Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich und rufe auch ohne weiterenVerzug die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungVerbraucherpolitischer Bericht 2012– Drucksache 17/8998 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismusb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDModerne verbraucherbezogene Forschungausbauen – Tatsächliche Auswirkungen ge-setzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen– Drucksachen 17/2343, 17/4891 –Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigElvira Drobinski-WeißDr. Erik SchweickertCaren LayUlrike Höfkenc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPDVerbraucherpolitik neu ausrichten – Verbrau-cherpolitische Strategie vorlegen– Drucksachen 17/8922, 17/9602 –Berichterstattung:Abgeordnete Mechthild HeilElvira Drobinski-WeißDr. Erik SchweickertKarin BinderNicole MaischNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Ilse Aigner.
Ilse Aigner, Bundesministerin für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz:Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident, liebeKolleginnen und Kollegen, aber auch liebe Verbrauche-rinnen und Verbraucher! Bei der Diskussion um einenverbraucherpolitischen Bericht kann man natürlich nichtan den aktuellen Geschehnissen der vergangenen Tagevorbeigehen. Millionen von Verbraucherinnen und Ver-brauchern in ganz Europa wurden verunsichert; denn alsRindfleisch deklariertes Pferdefleisch ist in verarbeitetenLebensmitteln gefunden worden.Mitte Januar sind erste Medienberichte über Funde inGroßbritannien und Irland bekannt geworden. Am29. Januar gab es erste Hinweise, dass es auf dem Fest-land Europas angekommen ist. Am 30. Januar hat dasMinisterium die Länder informiert und gebeten, ver-stärkt auch auf Pferdefleisch zu prüfen. Am 12. Februarerreichte uns die Meldung, dass falsch gekennzeichneteProdukte auch in Deutschland auf den Markt gelangtsind, und am Montag, dem 18. Februar, haben Bund undLänder gemeinsam, darunter auch Sozialdemokraten
Metadaten/Kopzeile:
27754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Bundesministerin Ilse Aigner
(C)
(B)
und Grüne, den Nationalen Aktionsplan verabschiedet.Das verstehe ich unter zügiger Krisenreaktion.
Ich bin froh, sehr geehrte Frau Prüfer-Storcks, dass dasseitens der Länder gemeinsam durchgeführt wurde –nicht im Parteienstreit, sondern im Schulterschluss.Wichtig ist, dass wir über die Ausmaße dieses Skan-dals Klarheit schaffen. Wichtig ist auch, dass wir jeneHintermänner zur Rechenschaft ziehen, die diesen Be-trug zu verantworten haben, und dass wir alles tun, umzu verhindern, dass sich ein solch dreister und skandalö-ser Etikettenschwindel in Zukunft wiederholt.Meine Damen und Herren, damit das klar gesagt ist:Die Verbraucher sind Opfer des Skandals, nicht die gro-ßen Handelsketten.
Das muss festgehalten werden. Der Handel steht hier inder Verantwortung. Er ist zur Qualitätssicherung ver-pflichtet; das ist übrigens auch klar geregelt. Dieses Sys-tem hat offensichtlich versagt. Deshalb werden wirgemeinsam mit den Ländern, die für die Lebensmittel-überwachung zuständig sind, die Kontrollsysteme derSupermarktketten durchleuchten. Der Handel darf sichhier nicht aus der Verantwortung stehlen; das lasse ichauch nicht zu.
Als Nächstes werde ich mich am Montag beim Minis-terrat in Brüssel dafür starkmachen, dass endlich dieHerkunftskennzeichnung verpflichtend kommt.
Bisher gab es nur Absichtserklärungen, meine sehr ge-ehrten Damen und Herren, aber kein klares Konzept.
Aber auch eine Herkunftskennzeichnung – das muss ge-sagt sein, meine sehr geehrten Verbraucherinnen undVerbraucher – hätte diesen Betrug nicht verhindert.
Trotzdem machen wir, Deutschland und Frankreich, jetztTempo. Übrigens habe ich vorgestern mit dem Kollegenaus Frankreich telefoniert und gestern auch mit dem zu-ständigen Kommissar.
Die Herkunftskennzeichnung wird kommen, und zwarverpflichtend und europaweit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforde-rungen bei Lebensmittelkrisen, die wir in den vergange-nen Jahren erlebt haben, waren immer groß, aber keines-falls vergleichbar. Ob Dioxinskandal bei Futtermitteln,ob die Tragödie um Ehec-Erreger in Sprossen, ob dieReaktorkatastrophe in Fukushima, ob Noroviren in Kin-dertagesstätten oder falsch deklarierte Lebensmittel –unsere Vorgehensweise war immer absolut klar und er-folgte nach einem richtigen Muster: zuerst Aufklärung,dann Verbraucherinformation und schließlich Konse-quenzen ziehen. Wir ziehen die Konsequenzen, damitsich das, was wir in diesem Fall erleben mussten, nichtwiederholt.Was wir angekündigt haben, das haben wir auch um-gesetzt, und zwar Punkt für Punkt.
Das ist die Linie der christlich-liberalen Verbraucher-politik, Verbraucherpolitik von A bis Z; das nehmen wirauch wörtlich.
Gern buchstabiere ich Ihnen die Ergebnisse meiner Ver-braucherpolitik durch.A wie Anlegerschutz: mehr Transparenz durch dieEinführung von Produktinformationsblättern, mehr Kon-trolle über die Berater und mehr Licht im Graubereichdes Kapitalmarktes.B wie Buttonlösung: Gegen Kostenfallen im Internethaben wir die Bestätigungsregelung frühzeitig umge-setzt.
– Vor der Europäischen Union.C wie Charta für Landwirtschaft und Verbraucher:Auf der Basis eines umfassenden Dialogs haben wirZiele und Maßnahmen für die Agrarpolitik benannt.
D wie Datenschutz im Internet durch Aufklärung undklare Regelungen auf europäischer Ebene, an die sichkünftig auch Anbieter außerhalb Europas halten müssen.E wie Energiepreise: Die Energiewende ist unsere Zu-kunft. Aber damit die Verbraucherpreise nicht durch dieDecke schießen, haben wir in der Förderung nachgesteu-ert, und zwar mehrfach gegenüber den Vorschlägen derGrünen, und wir werden weiter nachsteuern.
F wie Futtermittelüberwachung: Wir haben die Leh-ren aus dem Dioxinskandal gezogen, den AktionsplanPunkt für Punkt umgesetzt und damit den Verbraucher-schutz in der Futtermittelkette deutlich verbessert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27755
Bundesministerin Ilse Aigner
(C)
(B)
G wie Geldautomatengebühren: Seit 2011 gibt esTransparenz. Die Gebühren werden vor dem Abhebenangezeigt, und seitdem sinken auch die Kosten.
H wie Honorarberatung – gestern in erster Lesung be-raten –: Mit ihr schaffen wir eine Alternative zur Provi-sionsberatung, sodass Bankenkunden künftig noch mehrWahlmöglichkeiten haben.I wie IN FORM, unsere Initiative für gesunde Ernäh-rung und mehr Bewegung. Sie bewegt in Deutschlandviel.
J wie juristische Expertise, die wir über die Stiftungs-professur für rechtlichen Verbraucherschutz an der Uni-versität Bayreuth unterstützen.K wie Klarheit und Wahrheit: Die neue Lebensmittel-informationsverordnung schafft mehr Transparenz beiKalorien, Nährstoffen, Lebensmittelimitaten und Aller-gien.L wie lebensmittelklarheit.de. Das von uns geförderteInternetportal ist ein großer Erfolg.M wie Mobilfunkgebühren, die wir über dieRoaming-Verordnung europaweit und mit neuen Preis-obergrenzen deutlich gesenkt haben – ein großer Erfolgfür die Verbraucherinnen und Verbraucher.
N wie Netzwerk Verbraucherforschung, damit wirpolitische Entscheidungen auch auf wissenschaftlichenSachverstand gründen können.O wie Online-Materialkompass, ein neues Instrumentfür Lehrerinnen und Lehrer zur Orientierung bei derAuswahl von Unterrichtsmaterialien zur Verbraucherbil-dung.P wie Preismeldesystem für Benzin, sodass die Ver-braucher künftig wissen, wo es günstig und wo es ver-hältnismäßig teuer ist. Das wurde vorgestern im Kabi-nett beschlossen.
Q wie Qualitätsstandards für Ernährung, von der Kitabis zum Pflegeheim. Die Zertifizierung schafft Sicher-heit.
R wie Regionalfenster: Die Modellregionen sind be-nannt, und die ersten Produkte stehen in den Regalen.S wie Stiftung Warentest: 50 Millionen Euro zusätzli-ches Stiftungskapital und weitere 1,5 Millionen für neueAufgaben im Bereich der Finanzprodukte.
T wie Telekommunikationsgesetz: mehr Rechte fürVerbraucher bei Umzug, Anbieterwechsel oder Vertrags-laufzeiten, bis hin zu kostenlosen Warteschleifen.Das alles sind große Erfolge. Ich weiß, dass das weh-tut.
U wie unlautere Telefonwerbung, ein Problem, daswir ebenfalls angepackt haben und bei dem wir weitereSchritte gehen werden.V wie Verbraucherinformationsgesetz: bessere,schnellere und kostengünstigere Auskünfte für alle Bür-ger.W und Y wie Watch Your Web: 1 Million jugendlicheNutzer ist jetzt besser informiert über Chancen und Risi-ken im Internet.Dazwischen steht das X. Wir machen den Menschenund den Verbrauchern kein X für ein U vor, ein alter,aber guter Leitsatz für Verbraucherpolitik.
Abschließend Z wie „Zu gut für die Tonne“, unsereerfolgreiche Kampagne gegen die Verschwendung vonLebensmitteln und zur Schonung wertvoller Ressourcen.Das ist erfolgreiche Verbraucherpolitik von A bis Z.
Leider ist das Alphabet nicht länger, und leider ist auchmeine Redezeit nicht länger. Sonst könnte ich noch mehrauflisten. Nur noch so viel, meine sehr geehrten Kolle-ginnen und Kollegen von der Opposition: Nehmen Siesich einfach einmal die Zeit, und studieren Sie die rund50 Seiten des Verbraucherpolitischen Berichts! LesenSie den Bericht, bevor Sie ihn kommentieren!
Dann werden Sie zugeben müssen: Die Bundesregierunghat für den Verbraucherschutz mehr getan als jede an-dere Bundesregierung zuvor. Das ist erfolgreiche Politik.
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ein ehrliches Alphabet hätte begonnen mit A wieAnkündigen, B wie Brechen und hätte mit Z wie Zau-dern geendet.
Metadaten/Kopzeile:
27756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Ulrich Kelber
(C)
(B)
Eines ist ganz klar: Ilse Aigners Tage als Verbraucher-schutzministerin gehen zu Ende, wie wir wissen: freiwil-lig, weil sie nicht mehr für den Deutschen Bundestagkandidiert. Verdient hätte sie das Ende für ihre unterirdi-sche Bilanz als Ministerin.
Es ist wie in der gesamten Zeit: Ilse Aigner ist vor allemals Eigenschutzministerin unterwegs. Sie präsentiert unseinen Aktionsplan, wieder einmal. Der wievielte eigent-lich? Auf zehn Punkte im Aktionsplan sind Sie nur ge-kommen, weil die Länder Ihnen zusätzliche aufgedrückthaben. Dafür war auch nicht viel Fantasie notwendig;denn die meisten Punkte standen schon in früheren Ak-tionsplänen und sind nie umgesetzt worden. Das Spiel-chen der Ministerin ist immer das gleiche – sie hat es sooft gemacht, dass es nun nicht mehr wirkt –: mit Schein-maßnahmen darüber hinwegzutäuschen, dass die eigent-lichen Schwachstellen nicht beseitigt werden sollen.Ein paar Zitate aus den Medien der letzten Tage. DieWelt, die nicht unbedingt als CDU/CSU-kritisch gilt,schreibt: „selbstherrliche Ministerin“. Weiter heißt eswörtlich:Der Abend bei Frank Plasberg zeigte eindrucksvoll,wie hart es sein muss, Ilse Aigner zu sein undgleichzeitig anderen Menschen gefallen zu müssen.Wie viel Kraft es kostet, sich krampfhaft volksnahzu geben und dennoch der Lobby den Hof zu ma-chen.Spiegel Online hat es kürzer auf den Punkt gebracht:„Ministerin für Aktionismus“. Ich glaube, das trifft esziemlich gut.
Kommen wir zu dem, was Sie rund um den Pferde-fleischskandal angekündigt haben. Sie wollen jetzt prü-fen, ob Betrug wie Umetikettierungen gemeldet werdenmuss.
Warum muss das eigentlich geprüft werden? Ist es nichtselbstverständlich, dass Betrug gemeldet werden muss?Deswegen frage ich Sie klipp und klar: Frau Aigner,wollen Sie genauso wie die SPD eine private Melde-pflicht, und können Sie sie dann gegen die Lobbyisteninnerhalb und außerhalb Ihrer Koalition durchsetzen, jaoder nein?Sie wollen prüfen, ob die Behörden die Bürger infor-mieren müssen. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit,dass Behörden über Erkenntnisse informieren, und dasgehört endlich in die deutschen Gesetze.
Deswegen auch hier die Frage, klipp und klar: Sind Siefür die Informationspflicht der Behörden, Frau Aigner,und können Sie es diesmal in Ihrer Koalition und au-ßerhalb der Koalition gegen die Lobbyisten durchset-zen, ja oder nein? Nicht wieder ein einfaches Verspre-chen!Sie haben hier gerade begrüßt, dass die EuropäischeKommission bei der Herkunftskennzeichnung schnellervorankommen will. Sie hätten mit Frankreich telefoniert,haben wir gerade gehört. Ist es nicht so, dass, als das Eu-ropäische Parlament diese verbindliche Herkunftskenn-zeichnung verabschieden wollte, Sie dies in Brüssel ge-stoppt haben, und dass Sie, als die SPD im letzten Jahrgefragt hat, wann die Herkunftskennzeichnung kommt,geantwortet haben: „Ich halte sie nicht für praktikabel;ich bin dagegen“? Sind Sie also für die Herkunftskenn-zeichnung, und werden Sie sie gegen die Lobbyisten in-nerhalb und außerhalb Ihrer Koalition durchsetzen, jaoder nein? Die Fragen sind manchmal ganz einfach,Frau Aigner.Dann gaukeln Sie vor, Sie seien für eine transparenteKennzeichnung, ob das Produkt aus der Region stammt.Was Sie vorlegen, ist aber eine Lösung, mit derSchwarzwälder Schinken aus Dänemark stammen kannoder bei der eine Molkerei aus Mecklenburg-Vorpom-mern auf die Packung „von der Küste“ schreiben kann,die Milch aber aus Holland stammt.
Deswegen auch hier die Frage: Sind Sie wie die SPD füreine echte Regionalkennzeichnung, und können Sie siedann gegen die Lobbyisten innerhalb und außerhalb Ih-rer Koalition durchsetzen, ja oder nein, Frau Aigner?Der letzte Punkt: Wer deckt denn Lebensmittelskan-dale in der Regel auf?
Es sind mutige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,die sich an die Öffentlichkeit wenden.
Ihr Vorgänger Horst Seehofer hat dem Lkw-Fahrer, derden Gammelfleischskandal aufgedeckt hat, die Ver-dienstplakette des Ministeriums überreicht; er ist danacharbeitslos geworden. Nach wie vor verweigert die Mehr-heit im Deutschen Bundestag ein Gesetz zum Schutzsolcher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bei derletzten Debatte hat der damals anwesende Fraktionsvor-sitzende Volker Kauder hineingerufen:
Wenn Sie das machen, dann führen Sie die Blockwartewieder ein! – Er hat diesen Begriff aus der Nazizeit dafürverwendet. – Sind Sie für einen gesetzlichen Schutz von
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27757
Ulrich Kelber
(C)
(B)
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die die Öffent-lichkeit warnen, ja oder nein, Frau Aigner?
Das wollen wir wissen.
Das „Schwarzbuch Ilse Aigner“ ist lang. Ein paarKapitel daraus: In Bezug auf den Finanzmarkt wurdedurchgehender Verbraucherschutz versprochen. DerFaktencheck: Die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht darf nur begrenzt Verbraucherschutzaufga-ben wahrnehmen.
Angekündigt von Ilse Aigner wurden anonyme Test-kunden bei Banken. Faktencheck: Versprechen gebro-chen.Digitale Welt: Versprochen wurde ein Gesetz gegenAbmahnabzocke, bei der skrupellose Rechtsanwälte Fa-milien mit superteuren Abmahnungen für kleinste Ver-gehen überziehen, ob absichtlich oder unabsichtlich pas-siert. Der Faktencheck: Über 15 Monate streitet sichSchwarz-Gelb über einen Entwurf. Angeblich sollnächste Woche einer kommen, der, wie der erste Über-blick zeigt, Dutzende Schlupflöcher für die Abmahnma-fia enthält. In diesen 15 Monaten hat es Zehntausendezusätzliche Opfer gegeben.Faktencheck Datenschutz: Stiftung Datenschutz ange-kündigt und gescheitert, auf EU-Ebene bremsend, Rück-schritte beim Arbeitnehmerdatenschutz, keine Antwortauf die Herausforderung durch Netzwerke wie Face-book.Das Kapitel Verkehr: Versprochen war eine einheitli-che Schlichtungsstelle für Verkehr, damit Kunden zu ih-ren Ersatzleistungen kommen. Was haben wir? KeineSchlichtung für Busse, keine Schlichtung für Schiffe,
drei Schlichtungsstellen für den Flugverkehr, je nach-dem, ob über Internet oder nicht über Internet gebuchtwurde – Verwirrung pur für die Kunden.Bei Gesundheit findet die Verbraucherschutzministe-rin gar nicht statt. Sind Sie nicht der Meinung, dass diePatientinnen und Patienten zum Beispiel vor Übervortei-lung bei individuellen Gesundheitsleistungen geschütztwerden müssen, Frau Aigner? Werden Sie sich einmi-schen, ja oder nein?
Die Bilanz, die Sie auch mit diesem Verbraucher-schutzbericht vorgelegt haben, ist inakzeptabel. Sie ha-ben noch wenige Monate vor sich, bevor Sie sich frei-willig aus der Bundespolitik verabschieden. Nutzen Siedoch die Zeit, und machen Sie aus einem Berg von An-kündigungen wenigstens einen Hügel von Taten! Daswürde etwas von Ihnen im Deutschen Bundestag hinter-lassen.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Erik Schweickert für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kelber,Verbraucherschutzpolitik ist bei uns keine Nischenpoli-tik mehr, wie es bei Ihnen war. Dafür hat diese schwarz-gelbe Bundesregierung gesorgt; denn wir haben gelie-fert. Das zeigt auch dieser Verbraucherpolitische Be-richt, wenn Sie ihn einmal durchgelesen hätten.
Die Kollegen der SPD, die in ihrem Antrag eine Neu-ausrichtung der Verbraucherpolitik fordern, möchte ichzu Beginn meiner Rede mitnehmen in die Zeit der Vor-gängerregierungen, in die Zeit von Rot-Grün, als Sie mitGerhard Schröder, dem Herrn von Gazprom, den Kanz-ler stellten. Wie sah denn da Ihre verbraucherpolitischeStrategie aus? Sie haben zugeschaut, als die Verbraucherüber kostenintensive Warteschleifen von Servicehotlinesabgezockt wurden. Sie haben zugeschaut, als Internetbe-trüger arglose Verbraucher mit falschen Versprechungenin Kostenfallen haben laufen lassen.
Sie haben zugeschaut, wenn Call-by-call-Dienste ihreHotlines morgens mit 2 Cent beworben haben undabends mit 2 Euro pro Minute abrechneten. Sie habenzugeschaut und mitgemacht, wenn immer spekulativereund umständlichere Finanzprodukte auf den Markt ge-kommen sind. Hans Eichel ist der Vater der Hedgefonds.Sie haben aber nicht nur zugeschaut, sondern auch zuge-lassen, dass Anleger mangels Transparenz über das An-lagerisiko getäuscht wurden oder zumindest im Unkla-ren gelassen wurden.
Daran hat übrigens auch Ihr Peer Steinbrück als Finanz-minister nichts geändert; er hat einfach nur zugeschaut.Sie haben auch zugeschaut, wie bei der EU eine Spiel-zeugrichtlinie auf den Weg gebracht wurde, welche dieGrenzwerte für Weichmacher auf einem viel zu laschenNiveau festgelegt hat.
Metadaten/Kopzeile:
27758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dr. Erik Schweickert
(C)
(B)
Zuschauen, das war Ihre Strategie.
Unsere Strategie ist Handeln. Verbraucherschutz istWirtschaftspolitik für jedermann und ein essenziellesBürgerrecht.
Sie machen Schaufensterpolitik. Das sehen wir bei je-dem Ihrer Anträge. Wir aber lösen die Probleme der Ver-braucher, bei denen Sie zugeschaut haben.
Wir können einmal darüber reden, was die Besserwis-seroppositionsparteien in ihren Anträgen vorschreibenwollen, welches Produkt moralisch gut ist und welchesnicht. Unsere Verbraucherpolitik ermöglicht den Ver-brauchern selbstbestimmte Entscheidungen. Schwarz-gelbe Verbraucherpolitik sorgt für faire Rahmenbedin-gungen, ohne die Menschen zu bevormunden.
Wir brauchen Transparenz bei den Produkten undDienstleistungen. Das hat der letzte Skandal gezeigt. Wirhaben dafür gesorgt, dass die Schlupflöcher für Betrügerund Abzocker geschlossen werden; denn schwarzeSchafe schädigen nicht nur die Verbraucher, sondernauch die guten und seriösen Unternehmen.Welche Projekte haben wir umgesetzt? Kostenfallenim Internet sind Vergangenheit, dank Schwarz-Gelb. Mitdem sogenannten Internetbutton müssen die Verbraucherseit dem 1. August 2012 explizit auf die Kostenpflichtig-keit eines Angebots hingewiesen werden.
Bei Vertragsabschluss müssen alle Kosten vorliegen.Das bedeutet mehr Transparenz und ist ein Sicherheits-netz gegen Abzocke bei Internetabofallen. Wir habendas beschlossen.Warteschleifen werden kostenfrei, dank Schwarz-Gelb. Wir Liberale sind im Wahlkampf 2009 mit demSlogan angetreten: Leistung muss sich lohnen. – Wir ha-ben dafür gesorgt, dass dieser Grundsatz auch bei Ser-vicehotlines gilt. Während Ihrer Regierungszeit warendoch die Kosten für die Warteschleife mitunter deutlichhöher als die Kosten für die erbrachte Serviceleistung.Wir haben das geändert. Wir haben das Telekommunika-tionsgesetz überarbeitet. Verdient werden darf ab 1. Junidieses Jahres erst, wenn eine Serviceleistung erbrachtwurde. Das Geschäftsmodell „Warteschleife“ hatSchwarz-Gelb beendet.
Beim Call-by-Call gibt es statt einer teuren Rechnungnun Preistransparenz, ebenfalls dank Schwarz-Gelb;denn durch die Pflicht zur Preisansage wird keine Ver-schleierung der Gesprächskosten zugelassen. Es wirdkeine irreführende Werbung mehr möglich sein.
Anbieterwechsel bei Telekommunikationsleistungeninnerhalb eines Tages. Herr Kelber, Sie haben zuge-schaut, als Kunden wochenlang ohne Telefonanschlusswaren. Wir haben dafür gesorgt, dass der Wechsel inner-halb eines Tages erfolgen muss. Das ist schwarz-gelberVerbraucherservice.An der Zapfsäule wird es mehr Preistransparenz undWettbewerb geben, dank Schwarz-Gelb. Die Tankstel-lenpreise werden auf unsere Initiative hin künftig inEchtzeit per Handy-App oder Navi abrufbar sein.
Der Verbraucher hat endlich die Informationsmacht, he-rauszufinden, wo die günstigste Tankstelle ist. Damitwerden die Preise durchschaubar, und die Preisspiralewird nach unten angeregt.
Beim Anlegerschutz haben wir gehandelt. Sie habendas vorhin nicht richtig ausgeführt. Wir haben Produkt-informationsblätter zur Pflicht gemacht, in denen die Ri-siken und Chancen einer Anlage zusammengefasst sind.Die Verkäufer müssen ihre Sachkunde nachweisen – daswar bei Ihnen auch nicht so –, und zwar egal, ob bei siebei einer Bank arbeiten oder als freie Vermittler von Fi-nanzprodukten. Dafür haben wir gesorgt.Die Hedgefonds waren doch zu Ihrer Regierungszeitweniger reguliert als die Krümmung einer Gurke; darumhaben Sie sich eher gekümmert. Das Verdienst vonSchwarz-Gelb in diesem Bereich ist, dass wir es umge-dreht haben: Der sogenannte Graue Kapitalmarkt unter-liegt nun Transparenzpflichten, die mit dem Aktienmarktvergleichbar sind.
Herr Steinbrück hat nur die Banker ernst genommen, fürdie er heute Vorträge hält; Schwarz-Gelb nimmt die Ver-braucher ernst.
Herr Kelber, was Sie zur BaFin gesagt haben, stimmtauch nicht. Wir haben dafür gesorgt, dass es bei derBaFin einen neu geschaffenen Verbraucherbeirat als Be-schwerdestelle gibt, um auch hier die Rechte der Ver-braucher durchsetzen zu können.Unser Herz schlägt im wahrsten Sinne des Wortesauch für die kleinen Verbraucher: Kinderspielzeug musszukünftig sicher sein, und dank Schwarz-Gelb wird esdies auch sein. Als ich vor fast vier Jahren in den Bun-destag eingezogen bin, waren die Regelungen zum Kin-derspielzeug extrem lasch.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27759
Dr. Erik Schweickert
(C)
(B)
Sie müssen doch zugeben, dass sich diese Bundesregie-rung gegen das gewehrt hat, was zur Zeit der letzten Ko-alition auf den Weg gebracht wurde. Die Grenzwerte fürbestimmte Substanzen wären durch die EU-Spiel-zeugrichtlinie erhöht worden. Wir lassen das nicht zu,weil klar ist, dass hier Gesundheitsgefahren für dieKleinsten bestehen. Wir handeln nicht nur, sondern sindproaktiv: Wir ziehen vor den Europäischen Gerichtshof;
wir haben die Europäische Kommission verklagt. Das istVerbraucherpolitik der Marke Schwarz-Gelb, meine Da-men und Herren.
Sie sollten bitte zur Kenntnis nehmen, dass der effi-ziente Verbraucherschutz dieser Regierung das Ver-trauen der Verbraucher in die redlichen Unternehmen ge-stärkt hat.Jetzt blinkt das Licht am Pult, das auf das Ende mei-ner Redezeit hinweist. Ich denke, dass es nicht kaputt ist,Herr Präsident.
Nein, es funktioniert wieder einmal tadellos.
Dann komme ich zum Schluss und fasse zusammen.
Wenn Sie sich mit unserer Verbraucherschutzpolitik be-
schäftigen, dann werden Sie feststellen: Wir haben die
Abzocke gestoppt. Wir haben die Transparenz in ver-
schiedenen Bereichen gefördert. Der informierte Ver-
braucher ist heute mehr denn je Realität. Das ist die
schwarz-gelbe Erfolgsbilanz, Herr Kelber.
Das Wort erhält nun die Kollegin Caren Lay für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich freue mich sehr, dass wir heute in der Kern-zeit sehr ausführlich zum Verbraucherpolitischen Berichtsprechen. Denn ich denke, angesichts steigender Strom-preise, steigender Mieten, ungebetener Werbung am Te-lefon, Abzocke im Internet oder bei den Gaspreisen underst recht angesichts des neuen Lebensmittelskandalsmüssen wir dem Thema Verbraucherpolitik endlich mehrAufmerksamkeit schenken; das fordern wir Linke schonlange.
Die Grundlage, die die Regierung dafür anbietet, istallerdings mehr als dürftig: Auf gut 50 Seiten werdendort angebliche Erfolge gefeiert. Ich finde, man könnteein ganzes Buch über die Versäumnisse dieser Regierungin der Verbraucherpolitik schreiben.Was diese Regierung in der Verbraucherpolitik wirk-lich gut kann, ist das Ankündigen von Projekten, das Er-stellenlassen von Gutachten und das Erteilen unverbind-licher Prüfaufträge. Ehrlich gesagt, muss ich leider auchangesichts der aktuellen Debatte zum Pferdefleischskan-dal zu einem solchen Ergebnis kommen. Meine Kolle-gin, Frau Binder, wird gleich ausführlich darauf einge-hen. Aber eines möchte ich nach Ihrer Rede, FrauMinisterin, schon sagen: Sie haben kein ordentlichesVerbraucherinformationsgesetz und kein ordentlichesTierschutzgesetz auf die Reihe bekommen. Sie habenunzureichende Konsequenzen aus den letzten Lebens-mittelskandalen gezogen. Die Neuordnung der Lebens-mittelkontrolle steht aus; die Debatte darüber führen wirdoch schon seit Jahren. Das föderale System der Lebens-mittelkontrolle wird den global agierenden Konzerneneinfach nicht mehr gerecht. Das heißt, es gibt politischeVersäumnisse in der Verbraucherpolitik, aber Sie stellensich hier hin und drücken auf die Tränendrüse. Ich finde,das wird der Dimension dieser Auseinandersetzungüberhaupt nicht gerecht.
Ich möchte auf die Versäumnisse der Regierung undvon Frau Ministerin Aigner im Bereich des wirtschaftli-chen Verbraucherschutzes eingehen. Nehmen wir bei-spielsweise das Thema der überhöhten Dispozinsen. Wirhaben nach wie vor die Situation, dass sich die Banken,die in der Kreide stehen, ihr Geld zu einem sagenhaftniedrigen Leitzins von 0,75 Prozent leihen können undes den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu einemZinssatz von im Schnitt 12 Prozent weitergeben. Dassind wirklich unsägliche Gewinnmargen, die auf Kostender schwächsten Verbraucherinnen und Verbraucher ge-hen. Aber was tut die Ministerin? Sie haben die Banken-chefs zum Kaffeetrinken eingeladen und diverse Presse-erklärungen abgegeben, in denen Sie sagen, dass Sie dasunmöglich finden; aber in der Praxis ist nichts passiert.Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist kein mü-der Cent dabei herausgekommen. Ich muss sagen, ichfinde das einfach beschämend.
Nehmen wir die Tatsache, dass die Verbraucherzen-tralen seit vielen Jahren gnadenlos unterfinanziert sind.
Frau Aigner hatte die in der Tat gute Idee – die haben wiralle unterstützt –, dass man die Kartellstrafen der Unter-nehmen der Verbraucherarbeit zur Verfügung stellenkann. Die Umsetzung dieser Idee in die Praxis kann icheinfach nicht erkennen.Nehmen wir als Beispiel den Schutz der Kunden vorFalschberatung bei Banken. Außer diesen Beipackzet-teln haben Sie hier nichts zustande gebracht. Was wir ei-
Metadaten/Kopzeile:
27760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Caren Lay
(C)
(B)
gentlich bräuchten, nämlich einen Finanz-TÜV, der da-für sorgt, dass die Schrottpapiere erst gar nicht auf denMarkt kommen, steht aber noch aus. Das ist kein verant-wortungsvoller Verbraucherschutz im Bereich der Fi-nanzwirtschaft.
Frau Ministerin, Sie haben nicht verstanden, worumes geht. In der Politik zählen nicht die Ankündigungenund die großen Worte, es zählen am Ende immer nochdie Taten. Sie haben sich Ihren Ruf als Ankündigungs-ministerin in dieser Legislaturperiode wirklich hart erar-beitet. Ich weiß jetzt nicht, wie es den anderen Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition geht, die dieseEinschätzung immer geteilt haben. Fast sehne ich michnach den Zeiten zurück, als wir der Ministerin immervorwerfen konnten, dass sie Dinge ankündigt, aber amEnde nicht handelt. Seitdem sie sich politisch dafür ent-schieden hat, nach Bayern zu gehen, hat sie bei wichti-gen verbraucherpolitischen Themen offenbar sogar aufdie Ankündigung verzichtet.Das Alphabet kann man auch anders gestalten. Es ent-hält bei Ihnen nämlich einige Leerstellen. Nehmen wirzum Beispiel S wie Strompreise: kein Wort dazu von derMinisterin. Auch der Bericht, den wir heute diskutieren,enthält nichts wirklich Substanzielles. Angesichts derTatsache, dass auch in diesem Jahr die Strompreise um12 Prozent steigen und ihr Kabinettskollege HerrAltmaier seinen Propagandafeldzug gegen die erneuer-baren Energien fortsetzt,
wäre es an der Zeit gewesen, dass die Verbraucherminis-terin ein kritisches Wort zu den ungerechtfertigten In-dustrierabatten sagt
oder nur ein kritisches Wort zu den Konzerngewinnen inMilliardenhöhe. Von ihr hat man nichts darüber gehört.Ich finde, so geht das einfach nicht.
Wenn sich die Ministerin darauf konzentrierenmöchte, zukünftig in Bayern zu wirken, dann ist das einelegitime politische Entscheidung. Aber auch in Bayerngibt es Verbraucherinnen und Verbraucher. Nehmen wirbeispielsweise die Landeshauptstadt München. Dort sinddie Mieten in den letzten fünf Jahren bis zu 26 Prozentgestiegen. Zu diesem Thema, das die Koalition völligbrachliegen lässt, hätte es wenigstens einiger Worte derMinisterin bedurft.
Die Mietentwicklung ist eine zentrale soziale und ver-braucherpolitische Frage, aber das hat die Ministerinüberhaupt nicht auf dem Schirm. Das muss an dieserStelle einmal gesagt werden.Nehmen wir das Gesetz gegen den unlauteren Wettbe-werb. Wir erleben nach wie vor ungebetene Telefonwer-bung. Wir haben das grassierende Abmahnwesen im In-ternet, das beispielsweise unseriöses Inkasso betrifft,und viele andere Dinge mehr. Seit einem Jahr liegt derGesetzentwurf dazu irgendwo in den Schubladen herum.Sie lassen die Verbraucherinnen und Verbraucher auchan dieser Stelle hängen.
Meine Damen und Herren, Sie werden das sicherlichalles mit dem Begriff der Eigenverantwortung erklären.Ich sage, das alleine reicht nicht. Dadurch werden dieBaustellen nicht beseitigt. Mit der Selbstverpflichtungder Unternehmen ist einfach keine gute Verbraucherpoli-tik zu machen.
Wer Verbraucherpolitik betreiben will, der muss sich mitden Konzernen anlegen. Aber dazu ist diese Regierungleider nicht in der Lage.Vielen Dank.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauMinisterin, Ihre Rede hat mich sehr an die Silvestersen-dung „Dinner for One“ erinnert. Da heißt es immer:„Same procedure as last year?“, „The same procedure asevery year.“
Genau so haben Sie das hier vorgeführt.Dann haben Sie noch den Witz gebracht: So wie an-dere für ein Branchentelefonbuch von A bis Z geworbenhaben, nämlich von Aalräucherei bis Zylinderstift – sowar einmal die Werbung –, haben Sie hier vorgetäuscht –das V für „vorgetäuscht“ ist bei Ihnen üblich –, dass Siein verschiedenen Politikbereichen gehandelt hätten. Dashaben Sie aber nicht getan, Frau Aigner. Sie haben hiervon A bis Z ein paar Begriffe – ich sage einmal, richtigeWindeier und warme Luft – losgelassen. Aber nicht ein-mal ein Prinzip haben Sie herausgestellt; denn Sie habenkeines.Walt Whitman Rostow hat einmal gesagt:Krisen meistert man am besten, indem man ihnenzuvorkommt.Also indem man, bevor sie entsteht, Strukturen schafft,die sie verhindern oder zumindest minimieren. Sie habenuns hier erzählt, dass Sie immer dann, wenn eine Kriseda ist, analysieren, feststellen und dann einen Plan be-schließen. Sie haben aufgezählt, was Sie immer machen,wenn eine Krise da ist: erstens, zweitens, drittens. „Vier-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27761
Renate Künast
(C)
(B)
tens“ haben Sie aber vergessen: Ein halbes Jahr späterkommt der Sieben-Punkte-Plan von Frau Aigner in dieSchublade, und wir hoffen, dass keiner mehr darandenkt. Das ist Ihr Prinzip: Nachsorge, zaudern und dannwegstellen.
Sie haben heute viel annonciert, wie bei einer Werbe-veranstaltung. Fangen wir doch einmal mit dem Buch-staben B an. Wie wäre es mit Bewertungsreserven derLebensversicherung? Sie haben uns hier viel erzählt.Fakt ist aber etwas anderes; und das wurde mit dieserFDP gemacht, die immer sagt, man darf den Betriebennicht mit Einzelsubventionen usw. helfen, sie müssensich selber am Markt beweisen. Bei den Bewertungsre-serven der Lebensversicherung sehen Sie das aber an-ders. Sie hocken vielleicht bis zur Halskrause als Lobby-ist in den Lebensversicherungen.
Anders können wir uns das gar nicht erklären. Wie sollenwir denn draußen die verbraucherpolitische Glanzleis-tung erklären – das soll Verbraucherschutz sein –, dassder Versicherungsbranche, weil sie behauptet, in derNiedrigzinsphase Probleme zu haben, 35 Milliarden Eurogeschenkt werden, statt sie den Versicherten zu geben?
Sie wollen die Versicherten um 35 Milliarden Euro beiden Lebensversicherungen betrügen. Das ist Ihre Wahr-heit.
Das ist eine neue Form der Subventionspolitik. Wer indiesem Land, wenn es zu viel Sonne gibt, keine Regen-schirme verkauft, dem würden Sie ja auch nicht helfen,
sondern sagen: Dann mach halt einen Eisladen auf.Machen wir mit dem nächsten Buchstaben weiter. DerKollege der FDP sprach gerade die Krümmung der Gur-ken an. Haha, wie putzig! Ich sage es Ihnen einmal:Selbst bei der Krümmung der Gurken haben Sie nichtshingekriegt.
Die Handelsklassen sind abgeschafft.
Im Einzelhandel müssen sie immer noch nach etwas aus-sehen. Sie betreiben Wegwerfpolitik auf Kosten der Um-welt, auch im Bereich Lebensmittel und Verbraucher-schutz.
Sie haben bei der Regionalkennzeichnung, die sinn-voll ist, wenn man darauf achten möchte, ökologisch mitweniger Transportkilometern einzukaufen, nichts hinbe-kommen. Sie haben für Verbraucher, die auf den Tier-schutz achten wollen, nichts hinbekommen. Den viel-leicht ganz netten Gesetzentwurf von Frau Aigner habenSie mit vereinter Kraft im wahrsten Sinne des Worteszertrümmert. Bei den Telefonwarteschleifen wird dieWartezeit nun zeitlich nach hinten geschoben. Dann kos-tet es nämlich wieder. Das ist doch üblich bei Ihnen. Beiden Strompreisen gibt es 2 000 Ausnahmen für nichteinmal wirklich energieintensive Betriebe,
und die Kosten in Milliardenhöhe werden den Privatkun-den aufgehalst. Die Verbraucher sind die Opfer IhrerPolitik und nicht die Nutznießer Ihrer Politik. Das istklar.
Frau Aigner, der aktuellste Skandal zeigt, dass Sie ei-gentlich die Politik von Herrn Seehofer weiterführen,der zwischen 2005 und 2008 die Verantwortung trug:
Liebesdienste für die große Industrie. Die erste Hand-lung von Seehofer war – Stichwort: MON810 –, gen-technisch veränderten Mais in Deutschland zuzulassen.Das war die erste Morgengabe für die, die Sie damals imschwarz-gelben Wahlkampf unterstützt haben. Dann ha-ben Herr Seehofer und Sie gemeinsam alle Schleusen fürBilligfleisch und Dumping in der Fleischindustrie geöff-net. Sie haben den Boden für solche Skandale weiter be-reitet: mit Massentierhaltung, mit weiterem Antibiotika-missbrauch. Sie haben bis heute nicht einmal ein klaresReduzierungsziel, sondern nur Bücher, in die manschreibt, wie viel man nimmt. Das ist doch kein Verbrau-cherschutz.
Ich weiß, dass viele über die „Geiz ist geil“-Ideologieklagen. Faktisch sind Sie, Frau Aigner, aber die Schutz-patronin dieser Ideologie. Sie haben nicht dafür gesorgt,dass die Verbraucher Täuschung besser erkennen kön-nen. Wenn von der FDP hier klare Worte kommen, dannmuss ich sagen: Das ist die Lachnummer des Jahrhun-derts. Sie als Lobbypartei öffnen hier Ihr Herz und mei-nen, etwas für die Verbraucher zu tun.
Metadaten/Kopzeile:
27762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Renate Künast
(C)
(B)
Vom ersten Tag an, als wir die Verbraucherpolitik in denLändern und im Bund auf die politische Agenda gesetzthaben und gesagt haben: „Auch die Verbraucher nehmenam Wirtschaftsleben teil und haben Rechte“, sind Sie dergrößte Bremsklotz,
auf Kosten der Bevölkerung. Genau so ist das.
– Melden Sie sich doch noch einmal!Sie haben das wirklich kranke System der langen in-ternationalen Produktionsketten eben nicht unterbrochen,weil Sie die fehlende Transparenz nicht angegangen sind.Genau das, eine bessere Verbraucherinformation undvolle Transparenz, brauchen wir, damit man bei der Kauf-entscheidung sehen kann, was woher kommt.Diese volle Transparenz ist gut, meine Damen undHerren, für die Behörden, weil sie dann wissen, wo sieuntersuchen sollen.
Deshalb müssen endlich die stillen Rückrufe enden. Ranan die Behörden! Die Behörden müssen das Recht haben– nicht einen Prüfauftrag, Frau Aigner –, hier und heuteüber Täuschungen zu informieren.
– Die Pflicht, zu informieren, danke. – Denn selbst impreiswertesten Segment haben die Verbraucher für ihrgutes Geld das Recht, zu wissen: Was draufsteht, istauch drin.
Ich kann Ihnen nur sagen, wenn wir bei A bis Z blei-ben: Der größte Mangel Ihrer Politik ist, dass Sie das Znicht mit dem Wort „Zuverlässigkeit“ auffüllen können.
Frau Kollegin.
Auf Sie können sich die Lobbyisten und die Großin-
dustrie verlassen, aber nicht die Verbraucher.
Das Wort hat nun der Kollege Franz-Josef
Holzenkamp für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren!
Es ist natürlich Aufgabe der Opposition, den Finger indie Wunde zu legen.
Es ist auch völlig unstreitig, dass in der Verbraucherpoli-tik noch einige Aufgaben vor uns liegen.
Aber die Erfolge der letzten Jahre sind hier von FrauAigner und von Erik Schweickert eindrucksvoll geschil-dert worden.
Sie sind faktisch für jedermann nachlesbar. Hierfür einherzliches Dankeschön, Frau Aigner!
Ihnen sage ich: Machen Sie nicht nur Wahlkampfge-töse; das hilft uns nicht weiter.Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberaleKoalition wollen starke Verbraucher. Verbraucherpolitikist auch gute Wirtschaftspolitik, und zwar von der Nach-frageseite. Wir stärken den Verbraucher mit Informatio-nen, und wir handeln nach der Maxime „Klarheit undWahrheit“. Auf dieser Basis ist der Verbraucher
in der Lage, selbstbestimmt und eigenverantwortlichEntscheidungen für sich und Angehörige zu treffen.Das führt mich zum Verbraucherbild. Der Verbrau-cher – das ist unser Leitbild – weiß am besten, was fürihn gut und richtig ist. Diese Verantwortung können undwollen wir ihm nicht nehmen – das wollen Sie, wirnicht. Das unabhängige Gutachten von Prognos sagt ein-deutig:Den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutsch-land kann übergreifend eine hohe Bereitschaft at-testiert werden, sich konsumrelevante Informatio-nen zu verschaffen.Also: Was müssen wir als Politik tun?
Wir müssen die Informationsdichte erhöhen. Wir müssenselbstverständlich auch die Informationsqualität erhö-hen. Frau Künast, selbstverständlich müssen wir auchden Informationszugang erweitern und verbessern. Dasbleibt für uns eine Daueraufgabe.Genau das haben wir in dieser Legislaturperiode getan.Frau Aigner hat die Bereiche eindrucksvoll aufgezählt,ob Finanzen, Verbraucherinformationsgesetz, Veröffent-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27763
Franz-Josef Holzenkamp
(C)
(B)
lichungspflichten im Lebensmittel- und Futtermittel-gesetzbuch oder Internetportale. Wir haben trotz desKonsolidierungszwangs für unser Land – das ist die ei-gentliche Verpflichtung für die Zukunft unserer Kinderund Kindeskinder – beim Verbraucherschutz die Ausga-ben erhöht, Stichworte: Verbraucherinformationen, Stif-tung Warentest und viele andere mehr.Meine Damen und Herren von der Opposition, das,was Sie hier äußern, hat für mich etwas mit Bevormun-dung zu tun. Das hat damit zu tun, dass Sie Entscheidun-gen für den Verbraucher treffen wollen.Ich nenne drei Beispiele. Ich lese, Sie wollen denMenschen dazu zwingen, dass in Organisationen undEinrichtungen ein „Veggie Day“ eingerichtet wird. Mankann für so etwas gern Anreize schaffen, aber zwingen?Meine Damen und Herren, wir wollen das nicht.
Sie schlagen beispielsweise vor, Dispozinsen nach obenzu deckeln. Was bedeutet das denn? Sie nehmen bewusstin Kauf, dass eine Nivellierung nach oben stattfindet unddie Verbraucherinnen und Verbraucher stärker zur Kassegebeten werden. Das ist blanker Unfug. Wenn Sie überökologische und ethische Standards bei Riester-Verträ-gen sprechen, dann erklären Sie mir bitte einmal, wie dasfunktionieren soll. Mir ist es schleierhaft.
Ich glaube, Frau Maisch, Sie reden gleich noch, viel-leicht können Sie mir das einmal erklären. Wir als Poli-tik können doch nicht glauben, dass wir alles besser wis-sen als die Menschen selbst. Wir sollten manchmaletwas Zutrauen haben. Das ist der eigentliche Unter-schied.
Wir befähigen den Verbraucher zu Eigenständigkeit. Siewollen ihn bevormunden, Sie wollen die Entscheidun-gen für die Verbraucher treffen. Das ist der große Unter-schied zwischen diesen beiden Blöcken.Dazu noch ein Zitat aus dem Prognos-Gutachten: Beider wissenschaftlichen Untersuchung „sind vielfältigeBelege für ‚mündiges‘ Verhalten der Verbraucherinnenund Verbraucher in Deutschland vorgefunden worden.Diese sind überwiegend in der Lage, ihren Konsumselbstbestimmt zu gestalten.“ Wir sind noch nicht amEnde des Weges, aber wir sind auf einem guten und rich-tigen Weg.Ich will auch das Thema Pferdefleischskandal kurzansprechen. Hierbei geht es um Verbrauchertäuschung.Ich will ausdrücklich loben und unterstreichen, dassBundesministerin Aigner sofort kurzfristig aktiv gewor-den ist,
um sich mit den Ländern auf ein gemeinsames Vorgehenzu verständigen. Das geht überhaupt nicht anders – daswissen auch Sie –, weil die Zuständigkeiten zwischenLand und Bund unterschiedlich geregelt sind. Wir habenüber dieses Thema auch im Ausschuss diskutiert. Ichhabe dort die Frage gestellt: Ist eigentlich die Haftungbeim Handel ausreichend geregelt? Denn wir fragen unsimmer: Wo können wir eigentlich zielgerichtet ansetzen?Wo können wir vernünftig und wirkungsvoll nachre-geln?Mir haben Experten in den letzten Tagen erklärt, dassim Frischebereich sehr viel geregelt ist, weil die Liefer-wege bekannt sind. Handlungsbedarf besteht im Fertig-produktbereich. Wir wissen heute noch nicht einmal, anwelcher Stelle der Etikettenschwindel betrieben wurde.Deshalb sind wir, Frau Künast, absolut für eine Her-kunftskennzeichnung.
Wir wollen eine Herkunftskennzeichnung. Ich glaube,wir müssen das um eine Optimierung der Rückverfolg-barkeit erweitern.
Die Rückverfolgbarkeit verläuft heute immer einzeln undstufenweise. Ich glaube, das muss man stufenübergrei-fend machen, damit man schneller erkennen kann, woletztendlich Sauereien passieren. Ich persönlich bin sehrgespannt auf Ergebnisse die Sektoruntersuchung des Kar-tellamtes im Lebensmitteleinzelhandel. Ich denke, diesewird genug Stoff für unsere gemeinsame Arbeit auch imAusschuss liefern.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine verbraucherpoliti-sche Strategie. Ich will Ihnen sagen, dass wir als Unionschon Ende letzten Jahres ein Konzept vorgelegt haben,
in dem wir vorsehen, die Verbraucher zu unterstützenund das Vertrauen in die Märkte zu stärken. Ich will dasselber gar nicht bewerten, aber wenn wir von Organisa-tionen, die uns als Union gar nicht einmal so nahe ste-hen, Lob bekommen, dann zeigt das, glaube ich, diehohe Qualität dieses Konzepts.
Die verbraucherpolitische Bilanz ist wahrlich gut. Siekann sich sehen lassen.
Die Ministerin hat viele Dinge auf den Weg gebracht. Ei-nes will ich überhaupt nicht verhehlen: Wir haben im Ver-braucherschutz das Problem – das wissen wir alle –, dasswir unterschiedliche Zuständigkeiten der Ressorts haben.Wenn es um Rechtsfragen geht, ist natürlich Recht zu-ständig. Wenn es um Finanzpolitik geht, sind natürlichdie Finanzpolitiker zuständig. Trotzdem haben wir in die-
Metadaten/Kopzeile:
27764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Franz-Josef Holzenkamp
(C)
(B)
sen Bereichen – es ist aufgezählt worden – viel erreicht,weil unsere Ministerin nicht nachgegeben hat und immerweiter dicke Bretter gebohrt hat. Das ist ein großer Erfolg.Verbraucherpolitik bleibt eine Querschnittsaufgabe.Ich will abschließend noch einmal aus dem Prognos-Gutachten zitieren:… die Lage der Verbraucherinnen und Verbraucherin Deutschland [ist] insgesamt besser als zuvor– besser als zuvor! –und mithin mehr als zufriedenstellend …
Herr Kollege.
Das ist für uns Ansporn, weiterhin gute Arbeit zu ma-
chen, um den Verbraucherschutz in Deutschland für die
Menschen weiterzuentwickeln.
Ein herzliches Dankeschön.
Für den Bundesrat erhält jetzt das Wort die Senatorin
Cornelia Prüfer-Storcks.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-
danke mich für die Gelegenheit, aus Sicht eines Landes
etwas zum Thema Verbraucherschutz, aber auch zum ak-
tuellen Skandal zu sagen. Ich wäre beinahe versucht ge-
wesen, zu sagen: zum Skandal des Monats; denn darauf
läuft es ja letzten Endes hinaus.
Ich glaube, dass es die Menschen in Deutschland leid
sind, immer wieder vom Lebensmittelskandal des Mo-
nats überrascht zu werden. Sie erheben zu Recht den An-
spruch gegenüber uns, dem Staat, dass sie wirksam ge-
schützt werden. Sie wollen alles andere als bevormundet
werden, sondern sie wollen – im Gegenteil – aufgeklärt
werden. Sie wollen nicht für dumm gehalten, sondern in-
formiert werden. Zumindest möchten sie das wissen,
was auch Behörden wissen und was auch mit ihren Steu-
ergeldern erhoben wird.
Die zwingende Notwendigkeit, beim Verbraucher-
schutz wegzukommen von der nachlaufenden Politik,
die immer nur auf Vorkommnisse und Skandale reagiert,
zeigt sich auch ganz aktuell bei den Pferdefleischfunden.
Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen mit Politik-
verdrossenheit reagieren, wenn sie das Gefühl haben,
dass die Politik immer nur reagiert, aber nicht vorsor-
gend handelt. Ich kann Ihnen sagen: Man kann auch als
Politikerin Verdrossenheit entwickeln, wenn man wieder
einmal mit dem Bund zusammen an einem nationalen
Aktionsplan arbeiten musste, der dann Forderungen ent-
hält, die die Länder schon seit langem erheben, und zwar
zu Recht erheben.
Der Zehn-Punkte-Plan zum Pferdefleischskandal ist
von Verbraucherschützern und auch von der Politik aus-
reichend kritisiert worden. Aber ich will mir gar nicht
vorstellen, wie das Echo ausgesehen hätte, Frau Ministe-
rin Aigner, wenn Sie nur mit Ihren eigenen Vorschlägen
an die Öffentlichkeit getreten wären, ohne das, was die
Länder in dieses Papier hineinverhandelt haben.
Frau Senatorin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schweickert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde gerne fortfahren, Herr Präsident.Alle harten Maßnahmen, die das Papier enthält, alsodie Herkunftsbezeichnungen nicht nur für verarbeitetesFleisch, sondern auch für verarbeitete Lebensmittel ins-gesamt, die Verschärfung des Strafrahmens, die Abschöp-fung von Unrechtsgewinnen, das Veröffentlichungsrechtder Behörden bei Verbrauchertäuschung und auch bei all-gemeinen Verstößen gegen Hygienevorschriften, nichterst bei Gesundheitsgefährdungen, die Ausweitung derAnforderungen an die Eigenkontrolle der Unternehmenund ihrer Informationspflichten gegenüber den Behörden,all das haben die Länder in dieses Papier hineingeschrie-ben. Ich sage auch ganz deutlich: Wir prüfen nicht mehr,ob, sondern wir prüfen nur noch, wie. Wir werden auchden Zeitdruck sehr hoch halten.
Es ist doch bemerkenswert, dass man die A-/B-Liniein der Verbraucherschutzpolitik nicht durchgängig fin-det. Es ist nicht so, dass das Ministerium und die B-Län-der auf der einen Seite und die A-Länder auf der anderenSeite stehen, sondern es gibt sehr häufig, in vielen Fäl-len, eine Übereinstimmung der Länder über die Partei-grenzen hinweg. Es ist aber auch ein Muster der Re-aktion des Bundes auf viele Forderungen der Länder zubeobachten: Zunächst einmal hält man etwas nicht fürnötig, dann nicht für möglich, dann versucht man es,aber dann setzt man es nicht durch.
Um auf die Herkunftsbezeichnung zu sprechen zukommen, die jetzt in dem Papier steht, Frau MinisterinAigner: Da haben Sie den Ländern noch vor zwei Jahrenerklärt, dass Sie das nicht für machbar halten. Ich freuemich, dass sich das geändert hat. Gerade beim jetzigenPferdefleischskandal leiden auch die Landesbehörden,zusammen mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern,darunter, dass sie ihre eigenen Kenntnisse, ihre Untersu-chungsergebnisse, nicht veröffentlichen dürfen; denn esfehlt ja die akute Gesundheitsgefährdung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27765
Senatorin Cornelia Prüfer-Storcks
(C)
(B)
Viele weitere Beispiele belegen, dass Länder über Er-gebnisse und Erkenntnisse verfügen, ihre Befunde aberverschweigen müssen. Dass, wenn man in einem Restau-rant Seezunge bestellt, auf jedem dritten Teller etwasanderes liegt, wissen wir; aber diese Erkenntnis ruht inunseren Aktenordnern, weil wir die entsprechenden Be-triebe ja nicht nennen dürfen.
Dass die Lebensmittelüberwachungsbehörden bei 25 Pro-zent der 1 Million Kontrollbesuche in Betrieben, die siepro Jahr durchführen, Verstöße feststellen und dieseauch ahnden, wissen wir auch; aber die Betriebe, um diees geht, dürfen wir nicht nennen.
Die Länder, die solche Verstöße öffentlich machen – ge-stützt auf einen Paragrafen, den die Bundesregierung ge-schaffen hat –, kassieren im Moment ein Gerichtsurteilnach dem anderen, das ihnen sagt: Solche Informationendürfen nicht veröffentlicht werden, solange nicht einProdukt eine ganz konkrete Gesundheitsgefährdung her-vorruft.Gerade vor diesem Hintergrund haben die Länderschon vor zwei Jahren fast einstimmig die Hygieneam-pel gefordert und die Bundesregierung aufgefordert, einebundesgesetzliche Grundlage für ein einheitliches undrechtssicheres System zu legen. Der Bund ist nicht aktivgeworden. Die Länder werden jetzt selbst aktiv werden,
und zwar länderübergreifend.
Bundesgesetze werden immer noch vom DeutschenBundestag beschlossen. Dass der Bundesrat hilfsweiseaktiv wird,
ist zwar ein Weg, aber nicht der Regelweg. Ich halte dasnicht für eine vorsorgende, vorausschauende und vor al-len Dingen am Transparenzprinzip orientierte Verbrau-cherpolitik des Bundes.
Bei Lebensmitteln sind die Befindlichkeiten der Ver-braucherinnen und Verbraucher naturgemäß besondersausgeprägt. Aber auch andere Themen sind existenziell.So können Themen des wirtschaftlichen Verbraucher-schutzes ganz schnell wirtschaftlich gefährlich werden.Deshalb sind auch ein besserer Schutz und eine bessereAufklärung von Anlegerinnen und Anlegern wesentlicheAnliegen des Bundesrates, der Länder. Auch hier stelleich fest, dass die Länder den Bund treiben müssen undder Bund ganz häufig nicht liefert. Wir haben schonlange thematisiert, dass Privatkunden keine kreditfinan-zierten Finanzinstrumente mehr angeboten bekommensollen und dass der Anlegerschutz bei geschlossenenFonds verbessert werden soll. Wir warten immer nochdarauf, dass der Bund liefert.
Stattdessen erschüttert die Bundesregierung das Ver-trauen der Menschen in die private Altersvorsorge, ins-besondere in die Lebensversicherungen. Mit demSEPA-Begleitgesetz werden negative Auswirkungen desderzeitigen Niedrigzinsumfeldes einseitig auf die Le-bensversicherungskunden überwälzt. Eine 10-prozentigeKürzung der Auszahlungen wäre die Folge. Der Bundes-rat hat dieses Gesetz gestoppt und setzt sich jetzt im Ver-mittlungsausschuss für eine ausgewogene Lösung imSinne aller Beteiligten ein.
Ich frage mich natürlich: Wo war die Bundesverbrau-cherschutzministerin, als dieses Gesetz das Kabinett pas-sierte?Ein weiteres großes Ärgernis ist, dass die Banken, ob-wohl sie sich zurzeit zu einem historisch niedrigen Zins-satz Geld leihen können, diesen Vorteil nicht an ihreKunden weitergeben.
Die SPD-regierten Länder haben eine gesetzliche Be-grenzung des Dispozinssatzes gefordert. Die Bundes-ministerin setzt auf einen weiteren – aus meiner Sichtwirkungslosen – Runden Tisch.Ich könnte die Aufzählung der Initiativen, Bitten undForderungen der Länder fortsetzen: Das Konto für jeder-mann gehört dazu, Maßnahmen gegen unerlaubte Tele-fonwerbung und gegen Abzocke bei Abmahnkosten, dieNutzung von Kartellstrafen für Verbraucherarbeit undeine Minimierung der Hürden bei solchen Verfahren. Alldas gehört zu den Themen, die die Länder verfolgen, beidenen sie aber vom Bund nicht den nötigen Rückenwindbekommen.Ich weiß, dass viele dieser Themen nicht in der Feder-führung der Verbraucherschutzministerin liegen. Ichweiß auch, dass die Umsetzung bei diesen Themen müh-sam ist. Ich erlebe es ja auf der Landesebene, wie es ist,etwas durchzusetzen, wenn andere federführend sind.Aber ich erwarte doch, dass die Verbraucherschutzmi-nisterin im Interesse der Verbraucher treibt und nichtbremst.In diesem Sinne wünschte ich mir eine Verbraucher-schutzpolitik, bei der Bund und Länder zusammenwir-ken können.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
27766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
(C)
(B)
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege
Schweickert das Wort.
Frau Kollegin Prüfer-Storcks, was Sie gerade vorge-
tragen haben, hat mich wirklich erschüttert. Wenn das
Ihr Amtsverständnis ist, dann haben Sie gerade einen
Haufen Argumente dafür geliefert, dass man einmal da-
rüber nachdenken sollte, die Stadtstaaten abzuschaffen.
Wenn Sie wissen, dass in Hamburg Kunden in Gaststät-
ten betrogen werden, indem ihnen falsche Produkte vor-
gelegt werden, dann sind Sie in der Verantwortung, das
abzustellen, dann dürfen Sie das Material über solche
Vorfälle nicht in der Schublade verschwinden lassen.
Wenn Sie das noch nicht wissen, wenn Sie Hilfe brau-
chen, dann müssen Sie die Gesetze lesen. Ich werde über
das Verbraucherinformationsgesetz, das wir novelliert
haben, einen Antrag dazu stellen. Wenn Sie nicht in die
Gänge kommen, dann sorgen wir dafür.
Zweiter Punkt. Sie kritisieren, der Bund mache nichts.
Frage an Sie: Wissen Sie, dass die Länder zuständig
sind? Sie und auch die Grünen kritisieren immer, dass in
dem Aktionsplan das Wort „Überprüfung“ zu häufig
vorkäme. Darf ich Ihnen aus einem Schreiben des Minis-
teriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Na-
tur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-West-
falen zitieren:
Ergänzend zu den Vorschlägen des Bundes schlägt
NRW
– also Herr Remmel, ein Grüner! –
folgende Punkte vor:
1. Überprüfung …
2. Überprüfung …
3. Überprüfung …
Nur Punkte, in denen keine konkreten Dinge stehen, be-
inhaltete die Tischvorlage der Länder.
Sie aber stellen sich hierhin, nachdem alle Länder die-
sem Nationalen Aktionsplan zugestimmt haben, und kri-
tisieren die Bundesregierung für das, was aus den Län-
dern gekommen ist.
Das ist nicht redlich.
Zur Erwiderung, bitte schön, Frau Senatorin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich würde Ihnen empfehlen, viel-
leicht noch einmal einen Blick in die gesetzlichen
Grundlagen sowie in entsprechende Gerichtsurteile zu
werfen, die seit einigen Wochen und Monaten zu Veröf-
fentlichungen der Landesbehörden ergehen.
Es geht hier nicht um Maßnahmen; diese werden
selbstverständlich ergriffen. Es geht darum, ob wir die
Verbraucher über unsere Befunde informieren dürfen.
Und dafür sind die Hürden so hoch, dass wir über Täu-
schungen sowie über allgemeine Hygieneverstöße nicht
informieren können, sondern nur über bestimmte Pro-
dukte und Gesundheitsgefahren. Da fordern wir schon
seit langem eine bessere und niedrigschwelligere Lö-
sung.
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Einstieg vorhin war ja prima. Jetzt habenwir endlich einmal die Kernzeit, um das, was wir in derpolitischen Arbeit leisten, nicht nur unter uns auszutau-schen, sondern auch zu den Bürgerinnen und Bürgern zutransportieren. Und was machen wir? Wir schlagen es ineiner Form kaputt, die für mich, der ich ja manchmaldurchaus auch die Attacke liebe, schon ein Stück weiterschütternd ist. Das ging ja gestern schon los. Gesternsagte Herr Trittin, wir seien dafür, dass Dioxineier inVerkehr kommen. Er sagte wörtlich: „Sie wollen Dioxinim Hühnerei, Sie wollen Pferd in der Lasagne …“ Undheute Morgen wird so getan, als ob wir uns im Grundedarüber freuen würden, wenn in diesen Bereichen ir-gendetwas passiert.Ich muss sagen, Frau Künast, wir hatten das dochschon einmal anders. Wir kennen uns doch schon eineganze Zeit. Ich habe Sie als Ministerin erlebt. Wir sindzum Beispiel auch schon mal auf Auslandsfahrten gewe-sen.
– Nein, so „Oh!“ war das nicht; nicht, dass Sie da aufeine komische Idee kommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27767
Hans-Michael Goldmann
(C)
(B)
Wir waren uns doch einig, dass Verbraucherschutz einewichtige Herausforderung ist. Sie können doch auchnicht leugnen, dass in dem Bericht, der nun erstellt wor-den ist, jede Menge wirkliche Erfolge enthalten sind.
Wir stehen natürlich auch noch vor Herausforderungen.Aber wenn hier die geschätzte Senatorin sagt, das seisozusagen der Skandal des Monats – ja, liebe Freunde,wollen wir das auf uns sitzen lassen? Wollen wir wirk-lich akzeptieren, dass zum Beispiel die Ehec-Katastro-phe mit der Dioxinproblematik und dem – von mir aus –Pferdefleischskandal in einen Topf geworfen wird? Dasind einige kriminelle Elemente am Markt, was ich sehrbedauere. Mit Kennzeichnung, lieber Kollege Kelber,hat das aber überhaupt nichts zu tun. Wir wissen genau,woher das Pferdefleisch kommt. Das ist nicht das Pro-blem. Ich bin ja dafür, dass wir – –
– Lieber Kollege Kelber, ein bisschen Ruhe! Lebensmit-telkennzeichnung ist für kleine Bäckereien und kleineFleischereien ein Riesenproblem.
– Nein, nein, Herr Kelber. Nein, nicht die Lobbyisten.
– Herr Kelber, nun schreien Sie doch nicht gleich herum.Bleiben wir einen Moment bei den Lobbyisten, wenn Siedas schon anderen unterstellen. Was meinen Sie, wer alsErstes auf eine durchgängige Lebensmittelkennzeich-nung aufspringt? Die Großen, die die Urproduktion unddie gesamte Veredelungslinie in ihrer Hand haben. Fürdiese ist das kein Problem. Ein Problem ist es für denganz normalen Bäcker oder den ganz normalenFleischer, der etwas in Verpackung abgibt. Der muss aufdieser Kleinpackung, in der zwei Würstchen sind, ange-ben, woher dieses Produkt kommt. Das weiß er fast im-mer, wenn er es von einem Bauernhof bekommt, dersechs Schweinchen hat. Aber das ist nicht die Lebensre-alität.
Die Lebensrealität ist, dass er auch Fleisch von anderenhat. Wir müssen damit ein bisschen vernünftiger umge-hen. Wenn wir Herkunftskennzeichnungen wollen, dannsollten wir – dafür bin ich – die damit zusammenhängen-den Probleme gemeinsam lösen.Nächster Punkt: Verbraucherinformationsgesetz. Ichwar bei der Diskussion darüber dabei. Wir haben unsnächtelang darum bemüht. Endlich gibt es ein Verbrau-cherinformationsgesetz. Mit diesem Gesetz gibt es Pro-bleme, und die haben Sie angesprochen. Die Lebensmit-telchemiker haben mir das gestern erzählt, und daserzählen mir auch die Lebensmittelkontrolleure, dass dasnicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist.
Lassen Sie uns doch vor diesem Hintergrund dieses Ge-setz gemeinsam – von mir aus auch mit Ihrer Mehrheitim Bundesrat – weiterentwickeln.
– Elvira Drobinski-Weiß, solange du dabei warst, istüberhaupt kein VIG zustande gekommen. Das will ichhier doch einmal festhalten!
– Frau Künast, wir können uns doch über Verbesserun-gen unterhalten. Das ist doch kein Thema. Sie dürfenaber nicht alles kurz und klein schlagen.Kommen Sie doch einfach einmal in den Ausschuss.
Herr Kelber, kommen auch Sie einmal in den Ausschuss.
Sie werden dann merken, wie wir da arbeiten. Wenn wirim Haus anrufen bzw. Kontakt aufnehmen, kommt FrauAigner. Wir ändern die Tagesordnung dann so, dass auchder Ombudsmann aus Dänemark da ist. Dieser Ombuds-mann ist doch gefragt worden: Wo steht aus Ihrer Sichtdie Verbraucherpolitik in Deutschland im Vergleich zuanderen europäischen Ländern? – Sie kennen doch dieErgebnisse auf europäischer Ebene. Wir sind einer derBesten in Europa. Der Däne hat gesagt: Wir arbeitenzum Wohle der Verbraucher mit euren Behörden bzw.euren Einrichtungen sehr konstruktiv zusammen.
Lassen Sie uns das doch auch hier in dieser öffentlichenSitzung gemeinsam tragen, statt dies in Pressemitteilun-gen zum Ausdruck zu bringen.
Frau Maisch, das meine ich ganz persönlich: Ich binerschüttert, dass, nur weil „AGRA-EUROPE“ drauf-steht, die Grünen-Politikerin Nicole Maisch Frau Aignervorwirft, sie sitze auf dem Schoß der Industrie.
Wie gehen wir eigentlich miteinander um? Das ist dochnicht Ihr Ernst!
Metadaten/Kopzeile:
27768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Hans-Michael Goldmann
(C)
(B)
Sie wollen doch Frau Aigner nicht ernsthaft unterstellen,dass sie sich im Schoß der Industrie wohlfühlt bzw.suhlt. Das kann doch nicht in Ihrem Kopf sein.
Lassen Sie uns deswegen die Dinge, wie wir das auchim Ausschuss getan haben, gemeinsam angehen. LassenSie uns gemeinsam stolz darauf sein, dass wir einen 60-seitigen Bericht vorzeigen können, in dem von großarti-gen Erfolgen in vielen Bereichen berichtet wird.
Lassen Sie uns einig sein, dass wir sicherlich noch daseine oder andere zu tun haben; denn nichts ist soschlimm für die Verbraucher wie die Skandale, die esgibt und gab. Diese zerstören das Verbrauchervertrauen.Wir als Politiker sind gefordert, das zu erarbeiten, esaber nicht durch Polemisierung hier im Bundestag kleinzu schlagen.
Herr Kollege!
Das ist keine verbraucherorientierte Politik.
Die Kollegin Karin Binder ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich glaube, dass Verbraucherpolitik heute keine
Nischenpolitik mehr ist. Sie spielt eine viel größere
Rolle als früher.
Das haben wir aber vor allem den Organisationen, den
Interessenverbänden und den vielen Verbraucherinnen
und Verbrauchern zu verdanken,
die sich heute viel mehr einmischen und für ihre Interes-
sen auch einstehen.
Diesen vielen gemeinsam arbeitenden Kräften verdan-
ken wir, dass Verbraucherpolitik heute aus dem Nischen-
dasein herauskommt.
Ich behaupte: Leider haben auch die großen Verbände
immer noch nicht die Kraft, die Interessen der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher wirklich durchzusetzen.
Sonst hätten wir heute eine Nährwertampel. Wie viele
Menschen in diesem Land haben sich für diese Nähr-
wertkennzeichnung ausgesprochen? Frau Aigner war
aber offenbar nicht gewillt, so etwas umzusetzen. Hier
haben die Interessen des Handels und der Industrie über-
wogen. Deswegen haben wir keine Nährwertampel, ob-
wohl sie sehr vielen Menschen helfen würde, zu erken-
nen, wie viel Fett, wie viel Zucker und wie viel Salz in
den Lebensmitteln ist. Stattdessen werden Menschen
nach wie vor getäuscht, indem vorne drauf in großen
Buchstaben geschrieben steht, was nicht drin ist, zum
Beispiel: 0,0 Prozent Fett. Auf der Rückseite steht dann
in 1,2-Milimeter-Schrift, dass in diesem Softgetränk für
Kinder 21 Prozent Zucker enthalten sind. Da frage ich
Sie wirklich: Wo ist da der Verbraucherschutz? Hätten
wir die Mehrwertampel, wäre das Ganze klar und ein-
deutig.
Dasselbe gilt für den Smiley. Sie können diese Kenn-
zeichnung auch „Hygienebalken“ nennen; das ist völlig
egal. Hauptsache, diese Kennzeichnung kommt, damit
Menschen erkennen können: Ist der Betrieb sauber? Hält
er die Hygienevorschriften ein? Wie sieht es mit der Le-
bensmittelsicherheit aus? Das wäre eine große Hilfe für
viele Menschen.
In Dänemark hat sich dieses Modell sehr bewährt.
Aber bei uns will niemand etwas davon wissen. Die Ver-
antwortung hierfür wird auf die Länder abgewälzt. Aber
der Bund könnte hier sehr wohl Verantwortung überneh-
men und sagen: Wir führen diese Kennzeichnung ein,
und zwar sofort. Wer hindert uns denn daran?
Also, ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich mit Blick
auf die großzügig bewirtschaftete Redezeit nun keine
Wortmeldungen zur weiteren Verlängerung der Redezeit
zulassen möchte. – Bitte schön.
Gut. – Ich komme dann zum nächsten Punkt, demPferdefleischskandal. Er ist einer von vielen Skandalen,die wir in dieser Legislaturperiode zu behandeln hatten.Ich freue mich sehr, dass wir aufgrund der Erkenntnisseinzwischen alle sagen: Herkunftskennzeichnung musssein, und zwar die ganze Kette durch. Jeder Verbraucher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27769
Karin Binder
(C)
(B)
und jede Verbraucherin muss Bescheid wissen: Woherkam dieses Tier? Wo ist es geboren? Wo wurde es aufge-zogen, gemästet und geschlachtet?
Wunderbar, dass sich diese Erkenntnis endlich durchge-setzt hat. Diese hätten wir aber auch schon vor vier Jah-ren haben können.
Die Menschen können auf der Verpackung eines in-dustriell gefertigten Lebensmittels nicht nachvollziehen,woher die Ware kommt. Ich bin mir sicher, dass heutzu-tage viele Menschen aus Umweltbewusstsein und aussozialem Anspruch heraus ein großes Interesse daran ha-ben, informiert zu werden und damit besser Bescheid zuwissen. Das alles aber wurde im Interesse der Industrieund des Handels bisher verhindert, sodass nichts offen-gelegt werden musste.
Jetzt aber wird das endlich anders. Das ist gut und rich-tig.Wir haben aber trotzdem ein Problem. Bei denFleischbeimischungen in gewissen Waren geht es janicht in erster Linie um das Pferdefleisch. Es geht da-rum, dass hier getrickst und getäuscht wird, damit es bil-liger wird, damit Lebensmittel möglichst als Lockvogel-angebote eingesetzt werden können. Das darf so nichtsein. Langfristig geht das nämlich auf Kosten der Quali-tät. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Qualität vonLebensmitteln leidet, damit diese möglichst billig sind;denn auch Menschen mit wenig Geld haben einen An-spruch darauf, dass die Lebensmittel, die sie kaufen, si-cher sind.
Diese Sicherheit muss gewährleistet werden, egal zuwelchem Preis. Lebensmittel müssen sicher sein. Des-halb dürfen keine Medikamentenreste und keine Schad-stoffe enthalten sein.All diese Themen spielen leider noch eine untergeord-nete Rolle, wenn es darum geht, Informationen offenzu-legen. Die Menschen haben keinen Anspruch darauf,rasch informiert zu werden. Die Behörden müssten ver-pflichtet sein, zu informieren, wenn ein Lebensmittelfalsch deklariert wurde oder wenn es belastet ist. Aberheutzutage läuft das darauf hinaus, dass das der Handeloder die Hersteller machen müssen. Die machen das nurin aller Stille, damit möglichst wenige davon erfahren,weil das nicht gut fürs Geschäft ist.Die Behörden müssen in die Pflicht zu rascher Infor-mation genommen werden. Genauso wie der Bund in diePflicht genommen werden muss, wenn es um die Kon-trolle von Lebensmitteln von internationalen Konzernen,von global agierenden Lebensmittelherstellern geht.Diese Aufgabe kann nicht in der Gemeinde oder aufLandesebene bewältigt werden.
Wir brauchen die Verantwortung des Bundes, wenn esdarum geht, Lebensmittel zu kontrollieren, die von inter-national agierenden Herstellern oder Handelsunterneh-men kommen. Diese Aufgaben werden leider vernach-lässigt.
Ich möchte ganz zum Schluss noch auf den KollegenHartwig Fischer zu sprechen kommen.
Den können Sie jetzt aber nur noch kurz grüßen.
Mein letzter Satz. – Ich halte die Forderung von Herrn
Hartwig Fischer, die aus dem Verkehr genommenen Pro-
dukte an Hilfsorganisationen weiterzugeben, für nicht
hinnehmbar. Ich halte das für unmoralisch und für
höchst bedenklich.
Arme Menschen dürfen nicht zum Müllschlucker der
Nation gemacht werden.
Entweder sind diese Produkte zu vernichten, weil sie
nicht den Standards entsprechen, oder sie müssen umeti-
kettiert werden; dann spricht nichts gegen eine Weiter-
gabe.
Das war jetzt mein Schlusssatz.
Frau Aigner, ich glaube, Sie sollten sich ein Stück
mehr gegen Ihren Kollegen Wirtschaftsminister durch-
setzen, damit tatsächlich der Verbraucherschutz –
Frau Kollegin.
– im Vordergrund steht und nicht die Profitinteressenvon Handel und Industrie.
Metadaten/Kopzeile:
27770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
(C)
(B)
Nicole Maisch ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herr Goldmann, Sie haben sich beschwert, dass der poli-tische Konflikt, den wir hier in diesem Haus offensicht-lich haben, heute Morgen doch auch mit deutlichen Wor-ten ausgetragen wird. Ich finde das ganz normal.Wir haben in der Verbraucherpolitik einen Konflikt;das wissen Sie aus dem Ausschuss. Sei es Gentechnik,sei es Massentierhaltung: Hier gibt es einfach politischeKonflikte, und es ist das Wesen eines Konflikts, dassdieser wortreich und teilweise auch mit derberen Wortenausgetragen werden muss.
Was mich neben dem Krisenmanagement, das manwirklich noch verbessern könnte, wirklich ärgert, ist,dass Schwarz-Gelb am Abarbeiten von verbraucherpoli-tischen „Brot-und-Butter-Themen“, wie die FDP siegerne nennt, scheitert. Brot und Butter wäre, die Ab-zocke zu stoppen.
Erik Schweickert hat gesagt: Wir haben die Abzocke ge-stoppt.
Leider nein.
Gestern kam schon wieder ein neuer Gesetzentwurf ge-gen unseriöse Geschäftspraktiken. Ist das jetzt derletzte? Wann kommt endlich der Schutz vor lästiger Te-lefonwerbung, vor untergeschobenen Verträgen am Tele-fon, vor betrügerischen Inkasso- und Abmahnfirmen imInternet? Sie müssen diesen Gesetzentwurf jetzt endlicheinmal aus dem Entwurfsstadium befreien und zu einemGesetz machen. Dann wäre es richtig, zu sagen: Wir ha-ben die Abzocke gestoppt. Vorher ist das Selbstbetrug.
– Was heißt denn „Besser informieren!“? Wo ist der Ge-setzentwurf? Wir haben immer wieder neue Gesetzent-würfe vorgelegt bekommen. Die Abzocke könnte ge-stoppt werden, indem man hier einen Gesetzentwurfverabschiedet. Daran sind Sie gescheitert. Besonderspeinlich für die Verbraucherministerin finde ich, dassdas immer wieder von der Union torpediert worden ist.Das heißt, Ihr eigener Laden „zerschießt“ Ihnen die Ge-setzentwürfe gegen unseriöse Geschäftspraktiken. Dasfinde ich ziemlich schwach.
Machen wir weiter mit den Ankündigungen zum Ver-braucherschutz im Finanzbereich. Frau Aigner hat ge-sagt: Alles, was wir angekündigt haben, haben wir auchdurchgesetzt. – Überprüfen wir das doch einmal am Bei-spiel des Themas Honorarberatung:Bereits 2008 hat Ilse Aigner angekündigt, die Hono-rarberatung zu fördern. Gestern, am späten Abend, wur-den dann die kläglichen Reste dieses Versprechens ver-handelt. Eine Öffentlichkeit war für diese Debatteoffensichtlich nicht gewünscht. Man hat sie ganz ansEnde der Tagesordnung verschoben.
– Sie sind nicht auf Wunsch der Grünen zu Protokoll ge-geben worden. Nein, das ist falsch.
– Nein, das ist nicht richtig. Wenn es Ihnen ein Anliegengewesen wäre – –
– Das ist doch geschwindelt.
– Okay, Sie stehlen meine Redezeit; das geht jetzt leidernicht.Dieser Gesetzentwurf – Sie werden ja vielleicht nochetwas dazu sagen – ist eine Farce. Er dient einzig demZweck, die Honorarberatung für Kunden und Anbieterunattraktiv zu machen.Was hätten Sie machen müssen, wenn Sie wirklicheine Honorarberatung gewollt hätten? Sie hätten für Net-totarife und eine steuerliche Gleichstellung von Honorarund Provision bezüglich der Abgeltungsteuer sorgenmüssen. Was machen Sie stattdessen? Sie erfinden einkastriertes Konstrukt „Honoraranlagenberater“, der aus-schließlich zu Instrumenten nach WpHG beraten darf.Das ist doch keine umfassende Finanzberatung. Das istlächerlich und hat überhaupt nichts mit Förderung derHonorarberatung zu tun.
Liebe Frau Aigner, das Körbchen mit zu erledigendenDingen auf Ihrem Schreibtisch quillt über. Ich nenne nureinige Themen: Kartellstrafen, Begrenzung von Dis-pozinsen, Girokonto für alle, verdeckte Testkäufer beider BaFin, was Sie schon vor Monaten versprochen ha-ben, Schlichtungsstellen, Hygieneampel, das Gesetzzum besseren Schutz für Whistleblower. Ich finde, wenn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27771
Nicole Maisch
(C)
(B)
man ein so volles Körbchen mit zu erledigenden Dingenhat, ist es gut, dass man bald den Schreibtisch räumt.Ich bedanke mich.
Ich bedanke mich für die beispielhafte Einhaltung der
Redezeit und erteile nun das Wort der Kollegin
Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Auf über 60 Seiten zieht das Bundes-ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz eine verbraucherpolitische Bilanz,
und es ist eine beeindruckende Bilanz.Die christlich-liberale Verbraucherpolitik ist erfolg-reich. Meine Kollegen von CDU/CSU und FDP habendie Erfolge von uns, die vielen großen, aber auch diekleinen Erfolge, schon aufgezählt. Deswegen möchte ichheute hier die Gelegenheit nutzen, Ihnen zu erklären,warum wir genau so handeln, wo unsere Grundlagen lie-gen, wie wir den Verbraucher sehen und was eigentlichunser Leitbild des Verbrauchers ist. Ich spreche bewusstnicht vom Leitbild des mündigen Verbrauchers. Die SPDunterstellt in ihrem Antrag zur Verbraucherpolitik:Die Bundesregierung hat versäumt, das verbrau-cherpolitische Leitbild des „mündigen Verbrau-chers“ weiterzuentwickeln.
Meine sehr verehrten Kollegen von der SPD, wir sindda einfach schon viel weiter als Sie.
Wir entwickeln unser Verbraucherbild laufend weiter,und wir passen es natürlich den Realitäten des Lebensan.
Weil sich die Realitäten ständig ändern – als Beispiel seinur die Dynamik in der digitalen Welt genannt –, passenwir unser Verbraucherbild immer wieder an. Adorno hat„mündig“ einmal so definiert:Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil erfür sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet…
Der Verbraucher kann heute nicht in allen Bereichen,die ihn betreffen, alle Informationen überblicken, über-denken, bewerten und dann die perfekte Entscheidungtreffen. Das Warenangebot ist einfach riesig. Es gibtüber 100 000 verschiedene Lebensmittelprodukte in denSupermärkten, und es gibt etwa 800 000 Finanzprodukteauf dem Markt. Wer kann sich da noch auskennen?Wenn Sie sich morgens die Zähne putzen, dann könnenSie entscheiden, ob Sie das mit einem Schwingkopf oderelektrisch tun oder ob Sie Ihren Zahnbelag per Schallentfernen. Diese Angebotsfülle ist unbeschreibbar, istklasse; das ist wirklich Luxus. Wir leben in einem Landvon Luxus. Aber diese Angebotsfülle kann den Einzel-nen eben auch überfordern.Wir können ja nicht alle Bereiche gleich tief durch-dringen – das ist sehr schwierig –, um dann die bestmög-liche Entscheidung zu treffen. Dafür brauchen wir alsoInformationen. Aber gute Informationen führen nichtzwangsläufig zu den richtigen Entscheidungen. Diespannende Frage ist deshalb: Wie finde ich bei derMenge an Informationen die Information, die mir wirk-lich hilft?Das, was der Begriff „mündiger Verbraucher“ meint,ist also ein Ideal, nicht nur für Philosophen.
Vor diesem Hintergrund entwickeln wir unsere Verbrau-cherpolitik und unser Verbraucherbild weiter.
Die Verbraucherforschung zeigt: Es gibt den kriti-schen und den informierten Verbraucher. Diese Verbrau-cher erwarten von uns zu Recht umfassende Informationund Transparenz.
Das ist einer der Schwerpunkte unserer Arbeit.
Deshalb haben wir den Etat für Verbraucherinformationim Haushalt 2013 auch erhöht.Die weitaus meisten Verbraucher verhalten sich aller-dings eher wie vertrauende Verbraucher. Der vertrau-ende Verbraucher hat weder Zeit, noch hat er manchmalInteresse, sich umfassend zu informieren. Er erwartetdeshalb von uns – das mit allem Recht –, dass wir dienötigen Rahmenbedingungen schaffen, damit er guteEntscheidungen treffen kann, ohne dass er sich erst sei-tenweise durch Informationsmaterial durchkämpfenmuss. Er will sich auf die öffentlich zugänglichen Aus-sagen über die Qualität und die Preise von Produktenverlassen können. Und das, meine sehr verehrten Damenund Herren, kann er auch; denn wir in Deutschland ha-ben sehr gute Rahmenbedingungen.Wir treten für eine moderne Verbraucherpolitik ein,die vor Gefahren und Täuschungen schützt
Metadaten/Kopzeile:
27772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Mechthild Heil
(C)
(B)
und Selbstbestimmung gewährleistet. Die Verbraucherkönnen vertrauen, und darauf sind wir stolz.
Deswegen ist der Betrug mit dem umetikettierten Pfer-defleisch so ungeheuerlich. Das Vertrauen in eine ganzeBranche – das ist der eigentliche Skandal – wird erschüt-tert, weil Einzelne kriminell handeln.Frau Künast, ein Wort zu Ihnen. Auch Sie konntenkriminelle Machenschaften nicht verhindern.
Ich erinnere Sie nur an Nitrofen und Acrylamid.
Auch Sie konnten es nicht verhindern. Wir sagen nun:Die verantwortlichen Unternehmer müssen zur Rechen-schaft gezogen werden und mit aller Härte unseresRechtsstaates bestraft werden.
An dieser Stelle auch von mir der Dank an unsereVerbraucherschutzministerin Ilse Aigner! Sie habenwirklich schnell und gut reagiert. Gute Reaktionen: Dasist unsere Politik. Das ist das herausragende Merkmalunserer Verbraucherpolitik. Wir reagieren.
Wir reagieren nicht nur auf Skandale, sondern wir re-agieren auf die Umstände und auf die Bedingungen, mitdenen die Verbraucher konfrontiert werden. Verbrau-cherschutz ist aber kein Naturschutz. Für uns sind Ver-braucher keine gefährdete Froschart, die wir hätschelnund einzeln über die Straße tragen.
Wir bauen ihnen Brücken, aber wir überlassen ihnen dieEntscheidung, ob sie überhaupt über die Straße gehenwollen. Wir trauen den Menschen etwas zu, und wir ach-ten ihre individuellen Entscheidungen. Deshalb geht un-sere Verbraucherpolitik auch mit Augenmaß und Ver-trauen vor.
Die Opposition dagegen setzt auf Skandal undDrama. Auch heute haben wir wieder ein Stück weit eineKostprobe davon bekommen. Skandal und Drama:Überall lauern Gefahren. Ständig wird man abgezocktund hintergangen.
Traue niemandem! – Ich gebe zu: Manchmal ist es sogarnötig, einen Sachverhalt zu skandalisieren, um Druck zuerhöhen. Aber seien wir ehrlich, und seien auch Sie ander Stelle ehrlich: Der eigentliche Grund dafür ist immerganz profan: Skandale bringen Schlagzeilen. Nur darumgeht es Ihnen.
Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, hilft das am Endeden Verbrauchern? Nein, Ihre Art der Verbraucherpoli-tik, zusammengesetzt aus Skandal und Verunsicherung,hilft nicht.
Denn am Ende des Tages bleiben nur die Verunsicherungund das Misstrauen.Wo ist denn Ihre verbraucherpolitische Strategie?
Wo leisten Sie denn einen einzigen Beitrag, damit dasVertrauen der Verbraucher in die Wirtschaft gestärktwird? Wo sensibilisieren Sie die Wirtschaft für die Sicht-weise der Verbraucher? Mir fällt dazu keine einzige nochso winzige vertrauensbildende Maßnahme von Ihnenein.
Skandal und Verunsicherung: Das ist Ihr Metier. Kon-trolle, Pranger und staatliche Eingriffe sind Ihre Mitteldazu.
Damit leisten Sie den Verbraucherinnen und Verbrau-chern in Deutschland ebenso wie der Wirtschaft, ja unse-rem ganzen Land einen Bärendienst.Nehmen Sie einfach unseren VerbraucherpolitischenBericht zur Hand und lesen Sie nach, wie gute Verbrau-cherpolitik funktioniert!
Dann kämen wir auch bei uns ein Stück weiter.Vielen Dank.
Die Kollegin Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerinfür die SPD-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27773
(C)
(B)
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren auf
den Rängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-
ben in den vergangenen Tagen und auch heute wieder
viel zum Pferdefleischbetrug gehört – ein weiterer Skan-
dal um Lebensmittel, der sich in eine lange Reihe fügt
und das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher in die Lebensmittelwirtschaft, aber auch in die Poli-
tik erschüttert. Zehn-Punkte-Pläne voller Prüfaufträge
helfen wenig. Wir brauchen grundlegende Veränderun-
gen in der Verbraucherpolitik und im Markt.
Ganz deutlich ist doch geworden: Die Verbraucher-
politik ist im Ministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft falsch aufgehoben. Wir brauchen eine neue Res-
sortaufteilung.
Noch bei jedem Lebensmittelskandal haben Sie sich ge-
scheut, die Lebensmittelwirtschaft mit echten Konse-
quenzen zu konfrontieren. So kann man die Interessen
der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht konsequent
vertreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
rungsfraktionen, Sie haben heute noch einmal die
Chance, die Beschlussempfehlung abzulehnen und unse-
rem Antrag zur Neuausrichtung der Verbraucherpolitik
zuzustimmen und damit zu beweisen, dass Sie bereit
sind, endlich Konsequenzen aus der beim Pferdefleisch-
betrug erneut sichtbar gewordenen Marktintransparenz
und dem Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Verbrau-
cherinnen, Verbrauchern und Anbietern zu ziehen. Sie
können mit uns zusammen gute Verbraucherpolitik ma-
chen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol-
len nämlich den Markt, der für die Menschen da ist, Frau
Kollegin Heil. Wir wollen einen wirksamen Verbrau-
cherschutz und die Stärkung der Rechte der Verbraucher
und ihrer Möglichkeiten zur Mitgestaltung statt, wie Sie,
Herr Holzenkamp, behauptet haben, zur Bevormundung.
Zum „Markt für die Menschen“ gehören aber auch faire
Arbeitsbedingungen und verantwortungsvoll agierende
Unternehmen sowie ein transparentes Angebot am
Markt.
Leider interessiert sich die Bundesregierung bisher
wenig für die Situation der Verbraucher. So wurde der
Verbraucherpolitische Bericht nicht für eine ehrliche Be-
standsaufnahme genutzt; stattdessen wurde beschönigt
und gedichtet. Da ist von der gestärkten Marktposition
der Verbraucher die Rede, von der gewährleisteten
Sicherheit und Selbstbestimmung und von den durch
Verbraucherinformation und -bildung gestärkten All-
tagskompetenzen. Doch wie wenig hat das mit der Reali-
tät zu tun, mit der Intransparenz am Markt, wo Verbrau-
chern ein Pferd für ein Rind vorgemacht wird, und mit
„Interrail für tote Tiere“, wie die Presse diesen sich quer
durch Europa ziehenden Fleischhandel bezeichnet hat.
Diese Bundesregierung hat eben keine verbraucherpoli-
tische Strategie. Wenn Skandale Verwerfungen am
Markt offenbaren, reagiert sie mit zweifelhaften Infor-
mationsangeboten, leeren Ankündigungen oder freiwilli-
gen Vereinbarungen mit der Wirtschaft.
Wir brauchen keine Märchen. Wir brauchen eine
gründliche Analyse der Schwächen bei der Regulierung
des Marktes, bei der Überwachung, der Transparenz, der
Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wir brauchen Regeln und Instrumente, die auf die realen
Verbraucher und ihre Bedürfnisse und Probleme zielen
und wirken. In einem Verbrauchercheck müssen wir de-
ren Wirksamkeit überprüfen. Wir müssen wissen, wie
Verbraucher wirklich ticken und wie zum Beispiel Infor-
mationen für Verbraucher aussehen müssen, damit sie
verständlich, vergleichbar und schnell erfassbar sind.
Hierbei wollen wir die Ergebnisse der Verbraucherfor-
schung, insbesondere der Verhaltensökonomie, nutzen.
Ich bin doch sehr überrascht und auch fast erfreut, dass
das mittlerweile auch bei der CDU angekommen ist.
Wo muss denn der Markt transparenter werden, damit
Verbraucher selbstbestimmt entscheiden können? Wo
müssen denn die Anbieter stärker in die Pflicht genom-
men werden? Wo muss der Staat für mehr Schutz sor-
gen? Das sind die Fragen, die wir angehen müssen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
ben ein Gesamtkonzept, wir haben Leitlinien für eine
Neuausrichtung – dabei lege ich Wert auf das Vorwort
„Neu-“ – der Verbraucherpolitik erarbeitet. Wir wollen
einen anderen Markt, einen sicheren und transparenten,
einen gerechten und auch nachhaltigen Markt.
Wir wollen einen verbraucherfreundlichen Markt, und
wir wollen endlich eine gute Verbraucherpolitik machen.
Helfen Sie uns dabei und unterstützen Sie unseren An-
trag! Dann haben wir wirklich eine neue Verbraucher-
politik gemeinsam auf den Weg gebracht.
Vielen Dank.
Gitta Connemann hat nun für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! WissenSie, welcher Tag gestern war?
Metadaten/Kopzeile:
27774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Gitta Connemann
(C)
(B)
– „Ein schöner Tag“, das freut mich. – Es war der Tagder Muttersprache. Deutsch ist nach wie vor eine dergroßen Kultursprachen dieser Welt – noch. Wir stellenfest, dass Englisch die deutsche Sprache in vielen Le-bensbereichen zunehmend verdrängt. Sie werden sichfragen: Was hat das mit dieser Debatte zu tun? Ich sageIhnen ganz deutlich: Das ist auch eine Frage des Ver-braucherschutzes. 30 Prozent der Deutschen sprechenkein Englisch, sie werden ausgegrenzt von Begriffen wie„sale“, „letter of intent“ oder „McClean“. Das erscheintIhnen gerade lächerlich; ich höre das. Aber haben Sieselbst schon einmal versucht, Frau Kollegin, zu verste-hen, was sich hinter dem „Hydra Moisturizing Balm“verbirgt, mit dem Sie sich pflegen?
Vielen Menschen ist das nicht möglich. Damit fehltaber eine Voraussetzung, um sich eigenverantwortlichentscheiden zu können: Das ist eine verständliche Spra-che.
Wir, die christlich-liberale Koalition, haben deshalb Gel-der für die Einstellung von Sprachförderkräften in Kitasmit dem Programm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Inte-gration“ bereitgestellt. Wir haben dafür gesorgt, dass inunseren Ministerien auf Bundesebene Gesetzestexte,Veröffentlichungen und auch die Kommunikation in ver-ständlicher deutscher Sprache verfasst werden. Wir wün-schen uns das übrigens auch von den Ländern. Aber dafehlen uns leider noch die Mitstreiter, Frau SenatorinPrüfer-Storcks. Das hat nichts mit Deutschtümelei zutun, sondern mit Teilhabe und damit auch mit Verbrau-cherschutz.
Dieses Beispiel zeigt, dass Verbraucherpolitik eineQuerschnittsaufgabe ist, die viele politische Fachberei-che betrifft. In den letzten Jahren sind ganz wichtigeSchritte hin zu einer strategischen Ausrichtung der Ver-braucherpolitik getan worden: die Weiterentwicklungdes Verbraucherministeriums, die Stärkung des Verbrau-cherzentrale Bundesverbandes und der Stiftung Waren-test sowie nicht zuletzt die Vorlage des heutigen Be-richts, Frau Ministerin.Der Verbraucherpolitische Bericht stellt eine Erfolgs-bilanz nicht nur für uns, sondern insbesondere auch fürSie dar, liebe Frau Ministerin Aigner. Ihr aktueller Coup,der in den Bericht noch gar nicht aufgenommen ist undden wir in einer eigenen Debatte bewerten könnten, istder Entwurf eines Gesetzes gegen unlautere Geschäfts-praktiken.
Denn anders als die Kollegin Maisch dargelegt hat, hatdas Kabinett diesen Entwurf inzwischen verabschiedet.Dieses Gesetz wird Verbraucher vor Abmahnzocke, be-trügerischer Telefonwerbung und unseriösem Inkassoschützen. Das ist Verbraucherschutz pur.
Genauso eindrucksvoll wie dieses Gesetz ist das Abis Z der Verbraucherpolitik der Ministerin. Verbrauche-rinnen und Verbrauchern geht es heute wirklich besser;das stellt der Bericht fest. Während die Ministerin in ih-rer Rede Bilanz zog, war es auffällig, in welcher beson-deren Lautstärke hier im Plenum geschrien wurde. Fürmich gilt hier der Satz von Wilhelm Busch: „Der Neidist die aufrichtigste Form der Anerkennung.“ Diese An-erkennung ist Ihnen in Gänze zuteilgeworden, FrauMinisterin.
Die Bilanz unserer Ministerin ist auch das Spiegelbilddes Misserfolgs der anderen. Deshalb verstehe ich, dassinsbesondere Sie, Frau Kollegin Künast, persönlich sogekränkt waren. Das wurde angesichts der Raserei deut-lich, in der Sie den Bericht kommentiert haben. Aber ichhätte mich gefreut, liebe Frau Kollegin Künast, wenn Sieauch einmal Ihre Konzepte vorgestellt und Ihre Antwor-ten auf Veränderungen unserer Welt dargelegt hätten,und zwar auch im Sinne der Verbraucher; denn heuteverbraucht der Verbraucher nicht mehr nur allein, son-dern ist zum Teil auch selbst Anbieter von Daten bis hinzu Energie. Sein Ansprechpartner ist nicht mehr derTante-Emma-Laden, sondern der weltweit tätige Kon-zern. Durch das Internet scheint die große Welt auf demRechner greifbar nah zu sein. Politik kann und soll – soverstehen wir Verbraucherpolitik – dem Verbrauchernicht die Verantwortung für seine Entscheidungen ab-nehmen. Aber wir müssen zum Beispiel die Vorausset-zungen dafür schaffen, dass er auf Augenhöhe mit gro-ßen Anbietern agieren kann.Das beste Beispiel ist der digitale Verbraucherschutz.Es ist bereits sehr viel getan worden. Aber die Entwick-lung zeigt, dass wir noch mehr tun müssen. Heute sindpersönliche Daten häufig Handelsware, ohne dass derVerbraucher es weiß. Wir brauchen deshalb den Schutzpersönlicher Daten vor dem Zugriff durch Dritte. Diesmuss schon in der Schule beginnen. Ich hätte mir ge-wünscht, Frau Senatorin, dass Sie auch dazu etwas ge-sagt hätten. Der Umgang mit dem Internet gehört in denLehrplan der Schulen. Aber bislang lässt sich dort nichtsfinden. Dafür tragen Sie Verantwortung. Es wird viel ge-redet, aber nicht gehandelt. Vielleicht fangen Sie persön-lich damit an, das zu ändern.Der Datenschutz ist bei der Entwicklung neuer Gerätefortzuführen. Programme und Anwendungen müssenkünftig noch stärker darauf überprüft werden, inwieweitDatenschutz ausreichend praktiziert wird, übrigens auchin unseren Forschungsprogrammen. Sehr wichtig wirddie EU-Datenschutz-Grundverordnung sein; denn dortwird zukünftig einheitlich für ganz Europa geregelt wer-den, wie Datenschutz verstanden wird, auch ob es einRecht auf Löschung bzw. Vergessen des Internets gibt.Ich bin unserer Ministerin außerordentlich dankbar,dass sie sich auf EU-Ebene dafür einsetzt, dass es genauzu diesen Funktionen kommt, nämlich zum Löschen undzum digitalen Vergessen. Denn unter über das Internetzugänglichen Informationen können Menschen tatsäch-lich ihr Leben lang leiden. Für den Einsatz der Ministe-rin insoweit meinen herzlichen Dank!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27775
Gitta Connemann
(C)
(B)
In Gänze hat die Debatte für mich nur eines gezeigt:Sie haben lediglich Fragen. Wir haben die Antworten –und das ist auch gut so.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zum Verbraucherschutz im Finanzdienstleis-tungsbereich reden, und zwar deswegen, weil diesesThema durchaus relevant ist. Es ist legitim, dass wir indiesen Markt mit Regulierung eingreifen, auch deswe-gen, weil die Bedeutung von Finanzentscheidungen fürdie Lebensentwürfe von Menschen ungeheuer ist.Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. Wenn Sieals junger Mensch eine Altersversorgung abschließenund dann mit 65 oder 67 feststellen, dass das entspre-chende Produkt nicht funktioniert hat, dann ist Ihr Lebenverpfuscht, weil Sie Ihre Entscheidung nicht rückgängigmachen können. Vor diesem Hintergrund ist es gut undrichtig, dass sich diese Bundesregierung wie keine Bun-desregierung zuvor des Verbraucherschutzes im Finanz-dienstleistungsbereich angenommen hat. Dafür möchteich der Ministerin ausdrücklich danken.
Meine Damen und Herren, ich habe diese ohnmäch-tige Wut, diesen Zorn in der Rede von Frau Künast er-lebt. Das war doch wohl viel Zorn und Wut gegen sichselbst, weil sie in ihren sechs Jahren als Ministerin
im finanziellen Verbraucherschutz nichts auf die Kettegekriegt hat
und wahrscheinlich in ihrer politischen Biografie auchnichts mehr auf die Kette kriegen wird, und das ist gutso.
Ich stelle einmal die Einzelmaßnahmen vor, die wirim finanziellen Verbraucherschutz durchgeführt haben:Wir haben mit dem Anlegerschutz- und Funktionsver-besserungsgesetz angefangen. Wir haben dort die offe-nen Immobilienfonds reguliert. Wir haben dafür gesorgt,dass die bankbasierten Berater registriert werden, dasssie Sachkunde nachweisen müssen, dass sie Wohlverhal-tenspflichten haben, dass sie haften müssen. Wir habenein Produktinformationsblatt eingeführt.Wir haben dann die OGAW-IV-Richtlinie umgesetzt.Das hört sich wenig spannend an; aber dadurch habenwir bessere Investmentfonds geschaffen und ein Key In-formation Document eingeführt, das den Verbraucher-schutz verbessert.
Wir haben dann mit dem Finanzanlagenvermittlerge-setz dafür gesorgt, dass eine ganze Branche aus demgrauen Kapitalmarkt herausgekommen ist. Wir habendafür gesorgt, dass die Prospekthaftungspflichten ver-bessert werden. Wir haben dafür gesorgt, dass auch diefreien Finanzanlagevermittler registriert werden müssen,Sachkunde nachweisen müssen, dass sie haften müssen,dass sie Wohlverhaltenspflichten eingehen müssen.Wir haben darüber hinaus die Provisionen im Bereichder privaten Krankenversicherung und Lebensversiche-rung gedeckelt. Wir haben im Gesetz zur Neuordnungder deutschen Finanzaufsicht dafür gesorgt, dass derVerbraucherschutz das erste Mal bei der BaFin vernünf-tig verankert worden ist. Das ist das, was SPD-Finanz-minister elf Jahre lang nicht geschafft haben, meine Da-men und Herren.
Wir haben gestern Abend die Umsetzung der AIFM-Richtlinie vorgelegt, ein 600-Seiten-Werk, mit dem wirwesentliche Verbesserungen im Bereich des gesamtenInvestmentvermögens erzielt haben. Wir haben einenQuantensprung geschafft, ein Kapitalanlagegesetzbuch,das Rechtsgeschichte schreiben wird. Wir haben gesternAbend zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesre-publik den Entwurf einer Regulierung des Bereiches derHonorarberater eingebracht. Wir haben ein Berufsbildder Honorarberater im Bereich der Anlageberatung ge-schaffen, und das ist gut und richtig.Wir sind dabei, die Fehler aus den vergangenen Le-gislaturperioden auszumerzen. Wir haben in der GroßenKoalition, was ich ausdrücklich gutheiße, ein Beratungs-protokoll eingeführt. Dieses Protokoll funktioniert abernicht so, wie wir uns das gedacht haben. Deswegen eva-luieren wir es, und wir werden zügig Vorschläge unter-breiten, wie man das noch besser machen kann.
Wir bringen uns unglaublich stark in den Prozess un-serer europäischen Kollegen ein, die mit der Überarbei-tung der Richtlinie für Finanzinstrumente, MiFID II, einganz dickes Verbraucherschutzpaket in Angriff nehmen.Wir haben darüber hinaus unglaublich viele Einzelmaß-nahmen auf den Weg gebracht, so die Verbesserung derQualität im Zahlungsverkehr, die Verbesserung bei denGeldautomaten, das Pfändungsschutzkonto und sehrviele andere Sachen.Der beste Verbraucherschutz für die Menschen in die-sem Land ist immer noch, wenn die Finanzmärkte stabilsind, wenn die Menschen das, was sie angelegt haben,nicht verlieren. Dass diese Finanzmärkte in diesem Landstabil sind, dass nicht noch einmal das passiert, was imJahr 2008 passiert ist, dazu haben wir beigetragen, in-
Metadaten/Kopzeile:
27776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Ralph Brinkhaus
(C)
(B)
dem wir über 25 Maßnahmen und Projekte auf den Weggebracht haben.
Meine Damen und Herren, wir haben uns an der ge-samten Wertschöpfungskette orientiert. Wir haben dieMärkte reguliert. Wir haben die Produkte reguliert. Wirhaben die Vertriebswege reguliert. Wir kümmern unsauch darum, dass die Produkte vernünftig bleiben, wennsie von dem Verbraucher erworben worden sind.Frau Künast, die höflicherweise gerade aufgestandenist und den Saal verlassen hat, während ich rede, hat dieBewertungsreserven angesprochen.
Sie sollte sich die Frage stellen, ob die Reform der Be-wertungsreserven, die wir vorhaben, den Versicherungenoder zukünftigen versicherten Generationen nützt. Esgehört auch dazu, dass wir uns im Versicherungsbereichund bei allen Finanzanlageprodukten um die zukünftigeGeneration kümmern.
Meine Damen und Herren, wir haben eine Devise; wirhaben eine Grundlinie: Wir wollen im finanziellen Ver-braucherschutz Schutz statt Bevormundung; wir wollenInformation und Transparenz statt Bürokratie. Daran las-sen wir uns gerne messen. Das ist der fundamentale Un-terschied zur linken Seite des Hauses, insbesondere zuden Grünen. Wir glauben an den Menschen. Wir glaubenauch, dass die soziale Marktwirtschaft mit einem ver-nünftigen Regelwerk immer noch die beste aller Wirt-schaftsformen
und im Übrigen auch die demokratischste aller Wirt-schaftsformen ist. Wir sind gegen Bevormundung. Wirmöchten nicht, dass in Berlin jemand sitzt, der uns vor-schreibt, wann wir Fleisch essen, welche Autos wir fah-ren und welche Finanzprodukte wir kaufen.
Die Grundannahme von grüner und roter Verbrau-cherschutzpolitik ist: Der Verbraucher ist dumm; der An-bieter ist böse. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.Wir glauben an die Märkte. Wir glauben an vernünftigregulierte Märkte. Wir glauben an die Mündigkeit derVerbraucher. Das verweist auf die Entscheidung, die dieWählerinnen und Wähler in diesem Land am 22. Sep-tember zu treffen haben: Glauben Sie an die Menschen,oder glauben Sie an grüne und rote Bevormundung?Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Nun müssen wir ordentlich über eine Reihe von Vor-lagen befinden.Zunächst wird interfraktionell die Überwindung derVorlage auf der Drucksache – –
– Vielleicht läuft es im Ergebnis auf einen ähnlichen Ef-fekt hinaus. Aber das wollen wir auf diese Weise nichtvorwegnehmen. – Es geht um die Vorlage auf Drucksa-che 17/8998. Hier wird interfraktionell die Überweisungan die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istoffensichtlich der Fall.Dann kommen wir nun unter dem Tagesordnungs-punkt 33 b zur Abstimmung über die Beschlussempfeh-lung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz zu dem Antrag der SPD-Fraktionmit dem Titel „Moderne verbraucherbezogene For-schung ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen gesetzli-cher Regelungen auf Verbraucher prüfen“. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf derDrucksache 17/4891, den Antrag der SPD-Fraktion aufDrucksache 17/2343 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Diese Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-tion angenommen.Unter dem Tagesordnungspunkt 33 c geht es um dieAbstimmung über eine weitere Beschlussempfehlungdieses Ausschusses über einen Antrag der SPD-Fraktionmit dem Titel „Verbraucherpolitik neu ausrichten – Ver-braucherpolitische Strategie vorlegen“, Drucksache17/8922. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/9602, diesen Antrag derSPD-Fraktion abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mitMehrheit angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 sowie denZusatzpunkt 8 auf:34 Beratung des Antrags der Abgeordneten SiegmundEhrmann, Lars Klingbeil, Martin Dörmann, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDProjekt Zukunft – Deutschland 2020 – EinPakt für die Kreativwirtschaft– Drucksache 17/12382 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten DagmarG. Wöhrl, Wolfgang Börnsen , Dorothee
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27777
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten ReinerDeutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, SebastianBlumenthal, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPWettbewerbsfähigkeit der Kultur- und Krea-tivwirtschaft weiter erhöhen – Initiative derBundesregierung verstetigen und ausbauen– Drucksache 17/12383 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-ren.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst demKollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktiondas Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBerlinale ist gerade zu Ende gegangen. Sie alle haben,wie ich, die Kritiken entweder gelesen oder gehört. Dasagen die einen: Zwischen Oscarverleihung und Canneshat kein anderes Festival Platz; da kann die Berlinale garnicht gelingen. Da sehen die einen zu wenig Stars aufdem roten Teppich in Berlin; den anderen sind geradedie Stars auf dem roten Teppich ein Dorn im Auge, weildie angebliche Machtübernahme durch Hollywood be-fürchtet wird. Man kann die ganzen Kritiken schon zitie-ren, bevor das Festival stattgefunden hat. Aber ich sageIhnen: Es war ein großes Filmfestival hier in Berlin, dasvor allen Dingen von anderen Filmfestivals unterscheid-bar ist, mit großartigen Filmen, mit großer Schauspiel-kunst, mit bewegenden Geschichten. Deshalb zum An-fang von hier aus ein ganz herzlicher Glückwunsch andie Preisträgerinnen und Preisträger der diesjährigenBerlinale!
Jetzt, ein paar Tage später, sind die roten Teppichewieder eingerollt. Die Realität ist zurück, und sie bestehtfür Künstlerinnen und Künstler, auch für viele Gäste derBerlinale in aller Regel eben nicht aus Edellimousinen,Cocktailpartys und Galaabenden. Der Glamour kanneben nicht darüber hinwegtäuschen, dass das echte Le-ben vieler Kulturschaffender eher mit dem Backen klei-ner Brötchen zu tun hat: Die Kreativität wird eher weni-ger für die Kunst gebraucht als vielmehr dafür, bis zumMonatsende irgendwie über die Runden zu kommen.Das ändert sich, meine sehr verehrten Damen undHerren, auch nicht dadurch, dass wir die Kreativwirt-schaft zu einem Wirtschaftsfaktor erklären. Es ist zwarrichtig: Die Wertschöpfung, die hier Jahr für Jahr er-reicht wird, kann sich locker mit der Automobil- odermit der Chemiebranche messen – inzwischen arbeitenmehr als 1 Million Menschen in der Kreativwirtschaft –,trotzdem bleibt es dabei: Faire Bezahlung und soziale Si-cherheit sind in dieser Branche immer noch ein Fremd-wort.
Natürlich muss es nicht immer der rote Teppich sein.Aber ich sage auch: Eine Gesellschaft, die ihre Künstlernicht wertschätzt, ist sich selbst nichts wert. Wertschät-zung und Fairness gegenüber Künstlerinnen und Künst-lern geht deshalb weit über Sonntagsreden hinaus, gehtauch weit über den Antrag hinaus, den uns die Koali-tionsfraktionen hier heute vorgelegt haben. Lassen wireinmal außen vor, dass sie mit diesem Antrag sozusagenin letzter Minute kommen, lassen wir einmal beiseite,dass jedenfalls uns vieles in diesem Antrag bekannt vor-kommt und wir es irgendwie schon in unseren Anträgengesehen haben. Darüber will ich gar nicht reden; denndarin liegt immerhin die Chance gemeinsamer Bemü-hungen hier im Parlament. Trotzdem fragt man sich na-türlich, wenn man Ihren Antrag sieht: Warum haben Sieeigentlich nichts davon in den letzten drei Jahren umge-setzt? Das ist die entscheidende Frage.
Sie sind nämlich mit Versprechungen in diese Legis-laturperiode gestartet.
Sie haben die Förderung innovativer Projekte in der Kre-ativwirtschaft versprochen; nur ist daraus nicht viel ge-worden. Sie haben versprochen, das Urheberrecht an diemoderne Informationsgesellschaft anzupassen. Unver-züglich, so haben Sie damals gesagt, wollten Sie uns hierden dritten Korb der Reform des Urheberrechts vorle-gen. Ich weiß auch, dass viele Kolleginnen und Kollegenaus den Regierungsfraktionen das immer noch wollen;nur bewegt hat sich eben nichts, rein gar nichts.Das ist hier nicht anders als bei der Rente, beim Min-destlohn oder bei der Finanzmarktbesteuerung: Der eineTeil der Koalition will etwas, der andere Teil will etwasanderes oder gar nichts, und das Ergebnis ist gegensei-tige Blockade. Ich könnte auch sagen: Das Justizministe-rium hat keinen Handschlag für den dritten Korb der Re-form des Urheberrechts gemacht. Deshalb bleibt diebittere Bilanz: warme Worte, keine Taten. Das ist ebenzu wenig, wenn es um die Lebensgrundlage für Kultur-schaffende geht, meine Damen und Herren.
Genau darum geht es: Wenn wir heute darüber reden, dasUrheberrecht auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht esum die Sicherung der Lebensgrundlage der Kulturschaf-fenden.
Metadaten/Kopzeile:
27778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
Wir brauchen und wir wollen, vermutlich sogar mitei-nander, auf der einen Seite die Freiheit im Netz; aber aufder anderen Seite darf das Digitale den Künstler nichtfressen. Denn das Leben bleibt analog, hat Monatsan-fang und Monatsende, und dazwischen liegen dreißigTage Alltag, der irgendwie bewältigt werden will. Des-halb muss es uns gelingen, künstlerische Arbeit in derdigitalen Welt angemessen zu entlohnen. Das klingt gut;das ist auch notwendig. Aber wenn das gelingen soll,dann müssen wir gleichzeitig durch eine aufgeklärteNetzpolitik dafür sorgen, den Kreativen mehr Raum undmehr Chancen im Netz selbst zu geben.Die Abschottung zwischen Kulturförderung auf dereinen Seite und Wirtschaftsförderung auf der anderenSeite wird nicht funktionieren. Eine Kulturförderung, diesozusagen für die Kultur außerhalb des Netzes zuständigist, und eine Wirtschaftsförderung, die zuständig ist fürdas Netz, aber nicht für die Kultur: Diese gegenseitigeAbschottung müssen wir überwinden, weil sie längstvon der Wirklichkeit überholt ist.Allein dieses Beispiel zeigt: Die Aufgaben, vor denenwir stehen, sind umfangreich und komplex. Das ist dereigentliche Grund dafür, weshalb wir schon seit längererZeit die politische Binnendiskussion, die Diskussion in-nerhalb der Partei und der Ausschüsse, verlassen habenund uns mit denen zusammengesetzt haben, die die ge-waltigen technologischen Veränderungen in ihrer tägli-chen Praxis erleben.Mit vielen Künstlern, Kulturunternehmern und Ex-perten der digitalen Welt führen wir seit einiger Zeit ei-nen intensiven Dialog. Was wir als regelungsbedürftigund regelungsgeeignet erkannt haben, das nennen wirden Kreativpakt. Es geht hier um modernisierte Rah-menbedingungen, es geht um soziale Absicherung vonKulturschaffenden und Kreativen, und es geht insgesamt– das ist das eigentliche Ziel – um die Förderung des rie-sigen Potenzials der Kreativwirtschaft und des Kreati-ven. Ich hoffe, dass wir uns in diesem Parlament darübereinig sind.
Die praktische Erfahrung derjenigen, die dabei waren,hat zu guten Ergebnissen geführt. Viele davon finden Siein unserem Antrag wieder. Tim Renner und Paul vanDyk zum Beispiel leben nicht nur für, sondern auch vonder Musik. Sie wissen, dass das Ganze nur funktioniert,wenn das Urheberrecht den Komponisten, den Musikernund den Sängern ein faires Einkommen ermöglicht, ge-rade auch in Zeiten des Internets.Wir wollen einen gerechten Ausgleich zwischen denInteressen der Urheber, der Verwerter und der Nutzer.Wir haben eine ganze Reihe von konkreten Vorschlägenentwickelt – Sie finden sie in unserem Antrag –, um diestrukturell schwächere Position des Urhebers zu verbes-sern, aber auch, um zum Ausgleich zwischen Urhebern,Nutzern und Verwertern zu kommen.Wir müssen darüber hinaus – das ist meine festeÜberzeugung – wieder begreiflich machen, dass Verwer-tungsgesellschaften – bei aller Kritik im Detail, die auchich kenne – den Nutzern nicht etwas nehmen, worauf sieeigentlich kostenfreien Anspruch haben, sondern dassVerwertungsgesellschaften vor allen Dingen Künstlerschützen, weil Leben in und von der Kunst erst möglichwird, wenn die Künstler von ihren Ideen und Beiträgenzur Kunst tatsächlich leben können. Die Vielfalt vonKunst, die wir in unserem Alltag als so selbstverständ-lich empfinden, wird am Ende davon abhängen.
Ein gutes, legales Angebot ist der beste Schutz vor Pi-raterie, den wir uns vorstellen können. Das gilt nicht nurfür den Bereich der Musik. Das gilt erst recht dort, woman für die Nutzung von Kreativangeboten fast aus-schließlich auf das Netz angewiesen ist, Beispiel Game-Entwickler. Wir haben mit denjenigen gesprochen, diedie Erfahrung gemacht haben, dass man auch im Netzfür gute Produkte sein Geld bekommt, wenn das Ange-bot stimmt.Deshalb lautet unser Vorschlag: Pfade entwickeln undfür gute Angebote sorgen, aber gleichzeitig auch dieEinsicht fördern, dass nicht nur das Smartphone Geldkostet, sondern auch das, was auf dem Smartphone draufist, der Content, die Kunst. Darum geht es. Vergüten stattverbieten, das ist, jedenfalls nach unserer Auffassung,der richtige Weg.
Vergütung ist der eine Aspekt. Soziale Absicherungist der andere Aspekt. Mit Verlaub, auch da passt vielesnicht mehr zusammen. Anders gesagt: Da stößt ein dy-namischer Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts auf ein so-ziales Sicherungssystem des 19. Jahrhunderts. Da ist esfast zwangsläufig, dass viele durch den Rost fallen. Ja,wir haben eine Künstlersozialkasse – viele Sozialdemo-kraten haben daran mitgewirkt, dass das funktioniert –,aber auf den Lorbeeren der Vergangenheit darf man sichnicht ausruhen. Das ist kein Ruhekissen. Wenn Künstlerauch in zehn Jahren noch sagen sollen: „Das mit derKünstlersozialkasse war eine gute Idee, das trägt“, dannmüssen wir uns jetzt möglichst miteinander daranma-chen, diese Künstlersozialkasse tatsächlich zukunftsfestzu machen.
Die Künstlersozialkasse darf aber nicht der Notnagelfür alle diejenigen sein, die irgendwie in der Kreativwirt-schaft Beschäftigung finden. Es geht auch darum – dasist nicht einfacher, vielleicht sogar noch schwieriger –,die klassischen Sozialversicherungssysteme anzupas-sen. Wir sehen, dass gerade in der Kreativwirtschaftviele unterwegs sind, die nicht langjährig und nicht ohneUnterbrechungen tätig sind. Deshalb brauchen wir auchin den klassischen Sozialversicherungssystemen Verbes-serungen für diejenigen, die überwiegend in Projektenarbeiten, die zwischen abhängiger und selbstständigerBeschäftigung wechseln. Wir brauchen deshalb die Aus-weitung der Rahmenfrist auf drei Jahre, wir brauchen dieAufnahme von Soloselbstständigen, und wir brauchensoziale Mindeststandards bei der Kulturförderung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27779
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(C)
(B)
Alles das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Der Kreativ-pakt, den Sie in diesem Antrag wiederfinden, beinhaltetnatürlich viel mehr. Ich möchte sagen, worum es vor al-len Dingen geht: Es geht ausnahmsweise nicht um dieVerteilung von Goodies. Es geht nicht um 1 MillionEuro mehr für den Film oder 1 Million Euro mehr fürden Tanz. Wir haben einmal versucht, das Rituelle in derKulturpolitik zu durchbrechen, uns mit den Strukturender Veränderung zu befassen. Deshalb wird es auch kei-nen spontanen Beifall – das erwarte ich auch gar nicht –vom Bühnenrand geben. Das, was Sie in diesem Antragfinden, ist aber mehr als eine Ansammlung von Ankün-digungen. Das ist ein Programm.Wer das Geschäft kennt, der weiß: Der Weg in einebessere Zukunft von Kunst und Kultur liegt abseits derroten Teppiche. Er wird uns durch viel Unbekanntes unddurch so manches gesetzgeberische Unterholz führen.Aber lassen Sie uns die Kreativität, den Tatendurst undden Optimismus der Kultur zum Vorbild nehmen für diePolitik. Wir wollen eine Neuaufstellung der Politik fürKultur und Kreativwirtschaft. Unsere Vorschläge liegenauf dem Tisch. Wir laden Sie herzlich ein, mitzureden,mitzudenken und vor allen Dingen mitzumachen.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Dagmar Wöhrl.
Herr Präsident, vielen herzlichen Dank. – Ich glaube,Herr Kollege Steinmeier, Sie haben bei Ihrem Lob fürdie Berlinale unseren Staatsminister vergessen. Ohne un-seren Staatsminister, Herrn Neumann, wäre nicht mög-lich gewesen, was viele Menschen in den letzten Wo-chen erleben konnten. – Vielen herzlichen Dank fürdiese großartige Unterstützung!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man vonKultur spricht, denken die meisten an öffentliche Förde-rung, an Staatstheater, an Opernhäuser, vielleicht auchan Kinos; aber die wenigsten denken an die vielen klei-nen Betriebe und Kleinstgewerbe, die versuchen, sichüber Wasser zu halten, die erwerbswirtschaftlich tätigsind, an die vielen Kunstbühnen, Galerien, Tonträgerund vieles andere mehr. Das sind diejenigen, die die Kul-tur beleben.Wir wissen, dass Kultur kein weicher Standortfaktormehr ist.Die Wirtschaftszahlen belegen es: 244 000 Unterneh-men sind inzwischen hier tätig, und es gibt in diesem Be-reich über 1 Million Beschäftigte. Mittlerweile erreichendie Umsätze – das ist angesprochen worden – mit über137 Milliarden Euro längst diejenigen der Automobil-industrie oder anderer großer Industriezweige.Das bedeutet für unser rohstoffarmes Land, dass dieKultur- und Kreativwirtschaft eine der wichtigsten Zu-kunftsressourcen in unserem Land ist. Das heißt aberauch für uns, dass wir als Union kompromisslos davonüberzeugt sind, dass wir in die Kulturschaffenden inves-tieren müssen, um so Arbeitsplätze und Wirtschaftskraftauch in Zukunft zu erhalten.
Wir brauchen diese Kreativität für den technologi-schen Fortschritt in unserem Land. Das war auch derGrund dafür, dass das Wirtschaftsministerium 2007 un-ter Wirtschaftsminister Michael Glos und StaatsministerNeumann die Initiative Kultur- und Kreativitätswirt-schaft ins Leben gerufen hat. Das war ein wichtigerSchritt. Wir sind froh, dass wir damals diesen Schritt ge-tan haben. Es war wichtig, diesen wirtschaftlichen undkreativen Bereich viel mehr in das politische Gescheheneinzubinden und ihn stärker ins öffentliche Bewusstseinzu bringen.Was wussten wir damals? Wir hatten damals keineBestimmungsmerkmale. Wir wussten damals nicht, wel-che Handlungsoptionen wir überhaupt verfolgen sollen.Es stellte sich die Frage: Wie können wir diese Kreati-ven unterstützen, damit sie noch wettbewerbsfähigerwerden – nicht nur national, auch international?Wir haben uns hingesetzt und Branchenhearings,Fachforen und Expertengremien in ganz Deutschlanddurchgeführt, um herauszufinden: Was ist notwendig,um auch hier unterstützend tätig sein zu können?Das Wichtigste war, dass wir am Anfang ein Kompe-tenzzentrum in Eschborn mit sieben Regionalbüros ge-schaffen haben.
– Acht, Sie haben recht, Herr Staatssekretär. – Es gibt achtRegionalbüros und Beratungsstellen in über 77 Städten;sie alle sind aktiv. Inzwischen haben über 8 000 Bera-tungsgespräche stattgefunden.
Es gab über 350 Foren. So hat man versucht, dass alleAkteure zusammenkommen, um ihnen zu helfen, sich zuvernetzen. Man hat ihnen Fördermöglichkeiten aufge-zeigt und ihnen geholfen, auf Auslandsmessen aktiv zusein. Man hat ihnen bei der Aus- und Weiterbildung ge-holfen und vieles andere mehr.Die Beratung fand nicht nur vor Ort statt, sondern manhat auch einen Internetauftritt eingerichtet, auf den jedersofort zugreifen kann. Es gibt dort über 70 000 Klicks proMonat. Das alles wäre ohne unsere Initiative nicht ge-schehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir vergeben Preise, um Anreize zu schaffen, bei-spielsweise den Computerspielpreis oder den Design-
Metadaten/Kopzeile:
27780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
preis. Für die Auszeichnung „Kultur- und Kreativ-piloten“, die zum dritten Mal stattfand, haben sich über600 Teilnehmer beworben.Aber wir wissen natürlich auch, dass wir gefordertsind und dass wir unsere gesetzlichen Rahmenbedingun-gen optimieren müssen. Die Digitalisierung schreitet vo-ran; das ist richtig. Wir müssen uns mit neuen Themenauseinandersetzen. Dazu gehören auch das Urheberrechtund das Recht des geistigen Eigentums; ich will dasnicht verschweigen.
Lieber Kollege Steinmeier, es nützt jedoch nichts,wenn man eine Branche beschreibt, aber nicht sagt, wieman ihr helfen kann.
Das ist nicht einfach. Wir wissen, dass hier eine Proble-matik besteht. Dabei sind Urheber, Nutzer und Verwerterzu berücksichtigen. Zum einen gibt es das Recht, dass je-der von seiner kreativen Arbeit leben können muss. Zumanderen wollen wir aber auch die Freiheit der Kommuni-kation im Netz. Das alles muss zusammengebracht wer-den. Das ist nicht so einfach. Da kann man nicht plattitü-denhaft sagen: Das muss geregelt werden. Wir hoffen,dass auch von Ihrer Seite dazu praktikable Vorschlägekommen, die realisierbar sind.
Eine ähnliche Problematik besteht im Zusammenhangmit dem Recht auf Informationsfreiheit und dem Rechtauf geistiges Eigentum. Auch hier müssen wir versu-chen, im Dialog mit diesen beiden Parteien, die sich hiergegenüberstehen, einen Konsens zu finden, damit jedemrecht getan ist.Ich habe es gesagt: Wir sind froh, dass wir damalsdiese Initiative auf den Weg gebracht haben. Sie hat sichweiterentwickelt. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen.Es ist unwahrscheinlich viel getan worden. Aber die Ent-wicklungen werden immer schneller. Wir sehen dasbeim Internet. Es gibt unwahrscheinlich viele Apps undneue Kommunikationsformen. Immens viele Kreativetummeln sich in diesem Bereich.Wir müssen darüber nachdenken, ob wir die elf Teil-branchen, die wir festgelegt haben, so statisch belassenwollen und wie wir es schaffen, den neuen Entwicklun-gen zukünftig Rechnung zu tragen. Wir müssen – das istganz dringend – die Fördermaßstäbe weiter modernisie-ren. Wir wissen um die Problematik des Eigenkapitals,nicht nur in der Kultur- und Kreativwirtschaft, sondernauch bei anderen kleinen und mittleren Betrieben. Wirmüssen dafür sorgen, dass es zukünftig möglich seinwird, von der KfW Kredite auch für diese Kleinstbe-triebe zu bekommen, ohne dass Eigenkapital vorhandenist.
Wir müssen – das ist ganz wichtig – von diesem tech-nologischen Innovationsbegriff wegkommen. Was heißttechnologischer Innovationsbegriff? Das heißt, dass diemeisten Förderprogramme heute so aufgebaut sind, dassman eine Förderung nur bekommt, wenn man den tech-nologischen Innovationsbegriff erfüllt. Aber es gibt, ge-rade bei den Kreativen, wahnsinnig viele Bereiche, indenen das nicht der Fall ist. Nehmen Sie als Beispiel ei-nen Restaurator. Er betreibt seinen Restaurationsbetriebnicht mit neuen, sondern mit alten Techniken.Eine große Rolle in diesem Bereich spielen Frauen.Dies ist ein Riesenbereich, liebe Rita. Über 50 Prozentder Beschäftigten in diesem Bereich sind Frauen, über40 Prozent der Selbstständigen sind Frauen. Das ist mitanderen Bereichen, in denen es nur 7 Prozent sind, garnicht zu vergleichen. Wir müssen daher die Beratungs-angebote anpassen. Ich glaube, wir sind hier auf einemguten Weg.
Zum Schluss möchte ich noch eines erwähnen, daswir, glaube ich, noch mehr in den Blick nehmen müs-sen. Dies haben wir ein bisschen vernachlässigt. Esgeht um das kreativwirtschaftliche Potenzial des Hand-werks. Das Handwerk erscheint nicht in unseren Teilbe-reichen, aber 55 000 dieser Betriebe sind überwiegendkultur- und kreativwirtschaftlich tätig. Ich denke zumBeispiel an Goldschmiede, an Musikinstrumentenbauerund Uhrmacher. Dies ist wirklich ein Hort des Spezial-wissens; sie sind der Träger von Innovationen. WennSie heute sagen, dass der Softwarebereich der digitaleTeil der Kultur- und Kreativwirtschaft ist, dann ist dasHandwerk der analoge Teil. Deswegen müssen wir,wenn wir die Teilbereiche neu definieren, darauf ach-ten, dass das Handwerk seinen richtigen Standort be-kommt. Die EU-Ebene ist uns da voraus. Sie bezeich-net es inzwischen als „Arts and Crafts“. Sie spricht alsonicht allein von „Arts“, sondern auch von „Crafts“. Wirsollten es dem gleichtun.Wir sind in der Außenwirtschaftsförderung gut voran-gekommen. Seit fünf Jahren, seit wir diese Initiative insLeben gerufen haben, ist „Created in Germany“ einName geworden. Unsere kreativ Tätigen sind auf sehrvielen Messen vertreten. Auf der Designmesse vor kur-zem in Hongkong hatten wir einen tollen Auftritt.Aber wir wissen, dass immer noch viel zu tun ist. Wirwerden dieser Branche weiterhin ein Gesicht geben. Wirwerden weiterhin dafür sorgen, dass die Branche in derpolitischen Diskussion und in der öffentlichen Dar-stellung ein Gewicht hat. Kreativität ist eine Schlüssel-funktion. Wir brauchen sie für unseren technologischenFortschritt. Wir wissen: Ohne Kreativität gibt es keineInnovationen, und ohne Innovationen wird es keinenFortschritt geben.
Es ist ein harter Standortfaktor geworden. Wir sind eineKulturnation. Ich glaube, wir sind auch stolz darauf. Da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27781
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
mit wir auch in Zukunft stolz darauf sein können, müs-sen wir weiterhin daran arbeiten.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Dr. Petra Sitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! KlugeMenschen wissen es längst: Digitalisierung und Internethaben uns einen tiefgreifenden Strukturwandel beschert.Vorreiter ist ganz zweifelsohne der Kreativsektor, überden wir heute reden. Die Kolleginnen und Kollegen derSPD sind nun dieser Erkenntnis gefolgt und haben unseinen Antrag vorgelegt, der zeigen soll, wie man diesenStrukturwandel politisch begleiten kann. Das ist aus un-serer Sicht im Prinzip allemal der richtige Ansatz, und erist meilenweit realitätsnäher als der heute ebenfalls zurDebatte stehende Antrag der Regierungsfraktionen.
CDU/CSU und FDP bezeugen mit ihrem Antrag ein-mal mehr beeindruckend, dass sie diesen Strukturwandelnicht im Ansatz verstanden haben.
Dass Schwarz-Gelb mit verlässlicher Konsequenz diemassiven sozialen Probleme, die sich im Kreativsektorauftun, ignoriert, ist für mich ein weiterer Grund, michheute vor allem mit dem Antrag der SPD und ihren Vor-schlägen zu beschäftigen. Schwarz und Gelb bleibeneben Signalfarben für Untiefen, und denen weicht manbesser aus.
Der SPD-Antrag versucht sehr wohl, Fahrwasser zugewinnen, sprich: die Chancen und Folgen der Digitali-sierung für die Kreativwirtschaft zu benennen. So einRundumschlag – das hat gerade schon eine Rolle ge-spielt – muss zwangsläufig an vielen Stellen eher ober-flächlich bleiben. Ansonsten würde der Rahmen ge-sprengt; das ist ganz normal.Wirklich spannend ist es an den Stellen, an denen esnotwendig ist, die Dinge durch eigene Vorstellungen undVorschläge zu konkretisieren. Ich glaube, zu vielenPunkten Ihres Antrags haben wir Linke bereits Anträgevorgelegt bzw. konkrete Vorschläge erarbeitet. Ich nenneIhnen nur ein paar Beispiele.Im Hinblick auf den von der SPD geforderten fairenInteressenausgleich zwischen Urhebern, Nutzern undVerwertern haben wir 2011 einen umfassenden Antragzur Reform des Urheberrechts vorgelegt. Im Herbst desvergangenen Jahres haben wir den Entwurf eines Geset-zes zur Schaffung eines durchsetzungsstarken Urheber-vertragsrechts vorgelegt, der in Zusammenarbeit mit Ur-hebern, Juristen und Juristinnen und Verlegern – quasiOpen Source – entstanden ist und mit dem wir genau dieDinge ändern wollten, die auch die SPD in ihrem Antragkritisch sieht.Sie fordern in Ihrem Antrag eine Reform der Verwer-tungsgesellschaften, die diese transparenter machen unddie Ausschüttungspraxis fairer gestalten soll. Wir habenauch dazu einen Antrag eingebracht.Schließlich: Sie wollen ein offenes WLAN fördernund dazu die Haftungsunsicherheiten beseitigen. Wir ha-ben auch dazu einen Antrag erarbeitet, der auf eine Ini-tiative des Vereins Digitale Gesellschaft zurückgeht, undihn in den Bundestag eingebracht.
Mit Verlaub, es geht mir nicht darum, mit der SPDHase und Igel zu spielen. Worauf ich hinauswill, ist, dasses ein gemeinsames Potenzial gibt, ein progressives undsolidarisches Programm zur Begleitung des Struktur-wandels namens Digitalisierung umzusetzen. In diesemSinne möchte ich Sie und natürlich auch die anderenFraktionen dafür gewinnen, bereits vorliegende Kon-zepte und Vorschläge mit aufzunehmen und diese letzt-lich zu realisieren.
So spricht die SPD in ihrem Antrag beispielsweisevon sozialen und ökonomischen Risiken, die mit demWachstum der Kreativbranche verbunden sind. Richtig!Aber leider ist es bei der Benennung der Risiken geblie-ben. Was noch schwerer wiegt, ist, dass Sie, was die be-reits vorhandenen Lösungsvorschläge angeht, hinter Ih-ren Möglichkeiten zurückbleiben.Meine Damen und Herren, die Kreativbranche wirdim Allgemeinen als Boombranche bezeichnet. Gern wirdauch die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse in derKreativindustrie als Prototyp für Entwicklungen desGesamtarbeitsmarktes angesehen; das hat bei HerrnSteinmeier bereits eine Rolle gespielt. Aber aus meinerSicht muss man davor warnen. Man muss die Signale,die sich dort zeigen, bereits heute ernst nehmen und sichfragen: Was sind das von der Qualität her für Arbeitsver-hältnisse?Bei den sogenannten Kreativjobs geht es viel zu oftum prekäre Beschäftigung. Lange Arbeitszeiten, margi-nale Stundenlöhne, unbezahlte Überstunden, geringeJobsicherheit und unfreiwillige Scheinselbstständigkeitgehören schlicht und ergreifend zum Alltag in dieserBranche. Der Mehrzahl der Kreativarbeiterinnen und -ar-beiter fehlt massiv soziale Absicherung. Ich erinnere ansolche Dinge wie private Rentenvorsorge, Krankengeld-regelungen oder die bereits angesprochenen Bedingun-gen für die Auszahlung von Arbeitslosengeld I, die fürdie betreffenden Personen gar nicht oder fast nicht zu er-füllen sind.
Metadaten/Kopzeile:
27782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dr. Petra Sitte
(C)
(B)
Was brauchen wir also? Wir brauchen Mindesthono-rare für Freiberufler und Soloselbstständige. Wir brau-chen eine Neuregelung der Anwartschaft im Hinblickauf das Arbeitslosengeld I; auch hierzu haben wir imÜbrigen einen Antrag in den Bundestag eingebracht.
Wir müssen – da kann ich mich der SPD nur anschlie-ßen – die Künstlersozialkasse nicht nur erhalten, wirmüssen sie stärken.
Der offene Kunstbegriff im Künstlersozialversicherungs-gesetz muss unbedingt erhalten bleiben. Der damit ein-hergehende Ermessensspielraum zur Aufnahme vonneuen Gruppen von Kreativen sollte so weit wie möglichausgeschöpft werden. Wenn wir nach der Finanzierungdieser Künstlersozialkasse fragen, dann ist es auch not-wendig, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass dieVerwerter – und zwar alle Verwerter – zur Zahlung mitherangezogen werden müssen.
Insofern unterstützen wir die vorgeschlagenen Neurege-lungen.Auch in der Kreativbranche braucht es konkrete Frau-enfördermaßnahmen. Es ist erstaunlich; aber ausgerech-net in diesem Punkt ist das Papier der Koalition progres-siver – wenn auch minimal. Frauen sind von prekärenVerhältnissen in der Kreativbranche besonders stark be-troffen; das konnten wir in einer aktuellen Studie desDeutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu den So-loselbstständigen lesen.Mit der Konzentration auf die reine Kreativwirtschaftläuft der SPD-Antrag darüber hinaus Gefahr, Kultur alsGanzes aus dem Blick zu verlieren und allein wirtschaft-liche Aspekte in den Vordergrund zu rücken. Wir brau-chen aber eine Kulturpolitik, die alle drei Bereiche derKultur- und Kreativszene umfasst: den privatwirtschaft-lichen Sektor, den frei-gemeinnützigen Sektor und denBereich der öffentlichen Förderung. Warum? Weil diesedrei Bereiche ein eng verwobenes Beziehungsgeflechtbilden. Unternehmen und Kultureinrichtungen finanzie-ren sich heutzutage aus verschiedenen Töpfen und arbei-ten nach Mustern, die aus allen drei genannten Berei-chen stammen.Auch die Kreativen selber – das hat vorhin schon eineRolle gespielt – vereinen in ihrem Arbeiten häufig alledrei Bereiche; ansonsten könnten sie gar nicht überle-ben. Wie alle Studien zeigen, wird abwechselnd oderzeitgleich selbstständig und abhängig beschäftigt gear-beitet.Dass rund 90 Prozent der Erwerbstätigen im Kulturbe-reich heute im privatwirtschaftlichen Sektor tätig sind, ist– das werden viele Kommunalpolitikerinnen und Kom-munalpolitiker sofort nachvollziehen können – keine zu-fällige Entwicklung. Diese Entwicklung geht eindeutigauf den massiven Rückbau öffentlicher Strukturen zu-rück. Infolgedessen hat sich die wirtschaftliche Lage derKulturschaffenden nachhaltig verschlechtert. Um wiedereine Balance herzustellen, ist es wichtig, dass gerade demfrei-gemeinnützigen Bereich und dem öffentlichen Kul-turbereich viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.Diese Bereiche müssen gestärkt werden.
Kurzum: Wir brauchen eine Vernetzung der drei Kre-ativbereiche. Das bedeutet in der Konsequenz, dass dieKreativwirtschaft in die öffentliche Kulturförderung ein-bezogen werden muss – aber nur mit ganz klaren kultu-rellen Zielsetzungen. Eine verengte, ökonomisierteSichtweise auf Kultur darf nicht zum Leitbild werden.Ich glaube, dass wir da relativ schnell einig sind.
Wichtig ist vor allem – das ist entscheidend für dieseDebatte –, dass endlich ausreichend Geld bei den Kreati-ven selbst ankommt. Da hilft, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD, ein Hauptstadtkulturfonds lightfür wenige Städte und Regionen nicht; das wäre sozusa-gen nur ein Pflasterchen.Zunächst sollte durch einen Kulturbericht Transpa-renz geschaffen und offengelegt werden, bei wem dieKulturfördergelder tatsächlich ankommen und ob dieseGelder gerecht verteilt werden. Hier bleibt der SPD-An-trag komischerweise – ich verstehe das gar nicht – hinterden Forderungen, die Sie in Ihrem Kreativpakt formu-liert haben, zurück.Interessant ist weiter, dass in dem Antrag der SPDmehrfach die Öffnung von Prozessen thematisiert wird:Es tauchen Schlagworte wie Open Innovation, OpenEducation, Open Government auf. Ich finde das gut; dassollte man auf jeden Fall weiter forcieren. Wenn wir daskonsequent zu Ende denken, erkennen wir, dass sich hiereine wichtige Ergänzung und Alternative zu der im SPD-Antrag so dominanten Privatwirtschaft bietet. Warumbetone ich das so? Zum einen erschwert das Öffnen vonProzessen prinzipiell die Abschottung und Verknappungvon kreativen Ressourcen. Zum anderen – das ist zu ei-ner Binsenweisheit geworden – gilt uneingeschränkt dietechnische Tatsache: Alles, was sich in Dateien verbrei-ten lässt, ist leicht und kostengünstig weiterzureichenund kann nur unter erheblichem Aufwand verknapptwerden.Die Digitalisierung nun „entknappt“ nicht nur in derKreativbranche Ressourcen und Produkte. Nein, viel-mehr macht sie diese einerseits überall nutzbar, anderer-seits jedoch macht sie sie auch viel schwerer verwertbar.Das ist wichtig, wenn wir über politische Konzepte spre-chen, da der privatwirtschaftliche Sektor dort natürlichvor erheblichen Problemen stehen wird. Es wird in derdigitalen Gesellschaft künftig eben weniger um Besitzgehen als vielmehr um die Frage der Nutzung. Damitmüssen wir uns auseinandersetzen, und dafür bedarf esentsprechender Regelungen.Die Öffnung kann Zusammenarbeit bedeuten. Wirsollten diese verfolgen statt feindlicher Konkurrenz. Wersich also mit den Folgen der Digitalisierung auseinander-setzt, sollte dies weniger im Sinne von „privatwirtschaft-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27783
Dr. Petra Sitte
(C)
(B)
lich und dort noch ein bisschen staatlich“ tun, sondern ersollte vor allem die dritte Säule betonen, nämlich: Wirbrauchen politische Konzepte für neue Formen von Ge-meinwirtschaft. Das ist eine ganz wichtige neue Qualitätim Zusammenhang mit der Digitalisierung.
– Ach Gott, jetzt müssen Sie mir doch nicht so plattkommen. Haben Sie mir nicht zugehört? Man versucht,es zu erklären, und er versteht es immer noch nicht. Esist schwierig.
Frau Kollegin Sitte, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gerne. – Ein Letztes. Statt Digitalisierung nur in der
herkömmlichen Logik als Wachstumstreiber zu sehen,
sollten wir den digitalen und analogen Commons eine
echte Chance geben. Das muss für eine bürgerschaftliche
Partei, wie sich die FDP immer bezeichnet hat, doch erst
recht attraktiv sein. Ich sehe darin nicht wirklich einen
Widerspruch. Aber wir werden sehen, wie Sie sich dazu
äußern.
Danke.
Dazu kann sich gleich der Parlamentarische Staatsse-
kretär Hans-Joachim Otto für die FDP äußern.
H
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Kulturwirtschaft bereichert in vielfältigerHinsicht unser Leben, und ich freue mich daher, dass wirheute einmal in der Kernzeit über sie debattieren kön-nen.Die Bundesregierung trägt der Bedeutung dieserBranche mit großem Einsatz Rechnung. Ganz bewusstwirkt die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft untergemeinsamer Federführung des Bundesministeriums fürWirtschaft und Technologie und des Beauftragten fürKultur und Medien. Diese Initiative ist eine wahre Er-folgsgeschichte.
Durch sie wird die kulturelle und wirtschaftliche Bedeu-tung der Kultur- und Kreativwirtschaft deutlich hervor-gehoben und wirksam unterstützt. Durch diese Initiativewerden die wirtschaftlichen Chancen insbesondere klei-ner Kulturunternehmen sowie freischaffender Künstlersignifikant gestärkt. Ich danke den Haushaltspolitikernder Koalition dafür, dass es gemeinsam gelungen ist, denHaushaltsansatz für diese Initiative erheblich, und zwarfast um ein Drittel, anzuheben.
Ich kenne kaum einen anderen Bereich, in dem öf-fentliche Mittel so unmittelbar und effektiv positive Wir-kungen entfalten. Die enorme – auch volkswirtschaftli-che – Bedeutung der Branche wird durch Kennzahleneindrucksvoll belegt: knapp 244 000 Unternehmen,143 Milliarden Euro Umsatz, gut 1 Million Erwerbstä-tige. Aber es sind nicht nur diese Zahlen, sondern vor al-lem die große Innovationskraft und die kreative Energie,die auf alle übrigen wirtschaftlichen und gesellschaftli-chen Bereiche ausstrahlen, welche die besondere Bedeu-tung dieser Branche ausmachen.Ganz wesentlich haben hierzu auch innovative Start-ups beigetragen, zum Beispiel die Preisträger unseressehr erfolgreichen Wettbewerbs der Kultur- und Kreativ-piloten. Infolgedessen ist die Gründungsdynamik erfreu-lich angestiegen. Das Kompetenzzentrum Kultur- undKreativwirtschaft wird deshalb auch in den nächstenJahren zahlreiche erfolgreiche Vernetzungstreffen anbie-ten. Auch das stark genutzte Beratungsangebot der achtRegionalbüros des Kompetenzzentrums wird fortge-führt.Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu denbeiden heute vorliegenden Anträgen machen. Der Koali-tionsantrag dokumentiert all die erfolgreichen Aktivitä-ten, welche die Bundesregierung in diesem Bereich be-reits entfaltet und weiter vorantreiben wird. Es wird Siedeshalb nicht übermäßig überraschen: Dieser Antragüberzeugt mich.Nun zum Antrag der SPD. Ich finde, es ist durchauspositiv, dass die Kulturpolitiker der SPD – mit dem er-fahrenen Siegmund Ehrmann an der Spitze – diese De-batte beantragt haben. Warum darf eigentlich der, dersich auskennt, hier in der Debatte nicht reden? Es gibtbeim Thema Kultur häufig eine der Sache dienende,fraktionsübergreifende Zusammenarbeit. Vor diesemHintergrund erschließt sich mir nicht, weshalb wir nun,wie Sie es fordern, ein völlig neues – wie Sie es nennen –Gesamtkonzept für die Förderung der Kreativwirtschaft,also einen „Pakt für die Kreativwirtschaft“, brauchen.Ich darf Sie, lieber Herr Steinmeier, daran erinnern:Die Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“ wurdewährend Ihrer Regierungszeit gegründet und ist seitdemzu recht immer wieder von Ihnen gelobt worden. Wir ha-ben die Mittel kontinuierlich erhöht. Was gibt es denn dazu mäkeln?Unklar sind mir vor diesem Hintergrund auch IhreVorschläge zur sozialen Absicherung der Kreativen. Wirhaben zu diesem Zweck ganz bewusst die Künstlerso-zialkasse gestärkt. Was dürfen wir uns aber unter IhrerForderung nach „neuen Versicherungssystemen fürKreative wie die Bürgerversicherung und die Erwerbs-tätigenversicherung“ vorstellen? Wie soll denn das prak-tisch aussehen? Soll dem Schriftsteller, dem die Ideenausgehen, ein „Erwerbstätigengeld“ gezahlt werden?Frau Sitte fordert einen Mindestlohn für Schriftsteller.
Metadaten/Kopzeile:
27784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, ist das dann überhaupt nochein freier Künstler oder schon ein Staatskünstler?Genauso erklärungsbedürftig, weil widersprüchlich,sind Ihre Vorschläge zur Weiterentwicklung des Urhe-berrechts. Es soll „die neuen digitalen Nutzungsprakti-ken“ beachten, „wissenschafts- und bildungsfreundlich“sein und „neue Formen der Wissensvermittlung wie …Open Access“ fördern. So weit das Zitat. Das lässt sichdann aber kaum mehr mit der „zentralen Idee vomSchutz des geistigen Eigentums in Einklang bringen, mitder das Ziel verfolgt wird, dass der Urheber bestimmt,wie sein Werk genutzt und verwertet werden darf.“ Die-ses vollmundige Bekenntnis zum Schutz des geistigenEigentums, lieber Herr Steinmeier, steht ebenfalls in Ih-rem Antrag. Was gilt denn nun? Wollen Sie den Schutzdes geistigen Eigentums stärken oder, einem Zeitgeistfolgend, die Zulassung der neuen digitalen Nutzungs-praktiken – also kostenlose Nutzungen – erzwingen?
Schließlich frage ich: Was verbirgt sich, lieber HerrSteinmeier, hinter Ihrer Forderung nach einer „fairenund angemessenen Vergütung“ für Künstler? KommenSie auf Ihre eingemottete Forderung nach einer Kultur-flatrate zurück?
Hier besteht erheblicher Aufklärungsbedarf. Viele Fra-gen dazu sind offen. Es gibt da viele schöne Worte undwenig konkrete Forderungen.Ich möchte trotzdem abschließend mit großer Über-zeugung feststellen: Der Deutsche Bundestag bekenntsich über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu den Kreativenunseres Landes.
Deshalb freue ich mich auf interessante Diskussionen inden zuständigen Ausschüssen. Ich würde mich – wennSie hier schon dazu sprechen – freuen, Herr KollegeSteinmeier, wenn Sie in die Ausschüsse kämen. Gernewürde ich mit Ihnen diskutieren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Tabea Rößner vom
Bündnis 90/die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen undHerren! Die SPD hat uns mit ihrem Antrag ein ordent-liches Brett hingelegt. Wie das aber mit Holz so ist:Manchmal ist es fest und stabil, und manchmal ist esauch etwas dünn. Der SPD-Antrag vereint beide Varian-ten. Verstehen Sie das nicht als Kritik oder Vorwurf.Ganz im Gegenteil, ich möchte den Anstoß für einenKreativpakt ausdrücklich loben.
Es ist längst überfällig, dass wir die Kreativwirtschaftals Ganzes betrachten und uns nicht nur einzelne As-pekte herauspicken. Wer A sagt, muss auch B sagen, undwer eine florierende Kreativwirtschaft will, muss auchAspekte wie Existenzgründung, Urheberrecht, Breit-band, Ausbildung, soziale Lage, Förderung und vielesmehr mit bedenken.Das Gegenteil dessen zeigt uns aber die CDU in ih-rem eilig zusammengezimmerten Antrag. Der ist – sodünn, wie er ist – gerade mal Furnier. Ich kann die Pläneauf drei Worte herunterbrechen: fortführen, prüfen unddarüber reden. Aus Ihrer Sicht läuft alles großartig undsoll so weitergehen. Aber Sie selbst sprechen in IhrerInitiative mehrfach vom ungenutzten Potenzial der Krea-tivwirtschaft. Wäre es da nicht Ihre Aufgabe, diesesPotenzial zu heben? Sie wollen nur „fortführen“, was da-für ziemlich mager ist. Dass die Koalition Handlungsbe-darf ausgerechnet beim Handwerk sieht, zeigt ihre Kom-petenz in Sachen Kreativwirtschaft. Ich glaube, ich musshier nicht betonen, dass die Kreativwirtschaft in ersterLinie im Netz stattfindet.
Zu den Forderungen der SPD. Liebe Kolleginnen undKollegen, Sie haben recht, dass die Rahmenbedingungenfür die Kreativwirtschaft verbessert werden müssen.Fangen wir mit der Infrastruktur an. Es war absolutfalsch, dass diese Bundesregierung den Universaldienstfür die Grundversorgung mit Breitbandinternet verhin-dert hat.
Die Zahlen bestätigen: In manchen Landstrichen kommtder Ausbau, auch mit LTE, überhaupt nicht voran. Dasist ein großes Versäumnis; denn ohne schnellen Internet-zugang können die Menschen im ländlichen Raum we-der Produzent noch Konsument sein.Wir haben all das überprüfen lassen: Der Universal-dienst ist möglich. Unser Gutachten steht jedem frei zu-gänglich im Netz zur Verfügung, übrigens unter Crea-tive-Commons-Lizenz. Sie können also unsereErkenntnisse gerne kostenfrei in Ihre Anträge überneh-men, aber bitte mit Quellenangabe.
Apropos Urheberrecht. Da machen Sie es sich, liebeKolleginnen und Kollegen von der SPD, ein wenig zueinfach. Ihre Problemanalyse trifft zu. Auch Ihre Vor-stellung von einer perfekten Urheberwelt teile ich. An-statt aber den Gordischen Knoten zu lösen, schieben Sie
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27785
Tabea Rößner
(C)
(B)
diese Aufgabe der Bundesregierung zu. Das ist mir danndoch ein bisschen zu wenig.
Noch einfacher aber macht es sich die Regierung. Siespart das Thema aus, nicht nur in ihrem Antrag, sondernauch in ihrer ganzen Politik. Sie springen erst gar nicht –außer über das Stöckchen, das Ihnen die Presseverlagehinhalten. Lassen Sie es mich hier ganz deutlich sagen:Ein Leistungsschutzrecht hilft den Presseverlagen nicht.
Vor allem – das wurde auch bei der Anhörung imRechtsausschuss deutlich – schadet es der Kreativwirt-schaft massiv.
Die Kreativwirtschaft in Deutschland lebt von kleinenUnternehmen. Kleine Informationsdienstleister werdenihre Dienste in Deutschland im Zweifel einstellen, neuewerden erst gar nicht entstehen.
Nein, wenn wir den Motor der Kreativwirtschaft in Gangbringen wollen, braucht es nicht das Leistungsschutz-recht als Innovationsbremse, sondern passende Wirt-schaftsförderung wie die steuerliche Forschungsförde-rung für den Mittelstand.Daher unterstützen wir viele Forderungen des SPD-Antrags: die Öffnung des Innovationsbegriffes in denProgrammen der Wirtschafts- und Infrastrukturförde-rung, die Gleichstellung der Genossenschaften oder denAusbau des Gründerzuschusses. Die wenigen Maßnah-men der Regierung dagegen sind unsinnig, weil sie amProblem vorbeigehen.Die Regierung fordert mehr Beratung. Das Problemliegt aber nicht in der mangelnden Quantität der Bera-tung, sondern in der Qualität. UnternehmensgründungenKreativer aus dem digitalen Bereich haben keine langeTradition. Es fehlt einfach an der Expertise von Prakti-kern. Statt noch mehr Beratungsstellen einzurichten,sollten wir lieber darüber nachdenken, wie ein Aus-tausch, beispielsweise mit dem Silicon Valley, stattfin-den kann. Da reicht es auch nicht, den Wirtschaftsminis-ter dort einmal hinzuschicken, es sei denn, er willdemnächst junge Unternehmer persönlich beraten.Statt die Kreativen in der Wirtschaft zu unterstützen,will die Koalition Kunst und Kultur ökonomisieren. Esgibt eine große Diskrepanz zwischen dem Erfolg derKreativwirtschaft im Ganzen und der prekären Einkom-menssituation ihrer Künstler. Hier besteht akuter Hand-lungsbedarf, und die Koalition verkennt ihn völlig. Indiesem Kontext wirken die Forderungen im Antrag derKoalition nahezu zynisch.Dabei gibt es von uns eine Menge Anträge dazu. Invielen davon stimmen wir mit der SPD überein, zumBeispiel beim Krankengeldbezug für unständig Beschäf-tigte ab dem ersten Tag, zum Beispiel bei der Schaffungvon Tariflöhnen oder Mindeststandards bei vom Bundgeförderten Kultureinrichtungen oder Projekten.Vor allem aber müssen die Kreativen insgesamt ange-messen vergütet werden. Dazu gibt es ein Mittel, das Ur-hebervertragsrecht.
Das erweist sich heute als stumpfes Schwert, weil es ander Durchsetzung der angemessenen Vergütung mangelt.Das wollen wir ändern. Ich rufe alle Fraktionen dazu auf,die gemeinsamen Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ in die-ser Frage gemeinsam umzusetzen.Noch eine Anmerkung kurz vor dem Weltfrauentag:Wir hätten uns sowohl von der Regierung als auch vonder SPD mehr zur Gleichstellung von Frauen im Kultur-betrieb gewünscht. Gerade hier gibt es gravierende Defi-zite.Meine Damen und Herren, Sie sehen: Selbst beimDünnbrettbohren geht den Regierungsfraktionen diePuste aus. Nicht nur in der Kreativwirtschaft, auch in derRegierungspolitik gäbe es noch viel Potenzial. Das sitztaber leider auf der Oppositionsbank.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Marco Wanderwitz von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, es ist schon gesagt worden: Dass wir heute zurbesten Zeit über das Thema Kultur- und Kreativwirt-schaft reden, wurde höchste Zeit. Schön, dass wir unsalle darauf einigen konnten, das heute zu tun. Gut istauch, dass die beiden Anträge heute vorliegen.Es wird Sie nicht wundern, dass meine Einschätzungzu dem von den Regierungsfraktionen vorgelegten An-trag eine andere ist als die, die wir gerade von KolleginRößner gehört haben.
Es ist natürlich so: Wenn man erfolgreich Politik macht,dann schreibt man erst einmal alles das auf, was man er-folgreich getan hat. Der Kollege Steinmeier hat vorhin indieser Richtung nichts erkennen können. Insofern rateich Ihnen, einfach einmal den Antrag zu lesen. Darinsteht eine ganze Menge dazu.
Metadaten/Kopzeile:
27786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
(C)
(B)
Wenn man erfolgreiche Instrumente etabliert hat– Kollegin Wöhrl hat die Initiative „Kultur- und Kreativ-wirtschaft“ angesprochen; sie war ja eine der Mütter die-ser Initiative, die von Kollege Otto im Bundesministe-rium für Wirtschaft und natürlich von StaatsministerBernd Neumann weitergeführt wurde –, dann spricht fürmich alles dafür, diese auszubauen, anstatt sie grundle-gend infrage zu stellen.
Ja, wir wollen die Potenziale der Kultur- und Kreativ-wirtschaft weiter fördern, und ja, wir wollen auch diewirtschaftlichen Potenziale weiter fördern. Das hat ausmeiner Sicht aber nur wenig mit einer Ökonomisierungvon Kultur, Kunst und Kreativwirtschaft zu tun, sondernes muss doch unser aller Ziel sein, dass möglichst vieleder Kultur- und Kreativschaffenden von dem, was sieschaffen, möglichst gut leben können.Bernd Neumann ist neben dem, was die Bundesregie-rung in diesem Sinne tagespolitisch hier in Deutschlandtut, auch auf EU-Ebene erfolgreich unterwegs. Auch daswollte ich an dieser Stelle einmal gesagt haben.
Wir haben die Initiative „Kultur- und Kreativwirt-schaft“ weiter ausgebaut. Hans-Joachim Otto hat esschon gesagt: Im Jahr 2013 gibt es einen weiteren Auf-wuchs der Initiative, und zwar um 1 Million Euro. Uman dieser Stelle wieder einmal das Einende ein bisschenzu betonen, will ich den Fachpolitikern und Haushälternaller Fraktionen ausdrücklich danken, dass es an dieserStelle und auch grundsätzlich gelungen ist, den Kultur-haushalt ein weiteres Mal gegen den Trend aufzusto-cken.
Zu dem Vorwurf vonseiten der Vorredner der Opposi-tion, dass Kulturförderung in Deutschland abgebautwerde, kann ich an dieser Stelle nur deutlich sagen:Wenn ich mir anschaue, was der Bund im Bereich derBundeskulturpolitik tut und wie die Bundeseinrichtun-gen und Bundesinitiativen gefördert werden, dann kannich jedenfalls keinen Abbau erkennen.
Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen.Ich finde, das sollte man dann fairerweise auch zugeste-hen.
Man muss sich einfach einmal genauer anschauen,wer dort, wo ein Abbau stattfindet, Verantwortung trägt.Ich will nicht ausschließen, dass das hier und da auch je-mand ist, der das Parteibuch meiner Partei hat, aber mirsind auch eine ganze Menge von Beispielen bekannt, beidenen das eben andere sind.Neben der Initiative „Kultur- und Kreativwirtschaft“gibt es eine ganze Menge weiterer Förderinstrumente;einige sind schon genannt worden. Ich will noch ein paarweitere aufzählen, um damit dem Bild, das hier gezeigtwird, dass dort nämlich überhaupt nichts passiert, ein-fach einmal ein paar Fakten entgegenzusetzen: Ich nenneden Deutschen Filmförderfonds, die Initiative „Musik“und den Deutschen Computerspielpreis. All diese Dingespielen sich im Rahmen von Kultur- und Kreativwirt-schaft ab. Zudem gibt es seit 2009 beispielsweise den„BKM-Preis Kulturelle Bildung“ des Beauftragten fürKultur und Medien.
Kulturelle Bildung ist ein Thema, dem ich ein paarSätze mehr widmen will, weil ich glaube, dass das einesder Schlüsselthemen ist.
Der Bericht der Enquete-Kommission „Kultur inDeutschland“ aus der vorvergangenen Wahlperiodeschreibt dazu, dass die musisch-kulturelle Bildungschöpferische Fähigkeiten und Kräfte im intellektuellenund emotionalen Bereich weckt, deren Wechselwirkun-gen den Menschen in besonderem Maße prägen. Ichglaube, das ist eine ganz zutreffende Beschreibung. Diekulturelle Bildung ist die Quelle für Kreativität und Ins-piration von Kulturschaffenden der nächsten Generation.Sie ist damit eine Kernressource für die Innovationsfä-higkeit unseres Landes. Sie birgt Innovationspotenzialund damit die Chance auf technologischen Fortschritt,den wir als rohstoffarmes Land – Kollegin Wöhrl hat esschon gesagt – so dringend brauchen.
Deshalb setzen wir uns im Rahmen unserer politi-schen Verantwortlichkeiten als Bundesregierung, alsKoalitionsfraktionen dafür ein, dass schulische und au-ßerschulische kulturelle Bildung gestärkt, schwerpunkt-mäßig gefördert, möglichst flächendeckend ermöglichtwerden und niederschwellig zugänglich sind. Die frü-hesten Jahre sind es, die die Persönlichkeitsbildung prä-gen. Man merkt auch allenthalben, dass vieles, was indem Bereich an Angeboten vorhanden ist und angenom-men wird, von den Kindern spielerisch wahrgenommenwird, dass die Kleinen Freude daran haben und dass mansie da nicht in irgendetwas hineinpresst.
Dafür gibt es auch eine ganze Menge Initiativen undProjekte des Bundes. Zum Beispiel leistet das Bundes-ministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2013aus dem Bundesprogramm zur Förderung benachteilig-ter Kinder 30 Millionen Euro an dieser Stelle,
obwohl – das möchte ich hier deutlich sagen – ebennicht der Bund die Hauptverantwortung für diesen Be-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27787
Marco Wanderwitz
(C)
(B)
reich der schulischen und außerschulischen Bildungträgt. Wir versuchen, an dieser Stelle so viel als möglichzu tun, aber die Länder als diejenigen, bei denen dieHauptverantwortung liegt, sind natürlich aufgefordert,so viel als möglich beizutragen.Wir freuen uns, mit dem Antrag nicht nur die Erfolgenoch einmal in Erinnerung zu rufen, sondern auch so et-was wie unser Arbeitsbuch zu füllen. Ja, es gibt in denlaufenden Programmen Punkte, die man optimierenkann, die man verbessern kann. Das hat natürlich auchetwas mit der Frage zu tun: Gelingt es uns, das entspre-chende Geld auch weiterhin in die Kanäle des Kultur-haushalts zu lenken? Ich bin guten Mutes, dass wir dasim Hause schaffen. Dem Grunde nach sind wir der Mei-nung, dass die bestehenden Förderprogramme die richti-gen sind.
Das Urheberrecht ist schon angesprochen worden.Wenn ich mir die Rednerliste anschaue, denke ich, dassder eine oder andere Kollege sicherlich noch ein paarSätze dazu sagen wird. Auch ich möchte das tun.Wenn man den Antrag der SPD liest – KollegeSteinmeier hat dazu auch ausgeführt –, denkt man: Dasalles liest sich relativ gut.
Formulierungen wie „Vergüten statt verbieten“ klingensehr gut. Das Problem ist nur, dass die Tagespolitik eineandere ist und dass es an konkreten Vorschlägen dafürmangelt.
Wir haben in der netzpolitischen Debatte an dieserStelle einen ziemlich ausgeprägten Streit. Er ist uns al-len, glaube ich, bewusst. Mein Eindruck ist der, dass esim Hause gewisse Teile gibt, die ernsthaft daran interes-siert sind, diesen Streit auszufechten. Viele streitigePunkte gibt es zwischen den Urhebern, den Kreativenauf der einen Seite und Teilen der Nutzer auf der anderenSeite, die die immer mehr um sich greifende Gratismen-talität ziemlich offen vertreten. Es gibt Teile des Hauses,die immer wieder ausgleichende Worte finden, aber niean Bord sind, wenn es darum geht, konkrete Lösungenzu entwickeln, die die Urheber in den Mittelpunkt derDebatte stellen.
Deswegen meine Bitte an viele Seiten des Hauses– da gucke ich natürlich den einen oder anderen Kolle-gen, die eine oder die andere Kollegin aus den eigenenReihen und aus den Reihen des Koalitionspartners an;bei Ihnen ist das ja weitestgehend flächendeckend ver-treten –: Schließen Sie sich unserem Diskurs, unserenkonkreten Vorschlägen für die Urheber, für die Kreati-ven und für die Kulturschaffenden an und lassen Sie unsgemeinsam Lösungen ins Gesetzbuch schreiben, die da-für sorgen, dass die Kreativen, die Urheber auf die ein-fachste Weise an ihr Geld kommen, nämlich auf dieWeise, dass sie für das, was sie schaffen, von den Nut-zern ordentlich bezahlt werden!
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Lars
Klingbeil.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Staatssekretär Otto, vielen Dank, dassSie sich über die Rednerinnen- und Rednerliste der SPDGedanken machen. Ich kann Ihnen aber versichern: Wirhaben den Kreativpakt über eineinhalb Jahre im Teamerarbeitet, zusammen mit Kollegen der SPD von außen,und wir haben im Team festgelegt, wer heute redet. Wirhaben das solidarisch getan.Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass wir in einerKernzeitdebatte über den Kreativpakt und unsere Vor-schläge reden, und wir haben uns gefreut, dass unserFraktionsvorsitzender zu dem Thema spricht. Daher willich auch fragen: Warum darf der Kulturstaatsministernicht reden? Wo ist eigentlich der zuständige Wirt-schaftsminister, und wo ist die Justizministerin? Warumsind diese Menschen nicht hier und ergreifen das Wort,wenn wir über die Kreativwirtschaft diskutieren und esum das Urheberrecht geht?
Es ist schon angesprochen worden, wie hoch die Be-deutung der Kreativwirtschaft ist. 130 Millionen EuroJahresumsatz: Das ist ein wichtiger wirtschaftlicher Fak-tor. Die Kreativwirtschaft ist aber auch Impulsgeber fürgesellschaftliche Erneuerung. Sie ist Zukunftslabor undAvantgarde auch für andere wirtschaftliche Bereiche.Die SPD hat Kreative, Kulturschaffende, Vertreter ausWirtschaft und Politik über eineinhalb Jahre an einenTisch gebracht. Wir haben über Änderungen in der Wirt-schafts- und Kulturförderung, die Herausforderungen fürden Sozialstaat, einen veränderten Arbeitsmarkt, eineneue Bildungspolitik und über Rahmenbedingungen ge-redet, wie wir die Kreativ- und Kulturwirtschaft in die-sem Land stärken können.Wir sind uns einig: Es geht um mehr Arbeitsplätzeund wirtschaftliches Wachstum. Es geht aber auch umeinen gesellschaftlichen Mehrwert, den wir erreichen,wenn es Menschen gibt, die sich kreativ einbringen undengagieren.Alles das bringen wir heute als Vorschlag in denDeutschen Bundestag ein. Ich will mich an dieser Stellenoch einmal bei allen bedanken, die in den letzten ein-einhalb Jahren mitdiskutiert und an diesem Antrag mit-gewirkt haben.
Metadaten/Kopzeile:
27788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Lars Klingbeil
(C)
(B)
Herr Wanderwitz, Sie haben gerade nach unseren Vor-schlägen gefragt. Frau Wöhrl hat uns vorhin aufgefor-dert, uns einzubringen. Ich sage Ihnen: Wir machengerade Ihren Job: Wir bringen Vorschläge ein. Dieseschwarz-gelbe Regierung hat den Gestaltungsanspruchin der Kultur- und Kreativwirtschaft längst aufgegeben.Sie rennen herum und verteilen Geld, aber wenn es da-rum geht, neue Ideen für die Kulturwirtschaft auf denWeg zu bringen, dann ducken Sie sich weg.
Der Antrag, den Sie eingebracht haben, ist ideenlosund kraftlos. Sie sind ausgebrannt. Sie sind diejenigen,die Vorschläge machen müssten. Wir haben das getan.Wir übernehmen Ihren Job.
Wir haben auf dem Weg zum Kreativpakt Brückengebaut. Wir haben die unterschiedlichen Bereiche zu-sammengebracht und versucht, gemeinsam zu diskutie-ren. Es gibt Unterschiede und unterschiedliche Blick-winkel, aber das Prägende war die Gemeinsamkeit, mitder wir unsere Ideen auf den Weg gebracht haben.Ich will das beim Beispiel Urheberrecht, weil das an-gesprochen wurde, auf den Punkt bringen. Wir sehen inder schwarz-gelben Regierung, wie sich Herr Neumannund Frau Leutheusser-Schnarrenberger seit Jahren läh-men. Ob es um die Frage der Abmahnung oder um dieWarnhinweise geht, für all diese Dinge gilt: Nichts pas-siert im Urheberrecht. An vielen Stellen bin ich froh da-rüber, dass nichts passiert. Aber diese schwarz-gelbeBundesregierung lässt beim Urheberrecht die Züge auf-einander zufahren.Es gibt eine junge Generation, die in einer digitalenWelt aufwächst und häufig nicht weiß, wie man sich imNetz richtig verhält und was dort Urheberrechtsverlet-zungen sind. Es gibt eine Reihe von Kreativen, die unsimmer wieder ermahnen, dass endlich etwas passierenmuss. Aber Sie stehen als Regierung mit offenem Mundvor diesen Herausforderungen. Sie ducken sich weg, undstatt politisch aktiv zu werden, überlassen Sie die Lö-sung beim Urheberrecht Anwälten und Gerichten. Sienehmen Ihren politischen Gestaltungsanspruch nichtwahr. Das ist fatal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir haben Vorschläge zum Urheberrecht vorgelegt. Inunserem Antrag geht es um das Urhebervertragsrecht,um neue Geschäftsmodelle, um die Frage des Zweitver-wertungsrechts und um die Frage, wie wir illegale Platt-formen bekämpfen können. Dabei sollten wir allerdingsnicht auf billige Symbolpolitik setzen.Wir reden über die Offenheit des Netzes. Wir sind unseinig: Dort, wo man Zugang zum Netz hat und wo esTeilhabe gibt, wird Kreativität gefördert. Deswegen wol-len wir beispielsweise den Universaldienst. Wir wollendie gesetzliche Verankerung der Netzneutralität, und wirwollen, dass öffentliche WLAN-Netze gefördert werden.16 Bundesländer haben das im Bundesrat gemeinsamauf den Weg gebracht. Die Regierung hat bis heutenichts dazu auf den Weg gebracht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Es sind viele gute Ideen eingebracht worden.Diese Regierung ist bekannt für politische Urheber-rechtsverletzungen, die es an vielen Stellen gegeben hat.Sie können unsere Vorschläge gerne an vielen Stellenübernehmen. Aber es muss in diesem Land für die Krea-tivwirtschaft endlich etwas passieren.Lesen Sie unseren Antrag! Ich hoffe, dass Sie dannzur Vernunft kommen.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Mit dem uns heute vorlie-genden Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreichenwir den Wert der Kultur- und Kreativwirtschaft für die-ses Land. Ich denke, wir können zu Recht stolz auf dassein, was in Bezug auf Kultur- und Kreativwirtschaftvon der Bundesregierung geleistet wird. Wir wollendiese Initiative weiter ausbauen und den Haushaltstitelmindestens auf dem jetzigen Niveau verstetigen. Dassteht deutlich in unserem Antrag.Der Antrag der SPD-Fraktion erweckt den Anschein,die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen seienin dreieinhalb Jahren untätig gewesen, was die Förde-rung des Kultur- und des Kreativsektors angeht. Dies istschlichtweg falsch.
Reine Polemik ist auch der Vorwurf, die Regierungverspiele die Chancen und Potenziale der Kreativbran-che. Dabei stellt die SPD in ihrem Antrag selbst fest,dass die Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschlandim Jahr 2010 zu den Wachstumstreibern gehörte, rund1 Million Menschen beschäftigte und 137 MilliardenEuro umsetzte – so viel wie die bundesdeutsche Auto-mobilindustrie. Dieser Erfolg hat ja vielleicht auch etwasmit Wirtschaftspolitik zu tun. Die Ergebnisse für 2011fallen mit einer Steigerung des Umsatzes auf 143 Mil-liarden Euro sogar noch besser aus. Die SPD jammertalso auf sehr hohem Niveau.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27789
Reiner Deutschmann
(C)
(B)
Lieber Kollege Steinmeier, gemeinsam mit derFriedrich-Naumann-Stiftung haben wir vor acht Jahreneine Veranstaltungsreihe zur Kultur- und Kreativwirt-schaft ins Leben gerufen. Das Programm liegt auch fürdieses Jahr in gedruckter Form vor. Wer hat da vielleichtvon wem abgeschrieben?Jetzt möchte ich auf einige Forderungen Ihres An-trags im Einzelnen eingehen. Sie fordern – das ist heuteschon mehrfach angesprochen worden – Änderungen imBereich des Urheberrechts. Die christlich-liberale Koali-tion bekennt sich klar zu einem starken Schutz des geis-tigen Eigentums. Ohne Schutz keine Kreativität. DieKreativen müssen von ihren Werken leben können; dasist keine Frage.Zum Schutz dieser Kreativität stellt das Urheberrechtden Ordnungsrahmen, und der ist auch heute noch zeit-gemäß, auch wenn natürlich im digitalen Zeitalter fürWeiterentwicklungen Spielräume gegeben sein müssen.Dort, wo es angebracht ist, haben wir die Stellschraubenbereits in die entsprechende Richtung gedreht.So wollen wir mit dem „Gesetz gegen unseriöse Ge-schäftspraktiken“ der missbräuchlichen Abmahnung vonRechtsverstößen im Internet durch die Deckelung derAbmahngebühren einen Riegel vorschieben. Bei Erst-verletzungen soll der Streitwert für die juristische Aus-einandersetzung auf 1 000 Euro gedeckelt werden, so-dass in der Regel nicht mit höheren Anwaltskosten als155 Euro zu rechnen sein wird.Um allerdings die Interessen der Urheber und Kreati-ven zu unterstützen, haben wir auch eine Öffnungsklau-sel, was die Streitwertdeckelung betrifft, eingeführt.Diese gilt dort, wo Urheberrechtsverletzungen mit ho-hem Schadenspotenzial begangen werden, so etwa bei il-legaler Verbreitung in besonders großen Mengen.Auf weitere Widersprüche in Ihren Forderungen be-züglich des Schutzes des geistigen Eigentums ist meinKollege Otto bereits eingegangen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bei der sozia-len Absicherung der Kreativen muss sich die schwarz-gelbe Koalition nicht verstecken. Beispielsweise habenwir für diejenigen Beschäftigten, die jeweils aufgrundder Gegebenheiten ihres Berufs nur kurzfristig beschäf-tigt sind, Verbesserungen im ALG-I-Bereich erreicht.Wir haben zum Beispiel für das Einzelengagement einesSchauspielers den Zeitraum auf bis zu zehn Wochen aus-geweitet. Damit kann der Personenkreis der kurzzeitigBeschäftigten leichter auf ALG-I-Leistungen zugreifen.Diese Regelung kommt aber auch der Kreativindus-trie insgesamt zugute; denn auch hier wird oftmals pro-jektbezogen bzw. über kürzere Zeiträume gearbeitet.Wir haben die KSK als Errungenschaft im System dersozialen Absicherung gegen viele Angriffe und Anfein-dungen verteidigt. Die KSK hat an Transparenz gewon-nen, und durch die Übertragung der Überprüfungen andie Deutsche Rentenversicherung ist sie gestärkt wor-den, sodass der Beitrag zur KSK sogar sinken konnte.Das ist ein Erfolg nicht nur für die Versicherten, sondernvor allem auch für die einzahlenden Unternehmen.Ich rate dringend davon ab, an dem System der KSKfundamental zu rütteln. Bislang besteht in der Gesell-schaft ein Konsens, eine solche Ausnahmeversicherungfür eine Sparte der arbeitenden Bevölkerung zu akzeptie-ren. Dieser Konsens ist aber nicht selbstverständlich undwird von denjenigen gefährdet, die jetzt das große Radin dieser Angelegenheit drehen wollen. Davor kann ichnur warnen.Liebe Kollegin Rößner, ich habe mich schon überIhre Ausführungen gewundert, dass für Sie die Kreativ-wirtschaft nur noch im Netz stattfindet.
– Na, es war etwas anders formuliert. – Dann frage ichmich, ob die Architekten ihre Häuser zukünftig nur nochvirtuell bauen.Bei für 2013 in Höhe von rund 1,3 Milliarden Euroim BKM-Etat bewilligten Mitteln müssen wir uns nichtvorwerfen lassen, nicht genug für die Förderung derKultur zu tun. Hinzu kommt, dass im Auswärtigen Amtder bisher höchste Etat für die Auswärtige Kultur- undBildungspolitik aufgelegt worden ist und im Bundes-wirtschaftsministerium die Mittel für die Förderung derKultur- und Kreativwirtschaft ebenfalls entscheidend er-höht wurden. Damit hat noch keine Bundesregierungmehr für die Kulturpolitik ausgegeben als die jetzige.Die Koalition steht ohne Wenn und Aber zur Förde-rung und Stärkung der Kultur- und Kreativwirtschaft. Inunserem Antrag haben wir deshalb dargelegt, wo wirnoch Verbesserungen erreichen wollen. Wichtig für unsist beispielsweise, dass der Innovationsbeitrag der Kul-tur- und Kreativwirtschaft weiter untersucht und eine Er-weiterung des bestehenden Innovationsbegriffs um nicht-technologische Elemente geprüft wird.Ein weiterer Schwerpunkt ist für uns die Überprüfungvon Förderprogrammen für den Mittelstand sowie fürKlein- und Kleinstbetriebe im Sinne der Verbesserungdes Zugangs für Selbstständige und Unternehmer. Diesumfasst selbstverständlich auch Erleichterungen beimZugang zu Finanzierungsmöglichkeiten.Für uns Liberale steht fest: Nur mit einem starkenFundament aus kultureller Bildung können wir die Krea-tivität auch in Zukunft fördern. Die Vernachlässigungder kulturellen Bildung der Bürgerinnen und Bürgerkönnen wir uns schlichtweg nicht leisten. Deshalb wer-den wir uns bei den Ländern dafür einsetzen, dass beider frühkindlichen, der schulischen und der außerschuli-schen kulturellen Bildung mehr geschieht. Unsere For-derungen zeigen, dass wir noch lange nicht am Ende desWeges sind. Trotzdem ist für uns bereits jetzt die Initia-tive „Kultur- und Kreativwirtschaft“ der Bundesregie-rung eine wahre Erfolgsgeschichte.Ich danke Ihnen.
Metadaten/Kopzeile:
27790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
(C)
(B)
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Konstantin von
Notz von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Auch ich freue mich natürlich, dass wir heute diese
wichtige Debatte in der Kernzeit führen. Vor allem im
Antrag der SPD werden erfreulicherweise zahlreiche
Punkte angesprochen, mit denen sich die Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“ in den letz-
ten drei Jahren intensiv auseinandergesetzt hat. Spätes-
tens während der Arbeit der Enquete-Kommission
wurde auch dem Letzten klar: Internet und Digitalisie-
rung lassen zahlreiche sicher geglaubte gesellschaftliche
Übereinkünfte heute faktisch ins Leere laufen. Ob beim
Urheberrecht, beim Datenschutz, bei vielen technischen
und infrastrukturellen Fragen oder bei der Situation der
Kreativen, in beinahe jedem politischen Bereich gibt es
heute einen enormen Reformbedarf.
Im ersten Satz Ihres Antrags, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, nennen Sie diese gravierenden
Veränderungen, „die neue Antworten verlangen“. Leider
kommt der Antrag an vielen Stellen aus dem Fragemo-
dus nicht so richtig heraus. Insofern verspricht der groß-
spurige Titel „Projekt Zukunft – Deutschland 2020 – Ein
Pakt für die Kreativwirtschaft“ – man glaubt fast,
Gerhard Schröder sei zurückgekehrt – etwas zu viel.
Solange führende Köpfe Ihrer Partei wie zuletzt Ihr Par-
lamentarischer Geschäftsführer bei jeder Gelegenheit die
Vorratsdatenspeicherung fordern, so lange bleibt Ihr pro-
gressiver Ansatz für die digitale Welt leider Makulatur.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Union und der FDP, ist so lieblos zusammengeschrieben,
wie Ihr Umgang mit diesem Themenbereich insgesamt
ist. Die zivilgesellschaftlichen Aspekte kommen erst gar
nicht vor. Wenn Sie sich wie in dieser Woche mit digita-
lem Wandel befassen, dann kann man von Glück reden,
wenn es die gesellschaftlichen Aspekte auf die Einla-
dung schaffen. Auf der Veranstaltung selbst geht es eben
nur um Wirtschaft, genauso wie in Ihrem vorliegenden
Antrag. Das ist nicht nur langweilig, sondern geht auch
an der zentralen Fragestellung vorbei, die eine gesell-
schaftspolitische ist. Was Sie hier abliefern, werte Kolle-
ginnen und Kollegen der Koalition, ist ganz dünne
Suppe.
Als Gesetzgeber stehen wir an einer Weggabelung.
Wir stehen vor der Frage, ob man – den Blick nach
vorne – diese revolutionären Umbrüche als Chance be-
greifen und den digitalen Wandel progressiv gestalten
will oder ob man – rückwärtsgewandt und die Zeit am
liebsten zurückdrehend – alles beim Alten lassen möchte.
Meine Fraktion und ich haben uns für den ersten Weg
entschieden, genauso wie erfreulicherweise die Enquete-
Kommission. Ihr ist es gelungen – wohlgemerkt: oft frak-
tionsübergreifend –, sich auf überwiegend zukunftswei-
sende Handlungsempfehlungen zu verständigen. Wenn
ich mir Ihren Antrag anschaue, dann kann ich nur sagen,
dass es wirklich gut gewesen wäre, wenn Sie sich einfach
an diesen Handlungsempfehlungen orientiert hätten.
Ihre Konzeptlosigkeit wird vor allen Dingen beim Ur-
heberrecht deutlich. Die SPD will immerhin dem Abmahn-
unwesen die Grundlage entziehen. Wie genau, wird nicht
gesagt. Aber das Thema wird von ihr im Gegensatz zur
Koalition angesprochen. 4,3 Millionen Bürgerinnen und
Bürger wurden bereits abgemahnt, von Anwaltskanzleien
mit bis zu fünfstelligen Regressforderungen überzogen,
oft für Urheberrechtsverstöße im Bagatellbereich. Das al-
les ist Ihnen kein Wort wert. Da wundert es doch sehr,
liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dass auch Sie
mit auf diesem Antrag stehen, obwohl Ihre Ministerin ge-
rade in dieser Frage hier vom Koalitionspartner massiv
ausgebremst wurde.
Dringend erforderliche Veränderungen im Urheber-
vertragsrecht, um endlich die Verhandlungsposition der
Kreativen zu stärken? Fehlanzeige. Dies gilt genauso für
die so wichtigen Reformen – der Kollege Steinmeier hat
es angesprochen –, die Sie für den dritten Korb verspro-
chen hatten. Sie haben nicht geliefert.
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie haben
auch in diesem Bereich in dieser Legislaturperiode rein
gar nichts Substanzielles vorgelegt, weder für die Kreati-
ven noch für die Nutzerinnen und Nutzer, noch für die
Wissenschaft. Ihre Bilanz ist traurig, und mit Ihrer hier
heute vorgelegten Initiative dokumentieren Sie das auch
noch. Allerdings lässt es sich relativ einfach erklären:
Sie können sich eben nicht entscheiden, welchen Weg
Sie an der Weggabelung gehen.
Zu dem, was der Enquete-Kommission gelungen ist,
sind Sie eben nicht imstande. Statt wie in der letzten Le-
gislaturperiode eine interfraktionelle Initiative voranzu-
bringen – dafür danke ich Ihnen; die interfraktionelle
Initiative haben Sie ja immerhin angesprochen, aber sie
in dieser Legislaturperiode nicht vorangebracht –, ver-
ramschen Sie dieses Thema hier an deren Ende auf der
Wahlkampfresterampe. Das ist wirklich bedauerlich.
Ganz herzlichen Dank.
Jetzt spricht die Kollegin Rita Pawelski für die CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27791
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-nige von Ihnen werden sich sicherlich noch an den24. Oktober 2007 erinnern. An diesem Tag haben wirhier über Fraktionsgrenzen hinweg in großer Einigkeit,was ja in diesem Haus sehr selten vorkommt, den Antrag„Kultur- und Kreativwirtschaft als Motor für Wachstumund Beschäftigung in Deutschland und Europa stärken“auf den Weg gebracht. Wir haben damals eine Tür aufge-stoßen, hinter der sich unglaubliche Potenziale verbor-gen hielten, ja versteckt wurden.Aber bevor wir diese Tür öffnen konnten, musstenwir – lieber Herr Ehrmann, Sie werden sich daran erin-nern – unglaublich viel Staub und Spinnweben wegfe-gen; denn diese große Branche, die wir kreiert haben,Kultur- und Kreativwirtschaft, hatte weder ein politi-sches Gewicht hier in diesem Hause noch einen Namen,der diese großartige Branche zusammengefasst hätte. Alldies haben wir in langer Arbeit, in über eineinhalbjähri-ger Arbeit, auf den Weg gebracht.
Darum verstehe ich, Frau Rößner und Herr Klingbeil,Ihre Kritik überhaupt gar nicht. Wir haben etwas verän-dert. Sie hatten damals, als Sie an der Regierung waren,auch die Möglichkeit, diese großartige Branche nachvorne zu pushen. Aber Sie haben nichts getan.
Erst im Jahr 2007 – das war die Geburtsstunde der Kul-tur- und Kreativwirtschaft – wurde hier in dieser Regie-rung etwas getan,
und diese Regierung hat das umgesetzt.
Ich denke nur einmal an folgende Stichworte: Wir ha-ben einen intensiven Dialog mit der Kultur und mit denKreativschaffenden geführt und ein regelmäßiges Moni-toring sowie verbesserte Informations- und Beratungsan-gebote eingeführt, wobei ich hier das Kompetenzzen-trum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes mitseinen Regionalbüros besonders hervorheben und fürseine Arbeit loben möchte. Wir haben die Unterstützungbei Finanzierung, Export und Entwicklung vorange-bracht. Wir hatten den Start einer Gründerinitiative unddes Wettbewerbs „Kultur- und Kreativpiloten Deutsch-land“ und, und, und.Ein Blick auf die Homepage zeigt, was sich in dieserBranche an Unglaublichem tut und bewegt. Sie solltensich auch einmal mit diesen Sachen beschäftigen, eheSie hier nur kritisieren.Meine Damen und Herren, diese Entwicklung zeigtdoch deutlich: Unser gemeinsamer Antrag, an dem jaauch die Grünen und natürlich auch die FDP beteiligtwaren – wir haben damals schon sehr gut zusammenge-arbeitet –,
hat Wirkung entfaltet. Nach vielen Jahren des Dornrös-chenschlafs hat Deutschland es geschafft, endlich eineStrategie zur Förderung der Kultur- und Kreativwirt-schaft zu entwickeln. Ich sage noch einmal: 2007 wardie Geburtsstunde dieser Branche.
Ein großes Dankeschön geht daher an die Bundesregie-rung für ihr großartiges Engagement und vor allem andas Wirtschaftsministerium – Herr Staatssekretär, gebenSie diesen Dank bitte weiter; dieser gilt natürlich auchfür Sie – und an unseren Kulturstaatsminister BerndNeumann.Aber, meine Damen und Herren, dieser Erfolg wirdnicht als Hängematte zum Ausruhen genutzt, sondern istSprungbrett in die Zukunft. Auch wenn wir uns auf ei-nem sehr, sehr guten Weg befinden, sind noch längstnicht alle Chancen genutzt. Das sagen wir auch deutlich.Wir wissen, dass Stillstand Rückschritt ist. Das gilt auchfür diesen Bereich. Wir arbeiten weiter. Mit diesem An-trag zeigen wir, dass wir weiterarbeiten.Ein aktuelles Gutachten bestätigt, dass die Kultur-und Kreativwirtschaft zur Stärkung der Wettbewerbsfä-higkeit der Gesamtwirtschaft erheblich beiträgt. Sie istsehr innovativ, Vorreiter im Einsatz neuer Methoden undFormen der Arbeitsgestaltung sowie Innovationstreiberfür andere Branchen. Doch die Forscher machen auchdeutlich, dass eine noch stärkere Sichtbarkeit der Kultur-und Kreativwirtschaft bei Unternehmen, zum Beispiel inder Industrie oder im Handel, notwendig ist. Da fehltnoch etwas. Nur so sind die Innovationspotenziale nochbesser zu heben. Aber sie sagen auch, die Kreativunter-nehmen müssen sich selbst stärker den Bedürfnissen,Mentalitäten und der Sprache des Kunden, also der an-deren Seite, anpassen. Oftmals würden Kreative, so sa-gen es die Gutachter, eine zu enge Bindung an Kundenvermeiden, weil sie fürchten, dass sich der kreative oderkünstlerische Mehrwert dadurch reduziert. Ich denke,diese Ängste sind unbegründet, wir müssen sie ihnennehmen. Außerdem sind die Kreativunternehmen beimöglichen Partnern und Auftraggebern noch zu wenigbekannt. Da muss dringend nachgebessert werden.Meine Damen und Herren, ich sage deutlich: Wir sindgut, aber es gibt noch Potenzial, besser zu werden. Nocheinmal sage ich: Stillstand ist Rückschritt. Daher unserAntrag. Wir wollen die Initiative weiter ausbauen.
Wir wollen, dass Förderprogramme geprüft und imSinne von kreativen und selbstständigen Unternehmenangepasst werden. Aber Kultur- und Kreativwirtschaftsind mehr als das, was heute hauptsächlich besprochenwurde. Sie sind mehr als Urheberrecht, digitale Weltoder Künstlersozialkasse. Darüber wurde von Ihnenhauptsächlich gesprochen. Ich denke bei der Kultur- undKreativwirtschaft auch an den Bereich des Handwerks,
Metadaten/Kopzeile:
27792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Rita Pawelski
(C)
(B)
den Frau Wöhrl schon angesprochen hat, oder ich denkean den unglaublich wichtigen Bereich der Vernetzungvon Kultur- und Kreativwirtschaft mit dem Tourismus,von dem vor allem die Kommunen profitieren. OhneZweifel haben sich Kultur- und Kreativwirtschaft undTourismus in den letzten Jahren zunehmend angenähert.Da ist viel passiert. Es sind erfolgreiche Ansätze für ge-meinsames Handeln gefunden worden. Darauf möchteich deutlich hinweisen. Wenn sich etwas entwickelt hat,wenn sich etwas spürbar verbessert hat, profitieren beideSeiten davon. Die kulturellen Angebote, die kulturellenSchätze unserer Städte tragen wesentlich dazu bei, denTourismus zu fördern und die Standorte für den Touris-mus attraktiv zu machen.
Ich denke an Dresden. Dresden hat eine unglaublichschöne Landschaft. Deswegen kommen sicher vieleTouristen. Aber das kulturelle Angebot dieser Stadtbringt doch die Menschen in diese Stadt. Die Semper-oper, der Zwinger, das Grüne Gewölbe: Das alles sindHighlights, die die Menschen in die Stadt bringen. Ichdenke an Wittenberg, an das Luther-Jahr 2017. DieseStadt entwickelt sich so fantastisch. Die Menschen fah-ren dorthin, um die Kultur zu genießen. Sie bringen derStadt aber auch Vorteile. Das muss man sehen. Ich denkean den 200. Geburtstag von Richard Wagner. Dieses Ju-biläum nimmt die Deutsche Zentrale für Tourismus zumAnlass, Veranstaltungen an Wagners Wirkungsstättenbesonders ins Rampenlicht zu rücken. Davon profitierenauch Städte wie Bayreuth, Nürnberg, Leipzig, Dresdenund Weimar. Es sind historische Ereignisse, die Kulturund Tourismus zusammenbringen. Das müssen wir nochmehr stärken, weil wir davon unglaublich profitieren.
Darum sage ich, meine Damen und Herren: Kulturund Tourismus sind doch fast ein ideales Paar. Die Kul-turschaffenden und die Kreativen können einem wach-senden Publikum ihre Werke zeigen. Sie werden neueZielgruppen entdecken, sie werden für sich werben kön-nen, und letztendlich – darüber muss man auch reden –bringt es ihnen verbesserte Einnahmen.Meine Damen und Herren, die Kultur- und Kreativ-wirtschaft erhält als Motor für Wachstum und Beschäfti-gung endlich die Beachtung, die sie verdient hat.
Genau vor 1 948 Tagen haben wir hier gemeinsam denBeschluss gefasst, diese Branche zu stärken. Ganz ehr-lich: Ich verstehe die scharfen Worte, die scharfen Zun-gen hier heute überhaupt nicht. Wir haben es doch ge-meinsam geschafft, dieser Branche ein Gesicht zu geben.Zertreten Sie doch nicht das Gesicht, das Sie selber ge-schaffen haben!Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Andrea Wicklein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn ich mit Menschen aus der Kreativbran-che zusammentreffe, bin ich immer wieder begeistertvon ihren tollen Ideen, von ihrem Einfallsreichtum, aberauch von ihrem Mut, eigene, selbstbestimmte Wege zugehen. Kreativität ist der Rohstoff des 21. Jahrhunderts.Aber der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kre-ativität wird oft noch als Gegensatz empfunden; das rie-sige Potenzial wird allzu oft noch unterschätzt. Tatsacheist: Die Kreativwirtschaft sorgt für mehr Wachstum, vorallem dann, wenn es uns gelingt, die Kreativität für Pro-duktinnovationen und zusätzliche Wertschöpfung nutz-bar zu machen. Sie führt zu mehr Arbeitsplätzen undmehr kultureller Vielfalt.Künstler und Kreative sind Impulsgeber für gesell-schaftliche Erneuerung. Sie sind diejenigen, die dieDinge aus anderen Blickwinkeln betrachten. Sie sind dieQuerdenker, die wir brauchen; denn sie entwickeln völ-lig neue Arbeitsstrukturen, Strukturen, die Ideen undInnovationen befördern. Von dieser anderen, unver-krampften Herangehensweise könnten wir in vielen Be-reichen profitieren, und da schließe ich die Politik mitein.Was können wir tun, um die Rahmenbedingungen fürdie Kreativwirtschaft zu verbessern? Die herkömmli-chen Förderprogramme passen oft nicht zu den spezifi-schen Anforderungen der Kreativen. Auch die klassischeKreditfinanzierung scheitert oft an Eigenkapitalmangeloder daran, dass immaterielle Güter von den Kapitalge-bern nicht anerkannt werden. Es gibt zwar bereits viel-fältige Förderungsansätze, doch diese müssen bekannterund besser aufeinander abgestimmt werden. Deshalbfordern wir eine öffentliche Datenbank. In ihr sollten dieFördermöglichkeiten übersichtlich und transparent dar-gestellt werden.
Hinzu kommt: Förderprogramme müssen nicht nurdie Gründungs-, sondern vor allem auch die Wachstums-phasen junger Unternehmen berücksichtigen. Ein we-sentliches Hemmnis für junge Unternehmen aus der Kre-ativwirtschaft ist der schlechte Zugang zu Risikokapital.Deshalb fordern wir Bürgschaften der öffentlichenHand, einen erleichterten Zugang zu Mikrokrediten, bes-sere Rahmenbedingungen für innovative Finanzierungs-methoden wie beispielsweise Schwarmfinanzierung, dassogenannte Crowdfunding.Wir fordern auch, dass die Kürzung des Gründungs-zuschusses der Arbeitsagentur, die Sie, die schwarz-gelbe Bundesregierung, zu verantworten haben, zurück-genommen wird. Denn gerade der Gründungszuschuss
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27793
Andrea Wicklein
(C)
(B)
hat vielen Menschen eine Brücke aus der Arbeitslosig-keit in die Selbstständigkeit gebaut
und war gerade auch für die kreative Branche sehr wich-tig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalitionschreibt in ihrem Antrag zu Recht, dass es auch die SPDwar, liebe Kollegin Rita Pawelski, die die Initiative„Kultur- und Kreativwirtschaft“ der Bundesregierung2007 in der Großen Koalition auf den Weg gebracht hat.Jedoch ist aus unserer Sicht seit 2009 leider nicht mehrviel passiert. Das belegt auch Ihr unambitionierter An-trag, der uns heute hier vorgelegt wurde, sehr eindrucks-voll.Mein Fazit: Aus den vielen spannenden Gesprächenund Begegnungen mit den Kreativen bei der Arbeit un-serer Projektgruppe in der Fraktion, aber auch in mei-nem Wahlkreis habe ich eines gelernt: Man muss sehrgenau hinschauen, was man eigentlich tut, um zu helfen.Wir haben das getan: Wir haben hingeschaut, und wirhaben zugehört. Wir stellen fest: Es ist zwar schon vielgetan worden, aber es gibt noch viel zu verbessern. Ein„Weiter so!“ reicht nicht aus.Ich habe es eingangs schon gesagt: Kreativität ist derRohstoff des 21. Jahrhunderts. Mit unserem Kreativpaktwird eine SPD-geführte Bundesregierung diesen Roh-stoff fördern.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Wolfgang Börnsen von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich hoffe nicht,dass der Kollege Frank-Walter Steinmeier jetzt deshalbden Raum verlässt, weil ich noch einige Worte an ihn zurichten habe.
Andrea Wicklein, ich habe Ihre Rede als angenehmund anregend empfunden, auch wenn ich den Inhaltnicht in allen Bereichen teile. Aber ich finde, so kannman an ein Thema herangehen, das uns alle interessiert.
„Dat is een Büx“, sagt der Plattdeutsche, wenn etwasAußergewöhnliches geschieht. Mit Frank-WalterSteinmeier, privat ein beachtlicher Kulturmensch,
hat heute ein leibhaftiger Fraktionsvorsitzender den An-trag zu einem Fachthema begründet. Das kommt nichtalle Tage vor.
Für den bei dieser Thematik federführenden Kultur-ausschuss freuen wir uns über die Aufwertung.
Obwohl wir in den vergangenen dreieinhalb Jahren Siemit Ihrer Kompetenz, sehr verehrter Herr KollegeSteinmeier, in unserem Gremium nicht einmal erlebendurften, hoffen wir nach dem heutigen Tag auf weitereDirektbegegnungen, da bin ich mir mit Hans-JoachimOtto einig.
Diese plötzliche Platzierung Ihrer Person in das Poli-tikfeld Kreativwirtschaft erinnert mich an ein altes Kin-derlied, in dem sich einer auf fremdem Territorium tum-melt:Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemannin unserm Kreis herum, widebum … Er rüttelt sich, er schüttelt sich, er wirft sein Säckchen hinter sich.Sie sind herzlich eingeladen, in unserem Ausschuss mit-zuwirken. Ermuntern Sie auch Ihren und unseren Kolle-gen Peer Steinbrück, mitzukommen. Er gehört dem Kul-turausschuss offiziell an,
konnte aber als Stellvertreter an keiner der bisherigen80 Sitzungen seiner parlamentarischen Verantwortunggerecht werden.
Gerade bei der heute diskutierten Thematik der Kul-turwirtschaft hätte er durchaus eine Bereicherung seinkönnen. Außerhalb unseres Parlamentes hat er sich beiseinen Reden vor Börsen, Banken und Kreditinstitutendoch auch damit auseinandergesetzt. Seine angeboreneBescheidenheit wie seine Tugend, Kollegen nicht insHandwerk zu pfuschen,
haben sicher zu dieser Zurückhaltung, Parlamentsmit-wirkung zu praktizieren, beigetragen.
Damit muss ich nicht noch einmal das Kinderliedvom Butzemann bemühen, in dem es nach dem Tanzteilheißt:Er rüttelt sich, er schüttelt sich,er wirft sein Säckchen hinter sich.
Metadaten/Kopzeile:
27794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Wolfgang Börnsen
(C)
(B)
Nein, ein Butzemann ist unser Kollege Peer Steinbrückwegen seiner vitalen Redeaktivitäten wirklich nicht.
Das vorliegende Kreativpapier der SPD ist durchausfundiert. Lieber Siggi Ehrmann, wir als Regierungs-koalition wissen deine Arbeit auf jeden Fall zu schätzen.
Der zwölfseitige Antrag zur Kreativwirtschaft ist vielsei-tig und vielfältig, wortgewaltig, wirklichkeitsnah wiewirklichkeitsfern, wunderverheißend. Er lässt keine Ein-zelheit in diesem Politikfeld aus. Er ist offensichtlich miteiner voluminösen Regelungsbegeisterung geschriebenworden, die, zugespitzt gesagt, dazu führt, dass demkreativen Kulturmenschen sogar die Anleitung für dasBinden seiner Schnürsenkel anempfohlen wird.
Die Eigenverantwortung unserer Bürger ist dagegen inweite Ferne gerückt. Aber wir müssen auf das Gegenteilsetzen: auf Bürgermündigkeit, nicht auf Bürgerregle-mentierung.
Der kreative Geist benötigt unendlich viel Freiheit.Der Antrag setzt als Zeitzielmarke das Jahr 2020. Das istnoch weit weg, sieben ganze Jahre. Das enthebt einender Verantwortung, Zahlen zur Finanzierung vorzulegen.
Für die 56 Forderungen, von denen einige durchausihre Berechtigung haben, fehlt die Basis, der Nachweisder Bezahlbarkeit. Das ist nicht redlich.
Die Bürger unseres Landes werden sich damit nicht zu-friedengeben. Sie sind kritische Begleiter unserer Arbeit.Sie lassen sich keine Katze im Sack verkaufen.Der Antrag weitet die Kulturkompetenz des Bundeszulasten der Länder und zulasten der Kommunen extremaus. Er greift in erschreckender Weise in die Aufgaben-stellung von Gemeinden, Städten und Ländern ein. Erzielt tendenziell auf eine Zentralisierung der Kultur- undKreativwirtschaft. Aber gerade die Förderung von Kul-tur vor Ort – Kreativität für alle und Dezentralisierung –sichert die vitale Kreativität unseres Landes. Daransollte nicht gerüttelt werden.
Schließlich – das wird deutlich, wenn man den Antraggenau liest – verordnet der Antrag den Menschen unse-res Landes fast eine Volkspflicht zur Kreativität. Was je-mand macht, muss ihm oder ihr selbst überlassen blei-ben. Wir von der Union jedenfalls lehnen eine solcheVereinnahmung der Menschen absolut ab. Gerade in denBereichen Kultur, Kunst und Kreativität müssen wir dieUnabhängigkeit der Bürgerinnen und Bürger gewähr-leisten, muss sich staatliches Handeln auf den Rahmenbeschränken. Weder Kreative noch Künstler gehören andas Gängelband staatlichen Denkens und Handelns.
Als wir, das heißt alle Fraktionen des Deutschen Bun-destages, uns 2006 in zwei großen Debatten gemeinsammit den Chancen der Kreativität für die Kulturwirtschaftauseinandergesetzt haben, waren wir durchaus noch ei-ner Auffassung: So wenig Staat wie möglich; Kreativeund Kulturmacher benötigen Krafträume ohne Auflagen.Vor sieben Jahren – Rita Pawelski hat darauf aufmerk-sam gemacht – forderten wir gemeinsam konzeptionellesRegierungshandeln für die Kultur- und Kreativwirt-schaft. Dazu ist es gekommen, nachweislich und kon-kret.Bereits 2010 konnte man 240 000 Unternehmen miteinem Arbeitsplatzangebot von 1 Million Arbeitsplät-zen registrieren. Jahr für Jahr steigen die Umsätze. Jahrfür Jahr steigt die Anzahl der Betriebe. Jahr für Jahr wer-den mehr Arbeitsplätze geschaffen. Allein in den letztenzwei Jahren entstanden 4 000 Unternehmen. Der Boomgeht weiter, weil die bundesweit eingerichteten Kreativ-agenturen engagiert tätig sind. Kollegen von uns,Dagmar Wöhrl, Joachim Otto, Steffen Kampeter,Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann und MonikaGriefahn, haben durchaus anzuerkennende Beiträgedazu geleistet. Das gilt auch für Rainer Brüderle alsWirtschaftsminister und Staatsminister Bernd Neumann.Aber es war 2006 Rita Pawelski, die in einer, wie ichfinde, bemerkenswerten Rede am 26. April, meinem Ge-burtstag, kulturwirtschaftliche Kompetenzagenturen an-regte und auf die Notwendigkeit der Vernetzung allerInitiativen aufmerksam machte. Die Wünsche von da-mals sind heute Realität. Es ist eine stabile Infrastrukturfür die Kreativwirtschaft geschaffen worden. UnserLand wurde inzwischen Vorbild für viele europäischeNachbarstaaten.
Verehrte Sozialdemokraten, das Rad muss nicht neu er-funden werden.Als Gradmesser für die Kreativität und Ideenvielfaltunseres Landes wird international auch stets auf die An-zahl von Patenten und Erfindungen verwiesen. Deutsch-land nimmt mit jährlich über 33 000 Patentanmeldungenmit großem Abstand in Europa die Spitzenposition ein.Frankreich folgt mit 12 000 Patentanmeldungen aufPlatz zwei. Beim Deutschen Patentamt in München wer-den mit leider leicht abgeschwächter Tendenz durch-schnittlich pro Jahr 60 000 Erfindungen eingereicht.Weltweit liegt die Bundesrepublik nach den USA undJapan stabil auf Platz drei.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27795
Wolfgang Börnsen
(C)
(B)
Bei den Firmenpatenten führen zwei Unternehmen ausunserem Land die Weltspitze an. Das geht nur, wenn einkreatives Potenzial vorhanden ist.
Ich bin dagegen, dass solche großartigen Leistungenständig infrage gestellt und madig gemacht werden. Da-mit demotivieren wir die Ideenbürger. Damit schadenwir unserem Land.Nein, das Gegenteil sollten wir propagieren, einKlima der Freiheit und der Ermutigung garantieren so-wie die Kulturwirtschaft als Motor für Wachstum undBeschäftigung stärken.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/12382 und 17/12383 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 bsowie Zusatzpunkt 9:35 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationaler Bildungsbericht 2012 – Bildung inDeutschland und Stellungnahme der Bundesregierung– Drucksache 17/11465 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Sportausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten MarcusWeinberg , Dr. Thomas Feist, MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenHeiner Kamp, Dr. Martin Neumann ,Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPStärken von Kindern und Jugendlichen durchkulturelle Bildung sichtbar machen– Drucksachen 17/10122, 17/12423 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas FeistMarianne Schieder
Sylvia CanelDr. Rosemarie HeinEkin DeligözZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDDie Herausforderungen der Bildungsrepublikmit den Erkenntnissen aus dem NationalenBildungsbericht angehen– Drucksache 17/12384 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann istdas so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derBundesministerin Professor Dr. Johanna Wanka.
Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 2006gibt es alle zwei Jahre den Nationalen Bildungsbericht –gemeinsam herausgegeben von der Kultusministerkon-ferenz und vom Bundesministerium für Bildung undForschung.Davor lag ein langer Diskussionsprozess. Denn wirwollten eine vertiefte Analyse über die Bildung inDeutschland haben, uns also nicht nur an PISA und an-deren OECD-Vergleichen orientieren. Wir wollten quali-fizierte Aussagen vor allem bezogen auf das deutscheSystem – Vergleichbarkeit zu diesen Studien vorausge-setzt –, zum Beispiel über die duale Berufsausbildung –und zwar nicht nur einmal, sondern wir wollten Längs-schnittstudien, sodass man etwa alle zwei Jahre verglei-chen kann und nicht nur irgendwann eine Zahl hat, bei-spielsweise wie viele Frauen ab dem 40. Lebensjahr inder Weiterbildung sind. So kann man erkennen, wie sichdas über die Jahre entwickelt: Hat man positive oder ne-gative Entwicklungen?Deswegen glaube ich, dass es ein großer Fortschrittist, dass wir diesen Bildungsbericht seit 2006 haben. Eswar natürlich eine lange Diskussion für das Untersu-chungsdesign notwendig. Es ging beispielsweise um dieFrage: Welche Indikatoren nimmt man?Im Antrag der SPD-Fraktion habe ich gelesen, dassman dort Weiterentwicklungen wünscht. Diese sind ohne
Metadaten/Kopzeile:
27796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
(C)
(B)
Weiteres mit der Steuerungsgruppe möglich. Es musssich nur um Dinge handeln, die uns substanziell für vieleJahre interessieren. Ansonsten macht man Sonderunter-suchungen.
Wenn man das seit 2006 rekapituliert, kann man mitFug und Recht sagen, dass in diesem Bildungsberichtdeutlich wird, dass es positive Entwicklungen inDeutschland gibt. Diese sollten wir nicht kleinreden,aber wir sollten auch sehen, wo es Probleme oder großeAufgaben gibt, die noch zu bewältigen sind.Ich nenne nur einige Fakten aus dem dicken Bericht.Wenn ich an die Diskussion Anfang 2000 denke, halteich es für eine sehr gute Botschaft, dass wir seit 2006den Anteil der jungen Menschen, die die Schule ohneAbschluss verlassen, kontinuierlich gesenkt haben. Wirsind jetzt bei 6,2 Prozent. Das ist immer noch zu viel. Dabesteht immer noch die große Aufgabe, das weiter zusenken. Aber es sind wesentlich mehr als zuvor am An-fang einer Bildungskarriere gut gestartet.Ich denke ferner an das Übergangssystem. Wir habenjahrelang über die Millionen diskutiert, die wir für dasÜbergangssystem brauchen. Inzwischen sind wenigerjunge Menschen im Übergangssystem; diese Zahl ist ge-sunken. Das hat auch einen demografischen Aspekt.Aber ganz entscheidend ist, dass es weniger Altbewerbergibt.Bei denen, die noch drin sind – das sind immer nochzu viele –, wissen wir aber, dass ein erhöhter Förderbe-darf besteht. Deswegen ist der Politikansatz der persönli-chen Begleitung derjenigen, die Schwierigkeiten haben– den hat das Bundesministerium initiiert –, an dieserStelle der richtige Ansatz.
Wir haben Rekorde zu verzeichnen, was die Zahl derAbiturienten betrifft, was die Zahl der Studienanfängerbetrifft, aber eben auch, was die Zahl der Absolventenbetrifft. Trotzdem wissen wir, dass wir in manchen Fä-chergruppen, zum Beispiel in den MINT-Fächern, nochviel zu hohe Abbrecherquoten haben. Diesem Themawill ich mich besonders widmen.Wenn man den Bildungsbericht insgesamt nimmt,sieht man: Er liefert Informationen, die wir so vorhernicht hatten, zum Beispiel zur Altersstruktur der Lehrer.In dem Bildungsbericht wird deutlich – nicht für ein ein-zelnes Bundesland, sondern für die Bundesrepublik ins-gesamt –, dass in den nächsten zehn Jahren ein Drittel al-ler Lehrer in den Ruhestand gehen. Deswegen ist diegroße Aufgabe – dies ist auch perspektivisch sehr wich-tig –, eine Lehrerausbildung zu schaffen, die gute Lehrerin das System bringt. In allererster Linie liegt die Verant-wortung natürlich bei den Ländern, bei den lehrerbilden-den Fakultäten, aber, ich glaube, die „QualitätsoffensiveLehrerbildung“, die der Bund gestartet hat, ist ein ent-scheidender Pluspunkt, um den Nachwuchs entspre-chend zu qualifizieren und mehr Wert darauf zu legen.Wir sind jetzt in der Situation, dass die Länder amZug sind. Sie müssen bei der Kultusministerkonferenzim März endlich das auf den Tisch legen, was für denBund die Voraussetzung ist, nämlich rechtssichere Krite-rien für die gegenseitige Anerkennung. Dann können wirim April in der GWK unter Umständen schon den Sackzumachen. Die Länder sind jetzt am Zug. Wir als Bun-desseite warten an dieser Stelle ab.
Der Bildungsbericht besteht immer aus einem indika-torbasierten Teil und einer Sonderuntersuchung, bei derwir frei sind, zu entscheiden, was wir untersuchen las-sen. Ich habe mich sehr dafür engagiert und bin sehrfroh, dass sich in 2012 die Sonderuntersuchung mit kul-tureller Bildung, vor allen Dingen kultureller Bildung imLebensverlauf, befasst hat. Ich will nur zwei Ergebnisseund Schlussfolgerungen ganz kurz nennen.Das erste Ergebnis – dies ist eines, das Sie alle erwar-tet haben – ist, dass das Elternhaus im Hinblick auf kul-turelle Interessen natürlich sehr stark prägend ist. Das istganz klar. Aber im Bericht wird auch deutlich: Wenn dasElternhaus materiell nicht gut ausgestattet ist, aber zumBeispiel durch regelmäßiges Singen oder anderes das In-teresse der jungen Menschen an Musik wächst, dann istunser Bildungssystem in Deutschland, zum Beispielüber eine Staffelung der Preise bei Musikschulen, so gut,dass die jungen Menschen qualifiziert werden könnenund dass sie ein Instrument lernen können. Das wird indem Bericht deutlich. In dem Moment, in dem es keineAnregung vom Elternhaus gibt – es hängt beileibe nichtvon der Finanzsituation des Elternhauses ab, ob kultu-relle Interessen geweckt werden –, kann man beispiels-weise durch das Programm „Lesestart“ versuchen, daskulturelle Interesse anzuregen.Ich denke, es ist im Sinne von Bildungsgerechtigkeitund Chancengerechtigkeit eine zentrale Aufgabe desstaatlichen Systems, das zu kompensieren und zu unter-stützen. Da muss man alle Kinder erreichen und nicht se-lektiv einzelne.
Erreichen kann man sie natürlich in der Schule – dortsind alle Kinder – und zu einem großen Teil auch in denKitas. Deswegen haben die Bundesländer eine großeVerantwortung, das zu realisieren. Alle Bundesländerhaben in den letzten Jahren viele Projekte und anderesim Bereich der kulturellen Bildung auf den Weg ge-bracht. Jetzt kommt es darauf an, dass das flächende-ckend in den Schulen originär verankert wird, unabhän-gig davon, ob ein besonders engagierter Schuldirektoroder Lehrer vorhanden ist. Das ist die zentrale Aufgabe.Ich komme zum zweiten Ergebnis; dieses hat michüberrascht. Dabei geht es um die kulturellen Aktivitätenim Lebensverlauf. Ich hatte immer gedacht, diese wür-den ab etwa 55 Jahren zunehmen, weil man in dem Altermehr Zeit hat. Das ist überhaupt nicht so. Die größte kul-turelle Aktivität im Lebensverlauf ist bei Jugendlichenzwischen 9 und 13 Jahren. Dies verblüfft. Damit ist aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27797
Bundesministerin Dr. Johanna Wanka
(C)
(B)
nicht gemeint, dass sie die formalen Angebote, die es inder Schule oder an anderer Stelle gibt, nutzen. Vielmehrist bei der Analyse ganz klar herausgekommen, dass sienonformale bzw. informelle Angebote nutzen. Das istein sehr weites Feld. Genau an dieser Stelle setzt dasBundesprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse fürBildung“ an, weil an dieser Schwachstelle jetzt Akzentegesetzt werden, Möglichkeiten ausgelotet werden, umdiese informellen Strukturen zu befördern, zu unterstüt-zen und auf lange Lebensdauer auszulegen.
Deswegen freue ich mich über den Antrag der Koali-tionsfraktionen. Ich bin mir aber, nach dem, was ich ausIhren Debatten gelesen habe, sicher, dass sich viele hierin diesem Haus für diesen Bereich starkmachen und en-gagieren. Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit.Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dagmar Ziegler.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Abgeordnete!Sehr geehrte Frau Professor Dr. Wanka, ich gratuliere Ih-nen heute noch einmal im Namen der SPD-Fraktion zuIhrem neuen Amt und zu Ihren neuen Aufgaben. Ichfreue mich natürlich auch persönlich über unser Wieder-sehen im Deutschen Bundestag. Aber wir werden unsheute darüber auseinanderzusetzen haben, was in derBildungsrepublik, die diese Koalition unter Merkel aus-gerufen hat, falsch läuft.Die Schere, liebe Kolleginnen und Kollegen, zwi-schen Arm und Reich, zwischen Oben und Unten geht inDeutschland weiter auseinander; das besagt der 4. Ar-muts- und Reichtumsbericht. Der Nationale Bildungs-bericht kommt richtigerweise – aber leider auch bedau-erlicherweise – zum gleichen Ergebnis. Das ist diedesaströse Bilanz dieser Koalition.
Soziale Selektivität, von der auch die Ministerin ge-sprochen hat, ist und bleibt, nicht nur bei der kulturellenBildung, jedenfalls bisher das traurige Markenzeichendeutscher Bildungspolitik. Eltern geben die eigenen Le-benschancen an ihre Kinder weiter. Das Elternhaus wirdzum Schicksal. Für die Eliten in unserem Land ist das lo-gischerweise kein Problem und nicht schlimm. Schlimmist es aber sehr wohl für diejenigen, die aus sozialschwächeren oder bildungsfernen Elternhäusern kom-men. Für sie erfüllt sich eben nicht das Versprechen un-seres Grundgesetzes auf gleiche Chancen unabhängigvon der Herkunft. Das ist das Dilemma.Das wissen auch die Menschen. Mehr als die Hälfteder jungen Leute glaubt nämlich nicht, dass in Deutsch-land ein Aufstieg in eine höhere soziale Schicht möglichist.
Sie meinen, Leistung lohnt sich nicht; was zählt, ist al-lein das Elternhaus.
Das glaubt immerhin mehr als ein Drittel der jungenLeute.Die Koalition unter Merkel hat leider sehr viele Mittelverplempert und sich eben nicht um die Menschen ge-kümmert, die mit schlechteren Bildungschancen ausge-stattet sind. Und: Die Koalition unter Merkel hat sich inder Bildungspolitik vor ganz entscheidenden Aufgabengedrückt. So drücken Sie sich vor der dringend notwen-digen besseren und gemeinsamen Finanzierung der Bil-dung. Ja, Sie wollen das Kooperationsverbot im Grund-gesetz lockern.
Aber Sie wollen eben nur so weit gehen, dass der Bunddie Spitzenforschung bedienen kann.
Der komplette restliche Bildungsbereich geht bei Ihnenleer aus.
Das Kooperationsverbot muss aus unserer Sicht vorallem fallen,
damit der Bund die Länder beim weiteren Ausbau derGanztagsschulen unterstützen kann;
denn nur so wird es uns gelingen, die Bildungschancender Kinder und Jugendlichen mehr von ihrem Elternhauszu entkoppeln.
Und: Das Kooperationsverbot muss auch fallen, damitBund und Länder mit vereinten Kräften den 7,5 Millio-nen Analphabetinnen und Analphabeten helfen können.
Metadaten/Kopzeile:
27798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dagmar Ziegler
(C)
(B)
Schließlich muss das Kooperationsverbot fallen, damitwir ein inklusives Bildungssystem verwirklich können,das kein Kind mehr ausschließt.
Die schlimmste Koalition seit Jahren drückt sich auchdavor, den Übergang von der Schule in den Beruf anzu-packen.
Der Übergang muss für alle jungen Menschen zu einerStartrampe in ein Leben voller Chancen werden.
Sie haben, wie immer, angekündigt, das Übergangssys-tem zu verbessern. Passiert ist leider gar nichts.
300 000 Jugendliche drehen nach wie vor ihre Schleifenin einem unübersichtlichen und oft nur wenig wirkungs-vollen System von Maßnahmen. Dieser Maßnahmen-dschungel ist nicht nur enorm teuer – immerhin schlägter mit 6 Milliarden Euro zu Buche, und das Jahr fürJahr –, sondern er bringt junge Menschen auch um ihreberechtigte Chance auf ein selbstständiges und erfülltesLeben.Die SPD-Fraktion hat vorgeschlagen, diesen Dschun-gel zu durchforsten, die guten Maßnahmen zu verstärkenund junge Menschen mit einer Ausbildungsgarantie aus-zustatten. Nichts davon wollten Sie, und nichts davon istumgesetzt.
Die schlechteste Koalition seit Jahren drückt sich da-vor, alle jungen Menschen mit den Mitteln auszustatten,die sie für eine gute Bildung brauchen. Viele junge Men-schen trauen sich ein Studium trotz bester Eignung ein-fach nicht zu, weil ihre Eltern das Studium nicht finan-zieren können und die BAföG-Förderung ihnen zuunsicher erscheint.
Das ist für ein reiches Land wie Deutschland eineSchande, wie ich finde.
– Ich sage gleich etwas dazu.Diese schwarz-gelbe Koalition bringt es trotz steigen-der Studierendenzahlen, für die Sie sich ja rühmen, fer-tig, Kürzungen bei den Bundesmitteln für das BAföGund auch für das Meister-BAföG zu beschließen.
– Schauen Sie in Ihren Haushaltsentwurf! Ich habe ihnmit; ich wusste, dass diese Reaktion kommt. Noch nichteinmal das wissen die Bildungspolitiker dieser Koali-tion.
Diese Kürzungen bilden einen weiteren Riegel, mit demjunge Menschen vom sozialen Aufstieg ferngehaltenwerden.Meine Damen und Herren, ich muss es leider so sa-gen: Die Koalition unter Frau Merkel ist auch mit ihrerBildungspolitik schlichtweg gescheitert.
Auch deshalb brauchen wir im Herbst einen Politik-wechsel.Danke.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Sylvia Canel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen undHerren! Die Bundesregierung kommt – das können wiralle im Nationalen Bildungsbericht 2012 nachlesen –den Pflichten in dem Bereich, für den sie zuständig ist,sehr gut nach. Das Bildungschaos herrscht vor allem inden rot-grün regierten Bundesländern.
Das wird ganz speziell an dem heiß diskutierten ThemaSitzenbleiben deutlich. In der Bundesrepublik Deutsch-land wiederholten von 2010 auf 2011 163 400 Schülerin-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27799
Sylvia Canel
(C)
(B)
nen und Schüler eine Klasse. Das sind circa 2 Prozent.Die neu konstituierte rot-grüne Landesregierung in Nie-dersachsen hat in ihrem jüngst ausgehandelten Koali-tionsvertrag angekündigt, das Sitzenbleiben aus denSchulen zu verbannen.
Das hört sich erst einmal sehr modern an. Auch HerrStoch, der Kultusminister aus Baden-Württemberg, äu-ßerte sich zu der geplanten Reform erst einmal positiv.Er sagte: Die Angst vor dem Sitzenbleiben stellt keinesinnvolle Lernmotivation für die Schülerinnen undSchüler dar. Daher finde er es richtig, das Sitzenbleibenabzuschaffen.Ich habe einmal nachgeschaut: Wer ist Herr Stoch ei-gentlich? Was macht ihn kompetent, über den Werde-gang von Schülerinnen und Schülern zu entscheiden?Herr Stoch ist ein junger Rechtsanwalt und Spezialist fürZivil- und Wirtschaftsrecht. Er sitzt seit vier Jahren imLandtag von Baden-Württemberg.Meine Damen und Herren, ich meine, viele Elterndenken wie ich, wenn ich sage: Wenn es darum geht, obmein Kind eine Klasse wiederholen soll oder nicht, dannmuss das in erster Linie die kompetenten Fachleute vorOrt – das sind die Lehrerinnen und Lehrer der einzelnenSchüler – interessieren und nicht die Politiker, die in ir-gendeinem Landtag sitzen.
Im Interesse der Kinder ist es von ganz besondererWichtigkeit, dass die Fachleute vor Ort – die Lehrerin-nen und Lehrer – gemeinsam mit den Eltern und denKindern Schwächen, die vorherrschen und die gravie-rend sind, feststellen.
Nicht die Politiker im Landtag und schon gar nicht dieKultusminister dürfen den Schulen, die selbstständigentscheiden müssen, welche Pädagogik richtig ist undwelche nicht, dabei hereinreden. Diese Politiker sollenbitte nicht über diese Kinder entscheiden. Es ist der fal-sche Weg, wie es immer der falsche Weg ist, wenn sichdie Politik in die Schulen einmischt.
Das Wiederholen kommt für ein Kind nicht immer alsStrafe daher, sondern auch als Chance. Ich habe gelesen– vielleicht stimmt es, vielleicht stimmt es nicht; wirkönnen ja nicht alles glauben, was in der Presse steht –,dass zum Beispiel Herr Steinbrück vom Sitzenbleibenzweimal Gebrauch gemacht hat; auch er hat zwei Jahrelänger für die Schule gebraucht.Die Schulen kennen den familiären Hintergrund derSchülerinnen und Schüler und beschäftigen sich intensivmit ihnen; sie agieren zu deren Wohl. Es kann nicht sein,dass den Schulen die Entscheidung entzogen wird undihnen damit jede Möglichkeit genommen wird, zumWohle des Kindes zu entscheiden.
Es ist – gerade in der heutigen Zeit – wichtig für die Bil-dungsnation Deutschland, dass in der Frage, ob ein Kinddas Klassenziel erreicht oder nicht, die Fachleute vor Ortentscheiden. Die Politik hat sich da nicht einzumischen.
– Es geht um das Wohl des Kindes; genau so ist es. Wasfür das Wohl des Kindes am besten ist, das haben jedochnicht Sie zu beurteilen.
Ich möchte nicht, dass Rechtsanwälte oder irgendwelchePersonen, die im Bundestag oder in einem Landtag sit-zen, darüber entscheiden, ob ein Kind eine Klasse wie-derholen muss oder nicht. Das ist nicht der richtige Weg.
Ein Kind darf wiederholen, aber es muss nicht wie-derholen. Lassen Sie doch bitte die Entscheidung beiselbstständigen Schulen und bei den Fachleuten vor Ort.
– Schön, dass Sie sich so aufregen. Wir wissen, dass Siedas ganz anders sehen. Deshalb ist Ihre Bildungspolitikauch so extrem erfolglos. Davon können wir in Hamburgwirklich ein Lied singen.
Die Sicherstellung von guter Bildung für die Kinderund Jugendlichen in der Bundesrepublik ist die Kernauf-gabe in der gesamten Gesellschaft; deshalb bedarf esstarker Bildungspartnerschaften. Der Nationale Bil-dungsbericht weist zum ersten Mal auf die Bedeutungund Wichtigkeit der kulturellen Bildung hin.Es kann nicht sein, dass die kulturellen Fächer – die-ser Unterricht wird nur zweistündig erteilt – in jederSchule immer wieder als Stiefkinder behandelt werden.Es ist gut und richtig, dass der Bildungsbericht dieseSparte jetzt extra beleuchtet, die kulturellen Fächer –wohlgemerkt: zweistündig; das heißt, erteilt von einerLehrkraft, die nur zwei Stunden in einer Klasse ist, unddas eventuell noch nicht einmal regelhaft. Das muss sichändern. Wir müssen sehr viel mehr Wert darauf legen,weil das die persönlichkeitsbildenden Fächer sind.
Metadaten/Kopzeile:
27800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Sylvia Canel
(C)
(B)
Der Bericht stellt fest, dass ein Viertel aller Kinderund Jugendlichen unter 18 Jahren in einer sozialen, kul-turellen oder finanziellen Risikolage aufwächst. Fürdiese Kinder, aber auch für die anderen Kinder ist es vonessenzieller Notwendigkeit, innerhalb der Schulen einInstrument zu lernen oder an Theatergruppen teilnehmenzu können, und genau diese kulturelle Bildung muss ge-meinschaftlich im Stadtteil gefördert und gefordert wer-den.Dies geschieht nun vorrangig durch den Antrag derRegierungskoalition; es ist ein richtiger und guter An-trag. Die kulturelle Bildung stärkt die positiven Eigen-schaften auch in sozialer Hinsicht. Jeder, der in einemOrchester gespielt hat, weiß: Wenn einer nicht mitspieltund nur auf die anderen hört, dann gibt es ein Katzenge-jammer. Aus diesem Grund ist es zwingend erforderlich,dass wir diesen Antrag zur kulturellen Bildung gemein-schaftlich beschließen und auch überall im Programmimplementieren.Die OECD fordert, Prinzipien und Praktiken künstle-rischer und kultureller Bildung sollen angewendetwerden, um zur Bewältigung der heutigen sozialen undkulturellen Herausforderungen beizutragen. KulturelleBildung und die dazugehörigen Einrichtungen sind inunserer heutigen Zeit, in der es in den Wirtschaftsunter-nehmen immer mehr um die sozialen Fähigkeiten geht,von großer Bedeutung.
Der Nationale Bildungsbericht rückt genau diese Bil-dung in den Vordergrund. Ich freue mich darüber, dasswir in der Regierungskoalition damit den richtigen Punktgetroffen haben und daher auch das richtige Tor erzielenwerden.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein
von der Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen undHerren! Verehrte Frau Professor Wanka, ich bin ge-spannt auf die Zusammenarbeit, und Ihre Rede hat michzumindest hoffnungsvoll gestimmt. Trotzdem werdenSie sich jetzt Kritik an Dingen anhören müssen, die Sienoch nicht zu verantworten haben; aber ich kann sie derBundesregierung nicht ersparen.Der Bildungsbericht des Jahres 2012 hat uns ein wei-teres Mal die diversen Fehlstellen im deutschenBildungssystem vor Augen geführt. Ich will mich ausZeitgründen vor allem auf die Stellungnahme der Bun-desregierung konzentrieren; denn darin soll suggeriertwerden, es gehe voran. – Ja, es geht voran, aber es gehtviel zu langsam voran.
Als Erstes zum Geld. Das Ziel, das 2008 auf demDresdner Bildungsgipfel vereinbart wurde – 10 Prozentdes Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung –,wird wahrscheinlich erreicht werden. Aber die Steige-rungen der öffentlichen Bildungsausgaben, so der Bil-dungsbericht, beruhen vor allem auf einer überproportio-nalen Förderung von vielen, vielen Sonderprogrammen.Sonderprogramme aber garantieren überhaupt keine so-lide Bildungsfinanzierung. Wären diese Programme Er-gänzungen zu einem sonst gut ausgestatteten Bildungs-system, dann wäre das alles in Ordnung und es wärenichts dagegen einzuwenden. Aber diese Programmesollen praktisch die Fehlstellen in diesem System ka-schieren, und das kann nicht gelingen.
Wir haben einmal die Programme und ihre finanzielleAusstattung über die letzten vier Haushaltsjahre mit-einander verglichen und die Ergebnisse in einer Grafikzusammengefasst. Dabei ergab sich ein ziemliches Raufund Runter. Das sieht so aus und bezieht sich auf allge-meine und berufliche Bildung.
So etwas ist Wirrwarr und keine Kontinuität, meine Da-men und Herren.
Zweitens. Natürlich ist es gut, wenn ein Drittel allerJugendlichen die Schule mit einer Hochschulreife ver-lässt und 50 Prozent eines Absolventenjahrgangs einStudium aufnehmen. Aber: Immer noch gehen 6,5 Pro-zent – jetzt sind es 6,2 Prozent – der Schülerinnen undSchüler – das sind mehr als 50 000 – ohne einen Ab-schluss von der Schule ab. 19 Prozent aller Schülerinnenund Schüler – also auch viele mit einem Abschluss –können nach Beendigung des Schulbesuches nicht sicherlesen und schreiben. Der Anteil der Schülerinnen undSchüler, die an Förderschulen unterrichtet werden, gehtnicht zurück, obwohl es deutlich mehr gemeinsamenUnterricht von Kindern mit und ohne Behinderungengibt. 300 000 Schulabgängerinnen und -abgänger – dassind 28 Prozent aller, die eine Berufsausbildung anstre-ben – landen erst einmal im Übergangssystem. Nichtsanderes heißt das doch, als dass dieses Bildungssystemfür all diese Schülerinnen und Schüler ungeeignet ist.Das ist nicht die Schuld von Lehrerinnen und Lehrern.Drittens. In Reaktion auf dieses Defizit beim Über-gang in die berufliche Ausbildung strebt die Bundesre-gierung eine – ich zitiere – „passgenaue Vermittlung an“.Dazu gibt es gleich mehrere Sonderprogramme. Einesdavon setzt schon in der 7. Klasse an. Ganz sicher isteine gute Berufsorientierung – das ist unstreitig – Auf-gabe jeder Schule. Aber wer soll bitte hier wozu passen?Besteht bei einer solchen Schwerpunktsetzung nichtauch die Gefahr – ich sehe das so –, dass allgemeineschulische Bildung immer stärker daran gebunden wird,ob sie für die ausbildenden Unternehmen passgenau ist?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27801
Dr. Rosemarie Hein
(C)
(B)
Lassen Sie mich an dieser Stelle aus dem Bildungsbe-richt zitieren. Auf Seite 205 ist zu lesen:Der individuelle Nutzen von Bildung beschränktsich jedoch keineswegs auf beschäftigungswirk-same und monetäre Vorteile. Bildung entfaltet ihreWirkungen auch in einer Vielzahl anderer Lebens-bereiche.Dabei geht es um Teilhabe am sozialen, politischen undkulturellen Leben. Gut gebildete Menschen sind auchsozial engagierter.
Aus diesem Grund wäre es wichtig, diesen allgemeinenBildungscharakter von Schule zu stärken, zumal auchUnternehmen inzwischen mitbekommen haben, dass siedie sozialen Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen undMitarbeiter brauchen.Viertens. Die kulturelle Bildung ist diesmal dankens-werterweise der Schwerpunkt in der Berichterstattung.Da gibt es offensichtlich ein riesengroßes Bedürfnis inallen Familien. Auch in diesem Bildungsbereich wirddeutlich, dass die Teilhabe an den Angeboten der Kulturin erheblichem Maße davon abhängt, wie die Lage inden Familien ist. Doch mancherorts wird es nicht mög-lich sein, dass alle von kultureller Teilhabe profitieren.Eine ausgeprägte und gute Kulturlandschaft gibt es näm-lich nicht mehr überall.
Wo kein kulturelles Angebot mehr vorhanden ist, kannauch keine Teilhabe ermöglicht werden. Da hilft das Bil-dungs- und Teilhabepaket – und auch das Programm„Kultur macht stark“ – nicht weiter.
– Es wird nicht funktionieren, weil die Verbände, diediese Angebote verwalten, keine Partner vor Ort findenwerden.
Das ist in Calbe – einer Stadt in meinem Wahlkreis – so,wo Ende letzten Jahres die Stadtbibliothek als einzigekulturelle Einrichtung geschlossen worden ist. Dann isteinfach Ebbe.
– Das hat nichts mit den Bürgermeistern, sondern etwasmit der Unterfinanzierung von Kommunen, mit der Un-terfinanzierung von Kultur zu tun.
Wir haben heute schon darüber gesprochen. Nehmen Siedas doch endlich einmal ernst.
Sie haben bisher alle Anträge in diese Richtung abge-lehnt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung im Hinblick
darauf machen, wie wichtig Bildung für die Persönlich-
keitsentwicklung ist. Auch wenn Sie an nichts glauben,
dann glauben Sie doch vielleicht wenigstens an folgen-
den Befund aus dem Bildungsbericht: Die Wahlbeteili-
gung von Menschen mit Hochschulabschluss ist mehr
als doppelt so hoch wie die Wahlbeteiligung von Men-
schen mit einem geringen Bildungsstand.
Eine hohe Wahlbeteiligung am 22. September dieses
Jahres wollen Sie doch sicherlich alle.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring für Bünd-
nis 90/die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbedanken uns eingangs bei Frau Schavan für die geleis-tete Arbeit. Politisch standen wir ganz oft über Kreuz;persönlich aber lief es im Miteinander stets fair und kol-legial ab. Dafür vielen Dank!
Unsere Bundestagsfraktion wünscht Frau Wanka fürihr neues Amt alles Gute.
Wir werden weiter Initiativen für mehr Bildungsgerech-tigkeit vorlegen; denn die von Ihnen angekündigte Kon-tinuität im Koalitionshandeln würde den bildungs- undforschungspolitischen Herausforderungen in unseremLand nicht gerecht.Der Nationale Bildungsbericht ist das wichtigste Do-kument der Bildungsforschung in Deutschland. Er liegtbereits seit Juni 2012 vor. Unseren Antrag haben wirschon im letzten Jahr eingebracht, um eine Bundestags-debatte zu erzwingen. Es ist wirklich schade, ja, es istpeinlich, dass diese Koalition neun Monate braucht, umsich mit dem Bildungsbericht zu befassen.
Metadaten/Kopzeile:
27802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Kai Gehring
(C)
(B)
Die Ergebnisse des Berichts brauchen mehr Beachtung,vor allem in politischem Handeln. Daran mangelt es die-ser Koalition.Ja, es gibt positive Entwicklungen. Aber es gibt einganz zentrales Defizit, auf das dieser Bildungsberichthinweist: Unserem Land fehlt Bildungsgerechtigkeit.Damit ist, Frau Wanka, nicht formale Durchlässigkeitgemeint. Erbärmlich ist der Mangel an realem sozialemAufstieg durch Bildung.
Ich bitte Sie inständig darum, nicht an die weitgehendeTatenlosigkeit Ihrer Vorgängerin bei der Bekämpfungvon Bildungsarmut anzuknüpfen, sondern bildungsbe-nachteiligte Kinder und Jugendliche in den MittelpunktIhrer Politik zu stellen. Der Bericht dokumentiert doch:Jeder Zehnte gilt als funktionaler Analphabet, jeder fünf-zehnte Jugendliche bricht die Schule ab, über 2 Millio-nen der bis 34-Jährigen haben keinen Berufsabschluss.Das belegt die eklatante Bildungsspaltung in unseremLand. Dieser Mangel an Chancengerechtigkeit ist einschlechtes Zeugnis für eine Koalition, deren Kanzlerineine „Bildungsrepublik“ ausrief.
Musterbeispiel für die Ignoranz dieser Regierung istdas im Bericht kritisierte Betreuungsgeld. Das Betreu-ungsgeld ist und bleibt eine fatale Bildungsfernhalte-prämie und bindet Mittel, die für den Ausbau der Kin-derbetreuung fehlen.
FDP steht offenbar für „Feige Demokratische Partei“.
In Ihrem Wahlprogramm stellen Sie das Betreuungsgeldauf den Prüfstand. Vor drei Monaten haben Sie es hiermit CDU und CSU gemeinsam im Bundestag beschlos-sen. Sie haben Ihre Zustimmung zum Betreuungsgeld andie Einführung eines Bildungssparens geknüpft, für dasSie nach wie vor kein präzises Konzept vorlegen kön-nen. Deshalb, Frau Wanka, appelliere ich da an Sie:Stoppen Sie wenigstens das unsoziale und unausgego-rene Instrument des Bildungssparkontos. Das bringtnichts.
Für die Abschaffung des bildungsfeindlichen Betreu-ungsgeldes werden wir dann nach dem 22. Septembersorgen.
Wer den Bericht ernst nimmt und Kinder individuellfördern will, muss Prioritäten setzen: für flächendeckendgute Ganztagsschulen und Inklusion im Bildungssystem.Um diese gesamtstaatlichen Ziele zu erreichen, muss dasKooperationsverbot im Grundgesetz fallen. Wir brau-chen eine Ermöglichungsverfassung, keine verfassungs-rechtliche Bildungsbarriere.
Es ist schon putzig, wenn die Koalition hier einen An-trag mit wohlfeilen Forderungen zur kulturellen Bildungvorlegt, bei der gerade gute Ganztagsschulen eine ganzzentrale Rolle spielen. Diese Schulen lassen Sie aber mitihren gewachsenen Aufgaben allein. Sie sorgen ebennicht für ein neues Ganztagsschulprogramm.
Frau Wanka, Sie haben in Ihrer Einstiegsrede vieleBeispiele genannt, wo mehr Bund-Länder-Kooperationstattfinden muss. Ich nehme Sie beim Wort und appel-liere an Sie, die letzte Chance zu nutzen und in dennächsten Monaten eine Lösung für einen kooperativenBildungsföderalismus mit den Ländern zu erreichen. Siemüssen das auf dem Schirm haben: Dieses Koopera-tionsverbot bei Bildung und Wissenschaft muss weg.
In der Ausbildungspolitik reicht es nicht aus, sich iminternationalen Interesse am dualen System zu sonnen.Es ist schon gesagt worden: 300 000 Jugendliche verhar-ren nach wie vor in Warteschleifen nach der Schule, statteine Ausbildung zu beginnen. Die Spaltung auf demAusbildungsmarkt in Chancenreiche und Chancenarmemuss überwunden werden.Wichtig ist auch, dass es beim Hochschulpakt einenNachschlag gibt. Es ist doch ganz klar, dass die Mittelfür den Hochschulpakt für die bis zu 300 000 zusätzli-chen Studienanfänger nicht ausreichen. Deshalb müssendiese Mittel dringend aufgestockt werden.
Wenn Sie neben mehr Studienplätzen auch eine so-ziale Öffnung unserer Hochschulen wollen – wir wollendas –, dann lassen Sie das elitäre Deutschlandstipendiumauslaufen
– das bringt eh nichts –,
dann verabschieden Sie sich endgültig von Ihrem Stu-diengebühren-Mantra und dann legen Sie im Bundestageinen konkreten Gesetzentwurf für ein besseres BAföGvor. Das wären konkrete Beiträge zu mehr Bildungs-gerechtigkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27803
Kai Gehring
(C)
(B)
Die schwarz-gelbe Koalition hat die Bildungs- undForschungsmittel erhöht, damit aber viele falsche Priori-täten gesetzt, trotzdem das 10-Prozent-Ziel klar verfehltund keine Planungssicherheit geschaffen, da viele Finan-zierungen nach 2013 abrupt enden. Wer eine Bildungs-republik ausruft, wie Sie das hier heute wieder getanhaben, der darf keinen krassen Mangel an Kita-, Ganz-tagsschul-, Ausbildungs- und Studienplätzen hinterlas-sen. Bildungsaufstieg muss endlich höchste Priorität ha-ben.
Nutzen Sie die womöglich nur noch wenigen MonateIhrer Amtszeit, um die richtigen Konsequenzen aus demBildungsbericht zu ziehen –
Herr Kollege!
– und falsche Weichenstellungen wie Betreuungsgeld,
Bildungssparen und Deutschlandstipendium zu korrigie-
ren.
Der Kollege Thomas Feist ist der nächste Redner für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ichfreue mich, dass so viele junge Leute da sind und einmalmitbekommen, wie hier eine Bildungsdebatte abläuft.Der Bildungsbericht legt den Schwerpunkt vor allenDingen auf die kulturelle Bildung. Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition, sollten sich ein-mal überlegen, wie das wirkt, was Sie hier am Redner-pult von sich geben.
– Wer hat das gesagt?
– Ja, wunderbar! – Meinen Sie, dass wir die jungenMenschen in der Schule motivieren können, indem wirihnen sagen: „Du hast eigentlich ganz gute Leistungenerbracht; aber da und da fehlt es, und dort bist du ganzschlecht“? Das sage ich nicht nur, weil ich mehr als15 Jahre Erfahrung in der kulturellen Bildung habe, son-dern, weil ich ganz genau weiß, dass wir auf die Stärkensetzen müssen, um junge Leute zu motivieren. Das tundiese Bundesregierung und diese Koalition, und das istgenau der richtige Ansatz.
Wenn wir über kulturelle Bildung reden, dann redenwir darüber, dass wir die Stärken des Einzelnen fördernwollen und dass jeder Mensch ein Potenzial hat. Wir ha-ben eben ein ganz anderes Menschenbild als die linkeSeite dieses Hauses, die junge Menschen vor allen Din-gen als Mängelwesen definiert, die möglichst ganztagsin einer Schule von den verantwortungslosen Elternferngehalten werden müssen.
– Mein lieber Herr Schulz, Ihnen möchte ich noch eineganz persönliche Nachricht mit auf den Weg geben: Wirwerden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie hierauf der persönlichen Ebene versuchen, Kolleginnen undKollegen anderer Parteien schlechtzumachen und zu dif-famieren.
Im Bericht steht, wie wichtig kulturelle Bildung imLebensverlauf ist und wo die Potenziale sind. Im Berichtwird beispielsweise aufgezeigt, dass Migranten im kul-turellen Bereich manchmal wesentlich aktiver sind alsandere Schüler und dass wir genau dort ansetzen könn-ten, wenn wir Integration zu dem machen wollen, wassie in diesem Land sein soll.Unser verehrter Herr Bundestagspräsident, der geradehinter mir sitzt, hat bei der Veranstaltung zum 60. Jah-restag der Gründung des Verbandes der Musikschulengesagt, dass wir zwar ein hervorragend ausgebautes kul-turelles Netz haben, dass aber die kulturelle Bildung dieAchillesferse ist. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit dem An-trag, über den wir heute abstimmen werden, hat dieseKoalition genau das richtige Signal gesetzt,
und zwar nicht nur, weil sie einen Antrag gestellt hat, derauch mit Geld untersetzt ist und die höchste Einzelför-dermaßnahme des Bundes im Bereich der kulturellenBildung seit je beinhaltet, sondern weil damit auch einParadigmenwechsel durchgeführt wird. Bisher war diekulturelle Jugendbildung im Kinder- und Jugendplan desBundes als Kinder- und Jugendhilfemaßnahme veran-kert, also als Unterstützung. Wir sagen: Kulturelle Bil-dung ist Bildung, und zwar im Lebensverlauf. Deswegenbin ich auch sehr froh, dass das auch bei der frühkindli-chen und der beruflichen Bildung – Herr KollegeWeinberg, aber auch der Kollege Schummer haben daranmaßgeblich mitgearbeitet – ein Thema ist. Die kulturelleBildung ist im Lebensverlauf und für die beruflicheOrientierung wichtig. Wir werden damit erreichen, dassdie sozialen und die Schlüsselkompetenzen, die jungeMenschen brauchen, ganz egal, ob sie später studierenoder einen Beruf erlernen, herausgefunden und gestärktwerden.
Mit kultureller Bildung können wir innerhalb des Bil-dungssystems dafür sorgen, dass junge Menschen moti-viert sind und so eine ganz andere Atmosphäre von Bil-
Metadaten/Kopzeile:
27804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dr. Thomas Feist
(C)
(B)
dung entsteht. Ich kann Ihnen eines versichern: Die oftgescholtenen Bundesverbände, die anscheinend nichtsmachen, haben ein sehr gut ausgebautes Netz mit Ko-operationspartnern an Schulen. Ich nenne Ihnen einmalein Beispiel aus dem Ruhrgebiet. Da wird im Rahmenvon kultureller Bildung ein Projekt gemacht, ein Musicalan einer Hauptschule mit jungen Leuten, denen bis zum14. Lebensjahr noch nie jemand gesagt hat: Du kannstetwas.
Wissen Sie, was passiert ist? Plötzlich gehen die jungenMenschen aus sich heraus und sind von sich aus moti-viert. – So etwas mit 50 Millionen Euro zu unterstützen,das ist genau der richtige Ansatz, den diese Bundesregie-rung hier vertritt.
– Nein, Herr Röspel, das machen Sie nicht seit Jahren!Seit Jahren reden Sie darüber, wie wichtig das ist. Aberdass Sie von der SPD dazu einen Antrag auf die Tages-ordnung bringen und dafür Geld vorsehen, habe ich nochnicht erlebt.Ich muss Ihnen noch eines sagen, Herr Röspel. Michbetrübt etwas, dass Sie aus der Schmollecke heraus, weilSie nicht auf eine so hervorragende Idee gekommensind, unseren Antrag im Ausschuss abgelehnt haben.Das ist wirklich ein Armutszeugnis. Ich fordere Sie aufsowie die Linken und die Grünen, die sich dort enthaltenhaben: Stimmen Sie diesem hervorragenden Antrag zu!Tun Sie etwas für kulturelle Bildung! Tun Sie etwas fürdie jungen Menschen in diesem Land!Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich will mich gern den Worten des KollegenGehring anschließen und vor der herzlichen Begrüßungvon Frau Wanka, dem Angebot zur Kooperation in derSache und der Bekundung des Respekts vor der Persondas in dieser Form ausdrücklich auch noch einmal an diefrühere Ministerin Frau Schavan gerichtet sagen.
Dass Sie, Frau Wanka, eingestiegen sind in die De-batte zu einem Nationalen Bildungsbericht, der vonBund und Ländern zusammen verantwortet wird, istnicht das schlechteste Zeichen. Wir haben nicht immererlebt, dass Ministerinnen dazu gesprochen haben. Nachdem Wechsel von der Bundesratsseite auf die Bundes-regierungsseite ein Bund-Länder-Dokument aufzugrei-fen, verpflichtet natürlich und bietet auch Chancen.Wir haben von SPD-Seite aus sehr wohl registriert,dass Sie auch in Einzelheiten unseres wertenden Antragszum Bildungsbericht eingestiegen sind. Sie können ge-wiss glauben, dass wir die Unterscheidung zwischenSonderuntersuchung, Sonderveröffentlichung und dem,was in einem Bildungsbericht eine durchgängige Be-trachtungslinie sein müsste, sehr wohl kennen. Wenn esdarum geht, zusammen kreative neue Ideen zu entwi-ckeln, auch den Bildungsbericht in aller Sorgsamkeitverstärkt als Steuerungsinstrument zwischen Bund undLändern zu nutzen, sind wir dabei, wie lange die Regie-rungszeit für Sie auch immer sein mag.
Gerade durch den Wechsel von der Landesverantwor-tung in die Bundesverantwortung können Sie sich dortgut einbringen, wo ein kooperativer Ansatz notwendigist. Ergreifen Sie diese Chance bitte! Sie wissen ja, wiewichtig eine faire Regelung für die Entflechtungsmittelnach dem Wegfall der Gemeinschaftsaufgabe Hoch-schulbau für die Länder ist. Da kann diese Bundesregie-rung noch etwas bewirken; da können auch Sie etwas be-wirken.
Sie wissen, dass wegen der Verdopplung der Zahl derStudienanfänger die Länder und der Bund zusammen-kommen müssen; man darf diese Aufgabe nicht an dieLänder allein delegieren. Sie von der Bundesseite müs-sen mit liefern, damit die Länder mitgehen können.Sie wissen auch, dass in Bezug auf die Lehrerbildungdie Bundesländer ganz dicht beisammen sind. Man kanneinen Staatsvertrag nur zwischen zwei Ländern schlechtmachen. Machen Sie das bitte nicht zur Voraussetzung,sodass das sinnvolle Projekt „Exzellenz in der Lehrerbil-dung“ an der Stelle hakt. Auch eine Übereinkunft allerBundesländer im Sinne einer Vereinbarung ist genausobindend und vielleicht sogar flexibler und noch sachge-rechter. – Aber ich merke an Ihrem Mienenspiel, dassSie über diese Hürde noch nicht gehen wollen. Vielleichtist am Ende Bayern einmal mehr einsichtiger als manchanderer.Die Auseinandersetzung mit dem Bildungsberichtwill ich verstärken, so wie es Kollege Gehring gemachthat. Dieser Bildungsbericht zeigt leider einmal mehr auf,dass wir in Sachen Bildungsarmut und Bildungsgerech-tigkeit noch viele Aufgaben vor uns haben.
Aber er beschreibt auch sehr klar – die Auseinanderset-zung darüber wünschen wir uns auch mit den Regie-rungsfraktionen – auf Seite 14 vier zentrale Aufgaben-felder.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27805
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(C)
(B)
Als erstes Aufgabenfeld nennt er im Konsens mitBund, Ländern und der Wissenschaft, die an diesem Bil-dungsbericht mitgearbeitet hat, die Qualifizierung derfrühkindlichen Bildung über eine Qualifizierung desPersonals und eine Aufwertung von Kindertagesstättenals Bildungseinrichtungen. Um noch einmal zu vertie-fen, was Kollege Gehring angesprochen hat – wir habenhier ja eine SPD-Grüne-Gesamtsinfonie –: Frau Wanka,Sie werden in den Diskussionen, die sich um den 1. Au-gust dieses Jahres entwickeln, die bittere Erfahrung ma-chen, dass die 2 Milliarden Euro, die als Betreuungsgeldkalkuliert wurden, besser unmittelbar für die Qualifizie-rung in Kindertagesstätten eingesetzt würden.
Sie haben aber noch alle Chancen – auch in der FDP aufder Ebene von Parteibeschlüssen –, dies zu korrigierenund nachhaltig ein neues Denken zu beginnen. Im Übri-gen – Stichwort „betrogene Betrüger“ – muss sich dieFDP fragen, ob sie sich beim Bildungssparen – das esimmer noch nicht gibt; dabei war es ihre Bedingung da-für, dass das Betreuungsgeld kommt – weiter hinhaltenlassen will.Was das zweite Aufgabenfeld angeht, will ich Ihre em-phatischen und kompetenten Ausführungen zur kulturel-len Bildung gar nicht kommentieren, Herr Feist. JohannesRau hat immer gesagt: Ein Instrument macht Kinderschlau. – Das war ein knapper, aber treffender Ausdruckfür die Bedeutung von kultureller Bildung – man kann dasauch auf die kulturellen Zugangsformen beziehen –, weildas Kinder stark macht und sie in ihrer persönlichen Leis-tung anspricht. Wenn wir das gemeinsam angehen, dannlassen Sie es doch einfach, der Opposition das Etikett„leistungsfeindlich, kulturfeindlich und bildungsfeind-lich“ an die Backe zu kleben.
Wir sind in der Bewertung im Prinzip sehr weit, undzwar gemeinsam. Was wir dem Bericht bzw. der Analyseder Wissenschaftler entnommen haben, ist, dass – so be-dauerlich es ist – eben nicht allen Kindern persönlicheStärke durch kulturelle Bildung vermittelt werden kann.Im Bildungsbericht wird in der zweiten Empfehlung aus-drücklich gesagt, dass es dafür gute Ganztagsschulenbraucht, weil darüber auch alle Kinder angesprochenwerden, die jetzt sozial von anderen getrennt sind undeben nicht in der freiwilligen, außerschulischen und fa-milienergänzenden kulturellen Bildung erreicht werden.Deshalb ist es so wichtig, Frau Wanka, dass auch Sie inBezug auf die Länder und die Öffnung des Grundgeset-zes aktiv werden, um den Zugang zu gerechter kulturel-ler Bildung für alle auch durch Ganztagsschulen zu er-möglichen, statt alles geschehen zu lassen.
Die dritte Empfehlung ist: Das Übergangssystemmuss modernisiert werden. Hier werden wir noch Dis-kussionen darüber führen dürfen: Wie weit ist die Be-rufsorientierung durch diese Regierung tatsächlich aus-kömmlich finanziert?Viertens wird die Schnittstelle zwischen dualer Aus-bildung und Hochschule angesprochen. Wir haben sehrwohl registriert, dass Sie das Thema auch auf IhreAgenda gesetzt haben. Aber im Bericht wird festgestellt,dass es sehr schwierig ist, solange es an den Hochschu-len noch den hohen Leistungsdruck gibt. Umso wichti-ger ist es, dass Sie eine Entlastung der Hochschulen übereine gute Fortsetzung des Hochschulpaktes mit organi-sieren. Sonst ist die andere richtige gemeinsame Ideeschwer zu realisieren.
Herr Kollege!
Ich hoffe, Sie verstehen es auch durch die Sachlich-
keit unserer Einlassungen so, dass es bei der empirischen
Wende, die von Frau Bulmahn über Frau Schavan mit
den Bildungsberichten verbunden ist, auch immer eine
sachliche Debatte geben muss, und die bieten wir Ihnen
an. In dem Sinne wollen wir jetzt trefflich bis zum Sep-
tember streiten.
Florian Hahn ist der letzte Redner zu diesem Tages-
ordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnenund Kollegen! Zu Beginn möchte ich Frau MinisterinWanka für ihre Antrittsrede danken. Das war ein klaresSignal, dass wir, Länder und Bund, Bildungspolitik wei-ter erfolgreich gestalten werden.Den Erfolg dieser Bildungspolitik belegen die Kern-aussagen des Berichts. Sie lesen sich besonders gut imVergleich zu dem, was die Opposition bis 2005 nicht ge-leistet hat. Lassen Sie mich dazu aus dem Bildungsbe-richt 2006 zitieren, um Ihnen die Dimensionen bewusstzu machen. Darin wird vermerkt, dass – ich zitiere – derAnteil der Bildungsausgaben am BIP seit Jahren rück-läufig ist. In Zahlen gefasst: Der Haushalt von Rot-Grünplante 2005 gerade einmal 7 Milliarden Euro für das Bil-dungsministerium ein. – Unser Haushalt für das Jahr2013 wird indes eine nie da gewesene Summe von13,75 Milliarden Euro für Bildung und Forschung be-reitstellen. Das ist fast eine Verdoppelung des Etats von2005.
Dass der Bildungsbericht natürlich nicht nur positiveBefunde nennt, ist klar; das möchte ich an dieser Stelleauch nicht verschweigen. Wichtig ist, daraus die richti-gen Schlüsse zu ziehen. Dass Rot-Grün andere Schlüssedaraus zieht und bildungspolitisch auf dem Holzweg ist,
Metadaten/Kopzeile:
27806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Florian Hahn
(C)
(B)
wird in Baden-Württemberg deutlich. Oder wie erklärenSie sich, dass dort zwar 2 Milliarden Euro Mehrausga-ben getätigt werden, aber gleichzeitig 1 000 Lehrerstel-len gestrichen werden? Wie erklären Sie sich, dass derPräsident des Deutschen Lehrerverbandes in Ihrer Lan-despolitik ein fatales Signal für den BildungsstandortDeutschland sieht?Der Bildungsbericht 2012 bescheinigt der christlich-liberalen Koalition eine ausgezeichnete Arbeit. So konnteder prozentuale Anteil frühkindlicher Bildung, Betreuungund Erziehung deutlich gesteigert werden. Die Bildungs-beteiligung von Jugendlichen und jungen Erwachsenenkonnten wir im Vergleich zu 2005 signifikant erhöhen.
Gleichzeitig erhöhten sich das Schulabschlussniveauund die Anzahl der Studienanfänger. Die Zahl der Schul-abgänger ohne Hauptschulabschluss konnte gesenktwerden. Den Studenten von heute bieten wir bessereMöglichkeiten, und wir lassen sie auch bei der Finanzie-rung nicht im Stich. Die Leistungen nach dem BAföGwurden kontinuierlich angehoben, und die Zahl derEmpfänger konnte um 10 Prozent auf 1 Million gestei-gert werden.
Wie verantwortungsvolle Politik in Bildung und For-schung aussieht, kann man am Beispiel Bayerns erken-nen.
– Ja, hören Sie ruhig einmal zu! – Bayern gibt ein Drittelseines Etats für Bildung und Forschung aus. Wie Sie al-len Bildungsrankings entnehmen können, belegt Bayerndurchgängig Spitzenpositionen. Für die Einführung ein-heitlicher Abiturstandards ab 2017 steht Bayern auchgern als Partner bereit.Aber wenn es um ein Gut wie Bildung geht, darf mansich nicht mit dem Mittelmaß zufriedengeben.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Abschaffung desSitzenbleibens unter der Überschrift „mehr Bildungs-chancen“ durch die neue rot-grüne Regierung in Nieder-sachsen für absurd.
Begründet wird das mit den anfallenden Kosten und derpersönlichen Demütigung, die Sitzenbleiben verursacht.Da stellt sich mir die Frage, ob Sie konsequenterweisenicht auch gleich Noten und Bildungsabschlüsse insge-samt abschaffen wollen. Lassen Sie uns auf korrekteRechtschreibung verzichten! Auch eine mangelhafteRechtschreibung kann, wie wir alle wissen, ein schuli-sches Erfolgshindernis sein. Mit dieser Kuschelpädago-gik, die pseudogerechte Gleichmacherei vor Leistungs-orientierung und individuelle Förderung stellt, werdenwir zukünftig nicht wettbewerbsfähig sein. Das hat nichtsmit Gerechtigkeit zu tun,
sondern ist ein Verbrechen an der Zukunft unserer Kin-der.
Persönlich habe ich mich gerade sehr gefreut, weil icheine SMS von zu Hause erhalten habe.
Meine Tochter Elisabeth hat heute ihr erstes Zeugnis be-kommen und sich beschwert, dass darin keine Noten ste-hen.Aber zum Abschluss möchte ich noch einmal Danksagen. Danke an Annette Schavan, die sich für die Bil-dungsrepublik Deutschland über 20 Jahre so stark ge-macht hat! Sie hat diese Republik mit an die Spitze dereuropäischen und weltweiten Bildungs- und Forschungs-standorte gebracht. Lassen Sie uns in diesem Sinne wei-ter für die existenzielle Ressource Bildung in diesemLand kämpfen!Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/11465 und 17/12384 an in diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu Meinungsverschiedenheiten? –Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Tagesordnungspunkt 35 b. Wir kommen nun zur Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und derFDP mit dem Titel „Stärken von Kindern und Jugendli-chen durch kulturelle Bildung sichtbar machen“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/12423, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/10122 anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieBeschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESofortige Abschaffung der Sanktionssonderre-geln für junge Hartz-IV-Berechtigte– Drucksache 17/11372 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27807
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten YvonnePloetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEHartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jäh-rige abschaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten MarkusKurth, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSoziale Bürgerrechte garantieren – Rechts-position der Nutzerinnen und Nutzer sozia-ler Leistungen stärken– Drucksachen 17/9070, 17/7032, 17/10203 –Berichterstattung:Abgeordneter Pascal KoberNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Einen Wi-derspruch dazu höre ich nicht. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion DieLinke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!135 Euro bekommen Jugendliche durchschnittlich, wennsie Hartz IV beziehen. Kommen dann noch die Kostender Unterkunft hinzu, kommen sie auf durchschnittlich338 Euro. So schickt man Menschen in die Armut. Ichfinde, diese zwei Zahlen verdeutlichen die Tragödie vonHartz IV insgesamt.
Ich will aber heute gar nicht darüber reden, dassHartz IV insbesondere aus armutspolitischer Sicht einehistorische Fehlentscheidung war. Ich will die besonde-ren Härten gegenüber Jugendlichen thematisieren, undzwar mithilfe von drei Punkten: erstens das Konstruktder Bedarfsgemeinschaft, zweitens die verschärftenSanktionsregelungen und drittens das sogenannte Aus-zugsverbot. Mit allen drei Sonderregelungen diskrimi-nieren Sie junge Menschen aufgrund ihres Alters. Michverwundert wirklich, dass Ihnen noch kein Gericht einenStrich durch die Rechnung gemacht hat.
– Einen Moment! – Professor Uwe Berlit, Richter beimBundesverwaltungsgericht, hat bereits gesagt, dass eineVerfassungsklage sehr gute Chancen habe. Eine solcheKlage würden wir gerne einreichen. Das können wiraber nicht allein. Wir brauchen dazu die Unterstützungder SPD oder der Grünen. Aber beide haben uns abge-sagt.
Zum ersten Punkt. Seit 2006 werden unter 25-Jährigeder Bedarfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet. Sie se-hen also junge Menschen als Anhängsel ihrer Eltern undnicht als hilfebedürftige Einzelperson mit ganz eigenenProblemen und Bedürfnissen.
Weil Bedarfsgemeinschaft auch bedeutet, mit den Elternin einem Haushalt leben zu müssen, stehen den betref-fenden Jugendlichen nach Ihrer Logik nur 80 Prozentdes eigentlichen Regelsatzes zu. Wie gesagt, das sinddurchschnittlich 135 Euro, also noch nicht einmal derRegelsatz, den die Jugendlichen eigentlich bekommenmüssten. Das hat mit einer bedarfsorientierten Sozial-leistung überhaupt nichts zu tun.
Zum zweiten Punkt. Jugendliche werden wesentlichhärter und wesentlich öfter nach SGB II bestraft als Er-wachsene.
Ihnen darf die Leistung nach einem Vergehen – und zwarimmer ein Vergehen aus Sicht der Behörde – um 100 Pro-zent gekürzt werden. Drei Monate lang 0 Euro! Bei einemweiteren Verstoß – wieder ein Verstoß aus Sicht der Be-hörde – dürfen ihnen auch die Mittel zur Deckung vonHeizkosten und Miete gestrichen werden. Meine Damenund Herren, kein Staat hat das Recht, Menschen die Le-bensgrundlage zu nehmen.
Drittens. Kommen wir zum Genehmigungsvorbehaltbeim Wohnungsauszug. Wenn junge Menschen das18. Lebensjahr vollendet haben, aber im Hartz-IV-Bezugsind, trifft sie ein faktisches Auszugsverbot. Wollen siedoch ausziehen, müssen sie beweisen, dass sie sich in ei-ner besonders schweren Notlage befinden. Wir haltenden Wunsch, auszuziehen, sich selbstständig zu machenund auf eigenen Beinen zu stehen, an sich für einen sehrbegrüßenswerten Schritt ins Erwachsenenleben. NachIhrer Logik aber müssen Behörden feststellen, ob Ju-gendliche in ihrer Herkunftsfamilie zum Beispiel Opfervon Gewalt werden. Da hängen schwere Schicksale vondem Mut eines Jugendlichen oder einer Jugendlichen ab,bei einer Behörde das Innerste nach außen zu kehren,aber auch von der richtigen Einschätzung eines Sachbe-arbeiters. Dann gibt es noch Jugendliche, die mit 18 aus-gezogen sind, weil sie einen Job hatten, dann aber inHartz IV fallen und zu den Eltern zurückkehren müssen.Uns wurde in der Anhörung bestätigt, dass Wohnungs-
Metadaten/Kopzeile:
27808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Yvonne Ploetz
(C)
(B)
und Obdachlosigkeit in beiden Fällen die Folge seinkönnen. Das muss uns allen zu denken geben.
Was mich bei all diesen Sonderrepressionen so richtigärgert: Sie haben sich kein einziges Mal darum geküm-mert, welche Folgen das alles hat. Sie wissen gar nicht,wie die Sanktionen wirken. Sie wissen gar nicht, wieviele junge Menschen ausziehen wollen. Sie kennennicht die Zahl der Ablehnungen und die Gründe. Sie ma-chen Gesetze, ohne sich um die Folgen zu kümmern.Das hat mit Politik wirklich wenig zu tun.Danke schön.
Max Straubinger erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! DieLinke fordert mit ihrem Antrag, alle Sanktionen für un-ter 25-Jährige abzuschaffen, und die Grünen fordern inihren Anträgen, Verfahrens-, Leistungs- und Partizipa-tionsrechte der Empfänger zu stärken bzw. beratungsin-tensivere Gespräche mit Jugendlichen zu führen, dieletztendlich verpflichtet sind, selbst für ihren eigenenLebensunterhalt zu sorgen. Das ist das grundlegendstePrinzip.Unter diesen Gesichtspunkten ist es auch richtig ge-wesen, dass man unter der damaligen rot-grünen Bun-desregierung ein Hartz-Gesetz mit der Zielstellung „For-dern und Fördern“ verabschiedet hat. Wenn wir es somachten, wie es die Linken fordern, dass wir alle Sank-tionsmechanismen abschafften, dann wären wir nur nochbeim Fördern, aber nicht einmal richtig beim Fördern,sondern letztendlich beim Faulenzen. Das kann es nichtsein.
Im Grunde genommen ist die Antragstellung zumin-dest der Linken darauf abgestellt, ein bedingungslosesGrundeinkommen zu haben. Das ist ja die Zielsetzung.
– Natürlich.
Dass es in unserer Gesellschaft Lebenskünstler gibt,
die sich drücken und auf Kosten der Allgemeinheit lebenwollen, zeigt ja das Beispiel des Herrn Ponader, des Ge-schäftsführers der Piratenpartei, der sich davor auch jah-relang gedrückt hat. Das kann es nicht sein, weil dasnicht im Sinne der Steuerzahler sein kann, die all diessozusagen zu ermöglichen haben.
Deshalb werden wir Ihre Anträge ablehnen, und diesauch begründet: Den Hilfebedürftigen ist nicht geholfen,wenn man ihnen nicht darlegt, dass sie einer Arbeitnachzugehen haben und dass es eben, wenn Verstöße ge-meldet werden, zu Sanktionen kommt. Über eine MillionSanktionen gab es; 700 000 davon sind letztendlichdurch nicht eingehaltene Termine für Beratungsgesprä-che, für Vermittlungsgespräche für Angebote begründet.Es kann nicht sein, dass sich jemand einfach davon-stiehlt. Darum geht es. Es ist jedem möglich, solche Ter-mine einzuhalten. Es ist im gut verstandenen Sinne desForderns, dass jemand diese Angebote der Bundesagen-tur für Arbeit oder des Jobcenters dann auch anzuneh-men hat. Wenn er sie nicht annimmt, dann ist auch dieSanktion gerechtfertigt.Dies ist auch vom Bundesverfassungsgericht darge-legt worden. Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 desGrundgesetzes in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grund-gesetz greift nur dann ein, „wenn und soweit andere Mit-tel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Exis-tenzminimums nicht zur Verfügung stehen“. Das heißt,zuerst ist jeder selbst gefordert, sein Existenzminimumzu erwirtschaften. Vor allen Dingen ist er auch aktiv da-ran zu beteiligen. Er muss sich selbst aktiv beteiligen,seine möglicherweise eingetretene Hilfebedürftigkeit soschnell wie möglich zu beenden.
Dies ist ein Ausdruck dafür, dass man dies nur in demSinn auch mit Sanktionen zu gewährleisten hat.
– Nein. Das Angebot, Frau Kollegin, geht einer Sanktionvoraus. Sie missverstehen hier die Verwaltungspraxis,die hier auch bestätigt wird.Im Übrigen diffamieren Sie mit ihren Anträgen auchdie Handlungsweise der vielen Beamtinnen und Beam-ten und der Angestellten in den Jobcentern, die sich sehrwohl überlegen, ob eine Sanktion angebracht ist odernicht angebracht ist. Dies zeigen auch die Ergebnisse:Den 700 000 Sanktionen wegen Meldeversäumnissen imJahr 2012 steht für 2011 ein monatlicher Bestand von146 000 erwerbsfähigen Leistungsempfängern mit min-destens einer Sanktion gegenüber, davon 39 000 Sank-tionen für Personen unter 25 Jahren, also eine Quote von4,8 Prozent. Sie unterstellen, dass besonders Jugendlichedavon betroffen sind. Das kann man aus dieser Zahl inkeiner Weise schließen; denn diese Zahl stammt aus demJahr 2011. Das bedeutet, dass die Arbeitsagenturen, dieJobcenter, mit den Sanktionen sehr spärlich und sachge-recht umgehen. Deshalb gibt es hier keine Kritik zuüben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27809
Max Straubinger
(C)
(B)
Deswegen ist es notwendig, Ihre Anträge dementspre-chend abzulehnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich finde es richtig und wichtig, dass wirheute wiederholt über das Thema Sanktionen im SGB IIsprechen und vor allen Dingen darüber, was das insbe-sondere bei jungen Menschen unter 25 Jahren bewirkt.Über dieses Thema sprechen wir schon seit dem letztenJahr. Wir werden permanent begleitet durch zum Teilhaarsträubende Medienberichte über die Praxis in denJobcentern.Der Ansatz des Förderns und Forderns, von dem meinVorredner gesprochen hat, ist ein Grundgedanke imSGB II. Mit diesem Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfehaben wir inzwischen viele Menschen vom sozialenRand in den Fokus der Förderung geholt und ihnenChancen der Teilhabe gegeben. Das steht für mich außerFrage. Dennoch glaube ich, dass der Gleichklang desFörderns und Forderns in eine Schieflage geraten ist. Erist falsch gewichtet. Schwarz-Gelb hat die Axt an die ar-beitsmarktpolitischen Instrumente angelegt und den Ein-gliederungstitel zusammengestrichen. ErfolgreicheProgramme wie der Gründerzuschuss, der Ausbildungs-bonus oder der Eingliederungszuschuss für jüngere Ar-beitnehmer sind entweder keine Pflichtleistung mehroder ganz gestrichen und können ihre vormals gute Wir-kung nicht mehr entfalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig:Hier muss endlich umgesteuert werden und der Gleich-klang des Förderns und Forderns wiederhergestellt wer-den. Vor allem vor dem Hintergrund einer verfestigtenLangzeitarbeitslosigkeit muss das staatliche Angebot zurSelbsthilfe gestärkt werden. Zielsetzung muss dabeisein, dass Menschen ein selbstbestimmtes Leben führenkönnen. Das muss von beiden Seiten gewollt sein. Ar-beitsuchende, die sich bemühen, ihre Hilfsbedürftigkeitzu beenden, müssen in jedem Fall unterstützt werden.Aber die vorsätzliche Verweigerung wiederholter Artund die Nichtannahme von geeigneten Angeboten müs-sen sanktioniert werden. Darum sage ich: Das Sank-tionssystem in Gänze abzuschaffen, das könnten wirnicht mittragen.
Aber es muss flexibler gestaltet werden. So wie es heuteaussieht, funktioniert es nicht in der Praxis. Die dreimo-natige Sanktionsdauer zum Beispiel ist viel zu starr. BeiEintritt der gewünschten Verhaltensänderung muss auchdie Möglichkeit bestehen, die Sanktionen umgehendaufzuheben, damit positive Effekte erzielt werden kön-nen und nicht ins Gegenteil umschlagen.
Die verschärften Sanktionsregeln für junge Menschenunter 25 Jahre gehören hingegen abgeschafft.
Das ist unser klares Votum. Für sie gibt es weder päda-gogische noch fachliche Gründe. Sie stehen ganz klar imWiderspruch zu anderen Rechtssystemen, wie zum Bei-spiel dem Jugendstrafrecht, das aus pädagogischenGründen weichere Strafen vorsieht. Die jungen Erwach-senen müssen motiviert und für die Mitwirkung gewon-nen werden.Was die Folgen aus den härteren Sanktionen für unter25-Jährige sind, hat die Befragung von Experten durchdas IAB ergeben. Danach haben junge Menschen auf-grund der harten Sanktionsregeln Existenzängste, undihnen droht sogar Obdachlosigkeit. Sie werden in dieIsolation gedrängt, oder sie nehmen aus Angst vor die-sen Folgen oftmals prekäre und atypische Beschäfti-gungsverhältnisse auf. Das kann doch nicht unser Zielsein. Nicht das Zurückfahren der arbeitsmarktpolitischenInstrumente gerade für Jugendliche ist richtig, sondernverstärkte Aktivitäten zur beruflichen Integration. Daherfordern wir die Auflegung eines Programms „2. Chanceauf Berufsausbildung“ mit dem Ziel, Jugendlichen einezweite Chance auf Ausbildung zu ermöglichen. JungeMenschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsab-schluss müssen die Perspektive eines beruflichen Ab-schlusses haben. Vor Ort müssen neue Ansätze erprobtwerden, um Jugendlichen die Aufnahme einer Berufs-ausbildung und deren erfolgreichen Abschluss besser alsbisher zu ermöglichen.Sicherlich haben Sie wie ich in der Zeitung, die unsjede Woche ins Büro flattert, aufmerksam gelesen, dassdie Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der BA jetztsolch einen Weg vorschlägt. Ich finde es sehr positiv,dass sie die Situation gemeinsam mit der Wirtschaft, denUnternehmerverbänden, verändern wollen. In Berlin istdie Situation nämlich besonders dramatisch: Es gibt hier22 000 junge Menschen unter 25, die arbeitslos sind.Hinzu kommen 15 000 junge Menschen, die in irgend-welchen Bildungsmaßnahmen sind. Etwa 10 000 Ju-gendliche werden überhaupt nicht erfasst. Das ist eineRiesenanzahl: fast 50 000 junge Menschen.Die Regionaldirektion der BA nimmt die prekäre Si-tuation zum Anlass, eine zentrale Anlaufstelle für alleunter 25-Jährigen zu schaffen, die einen Ausbildungs-platz oder einen Arbeitsplatz suchen. Diese Berufsagen-tur – so nennt sie sich – für jugendliche Arbeitslose sollden Kampf gegen die hohe Arbeitslosenquote und vorallen Dingen die hohe Abbrecherquote im Ausbildungs-bereich aufnehmen. In Berlin beendet jeder dritte Ju-gendliche die Ausbildung ohne Abschluss, und auch daskönnen wir eigentlich nicht länger dulden. Hamburg hatdieses Modell übrigens vor einem Jahr umgesetzt undschon gute Ergebnisse erzielt. Ich halte das für einenguten und richtigen Weg, um den Jugendlichen ein ernst-
Metadaten/Kopzeile:
27810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Angelika Krüger-Leißner
(C)
(B)
haftes Angebot zu machen. Wir wollen nämlichverhindern, dass junge Menschen in die Langzeitarbeits-losigkeit abgleiten. Aber dafür muss es einfach konkreteInitiativen geben. Sanktionen sind hier nicht der richtigeWeg.
Auch die Gemeinsame Kommission von Justizminis-terkonferenz und Arbeits- und Sozialministerkonferenzhat das erkannt und uns schon im Oktober 2010 in einemBericht mitgeteilt, dass sie die besonderen Sanktionsre-geln für junge Erwachsene unter 25 Jahren streichenmöchte. Zum Leidwesen der jungen Menschen in die-sem Land hat dieser kluge Vorschlag keinen Eingang indie Gesetzgebung gefunden; aber das ist typisch fürdiese schwarz-gelbe Verhinderungskoalition, die offen-sichtlich auch an dieser Diskussion kein Interesse hat.Nun zu den Anträgen. Wir stehen dem zuletzt vorge-legten Antrag der Fraktion Die Linke vom 7. November2012 mit dem Titel „Sofortige Abschaffung der Sank-tionssonderregeln für junge Hartz-IV-Berechtigte“ sehrnah. Wir werden sehen, ob wir die Koalitionsfraktionenim Ausschuss von diesem notwendigen Schritt überzeu-gen können; aber ich versehe das mit einem Fragezei-chen.Den Anträgen, über die heute zu entscheiden ist, einerdavon aus dem Jahr 2012, können wir nicht zustimmen,weil darin einiges miteinander vermengt worden ist, waseinfach nicht zusammengehört. Dass auch jungen Men-schen in Ausbildung ein menschenwürdiges Existenz-minimum gewährt werden muss, ist unstrittig. Aberdiese Absicherung nun zusätzlich über das SGB II zu re-geln, ist nicht richtig. Wir müssen an das BAföG und andie Berufsausbildungsbeihilfe heran und innerhalb desSystems dringend notwendige Korrekturen vornehmen.Dazu liegen übrigens Anträge der Opposition vor; abersie sind von dieser Verhinderungskoalition abgelehntworden.
Kollegin Krüger-Leißner, mit diesen müssen wir uns
dann zu anderer Gelegenheit beschäftigen. Sie müssen
bitte zum Schluss kommen.
Das wollte ich gerade tun. Vielen Dank für den Hin-
weis. –
Ihre Anregungen werden wir aufgreifen. Ich glaube,
es sind gute Ansätze dabei. Wir müssen uns vor allen
Dingen weiterhin mit ein Paar Problemen bei den
Schnittstellen in unserem Sozialsystem beschäftigen, um
gute Lösungen vorzulegen.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Von den drei Anträgen, die wir heute beraten, sind zweischon dem Titel nach nahezu identisch. Das sind die bei-den Anträge aus der Feder der Linken. Der eine trägt denTitel: „Hartz-IV-Sonderregelungen für unter 25-Jährigeabschaffen“, und der andere lautet: „Sofortige Abschaf-fung der Sanktionssonderregeln für junge Hartz-IV-Be-rechtigte“. Es ist schon dem Namen nach unverkennbar,dass beide Anträge dasselbe Ziel verfolgen.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken: Ist es wirklich sinnvoll, den Bundestag immer mitdemselben Thema zu befassen, statt auch einmal nachLösungen zu suchen und neue Konzepte zu erarbeiten?Aber Sie müssen wissen, wie Sie hier Politik machen.
Ich kann für die FDP und für die Regierungskoalitionsagen, dass wir an dem Prinzip „Fördern und Fordern“festhalten.
Dieses Prinzip, das Rot-Grün damals in die Hartz-IV-Gesetzgebung eingeführt hat, ist richtig, weil es auf ei-nem Solidaritätsgedanken beruht. In unserer Gesell-schaft gibt es einen dreifachen Solidaritätsgedanken,oder anders gesprochen: Wir leben Solidarität in dreifa-cher Beziehung.Da gibt es zum einen diejenigen, die keinen Unter-stützungsbedarf haben, das sind die starken Schultern inunserer Gesellschaft. Sie sind zu Solidarität gegenüberdenjenigen verpflichtet, die schwächere Schultern ha-ben, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Wenn siedem nicht nachkommen, indem sie zum Beispiel ihreSteuern nicht bezahlen, dann werden sie sanktioniert.Das ist das Prinzip, das in unserem Land gilt, das auf-rechterhalten wird und zu dem wir stehen.Dann gibt es zum Beispiel die erwerbsfähigen Er-werbslosen, also die Hartz-IV-Empfänger, wie man um-gangssprachlich sagt. Sie sind nicht die Schwächsten inunserer Gesellschaft, aber sie brauchen Unterstützung.Sie befinden sich in einer doppelten Solidaritätsbezie-hung: zu denjenigen, die für sie durch ihrer Hände Ar-beit die Unterstützung erwirtschaften, von der sie profi-tieren sollen und dürfen. Gleichzeitig sind sie in einerSolidaritätsbeziehung mit jenen, die noch schwächersind und noch mehr Unterstützung brauchen, die daraufangewiesen sind, dass die vorhandenen Mittel im Sozial-staat effizient und gerecht verteilt werden. In dieser dop-pelten Solidaritätsbeziehung stehen diejenigen, über diewir heute reden und für die Sie die Sanktionen abschaf-fen wollen.Die Jobcenter, die diese Sanktionen aussprechen, tundies nicht aus eigener Entscheidung, sondern aufgrundder Gesetzeslage, weil sie sozusagen als Anwälte diesergültigen Solidaritätsbeziehung in unserer Gesellschaft
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27811
Pascal Kober
(C)
(B)
agieren und stellvertretend für uns, den Gesetzgeber, derstellvertretend für die gesamte Gesellschaft spricht,diese wechselseitige Solidarität von den Arbeitsuchen-denden einfordern. Aus diesem Grund, weil die wechsel-seitige Solidarität die Basis unseres Sozialstaates ist,wollen wir von dem Prinzip „Fördern und Fordern“ auchnicht abgehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in IhrenDarstellungen klingt es so, als würden massenhaft Sank-tionen gegen Arbeitslosengeld-II-Bezieher ausgespro-chen werden. Im vergangenen Jahr wurden gegen3,5 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsbezieher Sank-tionen ausgesprochen, das heißt, die Beziehung zwi-schen Jobcentern und Arbeitsuchenden funktioniert in96,5 Prozent der Fälle, also in den allermeisten Fällen,tadellos.
Von einem Massenphänomen kann keine Rede sein.Auch bei den von Ihnen in Ihren Anträgen hervorge-hobenen unter 25-Jährigen sind es nur 5 Prozent. Alsoauch bei denjenigen, die Sie in Ihren Anträgen auf be-sondere Weise im Blick haben, handelt es sich in keinerWeise um ein Massenphänomen. Vielmehr muss manfeststellen, dass die allermeisten sich korrekt verhaltenund mitwirken, um aus ihrer Hilfsbedürftigkeit heraus-zukommen. Umgekehrt heißt das, dass die Jobcenter ihreArbeit verantwortlich tun.Wir wissen, dass die Jobcenter an der einen oder an-deren Stelle ihre Arbeit weiter verbessern können. Wirstellen aber auch fest, dass in den letzten Jahren einigessehr viel besser und viel professioneller geworden ist,auch deshalb – gerade wenn es um die unter 25-Jährigengeht –, weil wir als Regierungskoalition den Betreuungs-schlüssel verbessert haben, sodass mehr Zeit zur Verfü-gung steht, auf die individuellen Bedürfnisse des Arbeitsu-chenden einzugehen. Wir haben konkret etwas verbessert,indem wir den Betreuungsschlüssel auf 1 : 75 verbesserthaben, sodass individuelle Beratung und individuellesEingehen auf die Personen in den Jobcentern möglichist.Wenn Sie von einer Zunahme der Sanktionen spre-chen, dann müssen Sie bedenken, dass der Grund dafürvor allen Dingen ist, dass es mehr Jobangebote gibt.Wenn es mehr Jobangebote gibt, dann gibt es mehr Kon-taktaufnahmen zwischen den Jobcentern und den Arbeit-suchenden, und dann besteht zumindest theoretisch dieMöglichkeit, gegen mehr Kontaktpflichten zu verstoßenund mehr Angebote, die das Jobcenter unterbreitet, nichtanzunehmen. Das ist eine ganz einfache statistischeWahrheit. Die Ursache dafür ist, dass diese Regierungs-koalition eine hervorragende Politik macht, sodass Ar-beitsplätze entstehen, Menschen Arbeitsplätze findenkönnen und sie qualifiziert werden können. Dass durchunsere Politik weniger Menschen arbeitslos sind, ist er-freulich für die Menschen, für unsere Gesellschaft insge-samt. Allein das wird, glaube ich, dazu führen, dass we-niger Sanktionen ausgesprochen werden; denn jeder, dereine Arbeit sucht, steht auch nicht in einer Beziehung zueinem Jobcenter.
Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen der Lin-ken, da Sie sich ja in besonderer Weise den Arbeit-suchenden verpflichtet fühlen, sollten Sie Ihr Herz überdie Hürde werfen und diese Regierungskoalition einmalaus vollem Herzen loben. Ich glaube, auch Sie sind da-für, dass möglichst viele Menschen in diesem Land ei-nen Job finden. Da müssen Sie doch zugeben, dass dieseRegierungskoalition so erfolgreich ist wie keine zuvor.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Kollege Kober, ich muss auf zwei Ihrer Argumentegleich eingehen. Sie haben gesagt, es gebe nur ganz we-nige Sanktionen, das sei nichts Besonderes, und dashätte etwas damit zu tun, dass es mehr Jobangebotegebe. Ich frage erst einmal: Was sind denn das für Jobs,die da angeboten werden?
Wenn man sich die Sache genau anschaut, stellt manfest, dass das Sanktionsregime über den eigentlichenKreis der tatsächlich Sanktionierten hinaus natürlichWirkungen hat, weil Leute aus Angst vor Sanktionenund dem Entzug des Lebensunterhalts Jobs annehmen,die sie niemals annehmen würden, wenn es eine ver-nünftige Grundsicherung gäbe.
Wie kommt es überhaupt, dass Verhältnisse wie bei derZeitarbeitsfirma Trenkwalder bzw. beim Versandhänd-ler Amazon möglich sind? Wenn es Sanktionsandrohun-gen in dieser Schärfe nicht gäbe, würden die dort Be-schäftigten sagen: Da machen wir nicht mit.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Sie re-den immer vom „Fördern und Fordern“. Wir, Bünd-nis 90/Die Grünen, sind der Auffassung, dass man, wennman ernsthaft fördert, wenn man die Bedürfnisse undWünsche der Personen ernst nimmt und wenn man einWunsch- und Wahlrecht mit verschiedenen gleichwerti-gen Angeboten einführt – genau das fordern wir in unse-rem Antrag „Soziale Bürgerrechte garantieren“, der hierauch behandelt wird –, die Sanktionen in aller Regel
Metadaten/Kopzeile:
27812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Markus Kurth
(C)
(B)
überhaupt nicht benötigt. Es gibt ja auch Beispiele vonJobcentern, die die jungen Erwachsenen dort abholen,wo sie stehen, die positiv mit ihnen arbeiten und damitentsprechende Erfolge erzielen.
Darum sagen wir: Wir wollen bei der Motivation undder Eigenverantwortlichkeit der Person ansetzen. Wirfolgen nicht einem Fetisch des Strafens. Ich glaube, dassdas bei den Konservativen sehr weit verbreitet ist. Daswäre einmal ein interessantes wissenschaftliches Thema.Herr Zimmer, Sie sind auch Hochschullehrer. Sie kön-nen ja einmal eine Doktorarbeit mit dem Titel „Der Fe-tisch des Strafens im Selbstverständnis der politischenKonservativen“ anregen. Das wäre interessant.
Besonders unnachgiebig wird das Prinzip des Strafensgegenüber Jugendlichen und jungen Erwachsenen hoch-gehalten, sei es in Form besonders scharfer Sanktions-möglichkeiten oder als Haltung, wie man es in dergegenwärtigen Debatte über das Sitzenbleiben in Nie-dersachsen verfolgen kann. Dies geschieht wohl in demGlauben, die harte Strafe sei gegenüber dem jungenMenschen pädagogisch besonders wertvoll, auf dass ersich bessere. Ich sage Ihnen: Dieses Verständnis stammtaus dem vorvergangenen Jahrhundert.
Sitzenbleiben und Arbeitshaus sind tatsächlich im19. Jahrhundert zur Blüte gelangt. Gefördert wird damitnicht der mündige Mensch, sondern das, was die Elitendes 19. Jahrhunderts für die Tugenden der Arbeiter hiel-ten: Gehorsam, Anpassungsbereitschaft, Fügsamkeit undhöchstens noch Fleiß durch Zwang.
Das ist heutzutage unangemessen. Wird dadurchKreativität ermöglicht? Wird dadurch Motivation er-zeugt? Wird dadurch die Risikobereitschaft gefördert?Nein. Man muss gar nicht so moralisch argumentieren,wie die Linke es teilweise tut. Man kann es auch ganznüchtern und funktional betrachten. Die Tugenden dermodernen Arbeitsgesellschaft sind Eigenverantwortlich-keit und Kreativität.
Das wird durch Zwang zum Gehorsam nicht eben geför-dert.
Wir als Bündnis 90/Die Grünen setzen mit unseremAntrag auf das Prinzip der partnerschaftlichen Zusam-menarbeit. Erst wenn gleichwertige Angebote, vernünf-tige Sachen hartnäckig und wiederholt von den Betroffe-nen ausgeschlagen werden, kann man sanktionieren,aber Jugendliche nicht anders als Erwachsene.Wir sind außerdem der Auffassung, dass ab einerKürzung von mehr als 10 Prozent Sachleistungen einset-zen müssen. Wir sind weiterhin der Auffassung, dass dasGanze flexibilisiert werden muss. Sobald die Verhaltens-änderung eintritt, muss die Sanktion sofort aufgehobenwerden. Mich freut es, von der SPD zu hören, dass sie indieser Hinsicht politisch nachdenkt.Es ist schon wert – egal was wer wann wie in der Ver-gangenheit beschlossen hat, Herr Kober –, dass man andieser Stelle gemeinsam und nüchtern tatsächliche Wir-kungen, beabsichtigte und wirkliche Folgen untersuchtund das dann entsprechend politisch verändert.Danke.
Der Kollege Dr. Matthias Zimmer hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben es hier mit zwei sehr unterschiedlichen Anträgen zutun. Ich muss ganz persönlich sagen: Mir tut es ein biss-chen leid, dass der inhaltlich sehr substanziierte Antragder Grünen mit dem sehr eindimensionalen Antrag derLinken zusammen verhandelt wird;
denn ich finde in Ihrem Antrag eine ganze Reihe vonDingen, die durchaus nachdenkenswert sind.Ich habe mich zum Beispiel sehr gefreut, in IhremAntrag etwa eine Forderung zu finden, die Praxis derFriedenswahlen bei der Selbstverwaltung der Sozialleis-tungsträger zurückzudrängen. Sie haben hier vielleichtauch gemerkt, dass sich der Bundesbeauftragte für dieSozialwahlen, Gerald Weiß, in der Anhörung dieser For-derung durchaus angeschlossen hat. Er ist aus eigenerErkenntnis dazu gekommen. Mittlerweile liegt derSchlussbericht zu den Wahlen 2011 vor, und es liegt einVorschlag zu einem neuen Wahlverfahren und damit zurAbschaffung der Friedenswahlen auf dem Tisch.Ich stelle das an den Anfang meiner Rede, weil ichglaube: Wir gewinnen in der Politik auch, wenn wir Ge-meinsamkeiten unterstreichen und wenn wir uns dievielleicht nur vordergründige Blöße geben, auch öffent-lich zuzugeben, dass dann und wann auch aus der Oppo-sition konstruktive Vorschläge kommen können. Inso-fern habe ich den Antrag begrüßt und bin mir sicher:Auch wenn wir Ihren Antrag heute vor allen Dingen we-gen der Sanktionsregelungen ablehnen, bleibt eine Reihevon nachdenkenswerten Ideen, für die ich ausgespro-chen dankbar bin.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27813
Dr. Matthias Zimmer
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, eine Differenz – das hatteich angedeutet – betrifft die Frage der Sanktionsregelungbei den unter 25-Jährigen. Die Linke ist insgesamt füreine sanktionsfreie Mindestsicherung. Genau hier wirddie Debatte sehr spannend. Sie betrifft nämlich letztlichdie Frage: Darf, kann Solidarität ohne Bedingungen ge-währt werden, oder ist Solidarität auch immer mit Eigen-verantwortung gekoppelt? Unstreitig ist: Dort, wo dieEigenverantwortung nicht wahrgenommen werden kann,ist Solidarität unbedingt erforderlich. Aber wie sieht esaus, wenn Eigenverantwortung wahrgenommen werdenkann? Wie weit reichen dann die Solidaritätspflichtender Gemeinschaft? Mit anderen Worten: Inwieweit darfich als Einzelner andere in eine gesamtschuldnerischeHaftung nehmen? Denn nichts anderes ist Solidaritätnach dem alten römischen Rechtsprinzip der obligatio insolidum. Inwieweit darf ich die Solidarität der Gesell-schaft in Anspruch nehmen, auch wenn ich ihrer nichtbedürfte: entweder weil ich durchaus Möglichkeitenhätte, meine eigene Lebenssituation in den Griff zu be-kommen oder weil ich andere, subsidiär tätige Hilfe-möglichkeiten wie die Familie habe?Meine These ist: Die durchaus notwendige und wich-tige Ressource Solidarität wird durch Trittbrettfahrerverhalten unterminiert. Dort, wo Eigenverantwortungnicht ernstgenommen wird, kann auf Dauer keine Soli-darität beheimatet sein. Das wäre im Übrigen auch meinHaupteinwand gegen ein bedingungsloses Grundein-kommen: Es vernichtet die gesellschaftlich notwendigeRessource Solidarität.
Aus meinem Menschenbild heraus ist der Mensch zurFreiheit befähigt und zur Verantwortung für sich selbst.Er ist dabei zur Solidarität aufgerufen. Dabei versteheich unter Solidarität mit der schönen Definition aus derpäpstlichen Enzyklika Sollicitudo rei socialis – ich zi-tiere –:… die feste und beständige Entschlossenheit, sichfür das „Gemeinwohl“ einzusetzen, das heißt, fürdas Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alleverantwortlich sind.Das funktioniert aber nur, wo nicht durch Strukturenantisolidarischen Verhaltens die Quellen der Solidaritätselbst verstopft werden. Wir dürfen Solidarität nichtüberdehnen und missinterpretieren als ein vorausset-zungsloses Leben auf Kosten anderer. Das scheint mirgerade bei dem Antrag der Linken der Fall zu sein. Da-hinter stecken ein falsches Bild der menschlichen Frei-heit, ein falsches Bild von Solidarität und vermutlich garkeine Vorstellung von Gemeinwohl. Dies ist gar nichtüberraschend, denkt man an die geistigen Traditionendieser Partei.
Deswegen bin ich skeptisch in Bezug auf die generelleSanktionsfreiheit und die besonderen Regelungen fürunter 25-Jährige. Wenn wir diesen Weg gehen, zerstörenwir die Voraussetzungen von Solidarität in der Gesell-schaft. Aber ohne Solidarität kann es, wie Oswald vonNell-Breuning gesagt hat, keine Gemeinschaft geben.
Ein letzter Punkt. Wohin es führt, wenn Solidaritätüberstrapaziert wird, sieht man auch an den Debatten umden Länderfinanzausgleich. Es ist schon absurd, dasssich mein Bundesland Hessen jedes Jahr allein deshalbverschulden muss, um Leistungen in anderen Bundes-ländern zu finanzieren, die es sich selbst nicht leistenkann. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich: Mandarf die Ressource Solidarität nicht als Einladung verste-hen, es sich auf Kosten anderer gut gehen zu lassen.Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Einsicht überalldort, wo Rot oder Grün regiert, noch nicht ganz verin-nerlicht worden ist.
Aber im Großen des Länderfinanzausgleiches wie imKleinen der Hartz-IV-Regelungen gilt: Es gibt kein An-recht darauf, auf Kosten anderer im Namen der Solidari-tät ein gutes Leben zu führen, wenn man dafür eigenver-antwortlich selbst sorgen könnte.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11372 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales aufDrucksache 17/10203.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/9070 mit demTitel „Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jährigeabschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/7032 mit dem Titel „Soziale Bür-gerrechte garantieren – Rechtsposition der Nutzerinnenund Nutzer sozialer Leistungen stärken“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FraktionDie Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenom-men.
Metadaten/Kopzeile:
27814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Jan Korte, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke,weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset-zes zur Änderung der Strafprozessordnung
– Drucksache 17/7335 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Jerzy Montag, Volker Beck , IngridHönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu einer rechts-staatlichen und bürgerrechtskonformenAusgestaltung der Funkzellenabfrage als Er-mittlungsmaßnahme– Drucksache 17/7033 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/12419 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgSebastian EdathyJörg van EssenHalina WawzyniakJerzy MontagNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJörg van Essen für die FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Liebe Kolleginnenund Kollegen! Der Februar 2011 hat uns schon gesternbeschäftigt. Es ging um eine Entscheidung des Immuni-tätsausschusses; eine Kollegin und ein Kollege derLinksfraktion beanspruchten dort eine Sonderregelungfür sich. Wir müssen uns aber auch noch aus einem an-deren Grund mit dem Februar 2011 beschäftigen. Es hatnämlich damals in Dresden in einem für mich unvorstell-baren Umfang Funkzellenabfragen durch die Strafver-folgungsbehörden gegeben. Das ist ein Vorgang, dernicht ohne parlamentarische Beratung bleiben kann.
Deshalb haben wir darüber ja auch gemeinsam imRechtsausschuss des Deutschen Bundestages diskutiert.Wenn es zu einer solchen missbräuchlichen Anwen-dung einer Vorschrift kommt – ich glaube, das ist die ge-meinsame Feststellung von allen –, dann müssen wir unsfragen: „Hat der Gesetzgeber darauf zu reagieren?“, undgegebenenfalls: „Wie hat er darauf zu reagieren?“ Genaudas ist der Gegenstand unserer Beratungen gewesen. Wirhaben dazu auch eine Sachverständigenanhörung durch-geführt.Zunächst einmal die Feststellung: Die Funkzellen-abfrage ist ein wichtiges Ermittlungsinstrument. Abersie ist auch ein Eingriff in die individuellen Rechte desBürgers. Deshalb muss beides gegeneinander abgewo-gen werden. Ich finde, dass der Gesetzgeber das sehrvernünftig abgewogen hat. Er hat nämlich deutlich ge-macht, dass ein solcher Eingriff nur dann zulässig ist,wenn der Vorwurf, der im Raum steht, ein entsprechendhohes Gewicht hat. Wenn man sich allein das vor Augenführt, muss man sagen, dass die Voraussetzungen inDresden dazu nicht gegeben waren.Ich finde es im Übrigen auch richtig, dass der Polizei-präsident nach diesem Vorgang zurücktreten musste,weil dieses Instrument hier offensichtlich rechtsmiss-bräuchlich angewandt worden ist.Es gibt eine zweite Hürde, die wir auch bei ähnlichenEingriffshandlungen der Justiz haben: Ein Richter mussdazu befragt werden und seine Zustimmung geben. Vondaher gibt es also die üblichen hohen Hürden, die in derStrafprozessordnung immer dann vorgesehen sind, wennin Rechte des Bürgers eingegriffen wird. Damit sorgenwir dafür, dass das von den Strafverfolgungsbehördennicht aus eigenem Entschluss getan werden kann.Es gibt zwei Vorschläge, die heute zur Abstimmungstehen. Zunächst zum Vorschlag der Linken, insgesamtauf dieses Instrument zu verzichten. Ich sage klar undeindeutig, dass wir strikt dagegen sind, aus einem sol-chen Einzelfall den Schluss zu ziehen: Es darf in Zu-kunft in Deutschland keine Funkzellenabfrage mehr ge-ben. – Wer sich die Anhörung, die der Rechtsausschussdes Deutschen Bundestages durchgeführt hat, vor Augenführt, weiß, welch große Bedeutung die Funkzellenab-frage in der Vergangenheit beispielsweise bei der Auf-klärung von Straftaten wie Mord gehabt hat;
bestimmte Straftaten konnten nur dadurch aufgeklärtwerden. Deshalb muss ich sagen: Ich wundere mich überden Vorschlag, den Sie hier machen. Schwerste Strafta-ten wie Mord könnten nicht mehr aufgeklärt werden,wenn wir Ihrem Vorschlag folgen würden.
Deshalb werden wir das nicht tun.Die Grünen haben einen anderen Weg gewählt. Siehaben die Anforderungen an die Funkzellenabfrage inihrem Gesetzentwurf erhöht, beispielsweise was dierichterliche Begründungspflicht angeht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27815
Jörg van Essen
(C)
(B)
Das ist etwas, worüber man ganz selbstverständlich dis-kutieren kann. Das kann man schon daran sehen, dassauch die Sächsische Staatsregierung, in deren Zuständig-keitsbereich sich ja dieser Vorgang ereignet hat, Vor-schläge dazu gemacht hat. Das freut mich übrigens sehr,weil es zeigt, dass eine Regierung selbst fragt: Haben ei-gentlich diejenigen, die für uns handeln, richtig reagiert?
Müssen wir daraus gesetzgeberische Konsequenzen zie-hen? Ich will also ausdrücklich loben, dass man sichnicht sofort vor die eigenen Strafverfolgungsbehördengestellt hat, sondern auch darüber nachgedacht hat, obman gegebenenfalls Konsequenzen ziehen muss. Ichpersönlich muss für meine Fraktion sagen: Vielen Dankfür diese Anregung!
Wie gesagt, man kann zu diesem Ergebnis kommen;das wird ganz ohne Weiteres von uns zugestanden. Aberein Ergebnis der Anhörung war, dass davor gewarntworden ist, aus Einzelfällen sofort gesetzgeberischeKonsequenzen zu ziehen. Die Praxis der Funkzellenab-frage gibt es jetzt ja schon lange Zeit. Wenn man sichdiese Praxis anschaut, muss man feststellen: Bis auf denFall in Dresden und einen zweiten Fall in Berlin ist esnicht zu Beanstandungen gekommen. Das zeigt, dass dieStrafverfolgungsbehörden mit der Funkzellenabfrageganz offensichtlich verantwortungsvoll umgehen. Des-halb sind wir als Koalition zu dem Ergebnis gekommen,dass, jedenfalls im Augenblick, kein Anlass besteht, zueiner Änderung zu kommen.Ich sage aber auch ganz deutlich: Es gab bei derFunkzellenabfrage Verstöße gegen den Verhältnismäßig-keitsgrundsatz. Wir werden im Rechtsausschuss desDeutschen Bundestages sorgfältig beobachten, ob es beidiesen beiden Vorfällen bleibt, ob der Verhältnismäßig-keitsgrundsatz eingehalten wird oder nicht. Sollte sichherausstellen, dass die Verhältnismäßigkeit nicht beach-tet wird, dann bin ich, das sage ich ganz offen, bereit, aufdie Vorschläge, die in diesem Zusammenhang gemachtworden sind – beispielsweise von den Grünen, aber auchvon der Sächsischen Staatsregierung –, zurückzukom-men. Aber im Augenblick sehe ich diese Notwendigkeit,wie gesagt, nicht.Vielen Dank.
Die Kollegin Marianne Schieder hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Die Dresdner Vorfälle geben wirklich allen An-lass, sich die Regelungen rund um die Funkzellen-abfrage genau anzuschauen. Zu Recht, wirklich zu Rechtbefallen viele, viele Menschen Zweifel, ob es wirklichsinnvoll sein kann, nach einer Demonstration 140 000 Da-tensätze von ganz überwiegend friedlichen Demonstran-ten und unbeteiligten Dritten zu ermitteln.Hinzu kommt, dass diese Datensätze später gesetzes-widrig genutzt wurden, um zum Beispiel Verstöße gegendas Versammlungsrecht festzustellen. Selbst der sächsi-sche Ministerpräsident musste dies öffentlich einräumen.So ist die Funkzellenabfrage vom Gesetzgeber natürlichnicht gedacht.Nach der Strafprozessordnung soll die Funkzellenab-frage nur bei Straftaten von erheblicher Bedeutung an-wendbar sein. Voraussetzung ist weiter, dass die Erfor-schung des Sachverhalts oder die Ermittlung desAufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weiseaussichtslos ist oder wesentlich erschwert wird. Schließ-lich bedarf eine solche Funkzellenabfrage einer richterli-chen Anordnung. Das ist auch gut so; denn es handeltsich um eine heimliche Ermittlungsmaßnahme. Die Be-troffenen werden allenfalls im Nachhinein informiert;
auf diese nachträglichen Informationen komme ich nochzu sprechen. Wenn diese Voraussetzungen aber vorlie-gen, ist die Funkzellenabfrage eine Ermittlungsmethode,die sinnvoll ist und sicherlich gebraucht wird.In der Sachverständigenanhörung ist uns – Kollegevan Essen hat bereits darauf hingewiesen – der MordfallMoshammer geschildert worden. Die Polizei konnte dortzunächst keinerlei Hinweise auf Tatverdächtige finden,sie konnte aber aufgrund einer Funkzellenabfrage fest-stellen, dass die das Tatorthaus versorgende Funkzelle inder fraglichen Nacht nur von 14 Mobilfunkteilnehmernbenutzt wurde. Die Abfrage bei den Mobilfunkunterneh-men ergab, dass 13 Teilnehmer praktisch Nachbarn wa-ren, der 14. aber nicht. Die weiteren Ermittlungen erga-ben dann, dass diese Person tatsächlich der Mörder war.Ohne diese Funkzellenabfrage hätte der Mörder wahr-scheinlich nicht ermittelt werden können. In einem sol-chen Fall halte ich die Funkzellenabfrage für eine ge-eignete und angebrachte Ermittlungsmaßnahme.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehrgeehrten Damen und Herren, habe ich auch kein Ver-ständnis für die Forderung der Linken, die Möglichkeitzur Funkzellenabfrage abzuschaffen.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, gehen einen anderen Weg: Sie wollen, wasden Anwendungsbereich betrifft, die Hürden anheben.Konkret bedeutet aber auch das, dass etwa bei schweremLandfriedensbruch keine Funkzellenabfragen mehrdurchgeführt werden könnten.
Metadaten/Kopzeile:
27816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Marianne Schieder
(C)
(B)
Damit wäre die Dresdner Funkzellenabfrage natürlichnicht möglich gewesen – das ist wahr –; denn sie wurdebeantragt, um in 23 Fällen des besonders schwerenLandfriedensbruchs die Täter zu ermitteln. Aber auchbei Wohnungseinbrüchen oder anderen Einbrüchen oderbei sexueller Nötigung wäre keine Funkzellenabfragemehr möglich. Dies halte ich für überzogen.
Sollen Serieneinbrüche aufgeklärt werden, wäre derEinsatz der Funkzellenabfrage nur dann möglich, wenndie Polizei Ansatzpunkte dafür hätte, dass es sich ummindestens drei Täter handelt. Was aber, wenn die Poli-zei hierfür zunächst keine Anhaltspunkte hat? Wollenwir Funkzellenabfragen in solchen Fällen wirklich vonvornherein ausschließen? Ich glaube nicht, dass diessinnvoll ist, und ich glaube, dass auch die Bürgerinnenund Bürger dafür wenig Verständnis hätten.
Insofern geht uns der Entwurf der Grünen also zuweit. Gut finden wir aber den Vorschlag, wonach im An-schluss an die Funkzellenabfrage dem anordnendenRichter über die Ergebnisse berichtet werden muss. DieSachverständigenanhörung hat gezeigt, dass es offenbarauch, was die rasche Löschung der nicht benötigten Da-ten betrifft, nicht zum Besten steht. Wir sollten deshalbdarüber nachdenken, ob ein solcher nachträglicher Be-richt auch hierzu Angaben enthalten sollte.Liebe Kolleginnen und Kollegen, § 100 g StPO istseit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtszur Vorratsdatenspeicherung von 2010 und 2012 – zu-mindest teilweise – nicht verfassungskonform. So wiebisher darf nur noch übergangsweise vorgegangen wer-den. Deshalb denke ich, dass im Zusammenhang mit dennötigen gesetzlichen Neuregelungen sicher auch nocheinmal ganz intensiv über die Funkzellenabfrage zu dis-kutieren sein wird.Wir als SPD-Fraktion sind sehr dafür, die Funkzellen-abfrage als Ermittlungsinstrument beizubehalten, aberzugleich muss sichergestellt werden, dass ihr Einsatznicht unverhältnismäßig erfolgen kann und die erhobe-nen Daten auch wieder gelöscht werden.
Insofern werden wir bei den Diskussionen gern wieder,wie Herr Kollege van Essen ebenfalls schon sagte, aufdie Vorschläge der Grünen zurückgreifen. Ich sage abernoch einmal: Heute können wir nicht zustimmen, weilwir die Vorschläge für zu weitgehend halten; aber ichdenke, es lohnt sich dennoch, intensiv nachzudenken,was hier gesetzgeberisch verbessert werden könnte.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich möchte zu Anfang feststellen,
dass alle Fraktionen im Deutschen Bundestag außer die
Linke die Funkzellenabfrage befürworten und ihren Ein-
satz in der Strafverfolgung als sinnvoll und notwendig
erachten. Ich danke auch Frau Kollegin Schieder, dass
Sie hier intensiv ausgeführt haben, unter welchen Vo-
raussetzungen bzw. Fallgestaltungen eine Funkzellenab-
frage sinnvoll ist, und dass sie gerade dann, wenn sie
verhältnismäßig ist, ein notwendiges Mittel polizeilicher
und staatsanwaltschaftlicher Arbeit ist.
Die Auskunft, ob sich bestimmte Mobiltelefone von
Tatverdächtigen in einer Funkzelle befinden, ist eine
sinnvolle und verhältnismäßige Auskunft,
die wir brauchen, um schwerste Straftaten zu verfolgen,
Frau Wawzyniak. Es werden ja auch – ich weiß nicht, ob
Sie sich das einmal angeschaut haben – nur Verkehrsda-
ten gespeichert. Verkehrsdaten bedeutet: Rufnummer,
Beginn und Ende der Kommunikation und Telekommu-
nikationsdiensteanbieter.
Kollege Sensburg, gestatten Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen Montag?
Aber natürlich beim Kollegen Montag.
Lieber Herr Kollege Sensburg, nachdem Sie, wie ichmich lebhaft erinnern kann, bereits bei unserer erstenDebatte im Oktober 2011 unsere Vorschläge nicht gele-sen hatten und das, was wir geschrieben hatten, nichtverstehen wollten oder konnten, frage ich Sie nun nocheinmal: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen unddann auch differenziert darüber zu diskutieren, dass eszwei Sorten von Abfragen gibt?
Es gibt eine, bei der man die Mobilfunknummer kennt
und schauen will, wo sich das Gerät gerade befindet. Dasist das, wovon Sie gesprochen haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27817
Jerzy Montag
(C)
(B)
Man möchte gern wissen, sagten Sie, ob sich ein be-stimmtes Mobilfunktelefon irgendwo befunden hat –eine unproblematische Sache, über die wir heute über-haupt nicht sprechen. Warum reden Sie darüber?
Auf der anderen Seite geht es um die nichtindividuali-sierte Abfrage. Das ist doch das datenschutz- und bür-gerrechtlich Problematische, und dabei geht es geradenicht um die Frage, ob sich ein bestimmtes Mobiltelefonan einem bestimmten Ort aufgehalten hat.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Montag; der Hinweisist gut. Aber natürlich habe ich damals Ihre Anträge ge-lesen. Ich habe sie auch jetzt gelesen. Sie haben sich umkein Wort verändert, es sind inhaltlich immer noch diegleichen.
Es geht zum einen um bestimmte Mobiltelefone undzum anderen um bestimmbare Telefone. Das ist der Un-terschied.Wir haben Straftaten, bei denen ich wissen will, wosich der Täter möglicherweise aufgehalten hat. DenkenSie einmal an Geiselnahmesituationen. Dort habe ich na-türlich im Vorfeld nicht die Mobiltelefonnummer. Daswäre ja sehr simpel. Dann wüsste ich, wer der Geisel-nehmer ist. Denken Sie an Konstellationen wie Kindes-entführungen. Da habe ich im Vorfeld auch nicht dieMobiltelefonnummer.Es wäre ja eine skurrile Situation, wenn die Polizeischon im Vorfeld die Mobiltelefonnummer hätte. Geradeda ist es sinnvoll, die Funkzellen durchzuscannen, um inErfahrung zu bringen: Wer hat denn möglicherweise amOrt der Kindesentführung oder der Geiselnahme in die-ser Funkzelle telefoniert? Das genau sind die Konstella-tionen, die Sie meinen; denn die Nummer ist vorhernicht bekannt.
Bei diesen Konstellationen wollen Sie die Hürden ver-schärfen.
Dabei geht es um schwerste Straftaten.
– Doch. Sie wollen Satz 1 ändern und auf § 477 StPOhinweisen. Dabei geht es um die Fälle, in denen wirgerne die Funkzellenabfrage ermöglichen würden. Wirwollen die Hürden da nicht höher legen, weil diese Straf-taten erheblich sind und wir diejenigen, die diese Tatenbegehen, finden wollen. Sie denken nur an die Fälle, woeine Vielzahl von Dritten mitabgefragt wird. Das istnicht der Kern des Problems. Kern des Problems ist, dasswir die Täter finden. Alle anderen Daten werden ge-löscht. Bei diesen Straftaten ist es aber notwendig, HerrKollege Montag.
Ich habe jetzt ja einige Straftaten aufgezählt. Es gehtnicht nur um solche Fälle, sondern auch um Fälle vonMord und Totschlag, Raub und räuberischer Erpressungsowie Vergewaltigung; von daher der Verweis auf§ 108 StPO.Meine Damen und Herren, es geht auch um Straftatenwie Abgeordnetenbestechung. Die sind in § 100 a StPOauch aufgezählt. Ich nenne in diesem Zusammenhangden § 108 e StGB. Einige in diesem Hause meinen ja,Abgeordnetenbestechung sei im Strafgesetzbuch nichtgeregelt. Dabei ist dies eine schwere Straftat im Sinnedes § 100 a StPO, also eine geregelte Straftat.
Um solche Straftaten geht es.
Ich frage mich auch, was die Fraktion Die Linke indiesem Hause möchte. Sie von der Linken haben schonein komisches Verständnis von Staat und Gesellschaft,wenn Sie sagen: Wir misstrauen der Polizei, wir miss-trauen den Staatsanwaltschaften, wir misstrauen denRichtern.
Das steht doch – wenn man es genau liest – in Ihrem An-trag. Sie möchten am liebsten alle polizeilichen undstaatsanwaltschaftlichen Maßnahmen abgeschafft se-hen. Dabei brauchen wir für eine Funkzellenabfrage ei-nen Antrag der Staatsanwaltschaft. Wir benötigen eineAnordnung des Ermittlungsrichters. Sollte sie in Eilfäl-len nicht vorliegen, muss sie nachgereicht werden. Wennsie nicht nachgereicht wird – daran ermessen Sie, wiehoch die Hürde für die entsprechenden Voraussetzungenliegt –, gibt es ein Beweiserhebungsverbot. Daran siehtman, wie hoch die Latte gelegt wird und wie wichtigdiese Anordnungen sind. Das alles ist Ihnen aber egal.Sie nehmen lieber in Kauf, dass wir bei solchen Konstel-lationen die Täter nicht ermitteln können, weil, wie Siemeinen – das ist ja richtig –, Dritte miteinbezogen wer-den. Es handelt sich aber nur um deren Verkehrsdaten,die dann wieder gelöscht werden.Von daher muss ich sagen: Wir brauchen im Rahmender Verhältnismäßigkeit – der Kollege van Essen hat dasangesprochen – dieses polizeiliche Mittel. Wir müssendie Chance haben, bei diesen Straftaten eine Funkzellen-abfrage zu machen, um in Erfahrung bringen zu können,wer in einem bestimmten Bereich kommuniziert hat. Da-mit können wir den potenziellen Täterkreis reduzieren.
Metadaten/Kopzeile:
27818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Dr. Patrick Sensburg
(C)
(B)
Das gilt sowohl für den Fall, wo wir die Telefone kennen– das ist ein seltener Fall –, als auch für den, wo wir sienicht kennen, aber so erfahren, dass bestimmte Telefoneim Rahmen einer Tat in einer Funkzelle genutzt wordensind. Dies ist ein wichtiges Instrument, das unsere Poli-zei braucht.Wenn Sie jetzt noch die Verknüpfung zur Vorratsda-tenspeicherung herstellen würden, meine Damen undHerren, hätten wir, weil wir dann auch retrograd sehenkönnten, wer in Funkzellen telefoniert hat, ein effizien-tes, praktisches und wirklich gutes Instrument, um Täteraufzuspüren und identifizieren zu können.
Herr Kollege Montag, zum Schluss möchte ich nochauf Sie zu sprechen kommen, um Ihnen zu zeigen, dassich Ihre Anträge lese. Sie haben in Ihrem Antrag imGrunde nicht viel Neues geregelt – eigentlich nicht mehrals das, was schon in der StPO steht. Was die Einzelfall-begründung angeht: Das steht ohnehin schon in derStPO.
– Die findet sich in Abs. 1. – Die jährliche Dokumenta-tion ist neu; diese möchten Sie haben. Ich sehe im Grundekeinen weiteren Handlungsbedarf, an dieser Stelle viel zudokumentieren. Wir müssen darauf schauen, dass derVerhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist. Ich sehe esaber nicht als besonders sinnvoll an, wahnsinnige Doku-mentationen aufzuerlegen, die im Zweifel hinterher nie-mand liest.
– Sie lesen sie. Das freut mich. – Ich weiß nicht, ob Siedie Dokumentationen zu Abs. 1 gelesen haben. Viel-leicht werde ich gleich eine Zwischenfrage stellen, wennSie reden. Ich bin gespannt, ob Sie über die Dokumenta-tionen dazu berichten können, wo Sie sie ja alle lesen.Ich glaube, dass ein kleiner Teil dieses Hauses sie liest.Wenn wir viel dokumentieren und es nicht nutzen, ge-winnen wir nichts Neues dazu, meine Damen und Her-ren.Zu dem Antrag der Linken sage ich nicht mehr viel.Die Linke will die Funkzellenabfrage gänzlich verbie-ten.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthält einpaar sehr sinnvolle Ansätze. Aber die Forderung, hiereine Gesetzesänderung vorzunehmen, teile ich nicht.Ich glaube, wir müssen bei allen Verfahren ganz ge-nau hinschauen, ob die Verhältnismäßigkeit gegeben ist,und unseren Ermittlungsbehörden deutlich machen, dasswir vonseiten des Gesetzgebers eine massenhafte Ab-frage ohne konkrete Verdachtsmomente nicht akzeptie-ren.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich will bei dem ansetzen, was Herr Montag zu
Recht gesagt hat: Wir reden hier über die nichtindividua-
lisierte Funkzellenabfrage.
Damit ist gemeint, dass erst einmal die Kommunika-
tionsdaten aller Handybesitzer, die sich in einer Funk-
zelle befinden, miterfasst werden,
weil vermutet wird: In dieser Funkzelle findet eine Straf-
tat statt.
Das heißt, es findet nichts anderes statt, als dass die Er-
mittlungsbehörden die Kommunikationsdaten recht-
schaffener Bürgerinnen und Bürger erfassen, obwohl sie
überhaupt keinen Anlass zur Erfassung gegeben haben.
Kollegin Wawzyniak, gestatten Sie eine Bemerkung
oder Frage des Kollegen Sensburg?
Ja, wenn es sein muss.
Frau Kollegin Wawzyniak, Sie reden von Kommuni-
kationsdaten. Ist Ihnen bekannt, dass es um die Ver-
kehrsdaten geht, dass es nicht darum geht, dass Gesprä-
che aufgezeichnet werden, und dass es auch nicht um die
Namen der Anschlussinhaber geht?
Herr Kollege Sensburg, im weiteren Teil der Redewerde ich Ihnen den Unterschied zwischen Bestandsda-ten und Verkehrsdaten noch erklären.
Der Unterschied ist folgender: Bei der individualisier-ten Funkzellenabfrage wird genau geschaut, ob sich ineiner Funkzelle ein bestimmtes Handy befindet. Dienichtindividualisierte Funkzellenabfrage bedeutete prak-tisch – jetzt komme ich dazu; hören Sie zu, HerrSensburg –, dass zum Beispiel 2011 bei den Protestengegen den Naziaufmarsch in Dresden 900 000 Verkehrs-daten ermittelt wurden. Das heißt Rufnummer, Karten-nummer und im Übrigen Beginn und Ende der Kommu-nikation.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27819
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
Daraus wurden dann 257 000 Rufnummern ermittelt unddaraus wiederum 40 000 Bestandsdaten. Das sind dannNamen und Adressen. 40 000 Bestandsdaten, Namenund Adressen, bei einem Protest gegen einen Naziauf-marsch! Es tut mir leid, aber Ermutigung zu zivilem Un-gehorsam sieht anders aus.
Dresden ist kein Einzelfall. Wir haben das auch inBerlin erlebt. Zwischen 2009 und 2011 sind nach Infor-mationen von netzpolitik.org 800 Funkzellenabfragendurchgeführt worden und dabei 8 Millionen Verkehrsda-ten erhoben worden.Nun haben wir unterschiedliche Positionen. Die einensagen: Das ist alles ganz knorke und prima mit der nicht-individualisierten Funkzellenabfrage. Die anderen sa-gen: Wir müssen das grundgesetzkonform ausgestalten.Wir sagen: Die nichtindividualisierte Funkzellenabfragesoll abgeschafft werden.
Warum? Es gibt das Grundrecht auf freie Entfaltung derPersönlichkeit. Dieses Recht darf eben nur eingeschränktwerden, wenn die Rechte anderer verletzt oder gegen dieverfassungsgemäße Ordnung oder gegen das Sittengesetzverstoßen wird. Aus diesem Grundrecht leitet sich dasRecht auf informationelle Selbstbestimmung ab, nämlichdas Recht, selbst zu entscheiden, welche Daten ich preis-gebe. Unstreitig ist, dass die nichtindividualisierte Funk-zellenabfrage in das Fernmeldegeheimnis eingreift.Nun wissen wir vermutlich alle, dass Eingriffe in dieGrundrechte geeignet, erforderlich und angemessen seinmüssen. Das Beispiel Dresden und das Beispiel Berlinzeigen in diesen beiden Fällen überhaupt kein Ermitt-lungsergebnis. In der Anhörung wurde gesagt – Sie ha-ben das noch einmal bestätigt –: Das ist ein Ansatz, umweiter zu ermitteln.Insofern sagen wir: Bei der nichtindividualisiertenFunkzellenabfrage bestehen schon Zweifel, ob sie geeig-net ist. Noch mehr Zweifel bestehen, ob sie erforderlichist. In keinem Fall ist sie angemessen. Ich wiederhole: Esist ein verdachtsloser Zugriff auf Daten unbescholtenerBürgerinnen und Bürger. Deren Kommunikationsum-stände werden erfasst, obwohl sie überhaupt keinen An-haltspunkt für eine Straftat gegeben haben.
Im Übrigen erfahren die Bürgerinnen und Bürger, zu-mindest bei der nichtindividualisierten Funkzellenab-frage, nichts von dieser Maßnahme. Es gibt keine Rechts-schutzmöglichkeit. Sie selbst wissen, wie das in Dresdenwar. Quasi wie am Fließband wurden die Genehmigun-gen für diese Maßnahme unterschrieben.Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Dieser Eingriff indie Rechte von Bürgerinnen und Bürger ist für uns nichthinnehmbar.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zur Frage der Krimi-nalitätsbekämpfung. Ich habe ganz bewusst nicht überdie individualisierte Funkzellenabfrage gesprochen.Selbstverständlich – das wurde in der Anhörung auchgesagt – wird ein Krimineller mittlerweile überlegen, ober ein normales Handy oder lieber eines mit Prepaidkartemitnimmt etc. pp.Ich will mit einem Zitat aus dem Jahr 1983 enden:Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauenkann, welche ihn betreffenden Informationen in be-stimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt be-kannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommu-nikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzenvermag, kann in seiner Freiheit wesentlich ge-hemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zuplanen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf in-formationelle Selbstbestimmung wären eine Gesell-schaftsordnung und eine diese ermöglichendeRechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nichtmehr wissen können, wer was wann und bei wel-cher Gelegenheit über sie weiß.Das ist ein Zitat aus dem Volkszählungsurteil.Wir als Linke wollen die Selbstbestimmung der Men-schen und mündige Bürgerinnen und Bürger. Weil wirdas wollen, lehnen wir die nichtindividualisierte Funk-zellenabfrage ab.
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Kollege van Essen, ich danke Ihnenganz außerordentlich und ausdrücklich, dass Sie hiereine klare Bewertung des Vorfalls in Dresden und derjustiziellen Aufarbeitung der Funkzellenabfrage abgege-ben haben. Sie haben das, was dort passiert ist, als un-vorstellbar und missbräuchlich bezeichnet. Ich stimmedem zu.Ich komme deswegen darauf zu sprechen, weil IhreFraktionskollegen Höferlin und Ahrendt noch in der ers-ten Debatte zu unserem Gesetzentwurf am 21. Oktober2011 das Vorgehen der Dresdner Justiz in ihren Beiträ-gen als rechtmäßig bezeichnet haben. Sie können das imProtokoll nachlesen. Ich finde es gut, dass jetzt hier eineandere Bewertung vonseiten der FDP vorgenommenworden ist.Meine Damen und Herren, im Februar 2011 wurdenin Dresden praktisch zeitgleich zu einer großen Demon-stration gegen Neonazis an 18 Orten 1,2 Millionen Da-tensätze und, Herr Sensburg, daraus 105 000 Bestands-daten mit Namen und Adressen erhoben. In vielen Fällenhat die Polizei diese Daten ohne eine weitere richterlicheKontrolle oder Anordnung in parallel laufende Ermitt-lungsverfahren verschoben, wo sie verwendet werdensollten und zum Teil auch verwendet worden sind, ob-
Metadaten/Kopzeile:
27820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Jerzy Montag
(C)
(B)
wohl die dortigen Vergehen gar nicht so schwer waren,dass die für die Datenerhebung notwendige Ausgangs-lage gegeben war. Sie scheinen das offensichtlich zu ver-gessen.Der Sächsische Datenschutzbeauftragte hat diesenganzen Vorgang geprüft und erhebliche Verstöße gegengesetzliche Bestimmungen gerügt. Das würde aber nichtbedeuten, dass wir tätig werden müssten. Ich wieder-hole: erhebliche Verstöße gegen gesetzliche Bestimmun-gen! Er hat aber auch eine fehlende Klarheit des Geset-zes gerügt und konkrete Vorschläge an den Gesetzgeberformuliert.Wir Grünen sind dem nachgekommen, anders als dieLinke, die diesen Teil der Funkzellenabfragen abschaf-fen will. Das halten wir nicht für richtig. Wir haben kon-krete, konstruktive Vorschläge gemacht:Erstens. Es geht nicht, dass die individuelle, also ein-zelne Abfrage an das Erfordernis einer Straftat von auchim Einzelfall erheblicher Bedeutung gekoppelt ist, wäh-rend die nichtindividualisierte Abfrage nur an eine Straf-tat von erheblicher Bedeutung gekoppelt ist. Statt einesWeniger brauchen wir ein Mehr an Hürden. Wir sagen:Da es sich um eine heimliche Maßnahme handelt, wiedas Abhören eines Telefons, halten wir es für sinnvollund richtig, diese Hürden zu parallelisieren.
Hinsichtlich bestimmter Straftatbestände sagen Sie:Wir glauben nicht, dass sie unter diese Regelung fallen,aber sie sollten es. Ich will gerne sachlich mit Ihnen da-rüber diskutieren. Das müssen wir dann aber in Bezugauf § 100 a StPO und nicht hier tun. Wir möchten gerne,dass sich die Hürde für die nichtindividualisierte Ab-frage aus § 100 a StPO ergibt.Das Zweite. Die Anordnungsbegründungen durch dieErmittlungsrichter sind verheerend inhaltslos, und des-wegen wollen wir festlegen, dass eine Anordnungsbe-gründung als wichtigste Elemente enthält: Erheblichkeitder Straftat, Ausführungen zu Ort und Zeit der Maß-nahme, Ausführungen zum Ultima-Ratio-Prinzip, zurVerhältnismäßigkeit und zur Anzahl der Betroffenen.Wir wollen bei der Überführung der Zufallsfunde einerichterliche Überprüfung, und wir wollen die Statistikverbessern.Herr Kollege van Essen, es gab nicht nur noch einenzweiten Einzelfall in Berlin. Wir haben in Berlin nach ei-ner Überprüfung über drei Jahre 108 Verfahren, 1 400 Ein-sätze des Mittels der Funkzellenabfrage; 6,6 MillionenDatensätze wurden abgegriffen. Wenn wir einmal davonausgehen, dass es 1 000 Verdächtige gab – das ist aberviel zu hoch gegriffen –, dann ist das Verhältnis von Ver-dächtigen zu Betroffenen 1 : 99,95. Daraus ersehen Siedas Maß an Eingriffen in Rechte unbeteiligter Dritter.
Herr Kollege Montag.
Ich bin fertig. – Vor diesem Hintergrund fordert der
Berliner Datenschutzbeauftragte in seiner Überprüfung
wortwörtlich die Punkte, die wir in unserem Gesetzent-
wurf vorgeschlagen haben; es ist genau das Gleiche.
Ich weiß, dass Sie unseren Gesetzentwurf heute ab-
lehnen werden. Aber ich weiß auch: Die Zeit bis Sep-
tember ist nicht mehr so lang, und dann kommt das in
diesem Hohen Haus wieder auf die Tagesordnung.
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
Unionsfraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die heutige Debattezeigt wieder einmal eindrucksvoll: Es wäre wirklich fa-tal und grob fahrlässig, wenn die Grünen und die Linkenin Deutschland Verantwortung für die Innen- und dieRechtspolitik hätten.
Die Zeit bis September ist zwar nicht mehr so lang, HerrKollege Montag, aber ich bin sehr zuversichtlich, dass esauch nach dem September mit der Innen- und Rechts-politik in Deutschland erfolgreich und vernünftig weiter-geht.
Es wird durch die Linken und die Grünen hier ver-sucht, den Eindruck zu vermitteln, dass unsere Ermitt-lungsbehörden, unsere Polizeien außer Rand und Bandgeraten sind und ohne Maß und Ziel Funkzellenabfragendurchführen. Das trifft im Kern einfach nicht zu. Schonheute sind bei der nichtindividualisierten Funkzellenab-frage hohe rechtsstaatliche Anforderungen zu erfüllen.Es steht eine Subsidiaritätsklausel in § 100 g Abs. 2Satz 2 StPO;
sprich: Es muss erst untersucht werden, ob es nicht mil-dere Mittel gibt, die besser geeignet sind, einen Beschul-digten aufzudecken. Die Funkzellenabfrage ist räumlichund zeitlich hinreichend bestimmt, und – das ist ganzentscheidend – es muss sich um Straftaten von erhebli-cher Bedeutung handeln. Es ist also schon heute vor derBeantragung und Anordnung einer Funkzellenabfrageeine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich. Die Da-ten sind, sobald sie nicht mehr benötigt werden, unver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013 27821
Stephan Mayer
(C)
(B)
züglich zu löschen. Es gibt schon heute eine Benachrich-tigungspflicht gegenüber den Betroffenen, um ihnen dieMöglichkeit zu geben, sich mit einer Beschwerde gegendie Funkzellenabfrage zu wenden.
Natürlich stellt die nichtindividualisierte Funkzellen-abfrage einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis nachArt. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes dar.
– Lieber Herr Kollege Montag, vielleicht kann ich IhreFrage gleich vorweg beantworten. Wenn es eine andereFrage sein sollte, bin ich gerne bereit, diese dann nochzu beantworten.Sie haben behauptet, die Funkzellenabfrage sei ver-gleichbar mit einer Telekommunikationsüberwachungnach § 100 a StPO. Das stimmt einfach nicht. Die Ein-griffsintensität, die Eingriffstiefe einer Telekommunika-tionsüberwachung ist weitaus gravierender als die einerFunkzellenabfrage, weil bei einer Telekommunikations-überwachung oder einer akustischen Wohnraumüber-wachung nach § 100 c StPO die Inhalte der Gesprächegespeichert werden; bei einer Funkzellenabfrage geht esnur um die Abfrage der Verkehrsdaten.Herr Montag, ist Ihr Fragewunsch noch aktuell?
Offensichtlich hatte der Kollege Montag eine andere
Frage. Erlauben Sie diese?
Ich beantworte sie sehr gerne.
Danke schön, lieber Kollege Mayer. – Auf die von Ih-
nen hypothetisch gestellte Frage will ich jetzt nicht ein-
gehen, weil ich ja keine Fragen beantworten darf. Ich
will Ihnen vielmehr eine Frage stellen.
Sie haben gerade in Ihren Ausführungen gesagt, es
gebe klare gesetzliche Regelungen, dass die bei der
Funkzellenabfrage erhobenen Daten, wenn sie nichts
bringen oder nachdem sie bearbeitet worden sind, sofort
zu löschen sind. Ich darf Ihnen aus dem Bericht des Ber-
liner Datenschutzbeauftragten von einem Befund berich-
ten, den er gemacht hat. Ich zitiere von Seite 15:
In einem anderen Verfahren wegen versuchten
Mordes wurden Funkzellendaten erhoben, die je-
doch wegen des belebten Tatorts so zahlreich wa-
ren, dass die Staatsanwaltschaft von einer weiteren
Auswertung dieser Daten absah. Anstatt die Daten
nun zu löschen, verfügte die Staatsanwaltschaft
ohne nähere Begründung eine dreißigjährige Spei-
cherung hinsichtlich des gesamten elektronischen
Vorgangs.
Jetzt sagen Sie uns bitte, wie sich so etwas mit Ihrer
Behauptung verträgt, die Daten würden sofort gelöscht
werden, wenn sie nicht mehr gebraucht würden.
Lieber Herr Kollege Montag, das verträgt sich sehrwohl mit meinen Ausführungen. Sie haben mich inso-weit richtig wiedergegeben, als dass ich gesagt habe: Esgibt eine klare gesetzliche Vorgabe in § 100 g StPO, dassdie Daten unverzüglich zu löschen sind. Wenn dies in ei-nem Einzelfall aus Berlin, den Sie eben zitiert haben, of-fenbar nicht der Fall war und eine 30-jährige Speiche-rung angeordnet wurde, dann scheint das offenkundigcontra legem gewesen zu sein bzw. zu sein, sofern dieDaten noch gespeichert sind. Aber es gibt eine klare ge-setzliche Vorgabe.
Die entscheidende Frage ist: Sind wir als Gesetzgeberaufgefordert und in der Verpflichtung, gesetzgeberischtätig zu werden? Diese Verpflichtung sehe ich in demkonkreten Fall nicht. Der Kollege van Essen hat schondarauf hingewiesen. Ich hoffe, ich tue ihm nicht unrecht,wenn ich jetzt versuche, ihn zu interpretieren. Denn Sie,Herr Kollege Montag, haben ihm vorgeworfen, es gebemehr als zwei Fälle.Es gab mehr als zwei Fälle, in denen Beanstandungenfestgestellt wurden. Das ist doch der entscheidende Un-terschied. Der überwiegende Teil der Funkzellenabfra-gen erfolgt rechtsstaatlich völlig ordnungsgemäß, undselbst bei Überprüfungen wird festgestellt, dass keineBeanstandungen vorzunehmen sind und dass es nichtsRechtswidriges gibt.
Der Fall Dresden ist sicherlich differenziert zu be-trachten; das gebe ich auch freiweg zu. Aber ich glaube,wir sollten uns als Gesetzgeber davor hüten, nur auf-grund eines konkreten spezifischen Vorfalles aktionis-tisch tätig zu werden.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichsehe die große Gefahr, insbesondere wenn dem Gesetz-entwurf der Linken gefolgt würde, dass wir unsere Er-mittlungsbehörden taub- und blindmachen. Es sindschon einige konkrete Fälle angesprochen worden. DerMordfall Moshammer in München konnte nur aufgrundeiner Funkzellenabfrage aufgeklärt werden.
Aber es geht nicht nur um Mord und Totschlag; esgeht auch um andere Delikte. Es geht um massenhaftDiebstahlserien, um Brandanschlagserien auf Pkw – wievor zwei Jahren reihenweise in Berlin –
Metadaten/Kopzeile:
27822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 223. Sitzung. Berlin, Freitag, den 22. Februar 2013
Stephan Mayer
(C)
(B)
und um Wohnungseinbruchsserien. Wer den Focus vonvorletzter Woche liest, stellt fest, dass wir in Deutsch-land einen deutlichen Anstieg der Wohnungseinbrüchezu verzeichnen haben.Es geht auch um Fälle des Enkeltrickbetruges, beidem sich Personen als Enkel von älteren Menschen aus-geben, um sie dazu zu bringen, größere Geldbeträge aus-zureichen. Auch das sind gravierende Straftaten, die,insbesondere wenn man dem Gesetzentwurf der Grünenfolgen würde, nicht mehr mit der Funkzellenabfrage er-mittelt werden könnten.
Herr Kollege Montag, Sie wollen eine Änderung da-hin gehend vornehmen, dass Sie eine Funkzellenabfragenur noch für schwere Straftaten im Grundsatz als ange-messen erachten und nicht mehr für Straftaten von er-heblicher Bedeutung zulassen wollen, wie es jetzt ist undwie es auch bleiben soll. Diese Änderung wäre völligsystemwidrig. Denn eine Vergleichbarkeit mit der Tele-kommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO ist,wie ich bereits gesagt habe, nicht sachgerecht, weil dieTelekommunikationsüberwachung hinsichtlich der Ein-griffsintensität weitaus gravierender ist als die Funkzellen-abfrage. Deswegen kann man diese beiden Ermittlungsme-thoden, was die rechtsstaatlichen Hürden anbelangt, nichtauf eine Stufe stellen.
Es ist auch vollkommen normal und in der StPO gangund gäbe, dass von Straftaten von erheblicher Bedeutungdie Rede ist, zum Beispiel bei der DNA-Identitätsfest-stellung nach § 81 g StPO, bei der Rasterfahndung nach§ 98 a, beim Einsatz verdeckter Ermittler nach § 110 aoder auch bei längerfristigen Observationen nach§ 163 f. Es gibt also vergleichbare Ermittlungsmetho-den, die, auch was die Eingriffsintensität anbelangt, mitder Funkzellenabfrage vergleichbar sind und die beiStraftaten von erheblicher Bedeutung schon zulässigsind. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in ständi-ger Rechtsprechung die Straftaten von erheblicher Be-deutung anerkannt, so zum Beispiel im sogenanntenGPS-Urteil von 2005.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, derGesetzentwurf der Linken, auf dieses Ermittlungsinstru-ment der nichtindividualisierten Funkzellenabfrage inZukunft ganz zu verzichten, ist völlig abwegig, und derGesetzentwurf der Grünen ist in vielen Bereichen über-flüssig, was zusätzliche Begründungspflichten anbelangtund was Benachrichtigungspflichten gegenüber dem Er-mittlungsrichter anbelangt. Außerdem ist er in Teilenhöchst bürokratisch und kostenaufwendig. Sie fordernzum Beispiel, dass § 100 g StPO Abs. 4 dahin gehendneu gefasst wird, dass eine Berichtspflicht geschaffenwird und dass umfangreiche Statistiken geführt werdenmüssen.Ich sage zum Abschluss ganz offen, meine sehr ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen: Mir ist es lieber, wennStaatsanwälte, wenn Polizeibeamte ihren eigentlichenTätigkeiten nachgehen können, Straftätern auf die Schli-che zu kommen und Straftaten aufzudecken, als dass sieam Schreibtisch sitzen und überflüssige Statistiken füh-ren müssen.
Insofern ist sowohl der Gesetzentwurf der Linken alsauch der Gesetzentwurf der Grünen abzulehnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Änderung der
Strafprozessordnung, Abschaffung der nichtindividuali-
sierten Funkzellenabfrage. Der Rechtsausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12419, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7335 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Wir kommen dann zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu
einer rechtsstaatlichen und bürgerrechtskonformen Aus-
gestaltung der Funkzellenabfrage als Ermittlungsmaß-
nahme. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12419,
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/7033 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-
lehnt. Auch hier entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 27. Februar 2013, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.