE]: Ich glaube, diese Stelle in Ihrem Text hatte ich angekündigt!)


Das Thema ist komplexer, und Lösungswege sind
schwieriger zu finden. Der Umgang mit Cannabis und
dem damit im Zusammenhang stehenden Diskurs nicht
nur über das Betäubungsmittelrecht in Deutschland be-
schäftigt eben nicht ohne Grund Politikerinnen und Poli-
tiker seit vielen Jahren. Wir von der SPD-Bundestags-
fraktion – und ich denke, auch die Kolleginnen und
Kollegen von der Union – wollen nicht für die Ihrerseits
unbedachten Nebenwirkungen dieses Schnellschusses
verantwortlich gemacht werden. Lassen Sie uns daher in
den entsprechenden Ausschüssen eingehend dazu bera-
ten. Ich denke, dass dies der Sache dann insgesamt dien-
lich sein wird.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1803925400

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1613 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Gesundheit liegen soll. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen, und in den
nächsten Wochen können dann über dieses Thema noch
intensive Diskussionen geführt werden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen
an die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts

Drucksachen 18/1306, 18/1575

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)


Drucksache 18/1647

Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der De-
batte ist die Kollegin Anja Karliczek, CDU/CSU-Frak-
tion. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anja Karliczek (CDU):
Rede ID: ID1803925500

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir führen heute
das zu Ende und vervollständigen das, was wir schon im
Sommer 2013 politisch und gesetzgebend begonnen ha-
ben: die steuerliche Gleichstellung der Lebenspartner-
schaft mit der Ehe.

Bereits in der letzten Legislaturperiode hat der Bun-
destag in Teilen das Einkommensteuergesetz dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts angepasst. Aus Zeitgrün-
den kam es allerdings vor der Wahl nicht mehr dazu, die
steuerliche Gleichstellung in allen betroffenen Gesetzes-
bereichen durchzuführen.

Ich habe mich ausführlich mit den Einzelheiten der zu
ändernden Gesetze beschäftigt und muss schon sagen:
Wir haben eine sehr ordentlich arbeitende Verwaltung.
Denn ob es die Kaffeesteuerverordnung ist, die nun ge-
ändert werden muss, oder das Gesetz, in dem die Eigen-
heimzulage geregelt wird, die schon seit 2006 nicht
mehr für neue Fälle gewährt wird: Wir sorgen für Ord-
nung in unseren Gesetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Von den heute anstehenden Änderungen ist eine Viel-
zahl von Gesetzen betroffen: das Altersvorsorgever-
träge-Zertifizierungsgesetz, das Wohnungsbau-Prämien-
gesetz, das Altersvorsorge-Durchführungsgesetz, die
Abgabenordnung, das Bewertungsgesetz, das Energie-
steuergesetz, das Dritte Buch Sozialgesetzbuch, die
Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung, das Bundes-





Anja Karliczek


(A) (C)



(D)(B)

kindergeldgesetz und sogar die Deutsch-Schweizerische
Konsultationsvereinbarungsverordnung. In all diesen
Gesetzen und Verordnungen wird die Lebenspartner-
schaft nun der Ehe gleichgestellt.

Dass Menschen füreinander Verantwortung überneh-
men – unabhängig von ihrem Lebensentwurf und ihrer
sexuellen Orientierung –, findet damit auch steuerrecht-
lich seinen Niederschlag. Im Alltag zeigt sich das zum
Beispiel durch die Möglichkeit, eine gemeinsame
Steuererklärung für Lebenspartner abzugeben oder die
Altersvorsorge gemeinsam zu gestalten.

In dieser Debatte liegt mir ein Aspekt besonders am
Herzen: Mich erstaunt sehr, wie heftig und emotional in
diesem Haus, in der veröffentlichten Meinung und in der
Öffentlichkeit über die Frage der rechtlichen Gleichstel-
lung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften dis-
kutiert wurde und teilweise immer noch diskutiert wird.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist aber auch kein Wunder!)


Was heißt Lebenspartnerschaft? Heißt das nicht,
füreinander da zu sein, miteinander zu leben und Verant-
wortung füreinander zu tragen? Ist das nicht eine Selbst-
verständlichkeit und keine Frage des Lebensentwurfs?
Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Für mich
heißt das aber auch: Toleranz gegenüber verschiedenen
Lebensentwürfen ist Ausdruck einer freien Gesellschaft.
In einer freien Gesellschaft ist die eigene Gestaltung des
individuellen Lebensentwurfs selbstverständlich, ich
möchte sogar sagen: konstitutiv. Das anzuerkennen,
nenne ich Ausdruck einer liberal-wertkonservativen Hal-
tung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die rechtlichen Schritte, die wir heute gehen, nehmen
der Würde der Institution von Ehe und Familie damit
nichts. Auch durch das Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes bleiben Ehe und Familie nach Artikel 6 des
Grundgesetzes ein eigener Schutzbereich, und sie erfah-
ren dadurch eine besondere Würdigung.

Ich streife damit in einer finanzpolitischen Debatte
das Thema Familienpolitik. Es steht weiter ganz oben
auf unserer politischen Agenda. Erst in diesen Tagen hat
das Kabinett die Reform des Bundeselterngeld- und
Elternzeitgesetzes beschlossen. Wir wollen damit die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter fördern und
die wirtschaftliche Sicherheit junger Familien weiter
stärken. Wir hoffen, dass dies mehr Mut macht, sich für
Kinder zu entscheiden.

Seit der Evaluation der ehe- und familienbezogenen
Leistungen, deren Ergebnisse die letzte Bundesregierung
im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, wissen wir von
rund 150 verschiedenen Maßnahmen, in die wir jährlich
– ob durch direkte Auszahlungen oder durch steuerliche
Förderung – über 200 Milliarden Euro investieren. Den-
noch haben wir trotz hoher staatlicher Leistungen weiter
eine geringe Geburtenrate in Deutschland. Den Satz von
Konrad Adenauer: „Kinder kriegen die Leute immer“
haben wir alle im Ohr. Er trifft aber leider nicht mehr zu.
Dabei muss doch unser aller Interesse darauf gerichtet
sein, dass dieser Satz wieder wahr wird; denn nur dann
werden wir als Gesellschaft innovativ und wettbewerbs-
fähig bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wissen auch, dass finanzielle und wirtschaftliche
Überlegungen bei der Entscheidung für Kinder nicht
ausschlaggebend sind. Letztendlich werden wir Eltern,
weil Kinder Reichtum und Vielfalt bedeuten, weil Kin-
der uns Erwachsene lehren, die wesentlichen Dinge des
Lebens zu erkennen, und weil Kinder unsere Zukunft
sind. Nicht zuletzt aus genau diesem Grund müssen wir
jungen Menschen Mut zu dieser Entscheidung machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir können das weiter unterstützen durch ein famili-
enfreundliches Klima, aber auch durch die ideelle Aner-
kennung von Familienleistung und die Stärkung von
Vertrauen. Deshalb sehe ich aus steuerlicher Sicht noch
eine weitere Aufgabe, der wir uns – sicherlich unter
Berücksichtigung des finanziellen Spielraums, aber
dennoch forciert – künftig widmen sollten: der Weiter-
entwicklung des Ehegattensplittings zu einem Familien-
splitting.

Die Verantwortung für unsere Kinder ist eine ganz
besondere Verantwortung. Denn Kinder sind der Keim
unserer Gesellschaft – nicht die Eltern und auch nicht
eine Lebensgemeinschaft. Diese besondere Verantwor-
tung müssen wir auch durch eine besondere steuerliche
Behandlung zum Ausdruck bringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Junge [SPD])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803925600

Liebe Frau Kollegin Karliczek, ich gratuliere Ihnen

im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten parlamen-
tarischen Rede hier im Deutschen Bundestag.


(Beifall)


Das war die erste Rede in dieser Debatte und die erste
Rede in Ihrem parlamentarischen Leben. Herzlichen
Glückwunsch und auf viele weitere interessante Debat-
ten!

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle-
gin Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Ingrid ArndtBrauer [SPD]: Immer müssen die gleichen Leute bei den Linken reden!)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803925700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Liebe Gäste! Dieser Tagesordnungs-
punkt, den wir jetzt gerade besprechen, ist bei Lichte be-
trachtet ein Dauerbrenner. Es geht um die steuerliche
Gleichstellung einer Lebenspartnerschaft von Lesben
und Schwulen mit der Ehe.

Ehrlich gesagt ist es traurig, dass dieses Thema über-
haupt zum Dauerbrenner wurde – nicht nur aus unserer





Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

Sicht, sondern vor allen Dingen aus Sicht der Betroffe-
nen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das lag vor allen Dingen an der Engstirnigkeit der
Fraktionsspitze der CDU/CSU, die die bestehenden ge-
sellschaftlichen Realitäten nicht anerkennt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was ist das denn? Sie haben doch schon zweimal falsch geredet! Das ist die dritte falsche Rede!)


Leider nimmt diese Fraktionsspitze Rücksicht auf den
Teil der Partei, der dem Familienbild aus dem vorletzten
Jahrhundert anhängt.


(Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])


Wir, die Linken, fordern hingegen schon seit Jahren die
Gleichstellung – vor allen Dingen auch die steuerliche
Gleichstellung – der Lebenspartnerschaften mit der Ehe.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts zwingt den Gesetzgeber zur Gleichstellung in
allen der ihm vorgelegten Fälle. Das Peinliche daran ist,
dass Ihre Missachtung dieser ständigen Rechtsprechung
zugleich auch eine Missachtung von Grundrechten be-
deutet. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts aus dem Jahr 2013 war nämlich erstens klar,
dass eine umfassende Gleichstellung von Lebenspartner-
schaften mit der Ehe bei der Besteuerung zwingend er-
forderlich ist. Zweitens war auch klar, dass dafür nicht
nur das Einkommensteuergesetz geändert werden muss.

Die Folgeänderungen in den Steuergesetzen sollen
durch den nun vorliegenden Gesetzentwurf angegangen
werden. Sie betreiben aber wieder einmal Augenwische-
rei; denn dieser Anspruch wird nicht in Gänze erfüllt. Es
gibt leider immer noch keine vollständige Gleichbehand-
lung. Ich will Ihnen das auch erklären.

Es geht um folgende Lücke: § 52 der Abgabenord-
nung – das ist sozusagen das Grundgesetz der Steuer-
politik – führt einen ganzen Katalog steuerlich anerkann-
ter gemeinnütziger Zwecke auf. Die Förderung des
Schutzes von Ehe und Familie ist danach ein förderwür-
diger Zweck. Diese Definition muss allerdings meines
Erachtens um die Förderung des Schutzes der eingetra-
genen Lebenspartnerschaften erweitert werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Diskrepanz ging ich auch mittels einer schrift-
lichen Frage an das Finanzministerium nach. In der
Antwort vom 30. Mai 2014 teilte die Bundesregierung
die Auffassung der Linken, dass es keine verfassungs-
rechtlichen Gründe für einen Ausschluss der Förderung
des Schutzes von Lebenspartnerschaften gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Bundesregierung ist sich also der Unvollständigkeit
durchaus bewusst. Damit ist der Beweis erbracht, dass
die Nichtgleichstellung eine ganz klare politische Will-
kürentscheidung ist.

Ich möchte das an dieser Stelle noch einmal betonen:
Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
können CDU und CSU von der Diskriminierung der
Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe nicht lassen.

Beenden Sie das! Beenden Sie die ideologischen Gra-
benkämpfe, und verhalten Sie sich vor allen Dingen
nicht wie bockige Kinder! Das ist wirklich traurig.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch viel trauriger ist, dass die SPD hier neben dem
Koalitionspartner wieder einknickt und sich nicht an ihr
Wahlprogramm und ihre Wahlversprechen hält. Sie ha-
ben der Community gegenüber versprochen: „100 Pro-
zent … Gleichstellung … nur mit der SPD“. Jetzt lassen
Sie die Menschen schon wieder im Regen stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sind beim Adoptionsrecht eingeknickt, und jetzt kni-
cken Sie auch hier wieder ein. Das ist wirklich enttäu-
schend. Ich frage mich, wann Sie mit diesem Einknicken
einmal aufhören.

Für uns Linke ist klar, dass wir langfristig die steuerli-
che Privilegierung der Ehe beenden müssen. Um den
Beweis anzutreten, dass wir nicht bockig sind, wollen
wir Ihrem Gesetzentwurf – Sie sind in Ihrem Gesetzent-
wurf ja die von uns seit langem geforderte steuerliche
Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit der Ehe in
vielen Bereichen angegangen – trotz der bestehenden
Lücke, die ich gerade beschrieben habe, zustimmen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Hört! Hört! – Mechthild Rawert [SPD]: Das begrüßen wir sehr!)


Wir betrachten die Öffnung der Ehe als den entscheiden-
den Schritt; denn die Linke will letztendlich die rechtli-
che Gleichstellung und damit auch die gesellschaftliche
Akzeptanz aller Lebensweisen. Ich bitte Sie daher:
Nehmen Sie das Heft des Handelns weiter in die Hand!
Entlasten Sie vor allen Dingen das Bundesverfassungs-
gericht!

Wir haben als erste Fraktion einen Gesetzentwurf
hierzu in den Bundestag eingebracht. Damit können Sie
die entsprechenden Regelungen im Adoptionsrecht bis
hin zum Steuerrecht abdecken. Wenn Sie es wirklich
ernst meinen, stimmen Sie unserem Antrag zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das wird schwer, ganz schwer!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803925800

Als nächstem Redner erteile ich das Wort Kollegen

Frank Junge, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Frank Junge (SPD):
Rede ID: ID1803925900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Karawanskij, weil Sie es explizit angesprochen ha-
ben, möchte ich eine Bemerkung vorausschicken. Mich
hat im Vorfeld dieser Debatte ziemlich beunruhigt, was
zu diesem Thema in der Presse zu lesen war. Da war von
„Diskriminierung beim Kindergeld“ die Rede. Da war
– Sie sagten es – von „Bockigkeit“ die Rede. Es wurde
so getan – das unterstreiche ich zweimal –, als seien wir
auf dem Weg zur Gleichstellung von eingetragenen
Lebenspartnerschaften mit der Ehe nicht einen Millime-
ter vorangekommen. Das muss ich ganz klar von uns
weisen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war sehr unehrlich!)


Das, womit wir uns hier beschäftigen, ist doch vom
Grundsatz her genau das, worum es geht. Mit dem heute
vorliegenden Gesetzentwurf zur Anpassung steuerlicher
Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts wird die Ungleichbehandlung homosexu-
eller Lebenspartnerschaften mit der Ehe unter steuerli-
chen Gesichtspunkten beseitigt. Punkt!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da gibt es nichts weiter hinzuzufügen: Mit diesem einen
Satz lässt sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zusammenfassen. Wir alle kennen die Entscheidung
– Sie haben darauf hingewiesen – des Verfassungsge-
richts vom letzten Jahr, nach der der Ausschluss von ein-
getragenen Lebenspartnerschaften beim Ehegattensplit-
ting für verfassungswidrig erklärt wurde. Das haben wir
konstatiert. Die daraufhin notwendige Anpassung im
Einkommensteuergesetz, mit den Stimmen von allen
Fraktionen dieses Hauses verabschiedet, wurde schon
vorgenommen.

Letztendlich ist das ein guter Schritt gewesen. Heute
haben wir allerdings die Gelegenheit, die letzten noch
offenen Bereiche in diesem Segment glattzuziehen.
Wenn man dann auf die großen Bereiche schaut, wie
Bundeskindergeldgesetz, Eigenheimzulagengesetz, das
Wohnungsbau-Prämiengesetz, das Altersvorsorgever-
träge-Zertifizierungsgesetz und die Abgabenordnung,
dann kann man festhalten: Das sind die richtigen und
notwendigen Schritte.


(Beifall bei der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Große Schritte!)


Es ist auch mehr als das. Es ist mit Blick auf unsere
moderne und demokratische Gesellschaft, in der homo-
sexuelle Lebenspartnerschaften und Regenbogenfami-
lien genauso zur Lebenswirklichkeit gehören wie die
klassische Ehe, ein längst überfälliger Schritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach der gesetzlich verankerten Vereinfachung der
Sukzessivadoption – Sie erinnern sich: vor genau 14 Ta-
gen haben wir zu diesem Punkt Vereinfachungen be-
schlossen –

(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Aber das war nicht freiwillig! Sie wurden doch dazu gezwungen!)


kann dieses Parlament heute ein weiteres wichtiges
Etappenziel auf dem Weg zur vollständigen Gleichstel-
lung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe
markieren. Ich werbe daher dafür, diesem Gesetz zuzu-
stimmen, und bitte Sie, dies am Ende auch zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich beziehe
mich kurz auf Ihre zwei Änderungsanträge, die Sie ein-
bringen werden und die wir im Finanzausschuss sehr
ausführlich besprochen haben.

Stichwort Kindergeld. Hier fordern Sie eine Ergän-
zung in der Anwendungsvorschrift des Bundeskinder-
geldgesetzes.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Danach soll Kindergeld nach dem Bundeskindergeldge-
setz nachträglich und rückwirkend zum August 2001
auch für Lebenspartner gewährt werden, sofern die Kin-
dergeldbescheide noch nicht rechtskräftig sind. Das ist
völlig in Ordnung. Dagegen hat die SPD-Fraktion über-
haupt nichts einzuwenden. Das ist gut so, das ist recht-
mäßig, auch wir vertreten das. Wir haben nur etwas ge-
gen den Weg. Sie wollen dafür das Kindergeldgesetz
ändern. Wir sagen: Dazu reicht eine Änderung der
Durchführungsanweisung nach dem Bundeskindergeld-
gesetz. Aus diesem Grund sind wir zwar inhaltlich für
Ihren Antrag, aber weil wir den Weg ablehnen, lehnen
wir letztendlich auch Ihren Antrag ab. Wir gehen davon
aus und werden dafür auch Sorge tragen, dass diese Än-
derung über den von mir beschriebenen Weg umgesetzt
wird.


(Beifall bei der SPD)


Stichwort Gemeinnützigkeit. In der Abgabenordnung
sind mit Blick auf die steuerlich begünstigte gemeinnüt-
zige Tätigkeit bisher die Vereine und Körperschaften als
förderungswürdig erachtet worden, die sich dem Schutz
von Ehe und Familie verschrieben haben; auch Sie
haben diesen Punkt aufgegriffen, Frau Karawanskij. Sie
beantragen heute, die Förderung des Schutzes von Le-
benspartnerschaften als begünstigten Zweck anzuerken-
nen und dort aufzunehmen. Dieser Ansicht können wir
grundsätzlich folgen. Das sage ich ganz klar. Denn auch
nach unserer sozialdemokratischen Ansicht versteht es
sich in einer aufgeklärten toleranten Gesellschaft ganz
von selbst, dass zu einer vollständigen Gleichstellung
eben auch gehört, die Förderung homosexueller Le-
benspartnerschaften als gemeinnützigen Zweck in der
Abgabenordnung zu verankern. Leider lässt sich dieses
Selbstverständnis anderen nicht verordnen, auch unse-
rem Koalitionspartner nicht.

Vor diesem Hintergrund bedauere ich es sehr – auch
das unterstreiche ich zweimal –, dass wir aus diesem
Grund und mit Rücksicht auf unseren Koalitionsvertrag
dem von Ihnen vorgelegten Antrag nicht zustimmen





Frank Junge


(A) (C)



(D)(B)

können. Wir tun das jedoch nicht, ohne eine Erklärung
nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages abzu-
geben, in der wir noch einmal ausführlich auf die Zu-
sammenhänge hinweisen.

Ich bedaure die Ablehnung des Antrags aber auch
deshalb sehr, weil ich weiß, dass es in den Reihen der
CDU/CSU-Fraktion eine Reihe von Mitgliedern gibt, die
ebenfalls ein solch weltoffenes und tolerantes Gesell-
schaftsbild haben wie wir.


(Beifall des Abg. Bernhard Daldrup [SPD])


Ich glaube, dass wir auf dieser Basis auch zukünftig
noch weiter kommen werden als dorthin, wo wir heute
sind.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines möchte ich an
dieser Stelle noch hinzufügen: Damit klar wird, dass wir
nicht vor einem Riesendilemma stehen, möchte ich un-
terstreichen, dass § 52 der Abgabenordnung Vereinen
und Verbänden schon jetzt ganz klar die Möglichkeit
bietet, sich den Belangen Homosexueller zu stellen und
dafür auch den Status der Gemeinnützigkeit zu bekom-
men.

Wir reden also heute bei der Beratung Ihres Antrags
über einen Punkt, der im praktischen Leben keine Rolle
spielt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellung
in der Öffentlichkeit, hier würde ein Riesenfehler nicht
beseitigt werden, als völlig falsch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mir ist absolut klar, dass wir im Prozess bis zur voll-
ständigen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher einge-
tragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe noch einen
weiten Weg vor uns haben. Gleichwohl nähern wir uns
diesem Ziel Schritt für Schritt. Der vorliegende Gesetz-
entwurf stellt einen solchen Schritt dar.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die homosexuelle
Partnerschaft, sofern wir dem Gesetzentwurf heute zu-
stimmen, unter steuerlichen Gesichtspunkten der Ehe
gleich. Das halte ich für einen Fortschritt. Von diesem
Punkt ausgehend wird die SPD-Fraktion weiterarbeiten,
bis wir letztendlich das Ziel erreicht haben.


(Beifall bei der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803926000

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803926100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Junge, wir werden dem Gesetzentwurf auch zustimmen,
weil er tatsächlich eine weitgehende Umsetzung der Ver-
fassungsgerichtsentscheidung mit sich bringt.


(Beifall bei der SPD)


Trotzdem muss man heute darüber reden, welchen Un-
sinn Sie mit diesem Gesetz getrieben haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: Ja! Sie in der Presse!)


Wir müssen nämlich erneut mit ansehen, wie die
Union auf dem Feld der Gleichstellung von Lebenspart-
nerschaften eine ihrer letzten ideologischen Schlachten
zelebriert. Ja, bei diesem Thema kommen bei Ihnen Herz
und Bauch zusammen, meine Damen und Herren von
der CDU/CSU. In der vergangenen Wahlperiode wurden
Sie dabei von der inzwischen abgewählten FDP flan-
kiert. In dieser Legislaturperiode reiben wir uns schlicht-
weg die Augen, was die SPD mit sich machen lässt oder
machen lassen muss. Das ist unwürdig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann hättet ihr halt koalieren müssen!)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf war angekün-
digt, endlich die vollständige steuerliche Gleichstellung
von eingetragenen Lebenspartnerschaften, wie vom
Bundesverfassungsgericht eingefordert, vom Kaffesteu-
ergesetz bis zur Abgabenordnung umzusetzen. Nun wird
eine Einwortänderung in der Abgabenordnung zur Ko-
alitionsräson erklärt. Absurder geht es wirklich nicht
mehr, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Bundesverfassungsgericht hat in jedem seiner
Urteile klargestellt, wie groß der Abstand zwischen Ehe
und Lebenspartnerschaft sein darf: nämlich genau null.
Sie wissen es. Wir wissen es. Alle Menschen in diesem
Lande wissen es. Doch was tun Sie? Sie unterlaufen
diese Vorgaben nach wie vor. Sie verteidigen bis in die
allerletzten Winkel der Gesetzgebung, bis in die Abga-
benordnung hinein, die Privilegierung der Ehe. Sie be-
harren auf der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft
und bleiben bei Ihrer Politik der Nadelstiche, indem Sie
ihre Berücksichtigung als gemeinnützigen Zweck, gere-
gelt in der Abgabenordnung, nicht anerkennen wollen.

Ein bisschen tröstlich ist, dass dies, ähnlich wie im
letzten Jahr beim Ehegattensplitting, in der Praxis der
Anerkennung der Gemeinnützigkeit wohl keine Rolle
spielen wird.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das habt ihr aber vergessen in euren Pressemitteilungen zu erwähnen!)


– Ja, wir hoffen es. Aber wir wissen es nicht. Wir hätten
es als Bundestag klar regeln können. – Auch im letzten
Jahr beim Ehegattensplitting war es der Union ein be-
sonderes Anliegen, hinsichtlich der steuerlichen Gleich-
stellung etwas zu beschließen. Dabei haben Sie es ge-
schafft, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
Mai 2013 so zu verbiegen, dass Lebenspartner nicht wie
Angehörige betrachtet werden und zwei getrennte Steu-
ererklärungen abgeben müssen. Aber nachdem jede Fi-
nanzbehörde in diesem Land diesen Unsinn als nicht ad-
ministrierbar kritisiert hat, ist nun damit endlich Schluss.





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)

Hoffentlich wird das auch im Fall der Gemeinnützigkeit
so sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich finde es mindestens genauso bemerkenswert, mit
welcher Vehemenz Sie eine gesetzliche Klarstellung
beim Bundeskindergeldgesetz verhindern.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist nicht nötig!)


Mir unterstellen Sie dabei auch noch in der gestrigen
Pressemitteilung, ich hätte das alles nicht verstanden. Es
geht darum, dass eine Verwaltungsanweisung angeblich
viel besser und zielgenauer ist als eine gesetzliche Klar-
stellung. Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wir hätten es
hier einfach und klar gesetzlich regeln können. Nun ist
eine zusätzliche Handlung notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der einzige Grund, warum das nun auf diesem Weg ge-
macht werden muss, ist, dass nicht das Finanzministe-
rium, sondern das SPD-geführte Familienministerium
zuständig ist.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Gute Frau!)


Die CDU/CSU muss sich damit die Hände nicht schmut-
zig machen. Das finde ich einfach nur beschämend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Die Erklärung ist nicht ganz überzeugend!)


– Das ist schon überzeugend, liebe Kollegin. Zum Bei-
spiel hat das Justizministerium darauf hingewiesen, dass
es besser gewesen wäre, das gesetzlich zu regeln. Das
wissen Sie genauso gut wie ich. Die Gründe, warum es
anders gekommen ist, sind diejenigen, die ich gerade an-
geführt habe.

Beamtenbesoldung, Erbschaftsteuer, Grunderwerb-
steuer, Einkommensteuer und Sukzessivadoption – in Ih-
rem Kampf gegen das Verfassungsgericht liegen Sie
0 : 5 hinten. Aber Sie spielen noch immer auf Zeit. Was
braucht es denn noch, damit Sie endlich umdenken? Wir
geben Ihnen nun die letzte Gelegenheit. Wir haben zwei
Änderungsanträge vorgelegt. Stimmen Sie ihnen zu! An-
sonsten wird es mit Sicherheit weitere Urteile zum Bei-
spiel zum Adoptionsrecht geben. Dann werden wir uns
erneut mit Ihren verklemmten Rückzugstaktiken befas-
sen müssen. Bei anderen Themen haben Sie es doch
auch geschafft, die Oppositionsmeinung zu übernehmen.
Lassen Sie den Menschen endlich den Gestaltungsfrei-
raum, der ihnen von unserer Verfassung her zusteht! Ge-
ben Sie den Lesben und Schwulen in diesem Land end-
lich eine Chance auf Nichtdiskriminierung!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803926200

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das

Wort dem Abgeordneten Philipp Graf von und zu
Lerchenfeld, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Graf Philipp Lerchenfeld (CSU):
Rede ID: ID1803926300

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte

Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Mit der Verab-
schiedung des Gesetzes zur Anpassung steuerlicher
Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts setzen wir heute die Vorgaben der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai
2013 vollumfänglich um. Für manche Änderungen
wurde durch die Erklärung der Bundesregierung Klar-
heit geschaffen – beispielsweise auf dem Gebiet des
Bundeskindergeldgesetzes –, sodass sich Ihre Ände-
rungsanträge total erledigt haben. Die Beschlussempfeh-
lung unseres Ausschusses, das Gesetz in der jetzt vorlie-
genden Fassung, die durch einen Antrag auf eine
notwendige Konkretisierung der Lebenspartnerschaften
geändert wurde, anzunehmen, wird von allen Fraktionen
mitgetragen, wie man hört.

Von einigen Seiten – auch von Ihnen – wurden weiter
gehende Änderungen gewünscht. Diese Änderungen
entsprechen aber nicht der Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts, die wir, wie gesagt, bereits in vollem
Umfang umgesetzt haben. Insbesondere die Änderungs-
wünsche hinsichtlich des § 52 Absatz 2 AO sind gerade
nicht aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil abzulei-
ten. Das Schutz- und Fördergebot – ich ergänze hier: des
Artikels 6 Grundgesetz – bildet einen sachlichen Diffe-
renzierungsgrund, der geeignet ist, die Besserstellung
der Ehe gegenüber anderen, durch ein geringeres Maß an
wechselseitiger Pflichtbindung geprägten Lebensge-
meinschaften zu rechtfertigen.

Ich beziehe mich im Folgenden auf mehrere Entschei-
dungen des Bundesverfassungsgerichts sowohl aus dem
Jahr 2012 als auch aus dem Jahr 2013. Das Grundgesetz
stellt nämlich in Artikel 6 Absatz 1 Ehe und Familie un-
ter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Da-
mit garantiert die Verfassung nicht nur das Institut der
Ehe, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung
für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffen-
den privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen
Schutz durch die staatliche Ordnung.

Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann
und Frau vorbehaltenes Institut erfährt durch den Arti-
kel 6 Absatz 1 Grundgesetz einen eigenständigen verfas-
sungsrechtlichen Schutz. Um diesem Schutzauftrag Ge-
nüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates,
alles zu unterlassen, was die Ehe beschädigt oder sonst
beeinträchtigt, und sie durch geeignete Maßnahmen zu
fördern. Dies kommt im § 52 Absatz 2 Nummer 19 AO
zum Ausdruck, wo die Förderung des Schutzes der Ehe
und Familie als gemeinnütziger Zweck ausdrücklich an-
erkannt wird. Die Anerkennung der Förderung der Ehe
und Familie als gemeinnütziger Zweck folgt somit un-
mittelbar aus dem Grundgesetz und muss auch in dieser
Form erhalten bleiben.





Philipp Graf Lerchenfeld


(A) (C)



(D)(B)

Die Anträge der Grünen sind aus zwei Gründen abzu-
lehnen. Der eine ist die Erklärung der Bundesregierung,
die sehr deutlich gemacht hat, dass kein Änderungsbe-
darf besteht; der andere Grund ist, weil sie über die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktio-
nen haben diesem Gesetzentwurf in der geänderten Fas-
sung zugestimmt und einstimmig eine Beschlussempfeh-
lung für den Gesetzentwurf gegeben. Ich bitte Sie
deshalb, dem Gesetzentwurf heute in dieser Fassung Ihre
Zustimmung zu geben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803926400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/1647, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 18/1306 und 18/1575 in
der Ausschussfassung anzunehmen.

Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim-
men. Zu diesen Änderungsanträgen auf den Drucksa-
chen 18/1662 und 18/1663 liegen einige Erklärungen
nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Proto-
koll nehmen.1)

Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1662. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag auf
Drucksache 18/1662 ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion abgelehnt bei Zu-
stimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.

Wir kommen zum zweiten Änderungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1663.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag auf
Drucksache 18/1663 ist mit den Stimmen der CDU/CSU
und der SPD abgelehnt, dafür stimmten Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
einstimmig in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-

1) Anlagen 3, 4, 5
entwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses
einstimmig angenommen.


(Beifall bei der SPD)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel
der United Nations Mission in South Sudan

(UNMISS) für die Unterstützung des unbe-

waffneten Schutzes der Zivilbevölkerung im
Südsudan

Drucksache 18/1614

Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt das
Haus zu verlassen gedenken, darauf hinweisen, dass wir
nach dieser Debatte noch eine ganze Reihe von Abstim-
mungen haben. Es wäre schön, wenn sich dazu auch
noch Abgeordnete im Plenum befänden, die diese Ab-
stimmungen vornehmen könnten.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 19 25 Minu-
ten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er-
teile ich das Wort der Abgeordneten Kathrin Vogler,
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803926500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ende 2013
entbrannte im Südsudan ein blutiger Machtkampf zwi-
schen den Truppen des ehemaligen Vizepräsidenten
Riek Machar und der Regierungsarmee SPLA. Bis zum
Waffenstillstand im Mai starben Tausende; etwa 800 000
Menschen mussten fliehen. Schon 2010, vor der Unab-
hängigkeit, als ich mit Kolleginnen und Kollegen meiner
Fraktion im Südsudan vor Ort war, haben wir befürchtet,
dass ein solcher Gewaltausbruch wieder möglich wäre.
Es ist ungemein bitter, zu erleben, dass unsere Befürch-
tungen wahr geworden sind.

Aufgrund unserer Beobachtungen haben wir 2011 ei-
nen Antrag mit konkreten Vorschlägen in den Bundestag
eingebracht. Damals haben wir zum Beispiel gefordert:
die Stärkung der Zivilgesellschaft, die langfristige
Unterstützung innersudanesischer Ansätze für zivile
Konfliktbearbeitung, für Dialog, für Versöhnungs- und
Traumaarbeit und dass sich die Bundesregierung im UN-
Sicherheitsrat dafür einsetzt, dass ein künftiges UN-
Mandat nicht der militärischen Logik folgt, sondern auf
Konfliktlagen frühzeitig mit Mitteln der zivilen und ge-
waltfreien Konfliktbearbeitung deeskalierend reagiert.

Dieses UN-Mandat mit dem Namen UNMISS wurde
dann allerdings doch ein vorwiegend militärisches. Trotz
eines Jahresetats von 924 Millionen US-Dollar und bis
zu 7 000 Soldaten und 900 Polizisten im Einsatz konnte





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

UNMISS gegen die Gewaltausbrüche nicht viel mehr
tun, als Zehntausenden Flüchtlingen die Türen ihrer
Stützpunkte zu öffnen. Das war ein wertvoller, aber kein
ausreichender Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schon im Januar 2013 hatte eine unabhängige Eva-
luation ergeben, dass UNMISS vor allem politisch und
zivil erfolgreich war. Deswegen gab es die Empfehlung,
die militärische Komponente radikal zu reduzieren und
gerade politische und zivile Kapazitäten aufzubauen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Gegenteil ist leider passiert, und das findet die
Linke grundfalsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutschland unterstützt UNMISS über den Peace-
keeping-Haushalt der Vereinten Nationen, und Deutsch-
land gibt noch extra Mittel für den Bundeswehreinsatz
im Rahmen von UNMISS. Davon wird allerdings nur
etwa ein Drittel jedes Jahr verbraucht. Allein im letzten
Jahr sind 1,2 Millionen Euro übrig geblieben. Um diese
Mittel geht es in unserem Antrag. Wir wollen sie einset-
zen, um die Arbeit ziviler Akteure im Südsudan beim
Schutz der Zivilbevölkerung zu fördern.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich denke zum Beispiel an Nonviolent Peaceforce.
Nonviolent Peaceforce ist eine internationale Organisa-
tion, die mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam
Schutznetzwerke aufbaut und damit erfolgreich gegen
ethnische Spaltung agiert. Sie hat dafür gesorgt, dass in
dem Konflikt Dinka Nuer geschützt haben und dass
Nuer Dinka geschützt haben. Es wurden Gerüchte aufge-
klärt, die zu Hass hätten führen können, und Flüchtlinge
aus den Kampfgebieten unterstützt. Für eine solche
Arbeit braucht es eine flächendeckende, eine große Prä-
senz, vor allem in einem Riesenland wie dem Südsudan.
Deswegen hat sich diese Organisation mit anderen Orga-
nisationen im South Sudan Protection Cluster vernetzt.

Die Arbeit dieser Organisation, so wertvoll sie ist,
kostet nicht viel. Aber selbst das wenige Geld, das sie
braucht, fehlt. Deswegen werben wir dafür, mehr Mittel
für genau diese Arbeit zur Verfügung zu stellen, um die
Handlungsmöglichkeiten ziviler und gewaltfreier Orga-
nisationen zu verbessern und um damit mehr für den
Schutz der Menschen vor Gewalt zu tun. Deshalb bitte
ich Sie und werbe dafür: Unterstützen Sie unseren An-
trag! Unterstützen Sie ziviles, unbewaffnetes Peace-
keeping!

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803926600

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1803926700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in
diesem Jahr schon sehr oft in diesem Hause darüber dis-
kutiert, wie wir auf krisenhafte Situationen in der Welt
angemessen reagieren können. Häufig waren damit mili-
tärische Einsätze und Aufträge verbunden. Aber insge-
samt sind wir in knapp 50 Friedensmissionen weltweit
unterwegs und tätig.

Ich glaube, die Fraktion Die Linke darf durchaus für
sich in Anspruch nehmen, dass sie sich mit dem Thema
„zivile Friedensarbeit“ sehr intensiv auseinandersetzt.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist aber auch richtig, dass die Linken ein typisches
Schwarz-Weiß-Schema anwenden, bei dem sie auf der
einen Seite ein Bild von Frieden und Harmonie zeichnen
und auf der anderen Seite den Einsatz militärischer Mit-
tel verteufeln. Damit blenden sie einen großen Teil der
Wirklichkeit aus, und damit tun sie so, als ob bei Kon-
flikten wie im Südsudan oder auch andernorts allein mit
zivilen Mitteln eine Besserung der Situation erreicht
werden kann. Gerade das ist nicht der Fall. Wer Ihren
Vortrag, Frau Vogler, gehört hat, dem ist deutlich gewor-
den, dass eine rein zivile Antwort in einer solchen Situa-
tion schlicht nicht ausreicht.

Ich glaube sehr wohl, dass wir in unserer Außenpoli-
tik auch eigene Interessen zu verfolgen haben und dass
wir ein Interesse daran haben, in europäischer Nachbar-
schaft letztlich für Frieden, für Sicherheit und für Stabi-
lität zu sorgen. Genau dafür braucht man die UNMISS,
die ganz erfolgreich gearbeitet hat und arbeitet.

Was haben wir für eine Situation im Südsudan? Es ist
ein vergleichsweise kleines Land mit gerade einmal
9 Millionen Einwohnern.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ein großes Land!)


– Ein großes Land, gemessen an der Fläche, aber ein
kleines Land, gemessen an der Einwohnerzahl. – Im Jahr
der Unabhängigkeit wurden bereits 2,2 Milliarden Dol-
lar an internationaler Hilfe eingesetzt. Im vergangenen
Jahr – Sie haben die Zahl selber genannt – waren es
925 Millionen Dollar. Im Mai hat eine internationale
Geberkonferenz entschieden, die zugesagten Mittel zu
verdoppeln. Es fließt unheimlich viel Geld in dieses
Land.


(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Darüber hinaus müssen wir, glaube ich, zur Kenntnis
nehmen, dass die Grundvoraussetzungen im Südsudan
gar nicht schlecht sind, weil insbesondere aus den
Ölvorkommen in den vergangenen Jahren Erlöse in Mil-
liardenhöhe geflossen sind. Das heißt, es ist keine Frage
des Geldes. Man muss vielleicht sehr viel eher überle-
gen, wie man die vorhandenen Mittel richtig einsetzt und
Eigenverantwortung vor Ort entwickelt. Dazu gehört,
dass man klare Erwartungen damit verbindet und diese
auch formuliert.





Thorsten Frei


(A) (C)



(D)(B)

Frau Vogler, Sie sind auch darauf eingegangen, dass
der dahinterliegende ethnische Konflikt zwischen den
Volksstämmen der Dinka und Nuer, der sich letztlich
auch in den beiden Personen des Präsidenten Kiir und
des Rebellenführers Machar abbildet, die große Kon-
fliktlinie in diesem Land ist. Deshalb, glaube ich, ist es
ganz entscheidend, dass man es schafft, die Parteien wie-
der an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Der
Friedensschluss vom Mai dieses Jahres war ein erstes
zartes Pflänzchen, das sich da gezeigt hat, und jetzt geht
es darum, diesen Friedensschluss nachhaltig umzuset-
zen.

Es ist wahr, dass unvorstellbare Gräueltaten im
Südsudan heute wieder an der Tagesordnung sind, dass
es Verfolgung gibt, dass Kinder als Soldaten missbraucht
werden, dass eine Hungerkatastrophe im Anzug ist und
vieles mehr. Über 10 000 Menschen haben in diesem
Konflikt erst jüngst ihr Leben verloren, und – Sie haben
es selbst gesagt – etwa 60 000 Flüchtlinge haben Camps
von UNMISS zum Schutz erreichen wollen und auch
erreicht. Daran wird klar, dass rein zivile Mittel und
Bürgernetzwerke auf Dorfebene, wie es beispielsweise
Nonviolent Peaceforce macht – sicherlich eine sehr gute
Arbeit –, den Anforderungen angesichts der Situation
vor Ort letztlich nicht gerecht werden, sondern das ei-
gentliche Problem die fehlende Staatlichkeit, die fehlen-
den Strukturen sind.

Genau darauf und auf die Probleme in der Justiz
– Korruption und dergleichen mehr – ist UNMISS die
richtige Antwort. Es ist die richtige Antwort, weil es sich
dabei nicht um einen Kriegseinsatz handelt, sondern um
eine Beobachtermission, in der 12 500 Soldatinnen und
Soldaten aus 66 Nationen ihren Auftrag in einer hervor-
ragenden Art und Weise erledigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir glauben, das Problem besteht nicht darin, dass da
zu wenig Geld im Spiel ist; wir müssen letztlich auf Ei-
genverantwortung und auf die richtigen Rahmenbedin-
gungen vor Ort setzen. Darauf müssen wir Rücksicht
nehmen. Genau das tun wir. Deshalb werben wir dafür,
Ihren Antrag abzulehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803926800

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sit and
wait is no option.“ Diesen starken Satz hat Verteidigungs-
ministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheits-
konferenz gesagt. Er wurde breit verstanden als Abkehr
von der Kultur der militärischen Zurückhaltung. Das
wäre ein Kurs, den wir Grüne klar ablehnen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie hat danach gesagt – das haben Sie von der Koali-
tion immer wieder betont –, es gehe vor allem darum,
zivile Instrumente zur Konfliktlösung und zur Krisen-
prävention einzusetzen. Das ist die Botschaft, mit der Sie
die neuen „Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregie-
rung“ gerade verkaufen.

Was tun wir denn genau in Afrika? Es gab in den letz-
ten Monaten schöne Bilder von der Mali-Reise der
Verteidigungsministerin. Es gibt die schreckliche Ge-
walteskalation in der Zentralafrikanischen Republik, wo
der deutsche Beitrag zur Konfliktlösung mit Blick auf
den zivilen Bereich ehrlicherweise mehr als bescheiden
ist.

Während wir alle hier sehr abstrakt über Afrika disku-
tieren, ist im Südsudan Folgendes passiert: Präsident
Salva Kiir und der Exvizepräsident Machar haben ihren
persönlichen Machtkampf anhand ethnischer Linien
blutig eskalieren lassen. Es ist ein humanitäres Desaster
eingetreten. Es gab über 20 000 Todesopfer, wobei die
genauen Zahlen nicht gesichert sind; es sind wahrschein-
lich viel mehr. 1,5 Millionen Menschen sind im Süd-
sudan intern vertrieben. 863 000 Menschen sind in die
Nachbarländer geflohen. Es droht eine Hungerkatastro-
phe. Die UN sagen, dass sie in den nächsten drei Jahren
1,1 Milliarden Euro brauchen. Es ist zu grausamsten
Menschenrechtsverletzungen gekommen. Todesschwa-
dronen sind durch das Land gezogen. Das Ausmaß an
sexueller Gewalt ist wirklich erschreckend. Kinder wur-
den als Soldaten rekrutiert. Es ist eine desaströse Situa-
tion, die wir dort gesehen haben.

Dazu gab es aber kaum ein Wort von Verteidigungs-
ministerin von der Leyen und von Außenminister
Steinmeier, obwohl die Bundeswehr im Rahmen der
UN-Friedensmission UNMISS dort vor Ort ist.

Ich habe die Bundesregierung in den letzten Wochen
mehrfach gefragt, wie sie innerhalb der Vereinten Natio-
nen zu dem Thema Individualsanktionen bezüglich der
zwei – anders kann man sie nicht nennen – Verbrecher
steht. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu keine
klare Haltung eingenommen. Damit haben sich Ihre gro-
ßen Ankündigungen von der neuen Verantwortung der
deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für mich ein
Stück weit als Showreden an die Adresse der westlichen
Partner entlarvt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


In dem Antrag der Linken wird gefordert, nicht abge-
rufene Haushaltsmittel für UNMISS in den unbewaffne-
ten Schutz der Zivilbevölkerung zu investieren. Herr
Kollege Frei, egal wie lange ich darüber nachdenke, ich
kann darin nichts Falsches sehen. Es ist eine absolut
richtige Forderung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
ich bin wirklich sehr positiv überrascht über Ihren An-





Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

trag und auch darüber, dass Sie so klar einräumen, das
UNMISS einen sehr wertvollen Beitrag zum Schutz der
Zivilbevölkerung geleistet hat. Über 93 000 Menschen
haben dort Zuflucht gefunden. Ich bin denjenigen, die im
Rahmen von UNMISS ihren Dienst tun, zutiefst dankbar
für jeden Einzelnen, den sie vor Gewalt retten konnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist völlig richtig – das tun auch Sie in Ihrem An-
trag –, zu der Konzeption von UNMISS kritische Fragen
zu stellen und kritische Punkte anzumerken. Aber ich
finde, dieser Antrag und auch die Rede der Kollegin
Vogler stehen in einem sehr wohltuenden Kontrast zu
den Reden, die Sie von der Linkspartei sonst zum Teil
hier gehalten haben. Teilweise haben Sie, wie ich finde,
mit sehr konstruierten Argumenten den UNMISS-
Einsatz abgelehnt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag wäre aber noch besser gewesen, wenn Sie
noch weitere Forderungen aufgenommen hätten, zum
Beispiel die Forderung, UNMISS zu stärken und zu ver-
ändern. Da geht es um mehr Personal – es kann ja auch
ziviles Personal sein, es muss nicht immer militärisches
Personal sein –, es geht um Transportkapazitäten. Jetzt
schaue ich in Richtung Bundesregierung: Es geht darum,
die Mittel für die humanitäre Hilfe zu erhöhen. Herr Au-
ßenminister Steinmeier hat 6 Millionen Euro zusätzlich
zur Verfügung gestellt. Wir brauchen aber, wie gesagt,
über 1 Milliarde Euro.

Die Bundesregierung muss klare Position beziehen
und sagen: Wenn die beiden Kontrahenten den Waffen-
stillstand nicht umsetzen und keine Vereinbarungen für
die Zukunft treffen, dann muss politischer Druck ausge-
übt werden und dann müssen endlich Sanktionen ver-
hängt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
„Sit and wait is no option.“ Wenn das mehr als nur
schöne Schaufensterreden sein sollen, dann sollten Sie
dem Antrag der Linken zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803926900

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Gabriela Heinrich, SPD Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1803927000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und

Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Hunger, Ar-
mut, Gewalt, Flucht, Vertreibung und Tod kommen im
Südsudan derzeit zusammen. Die Lage der Menschen im
Südsudan – das wurde bereits erwähnt – ist katastrophal.
In einer solchen Situation geht es jetzt darum – es geht
uns allen darum –, den Menschen zu helfen, so schnell
wie irgend möglich. Deswegen unterstützen wir als
Bundesrepublik zum einen UNMISS, die Mission der
Vereinten Nationen im Südsudan. Sie hat den klaren
Auftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen und die hu-
manitäre Hilfe abzusichern.

Der Antrag der Linken erkennt an, dass UNMISS ei-
nen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung geleistet hat
und nennt dabei die Öffnung der UNMISS-Stützpunkte
für – das sind meine Zahlen – 65 000 Vertriebene. Es ist
auch richtig, dass UNMISS nicht im ganzen Land für
Sicherheit sorgen kann. Auch UNMISS-Soldatinnen und
-Soldaten sind Angriffen ausgesetzt. Ein Beispiel dafür
ist der Angriff von Bewaffneten auf ein UNMISS-Ge-
lände in Bor vor zwei Monaten mit mindestens 48 Toten.

Selbst die Welthungerhilfe fordert deshalb, die
Schutzfunktion für die Zivilbevölkerung im Rahmen der
Erneuerung von UNMISS auszuweiten, wobei auch
Deutschland seinen Beitrag leisten soll. Die Frage, ob
und wie wir UNMISS weiterentwickeln, wird uns sehr
bald beschäftigen. Fest steht, dass die Forderung der
Linken nach unbewaffnetem Schutz der Zivilbevölke-
rung, wenn sie als Alternative zu UNMISS gemeint sein
sollte, komplett an der Realität des Landes vorbeigeht.

Dabei ist die Beteiligung an UNMISS bei weitem
nicht der einzige Beitrag Deutschlands. Außenminister
Frank-Walter Steinmeier hat auf der Geberkonferenz in
Oslo – das wurde bereits erwähnt – vor kurzem 6 Millio-
nen Euro für weitere humanitäre Hilfe zugesagt. Ich
würde schon sagen, dass sich der Außenminister an die-
ser Stelle zur Situation des Landes geäußert hat.


(Beifall bei der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803927100

Frau Kollegin Heinrich, es gibt den Wunsch nach ei-

ner Frage von Frau Kollegin Vogler. Möchten Sie sie zu-
lassen?


Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1803927200

Bitte.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803927300

Frau Kollegin, eigentlich hat es mir schon beim Kol-

legen Frei in den Fingern gejuckt, aber jetzt erwischt es
Sie. Ich kann den Beiträgen der Regierungskoalition
nicht entnehmen, dass Sie unseren Antrag wirklich gele-
sen haben.


(Beifall der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir fordern darin nicht, UNMISS umgehend einzustel-
len. Wir fordern nur, dass die Bundesregierung die Mit-
tel, die sie für UNMISS bereits eingeplant hatte, freigibt,
um damit andere zivile und gewaltfreie Organisationen,
die bereits erfolgreich arbeiten, zu fördern und es ihnen
zu ermöglichen, den Schutz der Zivilbevölkerung zu or-
ganisieren. Es handelt sich nur um einen winzigen, klei-
nen Anteil des Gesamtbeitrages, der über die Vereinten
Nationen in das UNMISS-Budget fließt. Ich verstehe





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

nicht, zu welchem Antrag Sie hier reden. Wir reden über
einen sehr konkreten Antrag.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um eine relativ kleine Summe, mit der sehr viel
bewegt und verändert werden kann.

Wenn Sie sagen, Sie lehnen einen Antrag von uns ab,
dann können Sie ihn gerne abschreiben und das Geld
von anderer Stelle nehmen. Woher Sie es nehmen, ist
mir letzten Endes egal. Wichtig ist mir, dass es bei den
Menschen und Organisationen ankommt, die zum
Schutz der Zivilbevölkerung, der Menschen im Südsu-
dan, die sich in dieser fürchterlichen Situation befinden,
beitragen; denn sie haben effektiv gearbeitet. Sie haben
Erfolge erzielt. Ohne diese Organisationen wäre im letz-
ten Bürgerkrieg noch viel mehr passiert. Deshalb muss
man diese Ansätze ausbauen und fördern.

Insofern bitte ich Sie: Sprechen Sie einmal konkret zu
diesem Antrag, der vorliegt, und verhalten Sie sich dazu.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1803927400

Frau Vogler, ich werde mich sofort dazu verhalten.

Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen. Dieser Antrag
hat unzweifelhaft für die SPD einen gewissen Charme.
Ich habe mich auch erkundigt, ob eine Umwidmung die-
ser Mittel möglich wäre, habe aber eine abschlägige
Antwort erhalten; dazu komme ich noch. Ich glaube, wir
sind uns einig, dass wir alle miteinander den Menschen
im Südsudan so schnell wie möglich helfen wollen. Ich
möchte aber in meinen Ausführungen darstellen, dass
Deutschland sich sehr wohl seiner Verantwortung be-
wusst ist und an dieser Stelle im Moment sehr viele Mit-
tel einsetzt. Wir können nachher noch einmal darüber re-
den.

Ich komme nun zu meinen Ausführungen zurück. Die
Beteiligung an UNMISS ist bei weitem nicht der einzige
Beitrag Deutschlands. Ich habe es schon gesagt: Der Au-
ßenminister hat 6 Millionen Euro für weitere humanitäre
Hilfe zugesagt.

Insgesamt werden wir allein für humanitäre Hilfe in die-
sem Jahr 12,5 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das
ist dringend notwendig – da gebe ich Ihnen völlig recht –,
und ich bin sehr froh, dass sich der Außenminister hier
entsprechend einsetzt.

Der Entwicklungsminister hat bereits im März
10 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm zu-
gesagt. Mit einem Quick Response Fonds in Höhe von
5 Millionen Euro wird Deutschland Hilfeleistungen von
Nichtregierungsorganisationen im Südsudan unterstüt-
zen, zum Beispiel die Verteilung von Saatgut. Weitere
7,5 Millionen Euro werden Nichtregierungsorganisatio-
nen vor Ort erhalten. Aber erst Ende April konnte ein
Expertenteam aus Deutschland wieder einreisen und ver-
sucht jetzt, die Hilfe unter sehr schwierigen Bedingun-
gen zu starten.
Die bisherigen Waffenstillstandsabkommen – da wer-
den Sie mir recht geben – sind brüchig. Deutschland und
die EU werden weiter mit ganzer Kraft – ein Kollege hat
darauf hingewiesen – die afrikanischen Vermittlungsbe-
mühungen unterstützen, hier weiter voranzukommen,
und das aus gutem Grund: Der politische Konflikt um
die Macht, um Geld und um Öl ist der Kernkonflikt in
diesem Land, an dem alles Weitere hängt. Ohne eine be-
lastbare Einigung werden wir keinen nachhaltigen Frie-
den im Südsudan erhalten. Wir werden auch nachgela-
gerte Konflikte nicht lösen können, solange die Wurzel
des Konflikts unverändert besteht.

Um es zusammenzufassen: Die deutsche Unterstüt-
zung für den Südsudan ist weit mehr als die Beteiligung
an UNMISS.

Die im Antrag der Linken angesprochene unbewaff-
nete Friedenssicherung – ich habe es schon gesagt – hat
für die SPD durchaus einen speziellen Charme. Wir un-
terstützen seit langem den Zivilen Friedensdienst, dessen
Gründung unter Rot-Grün von Heidemarie Wieczorek-
Zeul vorangetrieben wurde. Die Große Koalition be-
kennt sich zum einst von Rot-Grün verabschiedeten Ak-
tionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktforschung
und Friedenskonsolidierung“. Das BMZ finanziert welt-
weit Projekte der deutschen Friedens- und Entwick-
lungsorganisationen, die den Zivilen Friedensdienst tra-
gen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, aber im Südsudan nicht mehr!)


Die Stärkung des Zivilen Friedensdienstes war und ist
gerade für uns als SPD ein wichtiges Anliegen; das ha-
ben wir auch bei den diesjährigen Haushaltsberatungen
deutlich gemacht. Ich denke, an dieser Stelle müssen wir
uns nichts vorhalten lassen.

Aber davon abgesehen, dass eine Umwidmung im
Haushalt nicht möglich ist, darf man UNMISS und die
zivile Friedenssicherung nicht gegeneinander ausspie-
len. Auch wenn es in einzelnen Dörfern – ich habe Ihren
Antrag sehr genau gelesen – möglich sein mag, dass
Menschen ihre Nachbarn, die einer anderen ethnischen
Gruppe angehören, schützen: 800 000 Menschen, Bin-
nenflüchtlinge, sind im Südsudan aktuell auf der Flucht,
mindestens 20 000 Menschen – die Zahl wurde schon
genannt – sind getötet worden. Das Land befindet sich
mitten im Konflikt. Beobachter berichten von Leichen
am Straßenrand und stündlichen Übergriffen der ver-
schiedenen Milizengruppen.

Zuletzt sollen im April bei der Eroberung der Öl-
Hauptstadt Bentiu allein 200 Zivilisten ermordet worden
sein, die in einer Moschee Zuflucht gesucht hatten. Es
soll eine regelrechte Jagd auf Menschen wegen ihrer eth-
nischen Zugehörigkeit gegeben haben. Die Truppen der
Vereinten Nationen konnten einige Hundert Zivilisten in
das UNMISS-Camp evakuieren.

Hier müssen wir die Parallelen zu Ruanda beachten.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Bitte?)


Auch dort ging es ursprünglich nicht um einen ethni-
schen Konflikt, sondern um die Instrumentalisierung der





Gabriela Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

ethnischen Zugehörigkeit. Am Ende stand in Ruanda ein
Völkermord. Auch im Südsudan instrumentalisieren die
Konfliktparteien die ethnischen Zugehörigkeiten. Es
wurde und es wird Hass im Südsudan gesät, der letztlich
zu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt geführt
hat und weiter führen wird. Ich halte es deshalb für eine
Illusion, zu glauben, dass aktuell unbewaffnete, zivile
Kräfte ein weiteres Blutvergießen verhindern können.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber sie tun das! Jeden Tag! In einer unmöglichen Situation!)


Wir müssen jetzt die Grundlagen dafür schaffen, dass
sich die Menschen wieder frei und ohne Angst vor Ge-
walt bewegen und ihre Felder bestellen können. Dann
kann auch die Entwicklungszusammenarbeit wieder mit
voller Kraft anlaufen. Die Aufarbeitung und die Versöh-
nung im Land müssen darauf aufbauen, um die Gefahr
künftiger Konflikte zu verringern und den Frieden nach-
haltig abzusichern. Aber zuvor muss die internationale
Gemeinschaft darauf hinwirken, dass der Waffenstill-
stand dauerhaft eingehalten wird.

Mit Ihrem Antrag werden Sie unserer Ansicht nach
der aktuellen Situation im Südsudan nicht gerecht, und
daher werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit weniger Geld wäre es besser, oder was?)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803927500

Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das

Wort der Abgeordneten Emmi Zeulner, CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Emmi Zeulner (CSU):
Rede ID: ID1803927600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir alle sind uns der nicht tragbaren, katastro-
phalen Lage im Südsudan bewusst, katastrophal vor al-
lem für die zivile Bevölkerung, die leider – wie so oft –
Leidtragende politischer und ethnischer Machtkämpfe
ist. Ihr Schutz – da sind wir uns alle einig – ist und bleibt
oberste Priorität für jede Hilfeleistung Deutschlands und
der Vereinten Nationen. Dies hat der Sicherheitsrat in
seiner letzten Resolution auch bewusst mit der Fokussie-
rung der UNMISS auf den Schutz der Zivilbevölkerung
und der humanitären Hilfe klargestellt. Auch Bundes-
minister Dr. Müller hat bestätigt, dass bereits um die
30 Millionen Euro an finanziellen Zusagen bereitgestellt
wurden und mit der Umsetzung der humanitären Hilfe
zügig begonnen wurde. Im laufenden Jahr sollen die
Mittel noch einmal substanziell gesteigert werden.

Gerade vor diesem Hintergrund lautet meine Antwort
auf den Antrag der Fraktion Die Linke: Wir brauchen die
im Einzelplan vorgesehenen Bundesmittel für internatio-
nale Einsätze der Bundeswehr auch weiterhin an dieser
Stelle. In Krisengebieten, wie es der Südsudan ist, kann
nur die VN-Mission den nötigen Rahmen für eine wir-
kungsorientierte humanitäre Hilfe bilden. Die Bundes-
wehr vor Ort muss voll handlungsfähig bleiben. Wenn
die Lage im Südsudan allein durch Geld, insbesondere
durch die von der Linken vorgeschlagene Umbuchung,
zu lösen wäre, glauben Sie dann ernsthaft, dass wir uns
zu einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte ent-
schlossen hätten,


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN: Ja! – Allerdings!)


bei dem Bundeswehrsoldaten auch ernsten Gefahren
ausgesetzt wären?


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Leider ja! – Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist traurig und peinlich, was Sie hier machen!)


Vor allem ist der Antrag schlichtweg nicht mit der
Haushaltssystematik, insbesondere der Jährlichkeit der
Mittel, vereinbar. Die Linke verkennt, dass die nicht ver-
wendeten Haushaltsmittel aus dem Einzelplan 14, die
zunächst für die UNMISS vorgesehen werden, nicht ein-
fach ungenutzt bleiben, sondern umgehend in andere in-
ternationale Missionen der Bundeswehr wie zum Bei-
spiel MINUSMA fließen, wo sie auch dringend benötigt
werden.

Die Rolle und Notwendigkeit von UNMISS muss
hervorgehoben werden. Der Südsudan ist seit der Sezes-
sion im Jahr 2011 der jüngste Staat der Erde. Er ist aus
einer Rebellenbewegung heraus entstanden, die sich
noch immer vor der strukturellen Herausforderung der
neu gewonnenen Staatlichkeit sieht. Machen wir uns
nichts vor: Unser Verständnis von Staatlichkeit, ja
Rechtsstaatlichkeit und von einer Regierung ist hier völ-
lig verfehlt. Es handelt sich um eine Regierung, die sich
in den politischen Machtkämpfen auf blutige Weise
durchgesetzt hat. Im Mittelpunkt steht der ethnische
Konflikt zwischen den vom Präsidenten Kiir geführten
Dinka und den hinter dem ehemaligen Vizepräsidenten
Machar stehenden Nuer.

Auch wenn es im Mai dieses Jahres auf internationa-
len Druck hin zu einer Friedensvereinbarung kam, ist
dies leider kein Garant für eine andauernde Stabilität.

Auf Grundlage dieser Analyse stellt sich nun die
Frage, welche Unterstützung die Bevölkerung benötigt.
Sehr schnell komme ich zu dem Schluss: Unbewaffneter
Schutz ist hierbei ein Widerspruch in sich.


(Lachen bei der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Fahren Sie mal hin!)


Dies zeigen die Überfälle auf und in Flüchtlingslagern.
Zentraler Punkt muss die Hilfe zur Selbsthilfe beim Auf-
bau eines neuen Staates sein. Doch dazu ist es meiner
Ansicht nach noch zu früh. Auf den Trümmern eines
Bürgerkrieges lässt sich schwer ein stabiler Staat bilden,
der der Bevölkerung Sicherheit bieten kann. Ich spreche
hier noch nicht einmal von einer Sicherheit im Sinne des
erweiterten Sicherheitsbegriffes, die den Bürgern Schutz
nach innen und außen gewährt, auch wenn ich der Mei-
nung bin, dass der erweiterte Sicherheitsbegriff als lang-
fristiges Ziel im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für





Emmi Zeulner


(A) (C)



(D)(B)

Afrika von der internationalen Gemeinschaft gelebt wer-
den muss.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch zynisch!)


Nein, ich spreche zunächst von einem grundlegenden
Sicherheitsgefüge, welches ein Staat seiner Bevölkerung
gewährleisten sollte. In einem Staat, der von einer Re-
bellenarmee ohne Loyalität und Kohäsion unterstützt
wird, ist dies nicht möglich.

Deswegen ist der bewaffnete Einsatz der VN so wich-
tig. Bewaffneter Einsatz heißt ja nicht, dass die Verein-
ten Nationen mit gezogener Waffe vor Ort handeln. Be-
waffneter Einsatz heißt, dass es ein robustes Mandat gibt
und die Angehörigen von UNMISS ihr Mandat notfalls
auch durch Androhung – und erst in der höchsten Eska-
lationsstufe durch Anwendung – von staatlicher Waffen-
gewalt durchsetzen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Bewaffnung dient letztlich auch dem Selbstschutz
der Soldaten.

Die Leistung der VN möchte ich hier ganz deutlich
hervorheben; denn so wirkungslos, wie uns die Linke
das in ihrem Antrag schildert, ist UNMISS keinesfalls.
Auch UNMISS hat „Friedensfachkräfte“, bringt den
„Friedensprozess“ voran und baut „Friedensinfrastruktu-
ren“ auf. Diese Begriffe schreibt die Linke in ihrem An-
trag aber nur den Organisationen zu, die mit dem Antrag
unterstützt werden sollen.


(Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt überhaupt nicht! Das steht in dem Antrag drin!)


Der Antrag verkennt die schützende und verbindende
Rolle, zu der auch die Bundeswehr ihren Teil beiträgt.

Wie kann der geforderte Entzug von Bundesmitteln
für UNMISS – nichts anderes ist die Umwidmung –
diese Lage verbessern?


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist eine absolut absurde Debatte hier!)


Die richtige Antwort auf gestiegene Soldatenzahlen bei
den Rebellenarmeen sieht für mich anders aus. Ich bin,
wie anfangs gesagt, der festen Überzeugung, dass nur
das Militär den Rahmen für eine wirkungsvolle humani-
täre Hilfe im Südsudan bilden kann.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gut auswendig gelernt!)


Ich erkenne selbstverständlich die Leistung der zivilen
Akteure vor Ort an und verweise auf die zahlreichen
Programme, die die Bundesregierung bereits unterstützt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gerade jetzt, in dieser instabilen Lage, müssen die
vorgesehenen Mittel aus dem Einzelhaushalt für die
Bundeswehr schnell abrufbar sein.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das passt Ihnen ideologisch nicht in den Kram, oder?)

Wir stehen dort in der Verantwortung. Denn wenn erneut
blutige Auseinandersetzungen drohen, hilft den Men-
schen vor Ort vor allem auch der bewaffnete Einsatz. In
einem Land, in dem Krankenhäuser überfallen und Men-
schen willkürlich umgebracht werden, braucht die Bun-
deswehr den finanziellen Rückhalt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich zumindest möchte nicht die Verantwortung dafür tra-
gen, zivile Helfer ohne bewaffneten Schutz in dieses
Krisengebiet zu entsenden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Inge Höger [DIE LINKE]: Das wollen die gar nicht!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803927700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1614 mit dem Ti-
tel „Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel der Uni-
ted Nations Mission in South Sudan (UNMISS) für die
Unterstützung des unbewaffneten Schutzes der Zivilbevöl-
kerung im Südsudan“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der
Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Wir haben jetzt noch eine ganze Reihe von Abstim-
mungen vorzunehmen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Rindfleischetikettierungsge-
setzes und des Legehennenbetriebsregisterge-
setzes

Drucksache 18/1286

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Ernährung und Landwirtschaft

(10. Ausschuss)


Drucksache 18/1639

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.


Thomas Mahlberg (CDU):
Rede ID: ID1803927800

Das heute behandelte Gesetz scheint auf den ersten

Blick rein bürokratischer Natur zu sein. Es hat sich auf
der EU-Ebene wieder etwas geändert – oder auch die
Bundesministerien heißen anders –, und schon muss
ein neues Gesetz her. Ja, es müssen auch Bezugnahmen
im nationalen Recht auf das EU-Recht angepasst wer-
den.

Wenn man sich aber gründlich mit der Vorlage be-
schäftigt, erkennt man, dass es in dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur Änderung des Rindfleisch-
etikettierungsgesetzes und des Legehennenbetriebs-
registergesetzes um viel mehr geht, nämlich: um den
gesundheitlichen Verbraucherschutz, den Schutz der
Verbraucher vor Täuschung und Tierwohl.





Thomas Mahlberg


(A) (C)



(D)(B)

Um es vorwegzunehmen: Nein, mit der Änderung
des Rindfleischetikettierungsgesetzes wollen wir kei-
nen neuen sprachlichen Rekord aufstellen und das
Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenüber-
tragungsgesetz in der Länge des Namens überbieten.

Wir wollen die notwendigen technischen Anpassun-
gen vornehmen, damit dieses wichtige Gesetz richtige
Verweise enthält. Nur so können wir sicherstellen, dass
das Gesetz zur besonderen Etikettierung von Rind-
fleisch weiterhin die Verbraucher vor gesundheitlichen
Risiken schützt. Denn wir dürfen nicht vergessen, wo-
rauf diese gesetzlichen Vorgaben zurückzuführen sind.
Sie wurden als Reaktion auf die BSE-Krise eingeführt
und bewähren sich bis heute.

Bei den Änderungen des Legehennenbetriebsregis-
tergesetzes handelt es sich nicht nur um Verweiskor-
rekturen. Es wird die Überwachung der Legehennen-
haltung in Deutschland verbessert, indem die
Regelung der Kennnummernvergabe für Legehennen
haltende Betriebe geändert wird. Die neue Regelung
ermöglicht es, insbesondere Betrugsfällen zu begeg-
nen, wie es sie im Februar 2013 mit Bioeiern gab. Die
Medien berichteten von den Ermittlungen der Staats-
anwaltschaft Oldenburg gegen mehr als 100 Legehen-
nenbetriebe.

Der Vorwurf: Überbelegung der Ställe. Hinzu
kommt, dass die Eier zu Unrecht als Bioprodukt ver-
marktet wurden und so die Verbraucher getäuscht wur-
den. Ferner wurde durch die Überbelegung der Ställe
das Mehr an Tierwohl, das in der Biohaltung eingehal-
ten werden muss, eingeschränkt.

Um derartigen Betrügereien besser entgegenzusteu-
ern, wird es den Kontrollbehörden künftig möglich
sein, aufgrund der Anzahl der vermarkteten Eier in
Verbindung mit durchschnittlichen Legeleistungen
Rückschlüsse auf die tatsächliche Anzahl der gehalte-
nen Tiere zu ziehen. So werden der Schutz der Verbrau-
cher vor Täuschung und das Tierwohl gestärkt.

Wir sind uns alle einig, dass Missstände in der
Landwirtschaft konsequent aufgeklärt, behoben und
gegebenenfalls auch sanktioniert werden müssen. Und
dies unabhängig davon, ob es sich um ökologische
oder konventionelle Landwirtschaft handelt. Denn für
uns Christdemokraten ist klar: Gesundheitlicher Ver-
braucherschutz steht an erster Stelle.

Ebenso steht es für uns fest, dass sich alle Beteilig-
ten an die Regeln halten müssen. Da hilft es nicht wei-
ter, ideologisch die einen für die Guten und die ande-
ren für die Bösen zu erklären. Unsere Bauern – egal,
nach welchem Haltungssystem sie wirtschaften – sind
in Sachen Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz
spitze. Sie sind Vorreiter nicht nur in Europa, sondern
auch weltweit. Darauf können wir stolz sein, dafür ha-
ben wir unseren Landwirten höchsten Respekt zu zol-
len.

Selbstverständlich soll das nicht heißen, dass bei
uns alle Probleme gelöst sind. Deswegen sind wir – ge-
meinsam mit der Bundesregierung – am Ball und
kämpfen für eine bäuerliche Landwirtschaft mit ihrer
Vielfältigkeit an Haltungssystemen und hohem Verant-
wortungsbewusstsein für Mensch, Tier und Umwelt.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1803927900

Wir reden über die Rindfleischetikettierung und es

ist ziemlich spät am Abend. Ganz ehrlich, das ist kein
schlechtes, es ist ein richtig gutes Zeichen. Denn nach
stürmischen Zeiten in Sachen Rindfleisch ist wieder
Alltag eingekehrt. Vor 15 Jahren war BSE das große
Thema auf den Titelseiten unserer Boulevardblätter.

Ein Gespenst ging um in Europa, ein reales Ge-
spenst. Die Menschen hatten Angst vor einer neuen
großen Epidemie. In Großbritannien erkrankten die
Rinder reihenweise, ganze Herden wurden gekeult.

Ich will nicht sagen, dass BSE und die hiervon wohl
ausgelöste Creutzfeld-Jakob-Krankheit – ganz bewie-
sen ist das ja immer noch nicht – überwunden seien.
Aber es ist doch gelungen, die Krankheit ganz erheb-
lich einzudämmen.

In den letzten fünf Jahren gab es in Deutschland ge-
rade einmal zwei Fälle. Das kommt nicht von nichts.
Wir haben wirklich etwas erreicht, Bund, Länder,
Fleischverarbeitung und Bauern gemeinsam. Zusätz-
lich zu den allgemeinen Vorschriften des Lebensmittel-
rechts und der Lebensmittelkennzeichnung gibt es
beim Rindfleisch ein System, das die Herkunft jedes
Steaks und jeder Rindswurst transparent macht. Sie
können heute von der Bedientheke an den Weg jedes
Stückes Rindfleisch über alle Vermarktungs- und Er-
zeugungsstufen zurückverfolgen bis in den Stall, ja so-
gar bis zu einer konkreten Gruppe von Tieren. Und Sie
können ablesen, wo ein Tier geboren, gemästet, ge-
schlachtet und zerlegt wurde.

Unser Transparenz- und Überwachungssystem hat
in den letzten Jahren ausgezeichnet funktioniert, und
so soll es auch in Zukunft bleiben, weil dieses System
das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten,
unser aller Vertrauen, in unser Rindfleisch wieder her-
gestellt hat. Ich möchte sagen: Vertrauen, das heute
absolut berechtigt ist. Es ist beim Rindfleisch wie bei
fast allen Lebensmitteln: Sie sind heute so sicher wie
noch nie zuvor. Und so muss es in Zukunft auch blei-
ben – das ist das klare Ziel unserer Fraktion.

Es ist deshalb keine große Nachricht, wenn wir
heute eine Reihe von Verweisregeln des Rindfleisch-
etikettierungsgesetzes an den Stand der europäischen
Rechtsetzung anpassen. Ich muss gar nicht im Einzel-
nen beschreiben, was wir durch welche Regelung wie
genau ersetzen.

Die Nachricht, die dahinter steht ist: Mit dem Sys-
tem der Rindfleischetikettierung, das wir nach dem
Auftauchen von BSE aufgesetzt haben, können wir wei-
termachen. Es hat sich bewährt.

Mehr als über Rindfleisch wurde zuletzt über Hüh-
ner und Eier gesprochen. Nicht weil es dort Krankhei-
Zu Protokoll gegebene Reden





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

ten oder Gefährdungen, geschweige denn einen Ge-
sundheitsskandal gegeben hätte, sondern weil das eine
oder andere schwarze Schaf unter die Biobauern ge-
gangen ist – und damit erheblichen Imageschaden an
der Branche ausgelöst hat. Ich denke etwa an den Fall,
der im April ans Licht gekommen ist: Ein Landwirt aus
Niedersachsen hatte in großem Stil konventionelle
Hähnchen als Neuland-Hähnchen verkauft und damit
die Käufer geprellt.

Weil wir beim Rindfleisch mit der Herkunftsverfol-
gung gute Erfahrung gemacht haben, ist es richtig, das
System der Kennnummernvergabe auch bei der Lege-
hennenhaltung fortzuentwickeln. Deswegen ändern
wir hier auch das Gesetz mit dem griffigen Titel Lege-
hennenbetriebsregistergesetz.

Wir wollen, dass über die Kennzeichnung die An-
zahl der vermarkteten Eier sichtbar wird und man da-
durch Schlüsse auf die Menge der Hühner in einem
Stall ziehen kann, weil wir Überbelegungen verhin-
dern wollen. Das geschieht aus drei guten Gründen:
erstens natürlich wegen des Tierschutzes, zweitens
zum Schutz all jener Landwirte, die sich an die Regeln
halten und die deshalb nicht mit Wettbewerbsnachtei-
len bestraft werden dürfen, und drittens zum Schutze
der Verbraucherinnen und Verbraucher, die wie beim
Rindfleisch darauf vertrauen können sollen, dass sie
das essen, was sie zu essen meinen. Ich sage nur Neu-
land.

Ich finde es gut, dass das Gesetz nun auch eine buß-
geldrechtliche Ahndungsmöglichkeit vorsieht – auch
das dient dem Schutz aller, die ihren Pflichten rechts-
treu nachkommen.

Meine Damen und Herren, der Abend ist spät, der
Freitagmorgen nah. Aber wenn wir dieses Gesetz jetzt
verabschieden, dann kann ich Ihnen für Ihr morgiges
Frühstücksei, für die leckere Scheibe Roastbeef mit be-
sonders gutem Gewissen einen guten Appetit wün-
schen.


Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1803928000

2013 war nicht gerade arm an Lebensmittelskanda-

len. Wir erinnern uns: Parallel zum Pferdefleischskan-
dal wurde im Februar letzten Jahres bekannt, dass
Millionen falsch deklarierter Eier in Umlauf geraten
waren. Eierproduzenten hatten zu viele Hennen auf zu
wenig Platz gehalten. Was als Freiland- oder Bio-Ei
verkauft wurde, hätte allerhöchstens noch als Ei aus
Bodenhaltung angeboten werden dürfen. Einmal mehr
ist das Vertrauen der Verbraucher in Lebensmittel und
Lebensmittelüberwachung erschüttert worden.

Um Verbraucher künftig besser vor solchen Täu-
schungsfällen zu schützen und der Lebensmittelüber-
wachung die Kontrolle von Legehennenbetrieben zu
erleichtern, haben wir nun das Legehennenbetriebs-
registergesetz geändert. Die geplante Änderung wird
es den Behörden einfacher machen, eine Überbele-
gung von Ställen zu ermitteln und zu ahnden.
Zeitgleich aktualisieren wir auch das Rindfleisch-
etikettierungsgesetz. Wir passen Definitionen und Be-
zeichnungen an, die sich mit der Reform der Gemein-
samen Agrarpolitik auf EU-Ebene geändert haben.
Das war dringend notwendig.

In Sachen Legehennen gilt es nun allerdings noch
eine weitere Überwachungslücke zu schließen. Um die
Besatzdichten in Legehennenbetrieben tatsächlich ef-
fektiv kontrollieren zu können, müssen die Brütereien
und die Junghennenaufzucht in die Überwachungs-
kette integriert werden.

Herr Minister Schmidt, bitte prüfen Sie schnell, wie
wir dies umsetzen können. Wir sollten alles daranset-
zen, den nächsten Eier-Skandal zu verhindern, bevor
er passiert.

Die aktuelle Gesetzesänderung ist ein erster Schritt.
Aber dabei sollte und darf es nicht bleiben. Um das
Vertrauen der Verbraucher in unsere Lebensmittel-
produktion und unsere Überwachungsbehörden
wiederherzustellen, müssen wir nicht nur die Voraus-
setzungen für die lückenlose Überwachung von Lege-
hennen schaffen. Wir müssen auch mehr Transparenz
in die Lebensmittelkette bringen.

Ich denke dabei an die Überarbeitung des § 40 des
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches, genauer
gesagt die Veröffentlichungspflichten der Behörden bei
Täuschung, Irreführung und Hygieneverstößen, die
wir endlich rechtssicher machen müssen. Denn eine
drohende Veröffentlichung ist ein massiver Anreiz für
jedes Unternehmen, sich an alle gesetzlichen Vorgaben
und Regeln zu halten. Transparenz wirkt präventiv,
auch gegen den nächsten Eier-Skandal.

Hier endlich Nägel mit Köpfen zu machen, sind wir
den Verbrauchern schuldig.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803928100

Verbraucherbetrug bei Lebensmitteln taucht immer

da auf, wo es für die Lebensmittelindustrie profitabel
ist oder wo sie mit Dumpingpreisen den Markt be-
stimmt. Kosten 400 Gramm Lasagne nur 1,64 Euro,
muss man sich über das Pferd im Fleisch nicht wun-
dern. Ähnliches gilt bei Eiern: Lasche Vorschriften
führten dazu, dass Eier aus überfüllten Hühnerställen
als Bioware verkauft wurden. Eine Lebensmittelbran-
che, die in diesem Klima weniger staatliche Regulie-
rung fordert, muss sich nicht wundern, dass sie bei den
Verbrauchern das Image von Hühnerdieben genießt.

Der hier nun vorliegende Gesetzentwurf verbessert
den Verbraucherschutz. Das begrüßen wir. Eine fal-
sche Kennzeichnung von Eiern fällt schneller auf, was
Betrugsversuche erschwert. Legehennenbetriebe dür-
fen künftig pro Stall nur eine Kennzeichnung verwen-
den, also entweder Boden-, Freiland- oder Biohaltung.
Ändert ein Stallbetreiber die Haltungsform, was nur in
begründeten Ausnahmen möglich ist, muss er dies den
Behörden unmittelbar vorher anzeigen. Kontrolleure
können durch diese Regelung besser nachvollziehen,
Zu Protokoll gegebene Reden





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

ob die gesetzlichen Vorgaben zum Tierwohl und zum
Verbraucherschutz eingehalten werden.

Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass es in der
Vergangenheit ein buntes Durcheinander gab, das zu
Falschkennzeichnungen einlud. Wir erinnern uns: Eier
aus konventioneller Haltung wurden den Verbrau-
chern als Bioeier untergeschoben. Ställe waren syste-
matisch überbelegt. Profit ging manchen Hühnerhal-
tern offenbar vor Tierschutz. Das „Handelsblatt“
schrieb vor einem Jahr dabei von einer „flächende-
ckenden Praxis“. Verbraucherbetrug war offenbar ein
Geschäftsmodell. An diesem Beispiel zeigt sich also,
wie wichtig klare Regeln bei der Lebensmittelerzeu-
gung sind.

Der Gesetzgeber muss auch deutlich machen, dass
organisierte Verbrauchertäuschung kein Kavaliers-
delikt ist. Da wünschen wir uns schon lange ein kon-
sequenteres Vorgehen: Die Namen betrügerischer
Lebensmittelerzeuger und -händler müssen umgehend
veröffentlicht werden. Wer wiederholt erwischt wird,
muss damit rechnen, dass sein Betrieb ein für alle Mal
dichtgemacht wird. Wir werden uns daher bei dem Ge-
setzentwurf enthalten.

Konventionelle und Biohaltung müssen strikter ge-
trennt und dürfen nicht auf demselben Hof in benach-
barten Ställen erlaubt sein. Bei der Reform der EU-
Bioverordnung wäre es zu begrüßen, wenn die gleich-
zeitige Erzeugung von Biolebensmitteln und herkömm-
lichen Produkten im selben Betrieb unterbunden wird.
Nur so funktioniert glaubwürdiger Verbraucherschutz.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der vorliegende Gesetzentwurf und der damit ver-
bundene Änderungsantrag ist solide und beinhaltet
primär erforderliche Anpassungen von veralteten Ver-
weisen auf das Gemeinschaftsrecht. Dem stimmen wir
zu.

Das Legehennenbetriebsregistergesetz wurde auf
Druck des Bundesrates mit einer Öffnungsklausel ver-
sehen, um auf Länderebene spezifische Vorlaufzeiten
für die Umstellung des Haltungssystems festzulegen.
So weit, so gut, dies stellt meiner Meinung nach einen
tragfähigen Kompromiss zwischen nachvollziehbarer
Dokumentationspflicht, aber auch Reaktionsmöglich-
keiten der Betriebe auf beispielsweise Starkregen-
ereignisse dar. Denn nach wie vor muss bei allem ver-
ständlichen Drängen nach Wahrheit und Klarheit bei
der Kontrolle dem ureigenen Wesen der Landwirt-
schaft Rechnung getragen werden: Im Umgang mit der
Natur ist zwar vieles planbar, doch oftmals muss die
Möglichkeit bestehen, kurzfristig Entscheidungen zu
treffen und auf Wetter- und Klimaeinflüsse angemessen
reagieren zu können.

Eines ist jedoch anzumerken: Es wurde versäumt,
die Junghennenaufzucht in die Marktüberwachung
einzubeziehen. So wurde es zu Recht in der Stellung-
nahme des Bundesrates kritisiert. Die Bundesregie-
rung verweist in ihrer Gegendarstellung auf ausste-
hende Rechtsprüfungen, die im Vorlauf einer solchen
Integration zu tätigen seien. Wenn dem so ist, dann lei-
ten Sie dies bitte in die Wege. Denn diese Funktion
wäre ein echter Fortschritt, um die Überwachungs-
kette zu schließen und um belastbare Belegungsdich-
ten aufzunehmen.

Des Weiteren stimmen wir heute über die Änderung
des Rindfleischetikettierungsgesetzes ab: Die jetzige
Anpassung ist, das wissen Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen, so gut wie ich, eine reine Formalie. Dass
Rindfleisch seit der BSE-Krise gesondert ausgewiesen
und etikettiert werden muss, ist ein Gewinn für Ver-
braucherschutz und Transparenz.

Wir fordern noch Weitergehendes – ein Mehr an
Kennzeichnung von frischem und auch verarbeitetem
Fleisch: Es muss klar nachvollziehbar sein, woher je-
des Fleisch kommt, das sich im Handel befindet, egal
ob Frischfleisch oder Raviolifüllung. Ab dem 1. April
2015 gelten der Rindfleischetikettierung ähnliche
Regelungen für Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflü-
gelfleisch. Das begrüßen wir. Wäre mit einer solchen
Regelung ein so großflächiger Betrug im Sinne der
Pferde-Lasagne möglich gewesen? Ich glaube nein.

Die Kommission plant eine Evaluierung der Rinder-
kennzeichnung, um herauszufinden, welche Markt-
effekte diese in den vergangenen Jahren ausgelöst hat.
Es soll, so hört man, ermittelt werden, ob die Rind-
fleischetikettierung den Bedürfnissen der Verbraucher
einerseits und denen der Landwirte und Fleischver-
arbeiter andererseits entspricht. Ich hoffe, die Stimme
der Verbraucherinnen und Verbraucher und die der
Landwirte, die verantwortungsvoll mit ihrem Beruf
umgehen, wiegt schwerer als die der Fleischindustrie,
die sich in der Vergangenheit nicht unbedingt um mehr
Transparenz und Kundeninformation verdient gemacht
hat.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803928200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-

nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/1639, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1286 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Dann ist das mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
so angenommen worden.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-Frak-
tion, SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
worden.





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Recht und Verbrau-
cherschutz (6. Ausschuss)


zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Rates über die Errichtung der Europäischen
Staatsanwaltschaft (EPPO)

KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13
hier:
a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
setzes
b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio-
nen

Drucksache 18/1658

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Gregor Gysi, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Rates über die Errichtung der Europäischen
Staatsanwaltschaft (EPPO)

KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13
hier:
a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
setzes
b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio-
nen

Drucksache 18/1646

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich höre und sehe, dass Sie damit einverstanden sind.


Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1803928300

Bereits am 16. Oktober 2013 richtete der Unteraus-

schuss Europarecht ein Schreiben an den Präsidenten
der Europäischen Kommission, Herrn Dr. José Manuel
Durão Barroso, und kündigte eine Stellungnahme des
Deutschen Bundestages zu dem Vorschlag für eine Ver-
ordnung des Rates über die Errichtung der Europäi-
schen Staatsanwaltschaft an. In diesem Schreiben
wurde mitgeteilt, dass der Unterausschuss Europa-
recht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundesta-
ges die Arbeit an dem Verordnungsvorschlag über die
Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft in
der nun ablaufenden Wahlperiode eng begleitet hat.
Gespräche mit Frau Kommissarin Reding, Herrn
Kommissar Šemeta sowie weiteren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Europäischen Kommission boten
dankenswerterweise mehrfach Gelegenheit zu einem
konstruktiven Dialog über die Ausgestaltung einer
künftigen Europäischen Staatsanwaltschaft.

Weiter wurde ausgeführt, dass der Verordnungsvor-
schlag im Unterausschuss Europarecht und dann im
Bundestag noch intensiv beraten werden wird.

Dies ist nun geschehen, und ich darf mich herzlich
für die konstruktive Arbeit aller Berichterstatterinnen
und Berichterstatter zu dem Verordnungsvorschlag be-
danken.

Der Unterausschuss Europarecht kann sich intensiv
mit den Vorlagen der EU in den Bereichen Rechts- und
Justizpolitik befassen. Hierauf gibt er dem Rechtsaus-
schuss Empfehlungen für die weitere Vorgehensweise.
Neben vielen rechtpolitischen Gesetzesentwürfen wird
die europäische Rechtspolitik immer wichtiger. Der
Unterausschuss hat sich immer mehr zu einem Gre-
mium entwickelt, das besonders die Prüfung der Subsi-
diarität im Blick hat. Hierbei wird die Subsidiaritäts-
rüge nicht als scharfes Schwert des Diskurses gesehen,
sondern vielmehr als ein Weg, wie sich nationale Par-
lamente in den politischen Dialog einbringen können.
Nur wenn im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung auch
Stellungnahmen und Rügen erfolgen, kann ein Mitge-
stalten an Europa Erfolg haben.

Eine solche Teilhabe an Europa gelingt uns mit der
heute zu verabschiedenden Stellungnahme zum Ver-
ordnungsvorschlag Europäische Staatsanwaltschaft.

Hinsichtlich des vorliegenden Verordnungsentwurfs
gab es einige Kritikpunkte, die ich in der gebotenen
Kürze nochmals kurz darstellen darf:

Erstens ist die im Kommissionsvorschlag vorgese-
hene Unabhängigkeit des Europäischen Staatsanwalts
insofern zu weitgehend, als die Kontrollmöglichkeiten
unzureichend sind. Über den in Artikel 70 KomV vor-
gesehenen Jahresbericht hinaus, sollten weitergehende
und regelmäßige Berichts- und Rechenschaftspflichten
vorgesehen werden. Eine justizielle Kontrolle der Tä-
tigkeit des Europäischen Staatsanwaltes ist notwendig.

Zweitens soll die Geschäftsordnung, Artikel 7
KomV, die die Organisation der Arbeit der Europäi-
schen Staatsanwaltschaft regelt, für alle EU-Bürger-
innen und EU-Bürger aus Gründen der Transparenz
einsehbar sein; allgemeine Zuständigkeitsregelungen
sollen hingegen nicht dort, sondern in der Verordnung
selbst geregelt werden.

Drittens fehlt es im Verordnungsvorschlag an einer
Rechtsschutzmöglichkeit des Betroffenen, um gegen
die Entscheidung der einzelstaatlichen Justizbehörde

(Artikel 13 III KomV), welche Staatsanwaltschaft im

konkreten Fall zuständig ist, gerichtlich vorzugehen.

Viertens müssen die Beschuldigtenrechte auf ein
einheitliches europäisches Niveau gebracht werden.
Artikel 32–35 KomV genügen den rechtsstaatlichen
Anforderungen insoweit nicht. Der Verordnungsvor-
schlag muss Mindeststandards der Beschuldigten-
rechte gewährleisten und vor allem Ermittlungsbefug-
nisse gemäß dieser Standards beschränken.

Der Grundsatz des „ne bis in idem“ fehlt im Kom-
missionsvorschlag.

Fünftens fehlen wichtige Beschuldigtenrechte, wie
das Akteneinsichtsrecht und das Recht, bei Einstellung
des Verfahrens durch die Europäische Staatsanwalt-





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

schaft über die Einstellung informiert zu werden,
Artikel 15 IV KomV.

Sechstens benötigt Artikel 17 KomV dahingehend
Präzisierung, dass geklärt werden muss, was unter
dem Begriff „Bestätigen“ in Bezug auf Eilmaßnahmen
verstanden werden soll und ob gegebenenfalls eine
rechtliche Prüfung der Maßname(n) erfolgen muss.

Siebtens kann nach Artikel 18 V der Europäische
Staatsanwalt in bestimmten Fällen selbst die Ermitt-
lungen leiten. Hier besteht die Gefahr des Eingriffs in
materielles Recht, vor allem hinsichtlich der Kongru-
enzverhältnisse zwischen verschiedenen Straftaten. In
diesem Fall bleibt die Regelung in Bezug auf die Kom-
petenzen und Überwachungsmöglichkeit dieser Tätig-
keit zu unkonkret. Außerdem ist die vorgesehene Tren-
nung von Ermittlungstätigkeit und Durchführung der
Zwangsmaßnahmen durch die mitgliedstaatliche Be-
hörde nicht praktikabel. Unklar bleibt auch, ob es eine
gerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwalt-
schaft gibt und welches Gericht sie in diesem Fall
durchführt.

Achtens genügen die in Artikel 26 KomV genannten
Ermittlungsmaßnahmen rechtsstaatlichen Anforderun-
gen nicht. Problematisch ist im Besonderen, dass für
die in Artikel 26 I vorgesehenen Maßnahmen neben
der Verordnung auch einzelstaatliches Recht gelten
soll, Artikel 26 II KomV. Damit kämen unterschiedli-
che nationale Regelungen zum Tragen.

Aufgrund von Artikel 26 besteht somit die Gefahr
des „Forum Shopping“ und der Absenkung der rechts-
staatlichen Standards. Unklar bleibt darüber hinaus,
inwieweit die Maßnahme durch ein Gericht überprüft
werden kann.

Neuntens sind die Kriterien, an welchem Ort die
Anklage erfolgen soll, nicht klar erkennbar. Wün-
schenswert wäre es, dass der gewöhnliche Aufenthalts-
ort des Beschuldigten Priorität bei der Anklageerhe-
bung bekommt. Die örtliche Zuständigkeit sollte
überdies gerichtlicher Kontrolle unterliegen.

Zehntens müsste die Möglichkeit des „Vergleichs“
in Artikel 29 KomV explizit zum Strafklageverbrauch
führen; ein Hinweis dazu fehlt in der Vorschrift.

Elftens sollte das Prozessgericht entgegen der Re-
gelung in Artikel 30 KomV die Möglichkeit bekommen,
zu prüfen, ob die Beweiserhebung nach rechtsstaatli-
chen Grundsätzen erfolgt ist.

Zwölftens birgt der Ausschluss der Kontrolle durch
den Europäischen Gerichtshof bei verfahrensrechtli-
chen Maßnahmen, Artikel 36 I KomV, die Gefahr un-
terschiedlicher Rechtsentwicklungen und damit ver-
schiedener Schutzniveaus in den Mitgliedstaaten und
ist daher abzulehnen.

Dreizehntens fehlt dem Verordnungsvorschlag eine
klare Abgrenzung, welche Kompetenz die Staatsan-
wälte haben, wenn sie national und wenn sie interna-
tional tätig sind.
Vierzehntens besteht auch nach Artikel 27 IV des
Verordnungsvorschlags die Gefahr des „Forum Shop-
ping“. Der Europäische Staatsanwalt wählt demnach
das zuständige Prozessgericht.

Fünfzehntens steht nach Artikel 6 V des Verord-
nungsvorschlages nur fest, dass es einen Abgeordneten
Europäischen Staatsanwalt in jedem Mitgliedstaat ge-
ben soll. Wie wird dies in Deutschland umgesetzt? In
welchem Umfang werden welche Kosten getragen?

Sechzehntens verlangt die Verordnung in Artikel 5 II
die Unabhängigkeit von nationalen Weisungen, und
Artikel 6 VI schreibt den Vorrang der Europäischen
Staatsanwälte fest; hierbei ist das Weisungsrecht aber
nicht eindeutig formuliert.

Letztens müssen die Erwägungsgründe des Verord-
nungsvorschlages sicherstellen, dass die Befugnisse
der Europäischen Staatsanwälte nicht immer weiter
ausgedehnt werden.

Festzuhalten bleibt, wie die Stellungnahme aus-
führt, dass der Deutsche Bundestag den Ansatz der
Kommission zur Errichtung einer dezentral aufgebau-
ten Europäischen Staatsanwaltschaft (EU-StA), deren
Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der Euro-
päischen Union zu bekämpfen, begrüßt. Struktur und
rechtlicher Handlungsrahmen für die EU-StA müssen
darauf ausgerichtet sein, effektive Ermittlungsverfah-
ren unter Beachtung hoher rechtsstaatlicher Anforde-
rungen zu gewährleisten und eine enge Zusammenar-
beit mit den Behörden der Mitgliedstaaten zu
ermöglichen. Der Deutsche Bundestag sieht in dem
Verordnungsvorschlag der Kommission vom 17. Juli
2013 (Ratsdokument 12558/13) vor allem unter Be-
rücksichtigung des von der Ratspräsidentschaft am
17. März 2014 vorgelegten Arbeitsdokuments

(DS 1154/14) eine Verhandlungsgrundlage zur Errich-

tung der EU-Staatsanwaltschaft. Der Bundestag be-
grüßt, dass mit dem Arbeitsdokument auch Änderun-
gen zu einer Reihe von Regelungen vorgeschlagen
werden, die auch der Bundestag kritisch gesehen hatte.

Schließlich bleibt mir noch einmal allen für die gute
Zusammenarbeit vor allem im Unterausschuss Euro-
parecht zu danken. Um aber eine Unterstützung des
Deutschen Bundestages für das wichtige Vorhaben ei-
ner Europäischen Staatsanwaltschaft zu sichern – hier
darf ich nochmals auf den Text der Stellungnahme ver-
weisen –, wäre es hilfreich, wenn Kommission und Eu-
ropäisches Parlament den vorgenannten Punkten im
weiteren Verhandlungsverlauf Rechnung tragen wür-
den.

Auch für die Zukunft hoffe ich, dass es dem Deut-
schen Bundestag möglich sein wird, sich aktiv am poli-
tischen Dialog zu beteiligen. Hierbei ist es vor allem
wichtig, dass sich die nationalen Parlamente immer
besser vernetzen. Zu diesem Zweck ist geplant, eine
Konferenz zur Europäischen Staatsanwaltschaft in
Paris durchzuführen. Hier sollen die Vertreter der na-
tionalen Parlamente zusammen kommen und sich aus-
tauschen können. Als Ergebnis könnte ein gemeinsa-
Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

mes Positionspapier aller teilnehmenden Parlamente
erstellt werden. Auf diesem Weg könnten die jeweiligen
nationalen Interessen sehr gut in den politischen Dia-
log eingebracht werden.


Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1803928400

Wir debattieren heute über einen fraktionsübergrei-

fenden Antrag zur Errichtung einer dezentral aufge-
bauten Europäischen Staatsanwaltschaft (EU-StA),
deren Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der
Europäischen Union zu bekämpfen.

Die Europäische Staatsanwaltschaft soll dabei eine
neue Behörde bzw. Einrichtung auf Ebene der EU
werden und der Europäischen Union damit eine Kom-
petenz bei der Strafverfolgung verschaffen.

Grundsätzlich sehen wir in dem Verordnungs-

(Ratsdokument 12558/13)

des von der Ratspräsidentschaft am 17. März 2014
vorgelegten Arbeitsdokuments (DS 1154/14) eine Ver-
handlungsgrundlage.

Dennoch ist die Frage der Errichtung der Europäi-
schen Staatsanwaltschaft meines Erachtens eine sen-
sible Frage, welche losgelöst von der parlamentari-
schen Routine behandelt und grundlegend durchdacht
werden sollte. Mit dem Arbeitsdokument werden zwar
Änderungen zu einer Reihe von Regelungen vorge-
schlagen, die auch wir kritisch gesehen haben. Aller-
dings sind meines Erachtens noch eine Reihe von
wichtigen Fragen nicht abschließend beantwortet: So
soll die Errichtung einer Europäischen Staatsanwalt-
schaft ohne die gleichzeitige Errichtung eines korres-
pondierenden Verfahrensrechts erfolgen. Das halte ich
für ungenügend. Mehr noch: Die Europäische Staats-
anwaltschaft wird agieren können, ohne dem Bürger
ein Niveau des rechtsstaatlichen Schutzes gewährleis-
ten zu können, wie es unsere Strafprozessordnung
vorsieht. Hoheitliches Handeln im Bereich der Straf-
verfolgung bedarf aber unbedingt rechtsstaatlicher
Kontrolle. Zudem soll die zukünftige Europäische
Staatsanwaltschaft auch in Fragen ermitteln können,
welche in bloßem Sachzusammenhang zur Frage der
Veruntreuung von EU-Geldern stehen. Damit wird mit-
telbar eine Kompetenz in vielerlei Fragen der Wirt-
schaftskriminalität geschaffen, welche in echter Kon-
kurrenz zu den nationalen Ermittlungsbehörden steht.

In den zurückliegenden Tagen haben CDU/CSU mit
Nachdruck auf ein besseres und bürgernahes Europa
mit mehr Transparenz und weniger Bürokratie ge-
drängt. Die Errichtung einer Europäischen Staatsan-
waltschaft lässt sich damit aber nicht ohne weiteres in
Einklang bringen.

Ich meine sogar, dass vor dem Hintergrund des zu
beachtenden Subsidiaritätsprinzips dieses höher zu
bewerten ist als eine mögliche Ermächtigung zu einer
Europäischen Staatsanwaltschaft im Vertrag von
Lissabon, auf welche sich die Kommission bei ihrem
Verordnungsentwurf bezieht. Europäische Integration
bedeutet nicht, jede nur denkbare und vertraglich zu-
lässige Regelung auch zu ergreifen. Man könnte auch
aus guten Gründen davon absehen.

Diese Ansicht teilten auch nicht weniger als
16 Staaten der Europäischen Union, welche im Zuge
der Konsultation über die Errichtung einer Europäi-
schen Staatsanwaltschaft Subsidiaritätsrüge erhoben
haben. Die Bundesrepublik Deutschland war nicht
darunter, sodass der Vorschlag des Rates für diese
Verordnung sich im weiteren Gesetzgebungsverfahren
befindet.

Ich selbst stehe der Verordnung eher kritisch gegen-
über. Das Ziel der Verhinderung von Veruntreuungen
europäischer Mittel ist ohne Frage ein legitimes Ziel.
Dennoch sollte nicht ohne Not eine neue europäische
Behörde im Kernbereich staatlichen Hoheitsanspru-
ches geschaffen werden. Auch andere Mitgliedstaaten,
wie zum Beispiel Großbritannien und Irland, stehen
dem kritisch gegenüber und nehmen erst gar nicht an
der EU-StA teil.

Unsere nationalen Ermittlungs- und Strafverfol-
gungsbehörden sind in der Lage, einen vergleichbaren
Schutz der finanziellen Interessen der Union und eine
gleichwertige Verfolgung entsprechender Straftaten zu
gewährleisten. Darüber hinaus macht die Unterstüt-
zung durch Eurojust, Europol und OLAF die Errich-
tung einer EU-StA meines Erachtens entbehrlich.

Mit der Errichtung der EU-StA wird erstmalig auf
dem Gebiet des Strafrechts eine Kernkompetenz der
Mitgliedstaaten teilweise auf eine Einrichtung der
Union übertragen.

Dem wäre durchaus noch zu folgen, wenn es ein
europäisches Verfahrensrecht und ein Rechtsschutz-
system gäbe, welches unseren rechtsstaatlichen Anfor-
derungen genügen würde. Dem ist jedoch leider nicht
so.

Es böte sich an, wofür ich plädiere, auf europäi-
scher Ebene nach der Konstituierung der neuen Euro-
päischen Kommission diese Frage noch einmal grund-
legend zu beraten und insbesondere die hier nur
kursorisch vorgetragenen Einwände nochmals mit
Nachdruck in die Debatte einfließen zu lassen. Zudem
sollte auch die Frage, wie die Kommission mit der Si-
tuation umgeht, dass nicht alle Mitgliedstaaten an der
EU-StA teilnehmen, noch einmal durchdacht werden.

Unabhängig davon müssen im weiteren Verhand-
lungsverlauf zumindest die von uns wie im Antrag ge-
forderten Belange durch die Bundesregierung durch-
gesetzt werden.


Dr. Katarina Barley (SPD):
Rede ID: ID1803928500

Jährlich versickern circa 700 Millionen Euro, die

für die Förderung von EU-Projekten gedacht sind. Die
Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Zahl der
aufgeklärten Fälle ist gering, da derzeit zwischen den
nationalen Strafrechtssystemen und den Unionsorga-
Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Katarina Barley


(A) (C)



(D)(B)

nen, die nicht strafrechtlich ermitteln dürfen, eine Lü-
cke klafft.

Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU
treffen nicht nur den EU-Haushalt, sondern unmittel-
bar auch die europäischen Steuerzahler. Deshalb
begrüßen wir grundsätzlich die Errichtung einer Euro-
päischen Staatsanwaltschaft. Sie kann die Zusammen-
arbeit der Ermittlungsbehörden auf EU-Ebene verbes-
sern, um grenzüberschreitende Fälle von Betrug und
Korruption mit EU-Mitteln aufzudecken.

Damit der unionsweite Betrug am europäischen
Steuerzahler besser strafrechtlich verfolgt werden
kann, hat die Europäische Kommission im Juli letzten
Jahres einen Vorschlag zur Errichtung einer Europäi-
schen Staatsanwaltschaft vorgelegt. Es ist sinnvoll und
richtig, dass die Europäische Union die Verschwen-
dung ihrer Fördergelder künftig mit einer eigenen
Strafverfolgungsbehörde bekämpfen kann.

Leider war der Vorschlag der Kommission so unzu-
länglich und an vielen Stellen sogar problematisch,
dass mehrere nationale Parlamente ihn nicht mittra-
gen wollen. Da die grenzüberschreitende Betrugsbe-
kämpfung aber nur effektiv arbeiten kann, wenn sie lü-
ckenlos ist, das heißt wenn sich alle Mitgliedstaaten
beteiligten, bedarf es detaillierter Nachbesserungen.

Die griechische Ratspräsidentschaft hat hier gute
Arbeit geleistet und wesentliche Änderungsvorschläge
erarbeitet. Viele dieser Vorschläge haben wir im Deut-
schen Bundestag fraktionsübergreifend aufgegriffen
und weiterentwickelt. Denn die Europäische Staats-
anwaltschaft braucht zwar weitreichende Befugnisse
für ihre Ermittlungen, diese dürfen aber auf keinen
Fall zulasten der Beschuldigten gehen und zu einer
Absenkung rechtsstaatlicher Standards führen. Befug-
nisse und Kontrollrechte müssen detailliert beschrie-
ben werden und sich die Waage halten. Wir fordern
deshalb die Bundesregierung auf, sich bei den weite-
ren Beratungen – Verhandlungen im Rat – dafür einzu-
setzen, dass die Berichts- und Rechenschaftsplicht der
Europäischen Staatsanwaltschaft weiter gestärkt wird,
zum Beispiel durch ein gemeinsames Kontrollrecht
vom Europäischen Parlament und den nationalen Par-
lamenten. Die Stellung und die Aufgaben der soge-
nannten Abgeordneten Europäischen Staatsanwälte
müssen präzisiert werden, damit keine Konfliktfälle
zwischen dem Weisungsrecht der Europäischen Staats-
anwaltschaft und der Unabhängigkeit von nationalen
Behörden entstehen. Die Unabhängigkeit der Abge-
ordneten Europäischen Staatsanwälte sollte außerdem
durch genau festgelegte Einstellungsvoraussetzungen
und Entlassungsgründe untermauert werden. Die Eu-
ropäische Staatsanwaltschaft sollte bei Straftaten zum
finanziellen Nachteil der EU nicht die ausschließliche
Zuständigkeit haben – wie beim Vorschlag der Kom-
mission vorgesehen –, sondern eine mit den Mitglied-
staaten konkurrierende mit einem Evokationsrecht der
Europäischen Staatsanwaltschaft – das würde dazu
beitragen, dass sich die Europäische Staatsanwalt-
schaft auf die Fälle konzentriert, die auf EU-Ebene
besser zu ermitteln sind. Entsprechend dem Grundsatz
„ne bis in idem“ sollte sich ein Beschuldigter nicht für
dieselbe Tat vor einem nationalen Gericht und der
Europäischen Staatsanwaltschaft verantworten müs-
sen. Die Entscheidung, vor welchem Gericht sich ein
Beschuldigter verteidigen muss, sollte einer gerichtli-
chen Kontrolle unterliegen. Die Auswahl des Gerichts-
ortes muss nach transparenten Kriterien und bereits
im Ermittlungsverfahren festgelegt werden.

Durch Regelungen zu präzisieren sind außerdem die
rechtlichen Befugnisse bei grenzüberschreitenden Er-
mittlungsmaßnahmen, damit keine unklare Gemenge-
lage von europäischen und einzelstaatlichen Regelun-
gen entsteht. Klarer Regeln bedarf es auch bezüglich
der Einstellung und Wiederaufnahmen von Ermitt-
lungsverfahren.

Vor allem bezüglich der Beschuldigtenrechte muss
ein hoher Mindeststandard gewährleistet sein. Auf ei-
nem hohen Level ist hier eine weitere Harmonisierung
der nationalen Rechtsordnungen notwendig.

Wenn es uns gelingt, diese Eckpunkte umzusetzen,
können wir der Europäischen Union ein effektives In-
strument zur Betrugsbekämpfung an die Hand geben,
das gleichzeitig mit den nationalstaatlichen Rechts-
ordnungen in Einklang steht und die Verfahrensrechte
in der EU stärkt und harmonisiert. Nur so kann es uns
gelingen, alle Mitgliedstaaten in ein Boot zu holen und
die rechtsstaatlichen Standards der EU dauerhaft zu
verbessern. Davon wird am Ende nicht nur das Budget
der EU, sondern auch die EU als Rechtsgemeinschaft
profitieren. Und der EU stehen erhebliche Mittel für
zusätzliche sinnvolle Projekte zur Verfügung.


Dr. Johannes Fechner (SPD):
Rede ID: ID1803928600

Vor kurzem diskutierte eine bekannte Zeitung Geld-

verschwendung auf EU-Ebene und nannte als ein Bei-
spiel die Europäische Staatsanwaltschaft.

Überflüssig und vor allem teuer? Das genaue
Gegenteil ist der Fall. Denn Straftaten, die gegen die fi-
nanziellen Interessen der EU gerichtet sind, belasten
unmittelbar die europäischen Steuerzahler. Durch
Betrug und andere Vermögensstraftaten gehen dem
EU-Haushalt in jedem Jahr Hunderte Millionen Euro
verloren. Die Kommission geht aufgrund von Erhe-
bungen in den Mitgliedstaaten sogar von circa
500 Millionen Euro in jedem der letzten drei Jahre aus.

Das wären 500 Millionen Euro, die nicht in die Ver-
besserung der Lebensbedingungen in den Kommunen
fließen können und die damit durch Steuergelder aus-
geglichen werden müssen. Und damit ist klar: Die Er-
richtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, die
Straftaten zulasten des EU-Haushalts effektiv verfolgt,
wird zu einer effektiveren Verwendung der EU-Mittel
beitragen. Das ist der wesentliche Grund, warum die
SPD-Fraktion und der Deutsche Bundestag die ge-
plante Einrichtung einer Europäischen Staatsanwalt-
schaft ausdrücklich begrüßen.
Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Johannes Fechner


(A) (C)



(D)(B)

Trotzdem gibt es einige Punkte, an denen der Ver-
ordnungsvorschlag unserer Ansicht nach noch verbes-
sert werden kann. Deshalb haben alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages diese Stellungnahme erarbei-
tet, die heute hier zur Abstimmung steht. Ausdrücklich
lobe und bedanke ich mich bei den Fraktionen der
Union, der Grünen und der Linken für die gute und
konstruktive Zusammenarbeit.

Ich erläutere im Folgenden kurz unsere wesentli-
chen Kritikpunkte:

Statt der Ernennung des Leiters der Europäischen
Staatsanwaltschaft und seiner Vertreter/-innen durch
den Rat – mit Zustimmung des Parlaments – regen wir
ein Wahlverfahren an, das die demokratische Le-
gitimation sicherstellt. Der Leiter der Europäischen
Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls dessen Stell-
vertreter/-innen könnten vom Europäischen Parlament
direkt gewählt werden.

Die Entlassungsgründe für die Europäischen
Staatsanwälte bedürfen einer näheren Präzision, um
willkürlichen Entlassungen vorzubeugen.

Klargestellt werden muss außerdem, dass die Tätig-
keit der Europäischen Staatsanwaltschaft an Recht
und Gesetz gebunden ist. Der Bundestag empfiehlt,
dass dieser wesentliche Rechtsgrundsatz ausdrücklich
aufgenommen wird.

Die Entscheidung, ob die Europäische Staatsan-
waltschaft aufgrund einer Zuständigkeit kraft Sachzu-
sammenhangs oder die Staatsanwaltschaft des Mit-
gliedstaates für das Verfahren zuständig ist, muss
gerichtlich überprüfbar sein, da diese Entscheidung
für die Beschuldigten erhebliche Auswirkungen haben
kann.

Die Geschäftsordnung der Europäischen Staatsan-
waltschaft muss für die Bürger einsehbar sein. Die
Grundzüge der Zuständigkeit innerhalb der Behörde
sollten allerdings bereits in der Verordnung geregelt
werden.

Im Interesse des Beschuldigten muss die für den
konkreten Fall anwendbare Rechtsordnung bereits im
Ermittlungsverfahren und nicht erst nach Abschluss
der Ermittlungen bekannt sein. Bei der Auswahl des
Gerichts darf die Europäische Staatsanwaltschaft kein
freies Ermessen haben, damit der Gefahr entgegen-
getreten werden kann, dass Beschuldigte vor den Ge-
richten angeklagt werden, wo ihre Rechte am gerings-
ten sind.

Die Möglichkeit, dass die Zentrale der Europäi-
schen Staatsanwaltschaft die Ermittlungen selbst statt
der in den Mitgliedstaaten tätigen Europäischen
Staatsanwälte leitet, wird von uns kritisch gesehen, da
in Bezug auf das Verfahren noch erhebliche Unklarhei-
ten bestehen.

Da die Regelungen zu den Ermittlungsbefugnissen
nicht zu Konflikten mit einzelstaatlichen Verfahrens-
ordnungen führen sollen, soll die Europäische Staats-
anwaltschaft nur solche Ermittlungsmaßnahmen nach
Artikel 26 Absatz 1 des Verordnungsvorschlages an-
ordnen können, die auch das nationale Recht vorsieht.

Im Fall einer Einstellung des Verfahrens muss der
Beschuldigte von der Einstellung in Kenntnis gesetzt
werden. Eine entsprechende Regelung dazu fehlt bis-
her im Verordnungsvorschlag.

Bei Einstellung des Verfahrens mangels sachdienli-
cher Beweise muss die Möglichkeit einer Wiederauf-
nahme des Verfahrens eingeführt werden.

Gegen Ermittlungsmaßnahmen der Europäischen
Staatsanwaltschaft müssen hinreichende Rechtsschutz-
möglichkeiten bestehen. Justizielle Kontrolle muss be-
sonders in den Fällen sichergestellt werden, in denen
die europäische Staatsanwaltschaft auf Grundlage der
Vorschriften in der Verordnung ermittelt.

Das zuständige Gericht der Mitgliedstaaten muss
die Beweisanträge der Europäischen Staatsanwalt-
schaft überprüfen dürfen, und zwar zum einen, ob die
Beweise nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erhoben
wurden, und muss zum anderen solche Beweise ableh-
nen dürfen, deren Verwertung gegen mitgliedstaatli-
ches Recht verstoßen würde.

Bei Berücksichtigung dieser Kritikpunkte könnte
aus unserer Sicht eine effektive Bekämpfung der Straf-
taten zulasten des EU-Haushalts bei gleichzeitiger
Verbesserung der rechtsstaatlichen Standards erreicht
werden.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ausdrück-
lich sagen, dass wir als SPD-Fraktion und ich als Be-
richterstatter hoffen, dass die Europäische Staatsan-
waltschaft wie in Artikel 86 AEUV vorgesehen – mit
möglichst allen Mitgliedstaaten – errichtet werden
kann.

Daneben halte ich es für wichtig, dass die Kritik-
punkte des Bundestages Gehör finden, und bitte Sie
daher heute um Zustimmung für unsere Stellung-
nahme.


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803928700

Wir reden heute über etwas Seltenes und etwas Selt-

sames.

Kommen wir zum Seltenen: Mit der vorliegenden
Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschus-
ses sowie dem gleichlautenden Antrag der Fraktion
Die Linke gibt der Bundestag der Bundesregierung ei-
nen Verhandlungsauftrag bei den Debatten zur Verord-
nung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwalt-
schaft. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll für
Delikte zum Nachteil der Europäischen Union, konkre-
ter des EU-Haushalts, zuständig sein. Nach Artikel 23
Absatz 3 Satz 2 GG muss die Bundesregierung die
Stellungnahme des Bundestages bei den Beratungen
berücksichtigen. Nach § 8 Absatz 2 EUZBBG muss die
Bundesregierung die Stellungnahme sogar ihren Ver-
handlungen zur Grundlage legen. Und nach § 8
Zu Protokoll gegebene Reden





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Absatz 4 EUZBBG muss die Bundesregierung einen
Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn der Beschluss
des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange
nicht durchsetzbar ist.

Eine solche Mitsprache des Bundestages bei Ver-
handlungen über Verordnungen ist nicht häufig. Ich
finde aber, wir alle sollten dieses Instrument viel inten-
siver nutzen. Denn es macht deutlich: Nationale Re-
gierungen nehmen entscheidend auf Europäische
Rechtsetzungsakte Einfluss. Mit dem Finger nach
Brüssel zeigen, bedeutet eben eigentlich, dass auch
zwei Finger zurückzeigen.

Wir reden heute also nicht über die Errichtung der
Europäischen Staatsanwaltschaft, sondern über Be-
dingungen, unter denen eine Europäische Staatsan-
waltschaft aus Sicht des Bundestages zustimmungs-
fähig ist. Welche Bedingungen das sind, das werden
die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen
hier sicherlich im Detail noch vortragen. Seien Sie
sich aber sicher, wir werden genau darauf achten, ob
die formulierten Bedingungen eingehalten werden
oder nicht.

Ich habe bereits darauf verwiesen, dass die Kolle-
ginnen und Kollegen sicherlich die Details der Bedin-
gungen für eine Zustimmung zur Europäischen Staats-
anwaltschaft erklären werden. Wenn ich mich da auf
die Kolleginnen und Kollegen verlasse, dann hat das
etwas mit dem Seltsamen oder, besser gesagt, Absur-
den zu tun.

Wie Sie sicherlich gemerkt haben, liegen zwei
gleichlautende Vorlagen vor. Wenn Sie aufmerksam ge-
lesen haben, wird Ihnen aufgefallen sein, dass diese
auch wortgleich sind. Das mag insbesondere die Zu-
schauerinnen unter Ihnen verwundern. Und, ja, es ist
auch verwunderlich. Es liegen zwei Vorlagen vor, weil
wir im Unterausschuss Europarecht sehr kollegial und
gemeinsam an einer gemeinsamen Stellungnahme ge-
arbeitet haben. Meine Fraktion hat konkrete Formulie-
rungsvorschläge zur Qualifizierung der Stellung-
nahme des Deutschen Bundestages unterbreitet, die
sich wortwörtlich in beiden Dokumenten wiederfinden.
Mit anderen Worten, beide Anträge tragen auch unsere
Handschrift. Es ist also festzustellen, dass hier eine
große Gemeinsamkeit aller Fraktionen gegeben ist. Es
liegt auf der Hand, dass hier eine gemeinsame Stel-
lungnahme aller Fraktion hätte verabschiedet werden
können.

Doch dem ist nicht so. Ich will ausdrücklich alle
Kolleginnen und Kollegen des Unterausschusses Eu-
roparecht aus meiner Kritik herausnehmen. Ein ge-
meinsamer Antrag aller Fraktionen scheiterte an der
Fraktionsführung der CDU und hier an der Kauder-
Doktrin. Diese besagt, dass keine gemeinsamen inhalt-
lichen Anträge mit der Linken eingebracht werden
dürfen. Ich muss schon sagen: Diese Kauder-Doktrin
der Unionsfraktionsführung ist ein wenig ballaballa
und rational nicht zu erklären. Sie hat es zu verantwor-
ten, dass hier zwei gleichlautende Vorlagen vorliegen.
Ich hätte gern demonstriert, dass alle Fraktionen sich
in der Kritik an der Europäischen Staatsanwaltschaft
einig sind. Das ist mir aber nicht möglich. Ich will mal
klar und deutlich sagen: Diese Kauder-Doktrin scha-
det der Demokratie. Diese Kauder-Doktrin schadet
dem Parlamentarismus. Diese Kauder-Doktrin ist an-
tidemokratisch. Sie führt zu Politikverdrossenheit,
denn es ist nicht ernsthaft zu vermitteln, warum bei
gleichlautendem Inhalt von Anträgen es unmöglich
sein soll, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen und
hier abstimmen zu lassen. Kurz zusammengefasst:
Dieser Vorgang ist einfach nur peinlich, und Sie soll-
ten sich schämen.

Die Chance, dies und andere Kritikpunkte in einer
gemeinsamen Stellungnahme aller Fraktionen zu be-
schließen, wurde vertan. Das tut auch den weiteren
Verhandlungen um die Europäische Staatsanwalt-
schaft nicht gut. Die Verantwortung dafür trägt die
Fraktionsspitze der Union, die sich somit auch als An-
tieuropäer geoutet haben.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch wir sind dafür, dass Straftaten zum Nachteil
der Europäischen Union wirksamer verfolgt werden.
Der Vorschlag des EU-Rates für die Verordnung über
die Europäische Staatsanwaltschaft, EPPO, ist eine
brauchbare Diskussionsgrundlage. Sie muss gründlich
beraten werden. Schließlich soll sie unmittelbar an-
wendbares Recht für die ganze EU schaffen, Bürgerin-
nen und Bürger strafrechtlich verfolgt und mit Krimi-
nalstrafen bestraft werden. Nötig sind eine ganze
Reihe Änderungen und Ergänzungen.

Die Stellungnahme des deutschen Bundestages
kommt spät. Zu lange brauchte das deutsche Parla-
ment, um sich zu konstituieren und arbeitsfähig zu
werden. Gut ist, dass alle vier Fraktionen gemeinsam
den vorliegenden Antrag erarbeitet haben. Damit
könnte er auch mehr Gewicht in den Diskussionen im
EU-Rat haben. Gar nicht gut ist, dass der Antrag nur
von drei Fraktionen eingebracht wird und unterschrie-
ben ist. Die Fraktion Die Linke wurde von der Union
willkürlich ausgegrenzt. Das ist ungehörig und nicht
demokratisch. Die Linke hat kollegial und sachdien-
lich mit eigenen Vorschlägen, die im Antrag Aufnahme
fanden, an der Erstellung mitgearbeitet. Wir verurtei-
len dies und werden deshalb auch dem gleichlautenden
Antrag der Linken zustimmen.

Die EU gibt viel Geld aus, das sie aus den Steuer-
einnahmen der Mitgliedstaaten eingenommen hat. Wir
setzen uns dafür ein, dass das viele Geld auch vernünf-
tig für vertretbare Zwecke im Interesse der Bevölke-
rung ausgegeben wird. Darüber, ob dies immer ge-
lingt, wird viel gestritten. Aber besonders ärgerlich ist,
wenn geschätzte 700 Millionen Euro im Jahr durch
Veruntreuung oder in anderer strafbarer Weise in
dunklen Kanälen verschwinden. Da dürfen wir nicht
länger einfach zusehen. Es ist auch ungerecht, wenn in
Mitgliedstaaten der EU die Aufklärung und Verfolgung
Zu Protokoll gegebene Reden





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

von Straftaten zum Nachteil der EU ungleich konse-
quent verfolgt werden. Damit wird zudem Vorurteilen
gegen europäische Völker und Skepsis gegenüber der
ganzen EU Vorschub geleistet.

Eine Europäische Staatsanwaltschaft kann ein Mit-
tel sein, solche Straftaten konsequenter zu verfolgen
und den Schaden zu mindern. Sie kann dazu beitragen,
dass unabhängige Abgeordnete Europäische Staatsan-
wälte Strafverstöße gleich konsequent nach gleichen
Kriterien ermitteln, anklagen und vor Gericht zur Ab-
urteilung bringen.

Dieses Ziel ist schwer zu erreichen in einer Union
von Staaten mit großen Unterschieden in den Rechts-
traditionen, im Straf- und Strafprozessrecht.

Die für Straftaten zum Nachteil der EU einschlägi-
gen Strafgesetze sind in Ländern häufig verschieden.
Dies gilt auch für den Grad der Unabhängigkeit der
Staatsanwälte in der jeweiligen Justiz, für die Rechte
der Beschuldigten, für die Zulassung von Beweismit-
teln und sogar für die Möglichkeit, Beschuldigter zu
sein, ob Unternehmen oder nur natürliche Personen.

Wir haben uns besonders dafür eingesetzt, dass die
Europäischen Staatsanwälte nicht nur dem EU-Parla-
ment rechenschaftspflichtig und verantwortlich sind,
sondern auch von diesem gewählt werden. Wir haben
eingebracht, den „deal“, also die Beendigung eines
Strafprozesses durch einen Vergleich, nur unter den
strengen Vorgaben der deutschen Rechtsprechung,
also unter Mitwirkung des Gerichts und mit Transpa-
renz, zulässig sein soll. Wichtig sind für uns auch die
Garantie der Beschuldigtenrechte und die rechtsstaat-
liche Begrenzung der Zulassung von Beweismitteln.

Eigentlich wäre es besser, zunächst die Straf- und
Strafprozessregelungen der Mitgliedstaaten weitge-
hender zu harmonisieren, bevor grenzüberschreitende
Strafverfolgung durch eine gemeinsame Behörde ein-
geführt wird. Aber dies scheint noch viel Zeit zu brau-
chen.

Wir werden genau verfolgen, ob diese und die zahl-
reichen anderen Forderungen aus dem Antrag des
Bundestages in die endgültige Fassung des Vorschla-
ges des Rates übernommen werden. Vom Ergebnis
werden wir abhängig machen, ob wir diesen mittra-
gen.

Am Wochenende habe ich erfahren, dass EU-Gel-
der zur Finanzierung eines Nachbarschaftsheimes in
meinem Wahlkreis beitragen. Für solch gute Zwecke
könnten EU-Finanzen durch eine EU-Staatsanwalt-
schaft geschützt werden.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803928800

Tagesordnungspunkt 22 a. Wir kommen zur Abstim-

mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vorschlag für
eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Euro-
päischen Staatsanwaltschaft. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1658, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung einstimmig, mit den Stimmen aller
Fraktionen, angenommen.

Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1646 zu
dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die
Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen
von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion bei Zustim-
mung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Antiterrordateigesetzes und ande-
rer Gesetze

Drucksache 18/1565
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht zur Evaluierung des Antiterrordatei-
gesetzes

Drucksache 17/12665 (neu)

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss Digitale Agenda

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1803928900

Zwei Erkenntnisse liegen dieser Debatte über die

Antiterrordatei und die Rechtsextremismusdatei zu-
grunde. Erstens, die Bedrohung, die von Extremisten
für unseren Staat und unsere Demokratie ausgeht, ist
sehr ernst zu nehmen. Das zeigt die Aufarbeitung der
Straftaten, die dem rechtsextremistischen Terrortrio
NSU zugerechnet werden, durch Untersuchungsaus-
schüsse und das Gerichtsverfahren in München. Das
zeigen aber auch die alarmierenden Nachrichten über
rund 320 Islamisten, die in den vergangenen beiden
Jahren als islamistische Kämpfer aus Deutschland
nach Syrien gereist sind und mit einiger Sicherheit zum
Teil auch wieder nach Deutschland zurückkehren – ra-
dikalisiert, mit Kampferfahrung und entsprechender
Ausbildung im Umgang mit Waffen. Deshalb müssen
wir unseren Sicherheitsbehörden die richtigen Instru-
mente in Form von gemeinsamen Dateien an die Hand
geben, die nachweislich effektiv und erfolgreich zur
Bekämpfung von Terrorismus und gewaltbereitem Ex-
tremismus beitragen. Zweitens, der Weg eines verbes-





Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)

serten Informationsaustauschs zwischen den Sicher-
heitsbehörden in Bund und Ländern – also vor allem
Polizei und Nachrichtendiensten – ist mit dem Grund-
gesetz vereinbar. Daran gibt es keinen Zweifel. Auch
deshalb gilt es, am Instrument der gemeinsamen Da-
teien festzuhalten.

Genau das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf. Wir halten an dieser Form des Datenaustauschs
fest. Wir passen die Regelungen zur Antiterrordatei
und zur Rechtsextremismusdatei an die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts an, und wir wollen die
Auswerte- und Analysefähigkeit der Antiterrordatei in
Anlehnung an die Rechtsextremismusdatei ausbauen.

Diese Verbunddateien geben unseren Sicherheitsbe-
hörden die Möglichkeit, auf wesentliche Informationen
über gewaltbereite Extremisten, die oft nur bruch-
stückhaft bei den Behörden in Bund und Ländern vor-
liegen, zurückzugreifen und aus diesen Mosaiksteinen
der Erkenntnisgewinnung ein aussagekräftiges Bild
zusammenzusetzen. Die Erfahrungen mit den Dateien
zeigen, dass die gemeinsamen Dateien auch eine Art
Inhaltsverzeichnis sind, in denen man die vorhandenen
Erkenntnisse recherchiert, um einen weiteren Informa-
tionsaustausch zwischen den Behörden zu organisie-
ren. Die Dateien unterscheiden dabei zwischen Grund-
daten – also etwa Namen, Geburtsdatum und -ort,
Staatsangehörigkeit, Sprache oder Lichtbilder – und
erweiterten Grunddaten – also etwa Telekommunikati-
onsanschlüsse, Bankverbindungen, Familienstand,
Ausbildung, Fahrerlaubnisse oder ähnlichem. Wichtig
ist dabei, dass wir keine neuen Daten erheben, weder
bei der Polizei noch bei den Nachrichtendiensten. Wir
schaffen keine neuen Befugnisse zur Datenerhebung.
Diese gemeinsamen Dateien beziehen sich auf Daten,
die bereits vorhanden und in verschiedenen polizeili-
chen und nachrichtendienstlichen Informationssyste-
men gespeichert sind.

In der Vergangenheit gab es das Problem, dass die
vorliegenden Erkenntnisse nicht ausreichend vernetzt
werden konnten. Manchmal dauerte es Wochen oder
gar Monate, bis eine wichtige Information zwischen
den Behörden ausgetauscht wurde – das hat der NSU-
Untersuchungsausschuss herausgearbeitet. Wenn 36
oder 37 Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern für
die Bekämpfung von Extremismus und extremistischen
Straftaten zuständig sind, kann die Antwort nicht sein,
dass wir das Wissen voreinander abschotten, auf mög-
lichst viele Stellen verteilen. Die Antwort kann nicht
sein, dass keiner mit dem anderen spricht, Informatio-
nen nur im Ausnahmefall ausgetauscht werden und
man sich hinterher wundert, wenn es zu spät ist. Des-
halb ist es wichtig, dass die Daten für beide Bereiche
– den gewaltbereiten Rechtsextremismus und den Isla-
mismus – jeweils in einer zentralen und standardisier-
ten Datei gespeichert werden.

Dass das sogenannte Trennungsgebot dieser Art des
Datenaustauschs nicht entgegensteht und ausrei-
chende Vorkehrungen zum Schutz der personenbezo-
genen Daten getroffen sind, hat das Bundesverfas-
sungsgericht im vergangenen Jahr in den Blick
genommen. Die Korrekturen, die das Gericht an den
bestehenden Gesetzen gefordert hat, gehen wir mit
dem vorliegenden Entwurf an. Dabei geht es unter an-
derem um die Definition bestimmter Merkmale, um
den Rahmen, in dem Kontaktpersonen gespeichert
werden können, um verdeckte Speicherungsmöglich-
keiten oder die Inverssuche.

Die Antiterrordatei wurde auch aufwändig evalu-
iert. Solche Evaluationen sind wichtig, weil sie zeigen,
wie Gesetze in der Praxis wirken und an welchen Stel-
len Bedarf für Nachbesserungen oder Korrekturen be-
steht. Das betrifft einerseits die Technik, andererseits
die Gesetzgebung. Die Ergebnisse dieser Evaluation
möchte ich hier nicht im Einzelnen ansprechen. Zwei
Punkte scheinen mir aber wichtig.

Zum einen hat die Evaluation gezeigt, dass es aus
Sicht der Nutzer der Datei in den Sicherheitsbehörden
ein wichtiger Fortschritt für ihre Arbeit wäre, wenn sie
auch komplexere Abfragen über den Datenbestand
durchführen könnten. Etwa dass zum Beispiel Verknüp-
fungen zwischen Personen, Gruppierungen und Objek-
ten direkt in der Datei hergestellt werden können.
Erste Erfahrungen mit solchen gemeinsamen Projek-
ten gibt es auch schon mit der Rechtsextremismusda-
tei. Wir haben deshalb vor, mit diesem Gesetz eine ähn-
liche Möglichkeit – wenn auch in eingeschränkterem
Maße – für die Antiterrordatei zu schaffen.

Die Evaluierung der Antiterrordatei hat zum ande-
ren gezeigt, dass die Datei als ein wichtiges Element
zur verbesserten Zusammenarbeit und Kommunikation
zwischen den Sicherheitsbehörden in Deutschland bei-
getragen hat. Und die Evaluierung der Rechtsextre-
mismusdatei – da bin ich sehr zuversichtlich – wird
dies in den nächsten Jahren zeigen.

Natürlich können dabei gemeinsame Dateien nur
ein Element einer verbesserten Zusammenarbeit sein,
das durch weitere Formen der Zusammenarbeit er-
gänzt werden muss. Das ist in den vergangenen Jahren
mit der Etablierung der gemeinsamen Zentren, in de-
nen Mitarbeiter verschiedener Sicherheitsbehörden
zusammenarbeiten, erfolgreich gelungen. Eventuell
vorhandenes Misstrauen wurde abgebaut, und Exper-
tennetzwerke haben sich intern herausgebildet.

Genau diese Zusammenarbeit ist der Weg, den wir
in einer globalisierten und vernetzten Welt, in der Be-
drohungen und Gefährdungslagen immer komplexer
werden, gehen müssen. Und das tun wir mit diesem
Gesetz.


Uli Grötsch (SPD):
Rede ID: ID1803929000

Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf ei-

nes Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzes
und anderer Gesetze. Nach dem Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts, BVerfG, vom 24. April 2013 wird
diese Änderung notwendig, und ich bin mir sicher,
dass wir die notwendigen Änderungen bis zur durch
Zu Protokoll gegebene Reden





Uli Grötsch


(A) (C)



(D)(B)

das Verfassungsgericht gesetzten Frist zum 31. Dezem-
ber dieses Jahres auch bewerkstelligen können.

Die Antiterrordatei, ATD, hat sich seit ihrer Einfüh-
rung in jeglicher Hinsicht bewährt: Schon alleine der
Umstand, dass sie von den deutschen Sicherheitsbe-
hörden wie dem Bundeskriminalamt, der Bundespoli-
zeidirektion, den Landeskriminalämtern, den Verfas-
sungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, dem
Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrich-
tendienst und dem Zollkriminalamt als Verbunddatei
verwendet werden kann, umreißt die Bedeutung und
den Stellenwert für die Arbeit der genannten Sicher-
heitsbehörden eindrucksvoll. Vernetzt zu arbeiten und
damit effektiv bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus arbeiten zu können, sind wichtige
Aspekte, die den nachweisbaren Erfolg der ATD kenn-
zeichnen.

Wir alle wissen, dass das Bundesverfassungsgericht
die Verfassungsmäßigkeit der ATD im Grundsatz wie
erwartet bestätigt hat. Überraschend ist das sicherlich
nicht. Schließlich speichert die ATD keine neuen Da-
ten, sondern führt bereits gespeicherte Erkenntnisse
der jeweiligen Behörden zusammen.

Auch der ebenfalls heute auf der Tagesordnung ste-
hende und im Gesetz vorgesehene Evaluierungsbericht
nach fünf Jahren bestätigt, dass die ATD den Informa-
tionsaustausch zwischen den Behörden in der Terroris-
musbekämpfung verbessert hat. Das halte ich für einen
sehr wichtigen Aspekt des Evaluierungsberichts: Die
Einführung ist ein Erfolg und schafft mehr Effektivität
bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
in all seinen Erscheinungsformen.

Natürlich gibt es auch Bedenken im Hinblick auf
den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte eines
Menschen. Jeder Eingriff muss natürlich einer Güter-
abwägung standhalten.

Es gibt aber auch geradezu wahnhafte Gerüchte
über willkürliche Speicherungen und Abfragen von
Personendaten. Deshalb möchte ich einen für mich
entscheidenden Satz aus dem Evaluierungsbericht zi-
tieren:

„Von der Eilfallregelung nach § 5 Absatz 2 ATDG,
wonach die abfragende Behörde unmittelbaren Zugriff
auf die erweiterten Grunddaten nehmen darf, wenn
dies aufgrund bestimmter Tatsachen zur Abwehr einer
gegenwärtigen Gefahr unerlässlich ist, wurde nur ein
einziges Mal Gebrauch gemacht.“

Das heißt: Im Berufsalltag wird höchst sensibel mit
diesen Daten umgegangen. Kein Wunder also, dass die
Eilfallregelung vom BVerfG nicht beanstandet wurde.

Gemäß dem Urteil des BVerfG nimmt die Bundesre-
gierung einige „Nachjustierungen“ in der konkreten
Ausgestaltung von einzelnen Vorschriften vor, etwa
dass nur derjenige Unterstützer einer terrorismusun-
terstützenden Gruppierung gespeichert werden darf,
der auch willentlich und in Kenntnis der terroristi-
schen Tätigkeiten diese Gruppierung fördert.
Außerdem wird künftig das Merkmal des „Befür-
wortens“ von Gewalt konkretisiert: Es muss Anhalts-
punkte dafür geben, dass die Person tatsächlich Ge-
walt anwenden, unterstützen oder vorbereiten will.

Auch die Regelungen zur sogenannten Inverssuche
werden ergänzt. Hierbei handelt es sich um merkmals-
bezogene Recherchen in den erweiterten Grunddaten,
die der abfragenden Behörde im Trefferfall weiterfüh-
rende Informationen vermitteln und unmittelbar Zu-
gang zu den einfachen Grunddaten verschaffen. Das
wird es nicht mehr geben, denn künftig wird der Zu-
griff bei der Inverssuche nur auf die Grunddaten, die
Nennung der informationsführenden Behörde und das
Aktenzeichen beschränkt.

Neu ist auch, dass das BKA erstmals zum 1. August
2017 und dann alle drei Jahre dem Bundestag und der
Öffentlichkeit über den Datenbestand und die Nutzung
der ATD berichten muss.

Daten, die durch Eingriffe in das Telekommunika-
tionsgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung
gewonnen wurden, werden künftig nur noch verdeckt
eingestellt, sodass sie nur angezeigt werden dürfen,
wenn die datenbesitzende Behörde aufgrund einer An-
frage nach Vorliegen der Übermittlungsvoraussetzun-
gen die Daten freigegeben hat.

Ich bin mir sicher, dass diese Änderungen die
Transparenz der ATD erhöhen und damit die noch im-
mer vorhandenen Ängste in der Bevölkerung ausräu-
men können.

Entsprechend werden die genannten Änderungen
auch für die Rechtsextremismusdatei vorgenommen,
weil das Urteil des BVerfG auch diese Verbunddatei
betrifft.

Eine weitere Änderung im ATD-Gesetz betrifft die
erweiterte Datennutzung, die auch bereits in der
Rechtsextremismusdatei möglich ist. Diese soll nun ge-
mäß der Koalitionsvereinbarung auch für die ATD ge-
schaffen werden. Bei einer erweiterten Nutzung kann
die beteiligte Behörde zur Terrorismusbekämpfung
einzelfallbezogen Daten zum Beispiel zu Personen,
Gruppierungen und Institutionen sammeln, statistisch
auswerten und Zusammenhänge herstellen.

Diese Recherchemöglichkeit wird aufgrund der
weitreichenden Eingriffe nur zeitlich befristet möglich
und muss auf Antrag angeordnet bzw. dann auch ge-
nehmigt werden; die Zugriffsberechtigung ist auf einen
engen Personenkreis beschränkt.

Auch der Evaluierungsbericht sagt aus, dass erwei-
terte „Auswerte- und Analysefunktionen“ erforderlich
seien und „die fehlende Möglichkeit, Daten innerhalb
der ATD miteinander zu verknüpfen und weiterfüh-
rende Analysen zu betreiben, nachteilig seien“. Das
sagen uns diejenigen, die in ihrem Arbeitsalltag mit
der ATD zu tun haben.

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
23. Mai 2014 Bedenken bezüglich der Einführung der
Zu Protokoll gegebene Reden





Uli Grötsch


(A) (C)



(D)(B)

erweiterten Nutzung angemeldet. Das mag nicht unbe-
rechtigt sein, denn natürlich handelt es sich um einen
sehr sensiblen Grundrechtsbereich, aber ich bin mir
sicher: Das hat auch der zuständige Innenminister vor
Augen gehabt und war sich dessen bewusst. Und des-
sen sind sich auch in diesem Zusammenhang die Men-
schen bewusst, die die Datei verwenden. Das hat der
Evaluierungsbericht, wie schon erwähnt, gezeigt.

Diese Tatsache entbindet das Parlament natürlich
nicht davon, genau hinzuschauen. Wir werden uns in
den Ausschüssen mit diesem Gesetz beschäftigen und
die verfassungsmäßigen Bedenken prüfen.

Fest steht, dass die ATD sich in der Praxis bewährt
hat und ihr Ziel erfüllt. Ich bin mir sicher, dass wir ein
gutes Gesetz auf den Weg bringen werden.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803929100

Wir verhandeln heute ein von der Bundesregierung

eingebrachtes Gesetz zur Änderung der seit 2007 be-
stehenden Antiterrordatei. Dies wurde notwendig, weil
das Bundesverfassungsgericht die bisherige Datei im
April letzten Jahres in mehreren entscheidenden Punk-
ten für gesetzeswidrig erachtete. Die heute von der Re-
gierung vorgeschlagenen Änderungen betreffen zum
Teil auch die nach dem Vorbild der Antiterrordatei ge-
klonte Rechtsextremismusdatei.

Bei diesen Dateien handelt es sich um Datenpools,
zu denen 38 Landes- und Bundespolizeibehörden und
Geheimdienste – die Verfassungsschutzämter, der Bun-
desnachrichtendienst und der Militärische Ab-
schirmdienst – gemeinsamen Zugriff haben. Nur ein-
mal zur Dimension: Die Antiterrordatei enthält mehr
als 17 000 Datensätze, bis 2013 erfolgten 350 000 Such-
anfragen der Polizeien und Geheimdienste.

Die Linke hat die Schaffung solcher Verbunddateien
von Anfang an aus grundsätzlichen bürgerrechtlichen
Erwägungen abgelehnt. Denn hier wird das als Lehre
aus den Erfahrungen mit der Gestapo unter dem
Nazi-Regime geltende grundgesetzliche Trennungsge-
bot von Polizei und Geheimdiensten weiter unterlau-
fen.

Leider ging das Bundesverfassungsgericht bei sei-
ner Kritik nicht so weit. Doch selbst gemessen an den
Rügen des höchsten deutschen Gerichts an der bisheri-
gen Handhabung dieser Datei ist der vorliegende Ge-
setzentwurf ein Affront. Denn unter dem Vorwand der
verfassungskonformen Ausgestaltung will die Bundes-
regierung die Datennutzung sogar noch erweitern, wie
das bei der Rechtsextremismusdatei bereits Praxis ist.
So sollen ein Data Mining unter Einbeziehung mehre-
rer Datensätze aus verschiedenen Datenbeständen und
eine statistische Auswertung ermöglicht werden. Mit
anderen Worten: Die Fähigkeiten zur digitalen Raster-
fahndung von Polizeien und Geheimdiensten sollen
ausgeweitet werden.

Kritik an diesem Ansinnen erfolgte am 23. Mai
durch den Bundesrat. Die Landesregierungen haben
darin einer „erweiterten Datennutzung“ durch eine
ausgeweitete Suchfunktion eine Absage erteilt. Der
Bundesrat verweist auf die noch ausstehende Evaluie-
rung dieser Funktion im Falle der Rechtsextremismus-
datei. Doch die Bundesregierung hält es nicht einmal
für nötig, das Ergebnis dieser Überprüfung abzuwar-
ten. Offensichtlich lässt auch die Stellungnahme des
Bundesrates die Regierung kalt – so wie die Regierung
die Kritik des Bundesverfassungsgerichts mit Gering-
schätzung behandelt.

Das Gericht hatte die Speicherung von sogenannten
„Befürwortern“ von Gewalt als Mittel zur Durchset-
zung politischer oder religiöser Ziele kritisiert. Weil
diese Bewertung auf einer „inneren Haltung“ beruhe,
könne sie zu einer einschüchternden Wirkung bei der
Wahrnehmung der Freiheitsrechte führen, so das Ge-
richt.

Ich möchte es noch deutlicher benennen: Es geht
hier schlicht um Gesinnungsjustiz – und die darf in ei-
nem Rechtsstaat keinen Platz haben.

Jetzt will die Bundesregierung die Formulierung so
ändern, „dass es Anhaltspunkte geben muss, dass die
Person tatsächlich Gewalt anwenden, unterstützen,
vorbereiten oder hervorrufen will“. Das Deutsche In-
stitut für Menschenrechte hat klargestellt, dass hier
weiterhin in unzulässiger Weise ein Rückschluss auf
die „innere Haltung“ erfolgt.

Die Bundesregierung will also die bisherige rechts-
widrige Praxis einfach mit neuen Worten fortschrei-
ben. Es ist schon ungeheuerlich, wie hier versucht
wird, das höchste deutsche Gericht an der Nase he-
rumzuführen.

In der Antiterrordatei sind eben nicht nur Terrorver-
dächtige, sondern auch zahlreiche sogenannte „Befür-
worter“, „Unterstützer“ und „Kontaktpersonen“ ge-
speichert – Menschen, die sich nichts zuschulden
kommen ließen und vielleicht gar nicht wussten, mit
wem sie in Kontakt standen. Dass es sich hier nicht um
Paranoia handelt, zeigte erst vor drei Wochen das Er-
gebnis einer Überprüfung von Daten beim niedersäch-
sischen Verfassungsschutz durch eine eigens dafür ein-
gesetzte Task Force. Rund 40 Prozent der überprüften
Personendaten waren illegal gespeichert. Betroffen
waren Menschen, die sich völlig legal in Bürgerinitia-
tiven politisch engagieren. Gespeichert wurden Mus-
lime, die in den – nach Meinung der Schlapphüte – fal-
schen Moscheen beten. Selbst Minderjährige wurden
erfasst. Das Beispiel Niedersachsen zeigt, wohin die
unkontrollierte Datensammelwut der Dienste führt.
Und dabei bleibt es ja nicht. Anschließend haben über
die gemeinsame Verbunddatei auch die Ermittlungsbe-
hörden und Geheimdienste der anderen Bundesländer
Zugriff auf solche unrechtmäßig erfassten Daten.

Schon zum Schutze solcher zu Unrecht erfassten
Personen sollten Geheimdienste keinen Zugriff mehr
auf die Antiterrordatei erhalten – als ersten Schritt zur
Abschaffung dieses Datenmonsters.

Die Linke bleibt dabei: Bürgerrechte dürfen nicht
im Namen der Sicherheit geopfert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803929200

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem

Grundsatzurteil vom April 2013 erstmals das informa-
tionelle Trennungsprinzip zwischen Polizeien und
Nachrichtendiensten ausdrücklich anerkannt und aus
dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
abgeleitet. Die Konturen der unterschiedlichen Aufga-
ben der Sicherheitsbehörden und auch des verfas-
sungsrechtlichen Trennungsgebotes wurden damit
deutlich geschärft. Das Bundesverfassungsgericht hat
hohe Anforderungen an die informationelle Trennung
von Polizei und Nachrichtendiensten formuliert. Daraus
ergibt sich ein enormer Prüf- und Handlungsbedarf,
der weit über das Antiterrordateigesetz hinausreicht.
Und nur deshalb hat das Bundesverfassungsgericht
dem Gesetzgeber eine Umsetzungsfrist für das Urteil
eingeräumt: Sie läuft noch bis zum 31. Dezember
2014.

Nach diesem Urteil ist es unsere Aufgabe, die Da-
tenübermittlungsvorschriften in den Sicherheitsgeset-
zen am Maßstab der Verfassung neu zu überprüfen und
zu reformieren – da gibt es zum Beispiel auch dringen-
den Handlungsbedarf bei § 19 Bundesverfassungs-
schutzgesetz. Das hat die Innenministerkonferenz auch
schon so gesehen. Außerdem geht es in dieser Sache
nicht nur um die gemeinsamen Dateien. Wir brauchen
nach diesem Urteil auch zwingend eine gesetzliche
Grundlage für die Gemeinsamen Abwehrzentren wie
das GETZ – soweit der Betrieb überhaupt noch verfas-
sungskonform möglich ist. Und wir brauchen eine
deutlich bessere Bund-Länder-übergreifende externe
Kontrolle der Zusammenarbeit von Polizeien und
Nachrichtendiensten.

Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht
leider völlig an den Erfordernissen, die sich aus dem
Urteil ergeben, vorbei. So wird sogar noch die verfas-
sungswidrige erweiterte Datennutzung, die bisher nur
in der Rechtsextremismusdatei möglich war, nun auch
für die Antiterrordatei neu einführt. Und dass die Ge-
setzesgrundlagen beider Dateien entfristet werden
sollen, obwohl keine von beiden je einer unabhängigen
grundrechtsorientierten Evaluierung unterzogen
wurde, erweckt bei mir den Eindruck, als interessiere
die Bundesregierung die Wahrung der Grundrechte in
der Sicherheitspolitik nicht. Das zeigt sich auch darin,
dass uns die Bundesregierung das unabhängige
rechtswissenschaftliche Gutachten aus der letzten
Wahlperiode zur Evaluierung der Antiterrordatei bis
heute nicht vorgelegt hat.

Mit diesem Gesetzentwurf missachtet die Bundesre-
gierung das Grundrecht auf informationelle Selbstbe-
stimmung und ignoriert die Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts. Das können wir so nicht hinnehmen
und deshalb müssen wir hier im Deutschen Bundestag
dafür sorgen, dass die Anforderungen des Bundesver-
fassungsgerichtsurteils berücksichtigt werden. Wir ha-
ben in der Fraktion bereits ein öffentliches Fachge-
spräch zu den Konsequenzen des Urteils durchgeführt.
Im Innenausschuss haben wir eine Sachverständigen-
anhörung zu diesem Gesetzentwurf beantragt. Wir
werden nicht aufhören, für den Datenschutz, die Wah-
rung des Trennungsgebotes zwischen Polizeien und
Nachrichtendiensten und für eine verfassungskon-
forme Sicherheitsarchitektur zu kämpfen.

D
Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1803929300


Das Antiterrordateigesetz von 2006 war eine von
zahlreichen Antworten auf die gewachsene Bedrohung
durch den internationalen Terrorismus. Durch die Ein-
richtung einer gemeinsamen Fundstellendatei wollten
wir – nicht zuletzt im Licht der Anschläge von Madrid
im März 2004, bei denen 191 Menschen getötet und
über 1 900 verletzt wurden – die Zusammenarbeit und
die Kontaktaufnahmemöglichkeiten der zuständigen
Behörden verbessern.

Dank der Datei kann ein Behördenmitarbeiter, der
im Bereich des internationalen Terrorismus ermittelt
oder aufklärt, schnell herausfinden, ob zu einer be-
stimmten Person auch bei anderen Behörden bereits
Informationen vorhanden sind und an wen er sich wen-
den muss.

Und im Eilfall, wenn Gefahr im Verzug ist und nie-
mand in der anderen Behörde erreichbar, kann die Be-
hörde auch die erweiterten Grunddaten freischalten.
Das ist bislang genau einmal vorgekommen und bestä-
tigt zweierlei: zum einen, wie zurückhaltend und ver-
antwortungsvoll die Behörden mit dieser Datei und ih-
ren Befugnissen umgehen. Zum anderen aber zeigt
dieser konkrete Einzelfall auch, wie wichtig solche Eil-
klauseln sind:

So konnte der Terrorismusverdacht gegen einen Be-
troffenen, der am Wochenende im Rahmen einer kon-
kreten Terrorismusfahndung mit mehreren gefälschten
Pässen angetroffen wurde, schnell entkräftet werden,
obwohl er wegen Namensgleichheit mit einem anderen
Verdächtigen einen Treffer in der ATD hatte.

Dass die Datei so funktioniert, wie wir uns das vor-
gestellt haben, hat die gesetzliche Evaluierung in der
letzten Legislaturperiode gezeigt. Ganz eindeutig ha-
ben die befragten Mitarbeiter, die mit der Datei arbei-
ten, bestätigt, dass diese die Zusammenarbeit insge-
samt verbessert hat.

Noch während die Evaluierung lief, hat ein anderes
tragisches Ereignis gezeigt, dass sich das terroristi-
sche Täterpotenzial nicht auf den islamistischen Terro-
rismus beschränkt. Die Aufdeckung der Mordserie des
NSU hat uns deutlich vor Augen geführt, wie dringend
wir die Zusammenarbeit der zahlreichen Sicherheits-
behörden in Deutschland auch im Bereich des gewalt-
bereiten Rechtsextremismus verbessern müssen.

Einer der ersten Schritte war daher auch hier, nach
dem Vorbild der ATD eine Rechtsextremismusdatei
einzurichten.

Gerade vor dem Hintergrund des NSU und den Er-
gebnissen, die auch der parlamentarische Untersu-
Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)

chungsausschuss hierzu in der letzten Legislaturpe-
riode gebracht hat, wirkt das Urteil des BVerfG vom
24. April 2013 zur ATD beinahe anachronistisch,
schreibt es doch erstmals ein verfassungsrechtliches
informationelles Trennungsprinzip fest, das den Aus-
tausch von personenbezogenen Daten zwischen Poli-
zei- und Strafverfolgungsbehörden einerseits und den
Verfassungsschutzbehörden andererseits nur unter be-
stimmten Voraussetzungen gestattet.

Aber im Kern bestätigt auch das BVerfG die ATD
– und implizit auch die RED – als sinnvolle Einrich-
tung für die Fälle, in denen eine schnelle und unkom-
plizierte Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Be-
hörden notwendig wird.

Daher beschränken sich die Änderungen auch auf
wenige, wenngleich entscheidende Punkte. So fassen
wir die Definition der Personen, die in den beiden Da-
teien gespeichert werden, etwas enger, insbesondere
werden Kontaktpersonen nur noch mit wenigen Ele-
mentardaten, die zur schnellen Identifizierung und
Kontaktaufnahme notwendig sind, zu den Hauptperso-
nen gespeichert und können nicht mehr eigenständig
in den Dateien gesucht werden.

Außerdem werden künftig Daten, die aus Eingriffen
in das Fernmeldegeheimnis oder durch Maßnahmen
der Wohnraumüberwachung gewonnen wurden, nur
noch verdeckt eingestellt, sind also auch über die Eil-
fallregelung nicht abrufbar. Mit weiteren Maßnahmen
wie der Veröffentlichung der ergänzenden Verwal-
tungsvorschriften und einem regelmäßigen Tätigkeits-
bericht des BKA an den Bundestag erhöhen wir zudem
die Transparenz der Dateien. Und ein Novum ist auch,
dass die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder die Dateiführung nicht nur vollumfänglich
kontrollieren dürfen. Hierfür hatte bereits das alte Ge-
setz eine revisionssichere Vollprotokollierung aller Zu-
griffe auf die Dateien vorgeschrieben.

Zukünftig müssen sie – den Vorgaben des BVerfG
entsprechend – mindestens alle zwei Jahre Kontrollen
durchführen.

Eine Änderung im ATDG ist allerdings nicht auf das
BVerfG zurückzuführen. Im Zuge der Evaluierung der
ATD ist eine Forderung der Nutzer immer wieder auf-
getaucht: Der bloße Fundstellennachweis, wenn man
bereits einen konkreten Verdächtigen hat, hilft zwar bei
der Informationsverdichtung. Aber gerade wenn man
aufgrund weniger spezifischer Hinweise nach Tätern
suchen muss, wie das ja bei den NSU-Morden der Fall
war, wären erweiterte Suchmöglichkeiten äußerst hilf-
reich.

Und in der Tat: Wenn man moderne Suchmaschinen
kennt, muten die Eingabemasken für die Suche in der
ATD oder RED reichlich altbacken an, was in diesem
Fall nicht der schlechten IT-Ausstattung der Polizei,
sondern den gesetzlichen Restriktionen geschuldet ist.

Nun widerspräche aber eine Suchmöglichkeit, wie
wir sie von Google kennen, klar den Vorgaben des
BVerfG, das gerade die Funktion als Fundstellennach-
weis betont hat.

Daher zielt die eng begrenzte Erweiterung der Anti-
terrordatei hinsichtlich einer Auswerte- und Analyse-
fähigkeit darauf ab, dass nur bereits erhobene Daten
von einer an der ATD beteiligten Behörde systematisch
recherchiert werden können. Dabei werden hohe for-
melle und materielle Maßstäbe an die Zulässigkeit sol-
cher Auswerte- und Analyseprojekte angelegt.

Insgesamt legen wir damit einen guten und prakti-
kablen Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag vor,
der zwei Ziele erreicht: nämlich die Einhaltung der
verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen
Vorgaben auf der einen Seite und die Erfüllung der
praktischen Anforderungen an eine effektive Recher-
che in den für die Terrorbekämpfung notwendigen Da-
tenbeständen auf der anderen Seite.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803929400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 18/1565 und 17/12665 (neu) an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung des nationalen Steuerrechts an den Bei-
tritt Kroatiens zur EU und zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
Drucksache 18/1529
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.


Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1803929500

Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zur

Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt
Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerli-
cher Vorschriften. Ein zugegebenermaßen etwas sper-
riger Titel für ein Gesetz, welches überwiegend Vor-
schriften enthält, die in der Vergangenheit mit den
jeweiligen Jahressteuergesetzen geregelt wurden. So
wollen wir neben der fachlichen Umsetzung der not-
wendigen Anpassungen eine Vielzahl von redaktionel-
len Änderungen und auch Vereinfachungen im Steuer-
recht vornehmen.

Bedeutsam ist, dass im Einkommensteuer-, Körper-
schaft- und Gewerbesteuergesetz eine Neuregelung
und Straffung der Anwendungsregelungen erfolgt, wo-
durch insgesamt über 100 Absätze gestrichen werden
können. Abbau von Bürokratie auch und gerade im
Steuerrecht ist uns ein Anliegen. Diesem Ansinnen ha-
ben wir auch im Koalitionsvertrag entsprechend Rech-
nung getragen und setzen dies konsequent mit dem





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

vorliegenden Gesetzentwurf gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner um.

Fakt ist, dass der Abbau von unnötiger Bürokratie
die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen stärkt
und zudem auch zu einer leistungsfähigeren Verwal-
tung führt. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart,
dass Gesetze einfach, verständlich und zielgenau aus-
gestaltet sein müssen. Bei der Steuergesetzgebung sind
die Anforderungen „einfach“ und „verständlich“ zu-
gegebenermaßen oft nur sehr schwer zu erreichen.
Nicht selten ist es so, dass die wünschenswerte Ein-
fachheit dem notwendigen Gerechtigkeitsgedanken
nicht immer zuträglich ist. Vereinfachen bedeutet oft,
Pauschalierungen vorzunehmen. Bei Pauschalierun-
gen gibt es aber immer Gewinner und Verlierer, trotz
der damit verbundenen Entbürokratisierung, welche
den Bürgern und der Verwaltung zugutekommt.

Ich freue mich daher umso mehr, dass wir der Ent-
bürokratisierung weiter entgegengehen und unser
Steuerrecht – wie im vorliegenden Gesetzentwurf – von
unnötigen Regelungen befreien, sozusagen entrüm-
peln.

Die Jahressteuergesetze stehen da in einer guten
Tradition. Im Rahmen dieser Omnibusgesetze wurde
bislang eine Vielzahl von Entbürokratisierungsmaß-
nahmen umgesetzt. So weit die bisherige bewährte
Praxis, an die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
nahtlos anknüpfen wollen.

Ein weiterer wichtiger Punkt der Gesetzesvorlage
ist, dass zukünftig alle Einrichtungen zur ambulanten
Rehabilitation in die Gewerbesteuerbefreiung einbe-
zogen werden. Sie werden damit den stationären Ein-
richtungen gleichgestellt.

Weiterer wesentlicher Inhalt des Entwurfs ist im Be-
reich der Vereinfachungen beispielsweise die Wieder-
einführung der Fifo-Methode beim Handel mit Fremd-
währungsbeträgen. Mit der Wiedereinführung lösen
wir die mit jedem weiteren Kauf und Verkauf von
Fremdwährungsbeträgen komplizierter werdende
Durchschnittsmethode ab, welche wir mit der Geltung
der Abgeltungsteuer eingeführt haben.

Im Bereich der Umsatzbesteuerung wollen wir die
Einführung einer eigenständigen Umsatzsteuerbefrei-
ungsnorm für Arbeitsmarktdienstleistungen nach dem
SGB II und dem SGB III schaffen.

Die Umsatzsteuerbefreiung dient der zielgerichte-
ten Umsetzung der europäischen Mehrwertsteuer-
Systemrichtlinie, die für die mit der Sozialfürsorge und
der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen Um-
satzsteuerfreiheit vorsieht.

Der Entwurf ist schon gut, bei den kommenden Be-
ratungen werden wir aber sicherlich noch die eine
oder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz aufneh-
men.

Ein Punkt, den wir bei den Beratungen intensiv
prüfen werden, wird die Steuerschuldnerschaft des
Leistungsempfängers bei Bauleistungen und bei Ge-
bäudereinigungsleistungen nach der aktuellen Recht-
sprechung des BFH sein. Die Rechtsprechung sorgte
jedenfalls in der Bau- und Handwerksbranche für er-
hebliche rechtliche Unsicherheit. Wir wollen jedoch
möglichst präzise Gesetze, welche für die Bürger und
Unternehmen klar sind. Die Beratungen und auch die
anstehende Sachverständigenanhörung bleiben hier
abzuwarten.

Da die Gesetzvorlage bisher lediglich politisch
unproblematische Regelungen zum Inhalt hat, dürfte
einer zügigen Umsetzung und dem Abschluss des Ge-
setzgebungsverfahrens nichts entgegenstehen.

Die Beratungsbranche und die Praxis wird mit Er-
leichterung zur Kenntnis nehmen, dass wir die hier ge-
troffenen Regelungen nicht erst kurz vor Abschluss des
Kalenderjahres, sondern weit vorher beschließen wer-
den.

Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachver-
ständigenanhörung und auf gute Beratungen in den
nächsten Wochen – auch mit der Opposition.


Andreas Schwarz (SPD):
Rede ID: ID1803929600

Zur mittlerweile fortgeschrittenen Stunde will ich

Ihnen detaillierteste Ausführungen zum Gesetzentwurf
der Bundesregierung ersparen, da wir auch immer
noch ganz am Anfang des Verfahrens stehen, aber auf
einige wenige Punkte möchte ich doch auch weit nach
Sonnenuntergang eingehen.

Es ist immer wieder spannend, was sich so alles hin-
ter Gesetzesbezeichnungen verbirgt, und wenn man
dann mal genauer reinschaut, entdeckt man allerlei
Überraschendes und Vielfältiges. Ähnlich vielfältig
wie das Land Kroatien ist, so ist auch dieser Gesetz-
entwurf. Hangeln wir uns hierbei doch durch allerlei
steuerliche Regelungen und Richtlinien, die teilweise
sogar Kroatien betreffen.

Zu einem nicht unwesentlichen Teil handelt es sich
beim vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung um die Anpassung geltenden Rechts an den be-
reits zurückliegenden Beitritt Kroatiens zur Europäi-
schen Union. Dies sind weitestgehend unstrittige
redaktionelle oder rechtsförmliche Anpassungen, die
geschehen müssen, um bestehende Gesetze an den Bei-
tritt Kroatiens anzupassen. Ich denke da etwa an die
Anpassung der Mutter-Tochter-Richtlinie oder der An-
passung der Richtlinie über die Zins- und Lizenz-
gebühren.

Aber die Bundesregierung nutzt, und das begrüßen
wir als SPD-Bundesfraktion ausdrücklich, die Gele-
genheit, die Steuergesetzgebung auch etwas zu ent-
schlacken, teils über redaktionelle Änderungen, teils
aber auch durch berechtigte Straffung des Gesetzes-
textes. Denken wir etwa an die Neufassung der Anwen-
dungsregelungen in § 52 des Einkommensteuergeset-
zes, in dem nun statt 150 Absätzen künftig nur noch
48 Absätze stehen sollen. Das vereinfacht es nicht un-
Zu Protokoll gegebene Reden





Andreas Schwarz


(A) (C)



(D)(B)

wesentlich den Gesetzestext zu nutzen, aber auch erst
einmal zu verstehen.

Neben den zahlreichen technischen und redaktio-
nellen Änderungen und rechtlichen Klarstellungen
gibt es aber auch tatsächlich substanzielle Änderun-
gen, die wir begrüßen und die es vor allem auch den
Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in unserem
Land erleichtern sollen, ihre Arbeit weiterhin so gut zu
verrichten. Die nun einzuführende Regelung, dass
künftig die Steuer-ID des Unterhaltsempfängers auf
der Steuererklärung des Unterhaltspflichtigen genannt
werden muss, erleichtert es, Missbrauch zu vermeiden,
und ist der richtige Schluss aus der berechtigten Kritik
der Rechnungshöfe.

Die Anhebung des Grenzbetrages für die jährliche
Abgabe der Lohnsteueranmeldung von 1 000 Euro auf
1 080 Euro ist logisch und nachvollziehbar und entlas-
tet die Steuerverwaltung genauso wie die Arbeitgeber.
Wir unterstützen das.

Zwei notwendige Schritte im Rahmen des Einkom-
mensteuergesetzes werden angepackt, bei denen ich
mich besonders auf die Beratungen und Diskussionen
im Finanzausschuss freue, weil ich der festen Überzeu-
gung bin, das wir dort alle gemeinsam einen Schritt
vorankommen wollen. Zum einen richtet sich der Ge-
setzentwurf gegen Modelle, bei denen „gebrauchte“
Versicherungen von Versicherungsnehmern an Dritte
– häufig Versicherungen oder Fonds – verkauft wer-
den. Der Gewinn, den dabei die Käufer erzielen, ist
bisher steuerfrei, und das müssen wir ändern. Es han-
delt sich hierbei häufig um Lebensversicherungen, und
letztlich sind das Wetten auf den Tod, die hier abge-
schlossen werden. Wer daraus Gewinn erzielen will,
der muss darauf auch Steuern zahlen. Das Credo muss
nämlich weiterhin lauten: Risikovorsorge darf steuer-
befreit bleiben, Renditeerwartungen zweckentfremden
jedoch die Versicherung und sollten somit steuer-
pflichtig sein. Hier kommen wir einen weiteren Schritt
voran.

Zum anderen geht es darum, zu vermeiden, dass be-
schränkt Steuerpflichtige ihre Dividendenansprüche
kurz vor dem Stichtag veräußern, um die Steuerpflicht
zu umgehen. Auch hier sieht der Gesetzentwurf sinn-
volle Veränderungen vor, die dieses künftig vermeiden
sollen. Durch die gesetzliche Klarstellung der gelten-
den Rechtslage werden künftig Fehlinterpretationen
vermieden.

Im Bereich der Gewerbesteuer sollen auch Ände-
rungen vollzogen werden, die es zu erwähnen gilt. Die
Erweiterung des Inlandsbegriffes ist aus meiner Sicht
unstrittig. Weitere Veränderungen soll es im Bereich
der ambulanten Rehaleistungen geben. Wer sich ein
wenig mit Rehabilitationsmaßnahmen in unserem
Land beschäftigt, kennt die Entwicklung, dass heutzu-
tage Therapien, die früher immer stationär vollzogen
wurden, heute häufig ambulant geschehen. Dies ge-
schieht häufig auch im Sinne des Patienten. Nun soll es
eine steuerliche Gleichstellung geben, da bisher nur
Krankenhäuser und stationäre Rehaeinrichtungen von
der Gewerbesteuer befreit sind. Der einzige Unter-
schied besteht jedoch in der ausbleibenden Übernach-
tung. Hier sehen wir Handlungsbedarf. Ich denke, der
Gesetzentwurf geht hier in die richtige Richtung.

Aber ein gutes Steuergesetz ändert auch immer eini-
ges in der Umsatzsteuer. Auch hier bin ich sehr ge-
spannt auf die gestern im Finanzausschuss beschlos-
sene Anhörung, weil wir hier den wohl spannendsten
und kontroversesten Teil des Gesetzentwurfes finden
können. Die Steuerbefreiungen für Eingliederungsleis-
tungen nach dem SGB II und der aktiven Arbeitsförde-
rung nach SGB III scheinen mir nachvollziehbar und
richtig zu sein. Ganz ähnlich denke ich über die Steu-
erbefreiung für die Personalgestellung durch religiöse
und weltanschauliche Einrichtungen.

Nun hat uns der Finanzausschuss des Bundesrates
schon eine Stellungnahme übermittelt, die auch noch
einige interessante Änderungsvorschläge beinhaltet,
und ganz besonders spannend ist der Änderungs-
wunsch zu § 13 b Umsatzsteuergesetz. Die Rechtspre-
chung hat hier einiges verändert oder verschlimmbes-
sert – wie man will. Hier geht es um die dringende
Frage, wer denn nun die Umsatzsteuer abführen muss
oder nicht, beispielsweise wenn ich einen Auftrag an
eine Baufirma vergebe und diese ihn an unterschiedli-
che Subunternehmer weitergibt. Wer führt nun die Um-
satzsteuer ab? Das gilt es gesetzlich endlich festzuzur-
ren, um rechtliche Klarheit wiederherzustellen. Aktuell
etwa kann es unter anderem passieren, dass Subunter-
nehmer eigentlich Umsatzsteuer zahlen müssten, aber
eventuell gar nicht mehr existieren. Hier besteht
Handlungsbedarf, und den hat der Bundesrat in seiner
Weisheit entdeckt und einen praktikablen Vorschlag
gemacht, den wir mit in die Beratungen im Ausschuss
nehmen und auch in der Anhörung mit den Verbänden
diskutieren werden.

Es bewahrheitet sich also wie so häufig das Struck-
sche Gesetz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so,
wie es reingekommen ist. Ich freue mich auf die Bera-
tungen im Ausschuss und die gemeinsame Arbeit.


Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803929700

Der Entwurf, den uns die Bundesregierung hier vor-

gelegt hat, heißt ganz unscheinbar „Gesetz zur Anpas-
sung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroa-
tiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher
Vorschriften“. Man könnte also denken, hier gehe es
nur um ein, zwei kleine Änderungen, die durch den
Kroatien-Beitritt notwendig geworden wären.

Tatsächlich aber setzen Sie, meine Damen und Her-
ren von der Bundesregierung, uns hier ein neunzigsei-
tiges Monstrum vor, das auf den ersten Blick nur sehr
schwer zu durchschauen ist. Sie sehen in dem Entwurf
so viele Gesetzesänderungen vor, dass er teils sogar
schon als „heimliches Jahressteuergesetz 2014“ be-
zeichnet wird.
Zu Protokoll gegebene Reden





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)

Zwar will ich Ihnen, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung, erst einmal zugestehen, dass es
sich bei vorliegendem Gesetzentwurf zu großen Teilen
auch um eine begrüßenswerte Entrümpelungsmaß-
nahme im völlig unüberschaubaren Wust des Steuer-
rechts handelt. Dass Sie zum Beispiel längst überholte
Paragrafen im Einkommensteuergesetz streichen, war
sozusagen ohnehin überfällig. Eines können wir näm-
lich mit Bestimmtheit sagen: Jedes kleine bisschen
Mehr an Transparenz und Verständlichkeit ist wün-
schenswert. Das wird jeder bestätigen können, der
schon mal mehr als einen Blick ins deutsche Steuer-
recht werfen musste.

Einige Stellen in Ihrem Entwurf geben aber auch
Anlass zur Sorge. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In
Ihrem Entwurf wollen Sie unter anderem das Gewerbe-
steuerrecht ändern, indem Sie die Liste der Ausnah-
men von der Gewerbesteuerpflicht erweitern. Zwar
mag es sich letztlich gemessen an der Summe der da-
durch bedingten Steuerausfälle hier nur um „Peanuts“
handeln, Sie wissen aber auf der anderen Seite ganz
genau, dass die Gemeinden in Deutschland teilweise
so pleite sind, dass sie auf die Einnahmen aus der Ge-
werbesteuer, und seien es nur „Peanuts“, schlichtweg
nicht verzichten können.

Die Linke hat dies im Gegensatz zu Ihnen erkannt
und erst kürzlich einen Antrag zur Stärkung der Kom-
munalfinanzen eingebracht. Wir fordern statt der Aus-
höhlung der Gewerbesteuer deren Ausbau und Weiter-
entwicklung hin zu einer Gemeindewirtschaftsteuer,
damit die Kommunen ihren öffentlichen Aufgaben end-
lich wieder nachkommen können – kaputte Straßen
und verfallende Schulen und Krankenhäuser gehen zu-
lasten der Bürgerinnen und Bürger; das sollte Ihnen
doch wohl klar sein.

Und wo wir schon dabei sind, hier noch eine weitere
Anregung, die Sie unbedingt beherzigen sollten: In Ih-
rem Sammelsurium von Änderungen, die Sie mit die-
sem Gesetzentwurf vorlegen, müssen Sie dringend
auch den durch die Entscheidung des Bundesfinanz-
hofes aus dem August letzten Jahres angefallenen Re-
formbedarf bei den umsatzsteuerlichen Regelungen
zum Übergang der Steuerschuld bei der Erbringung
von Bauleistungen berücksichtigen. Es kann nicht an-
gehen, dass bei Bauleistungen zwischen zwei Unter-
nehmen am Ende keiner weiß, wer denn nun die Um-
satzsteuer zu zahlen hat. Sie haben hier bereits
entsprechende Änderungen im vorliegenden Gesetz-
entwurf angekündigt. Lassen Sie dem auch Taten fol-
gen.

Letztlich befürchte ich, dass im Zuge der kommen-
den Anhörung im Finanzausschuss noch einiges mehr
in diesem Gesetzentwurf aufgedeckt werden könnte,
was eher schlecht als recht ist. Man könnte ja sogar
auf die Idee kommen, meine Damen und Herren auf
der Regierungsbank, dass Sie uns hier im Vorfeld der
Fußballweltmeisterschaft, wo fast sämtliche Augen-
paare der Republik bereits nach Brasilien gerichtet zu
sein scheinen, noch ein paar unliebsame Überra-
schungen durch diesen Gesetzentwurf unterjubeln wol-
len. Aber wie heißt es doch so schön: ein Schelm, wer
Böses dabei denkt.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1803929800

Das Spannendste bei diesem Gesetzentwurf, den die

Bundesregierung hier vorlegt, sind die Baustellen, die
mit diesem Gesetz nicht berührt werden.

Die Bundesregierung schlägt auf über 80 Seiten Än-
derungen in 15 Gesetzen und 3 Durchführungsver-
ordnungen vor, und am Ende kostet dieses Paket ledig-
lich 20 Millionen Euro pro Jahr? Und selbst diese
20 Millionen beruhen allein auf den Änderungen im
Umsatzsteuer- und Gewerbesteuergesetz. Das Kroa-
tienanpassungsgesetz kommt im Mantel eines Jah-
ressteuergesetzes daher, doch die sehr begrenzte
Aufkommenswirkung zeigt, wie wenig ambitioniert die
vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Statt dringende
Themen anzugehen, präsentieren Sie einen Wust von
Vorschriften, die nichts kosten, aber auch niemandem
etwas bringen.

Sie haben angekündigt, im Baubereich das Reverse-
Charge-Verfahren einführen zu wollen. Wer sich ein-
mal ausführlich mit den Empfehlungen des Bundes-
rechnungshofes zur Reform der Umsatzsteuer oder mit
dem Katalog der Steuersubventionen auseinander-
setzt, stößt auf sehr viel weiter gehende Empfehlungen.
Die Erhebungslücke der Umsatzsteuer gefährdet die
öffentlichen Haushalte. Betriebsprüfungen und Um-
satzsteuersonderprüfungen kommen regelmäßig zu
Mehrergebnissen in Höhe von 4 Milliarden Euro pro
Jahr, die ohne diese Prüfungen im Erhebungsverfah-
ren unter den Tisch gefallen wären. Allein die Steuer-
fahndung sorgt noch für weitere Umsatzsteuermehr-
einnahmen im Umfang von etwa 2 Milliarden Euro.
Diese prüfungsbedingten Mehreinnahmen sind ein
Indiz für den unentdeckt gebliebenen Bereich wirt-
schaftlicher Tätigkeiten, die der Umsatzbesteuerung
entgehen. Zählt man die Niederschlagungen und Insol-
venzen dazu, zeigt sich, wie groß das Ausfallrisiko im
Umsatzsteuersystem ist. Setzen Sie sich intensiver mit
dem Reverse-Charge-Verfahren auseinander, und Sie
werden dem Bundesrechnungshof vielleicht zustim-
men, dass damit erhebliche Ausfälle vermieden werden
könnten.

Die Hotelsteuer ist eine ungerechtfertigte Steuer-
subvention, die zu Steuerausfällen von etwa 1 Mil-
liarde Euro jährlich führt. Ansatzpunkte haben Sie ge-
nug, und parlamentarische Mehrheiten finden Sie
dafür sogar jenseits der Koalitionsmehrheit.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803929900

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 18/1529 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht der Bundesregierung 2013 nach § 7
des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen
Normenkontrollrates

Bessere Rechtsetzung 2013: Erfolge dauerhaft
sichern – zusätzlichen Aufwand vermeiden

Drucksache 18/866
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.


Helmut Nowak (CDU):
Rede ID: ID1803930000

Bürokratieabbau ist eines der zentralen Themen der

Großen Koalition.

Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir wollen
Wirtschaft und Bürger weiter spürbar von unnötiger
Bürokratie entlasten.“ Uns ist es wichtig, diese Verein-
barung in enger Zusammenarbeit mit unserem Koali-
tionspartner einzuhalten.

Als Vorsitzender der AG Bürokratieabbau des Par-
lamentskreises Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion ist
es mir deswegen ein Anliegen, die Bundesregierung
beim Abbau bürokratischer Überregulierung zu unter-
stützen.

Bei der Einsetzung des Nationalen Normenkontroll-
rats 2007 waren Unternehmen in Deutschland mit
rund 50 Milliarden Euro jährlich durch Informations-
pflichten belastet. Um diese Kosten zunächst spürbar
zu senken, wurde ein Nettoabbauziel von 25 Prozent
definiert, was einer Senkung von rund 12 Milliarden
Euro entspricht. Dieses Ziel wurde 2013 erreicht.

Um Bürokratie messbar zu machen, wurde ein
Bürokratiekostenindex geschaffen. Dies macht es zum
ersten Mal möglich, die Kostenentwicklung darzustel-
len.

Im Laufe des Jahres 2013 wurden die Weichen für
eine bessere Gesetzgebungskultur gestellt. Zu nennen
sind hier insbesondere der Beschluss für eine systema-
tische Evaluierung wesentlicher Regelungsvorhaben
sowie gemeinsame Vorarbeiten von Bundesregierung,
Bundestag und Bundesrat für ein elektronisches Un-
terstützungssystem zur Vorbereitung von Regelungs-
entwürfen.

Im Bericht der Bundesregierung wird deutlich, dass
sich die Methodik zur Darstellung des Erfüllungsauf-
wands nach gut zweijähriger Erfahrung bewährt hat.
Die Kontrolle der Gesetzesfolgen innerhalb der Minis-
terien ist nicht nur vorgeschrieben, sondern stellt mitt-
lerweile eine Selbstverständlichkeit dar.

Auch das ist ebenfalls als großer Erfolg zu verbu-
chen. Sowohl in den Ministerien als auch bei Bürgern,
Verbänden, Verwaltung und Unternehmen ist diese
Vorgehensweise auf große Akzeptanz gestoßen. Da-
durch erhalten wir größtmögliche Transparenz für den
Entscheidungsträger und zudem ein realistisches, pra-
xisnahes Bild von den zu erwartenden Folgen einer
Regelung.

Trotz des Erfolges verzeichnet die Bundesregierung
beim jährlichen Erfüllungsaufwand 2013 im Saldo ei-
nen Anstieg um circa 2,4 Milliarden Euro. Davon ent-
fallen laut Nationalem Normenkontrollrat auf die
Wirtschaft 1,71 Milliarden Euro, auf Bürgerinnen und
Bürger 0,47 Milliarden Euro und auf die Verwaltung
0,25 Milliarden Euro. Allein 2,16 Milliarden Euro sind
allerdings auf die Zweite Verordnung zur Änderung
der Energieeinsparverordnung zurückzuführen. Ver-
antwortlich hierfür ist insbesondere die Anhebung der
Energieeffizienzstandards ab 2016.

Mit der Einführung der aktuellen Gesetzentwürfe
zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und zum EEG ist
ebenfalls ein Anstieg des Erfüllungsaufwands auf allen
Ebenen zu erwarten.

Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz beispiels-
weise soll eines der zentralen Vereinbarungen des
Koalitionsvertrags umgesetzt werden. Damit einher
gehen diverse Änderungen im Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz, im Tarifvertragsgesetz und in weiteren Ge-
setzen. Zuständig für die Überprüfung wird die Zoll-
verwaltung sein. All diese Maßnahmen bewirken einen
erheblichen Anstieg des Erfüllungsaufwands.

Eine entsprechende Auswertung zur Darstellung
des Erfüllungsaufwands muss gemäß § 4 Absatz 4
NKR-Gesetz mittlerweile in jedem Gesetz enthalten
sein. Durch die Ermittlung des Erfüllungsaufwands
soll der Gesetzgeber eine angemessene vollständige
Übersicht zu den Kostenfolgen und dadurch eine wich-
tige Entscheidungsgrundlage erhalten.

Der Normenkontrollrat veröffentlichte bereits eine
Stellungnahme, ob die Anforderungen an eine hinrei-
chende Abschätzung und Darstellung der Gesetzesfol-
gen entsprechend den Bestimmungen des NKR-Geset-
zes gegeben sind. Nach dieser Stellungnahme ist die
Darstellung der Regierung in Bezug auf den Erfül-
lungsaufwand jedoch sehr lückenhaft. Kritisiert wird,
dass wesentliche Aufwände wie beispielsweise die Ver-
pflichtung der Zollverwaltung zur Prüfung nicht auf-
geführt werden. Zudem sei den nach dem NKR-Gesetz
geforderten Anforderungen für eine Alternativenprü-
fung nicht entsprochen worden. Genaue Zahlen sind
bislang nicht bekannt. Der zu erwartende Erfüllungs-
aufwand ist aller Voraussicht nach jedoch erheblich.

Auch wenn der Erfüllungsaufwand bereits ein eta-
blierter Mechanismus ist, muss hier weiter nachgebes-
sert werden. Der Prozess zu den aktuellen Gesetzent-





Helmut Nowak


(A) (C)



(D)(B)

würfen zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und auch
zum EEG sind bereits zu weit fortgeschritten, um den
bürokratischen Lasten wirksam entgegenwirken zu
können. Bei zukünftigen Gesetzesvorlagen muss des-
wegen rechtzeitig Einfluss genommen werden. Dazu
bedarf es einer angemessenen Beachtung der Anforde-
rungen des NKR-Gesetzes bei der Darstellung des Er-
füllungsaufwands und vor allem einer rechtzeitigen
und transparenten Kostenübermittlung der zuständi-
gen Ressorts.

Deswegen gilt es nun, auf Grundlage des bereits Er-
reichten das Regierungsprogramm „Bessere Rechts-
setzung“ systematisch weiterzuentwickeln. Nur so kön-
nen wir unsere Zusagen im Koalitionsvertrag für die
18. Legislaturperiode zuverlässig einlösen: „Wir wol-
len bei den Informations- und Nachweispflichten zu ei-
ner Entlastung kommen und den Erfüllungsaufwand
verringern.“

Das aktuelle Arbeitsprogramm „Bessere Rechtsset-
zung 2014“ wurde am 4. Juni veröffentlicht und baut
auf den Entwicklungen des Programms von 2013 auf.

Eines der elementaren Ziele des Programms ist es,
Entlastungen noch spürbarer zu machen. Deswegen
soll der Fokus auf qualitativen Elementen liegen, wie
beispielsweise einer regelmäßigen Befragung von Bür-
gerinnen und Bürgern. Es soll herausgefunden wer-
den, wie innerhalb bestimmter Lebenslagen Kontakt
und Zusammenarbeit mit der Verwaltung wahrgenom-
men wird, um Hinweise zu möglichen Vereinfachungen
und Verbesserungen bei Verwaltungskontakten zu er-
langen. Die Befragungen beginnen 2015. Zahlreiche
Vereinfachungsprojekte für diverse Lebenslagen sollen
initiiert werden, mit dem Ziel, dass die Ergebnisse zu
weiteren spürbaren Entlastungen führen.

Zudem soll der Erfüllungsaufwand bei einer Reihe
von Maßnahmen weiter reduziert werden, beispiels-
weise durch Normenscreenings oder eine Modernisie-
rung des steuerlichen Verfahrensrechts. Der Fokus
liegt hier insbesondere auf der Entlastung kleinerer
und mittlerer Unternehmen sowie einer bürger- und
unternehmensfreundlichen Verwaltung. Ein weiteres
Vorhaben bezieht sich auf die Verbesserung von Recht-
setzungsprozessen, vor allem auf die praktische Erpro-
bung von Maßnahmen sowie deren systematische Eva-
luierung. Um einen besseren Überblick zu erhalten,
soll die Entwicklung des Erfüllungsaufwands künftig
vierteljährlich ermittelt werden.

Wir begrüßen die bisher erzielten Fortschritte sowie
die weiteren Ziele, die die Bundesregierung sich im
Rahmen des Arbeitsprogramms „Bessere Rechtsset-
zung 2014“ gesetzt hat. Diese sind jedoch laut der
ebenfalls am 4. Juni veröffentlichten Stellungnahme
des NKR noch nicht ausreichend. Der Rat bemängelt,
dass im Programm kein neues Abbauziel gesetzt
wurde. Insbesondere vor dem Hintergrund eines stei-
genden Erfüllungsaufwands ist aber ein quantitatives
Abbauziel dringend erforderlich. Zudem regt der Rat
an, die vierteljährliche Ermittlung des Erfüllungsauf-
wands im Sinne von mehr Transparenz auch zu veröf-
fentlichen. Positiv bewertet der Rat die weiteren Be-
mühungen zur Spürbarkeit von Maßnahmen, die einen
qualitativen Ansatz beinhalten.

Das aktuelle Arbeitsprogramm weist in die richtige
Richtung, dennoch besteht noch Verbesserungsbedarf.
Und dafür müssen wir uns konkrete Ziele setzen. Diese
Ziele können wir jedoch nur gemeinsam erreichen. Ge-
meinsam mit den hochspezialisierten Mitarbeitern in
den Ministerien. Gemeinsam mit den betroffenen Ver-
bänden. Gemeinsam mit den betroffenen Bürgern und
Unternehmern. Aber auch gemeinsam mit unseren
Kollegen in Brüssel und der Europäischen Union.
Über 50 Prozent unserer Gesetze kommen von der Eu-
ropäischen Union. Deswegen ist es besonders wichtig,
auch bereits dort anzusetzen, wo sie entstehen.

In den letzten Jahren wurden bereits wichtige
Schritte auf EU- und Mitgliedstaatenebene erreicht.
Ich gehe davon aus, dass das Thema Bürokratieabbau
auch weiterhin in den Mitgliedstaaten, der Kommis-
sion und dem EU-Parlament hohe Priorität genießt.

Im Mai war ich auf der internationalen Konferenz
zum Thema „Smart Regulation“ in Den Haag. Die
Niederlande sind bereits seit Jahren Vorreiter beim
Bürokratieabbau. Ihr 25-Prozent-Nettoabbauziel er-
reichten sie erfolgreich mit einem Ansatz ähnlich dem
deutschen Standardkostenmodell. Vor Ort konnte ich
mir ein Bild von den Aktivitäten auf EU-Ebene und in
den anderen Mitgliedstaaten machen. Mein Fokus lag
auf der zukünftigen Gestaltung der EU-Regulierungs-
politik. Ich wollte dadurch konkrete Ansatzpunkte und
Ziele für die Mitwirkung des Deutschen Bundestages
im europäischen Gesetzgebungsprozess erfahren.

Hierzu führte ich ein aufschlussreiches Gespräch
mit Dr. Edmund Stoiber, der seit 2007 die Hochrangige
Gruppe Bürokratieabbau in Brüssel leitet. Gestern
fand bereits das zweite Treffen statt, bei dem mich
Dr. Stoiber über seine Arbeit in Brüssel informierte.
Auch wenn im September 2014 das Mandat seiner
Gruppe bereits ausläuft, muss seine wichtige und er-
folgreiche Arbeit fortgesetzt werden.

Ein hoher bürokratischer Aufwand schadet der eu-
ropäischen Wirtschaft, schadet der deutschen Wirt-
schaft und somit Deutschland insgesamt. Laut einer
aktuellen Studie von PriceWaterhouseCoopers ist
„Überregulierung […] das größte Risiko für das Wirt-
schaftswachstum“, zumindest unter den Faktoren, die
von der Politik beeinflusst werden können.

Nicht nur Unternehmen, sondern auch Bürger und
Verwaltungen leiden unter den Lasten überbordender
Bürokratie. Im Koalitionsvertrag haben wir bereits di-
verse Maßnahmen hierzu herausgearbeitet, die es jetzt
zu konkretisieren gilt, um unser gemeinsames Ziel, be-
lastende Bürokratie abzubauen, zu erreichen.
Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Andrea Wicklein (SPD):
Rede ID: ID1803930100

Wenn auch zu wirklich später Stunde, klar ist: Die

Themen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung
sind und bleiben außerordentlich wichtig für die Bür-
gerinnen und Bürger, für Verwaltung und die Wirt-
schaft. Denn eine schlanke Verwaltung, verständliche
Gesetze mit möglichst wenig Bürokratie, aber auch
die regelmäßige Überprüfung, ob Gesetzesziele und
Folgen vertretbar sind, das alles sind wichtige Stand-
ortfaktoren für ein modernes Industrieland wie
Deutschland. Es ist ganz entscheidend, dass über Re-
gelungskosten und Regelungsnutzen Transparenz für
Parlament und Regierung hergestellt wird.

Klar ist damit auch: Über den Erfolg unseres Wirt-
schaftsstandortes Deutschland entscheiden nicht al-
lein zukunftsträchtige Ideen, hochwertige Produkte
und Dienstleistungen. Auch möglichst niedrige Büro-
kratiekosten tragen letztlich dazu bei, ob sich Unter-
nehmen bei uns ansiedeln und ob Bürgerinnen und
Bürger sich gesellschaftlich engagieren. Geringe
Bürokratiekosten sind damit auch ein Markenkern für
unsere soziale Marktwirtschaft und unser demokrati-
sches Gemeinwesen, die letztlich auf dem Engagement
des Einzelnen beruhen und die Akzeptanz der großen
Mehrheit der Bevölkerung benötigen.

Dazu ist die Herstellung von Transparenz ein not-
wendiger Ansatz. Bereits in der vergangenen Großen
Koalition haben wir seit 2005 dazu die richtigen Ent-
scheidungen getroffen. Damals hatten wir im Koali-
tionsvertrag beschlossen, Bürger und Wirtschaft von
einem Übermaß an Vorschriften und der damit einher-
gehenden Belastung durch bürokratische Pflichten und
Kosten zu entlasten.

Der Bundestag hat seitdem die Weichen dafür ge-
stellt, dass wir heute einen handhabbaren und transpa-
renten Instrumentenkasten zum Bürokratieabbau vor-
weisen können:

Bereits im Jahr 2006 hat der Bundestag die Einrich-
tung des Normenkontrollrats als unabhängiges Kon-
troll- und Beratungsgremium beschlossen, das seitdem
die Angaben der Ministerien über die zu erwartenden
Bürokratiekosten in den Regelungsvorhaben der Bun-
desregierung sowie den Normenbestand prüft.

Wir haben das Standardkosten-Modell zur objekti-
ven Messung der bürokratischen Belastungen von Un-
ternehmen eingeführt.

Seit 2011 erreichen wir mit der Ermittlung des Er-
füllungsaufwandes, dass alle mit einem Regelungs-
vorhaben verbundenen Belastungen der Wirtschaft,
Verwaltung sowie der Bürgerinnen und Bürger syste-
matisch untersucht und dargestellt werden.

Seit 2012 wird die Entwicklung der Bürokratiekos-
ten für die Wirtschaft mit dem Bürokratiekostenindex
transparent dargestellt.

Schließlich hat die Bundesregierung 2012 beschlos-
sen, alle Regelungsvorhaben mit einem Erfüllungsauf-
wand von über 1 Million Euro drei bis fünf Jahre nach
ihrem Inkrafttreten hinsichtlich der tatsächlich erziel-
ten Wirkungen zu evaluieren.

Insgesamt besteht durch diese Maßnahmen die
Möglichkeit, die bei uns bestehenden Bürokratiekosten
zuverlässig zu erfassen, den Bürokratiekostenabbau
nachprüfbar zu machen und auch für neue Gesetze
weitgehend vorherzusagen.

Der Bericht der Bundesregierung zur besseren
Rechtsetzung 2013 mit dem Titel: „Erfolge dauerhaft
sichern – zusätzlichen Aufwand vermeiden“ zeigt ein-
mal mehr, dass wir beim Bürokratieabbau zwar den
richtigen Weg eingeschlagen haben, aber noch lange
nicht am Ziel sind.

Aus dem Bericht für das Jahr 2013 geht hervor, dass
das Ziel, die Bürokratiekosten der Wirtschaft dauer-
haft auf niedrigem Niveau zu halten, für 2013 weitge-
hend erfüllt werden konnte. So ist der Bürokratiekos-
tenindex der Wirtschaft um 0,04 Punkte auf 100,31
gestiegen und bleibt damit auf relativ niedrigem Ni-
veau. Positiv ist auch, dass 2013 mehrere Vereinfa-
chungsprojekte durchgeführt worden sind, wie bei-
spielsweise zu den gesetzlichen Leistungen in der
Pflege, zur Fahrzeug-Online-Zulassung oder zum Bil-
dungs- und Teilhabepaket. Schließlich wurden 2013
die Weichen für eine systematische Evaluierung we-
sentlicher Regelungsvorhaben gestellt, um auch nach
Inkrafttreten zu prüfen, ob die Ziele erreicht wurden
und der ermittelte Aufwand vertretbar ist.

Trotz dieser zweifelsohne erreichten Fortschritte
müssen wir auf der anderen Seite erkennen, dass auch
2013 der laufende Erfüllungsaufwand in der Summe
weiter um rund 2,4 Milliarden Euro angestiegen ist:
für die Wirtschaft um rund 1,6 Milliarden Euro, für die
Bürger um 470 Millionen Euro und für die Verwaltung
um jährlich 245 Millionen Euro. Entscheidender
Kostentreiber mit einem Anteil von 40 Prozent der im
Berichtszeitraum geänderten Vorgaben bleiben darun-
ter beispielsweise für die Wirtschaft die Informations-
pflichten.

Der Nationale Normenkontrollrat fordert in seiner
Stellungnahme zum Jahresbericht die Bundesregie-
rung dazu auf, klare Ziele für eine Begrenzung des
Erfüllungsaufwandes zu setzen und geeignete
Maßnahmen zur Kostenreduzierung bzw. -begrenzung
zu erarbeiten bzw. umzusetzen. Einen besonderen
Schwerpunkt legt der Normenkontrollrat bei seinen
Vorschlägen auf die Kostenfolgen durch EU-Recht und
kritisiert, dass bisher keine Transparenz über die von
EU-Verordnungen ausgehenden Belastungen für
Deutschland bestehen.

Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass die Bun-
desregierung in ihrem neuen Arbeitsprogramm „Bes-
sere Rechtsetzung 2014“ genau diesen Punkt teilt, ihre
Verfahren zur Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung
überprüfen und weiterentwickeln will. Auch bei der
Vereinfachung geltenden EU-Rechts, der Rücknahme
nicht notwendiger Vorschläge und der Aufhebung
Zu Protokoll gegebene Reden





Andrea Wicklein


(A) (C)



(D)(B)

überholter Rechtsvorschriften will die Bundesregie-
rung mitwirken.

Die Regierungsfraktionen werden die Maßnahmen
rund um den Bürokratieabbau und für bessere Recht-
setzung aktiv begleiten. Wir haben im Koalitionsver-
trag verabredet, Wirtschaft und Bürger weiter spürbar
von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir wollen,
dass Unternehmen und Verbände, Normenkontrollrat
und Bundesministerien, Landesbehörden und Kommu-
nen gemeinsam Vereinfachungsmöglichkeiten identifi-
zieren und für eine bessere Rechtsetzung sorgen. Wir
wollen in geeigneten Fällen Regelungen praktisch er-
proben, schon bevor sie beschlossen werden. Wir wol-
len, dass auch bestehende Rechtsvorschriften hinsicht-
lich ihrer Kosten und ihres Nutzens überprüft werden.
Und wir wollen erreichen, dass es auch auf europäi-
scher Ebene einen eigenständigen Normenkontroll-
mechanismus gibt. Mit diesen Zielen kann der Kreis-
lauf bei den Regelungen geschlossen und noch mehr
Transparenz hergestellt werden.

Die Koalition wird beim Bürokratieabbau und bei
der besseren Rechtsetzung entschlossen die nächsten
Schritte gehen. Schwerpunkte sind neben den bereits
genannten Zielen aus Sicht der SPD-Bundestagsfrak-
tion vor allem klare und überprüfbare Vorgaben für
eine Begrenzung des Erfüllungsaufwands, aber auch
die umfassendere Einbindung von Ländern und Kom-
munen in die Ermittlung und Reduzierung der Voll-
zugskosten von Bundesrecht sowie die kontinuierliche
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Vor-
haben zum Bürokratieabbau und besserer Rechtset-
zung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, die
Anstrengungen des Bundestages für Bürokratieabbau
und bessere Rechtsetzung lohnen sich. Sie regen Un-
ternehmensgründungen, Innovationen und zivilgesell-
schaftliches Engagement insgesamt an. Lassen Sie uns
gemeinsam daran arbeiten.


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1803930200

Das Wort Bürokratie hat bei vielen Bürgerinnen und

Bürgern einen schlechten Klang. Millionen von Men-
schen in Deutschland sind regelmäßig mit den Mühlen
der Bürokratie beschäftigt, wenn es darum geht, ihren
Anspruch auf ALG II einzufordern oder ihre Steuer-
erklärung zu machen. Alles Bereiche in denen ein
Bürokratieabbau millionenfache Jubelstürme auslösen
würde. Doch der absolute Schwerpunkt des Normen-
kontrollrates liegt nach wie vor auf der Reduzierung
von tatsächlichem und vermeintlichem bürokratischem
Aufwand für Unternehmen.

Nun ist die Reduzierung von unnötiger Bürokratie
auch für Unternehmen, welche erheblich zum Wohl-
stand in Deutschland beitragen, insbesondere bei der
Beschäftigung, nichts Verwerfliches. Bedenklich wird
es nur, wenn zum Beispiel der Abbau von Berichts-,
Informations- und Aufbewahrungspflichten zu einer
Verschlechterung im Bereich des Arbeitnehmer- oder
Verbraucherschutzes oder im Bereich der Steuerbefol-
gung führt. Der Normenkontrollrat gab in seinem
Bericht aus dem Jahr 2012 freimütig zu: „Die vom
NKR (Normenkontrollrat) abschließend geprüften
Regelungsvorhaben führen im Saldo zu einer Reduzie-
rung des jährlichen Erfüllungsaufwands von rund
1,4 Milliarden Euro. Dieser Rückgang des Aufwands
geht allerdings im Wesentlichen auf eine einzige Maß-
nahme zurück – die Reduzierung der Aufbewahrungs-
fristen nach dem Steuer- und Handelsrecht. Ohne diese
Maßnahme wäre ein Anstieg des Erfüllungsaufwands
seit Juli 2011 von rund 1,1 Milliarden Euro zu ver-
zeichnen.“ Im Bericht vom Juli 2013 wird dann die
Steigerung der Befolgungskosten um 1,5 Milliarden
Euro bemängelt – Zitat – „Neuregelungen im Zusam-
menhang mit Energiewende und Finanzmärkten waren
dabei die größten Kostentreiber.“ Die Regulierung der
Finanzmärkte, die die Euro-Zone in eine tiefe Wirt-
schafts- und Finanzkrise gestürzt haben, scheint aus
Sicht des Normenkontrollrates als reines Problem
der Befolgungskosten. Eine solche Beurteilung gerät
zwangsläufig schief.

Im Gegensatz zur Berechnung der Befolgungs-
kosten scheint die Berechnung eines Nutzens mit un-
lösbaren methodischen Problemen einherzugehen.
Wenn aber die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb
der Betrachtung bleibt, sind weder vernunftgeleitete
Urteile noch Abwägungen von Kosten und Nutzen
möglich.

Bei aller Sinnhaftigkeit von Bürokratieabbau darf
damit keine Reduzierung von Arbeitnehmer- und Ver-
braucherschutzrechten einhergehen und keiner Steuer-
vermeidung Vorschub geleistet werden. Das ist aber
gerade nicht Prüfauftrag des Normenkontrollrates.
Vermeidung von überflüssigem bürokratischem Auf-
wand, Anpassung von sich widersprechenden gesetzli-
chen Vorschriften sind alles gute Ziele. Doch bei der
Normenkontrolle darf es nicht zu allererst um reine
Kostenreduzierung gehen, sondern um die qualitative
Verbesserung von Verwaltungsvorgängen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bürokratieabbau ist und bleibt ein Dauerthema. In
fast jedem Gespräch mit Vertretern des Mittelstandes
wird das Thema vorgetragen, immer wieder werden
Vorschläge unterbreitet – aber nur wenig wird letzt-
endlich umgesetzt. Bezeichnend ist, dass diese Debatte
erst nach Mitternacht von der Koalition aufgesetzt
wurde und dann die Reden zu Protokoll gegeben wur-
den. Das zeigt aber auch auf, dass für diese Bundesre-
gierung Bürokratieabbau ein untergeordnetes Thema
ist.

Bevor ich das bewerten will, möchte ich ein paar
Sätze zum vorgelegten Bericht der Bundesregierung
und zum Jahresbericht des Nationalen Normenkon-
trollrats sagen. Dieser hat für das Jahr 2013 einen
Anstieg des sogenannten Erfüllungsaufwands um gut
1,5 Milliarden Euro errechnet. Hinzu kommen einma-
Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

lige Erfüllungsaufwandskosten in Milliardenhöhe.
Wenn man den Standpunkt vertritt, dass Bürokratie per
se schlecht ist, dann klingt das zunächst ernüchternd.
Wenn man den Jahresbericht des Normenkontrollrats
dann aber genau betrachtet und sieht, was zu einem
Aufwuchs des Erfüllungsaufwands geführt hat, dann
muss man zu anderen Schlüssen kommen.

Da haben wir zum Beispiel als größten Posten beim
jährlichen Erfüllungsaufwand Auflagen bei Energie-
einsparvorschriften bei Wohngebäuden und damit bei
der Energiewende. Daneben haben insbesondere neue
Auflagen und Regeln für das Finanzsystem zu einem
höheren Aufwuchs der Bürokratie geführt. Und an die-
ser Stelle muss ich ganz klar sagen: An der richtigen
Stelle ist Bürokratie richtig und wichtig. Märkte und
Marktteilnehmer brauchen Grenzen und Leitplanken,
in denen sie sich bewegen können. Gerade im Bereich
der Ökologie müssen wir Vorgaben machen, die auch
zu einem Mehraufwand bei den Erfüllungspflichten
führen können. Gleiches gilt für das Finanzsystem, das
ohne nennenswerte Grenzen direkt auf den Crash der
Finanz- und Eurokrise zugesteuert ist. Zu diesen Gren-
zen gehören auch Anforderungen an mehr Transparenz
und damit verbundenen gewisse Auskunftspflichten,
die zu mehr Bürokratie führen. Da müssen Banken,
Versicherungen und auch die Verwaltung im Zweifel
mehr Aufwand betreiben. Um weitere Krisen so gut es
geht zu vermeiden, ist das aber mehr als gerechtfertigt.

Beide Beispiele verdeutlichen: Der Begriff Bürokra-
tie hat immer zwei Betrachtungsseiten. Zum einen
müssen durch Nachweise die Einhaltung von – sinn-
vollen – Rahmenbedingungen und Grenzen überprüft
werden. Zum anderen muss aber darauf geachtet wer-
den, dass diese Nachweise gezielt auf den Regelungs-
zweck ausgerichtet werden und technisch mit einem
möglichst geringen Aufwand erfüllt werden können.
Insofern muss man sich jedes einzelne Gesetzesvorha-
ben ansehen und dann bewerten, ob etwaige Mehrkos-
ten beim Erfüllungsaufwand gerechtfertigt sind. Bei
den einmaligen Kosten verursacht das Endlagergesetz
für die Atomindustrie 2 Milliarden Euro Erfüllungs-
aufwand. Wer aber glaubt, Atommüll ohne einen hohen
Überprüfungsaufwand lagern zu können, der wird den
Risiken dieser Technologie nicht gerecht. Das Problem
ist eben hier, dass die Nutzer dieser Energie diese mit
der Lagerung des Atommülls verbundenen Kosten nie
in der Gesamtheit erfasst, geschweige denn in die
Stromgestehungskosten internalisiert hatten.

Und dennoch ist es richtig und wichtig, sich immer
wieder mit dem Thema Bürokratie auseinanderzuset-
zen. Es gibt nach wie vor viele Regeln, die in dieser
Hinsicht auf den Prüfstand gehören. Bürokratische
Kosten sollten bei allen politischen Entscheidungen
berücksichtigt werden, deshalb müssen sie ermittelt
und offengelegt werden. Verantwortungslos handelt
derjenige, der diese Transparenz nicht herstellt, so wie
die letzte Bundesregierung beim Gesetz zum vermin-
derten Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen, bei
der sie durch Einbringung des Gesetzentwurfs über die
Fraktionen die Bewertung durch den Normenkontroll-
rat umging. Abschätzungen haben einen erheblichen
Bürokratie- und Umsetzungsaufwand aufgezeigt. Sonst
wäre diese schon von der Sache her vollkommen fehl-
geleitete Branchensubvention vielleicht vollständig in-
frage gestellt worden. Übrigens schade, dass sich die
SPD an dieser Stelle mit dem Status quo abgefunden zu
haben scheint und auch der Finanzminister sich der
Verantwortung für eine Korrektur dieser Fehlentschei-
dung der letzten Regierungskoalition entzieht.

Für die Arbeit des Normenkontrollrates ist sehr
wichtig und richtig, dass nicht mehr alleine der Auf-
wand von Unternehmen berechnet wird, sondern die
Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltungen in die
Betrachtung der Bürokratiekosten aufgenommen wur-
den. Richtig und wichtig ist auch, dass Projekte gestar-
tet wurden, um Antragsverfahren für die Bürgerinnen
und Bürger zu erleichtern.

Kritisieren müssen wir an dieser Stelle die Bundes-
regierung, die sich keine quantitativen Bürokratieab-
bauziele geben will, sondern lediglich den Status quo
halten will. An zu vielen Stellen gibt es Bürokratie, die
schlanker und vor allem kundenfreundlicher sein
könnte. Aber Stillstand und fehlende Ambition ist keine
sonderliche Überraschung bei einer Großen Koali-
tion, die den Stillstand als Erfolg preist, sei es in der
Steuerpolitik, bei der Energiewende oder eben beim
Bürokratieabbau.

Es gilt der Satz von Robert Bosch: „Wer aufhört,
besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein!“ Deshalb
fordere ich die Bundesregierung auf, das Thema Büro-
kratieabbau wirklich ernst zu nehmen, die Ergebnisse
des Normenkontrollrates aufzugreifen und Debatten
über seine Arbeit nicht auf nach Mitternacht zu schie-
ben.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1803930300

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

Drucksache 18/866 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2014, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.