Protokoll:
15032

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 32

  • date_rangeDatum: 14. März 2003

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:03 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 15/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2530 D 2534 B 2536 C 2540 C 2542 A 2543 D 2547 B 2547 B 2549 C 2550 D 32. Sit Berlin, Freitag, de I n h a Tagesordnungspunkt 13: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler: Mut zum Frieden und zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 2479 A 2479 B 2493 B 2505 A 2511 C 2515 C 2520 D 2528 C zung n 14. März 2003 l t : Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern 2545 C 2547 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2479 (A) (C) (B) (D) 32. Sit Berlin, Freitag, de Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2547 (A) (C) (B) (D) Randinformationen hinaus durchsetzen. Wir glauben, dass die veränderte Form internationaler Rechtssetzung einmal, ob dies nicht der bessere Weg wäre. Dann wä- ren wir in der Lage, gemeinsame generelle Regeln zu wollen die Beteiligungsrechte des Parlaments über Herren von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen noch Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent- liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) Erich G. Fritz (CDU/CSU): Ich spreche zum Koali- tionsantrag GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität. Mir liegt als erstes daran, zu sagen, dass wir einen bestimmten Grundtenor des Antrages teilen. Wir Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 14.03.2003 Austermann, Dietrich CDU/CSU 14.03.2003 Breuer, Paul CDU/CSU 14.03.2003 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2003 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 14.03.2003 Hartnagel, Anke SPD 14.03.2003 Laurischk, Sibylle FDP 14.03.2003 Lehn, Waltraud SPD 14.03.2003 Möllemann, Jürgen W. fraktionslos 14.03.2003 Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 14.03.2003 Rühe, Volker CDU/CSU 14.03.2003 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.03.2003 Schmidt (Salzgitter), Wilhelm SPD 14.03.2003 Schneider, Carsten SPD 14.03.2003 Seib, Marion CDU/CSU 14.03.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 14.03.2003 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 14.03.2003 Wieczorek (Böhlen), Jürgen SPD 14.03.2003 Anlagen zum Stenografischen Bericht über multilaterale Verhandlungen dringend einer stärke- ren Beteiligung des Parlaments bedarf, wenn der Prozess der Globalisierung Akzeptanz in den Augen der Bevöl- kerung finden soll. Es gibt einen Anspruch der interessierten Öffentlich- keit auf frühzeitige Information, auf voraussehbare Dis- kussions- und Beteiligungsformen. Es gibt einen An- spruch des Parlaments als Gesetzgeber in einer Welt, in der immer mehr Regeln und Festsetzungen über supra- nationale und multilaterale Verhandlungen herbeigeführt werden. Soweit der Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen dieses Ziel verfolgt, unterstützen wir ihn. Anlass und Art des Vorgehens der Koalition scheinen mir aber sehr fragwürdig zu sein, um nicht zu sagen, falsch: Es ist ein purer Zufall, dass anlässlich der Ab- gabe der Verhandlungsangebote zu den GATS-Verhand- lungen durch die Europäische Kommission dieser An- trag gestellt wird. Es ist auch zufällig, dass gerade die GATS-Verhandlungen den Anlass für diese Diskussion und für den Antrag bieten, weil interessierte Abgeord- nete sich gerade diesen Teil der EU-Angebote ausge- sucht haben. Wir haben uns nicht mit gleicher Intensität um andere Offers bzw. um andere Teile der Verhandlun- gen in den Verhandlungsgruppen der WTO gekümmert. Im Prinzip habe ich überhaupt nichts dagegen, wenn die Koalition ein Exempel gegen die eigene Regierung statuieren will, um ihr einmal zu zeigen, wie sie sich nach der Auffassung der Koalition eigentlich verhalten sollte. Ich gehöre zu denen, die seit Jahren sagen, dass wir andere Formen der vorbereitenden Beteiligung des Parlaments brauchen, und bin auch schon lange der Auffassung, dass die Regierung von sich aus nicht nur eine Information, sondern eine Beteiligung des Parlaments herbeiführen soll. Wenn wir die Situation verändern wollen, dann muss allerdings das ganze Parlament darauf dringen, dass es fest geregelte, formalisierte Beteiligungsformen gibt, die bisher nicht existieren und deshalb entwickelt werden müssen. Die Vorbereitung von Verhandlungspositionen wie auch wesentliche Schritte der Verhandlungen selbst müs- sen transparent sein. Auch insofern folge ich der Inten- tion des Antrages. Ich glaube, dass der Deutsche Bun- destag durch sein beharrliches Drängen auf frühzeitige Information und Öffentlichkeit bereits dazu beigetragen hat, dass ein großes Maß der früheren Geheimniskräme- rei aufgehört hat. Jetzt geht es darum, dass über die Kenntnisnahme der Positionen auch die Abwägung, die politische Diskussion und die Abschätzung der Folgen in eine geordnete Bahn gelenkt werden und ein Prozess im Bundestag vereinbart wird, der die Beteiligung des Par- laments regelt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es sicher sinn- voll, wenn die Koalition ihren Antrag zurückziehen würde. Vielleicht überlegen Sie, meine Damen und 2548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) entwickeln, in welcher Form die Bundesregierung in Zukunft die zuständigen Ausschüsse des Bundestages bei welcher Gelegenheit und in welchem Umfang und zu welcher Zeit befassen muss, um eine tatsächliche Beteiligung des Parlaments zu gewährleisten. Es darf in Zukunft nicht dem zufälligen Engagement einiger Abgeordneter und dem guten Willen des Ministe- riums überlassen bleiben, ob es eine Parlamentsbeteili- gung gibt oder nicht. Zum Antrag selbst stelle ich fest, dass man ihm sehr deutlich anmerkt, dass er mit der heißen Nadel gestrickt ist. Er ist an einigen Stellen sehr oberflächlich. Er enthält formulierte Befürchtungen, die nach Kenntnis der Unter- lagen nicht haltbar sind. Einige Fragen des Antrages sind nur aufrechtzuerhalten, wenn man beharrlich nicht zur Kenntnis nimmt wie das GATS konstruiert ist. Damit kein Irrtum aufkommt: Der Bundestag hat die Pflicht zur Abschätzung der Folgen von zu erwartenden internatio- nalen Vereinbarungen. Unklarheiten müssen aufgeklärt werden. Deshalb ist die vom Wirtschaftsausschuss be- schlossene Anhörung insbesondere zu Mode 4 des GATS-Angebotes wichtig und sinnvoll. Nach unserer Auffassung muss man dazu aber das Verfahren zwischen Berlin, Brüssel und Genf nicht an- halten. Der Parlamentsvorbehalt ist deshalb eine über- triebene Reaktion, die auch nur zufällig an dieser Frage aufgehängt wird. Wir wissen, dass alle jetzt entwickelten Verhandlungsangebote veränderbar sind, dass uns nichts daran hindert, auch im weiteren Verlauf noch Grenzen einzuziehen, insbesondere dann, wenn es uns gelingt, das Netzwerk der nationalen Parlamente in Europa wei- ter zu verstärken. Manches aus dem Antrag muss man auch gar nicht verstehen. Heute Morgen wurde in der Debatte zum Zu- wanderungsgesetz noch für die dort vorgesehene Aufhe- bung des Anwerbungsstopps geworben. Heute Abend gibt es große Befürchtungen bei offensichtlich sehr ge- ringen Öffnungen, die die Bundesregierung nach ihren eigenen Aussagen auch noch von Arbeitsmarktprüfun- gen abhängig machen will. Eines muss man jedoch anerkennen: Die EU-Ange- bote sind im Vergleich zu dem, was wir von anderen Ländern fordern, eher bescheiden und lösen bei Ent- wicklungsländern keinerlei Jubel aus. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass man auf Dauer nicht erwarten kann, dass andere ihre Märkte für uns öffnen, wir selbst aber in Restriktionen und Abschottung erstar- ren. Sie schreiben, meine Damen und Herren von der Koalition, mit Recht in Ihrem Antrag, dass der Teil des Dienstleistungshandels noch weit hinter dem Dienstleis- tungsanteil an der Wertschöpfung Deutschlands zurück- steht. Gerade das GATS bietet deshalb große Möglich- keiten für deutsche Dienstleistungserbringer auf anderen Märkten. Dazu gehört natürlich auch das Signal, dass dieser Prozess keine Einbahnstraße ist und wir wissen aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass nur dann auf Dauer eine hohe Leistungskraft in bestimmten Bran- chen erreicht werden kann, wenn sie auch tatsächlich dem Wettbewerb ausgesetzt ist. Dann erwecken Sie in Ih- rem Antrag erneut den Eindruck, es gebe einen Zwang zur Liberalisierung hoheitlich erbrachter Dienstleistun- gen, was nach dem Angebot der EU-Kommission in kei- ner Weise zu erwarten ist. Gerade das GATS ermöglicht es wie kein anderes Abkommen der WTO, die nationa- len Sonderheiten auch national zu regeln. Wieviel GATS jedes Land will, entscheidet es im Prinzip selbst. In dem Antrag heißt es unter III., die EU-Kommission müsse die Zeitabläufe der nationalen Parlamente stärker be- rücksichtigen und auf Vertraulichkeit verzichten. Dem stimmen wir im Prinzip zu; allerdings muss umgekehrt auch gesagt werden, dass die nationalen Parlamente die Zeitabläufe der multilateralen Verhandlungen berück- sichtigen müssen und dass wir selbst schneller werden müssen, wenn wir unsere Beteiligungsrechte wahrneh- men wollen. Im Übrigen habe ich mich darüber gefreut, dass die Bundesregierung sich der Forderung nach schnellerer Öffentlichkeit der Verhandlungsgrundlagen angeschlos- sen hat und dass Herr Lamy bei seinem Gespräch mit Mitgliedern des Bundestages auch erklärt hat, dass nach der Zustimmung des Rates die EU-Position ins Internet eingestellt würde. Im Punkt 2 des Kapitels 3 fordern Sie, die betroffenen Fachausschüsse des Deutschen Bundestages müssten frühzeitig, regelmäßig, umfassend und detailliert über den Fortgang der GATS-Verhandlungen informiert wer- den. Das scheint mir nach allem, was wir in der Vergan- genheit erfahren haben, zu wenig zu sein. Man kann der Bundesregierung nicht nachsagen, dass sie ihre, vor al- len Dingen informellen Informationen gegenüber inter- essierten Abgeordneten nicht verbessert haben. Jetzt geht es darum zu überlegen, in welcher Form ein stan- dardisiertes und formalisiertes Beteiligungsverfahren or- ganisiert werden kann. Unter III Punkt 5 formuliert die Koalition einen Par- lamentsvorbehalt; dieser Position können wir uns nicht anschließen. Wir sind vielmehr der Meinung, dass wir damit unserem Land und dem Fortgang des Verhand- lungsprozesses einen schlechten Dienst erweisen wür- den. Wie allen bekannt ist, gibt es ohnehin eine Reihe von Zeitüberschreitungen im Verhandlungsprozess. Wir sollten nicht dazu beitragen, dass das Verfahren noch weiter verzögert und erschwert wird. So kann man im Übrigen nur vorgehen, wenn man nicht erkannt hat, dass im Zusammenhang mit den GATS-Verhandlungen es auch um die Durchsetzung von nationalen Interessen und um die Gefährdung eigener Vorteile geht. Diese Position können wir umso leichter einnehmen, als mittlerweile ja bekannt geworden ist, dass zu sensib- len Bereichen die Bundesregierung bereits einen aus- drücklichen Prüfvorbehalt eingelegt hat, sodass auch nachträgliche Korrekturen noch möglich sind. Ebenso scheint ja der Vorschlag auf eine Konditionierung durch eine „wirtschaftliche Bedarfsprüfung“ bei Sektoren mit erkennbaren Arbeitsmarktproblemen ein Weg zu sein, der vorhandene Bedenken bereits berücksichtigt. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Bundes- regierung, auch im Gespräch mit fachkundigen Instituten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2549 (A) (C) (B) (D) und Verbänden, die Zweifelsfälle weiter klären soll, die auch Gegenstand der Anhörung sein werden, sodass man sagen kann, dass die Diskussion bereits Ergebnisse ge- zeitigt hat. Was ich überhaupt nicht verstehe und was offensicht- lich nur so zu erklären ist, dass in der SPD-Fraktion jede Arbeitsgruppe wieder ihr Steckenpferd geritten hat, ohne allzu viele Kenntnisse über die Zusammenhänge zu ha- ben, dass auch im Zusammenhang mit GATS nun alle Themen, die in der WTO überhaupt eine Rolle spielen, auf die GATS-Verhandlungen draufgesattelt werden sol- len. Ich glaube, dass wir die Themen, die zusätzlich an- gesprochen sind, wie Umwelt und Sozialstandards dort behandeln sollten, wo sie hingehören, nämlich in den je- weils dafür vorgesehenen Vertragsverhandlungen. Man kann nicht alle Themen an einer Stelle bearbeiten. In ihrem Antrag ist unter Ziffer 5 dann eine Frage an- gesprochen, ob „geltende nationale und EU-weite Anfor- derungen und Regelungen fortbestehen“, wobei explizit auch die Frage von Tarifverträgen und Mindestlöhnen einbezogen sein soll. Ich weiß wirklich nicht, warum man einen Prüfauftrag vergeben soll für etwas, was aus dem Text des Verhandlungsangebots der EU so unmiss- verständlich hervorgeht wie nur irgend möglich. Und im Übrigen haben sowohl die Bundesregierung als auch der Handelskommissar Lamy das immer wieder geklärt. Ich habe den Eindruck, dass Sie ihrer eigenen Regierung mittlerweile überhaupt nichts mehr glauben. Weiterhin Klärungsbedarf sehe ich bei den so genann- ten „independent professionals“. In diesem Bereich gibt es sehr viel Misstrauen auch von außerhalb des Parla- ments und ich glaube, dass tatsächlich Definitionen ge- funden werden müssen, die frühzeitig klären, was sich dahinter verbirgt. Es hat keinen Sinn, Bereiche zu ver- handeln, derer Umfang im eigenen Verständnis nicht klar ist. Verwundert hat mich, dass in Ihrem Antrag erneut Sorgen zum Ausdruck kommen über eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte für verschiedene Bereiche aus der öffentlichen Daseinsfürsorge. Das verwundert deshalb, weil Sie wissen, dass die Europäische Union dazu über- haupt keine Angebote gemacht hat und auch nicht beab- sichtigt zu machen. Übereinstimmen kann ich mit Ihrem Antrag wieder in der Forderung nach einer klaren Defi- nition der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das würde si- cher auch in Zukunft Interpretationsschwierigkeiten ver- meiden. Wenn Sie unter Punkt 6 formulieren, dass Flexibili- tät und Transparenz erhöht werden sollen, und dann die Forderung erheben, „dies betrifft zum einen die souveräne Entscheidung der WTO-Mitglieder, welche Sektoren sie in welchem Ausmaß für ausländische An- bieter öffnen wollen, zum anderen, welche Sektoren sie von den GATS-Verpflichtungen ausnehmen wol- len“, so würde ein solche Formulierung auf uns selbst zurückfallen und Arbeitsplätze kosten. Bei all dem, was letztendlich vereinbart wird und was nicht ohne- hin in der freien Entscheidung der Nationalstaaten steht, muss das Recht auf Gegenseitigkeit gelten, sonst machen Abkommen keinen Sinn. Insgesamt sind wir der Meinung, dass der Antrag in keiner Weise geeignet ist, um die eigentlich bestehenden Probleme sachgerecht anzusprechen, und deshalb stim- men wir ihm nicht zu. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass eine funktionierende Dienstleistungswirtschaft, bei- spielsweise in Sektoren wie der Finanzwirtschaft, der Te- lekommunikation oder dem Verkehr weltweit von Bedeu- tung ist und als eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung gelten kann, wird heute sel- ten bestritten. Seit jetzt mehr als zehn Jahren entwickelt sich gerade der Dienstleistungssektor als dynamischster Bereich der Weltwirtschaft. Fast ein Fünftel des gesamten Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen entfällt auf den Bereich der Dienstleistungen. Schätzungen gehen da- von aus, dass im Jahr 2020 der Anteil der Dienstleistun- gen am grenzüberschreitenden Handel 50 Prozent ausma- chen wird. Bereits heute entfallen mehr als die Hälfte der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen auf den Dienstleistungssektor. Also gewinnt dieses Thema ge- rade auch für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie die unsere an Bedeutung. Die EU ist sowohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur von Dienstleis- tungen weltweit. Schon daraus lässt sich ablesen, welche Bedeutung die Dienstleistungswirtschaft für die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Mitgliedstaaten hat. Dies gilt mithin auch für Deutschland. So liegt beispielsweise auf der Hand, dass der Markt für Umweltdienstleistungen in allen Weltregionen in den kommenden Jahren massiv wachsen wird. Hieraus ergeben sich erhebliche Poten- ziale für deutsche Unternehmen. Andererseits erstreckt sich das Dienstleistungsabkom- men potenziell auch auf Sektoren, die als äußerst sensi- bel anzusehen sind, beispielsweise den Bereich der audiovisuellen Dienstleistungen, der Bildung, der Was- serversorgung oder der Gesundheitsdienstleistungen, also auch auf so genannte hoheitliche Aufgaben. Die GATS-Verhandlungen sind ein Teil der laufenden Welthandelsrunde. Sie sollen also gemeinsam mit der so genannten „Entwicklungsagenda“ (Doha Development Agenda), den Agrarverhandlungen, über die wir heute ebenfalls im Bundestag diskutieren, und der Präzisierung des Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums zu einem ausgewogeneren internationalen Handelssystems führen. Aktuell ist unsere Debatte über die GATS-Verhand- lungen, da die Europäische Kommission derzeit ihr Ver- handlungsangebot im Rahmen der Welthandelsrunde der Welthandelsorganisation WTO für das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS-Abkommen) vorbereitet. Dazu sind die Mitglied- staaten aufgefordert, bis zum Ende dieses Monats den Entwurf des Kommissionsvorschlags zu bewerten und in die Welthandelsorganisation einzubringen. Sollen die Schulen von McDonald’s übernommen werden, die Krankenhäuser von Red Bull?, so Verdi und Attac in einem gemeinsamen Flugblatt über die GATS- Verhandlungen. Unbewusst oder bewusst werden damit 2550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) Ängste geschürt gegen die Globalisierung und Liberali- sierung. Ich halte das nicht für verantwortungsbewusst. Über Bildung, Gesundheit, Kultur und Warenversorgung, das hat die EU mit ihrem Verhandlungsangebot klar ge- macht, wird gar nicht verhandelt. Und niemand – so sind die Verhandlungsstrukturen – kann die EU dazu zwin- gen. Für die grüne Fraktion möchte ich erklären, dass wir es außerordentlich begrüßen, dass die Europäische Union in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche Bil- dung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen sowie Gesundheitsdienstleistungen von den Liberalisierungs- verhandlungen ausgenommen hat. Gerade hier hat es in der Öffentlichkeit Einwände und Befürchtungen gege- ben, die sich im Lichte des EU-Angebots nicht bestäti- gen werden. Wir erwarten, dass in diesen Bereichen auch durch die Dynamik der Verhandlungen, an deren Anfang wir ja erst stehen, von der Kommission keine weiteren Angebote gemacht werden. Also: Lasst uns sachlich über die tatsächlichen Verhandlungspunkte zum Beispiel Modus 4 und die Auswirkungen auf die freien Berufe wie zum Beispiel Architekten sprechen und da- bei nicht nur die Gefahren, sondern auch die Chancen sehen. Dass die Diskussion über das GATS-Abkommen in der Öffentlichkeit erhebliche Sorgen und Befürchtungen ausgelöst hat, ist aber zu einem erheblichen Teil auf ein zentrales hausgemachtes Problem der Europäischen Kommission und der WTO-Verhandlungen insgesamt zurückzuführen: Und das besteht in mangelnder Trans- parenz. Ein zentrales Motiv des Koalitionsantrages ist es also, die Transparenz der laufenden Verhandlungen zu erhö- hen. Eine transparente, partizipatorische Beteiligung al- ler WTO-Staaten, der demokratisch legitimierten Parla- mente und der Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Gerade die Parlamente können ein wichtiges Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Verhandlungen bilden. Was bei anderen internationalen Verhandlungen gang und gäbe ist – die Veröffentlichung zentraler Dokumente im Internet –, muss auch bei diesen Verhandlungen gel- ten. Daher fordere ich ganz ausdrücklich, die relevanten Forderungen und Angebote entsprechend zu veröffent- lichen. In den bisherigen Parlamentsberatungen wurde mit Recht beklagt, dass die Zeit nicht ausreicht, sich intensiv mit den Auswirkungen des GATS-Abkommens zu befas- sen. Wir Grünen sprechen uns dafür aus, dies in allen re- levanten Ausschüssen zu tun. Der Wirtschaftsausschuss wird zu diesem Zweck Anfang April eine Anhörung zum Thema durchführen. So gibt es beispielsweise im Bereich der grenzüber- schreitenden, zeitlich begrenzten Dienstleistungen durch Personen (so genannter Modus 4) eine Reihe von offe- nen Fragen, die wir im Parlament mit Vertretern von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen beraten müssen. Nicht zuletzt deshalb halte ich es für richtig, vor einem abschließenden, bindenden Votum dem Parlament die Möglichkeit zu geben, seine geplanten Anhörungen durchzuführen und die parlamentarische Willensbildung zügig fortzusetzen. Entwicklungsländer drängen auf die Ausweitung der Liberalisierungsverpflichtungen für den grenzüberschrei- tenden Verkehr natürlicher Personen zur Erbringung von Dienstleistungen. Obwohl mir bekannt ist, dass es sich hier teils um sensible Fragen handelt, sollte sich die EU als einer der Hauptexporteure und -importeure von Dienst- leistungen gegenüber den Anliegen aus Entwicklungslän- dern aufgeschlossen zeigen. Generell gilt, dass wir vor der Übernahme von Ver- pflichtungen im Rahmen des GATS-Abkommens poli- tisch und gesellschaftlich transparent über die Folgen auf die einzelnen Dienstleistungssektoren debattieren müs- sen. Dabei sollte das Tempo der Verhandlungen nicht zu- lasten der Gründlichkeit gehen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele Entwicklungsländer von der Vielzahl der Verhandlungen überfordert sind. Aber auch die gesell- schaftliche Debatte in den Industrieländern braucht mehr Zeit. An dieser Stelle ist mir wichtig, einige Grundanliegen bezogen auf die GATS-Verhandlungen aufzugreifen. Die EU sollte selbstverständlich keine Verpflichtungen ein- gehen, die geltendes EU-Recht unterlaufen oder die Ver- einbarung hoher Standards und Normen innerhalb der EU erschweren würde. Die Flexibilität des GATS-Ab- kommens sollte erhalten bleiben. Dies betrifft vor allem die souveräne Entscheidung von Staaten über das Aus- maß der Liberalisierung und das Recht, einzelne Sekto- ren von den GATS-Verpflichtungen auszunehmen. Nicht nur die Industrieländer, sondern auch gerade Ent- wicklungsländer sollten bei der Erbringung von Dienstleis- tungen in ihrem Hoheitsgebiet, Dienstleistungssektoren im Einklang mit den nationalen politischen Zielsetzungen regulieren können. Grünes Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Verhandlungsergebnisse auch zur wirtschaftli- chen und sozialen Entwicklung in Entwicklungsländern beitragen. Das GATS-Abkommen ist ein äußerst komplexes Ab- kommen, dessen Nuancen und Fallstricke sich nicht im- mer direkt erschließen. Wir sollten als Parlamentarier mit Selbstbewusstsein die Zeit einfordern, die eine ange- messene Befassung mit dem Thema erfordert, denn wir sind diejenigen, die die Verhandlungsergebnisse in die- sem Hause ratifizieren müssen. Gerade bei komplexen internationalen Verhandlungen hat das Parlament auch die Aufgabe der „Übersetzung“ bzw. Vermittlung neuer internationaler Vereinbarungen und Verträge in die Gesellschaft. Dem gerecht zu wer- den, auch das zeigen die GATS-Verhandlungen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2551 (A) (C) (B) (D) der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2002 bis 2006 – Drucksachen 14/9751, 15/345 Nr. 46 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Stand und die voraussichtliche Ent- wicklung der Finanzwirtschaft des Bundes – Drucksachen 15/151, 15/402 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschreibung des Rheumaberichtes der Bundesregie- rung – Drucksachen 13/8434, 15/345 Nr. 66 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen – Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Radverkehrsplan 2002 bis 2012 „FahrRad“ – Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs in Deutschland – Drucksachen 14/9504, 15/345 Nr. 70 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit – Drucksache 14/9950 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2002 – Drucksachen 14/8950, 15/345 Nr. 74 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Eu- ropäischen Parlaments 2002 – Drucksachen 15/340, 15/389 Nr. 1.3 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Petitionsausschuss Drucksache 15/173 Nr. 1.9 Drucksache 15/173 Nr.1.10 Finanzausschuss Drucksache 15/339 Nr. 2.11 Drucksache 15/339 Nr. 2.12 Drucksache 15/339 Nr. 3.1 Haushaltsausschuss Drucksache 15/392 Nr. 2.45 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/103 Nr. 2.28 Drucksache 15/173 Nr. 1.3 Drucksache 15/173 Nr. 1.8 Drucksache 15/173 Nr. 1.15 Drucksache 15/173 Nr. 2.5 Drucksache 15/173 Nr. 2.6 Drucksache 15/173 Nr. 2.9 Drucksache 15/173 Nr. 2.10 Drucksache 15/173 Nr. 2.13 Drucksache 15/173 Nr. 2.14 Drucksache 15/173 Nr. 2.17 Drucksache 15/173 Nr. 2.18 Drucksache 15/173 Nr. 2.19 Drucksache 15/173 Nr. 2.21 Drucksache 15/173 Nr. 2.22 Drucksache 15/173 Nr. 2.23 Drucksache 15/173 Nr. 2.29 Drucksache 15/173 Nr. 2.30 Drucksache 15/173 Nr. 2.32 Drucksache 15/173 Nr. 2.35 Drucksache 15/173 Nr. 2.36 Drucksache 15/173 Nr. 2.37 Drucksache 15/173 Nr. 2.40 Drucksache 15/173 Nr. 2.42 Drucksache 15/173 Nr. 2.43 Drucksache 15/173 Nr. 2.47 Drucksache 15/173 Nr. 2.62 Drucksache 15/173 Nr. 2.67 Drucksache 15/173 Nr. 2.71 Drucksache 15/173 Nr. 2.76 Drucksache 15/173 Nr. 2.82 Drucksache 15/173 Nr. 2.83 Drucksache 15/173 Nr. 2.88 Drucksache 15/173 Nr. 2.90 Drucksache 15/268 Nr. 2.25 Drucksache 15/268 Nr. 2.27 Drucksache 15/268 Nr. 2.28 Drucksache 15/268 Nr. 2.31 Drucksache 15/268 Nr. 2.36 Drucksache 15/268 Nr. 2.42 Drucksache 15/268 Nr. 2.43 Drucksache 15/268 Nr. 2.44 Drucksache 15/268 Nr. 2.45 Drucksache 15/268 Nr. 2.46 Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 15/103 Nr. 2.69 Drucksache 15/103 Nr. 2.111 Drucksache 15/103 Nr. 2.112 Drucksache 15/268 Nr. 2.4 Drucksache 15/268 Nr. 2.8 Drucksache 15/268 Nr. 2.9 Drucksache 15/268 Nr. 2.11 Drucksache 15/268 Nr. 2.13 Drucksache 15/268 Nr. 2.14 Drucksache 15/268 Nr. 2.15 Drucksache 15/268 Nr. 2.16 Drucksache 15/268 Nr. 2.18 Drucksache 15/268 Nr. 2.30 Drucksache 15/339 Nr. 2.30 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 15/103 Nr. 2.7 Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Drucksache 15/103 Nr. 2.5 Drucksache 15/103 Nr. 2.66 2552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) Drucksache 15/173 Nr. 2.33 Drucksache 15/173 Nr. 2.53 Drucksache 15/268 Nr. 2.3 Drucksache 15/345 Nr. 67 Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen Drucksache 15/392 Nr. 2.61 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 15/103 Nr. 1.9 Drucksache 15/173 Nr. 2.78 Drucksache 15/173 Nr. 2.80 Drucksache 15/173 Nr. 2.81 Drucksache 15/173 Nr. 2.87 Drucksache 15/268 Nr. 2.22 Drucksache 15/268 Nr. 2.34 Drucksache 15/268 Nr. 2.39 Drucksache 15/268 Nr. 2.47 Drucksache 15/339 Nr. 2.9 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 15/345 Nr. 73 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 15/339 Nr. 2.25 Drucksache 15/339 Nr. 2.35 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 15/345 Nr. 78 Drucksache 15/345 Nr. 79 Drucksache 15/345 Nr. 80 Drucksache 15/345 Nr. 81 Drucksache 15/345 Nr. 82 Drucksache 15/392 Nr. 1.3 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/173 Nr. 1.14 nd 91, 1 22 32. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. März 2003 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503200000


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.

Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushalts-
woche vom 17. März 2003 keine Regierungsbefragung,
keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden
stattfinden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler

Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung vier Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1503200100


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Verantwortung für die Zukunft unseres
Landes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltes
Motto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht:
Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu
kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht,
dass der Krieg vermieden werden kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt
die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind,
zung

n 14. März 2003

.00 Uhr

um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der so-
zialen Entwicklung in Europa zu kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Lage – das spürt jeder hier im Haus, aber auch
draußen – ist international wie national äußerst ange-
spannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die oh-
nehin labile Konjunktur.

Deutschland hat darüber hinaus – das gilt es ebenfalls
zu sehen – mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen,
die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkos-
ten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer
zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist
und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt,
mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Aus-
gaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen,
übrigens nicht zuletzt, seit an den Börsen allein in
Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund
700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet worden
sind.

In dieser Situation muss die Politik handeln, um Ver-
trauen wieder herzustellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachs-
tum und für mehr Beschäftigung verbessern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Detlef Parr [FDP])


Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche
Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung
vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen – für
Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für
die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenver-
antwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem
Einzelnen abfordern müssen.


(Beifall des Abg. Detlef Parr [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten
müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich
Tätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige ge-
meinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser
Ziel zu erreichen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Es wird höchste Zeit!)


Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt die
dramatische internationale Lage einige deutliche Worte
zur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagen
und Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengun-
gen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lö-
sen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden,
aber auch mit Russland, China und der Mehrheit im
Weltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon über-
zeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmit-
teln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden
kann und herbeigeführt werden muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak
unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft in-
zwischen besser und auch aktiver kooperiert.

Die Zerstörung der al-Samud-Raketen ist ein sicht-
bares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die
Inspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames In-
strument, das jetzt nicht beendet werden darf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wir
nachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Des-
halb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des
Friedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Krieges
einzusteigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfas-
send und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch des-
halb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vor
allen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert und
schließlich aufgehoben werden können. Das sind die Be-
dingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen
können. Wir sollten daran festhalten, mit all unserer
Kraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiert
werden können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch
unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Welt-
ordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfas-
send wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis
eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die
Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es
geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidun-
gen in der Welt von morgen.

Beides – auch das ist Gegenstand dieser Debatte –
werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts-
und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer wer-
den, und zwar in Deutschland als dem größten Land in
Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit na-
türlich auch in Europa.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaft-
lichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten ei-
nerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Euro-
pas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus den
Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesell-
schaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner In-
stitutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt.
Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungen
entscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wir
uns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Konti-
nents, der Kriege und Nationalismen überwunden hat
oder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und muss
Europa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirt-
schaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportie-
ren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschland leistet hierzu – das dürfen wir ruhig
selbstbewusst, ja sogar stolz sagen – einen entscheiden-
den Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren die
Europäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedes
Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen
Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns
mit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft.
Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa die
Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser ist
als Konfrontation – ich denke, darüber sind wir uns in
diesem Hohen Hause einig –, sondern auch, weil unser
europäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht statt
auf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemein-
sam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest ge-
macht werden kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Um in Europa eine führende Position einnehmen zu
können, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Groß-
britannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüs-
sel und Athen Vorschläge für eine europäische Indus-
triepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und die
Chemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben.
Denn die Industrie ist – das ist in Brüssel gelegentlich
vernachlässigt worden – das Fundament unserer Wirt-
schaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit
der europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grund-
idee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative
mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair,
die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf dem
Gipfel in Brüssel vorlegen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort
„Mut zur Veränderung“ auch und gerade im Innern unse-
res Landes bereits genannt. Um unserer deutschen Ver-
antwortung in und für Europa gerecht zu werden, müs-
sen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wir
modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft,
oder wir werden modernisiert, und zwar von den unge-
bremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite
drängen würden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ein richtiger Schmarren!)


Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren
praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen,
etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instru-
mente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerech-
tigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohn-
nebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)


Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau
des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweis-
bar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den To-
desstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die
Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brau-
chen wir durchgreifende Veränderungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben Sie 1998 verhindert!)


Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vie-
les auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


– Wir sind es gewesen und nicht Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Deutschland zugrunde richten – um Ihren Satz zu vervollständigen!)


Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte private
Vorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherung
darstellt, auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist denn der Herr Riester?)

Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dach
der Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, das
haben viele große Länder in Europa noch vor sich. Unter
Ihrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnen
worden, geschweige denn, dass sie je zu Ende gebracht
worden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlos-
sen, die Bürger und Unternehmen um insgesamt
56 Milliarden Euro entlastet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ökosteuer!)


Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energie-
politik, im Familienbereich und beim Staatsangehörig-
keitsrecht ebenso wie durch eine moderne Zuwande-
rungsregelung, der Sie sich nicht verschließen dürfen,
wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintre-
ten wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben unsere Investitionen in Forschung ver-
stärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schuli-
sche und vorschulische Bildung zu verbessern. Es gilt
aber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen, dass
diese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch die
Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den ver-
änderten Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist der
Grund, warum wir bei den Veränderungen weitergehen
müssen.

Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Struktur-
reformen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter!)


Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts
bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Gene-
rationen gesichert und die Fundamente unseres Gemein-
wesens gestärkt.

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen verspro-
chen, die Maßnahmen, die wir in den Bereichen, die ich
genannt habe, planen, Punkt für Punkt zu erläutern.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was versprochen wird, wird doch nie gehalten! – Michael Glos [CDU/CSU]: Versprochen – gebrochen!)


Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:

Der erste ist „Konjunktur und Haushalt“. Die dramati-
sche Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balance
zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und
steuerlicher Entlastung zu schaffen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Also mehr Steuern!)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und ego-
istisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind,
die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Gene-
rationen abzuwälzen. Das ist kein verantwortbarer Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidie-
rung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben,
fest. Nur: Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpre-
tiert werden.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt ist die Katze aus dem Sack!)


Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reakti-
onen auf unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirt-
schaftlicher Schwäche – in Deutschland und in Europa
sind wir in einer solchen – dürfen eben nicht durch pro-
zyklische Politik ausgeglichen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig,
dass wir auch Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvor-
hersehbare Ereignisse brauchen, die möglicherweise als
Folgen der Verschärfung von Krisen in Regionen in der
Welt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabili-
tätspakt durchaus her. Wir werden diese Möglichkeiten
zusammen mit unseren Partnern offensiv nutzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Völlig falsche Signale!)


Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt und
die europäische Verantwortung darf nicht als Ausrede
benutzt werden, jetzt hier nichts zu tun. Auch in der jet-
zigen Situation müssen und wollen wir Wachstumsim-
pulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater In-
vestitionen ebenso gelten wie für die öffentlichen
Investitionen, insbesondere für die in den Kommunen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie zum Beispiel?)


Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachs-
tums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichen
Investitionen auf hohem Niveau zu halten.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Hoch? Wo sind die?)


Der Bund – wir werden das bei den Haushaltsberatun-
gen diskutieren – kommt dieser Verantwortung durchaus
nach.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist ja lachhaft!)


Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesem
Jahr auf 26,7 Milliarden Euro.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/ CSU]: Ja, durch die Flut!)

Wir werden aber auch die Finanz- und Investitions-
kraft der Kommunen nachhaltig stärken müssen. Dabei
setzen wir auf folgende Maßnahmen:

Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden be-
absichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitrag
zur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von
800 Millionen Euro.

Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz und
die Abgeltungsteuer werden voraussichtlich noch in
diesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund 1 Milliarde Euro
führen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Abrakadabra!)


– Eine solche Reaktion von Ihnen habe ich erwartet.
Aber an dieser Stelle zeigt sich, wie Ihre Politik wirklich
ist: alles ablehnen und immer mehr fordern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blo-
ckade, die Sie machen, erfolgt eine neue Forderung. Das
ist vollkommen unverantwortlich. Damit werden Sie nicht
lange durchkommen. Seien Sie sich dessen ganz sicher!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ganz ruhig bleiben!)


Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Ja-
nuar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozial-
hilfeempfänger entlasten. Das heißt, für bis zu
1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die Bun-
desanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe ent-
lastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zum
Beispiel für Investitionen bei der Kinderbetreuung nut-
zen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll die
Kommunen nicht von ihrer Verantwortung entbinden,
mitzuhelfen und alles dafür zu tun, dass Menschen Ar-
beit in den Strukturen finden, die bei den Kommunen
aufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzie-
rung darf nicht zu geteilter Verantwortung führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Janu-
ar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend reformie-
ren. Zurzeit arbeitet eine Kommission,






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruck
an einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wird
übrigens nach unserer Auffassung eine erneuerte Gewer-
besteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und den
Gemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Sie
bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu überneh-
men, oder ob Sie weiterhin allein aus parteipolitischer
Orientierung egoistisch Ihr eigenes Süppchen kochen
wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt für
Wiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe von
insgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Woher?)


7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionspro-
gramm und 8 Milliarden Euro für die private Wohnungs-
bausanierung. Für dieses Investitionsprogramm wird der
Bund aus eigenen Mitteln eine attraktive Refinanzierung
sicherstellen. Das kommunale Programm ist für länger-
fristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser,
Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infra-
struktur bestimmt. Dieses Programm – dessen bin ich si-
cher – sorgt vor allen Dingen für Arbeit in der Bauwirt-
schaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnen
und Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in klei-
nen und mittelständischen Betrieben arbeiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemen
und überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden die
ohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deut-
lich verbessert. Das wird zu mehr Investitionen führen.
Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies kein kurz-
fristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm
ist. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen
noch Steuern erhöhen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zu
unseren Strukturreformen auf der Angebotsseite, die
ich Ihnen erläutern werde. Beides bedingt einander:
Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls.
Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Refor-
men indessen ins Leere.

Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden
– wie geplant – die nächsten Stufen der Steuerreform mit
einem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euro
am 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am
1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998
von 25,9 auf 15 Prozent und der Spitzensteuersatz von
53 auf 42 Prozent sinken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Völlig neu! Totale Überraschung!)


Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenü-
ber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkun-
gen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Auch das
gehört zur Wahrheit in diesem Land.


(Beifall bei der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetzt
werden – sie gehen übrigens keineswegs nur zulasten
des Bundes, sondern auch zulasten der Länder und der
Kommunen; das wissen Sie doch alle –, wirklich reali-
sieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oder
die Erhöhung von Verbrauchsteuern. Anders wäre das
nicht vernünftig finanzierbar.


(Zuruf von der FDP: Einsparungen!)


Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hier
der Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieser
Größenordnung, sind nicht zu verantworten. Deshalb
bleibt es bei den Festlegungen, die wir getroffen haben.
Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürger
und für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinser-
träge einführen und dadurch erreichen, dass im Ausland
angelegte Gelder straffrei zurück transferiert werden.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir hätten es gern noch einmal deutlicher beschrieben! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das sagen. Der
Sinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dass
wir auf diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurück-
holen. Es ist doch besser, es arbeitet in Leipzig oder Gel-
senkirchen, als dass es in Liechtenstein schwarz Zinsen
bringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja! Natürlich!)


Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch,
aber wirksam sein. Über die Art und Weise, wie das ge-
schieht, sind wir gegenüber denjenigen, die das in der
zweiten Kammer mitzuentscheiden haben, durchaus ge-
sprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollen
werden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden ha-
ben. Ich bin sicher, dass wir aus der Sache heraus eine
Einigung finden, weil das Ziel, das wir verfolgen, ver-
nünftig ist und eigentlich jedem einleuchten müsste.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein,
dass mit dieser Operation nur diese und keine anderen
Ziele verfolgt werden.

Wir werden Gewinne aus Veräußerungen – das ist
beschlossen – in Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist,
dass deshalb die Substanz von Vermögen steuerfrei blei-
ben kann. Auch das muss klargestellt werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist der Beifall?)


Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer
Reformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft
und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Vorausset-
zungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damit
für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Wir
wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten
kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.

Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue For-
men der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöff-
net. Wir haben das Programm „Kapital für Arbeit“
aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermitt-
lung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir ha-
ben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in ein
neues Gleichgewicht gebracht.

Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzu-
bauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen
kann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln und
sie nicht bloß zu verwalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In den letzten Monaten haben wir – teilweise auch ge-
meinsam – erhebliche Anstrengungen unternommen,
den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: Wir haben die
Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkun-
gen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen
ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel de-
cken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis
800 Euro massiv von Abgaben entlastet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


– Ich dachte, Sie hätten sich daran beteiligt. Das ist doch
nicht schlimm. Es kann durchaus auch einmal etwas Ver-
nünftiges aus Ihren Reihen kommen. Das ist doch keine
Frage.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Selten genug!)


Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.

Unser System der Arbeitsvermittlung hat unver-
kennbare Schwächen. Zu Zeiten der Vollbeschäftigung
fiel das nicht weiter ins Gewicht und dann haben wir uns
20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwick-
lungen zu korrigieren.

Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aber
jetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu be-
setzen haben, diese Angebote einer erneuerten Arbeits-
verwaltung auch annehmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäf-
tigung verlängert, wie es gefordert worden ist, für die
über 50-Jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Auch das
ist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose wieder in Be-
schäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft,
das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesre-
gierung, sondern der Unternehmen, so zu verfahren,
dass auch jemand, der 50 oder älter ist, im Betrieb seine
Chance behält oder wiederbekommt. Das ist eine Verant-
wortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, son-
dern die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirt-
schaft angeht. Auch sie müssen Verantwortung für das
Gemeinwesen übernehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Refor-
men hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen und
unsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbil-
dungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auch
klar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung
der Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es
durchaus eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Refor-
men auf dem Arbeitsmarkt greifen. Einfach die aktive
Arbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschen
Bundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuen
Strukturen aufgebaut sind und ihre Wirkung entfalten
können – das kann nicht die Lösung sein und das wird
auch nicht die Lösung sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Über-
gangszeit noch einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen.
Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, sondern
auch für andere besonders benachteiligte Regionen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei
belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Ar-
beitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das
System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind
die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brau-
chen?


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen
und können, zum Sozialamt gehen müssen, während an-
dere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur
Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deswegen wird jetzt die Statistik geändert!)


Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleicher-
maßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedli-
cher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolg-
reiche Integration sein.






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistun-
gen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen de-
rer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund,
warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen-
legen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch
das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau
der Sozialhilfe entsprechen wird.


(Zurufe von der CDU/CSU: Wo bleibt der Beifall? – Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]: Jetzt bellen sie wieder wie die Hunde! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Herr Schauerte, wenn Sie noch einen Moment zuhören
könnten. Es kommt ja noch etwas.


(Lachen bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es kommt tatsächlich noch etwas!)


Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen,
denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir da-
mit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen
Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistun-
gen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte Zeit
Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufneh-
men, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent der
Transfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für die
Aufnahme von Arbeit sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für
diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger
als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wird
künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zu-
rückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir wer-
den die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit
Sanktionen rechnen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und das
Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der
Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben. Aber
auch hier vorweg eine Bemerkung: Der Kündigungs-
schutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirt-
schaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern auch
eine ökonomische und eine kulturelle Errungenschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oder
durch bedenkenloses „Hire and Fire“,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Donnerwetter!)


sondern durch selbstbewusste Arbeitnehmer stark ge-
worden, deren Motivation eben nicht Angst ist, sondern
der Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern et-
was zu leisten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungen
an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft stattfin-
den. Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutz
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die
Unternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbe-
sondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern. Für sie muss und wird die
psychologische Schwelle bei Neueinstellungen über-
wunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsminister
hat dazu Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Ab-
striche umgesetzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!)


– Ich kann Ihnen das gerne erläutern, wenn Sie das wol-
len. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das so
genannte Puffermodell nutzen, wonach dann, wenn ein
sechster Mitarbeiter eingestellt wird, wenn also die
Grenze von fünf überschritten wird, der erste Arbeitneh-
mer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. Das
Problem ist unter Umständen, dass das schwierig zu kal-
kulieren ist und dass Arbeitsgerichte Schwierigkeiten bei
der Umsetzung haben. Deswegen hat der Wirtschafts-
und Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt, das
vorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet einge-
stellt werden – Sie kennen die diesbezüglichen Regelun-
gen –, und die Zahl derjenigen, die als Leih- und Zeitar-
beiter eingestellt werden, nicht auf die Obergrenzen für
die Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck ist,
dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist.
Deswegen wird es auch umgesetzt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusam-
menhang sehen.

Darüber hinaus werden wir – Sie sollten das durchaus
in Kumulation sehen – eine wahlweise Abfindungsre-
gelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen.
Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmer
zwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einer
gesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsrege-
lung wählen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umge-
stalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
die Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unter-
nehmen gehalten werden können. Statt der Sozialaus-
wahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer der
Betriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritäten
auch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Ar-
beitgebern erarbeitet und verbindlich gemacht werden.
Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe und
senkt die Hürde für Neueinstellungen.

Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiteren
Maßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maxi-
male Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahre
verdoppeln. Existenzgründer werden zudem in den ers-






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
ten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Hand-
werks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])


Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäfti-
gung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarz-
arbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns alle
beschämen müssen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Trostlos!)


Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität,
Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auch
ein Gebot der gesellschaftlichen und ökonomischen Ver-
nunft. Wir haben bereits durch die Hartz-Reform legale
Beschäftigung attraktiver gemacht.

Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Groß-
unternehmen gewiss wichtig. Aber der Motor des
Wachstums ist und bleibt der Mittelstand.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig! Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohn-
nebenkosten und über bürokratische Vorschriften. Des-
halb werden wir kleine Betriebe künftig deutlich besser
stellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe
radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten redu-
zieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig sen-
ken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Mit dem Small Business Act verbessern wir die Start-
bedingungen in die Selbstständigkeit.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Reden Sie Deutsch!)


Wer sich selbstständig macht und damit für sich und an-
dere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung
und unsere politische Unterstützung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es darf nicht sein – auch das gilt es klar zu machen –,
dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unterneh-
men inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengespräche
aufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ih-
rer Produkte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlich
machen, dass ungeachtet von Schwierigkeiten gerade im
Finanzierungssektor – Schwierigkeiten übrigens, die
auch durch Managementfehler in diesem Bereich ent-
standen sind und nicht durch die Politik –


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

die in diesem Markt tätigen Institute ihre eigentliche
Aufgabe, nämlich nicht zuletzt die mittelständische
Wirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten zu versor-
gen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letzten
Zeit der Fall gewesen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen kön-
nen nicht an die Stelle der privaten Finanzierungsinsti-
tute treten. Sie können nur ergänzend tätig werden. Des-
halb haben wir mit dem Programm „Kapital für Arbeit“
und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der Be-
wertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behan-
delt werden können, die Kreditbedingungen für die
Unternehmen verbessert. Aber die langfristigen Refinan-
zierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten Insti-
tutionen dargestellt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbüro-
kratisierung und mehr Flexibilität immer nur von der ei-
nen Seite der Gesellschaft eingefordert werden könnten
und werden dürften. Nein, wir müssen auch das Hand-
werksrecht modernisieren und so verschlanken, damit
es im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt,
mehr Arbeitsplätze entstehen und die, die es gibt, etwa
durch erleichterte Betriebsübernahmen besser gesichert
werden können, als das in der Vergangenheit der Fall
war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonders
wichtige Punkte ansprechen:

Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssie-
gel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll und
muss er auch künftig erhalten bleiben. Das sind alle Be-
reiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahren
für die Gesundheit oder das Leben anderer verursachen
könnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen sein
wird; aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlich
zu Veränderungen zu kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollen
wir künftig den Aufbau einer selbstständigen Existenz
erleichtern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einen
Rechtsanspruch auf die selbstständige Ausübung ihres
Handwerks erhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als
selbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef ei-
nes Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Hand-
werksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibi-
lität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringend
notwendig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


– Sie sollten einmal zuhören.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Es lohnt ja gar nicht bei Ihnen!)


Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bisher
nicht geht: In einer GmbH hat man bisher keine Pro-
bleme. Da gilt das, was ich gesagt habe. In einem Einzel-
unternehmen gilt das bisher nicht.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Falsch! Da sind Sie schlecht informiert, Herr Bundeskanzler!)


Also werden wir das auch für die Einzelunternehmen
möglich machen, weil das sinnvoll ist, und so geschieht
es auch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in
Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeits-
beziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufig
nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einer
komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbe-
werb sein muss. Die Verantwortlichen – Gesetzgeber wie
Tarifpartner – müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen
Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungs-
spielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.
Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Opti-
onen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spiel-
räume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

Übrigens, in der Praxis gibt es – auch das gilt es ein-
mal klar zu machen – eine Vielzahl erfolgreicher Bei-
spiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden des
geltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte man
nicht kleinschreiben.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es läuft ja auch alles prima!)


Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze ge-
schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe ver-
bessert.

Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Stand-
ort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage
von Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehalt
der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unter-
liegen.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Flasche leer!)


Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische
Unbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggres-
sive Angriffe auf das Tarifsystem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen
ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden.
Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es
ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes
gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist
nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung;
denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Ver-
antwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu
übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteres-
sen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stel-
len.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang
dessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem Um-
fang –, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in
vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,
wird der Gesetzgeber zu handeln haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissver-
ständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbe-
stimmung nicht antasten


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht ab-
schaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexi-
bel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen in
einer Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitneh-
mern Planungssicherheit und zwingt zur beständigen
Steigerung der Produktivität.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mir ist noch etwas wichtig – auch das gehört in eine
solche Debatte –: Ohne mutige und verantwortungsbe-
wusste Betriebsräte – das gilt es zu unterstreichen – wür-
den heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebs-
räte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazu
leisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlich
müssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.
Aber – auch das gilt es in einer solchen Debatte einmal
klar zu machen – sie haben so viel für Wohlstand und so-
ziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, die
man gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU und
FDP hört,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


eine geschichtslose Unverschämtheit sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang in
eine bestimmte Richtung des Hauses noch einmal daran
erinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmeri-
scher Misserfolge nicht die Gewerkschaften und nicht
die Betriebsräte zu verantworten haben, sondern


(Zurufe von der CDU/CSU: Sie!)


dass sie auch – das gehört ebenfalls in eine solche De-
batte, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen –
auf krasse kaufmännische und strategische Fehler im
Management zurückgehen. Diese Fehler werden dann
oft genug noch mit millionenschweren Abfindungen ver-
gütet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter Zustimmung der Gewerkschaften! Was hat denn der Herr Zwickel geschrieben? – Zurufe von der CDU/CSU)


– Mein Eindruck ist, dass Sie das gern unter den Teppich
kehren würden.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, im Gegenteil!)


So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu for-
dern, so wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zu
machen, dass sich auch in der bundesdeutschen Unter-
nehmenskultur etwas bewegen und verändern muss.
Auch dafür wird zu sorgen sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen gleich Beispiele liefern.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Telekom! – Michael Glos [CDU/CSU]: Zwickel!)


Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden
und den Kammern für den Erhalt des dualen Ausbil-
dungssystems gestritten – übrigens ein Ausbildungssys-
tem, um das uns noch immer viele Länder der Welt be-
neiden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kom-
munen im Übrigen auch, mit diversen Förderprogram-
men dafür gesorgt, dass junge Menschen eine Chance
auf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren uns
mit den Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verant-
wortung dafür, dass jede und jeder am Anfang ihres oder
seines Berufslebens nicht in Arbeitslosigkeit fällt, nicht
allein bei der Politik abgeladen werden kann, sondern
dass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 be-
triebliche Ausbildungsplätze – Ausbildungsplätze, die
nicht von der Politik geschaffen werden können. 30 Pro-
zent aller Unternehmen bilden aus, viele davon über Be-
darf, und ich bin dankbar dafür.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrer
sozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwor-
tung. Sie sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sit-
zen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirt-
schaft, dass sich die unternehmerische Verantwortung
nicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt. Unter-
nehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftliche
Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächst
und vor allem im Engagement für diejenigen, die am
Anfang ihres Berufslebens stehen. Das ist ein zentrales
Gebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nütz-
lichkeit für unsere Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zu-
rückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Ver-
abredung zurückkehren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz sucht
und ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatz
bekommen! Davon können wir nicht abweichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien ge-
richtet habe, Öffnungsklauseln zu schaffen, damit be-
triebliche Bündnisse entstehen können, muss ich die
Forderung an die Wirtschaft richten, die gegebene Zu-
sage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in die-
sem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommen
müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungs-
abgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung der
Ausbildungsbereitschaft und ohne die Übernahme der
zugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist die
Bundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wird
das auch tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden,
dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er be-
stimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungen
so umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestens
fünf Jahre lang erfolgreich geführt hat, auch ausbilden
darf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Bundeskanzler Gerhard Schröder CSU]: Dann schafft doch gleich den Meisterbrief ab!)





(A) (C)


(B) (D)


Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben ein
Recht auf neue Chancen, auf Ausbildung und dieses
Recht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. Diesem
Recht – das muss genauso klar festgestellt werden – ent-
spricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch
anzunehmen. Geschieht das nicht, wird das zu Sanktio-
nen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass das
funktioniert.

Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Ab-
sicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfas-
sungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugung
das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine
ganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, als
stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzu-
schaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichts
radikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Ba-
sis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereits
verloren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie
die unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaat
haben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sich
Zusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Ge-
sellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und
Dauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellen
Gegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organi-
sieren. Aber wir müssen aufhören – das ist der Kern des-
sen, was wir vorschlagen –, die Kosten von Sozialleis-
tungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen,
immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzu-
bürden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch
Umstrukturierungen im System und durch Abbau von
Bürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötig
sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche
und Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr
belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten,
dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben sen-
ken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und
2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zur
Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir
die Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer ein-
fach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführen
müssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeits-
losengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die
über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies
notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu be-
halten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem
Hintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Ar-
beitsanreize zu geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Helle Begeisterung bei den Roten!)


– Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das
kann doch gar nicht anders sein und das habe ich
überhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlich
Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine
Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht.
Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sie
auch umsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform der
Rentenversicherung im Jahr 2001 war sicherlich eine
der wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen seit
der Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil darü-
ber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist,
will ich sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden im
Bereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 Millionen
Verträge abgeschlossen; bei der betrieblichen Altersvor-
sorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind, bezogen auf
die 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in unserem Land, immerhin 15 Prozent.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist nicht genug – keine Frage. Aber nach einem Jahr
ist das eine ganze Menge.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir ei-
ner Reformmaßnahme in einem schwierigen Umfeld, in
einem häufig rechtlich und auch politisch sehr vermachte-
ten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu entfalten,
oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz von
Reformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zu
weit und dem anderen nicht weit genug geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wir
in unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimis-
tisch zugleich waren: zu optimistisch, was die Beschäfti-
gungsentwicklung anging, und zu pessimistisch im Be-
zug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, die
glücklicherweise – aber mit Problemen für die Alters-
vorsorge – immer größer wird. Aus diesen beiden Grün-
den ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujus-
tieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden,
dass die Renten für die alten Menschen so sicher wie nur
irgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge be-
zahlbar bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesem
Jahr von Herrn Rürup ergänzende Vorschläge erwarten,
wie die Rentenformel angesichts dieser Veränderungen
neu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aber
auch wirklich alle in der Gesellschaft einen Beitrag leis-
ten müssen. Es betrifft natürlich die Mitglieder der Bun-
desregierung und auch andere. Deshalb wird es – kein
Zweifel – auch für die Gehälter der Bundesminister und
der Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politische
Personal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.

Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Län-
der darauf verständigt, dass auch die Beamten einen Bei-
trag zur Erneuerung des Sozialstaates und zur Konsoli-
dierung der Länderhaushalte leisten sollen und leisten
werden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit zu
machen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, die
die Länder untereinander offenbar vereinbart haben, po-
sitiv einzugehen. Denn klar ist: Auch aus diesem Bereich
heraus muss es Solidarität geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Men-
schen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit so gro-
ßen Sorgen betrachten wie die Reformen des Gesund-
heitswesens. In der Tat, die Reform der gesetzlichen
Krankenversicherung ist der wichtigste, auch notwen-
digste Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nur
mit einer Reform das hohe Niveau der medizinischen
Versorgung für die Zukunft werden sichern können.
Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichen
Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitglie-
dern ist immer noch enorm leistungsfähig. Qualität und
Standards im deutschen Gesundheitswesen sind im inter-
nationalen Vergleich immer noch vorbildlich.

Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind un-
übersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkas-
sen entwickeln sich weiter auseinander. Vor allem gilt:
Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihre
Grenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kosten
durch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kennt
das und jeder hat Beispiele vor Augen. Wir werden des-
halb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen,
auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystem
verkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaum
ein anderes gesellschaftliches System.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einig-
keit erzielen können: Das Gefühl einer gemeinsamen
Verantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu ver-
schwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des ra-
schen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalität
der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität ver-
drängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungen
aller Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Ein-
nahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit; der me-
dizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird die
Kosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben.
Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen und
Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger ein-
zahlen – das kann auch nicht anders sein –, aber weitaus
mehr Leistungen in Anspruch nehmen.

Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähn-
lich. Dabei zeigt sich die Alternative: Entweder wir las-
sen die Entwicklung treiben – dann bleibt nur die Ein-
schränkung medizinischer Leistungen oder eine vom
Alter abhängige Zuteilung von medizinischer Versor-
gung – oder wir entschließen uns zu Reformen, die das
hohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten. Der
erste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhal-
ten die notwendige medizinische Versorgung, und zwar
unabhängig von Alter und Einkommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch,
dass wir am Solidarprinzip in der Krankenversicherung
prinzipiell festhalten.

Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wir
aber einschneidende Kurskorrekturen. Ein Teil der not-
wendigen Maßnahmen wird im zuständigen Ministerium
vorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die Rürup-
Kommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.

Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nen-
nen. Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele un-
strittig sind: hohe Qualität der Gesundheitsversorgung
und kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkas-
sen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aber
auch der Versicherten.

Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrus-
tungen zu ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb im
System zulassen und fördern


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Weiße Salbe!)


und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassen-
ärztlichen Vereinigungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werden
es den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelver-
träge mit den Ärzten abzuschließen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unter-
schiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungs-
bedarf.






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nicht
bleiben können. Wir werden hier auf die Schaffung über-
schaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.

Qualitätssicherung wird die zweite große Ressource
sein, die wir ausschöpfen werden. Die Sicherung von
Qualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirk-
lichen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wir brauchen klare Standards; diese werden wir schaf-
fen.

Darüber hinaus werden wir – das ist für viele
schmerzlich – den Leistungskatalog überarbeiten und
Leistungen streichen. Wir müssen neu bestimmen, was
künftig zum Kernbereich der gesetzlichen Krankenversi-
cherung gehört und was nicht.

Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahn-
behandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlen
zu lassen. Ich halte das nicht für richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei der
Zahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchte
nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wie-
der an ihren Zähnen ablesen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinander
gesetzt, die von vielen Seiten erhoben worden ist, näm-
lich der Forderung, private Unfälle aus dem Leistungs-
katalog der gesetzlichen Krankenversicherung heraus-
zunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eine
ernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob diese
Forderung umgesetzt werden sollte,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzung
zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden über-
haupt möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile For-
derung, Extremsportarten aus dem Leistungskatalog he-
rauszunehmen, viel bringt. Zudem ist auch hier fraglich,
ob Abgrenzungen möglich sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir ist beispielsweise nicht einsichtig, warum Sport-
unfälle insgesamt einer besonderen Versicherungs-
pflicht unterworfen werden sollten. Damit würden wir
vor allem den Breitensport treffen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und zur
Krankheitsprävention beiträgt. Er ist zudem gerade für
die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr
wichtig.

Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorge
im Hinblick auf das Krankengeld. Hier handelt es sich
um einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch für
die Zukunft überschaubar bleibt. Die Kostenbelastung
für den Einzelnen durch eine private Versicherung bliebe
beherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen wür-
den nicht berührt.

Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im
Rahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben:
die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung von
einer Reihe so genannter versicherungsfremder Leistun-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das aus
dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden
muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken
– das will ich hier sehr deutlich sagen – über die öffent-
liche Debatte über Zuzahlungen und Selbstbehalte. For-
men von Eigenbeteiligungen sind im geltenden System
lange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung.


(Zuruf von der FDP: Ach nein!)


Sie halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben Seehofer diskriminiert! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schäbig! – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Der Groschen ist zu spät gefallen! – Weitere Zurufe von der SPD und der CDU/CSU)


– Herr Glos, hören Sie einmal einen Moment zu! – Ich
sage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nur
weiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses und
die Mehrheit des Bundesrats entschlossen sind, eine
durchgreifende Reform auch durchzusetzen; sonst geht
es ja nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Früher habt ihr euch immer verweigert!)


Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz be-
stimmte – für Sie elementare – Forderungen aufgestellt
haben, macht es doch aus meiner Sicht – ich will eine
solche Reform – keinen Sinn, so zu tun, als seien die für
alle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemanden
weiter.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder
Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, die
für Sie existenziell sind, zumindest in die Diskussion
einbeziehen müssen; das kann doch nur vernünftig sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie sagen, das sei eine Veränderung in der ei-
nen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen Recht.
Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss,
weil das die angemessene Reaktion auf veränderte Zu-
stände in unserer Gesellschaft ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden
muss, sollten wir – ich komme jetzt zu den Instrumenten –
Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und
Selbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem Einkom-
men, Kinder, auch chronisch Kranke – auch darüber sind
wir uns, glaube ich, einig – müssen davon ausgenommen
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis,
dass sich Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung von
Krankheiten beschränken darf, sondern dass der Präven-
tion Vorrang eingeräumt werden muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischen
Länder orientieren, die durch systematische Förderung
gesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zur
Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.


(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch die
Reserven zu sein, die in einer Modernisierung der Kom-
munikationstechnologie in diesem Bereich liegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der elektronische Patientenausweis und die elektroni-
sche Krankenakte sind nicht nur technologisch an-
spruchsvolle Projekte, die wir bis spätestens 2006 funk-
tionsfähig haben wollen; sie werden auch dazu
beitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachver-
sorgung zu vermeiden und auf diese Weise die Qualität
von Behandlungen zu erhöhen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mit
bezifferten Prognosen vorsichtig bin.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das kann man verstehen!)


Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs-
und strukturpolitischen Maßnahmen können wir es
schaffen, die Beiträge zur Krankenversicherung unter
13 Prozent zu drücken.


(Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/ CSU])


Ich habe das, was ich „Agenda 2010“ genannt habe,
vorgestellt. Ich habe beschrieben, was wir leisten müs-
sen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden – Schritt
für Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das an-
packen – und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Un-
ser Land hat – daran kann doch kein Zweifel bestehen –
große Potenziale, Potenziale, die wir durch eine gemein-
schaftliche Anstrengung wecken können und wecken
müssen.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber nicht mit dieser Regierung!)


Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir
tun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumt
werden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und
Höchstleistungen zu erbringen. Diese Chancen wollen
wir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für Bil-
dung und Investitionen in Forschung und Entwick-
lung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weit rei-
chende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen in
Bildung und Forschung einhergehen müssen, wenn man
dauerhaft Erfolg haben will. Aber Folgendes gilt es mit-
einander zu überwinden: In keinem vergleichbaren In-
dustrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohem
Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland.
Das darf nicht so bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chance
des Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus der
Oberschicht sechs- bis zehnmal so hoch ist wie für einen
Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Was ist eine „Oberschicht“?)


Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass je-
der vierte ausländische Schüler ohne Schulabschluss
bleibt. Auch das müssen wir im Interesse der jungen
Menschen, aber auch im Interesse der Kohäsion unserer
Gesellschaft ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Die auf der Bundesratsbank sind dafür verantwortlich! Da sitzen Ihre Genossen!)


Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschied-
lichen Kompetenzen, die ich kenne und respektiere, zu
einer nationalen Gesamtanstrengung kommen, um Stan-
dards zu setzen






(A) (C)



(B) (D)


Bundeskanzler Gerhard Schröder

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bitte nicht Ihre Standards!)


und die Defizite, die ich beschrieben habe, zu überwin-
den. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung
– anders wird es nicht zu machen sein –, die die pädago-
gischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Wir
brauchen – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen –
ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathemati-
schen Fächern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und die
Ministerpräsidenten der Länder auf eine gemeinsame
Strategie in diesem Bereich verständigen und sie dann
gemeinsam – jeder in seinem Bereich – materiell unter-
legen.

Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann halten
können, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichen
Situation verstärkt in Bildung und Forschung investie-
ren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Le-
gislaturperiode in der Forschungspolitik umgesteuert
und der Etat dieses Ministeriums um 25 Prozent erhöht
wurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus Gründen
der Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie alle
kennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht so
bleiben. Wir werden und müssen die Haushalte der gro-
ßen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jähr-
lich wieder um 3 Prozent erhöhen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der ver-
gangenen anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben,
unseren Blick auf uns selbst und auf die sich verän-
dernde Welt zu richten. Aber das reicht nicht mehr.
Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zu
verändern.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das reicht nicht!)


Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generatio-
nen die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichen
und gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu ver-
bauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut zu Ver-
änderungen brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuver-
sicht in Europa werden – unseretwegen, aber auch Euro-
pas wegen.

Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und an-
derswo viele Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegs
sind, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die be-
reits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt worden
sind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor de-
nen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nicht
alle Lösungen, über die wir heute diskutieren, können
schon morgen wirken. Aber ich bin entschlossen, nicht
mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank ge-
schoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen,
dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern, weil die
Kraft zur Gemeinsamkeit nicht vorhanden ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unserer
Wirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, auf
die Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Tra-
ditionen unseres Landes.


(Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Nur nicht auf die Regierung!)


Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinder
zu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammen-
stehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Langanhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503200200


Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel,
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1503200300


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-
deskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zu-
gehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt für
Schritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet ha-
ben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist,
weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf für
die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt!)


Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholt
und vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann,
wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisiges
Schweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihre
Politik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwalten
des Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Er-
eignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese De-
batte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Nur kein Neid! Von Ihnen hat keiner etwas erwartet!)


Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wer
eigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:


(Zuruf von der FDP: Mir auch nicht!)


Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundes-
republik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situatio-
nen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln da-
gegen Gold ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Meter
von hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigen
können, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklich
zum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zu-
rückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen in
einer solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Das
wäre ein Zeichen gewesen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)


Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen und
nicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie das
genauso sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Wieso ist dann der Herr Stoiber hier, Frau Merkel?)


Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Des-
halb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weil
uns Deutschland am Herzen liegt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafür
sorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung,
das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wir
wollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger be-
trieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie end-
lich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Di-
mension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich be-
wusst sind.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, dafür brauchen wir Sie!)

Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieser
Rede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen.
Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen.
Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schon
unendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millio-
nen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Rekordhalter sind immer noch Sie! Denken Sie mal an die KohlZeit!)


Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist ein
Opfer Ihrer Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik.
Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist vollkommen lächerlich!)


Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines – auch das hat
in der Rede vollkommen gefehlt –: Zuversicht, Optimis-
mus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in den
vergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegan-
gen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen!)


Die Krise, in der wir uns befinden – ich glaube, wenn
wir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen –,
ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesre-
publik Deutschland.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krise der CDU!)


Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und So-
zialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der histori-
schen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpoli-
tik.

Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute?
Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Tech-
nologie, Digitalisierung und die Informationsgesell-
schaft haben diese Welt dramatisch verändert,


(Ludwig Stiegler [SPD]: So etwas! Gut, dass Sie das bemerkt haben! – Franz Müntefering [SPD]: Das ist doch nicht neu!)


sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierung
geführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Le-
ben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, so was, das ist ja aufregend! – Gernot Erler [SPD]: Donnerwetter!)


Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenen
Ländern der Welt auf diese Veränderungen reagiert
wird.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie reagieren Sie denn? – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Reaktion?)


Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prospe-
rierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seit
Jahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Auf-
schwungprozess.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Konzept? – Gernot Erler [SPD]: Gehen Sie doch rüber!)


China, Hongkong und Taiwan – das alles sind Länder,
die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht es
um Deutschland? In Deutschland – das ist unsere Situa-
tion – ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch – auch das gehört
dazu –: Vielleicht hat manches auch schon zu unserer
Regierungszeit begonnen.


(Jörg Tauss [SPD]: „Vielleicht“?)


Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünf
Jahren aber in dramatischer Art und Weise verschlim-
mert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debat-
tieren haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deutschland steht zweifellos an einem historischen
Scheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leis-
ten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.


(Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, was denn? – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es doch einmal! – Zurufe von der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1503200400


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller verständli-
chen Erregung bitte ich darum, der Rednerin die Chance
zu geben, gehört zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Alles Proleten!)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1503200500


Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zu-
hören.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD)


Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Men-
schen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsere
Ziele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ich
für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dass
Deutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, das
heißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre
2010, wieder an der Spitze in Europa steht,

(Hans-Peter Kemper [SPD]: Dann helfen Sie mit!)


und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um die
Menschen in diesem Lande geht. Wir wollen an die
Spitze Europas!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wir
brauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dass
Deutschland beim Wachstum unter den ersten drei Län-
dern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich will
erreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern so
viel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer,
die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sind
keine außereuropäischen, sondern europäische Bei-
spiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung so
viel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Das
bringt uns wieder an die Spitze Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Wie denn? – Siegfried Scheffler [SPD]: Lächerlich, was Sie hier vortragen!)


Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen,
wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber,
dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungs-
orientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaf-
fen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort „Freiheit“ ist pi-
kanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Mal
vorgekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstren-
gung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in die
richtige Richtung weist – ich komme in Einzelfällen da-
rauf zurück –, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bie-
ten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie ist
mehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am
10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan be-
schlossen.


(Franz Müntefering [SPD]: Was? Noch einmal! Drei Stufen?)


Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tun
müssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheits-
wesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen und
bei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen.
Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis
2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialen
Sicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müssen
eine Offensive für Forschung und Bildung starten, damit
wir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret!)


Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Ma-
chen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagt
wurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographi-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
schen Veränderungen unserer Gesellschaft wirklich zu
beschreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir brauchen weitere steuerliche Entlastungen. Wir
brauchen Entbürokratisierung und Privatisierung. Wir
brauchen auch eine neue Ordnung der Aufgabenvertei-
lung im Föderalismus. All das steht bis 2010 auf der Ta-
gesordnung. Über vieles habe ich von Ihnen nichts ge-
hört.


(Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann haben Sie nicht zugehört!)


Herr Bundeskanzler, die Vorgeschichte dieser Erklä-
rung zeigt deutlich: Herausreden wird Ihnen nichts mehr
nutzen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Etwas konkreter!)


Herr Bundeskanzler, auf der CeBIT wurden Sie ge-
fragt, wann es mit Deutschland denn wieder aufwärts
geht. Darauf haben Sie gesagt: Am Freitag.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gernot Erler [SPD]: Gute Antwort!)


Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie. In einem halben Jahr
werden Sie sagen, Sie hätten ja nicht gesagt, an welchem
Freitag es sein sollte.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch wenn mancher Punkt in Ihrem Vortrag beden-
kenswert, vielleicht sogar richtig ist, sehe ich das Pro-
blem – –


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


– Entschuldigung, Sie wollen die Zusammenarbeit. Sie
haben uns doch vorgeworfen, wir seien nicht konstruk-
tiv. Jetzt zeigt sich, dass Sie nicht Recht haben. Sie
schimpfen ja schon, wenn man andeutet, dass dies pas-
sieren könnte. Was wollen Sie denn nun? Sie wollen eine
Opposition so, wie Sie sie sich malen würden. Wir sind
aber anders. Uns geht es um Deutschland und nicht um
Klamauk!


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Um die vor uns liegenden Herausforderungen meis-
tern zu können, brauchen wir ein Verständnis dessen,
was passiert ist. Der Zusammenbruch des Kalten Krieges
ist kein Zufall. Er ist der Sieg der Freiheit über die Dik-
taturen gewesen. Er ist der Sieg der Informationsgesell-
schaft und der ökonomischen Überlegenheit des Westens
über die sozialistischen Modelle gewesen.

Das alles führt zu einer grundlegenden Veränderung
der Welt. Diese Veränderung wird nach meiner festen
Überzeugung unsere gesamte Wirtschaftsordnung auf
eine neue Ebene heben. Ich bezeichne diese Ebene als
bedeutend, weil wir, von der sozialen Marktwirtschaft
kommend – mit dem Erbe Ludwig Erhards und mit al-
lem, was wir geschaffen haben –, sagen müssen: Wir
brauchen eine „neue soziale Marktwirtschaft“ im
21. Jahrhundert.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Jetzt wissen wir genau, was los ist!)


Herr Bundeskanzler, deshalb brauchen wir so etwas
wie die zweiten Gründerjahre der Bundesrepublik
Deutschland. Wir brauchen einen Gründergeist. Wir
brauchen eine Offensive für Selbstständigkeit. Bei dem,
was Sie uns eben vorgetragen haben, wurde das nicht
spürbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor allen Dingen – das muss man leider sagen – ist es
das Gegenteil dessen, was Sie uns seit der Bundestags-
wahl geboten haben.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christa Sager,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Halbe Fraktionsvorsitzende!)


hat beim politischen Aschermittwoch gesagt:

Karneval ist Anarchie auf Kommando. Ich bin si-
cher, das haben aber manche auch beim Antritt der
Regierung in Berlin gedacht.

Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Frau Sager. Am
Aschermittwoch soll das sogar einmal vorkommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Karneval!)


Genau das ist der Unterschied: Wir brauchen keine Anar-
chie auf Kommando, sondern Gründergeist in Freiheit,
Selbstständigkeit und Kreativität für diese Bundesrepu-
blik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen kann ich über mich selber lachen!)


Was wichtig ist und was ich bei Ihnen vermisst habe,
ist die Tatsache, dass man dann, wenn man die Men-
schen mitnehmen möchte, für das Dach eines gesell-
schaftlichen Modells, wie es die „neue soziale Markt-
wirtschaft“ ist, Leitideen braucht, die den Menschen
sagen, nach welchen Prinzipien die Veränderungen von-
statten gehen. Für mich ist die erste Leitidee: Wir brau-
chen einen konsequenten Kurs der Investitionen in die
Zukunft.

Vom Bundeskanzler haben wir etwas über Investitio-
nen gehört. Die Wahrheit ist doch: Die Investitionsquote
im Bundeshaushalt dieses Landes ist auf einem histori-
schen Tiefpunkt, wenn man die Hilfen für die Flutopfer
herausrechnet. Sie liegt bei unter 10 Prozent des Bundes-
haushaltes. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Franz Müntefering [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben keine Ahnung von den Zah Dr. Angela Merkel len! Das ist genau umgekehrt! Die Bundesinvestitionen sind höher als jemals zuvor! Das müssten Sie doch wissen!)





(A) (C)


(B) (D)


– Herr Müntefering, Ihr Satz „Die Bundesinvestitionen
sind höher als jemals zuvor“ stimmt nicht. Sie sind aber
höher als 9,8 Prozent, und zwar deshalb, weil Sie in die-
sem Jahr die Flutinvestitionen dazurechnen können. An-
sonsten wäre die Investitionsquote auf einem histori-
schen Tiefstand. Das können wir Ihnen jederzeit
beweisen, jedenfalls was die prozentualen Verhältnisse
anbelangt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Das haben die Ihnen falsch aufgeschrieben! Sie sollten wenigstens die Zahlen kennen!)


Deshalb lautet unsere Forderung ganz konkret: Bis
zum Ende der Legislaturperiode muss die Investitions-
quote wieder auf 13 Prozent angestiegen sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das entspricht 7,5 Milliarden Euro mehr. Jeder Cent da-
von ist besser angelegt als das Strohfeuer-Investitions-
programm, das Sie uns heute hier vorgestellt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber gleichzeitig im Bundesrat blockieren!)


Viele haben sich gefragt: Warum muss der Kanzler
heute reden und kann er das nicht nächsten Mittwoch
machen?


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)


Mir ist inzwischen klar geworden: Wenn wir parallel
über den Haushalt debattiert hätten, dann wäre noch
deutlicher geworden, dass Sie in diesem Jahr Ihr Zu-
kunftsprojekt Kinderbetreuung auf Kosten des Zukunfts-
projekts Wissenschaftsfinanzierung finanzieren. Der
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht
einmal gegen seine eigene Wissenschaftsministerin ein-
geschritten, meine Damen und Herren. Das ist die Wahr-
heit darüber, wie wir mit unserer Zukunft umgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb müssen wir uns neben der Frage, wie die Zu-
wanderung zu steuern ist, auch fragen, wie wir Abwan-
derung verhindern können. Wissen Sie, wie viele Wis-
senschaftler dieses Land verlassen, weil sie hier keine
Zukunft haben?


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für die Wissenschaft ausgegeben? Der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben Sie Mittel gestrichen. Den Menschen, die sich auf Ihre Zusagen verlassen haben, versprechen Sie jetzt, dass es 2004 besser wird. Wundern Sie sich nicht, wenn sie Ihnen überhaupt nichts mehr glauben! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Es ist immer noch besser als bei Ihnen!)


Die für Deutschland vielleicht entscheidenden Fragen
haben Sie allenfalls ansatzweise in zwei Sätzen schema-
tisch zu beantworten versucht: Womit wollen wir in
Deutschland in Zukunft Geld verdienen? Wo entstehen
die Arbeitsplätze der Zukunft? Wir führen viel zu oft
zuerst eine Diskussion über Risiken und vergessen, dass
es auch Chancen gibt. Seit dem Bio-Regio-Wettbewerb
im Biotechnologiebereich ist durch Ihre Politik nicht
mehr viel Innovatives passiert. Sie haben die rote gegen
die grüne Gentechnologie ausgespielt. Sie haben in der
grünen Gentechnologie ein Moratorium verordnet, das
die gesamten Saatgutbranchen aus Deutschland vertrei-
ben wird, Herr Bundeskanzler. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie wollen eine Initiative starten, damit die chemische
Industrie in Europa noch eine Heimat hat. Wer hat denn
die Ökosteuer für alle Prozesstechniken erhöht? Wer
schreitet energisch ein, wenn es um die Zukunft des Che-
mikalienrechts in Europa geht? Kümmern Sie sich um
das Chemie-Weißbuch, damit die chemische Industrie
nicht aus Deutschland vertrieben wird! Das ist Ihre Auf-
gabe, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer hat denn der pharmakologischen Industrie ver-
sprochen, dass vier Jahre lang keine weiteren Abgaben
drohen? Wer hat dann sein Wort nicht gehalten? So kann
man die Industrie nicht in Deutschland halten. Wir müs-
sen darüber nachdenken, wo die neuen Erfindungen zu-
stande kommen. Eine Erfindung wie das Aspirin, das Me-
dikament des 20. Jahrhunderts, muss auch in Zukunft – –


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Sie können ruhig lachen. – Ich sage Ihnen eines: So-
lange Sie nicht verstehen, dass dieses Land ohne eine
entsprechende Wertschöpfung und Produktion – sie fin-
det in Deutschland nicht im Niedriglohnbereich, sondern
in den Hochtechnologien statt – keine Zukunft hat, so-
lange wird es mit Deutschland leider nicht aufwärts ge-
hen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie einfach
einmal kapieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür haben wir Sie gebraucht, unbedingt!)


Deshalb ist die erste Aufgabe, in die Zukunft zu investie-
ren und um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, vor allem in
den Hochtechnologien.

Die zweite Leitidee muss lauten, die Spaltung der
Gesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende zu überwin-
den. Ich glaube, dass diese Spaltung bzw. die Barriere
zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die entschei-
dende soziale Frage unserer Gesellschaft ist. Deshalb
muss sowohl für diejenigen, die sich selbstständig ma-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
chen wollen, als auch für die, denen es um eine abhän-
gige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht,
der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert, erleichtert
bzw. ermöglicht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dafür ist uns jede Initiative recht.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche?)


Aber dabei müssen wir weit springen, nicht kurz. Ihr
Small Business Act allein reicht mit Sicherheit nicht aus,
um Neugründungen in Deutschland zu ermöglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über Vereinfa-
chungen im Handwerksrecht zu reden. Sie haben aber
zum Teil nur Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt mög-
lich sind. Wir sind bereit, auch über Maßnahmen zu reden,
die erst in Zukunft umsetzbar sind, wie zum Beispiel über
wettbewerbsbedingte Reformen der Gebührenordnungen
der freien Berufe, über die Aufhebung der Schornstein-
fegerbereichszuordnungen


(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)


und über Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Wir
können auch die Urlaubskassen ganzer Berufsgruppen
auf den Prüfstand stellen und über eine Neuregelung der
Arbeitsstättenverordnung nachdenken, in der vieles dop-
pelt geregelt ist. Wir müssen außerdem das Berichts- und
das Beauftragtenwesen neu ordnen. Eine riesige Auf-
gabe liegt vor uns; denn es müssen Tausende Regelun-
gen geprüft werden. Meine Fraktionskollegen sind in
dieser Woche schon in Vorlage gegangen. Wir werden
das weiterverfolgen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen
dort, wo Regelungen vereinfacht werden sollen, jede
Kooperation zu.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zur Wahrheit gehört bei aller Freude über die Neuord-
nung des Bereichs der 400- und 800-Euro-Jobs aber
auch, dass es viel besser gewesen wäre, die Zeitarbeit-
nehmerbranche nicht in die Tarifhoheit hineinzubringen.
Es waren doch einfachere Lösungen vorhanden, mit de-
nen wir vorangekommen wären.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Fragen, wie wir den Prozess der Lohnfindung
gestalten sollen, wie wir Menschen in Arbeit bringen
können und wie wir die Aussichten von Beschäftigten
und Neueinzustellenden verbessern können, sind zentral.
Herr Bundeskanzler – ich habe Ihnen mit großer Auf-
merksamkeit zugehört –, Sie haben sich ja fast bis an das
Notwendige heranbewegen wollen, bevor wahrschein-
lich der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering als Ab-
geordneter in der Fraktion gesprochen hätte und ein an-
derer sagen muss: Franz, so geht das nicht! Ich sage
Ihnen voraus: Wir werden in Deutschland betriebliche
Bündnisse für Arbeit brauchen,


(Beifall bei der CDU/CSU)

und zwar auf einer rechtlich sicheren Grundlage, damit
die Betriebe, die solche Bündnisse eingehen, nicht an-
schließend mit Klagen der Gewerkschaftszentralen rech-
nen müssen. Die Menschen, die solche Regelungen ein-
gehen, brauchen Rechtssicherheit. Deshalb müssen wir
das Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsge-
setz ändern. Zu beidem konnten Sie sich nicht durchrin-
gen. Ich bedauere das. Wir wären dazu bereit gewesen,
Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind ge-
nauso wie Sie der Meinung, dass die Betriebsräte in
diesem Land Hervorragendes leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie aber nicht!)


Ich weiß das aus den neuen und den alten Bundes-
ländern. Aber die Welt hat sich verändert.


(Zurufe von der SPD: Ah! Ah!)


Die deutschen Betriebe stehen in einem unmittelbaren
Wettbewerb mit Betrieben aus der ganzen Welt. Deshalb
brauchen sie mehr rechtliche Möglichkeiten und deshalb
hätten Sie heute springen und betriebliche Bündnisse für
Arbeit ermöglichen sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich nehme den Kündigungsschutz als Beispiel. Ich
habe erwartet, dass Sie, Herr Bundeskanzler, heute klipp
und klar sagen, welche Variante in welchem Umfang Sie
wollen. Wir sind aber einigermaßen ratlos zurückgelas-
sen worden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat er doch gesagt! Sie müssen zuhören! Das liegt an Ihrer Wahrnehmung! Er hat erklärt, was er will!)


– Entschuldigung, ob Puffermodell oder nicht, es sind
drei Varianten vorgeschlagen worden. – Wir schlagen Ih-
nen eine eindeutige und klare Variante vor, die allen
hilft, die einen neuen Arbeitsplatz bekommen sollen:
Schon bei der Einstellung soll der Arbeitgeber mit dem
Arbeitnehmer optional vereinbaren können, ob im Fall
einer betriebsbedingten Kündigung eine Abfindung ver-
einbart wird oder ob der normale Kündigungsschutz gilt.
Das ist eine faire Lösung, die Rechtssicherheit sowohl
für denjenigen, der einstellt, als auch für denjenigen, der
eingestellt wird, schafft und die außerdem zusätzliche
Bürokratie verhindert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es bedarf noch einer dritten Leitidee. Wir brauchen
konsequente Leistungsanreize. Wer in diesem Lande ar-
beitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Wer
mehr leistet, muss mehr haben, als wenn er weniger leis-
tet. Das muss die Devise auf allen Ebenen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zu-
sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein-
verstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausge-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
drückt, als Sie sagten, dass dies „in der Regel“ auf dem
Niveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es soll
auf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Wei-
teren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ih-
nen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um
25 Prozent gekürzt werden soll. Wir müssen zusätzlich
in die Lage kommen, dass jedem, der arbeitsfähig ist, ein
Angebot gemacht werden muss, und sei es eine gemein-
nützige Tätigkeit, damit wir von der Sozialhilfe weg-
kommen und jeder die Chance erhält, eine zumutbare
Arbeit anzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist die Aufgabe, zu der wir kommen müssen. Wa-
rum müssen wir zu dieser Aufgabe kommen? Wir müs-
sen deshalb dazu kommen, weil es notwendig ist, dass
wir in unserem Lande auch wieder Dienstleistungen
möglich machen, für die die Lohnangebote heute so lie-
gen, dass sie nicht attraktiv sind und deshalb in Fremd-
arbeit oder Schwarzarbeit durchgeführt werden. Das ist
die Aufgabe, gerade um Menschen, die einfache Tätig-
keiten verrichten möchten, wirklich eine Chance in unse-
rem Land zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber es kommt noch etwas hinzu, und da bin ich sehr
enttäuscht von Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Sie haben uns nicht gesagt, wie Sie die einen Erwerbs-
fähigen, die anderen Erwerbsfähigen und die Nicht-
erwerbsfähigen zwischen den Kommunen und der Bun-
desanstalt für Arbeit aufteilen wollen. Das Ganze soll
möglichst bald im Gesetzblatt stehen. Wann möchten Sie
das denn genau tun? Ich hätte nach Ihrer heutigen Rede
erwartet, dass wir konkret wissen, was die Aufgaben der
Kommunen sind, welches Geld sie dafür erhalten, was
die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit ist, wo die Job-
center angesiedelt sind und wie das alles funktionieren
wird. Wir sind bei dieser Debatte an dieser Stelle keinen
Schritt weiter, als wir es gestern waren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sind auch der Meinung, dass das Arbeitslosen-
geld gekürzt werden sollte. Wir wollen insgesamt einen
Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 5 Prozent.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit Herrn Stoibers Vorschlag?)


Aber ich glaube, dass wir dies intelligent machen könn-
ten. Wir haben überlegt, dass eine Kürzung des Arbeits-
losengeldes so aussehen muss, dass die Anreize, eine
Beschäftigung wieder aufzunehmen, steigen. Das könnte
durch eine Karenzzeit in den ersten zwei Wochen ge-
schehen, in denen man den Bezug auf Darlehensbasis er-
möglichen kann, das könnte auch durch eine degressive
Gestaltung des Arbeitslosengeldes geschehen, bei der
man den Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei Auslaufen des
Arbeitslosengeldes vergrößern kann. Das könnte man
natürlich – da haben Sie einen Ansatz, den man noch
ausarbeiten kann – machen, indem man das Alter, die
Zugehörigkeit zum Betrieb und die Dauer der Einzah-
lung in die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt. Das
wäre ein intelligenter Vorschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die Bürokratie abbauen? – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so kompliziert, das versteht kein Mensch!)


Aber ich sage auch: Leistungsanreize fördern heißt
auch, etwas im steuerlichen Bereich zu tun. Wenn Sie
eine Agenda für 2010 vorschlagen und kein Wort über
die bisher schon verabschiedeten Steuerreformstufen hi-
naus sagen, dann ist das zu wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen ein einfaches, ein transparentes, ein wirk-
lich niedriges Steuersystem. Das wird noch viele Auf-
gaben mit sich bringen.


(Gernot Erler [SPD]: Das sagen Sie seit 100 Jahren!)


– Ich bitte Sie, wir hatten mit den Petersberger Beschlüs-
sen einen hervorragenden Einstieg. Sie haben sie verhin-
dert. Darauf können wir zurückkommen, daran können
wir anknüpfen und dann weitermachen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie waren letztlich bei der Zinsabgeltungsteuer wie-
der ganz unkonkret und haben zwar von Kontrollen, aber
unbürokratischen und dennoch wirksamen Kontrollen
gesprochen. Das erinnert an den Spruch: Wasch mir den
Pelz, aber mach mich nicht nass. So kommen wir doch
nicht weiter. Ich hatte von Ihnen erwartet, dass Sie klipp
und klar sagen: Kontrollmitteilungen in unserem Steuer-
system führen nicht dazu, dass das Geld zurückkommt,
sondern dazu, dass noch mehr Geld nach draußen geht.
Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die vierte Leitidee hat etwas damit zu tun, dass wir
im internationalen Wettbewerb stehen, dass die deut-
schen Sozialsysteme an den Faktor Arbeit gekoppelt
sind und dass dies unsere Arbeit teuer macht, weswegen
Arbeitsplätze oft nur vergleichsweise schwer geschaffen
werden können. Aus genau diesem Grunde müssen die
Lohnnebenkosten unter 40 Prozent liegen.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Herr Bundeskanzler, ich hätte bei der Beschreibung
einer Agenda 2010 schon gern gehört, ob Sie sich die-
sem Ziel noch verpflichtet fühlen oder ob es Sie nicht
mehr interessiert, weil Sie sagen, dass es lediglich Teil
der Koalitionsvereinbarung von 1998 war.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es ein wenig konkreter gemacht als Sie!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
Ich halte dieses Ziel nach wie vor für richtig und wich-
tig. Es muss kurzfristig erreicht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben in diesem Zusammenhang das Ziel ange-
sprochen, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Es ist
richtig, dass die Krankenkassenbeiträge auf unter
13 Prozent sinken müssen. Sie haben sich dem Gedan-
ken von Selbstbehalten genähert. Das begrüße ich aus-
drücklich.


(Zuruf von der SPD: Aber?)


Sie müssen die Höhe der Einsparungen allerdings quan-
tifizieren. Bei einer Senkung der Krankenkassenbeiträge
auf unter 13 Prozent bestehen im Bundeshaushalt nicht
unendlich viele Spielräume, die versicherungsfremden
Leistungen steuerlich zu finanzieren. Eine solche Finan-
zierung versicherungsfremder Leistungen unterstützen
wir grundsätzlich.

Durch die Herausnahme einiger Leistungen aus dem
Angebot der gesetzlichen Krankenkassen – Sie haben
dazu einen Vorschlag gemacht – und durch die Einfüh-
rung von Selbstbehalten muss es zu Einsparungen in
Höhe von fast 2 Prozentpunkten kommen, damit die
Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken
können. Im Bereich des Krankengeldes lassen sich
7,7 Milliarden Euro einsparen. Dadurch lässt sich der
Beitragssatz um 0,8 Prozentpunkte senken. Entspre-
chend groß müssen der Selbstbehalt und die durch den
Wettbewerb hervorgerufenen Einsparungen sein, damit
Sie Ihr Ziel wirklich erreichen. Wir haben uns mit die-
sem Thema intensiv befasst. Sie werden Ihr Ziel durch
die Umsetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben,
noch nicht erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir verurteilen Ihr Vorhaben, dafür zu sorgen, dass
Krankengeldzahlungen privat versichert werden müssen,
nicht sofort; aber bitte diffamieren Sie dann auch nicht
unseren Vorschlag, zu prüfen, ob man eine solche Rege-
lung auch für den Bereich der Zahnbehandlung einfüh-
ren kann.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und zwar sehr günstig! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mut zur Lücke!)


Es gibt in Europa viele Länder, zum Beispiel Norwegen,
in denen die Zahnbehandlung privat versichert werden
muss. In diesen Ländern gibt es ganze Jahrgänge von
Kindern, die dank einer entsprechenden Prävention ka-
riesfrei sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle wirklich
nicht die alten sozialdemokratischen Neiddiskussionen
führen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen also auf unter 13 Prozent Krankenkassen-
beiträge, 5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeiträge
und deutlich unter 20 Prozent Rentenversicherungsbei-
träge kommen. Wenn die Prognosen richtig sind – daran
gibt es keinen Zweifel –, dann werden die Rentenver-
sicherungsbeiträge im Sommer nicht mehr bei 19,5,
sondern bei 19,9 Prozent liegen, Herr Bundeskanzler.
Dazu kommen 1,5 Prozent Beiträge für die Pflegever-
sicherung, bei der es noch viele Probleme gibt.

Zur Rente möchte ich Folgendes sagen: Sie haben den
von uns eingeführten demographischen Faktor fälsch-
licherweise abgeschafft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Ein Riesenfehler!)


Wir haben schon damals gesagt, dass selbst der von uns
eingeführte demographische Faktor der realen Alterung
der deutschen Bevölkerung noch nicht im ausreichenden
Maße gerecht wird. Lassen Sie uns gemeinsam wieder
einen ehrlichen demographischen Faktor ins Visier neh-
men, damit man wirklich realistische Rentenprognosen
vornehmen kann!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist – ich
sage das vollkommen unaufgeregt; auch wir hätten die-
sen Weg eingeschlagen, wenn wir weiter regiert hätten –
vom Grundsatz her richtig. Wir kritisieren, dass dank Ih-
rer Politik ein bürokratisches Monster daraus entstanden
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schon heute könnten 30 Prozent der Bevölkerung bereit
sein, ein Angebot der staatlich geförderten Altersvor-
sorge in Anspruch zu nehmen, wenn das Ganze nicht so
kompliziert wäre. Das ist der Punkt. Wir sind jederzeit
bereit, zu einer Entbürokratisierung auf diesem Gebiet
beizutragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In der nächsten Zeit werden wir über die Zukunft der
sozialen Sicherung sprechen. Vielleicht kann einer der
Nachredner einmal klarstellen, ob Sie das Ziel haben, die
Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken oder
nicht. Ist das Ihr Anspruch oder nicht? Ich habe eine sol-
che Klarstellung vermisst und halte dies für ein großes
Versäumnis in dieser Regierungserklärung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, wir brauchen eine fünfte
Leitidee. Wir müssen Vertrauen in die Menschen set-
zen und den Rückzug des Staates ermöglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben heute hier ein Investitionsprogramm vor-
geschlagen. Vor einem oder anderthalb Jahren haben so-
gar Sie selbst in Ihren eigenen Ansprachen derartige Pro-
gramme noch ins Abseits gestellt. Sie haben auf dem
Deutschen Baugewerbetag gesagt, dass die Bauindustrie
schrumpfen müsse und dass es keinen Sinn mache, sie
durch Strohfeuerprogramme – das waren Ihre eigenen
Worte – weiter in eine Situation zu versetzen,


(Zuruf von der SPD: Da hatte er Recht!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
die unrealistisch sei.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind keine Strohfeuer!)


– Jetzt sagen Sie, das seien keine Strohfeuerprogramme.
Ich finde, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, die
Kommunen in eine finanzielle Lage zu bringen, die in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie
schlechter war.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Wir haben hier schon mehrmals Anträge eingebracht, in
denen wir fordern, die Gewerbesteuerumlage wieder
auf den alten Stand anzuheben. Stimmen Sie zu! Das
kostet nichts, aber es hilft den Kommunen, und zwar
dauerhaft und real, nicht nur einmalig durch ein kurzfris-
tiges Programm.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist der richtige Weg!)


Fast ein bisschen zynisch finde ich an diesem Pro-
gramm, dass viele Kommunen – das wissen Sie genauso
gut wie wir – so hoch verschuldet sind, dass sie nicht die
Erlaubnis bekommen werden, wieder einen Kredit auf-
zunehmen.


(Gernot Erler [SPD]: Dazu hat er doch etwas gesagt!)


– Dazu kann man gar nichts sagen, weil das der Kommu-
nalaufsicht unterliegt und weil ich nicht weiß, ob Sie
möchten, dass über die Verschuldung der Kommunen
die Legitimation dafür geschaffen wird, dass die Einhal-
tung der Stabilitätskriterien von Brüssel ausgesetzt wer-
den kann und Herr Eichel wieder sagen kann, die Kom-
munen seien es gewesen und nicht er. Das ist ein
komischer Verschiebebahnhof in Deutschland, den ich
nicht akzeptieren kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage Ihnen nach wie vor: Wenn wir vorankommen
wollen, dann müssen wir uns einer Staatsquote von
40 Prozent nähern. Das wird dauern und ohne Wachstum
nicht gehen. Aber es ist kein abwegiger, sondern ein
richtiger Anspruch, dass die Menschen in diesem Lande
von jedem verdienten Euro 60 Cent selbst verwalten dür-
fen und nur 40 Cent durch den Staat verwaltet werden.
Es ist ein Fehler von Herrn Müntefering, zu glauben, die
Privatpersonen müssten erst dem Staat seinen Anteil ge-
ben und behielten nur den Rest. Wir müssen an die Men-
schen glauben, an ihre Kreativität, ihr Leben selbst zu
gestalten. Das ist der große Unterschied zwischen Union
und Sozialdemokraten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit statt Müntefering!)


Wir wissen, dass wir die öffentlichen Haushalte sanie-
ren müssen. Das wird nur mit Wachstum funktionieren.
Deshalb müssen alle Wachstumskräfte gestärkt werden.
Wir müssen privatisieren. Herr Bundeskanzler, Sie ha-
ben gesagt, die Abwasserinvestitionen könnten über Ihr
Investitionsprogramm erfolgen. Ich hoffe, Sie lassen die
Mittel auch den privaten Abwasserbetreibern zukommen
und nicht nur den kommunalen;


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


denn wir wollen, dass Aufgaben, die privat genauso gut
wie kommunal erledigt werden können, privat erledigt
werden. Gebt den Privaten eine Chance in diesem Land;
das ist die Aufgabe!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir brauchen eine klarere
Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den ver-
schiedenen Ebenen, zwischen Kommunen und Ländern
und zwischen Bund und Ländern. Wenn Sie den Zeit-
raum bis 2010 in Betracht nehmen und kein einziges
Wort zu einer Föderalismusreform sagen, dann wird es
auch mit der Staatsquote unter 40 Prozent nichts werden.

Bei uns steht eine solche Föderalismusreform auf der
Tagesordnung. Wir wären sogar bereit, einmal darüber
nachzudenken, für eine solche Aufgabe einen Konvent
zu schaffen und Leute zu beauftragen – weil wir alle be-
fangen sind –, sich in Form dieses Konvents aus ihrer
Erfahrung unvoreingenommen das Wirrwarr von Zu-
ständigkeiten anzusehen, um herauszufinden, wie wir
die Aufgabenverteilung in diesem Lande besser organi-
sieren können. Die Union macht Ihnen hier ein Angebot.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir benötigen also fünf Leitbilder: konsequent
Investitionen in die Zukunft tätigen, Leistungsanreize
konsequent durchsetzen und jede politische Maßnahme
daraufhin überprüfen, Spaltung der Gesellschaft in Ar-
beitende und Arbeitslose überwinden, Arbeit im interna-
tionalen Vergleich wettbewerbsfähig machen und die
Staatsquote unter 40 Prozent drücken. An diesen Dingen
wird sich entscheiden, ob Deutschland wirklich einen
Platz an der Spitze innerhalb Europas erlangen wird oder
dort bleibt, wo es ist.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir wollen Stoiber!)


Um diesen Prozess für die Menschen nachvollziehbar
zu machen, biete ich Ihnen an, zunächst bis zum Jahre
2010 in diesem Hause jedes Jahr eine Debatte über
folgende sechs Punkte zu führen: Wachstum, Beschäf-
tigung, Investitionsquote, Höhe der Steuersätze, Lohn-
nebenkosten und Staatsquote. Wir sollten ein Bench-
marking einführen und unabhängige Fachleute damit
beauftragen, die notwendigen Zahlen zusammenzustel-
len, um damit zu zeigen, ob wir unseren eigenen Ansprü-
chen in Bezug auf unsere Politik selber gerecht werden.
Nur so werden wir die Menschen auf dem Reformweg
mitnehmen können. Sie müssen sehen, dass die notwen-
digen Änderungen zu ihrem eigenen Vorteil durchge-
führt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb muss das Credo der Wirtschafts- und Sozial-
politik lauten: Freiraum, Eigenverantwortung, mehr
Luft zum Atmen. Dieses Credo ist wichtig, denn dann,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
wenn wir nicht danach handeln, werden wir denjenigen,
die in diesem Lande Hilfe brauchen, nicht mehr helfen
können. Ich möchte nicht, dass die Behinderten in die-
sem Lande immer von Sozialhilfe abhängig sind. Sie
müssen raus aus der Sozialhilfe. Ich möchte nicht, dass
alleinerziehende Mütter von der Sozialhilfe abhängig
sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damit das gelingt, müssen Sie denen, die etwas schaf-
fen können, den Freiraum geben, auch etwas schaffen zu
dürfen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Kinderbetreuung!)


Der Staat muss sich im Bereich der Wirtschafts- und
Sozialpolitik zurückziehen, damit dort Hilfe geleistet
werden kann, wo Hilfe notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Das entspricht unserem Verständnis von Gerechtig-
keit. Ich erlebe häufig, dass heute vielen, die vielleicht
Hilfe bräuchten, nicht mehr so gut geholfen werden kann.
17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch die
Schwarzarbeit erwirtschaftet, obwohl Schwarzarbeit die
unsolidarischste Art von Tätigkeit ist. Das muss aufhö-
ren, denn dadurch konzentriert sich Solidarität auf im-
mer weniger Schultern in diesem Land und dadurch fal-
len Menschen aus dem solidarischen System heraus.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die andere Seite der Medaille des 21. Jahrhunderts
ist: So wie sich der Staat im Bereich der Wirtschafts- und
Sozialpolitik zurückziehen muss, muss er sich stärker
engagieren, wenn es um innere und äußere Sicherheit
geht. Das Ende des kalten Krieges hat uns eine Welt ge-
bracht, in der die Bedrohungen zwar anders sind, aber
Bedrohungen bleiben, mit denen wir uns werden aus-
einander setzen und für die wir Abschreckungskapazi-
täten entwickeln müssen. Diese Bedrohungen müssen
von uns angegangen werden. Dafür ist die Bundesrepu-
blik Deutschland und dafür ist Europa insgesamt noch
nicht gewappnet.

Deshalb geht es auch um die zweiten Gründerjahre
dieser Republik bezüglich einer neuen Außen- und
Sicherheitspolitik. Sie haben vom Frieden gesprochen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da sind wir jetzt sehr gespannt!)


Ich kann nur sagen: Das, was wir in den letzten Monaten
mit Blick auf den Irak erlebt haben, ist ein Trauerspiel.


(Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Reise nach Washington! – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


– Das habe ich mir gedacht. Herr Volmer, die Armselig-
keit kennt bei Ihnen keine Grenzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist wirklich traurig. Sie haben doch vier Jahre im
Auswärtigen Amt gesessen und müssten wissen, dass
spätestens seit dem 11. September 2001 jedem klar sein
muss, dass sich die Bedrohungen in dieser Welt zwar
verändert haben, dass sie aber real und nicht fiktiv sind.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt sagen Sie uns einmal: Was wollen Sie?)


Was in Sachen Irak passiert ist, ist ein Trauerspiel.
Denn wir müssen uns hier und heute damit auseinander
setzen, was die „Financial Times Deutschland“ dazu am
Dienstag geschrieben hat: Leider steht, noch bevor über-
haupt etwas passiert ist, der Sieger der Auseinanderset-
zung fest: Saddam Hussein.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Der Schaden, den der Diktator dem Westen bereits zuge-
fügt hat, ist kaum zu ermessen. – Ich teile diese Ein-
schätzung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Sieger heißt auf jeden Fall nicht Schröder!)


Dabei geht es um die Europäische Union, dabei geht
es um die NATO und es geht um die Rolle der UNO.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, es geht um den Frieden!)


Ich sage Ihnen: Wir haben die Aufgabe – das werden wir
vonseiten der Union tun – –


(Bundeskanzler Gerhard Schröder bekommt einen Blumenstrauß überreicht – Unruhe bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine Unverschämtheit! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine mutwillige Störung!)


– Ich finde, wir sollten ein bisschen großzügig sein. Wer
weiß, ob der Kanzler sonst Blumen bekommt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich denke, wir können trotz aller Kritik darüber hinweg-
sehen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da zeigt sich der rot-grüne Kindergarten! Und die Feigheit der Präsidentin!)


Zurück zur Außenpolitik. Ich sage in aller Ernsthaf-
tigkeit: Das 21. Jahrhundert und die neue Situation
Deutschlands nach der Wiedervereinigung fordern von
der Außenpolitik, eine klare Orientierung und feste Ko-
ordinaten zu geben. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundes-
kanzler: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht.
Ich füge hinzu: Deutsche Außenpolitik sollte deutschen
Interessen gelten.


(Zuruf von der SPD: Ja! – Ludwig Stiegler [SPD]: Das hätten Sie sich einmal in Washington überlegen sollen!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
Zu diesen deutschen Interessen gehören für mich zwei
Säulen. Die eine Säule ist ein gutes Verhältnis zu unse-
ren europäischen Nachbarn.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutschlands historische Krux war die Tatsache, dass es
Zeiten gab, in denen Deutschland die Balance nicht ge-
schafft hat und in denen Deutschland nicht in die Politik
seiner Nachbarn eingebunden war. Deshalb heißt es,
gute und partnerschaftliche Verhältnisse zu Frankreich


(Ludwig Stiegler [SPD]: Haben wir doch!)


und genauso gute Verhältnisse zu Polen, unserem ande-
ren Nachbarn, zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Haben wir die nicht?)


Einige von Ihnen werden in diesem Saal gesessen ha-
ben, als am 8. Mai des Jahres 1995 der damalige polni-
sche Außenminister Bartoszewski eindringlich und für
mich emotional sehr berührend zu uns gesagt hat: Bitte
machen Sie nie weder eine Politik von Deutschland und
Frankreich mit Russland, die über die Köpfe von Polen
hinweggeht. – Lassen Sie uns das gemeinsam beherzi-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Bei aller Partnerschaft mit Frankreich haben wir als
das größte Land Europas die Aufgabe, uns um die klei-
nen Länder in Europa zu kümmern.


(Jörg Tauss [SPD]: Andorra!)


– „Andorra!“ Sagen Sie einmal: Wie bekloppt sind Sie
eigentlich?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir hören Ihnen zu, wenn
es um ernsthafte Dinge geht. Wenn Sie in der Außen-
und Sicherheitspolitik nicht aufpassen, dann werden Sie
das, was wir in 50 Jahren deutscher Politik an Vertrauen,
an Berechenbarkeit und an Verlässlichkeit aufgebaut ha-
ben, in kurzer Zeit verspielen. Deshalb lassen Sie uns in
aller Ernsthaftigkeit – ich sage das mit großem Nach-
druck – über diese Fragen von Krieg und Frieden und
der Zukunft Deutschlands in diesem Hause sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu gehört eine politische Union in Europa.
Deutschland muss der Motor dieser politischen Union
sein. Bitte schauen Sie sich an, wo Europa im Augen-
blick steht: Es sind Bündnisse in Bündnissen gebildet
worden. Es gibt Spaltungen und Achsen außerhalb der
Bündnisse. Ich sage Ihnen ganz klar: Dies ist nicht gut
für das Projekt einer politischen Union. Deshalb muss
die Situation verändert werden. Ich sage dies ohne jede
Aggressivität, weil mir Europa am Herzen liegt. Aber
ich sage auch: Dazu gehören die neuen Mitgliedstaaten
genauso wie die alten. Dazu gehört ferner ein deutscher
Bundeskanzler, der über die Lippen bringen sollte, dass
die Worte des Präsidenten der Französischen Republik
nicht geeignet waren, das Selbstbewusstsein und das
Selbstverständnis der osteuropäischen Nachbarn richtig
zu beschreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Neben der europäischen gehört die transatlantische
Säule dazu. Für mich ist das ganz unverzichtbar. Wenn
Sie sich einmal über die wirklichen sicherheitspoliti-
schen Fähigkeiten Europas Gedanken machen, dann wis-
sen Sie, dass wir einen Sicherheitsverbund brauchen.
Deshalb brauchen wir die NATO, und zwar als eine
funktionsfähige, handlungsfähige Gemeinschaft, die un-
sere gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen ver-
treten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer sich vielleicht manchmal dem Trugschluss hin-
gibt, unser Europa sei so sicher, dass wir nie wieder Un-
terstützung brauchen, der hat beim furchtbaren Tod von
Zoran Djindjic vorgestern auf ganz erschreckende Weise
erfahren müssen, wie zart die Sicherheit und der Friede
selbst auf unserem Kontinent sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, mit
den Institutionen sorgsam umgehen! Wir brauchen auch
in Zukunft eine NATO, genauso wie wir eine funktions-
fähige UNO brauchen.

Nun sagt der Bundesaußenminister schon wieder:
über den Frieden nicht ein Wort! Herr Bundesaußenmi-
nister, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wenn eine uni-
onsgeführte Regierung seit September letzten Jahres die
Geschicke dieses Landes gelenkt hätte


(Peter Dreßen [SPD]: Gott sei Dank war das nicht so! – Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hätten wir schon längst einen Krieg im Irak! Und deutsche Soldaten! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– wenn Sie von uns eine Position erwarten, dürfen wir,
so finde ich, sehr wohl einmal darauf hinweisen, was wir
anders gemacht hätten –, wäre im Umgang mit dem
Konflikt im Irak die militärische Option als letztes
Mittel niemals ausgeschlossen worden.


(Jörg Tauss [SPD]: Das denken wir uns! – Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie wären vorneweg gelaufen! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen wäre das gar keine Option gewesen!)


Wir hätten das, was Sie erst im Februar gemacht haben,
nämlich die europäischen Staats- und Regierungschefs
zu einer gemeinsamen Erklärung zu bewegen, schon im
September initiiert. Die Erklärung vom Februar hätte
schon im September stehen können; daran besteht über-
haupt kein Zweifel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir hätten uns jeden Monat erneut getroffen und mit
dieser gemeinsamen europäischen Haltung wären wir
in ein Gespräch mit den Amerikanern gegangen. Ich






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
bin ganz sicher, wir hätten eine gemeinsame Position
gefunden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Gernot Erler [SPD]: Weltpolitik zum Selbermachen! – Joseph Fischer, Bundesminister: Welch ein Geeiere! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie auf der Regierungsbank einmal ruhig, Herr Minister!)


Wir hätten von Anfang an eine Befristung der Inspektio-
nen befürwortet.

Vielleicht kann man dann, wenn man so lange Minis-
ter ist wie Sie, Herr Fischer, nicht mehr gut zuhören,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dafür umso besser dazwischen quatschen!)


aber ich sage es Ihnen trotzdem: Wenn Sie einer Befris-
tung der Inspektionen zugestimmt hätten, dann hätten
Sie eine Entwicklung beeinflussen können, die sich
heute als eines der großen Dramen herausstellt, dann hät-
ten Sie nämlich die Parallelität des Aufbaus einer militä-
rischen Drohkulisse und des Zeitbedarfs der Inspekto-
ren erkannt und beides miteinander koordinieren
können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Chefinspekteur Blix sagt heute: Ich weiß, ohne eine
militärische Drohkulisse habe ich keinen Erfolg. – Dass
wir die anglo-amerikanische Drohkulisse brauchen, gibt
auch der französische Außenminister zu, dennoch oppo-
niert er gegen England und Amerika. Diese Art von Ar-
beitsaufteilung – die einen stellen die militärischen
Kräfte und die anderen sind für unbefristete Inspektio-
nen – geht in einer Gemeinsamkeit von Partnern nicht
auf. Das ist der zentrale Vorwurf, den wir Ihnen machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] – Ludwig Stiegler [SPD]: Ein Mangel an geistiger Weite!)


Deshalb kann ich bei allem, was passiert ist, nur die
ganz intensive Bitte an die Bundesregierung richten:
Versuchen Sie in den nächsten Tagen, in der UNO – auch
unter Aufbietung deutscher Kompromissbereitschaft –
eine Lösung zu finden, welche die UNO stärkt und die es
möglich macht, dass Saddam Hussein endlich wieder
Angst vor der westlichen Staatengemeinschaft hat. Die
Wahrheit nämlich ist: Derzeit kann er davon leben, dass
sie gespalten ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage in aller Klarheit und mit allem Nachdruck:
Unser Gegner ist nicht der amerikanische Präsident.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unser Gegner ist noch immer Saddam Hussein. Ich
glaube, darüber gibt es Einvernehmen in diesem Hause.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Diese Neuigkeiten haben wir gebraucht!)


Gestern wurde in einer AP-Meldung beschrieben, wie in
einer Art öffentlicher Zeremonie – das muss man sich wirk-
lich einmal vor Augen führen – im Auftrag von Saddam
Hussein 260 000 Dollar an 26 Familien von palästinen-
sischen Selbstmordattentätern als Lohn und Dank für das
„Märtyrertum“ übergeben wurden. Das macht deutlich,
dass die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, real
und nicht fiktiv ist. Ich bitte Sie, das jeden Tag zu beden-
ken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Sozialdemokratie in diesem Lande hat die Aufga-
ben, die aus dem Leben in einer völlig neuen Zeit er-
wachsen, nicht ausreichend verstanden.


(Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie verstanden?)


Die innere Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutsch-
land kann wieder in Ordnung gebracht werden. Dafür
aber brauchen Sie Mut, Ideen und vor allen Dingen ein
Konzept.

Meine Damen und Herren, Sie wurden in den vergan-
genen Tagen von Parteienforschern, aber auch von Ihren
eigenen Parteimitgliedern mehrfach daran erinnert, dass
die Krux Ihres politischen Handelns darin besteht, dass
Sie keine Werteordnung haben, nach der Sie Ihre Ent-
scheidungen ausrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD)


Deshalb – so hat es sinngemäß der ehemalige nieder-
sächsische Ministerpräsident gesagt – können Hinz und
Kunz verkünden, was immer sie wollen. Sie haben kei-
nen roten Faden, weil die innere Werteordnung fehlt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


– Lesen Sie, was im „Stern“ dazu steht!


(Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie die Aussagen von Herrn Merz!)


Ich bin froh, dass hier heute ein neuer niedersächsischer
Ministerpräsident anwesend ist.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Der redet auch anders als Herr Merz!)


Ich hoffe, dass Sie mit Ihrer 140-jährigen Tradition,
die Sie im Mai feiern können, eines Tages die Herausfor-
derungen und die Dimension der Herausforderungen, die
sich uns außen- und innenpolitisch im 21. Jahrhundert
stellen, vollständig verstehen. Ich kann Ihnen nur sagen:
Was wir heute gehört haben, waren punktuelle Antwor-
ten, die bei weitem nicht ausreichen, um das aus unse-
rem Land zu machen, was wir alle in diesem Haus aus
ihm machen wollen. Wir von der Union sind mit unse-
rem Herzen und dem Verständnis für die Menschen da-
bei, wenn es darum geht, die Menschen in die Lage zu






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angela Merkel
versetzen, ihre Fähigkeiten voll entfalten zu können, und
zwar im Sinne des Gemeinwohls.

Lassen Sie die Menschen dazu in der Lage sein! Las-
sen Sie uns ihnen die Kraft geben! Lassen Sie uns das
unterstützen, was in dieser Bundesrepublik Deutschland
Unterstützung braucht! Lassen Sie uns den Menschen
Optimismus geben! Lassen Sie eine Aufbruchstimmung
aufkommen! Wecken Sie den Gründergeist! Dann wird
es mit Deutschland wieder aufwärts gehen. Wir von der
Union arbeiten daran, mit Herz und Verstand.

Herzlichen Dank.


(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503200600


Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Franz Müntefering.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1503200700


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das hätte nun die Antwort der Opposition auf
die Regierungserklärung des Kanzlers sein sollen – war
es aber nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man hat schon gemerkt, wie Frau Merkel immer vor-
sichtig nach links hinten geguckt hat, um zu sehen, ob
ihr da nicht jemand im Nacken sitzt, der anschließend
die eigentliche Rede des Tages hält.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb hat sie 20 Minuten gebraucht, um zum ersten
Konkreten zu kommen. Das erste ganz Konkrete nach all
den Dingen, die sie zunächst angesprochen hat, war die
Schornsteinfegerbereichsverordnung.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ein bisschen weniger als das, was man von der
Opposition erwarten darf.

Das Zweite war ihre Feststellung, dass die kommuna-
len Finanzen so tief in den Keller gegangen sind. Das ist
nicht neu. Interessant wird es, wenn man sich einmal die
Statistik anguckt – wie es manchmal so ist, hat man sie
in der Tasche –: 1992 33,14 Milliarden, 1998 24,4 Mil-
liarden. Gucken Sie sich einmal dieses Diagramm an: So
war das. Das war in der Zeit, als Sie regiert haben. In der
Zeit ist die Investitionsfähigkeit der Kommunen so zu-
rückgegangen, wie es auf diesem Diagramm zu sehen
ist. Nachlesbar ist das im DIW-Wochenbericht 31/02.

Als Allererstes aber hat Frau Merkel gesagt, ohne sich
nach links hinten umzugucken – darauf muss man noch
einmal zurückkommen –, eigentlich gehörten die Minis-
terpräsidenten heute Morgen in den Bundesrat. Sie hat
Herrn Stoiber zur unerwünschten Person erklärt. Inzwi-
schen ist er wohl auch gegangen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Ich weiß nicht, ob ihm das so richtig bewusst gewesen
ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie waren auch schon besser!)


Eine Opposition, die in dieser Situation nicht weiß,
wer bei ihr die erste Geige spielt, ist eine schwache Op-
position. Sie sind eine schwache Opposition. Sie wissen
nicht, wer bei Ihnen das Sagen hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das gilt für die Innenpolitik und das gilt für die Au-
ßenpolitik. Frau Merkel, dazu muss doch noch ein Wort
gesagt werden. Die ungewöhnlich gebückte Haltung, in
der Sie über den Teich geflogen sind, und die Klassen-
strebermentalität, in der Sie sich in den USA erklärt ha-
ben, waren peinlich für die Führerin der Opposition in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da nutzt kein Schönreden und da nutzt es auch nichts,
sich die Weltpolitik nachher sozusagen aus dem Stabil-
baukasten noch einmal selbst zu erklären.

Die schlichte Wahrheit ist heute: Wenn Sie auf der
Regierungsbank hier säßen, wäre das Bemühen Deutsch-
lands um eine friedliche Lösung des Irakkonflikts nicht
so erfolgreich und wäre die Welt nicht so weit gekom-
men. Wir sind stolz auf das, was Gerd Schröder und
Joschka Fischer hier geleistet haben und auch in Zukunft
leisten werden.


(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das war mutig und vorausschauend, als viele, auch bei
uns im Land, noch gezweifelt haben. Es erweist sich nun
als richtig.

Mutig und vorausschauend war auch das, was der
Bundeskanzler heute dem Deutschen Bundestag


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht gesagt hat!)


für die Politik im Inneren des Landes verdeutlicht hat.
Herr Bundeskanzler, Sie haben die volle Unterstützung
der SPD-Bundestagsfraktion für diese Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter, Müntefering! )


Deutschland hat Struktur- und Konjunkturprobleme –
andere Länder übrigens auch; aber das ist kein Trost.
Anstrengung ist gefordert. Wohlstand ist in Deutschland
aufbauend auf den Trümmern von 1945 gewachsen. Wir
haben uns in Deutschland an Wohlstand gewöhnt, daran,
dass er wächst, und haben nicht immer realisiert, dass er






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
nicht selbstverständlich ist, dass er stets immer wieder
neu und unter anderen Bedingungen gesichert und wei-
terentwickelt werden muss, dass Wohlstand Vorausset-
zungen hat. Wenn wir uns in Deutschland anstrengen,
dann brauchen wir keine Angst zu haben. Wenn sich je-
der und jede anstrengen, brauchen wir keine Sorgen zu
haben, was die Zukunft angeht. Das Potenzial für eine
gute Zukunft in Deutschland, dafür, in Wohlstand und
sozialer Sicherheit zu leben, ist gegeben.


(Beifall bei der SPD)


Richtig, die Regierung muss sich anstrengen. Aber
auch die Parteien, der Bundestag, der Bundesrat und
viele andere im Land müssen sich anstrengen. Wir sind
dazu bereit. Auch die Opposition muss sich im Übrigen
anstrengen. Ein bisschen weniger Besserwisserei, Herr
Merz, und ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit,
Frau Merkel, was die Opposition angeht, wären schon
gut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Oberlehrer!)


Blockieren allein, Herr Wulff und Herr Stoiber, reicht
nicht.

In Deutschland sitzen zu viele auf der Tribüne – die
Opposition gehört dazu; ich meine nicht Sie hier oben
auf der Tribüne, sondern die politische Landschaft, die
Gesellschaft –, die zuschauen und sagen, was alles nicht
geht und wie schlimm alles in diesem Land ist. Es sind
zu wenige, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln
und die Dinge voranzubringen. Lassen Sie uns das mit-
einander machen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind selbstkritisch genug, um zuzugestehen: Ja-
wohl, wir machen Fehler. Aber ich sage Ihnen ebenfalls:
Wer sich, auch wenn er Fehler macht, anstrengt, ist tau-
sendmal besser als diejenigen, die nur herumsitzen und
sich das Maul zerreißen über das, was nicht geht. Wir
brauchen Leute, die bereit sind, die Ärmel hochzukrem-
peln, anzupacken und das Land nach vorne zu bringen.
Darum geht es.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da sind auch Sie von der Opposition gefragt. Das
geht nicht ohne Sie. Wir brauchen Sie dabei – nicht uns-
retwegen, sondern für das Land. Es wird eine große He-
rausforderung an die gesamte Opposition sein, wie sie
sich dieser Aufgabe stellt. Die Opposition gehört zur De-
mokratie. Sie muss ihren Teil dazu beitragen, dass die
Dinge gelingen können.

Die Strukturprobleme und Fragen – vielleicht auch die
Strukturkrise –, die wir haben, sind übrigens nicht neu.
Die Folgen der Globalisierung, der Europäisierung und
der demographischen Entwicklung waren schon in den
90er-Jahren erkennbar. Wir haben in Deutschland in den
90er-Jahren – ich meine das nicht nur parteipolitisch – die
Zeit verschlafen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben nicht hinreichend begriffen, dass außenpoli-
tisch und innenpolitisch viel zu tun gewesen wäre. Wir
haben uns in Deutschland mit Helmut Kohl an der Spitze
darauf verlassen, dass der liebe Gott sozusagen von al-
lein die Landschaften blühen lässt. Es ist nicht so. Wir
müssen unseren Teil dazu beitragen. Da ist innenpoli-
tisch und außenpolitisch einiges nachzuholen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja Unsinn! Wir haben Europa vorangebracht! Der Euro ist nicht von allein gekommen!)


– Herr Kauder, es ist schlimmer: Sie haben nicht nur die
Dinge, die hätten getan werden müssen, verschlafen, son-
dern haben die deutsche Einheit im Wesentlichen auf der
Grundlage unserer sozialen Sicherungssysteme finan-
ziert.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter großer Zustimmung der SPD!)


Jetzt schimpfen Sie, dass diese Sicherungssysteme nicht
funktionieren. Sie waren hauptschuldig daran, dass die-
ser Bereich explodiert ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ihre Ministerpräsidenten haben doch zugestimmt!)


Der Kanzler hat Ihnen die Zahlen genannt: Anstieg
der Lohnnebenkosten von 32 auf 43 Prozent. Es waren
doch Sie, die das zugelassen und dafür gesorgt haben,
dass Kosten hineingerechnet worden sind, die eigentlich
nicht hineingehört hätten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wundere mich im Übrigen immer, mit welcher To-
leranz Sie zugestehen, dass der gesamte Bereich der ille-
galen Beschäftigung zunehmend alle sozialen Siche-
rungssysteme belastet. Unternehmen, die in den großen
Unternehmensverbänden von Herrn Rogowski und
Herrn Hundt vertreten sind, sorgen mit Schwarzarbeit,
illegaler Beschäftigung und Subsubunternehmen, also an
den großen Unternehmen vorbei, dafür, dass der ehrliche
Unternehmer und der ehrliche Arbeitnehmer – das ist in
Deutschland leider wahr – die Dummen sind und die an-
deren sich ins Fäustchen lachen. Das darf so in Deutsch-
land nicht bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben zwischen 1998 und 2002 vieles in
Deutschland in Bewegung gebracht.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das kann man sagen!)


Wir haben uns außenpolitisch neu justiert. Diese Neujus-
tierung – gerade kam der Zuruf „Das kann man sagen“ –
ist uns zwar nicht leicht gefallen, aber wir alle sind stolz,
dass wir während unserer Regierungszeit – und nicht Sie –






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
diese Neujustierung vorgenommen haben. Die Bereit-
schaft, dass Deutschland als souveränes Land in Europa
Rechte und Pflichten mit allen Konsequenzen über-
nimmt, wie zum Beispiel auf dem Balkan, in Afghanis-
tan oder in anderen Teilen der Welt, geht auf die Erfolgs-
politik von Schröder und Fischer zurück und nicht auf
Ihre Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In den vier Jahren von 1998 bis 2002 haben wir die ga-
loppierende Neuverschuldung gebremst. 1998 musste
der Bundesfinanzminister von jeder Mark aus den Steu-
ereinnahmen des Bundes 22 Pfennig an Zinsen zahlen.
Heute sind es nur noch 19 Pfennig. Wir sind stolz auf
das, was wir in diesen vier Jahren erreicht haben. Diesen
Weg, die Höhe der Nettokreditaufnahme zu senken, wer-
den wir weitergehen und wir werden dieses Ziel weiter-
hin im Auge behalten, weil unsere Kinder und Kindes-
kinder von uns etwas anderes erben sollen als nur
Schuldscheine und Hypotheken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben in den letzten vier Jahren im Kern auch die
zusätzliche Alterssicherung beschlossen. Sie ist nun aus-
zugestalten.

Wir stehen nun vor der schweren Aufgabe – das ist
die Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode; ihre Erle-
digung wird allerdings länger als vier Jahre dauern –,
den Wohlstand dauerhaft zu sichern und den Sozialstaat
in seiner Substanz zu garantieren. So sagt es auch der
Koalitionsvertrag mit den Worten Erneuerung, Gerech-
tigkeit und Nachhaltigkeit. Im Regierungsprogramm der
Sozialdemokraten stehen dafür die Worte Erneuerung
und Zusammenhalt.

Wir wollen Wohlstand sichern und die Substanz des
Sozialstaates garantieren. Wenn man beide Aufgaben
ernst nimmt, erkennt man, dass man zuerst den Wohl-
stand sichern muss. Wir alle, die wir über soziale Ge-
rechtigkeit sprechen und sie erhalten wollen, müssen
immer bedenken, dass es soziale Gerechtigkeit auf ho-
hem wie auch auf niedrigem Niveau gibt. Wir alle gehen
automatisch davon aus, dass das Niveau der sozialen Ge-
rechtigkeit in Deutschland hoch ist und dass der Wohl-
stand, der über 50 Jahre gewachsen ist, mindestens so
bleibt wie heute. Das wollen wir auch erhalten. Aber
selbstverständlich ist das nicht. Deshalb ist es die vor-
rangige Aufgabe unserer Politik, dafür zu sorgen, dass
wir dieses hohe Niveau der sozialen Gerechtigkeit erhal-
ten, um darauf aufbauend den Sozialstaat in seiner Sub-
stanz so zu organisieren, wie diese Koalition das will.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zur Sicherung des Wohlstands tragen auch Investi-
tionen in Bildung und Forschung bei. Ich kann nur be-
stätigen, was manche Redner angesprochen haben und
was der Bundeskanzler zum Schluss seiner Regierungs-
erklärung verdeutlicht hat. Auch in der Rede von Frau
Merkel kam dieses Thema vor, allerdings hat sie es
falsch interpretiert. Frau Merkel, was Innovationen und
was Forschung und Technologie angeht, können wir uns
mit dem, was wir in den letzten vier Jahren erreicht ha-
ben, sehr gut sehen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung ist
seit 1998 um 25 Prozent gestiegen. Deshalb war es mög-
lich, auch in diesem Jahr die Mittel für die Deutsche For-
schungsgemeinschaft um 2,5 Prozent zu erhöhen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb liegen wir im internationalen Vergleich, was die
Ausgaben bei Forschung und Entwicklung angeht, im
oberen Mittelfeld. Bei den kleinen Biotechnologieunter-
nehmen sind wir Spitze. Die Quote der Studienanfänger
ist von 1999, als sie bei 28,5 Prozent lag, auf jetzt
35,6 Prozent gestiegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In den letzten Jahren haben wir 40 Lehrstühle für Exis-
tenzgründer geschaffen.

Trotz der guten Zahlen aus den letzten Jahren ist die
Aufgabe aber noch nicht erfüllt. Wenn man die Alters-
sicherung und die Sicherung des Sozialstaates gewährleis-
ten will, sind Innovationen und das Investieren in die
Köpfe und in die Herzen der Jungen, in die Forschung, in
die Entwicklung, in die Technologie und in die Existenz-
gründungen der entscheidende Punkt. Wichtiger als alles
andere ist, in die Köpfe und die Herzen der jungen Men-
schen zu investieren. Das ist die Zukunft des Landes. Dort
muss der Schwerpunkt unserer Politik in Zukunft liegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zur Wohlstandssicherung gehört, dass Jugendliche
eine Chance haben. Ich unterstütze ausdrücklich, was
Sie, Herr Bundeskanzler, zur Erwartung an die Unter-
nehmen gesagt haben. Darüber hinaus müssen auch die
Schulen, die Eltern und die jungen Menschen ihren Teil
dazu beitragen. Das Ziel, das sich die Koalition auf die
Fahnen geschrieben hat, ist, dass kein junger Mensch
von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit rutscht. Das ist
eine der wichtigsten Forderungen, die wir stellen und an
der wir festhalten müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Schlimmste, was wir jungen Menschen zumuten
können, ist, dass sie lernen, dass sie pauken – wir sagen
ihnen immer, wie wichtig das ist –, und wenn sie die
Schule beendet haben, müssen wir ihnen sagen, dass es
leider keine Stelle für sie gibt: Setze dich in die Ecke, du
bekommst Stütze, halte den Mund und störe uns nicht!
Das ist das Schlimmste, was jungen Menschen passieren
kann. Das verstößt gegen die Würde des Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
Deshalb brauchen wir das, was die Unternehmer und
die Politik leisten können, um an dieser Stelle zu stoppen
und die jungen Menschen zu fördern und zu fordern. Ich
unterstütze Wolfgang Clement ausdrücklich dabei, alles
dafür zu tun, dass wir an dieser Stelle anfangen. In
Deutschland gibt es 580 000 arbeitslose junge Menschen
unter 25 Jahre. Zwei Drittel davon haben keine Ausbil-
dung. Der Sockel der nicht ausgebildeten jungen Men-
schen steigt immer weiter. Das kann so nicht weiterge-
hen; denn das ist der Sockel, der in dieser Wirtschaft
später nicht mehr erwerbsfähig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zur Wohlstandssicherung gehört auch der Bereich der
Investitionen; der Kanzler hat es angesprochen und deut-
lich gemacht. Ich hoffe, dass Herr Stoiber inzwischen im
Bundesrat ist und dort dafür sorgt, dass das Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz doch beschlossen wird;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


denn davon hängt es ab, ob die Gemeinden bis zum
Jahre 2006 etwa 7 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfü-
gung haben. Man muss sich das noch einmal auf der
Zunge zergehen lassen: 7 Milliarden Euro erhalten die
Kommunen durch das Steuervergünstigungsabbauge-
setz zusätzlich.

Frau Merkel, es war Heuchelei und nicht ehrlich, dass
Sie uns hier mit Kulleraugen erzählt haben, man müsse
den Gemeinden helfen, damit sie ihren Aufgaben gerecht
werden können; denn Sie veranlassen gleichzeitig, dass
Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat dafür sorgen,
dass gegen das Gesetz gestimmt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Opposition muss dafür sorgen, dass die Kommunen
handlungsfähig sind.

Die CDU- und CSU-Oberbürgermeister und -Bürger-
meister haben die Folgen des Steuervergünstigungs-
abbaugesetzes schon längst in ihren Haushalten der
nächsten Jahre berücksichtigt. Es ist so absurd: Sie
kämpfen hier und im Bundesrat dagegen und die CDU-
und CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister rech-
nen dringend mit dem Geld, das wir ihnen geben wollen.
Sie wollen es ihnen aber verweigern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wohlstandssi-
cherung gehört auch das schwierige Kapitel, das ich mit
folgender Leitlinie überschreiben will: Alle Arbeit, die
es in Deutschland gibt, muss von denen getan werden,
die legalerweise in Deutschland sind. An dieser Stelle
kneifen wir oft. Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit,
sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmte
Arbeit mit einem bestimmten Status und einem be-
stimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle an-
fällt. Das geht nicht zusammen. Ich bitte dringend, dass
wir intensiv darüber diskutieren, was man hier machen
kann und muss. Es kann nicht sein, dass wir in Deutsch-
land eine hohe Arbeitslosenzahl haben und es Arbeit
gibt, die nicht getan wird, sodass Menschen aus dem
Ausland geholt werden müssen, die sie leisten. Es kann
nicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegen
des Status nicht erledigen.

Die Lösung dieses Problems ist nicht leicht. Durch
die Umsetzung des Hartz-Konzeptes haben wir damit
begonnen. Mit den Projekten, über die wir jetzt reden,
gehen wir die nächsten Schritte. Hierin stecken Fördern
und Fordern. Die, die wir dabei angucken, müssen wis-
sen, dass wir es ehrlich meinen. Wir wollen das nicht auf
Kosten der unteren Schicht und derer, die arbeitslos sind,
austragen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie im Kleinen
und im Großen die Chance haben, in den Arbeitsmarkt
hineinzuwachsen. Das ist unsere Aufgabe, an ihr haben
wir zu arbeiten. Ich bestehe aber darauf: Wir müssen al-
les dafür tun, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt,
von denen getan wird, die in legaler Weise in diesem
Land sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
die Aufgabe aller. Hier hat Hartz Recht gehabt – das ist
in den Debatten der vergangenen Monate ein wenig un-
tergegangen –: Er hat immer gesagt, dass die Politik das
nicht alleine kann und dass alle in der Gesellschaft an
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen sind.
Deshalb appelliere auch ich noch einmal an die Gemein-
den, die Landkreise und die Länder: Steigen Sie nicht
aus der Finanzierung von Beschäftigungsinitiativen und
Qualifizierungsgesellschaften vor Ort aus, damit die
Menschen eine Anlaufstelle haben und unterkommen
können. Wir brauchen sie auch in Zukunft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Kanzler hat deutlich gemacht – der Wirtschafts-
und Arbeitsminister tut das auch –, dass wir die Brücke
von der jetzigen Situation, die unbefriedigend ist, zu
dem, was Hartz bedeutet, bauen wollen. Das gilt auch
für das, was im nächsten Jahr, wenn die Arbeitslosen-
und die Sozialhilfe zusammenwachsen, Schritt für
Schritt zu leisten ist.

Zur Wohlstandssicherung gehört ein ehrliches Wort
über die Länge unserer Lebensarbeitszeit. Das waren
früher 50 Jahre. Mit 13 oder 14 Jahren begann man ei-
nen Beruf, mit 64 oder 65 Jahren stieg man aus dem Er-
werbsleben aus. Heute liegt das Durchschnittsalter beim
Arbeitsbeginn bei 21 Jahren, weil viele studieren. Übri-
gens sind das nicht zu viele, sondern eher noch zu we-
nig; manche finden auch keinen Job. Das Durchschnitts-
alter beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben liegt bei
59 Jahren. Die Lebenserwartung liegt heute höher als
1950, nämlich um sieben Jahre. Aber die Lebensarbeits-
zeit wird kürzer. Die ganze Last konzentriert sich auf die
38 Arbeitsjahre zwischen 21 und 59 Jahren. Das kann so
nicht weitergehen.

Deshalb müssen wir klar sagen: Es ist nötig, dass sich
das faktische Renteneintrittsalter von 59 Jahren auf
65 Jahre verschiebt. Das müssen wir erreichen. Wir müs-






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
sen uns von der Vorstellung trennen, es sei schick und so-
zialpolitisch vernünftig, einen Menschen mit 50, 52 oder
55 Jahren in Rente zu schicken. Nein, ein Mensch kann
und muss auch noch mit 55, 60 oder 65 Jahren die Chance
bekommen zu arbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei wird deutlich, dass ein vernünftiger Umgang
mit der Dauer des Arbeitslosengeldes an dieser Stelle
Sinn macht. Der frühe Ausstieg aus dem Erwerbsleben
ist kein biblisches Gesetz. Das ist vor zehn Jahren ge-
macht worden – viele haben damals Blüm Beifall ge-
klatscht –, als es darum ging, den großen Unternehmen
die Möglichkeit zu geben, Sozialpläne zu finanzieren.
Bei diesem Punkt geht es um Ehrlichkeit bzw. Unehr-
lichkeit. – Herr Gerhardt, Sie nicken; Frau Merkel kennt
diese Praxis noch nicht so genau. – Damals sind die Ar-
beitslosenversicherungsbeiträge kräftig angehoben wor-
den, damit große Unternehmen Menschen mit 55 oder
57 Jahren entlassen konnten, die ein hohes Arbeitslosen-
geld bekamen, um danach in Rente zu gehen. Das ist die
Wahrheit.

Wenn wir deutlich machen, dass wir es uns nicht leis-
ten können, dass Menschen mit 55 oder 57 Jahren in
Rente gehen, dann müssen wir auch sagen, wie wir dies
anders regeln. Dies wird keine Strafaktion. Da gibt es ei-
nen Vertrauensschutz. Aber wir müssen eine sinnvolle
Regelung finden, um die Wirtschaft und den Arbeits-
markt an dieser Stelle zu reformieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Wohlstand gehört, dass wir ein anderes großes
Arbeitspotenzial, das wir haben, besser als bisher nutzen.
Ich spreche von der Arbeitskraft der Frauen, von der Ge-
neration der jüngeren Frauen in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Erwerbstätigkeit der Frauen liegt im Westen bei
60 Prozent, im Osten bei 73 Prozent. Das kann so nicht
bleiben. Wir brauchen das Wissen, das Können und die
Kreativität von Frauen. Wir müssen ihnen auch Lebens-
chancen bieten. Das verbindet sich mit dem, was zwar
heute nicht Hauptthema ist, aber was ebenfalls auf unse-
rer Agenda steht: Hilfe zur Ganztagsbetreuung, damit
die Frauen die Chance bekommen, Familie und Beruf zu
vereinbaren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen in diesem Jahrzehnt endlich erreichen,
dass auf Parteitagen nicht nur über Quoten gesprochen
wird, sondern dass die Generation unserer Töchter und
Enkeltöchter die reale Chance hat, Familie und Beruf
vernünftig miteinander zu verbinden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wohlstand und soziale Gerechtigkeit: Soziale Gerech-
tigkeit ist nicht dasselbe wie Gleichheit. Gerechtigkeit
beinhaltet immer auch die Frage von Leistungsfähigkeit
und Leistungswilligkeit des Einzelnen. Soziale Gerech-
tigkeit ist aber nur möglich, wenn der Zusammenhalt in
der Gesellschaft organisiert ist.

Der Begriff der Eigenverantwortung, Frau Merkel,
schreckt uns nicht. Sie wissen: Die sozialdemokratische
Überzeugung orientiert sich immer am Einzelnen. Ei-
genverantwortung wird bei uns groß geschrieben. Aber
Eigenverantwortung ist nur glaubhaft, wenn bei aller
Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben, der
Staat, die Gemeinschaft aller – der Staat ist keine Krake,
die die Menschen ausbeuten will, sondern die berech-
tigte und vereinbarte Organisation der Gesellschaft –,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für Kindergär-
ten, Schulen und Hochschulen so zu gestalten, dass auch
Kinder aus Arbeiterfamilien diese Schulen besuchen
können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie können so viel reden, wie Sie wollen: Wir laufen
vor dem Staat nicht weg. Wir wissen, dass der Staat allen
Grund hat, sparsam zu sein und schlank zu werden. Jeder
Euro, den er ausgibt, ist das hart verdiente Geld seiner
Bürger. Aber ohne den Staat geht es nicht. Auch für die Zu-
kunft muss gelten: Eigenverantwortung und Zusammen-
halt, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit haben damit zu
tun, dass alle Menschen in der Gesellschaft handlungsfähig
bleiben und die Chance zur Selbstverwirklichung und
Eigenverantwortung erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sprechen viel über Generationengerechtigkeit.
Bei all dem, was wir zu den Sozialversicherungssyste-
men zu sagen haben, wird uns das noch beschäftigen.
Dafür bleibt heute nicht viel Zeit. Ich will aber deutlich
machen, dass wir nicht dem manchmal geäußerten Irr-
glauben anhängen, dass die totale Privatisierung aller
Lebensrisiken das Beste wäre. Ich sage Ihnen: Es gibt
in einer Gesellschaft nichts Besseres, als dass Menschen
für Menschen da sind


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und man sich bei existenziellen Lebensproblemen auf
Menschen verlassen kann. Diese sozialen Sicherungssys-
teme, die wir finanzieren, sind sicherer als alle Lebens-
versicherungen und Aktien. Wir wollen, dass Generatio-
nen auch in Zukunft im vernünftigen Gleichschritt – nach
dem Motto: Jeder trägt seine Last – füreinander sorgen.
Das ist besser als alles andere.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das gilt im Übrigen auch – ich bin sehr dankbar dafür,
dass es in diesem Zusammenhang klare Worte gab – für
die gesetzliche Krankenversicherung. Manche sagen:
Ich weiß nicht, ob ich das wieder herausbekomme, was






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
ich eingezahlt habe. Das ist in der Tat so. Das ist aber
auch nicht der Sinn. Eine Krankenversicherung ist kein
Sparklub. Die Krankenversicherung funktioniert nur,
wenn viele wissen, dass sie mehr einzahlen, als sie he-
rausbekommen, damit einige, die darauf angewiesen
sind, mehr herausbekommen, als sie einzahlen. So funk-
tioniert das ganze System.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jeder kann der Betroffene sein, jeder kann – auch in
jungen Jahren – verunglücken oder behindert sein und
viele Jahre lang darauf angewiesen sein, dass sich die
Gesellschaft für ihn engagiert. Insofern steht dieses Prin-
zip nicht zur Disposition.

Zur sozialen Gerechtigkeit gehört, dass alle Gruppen
– der Kanzler hat das deutlich gemacht –, auch der öf-
fentliche Bereich, ihren Teil leisten. Ohne jemandem
vorzugreifen, sage ich deshalb: Die Koalitionsfraktionen
haben gestern vereinbart, dem Deutschen Bundestag
vorzuschlagen, zum 1. Januar 2004 die Diäten nicht zu
erhöhen und das übliche Sterbegeld für Abgeordnete ab-
zuschaffen. Mit diesem Vorschlag leisten wir einen Teil
unseres Beitrages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir in Deutschland die Dinge in den Griff be-
kommen wollen, brauchen wir das Miteinander. Das
wissen wir. Ein Großteil dessen, was der Kanzler vorge-
schlagen hat, können wir nicht allein mit der Mehrheit
des Bundestages erreichen. Dafür brauchen wir die Zu-
sammenarbeit und die Zustimmung des Bundesrats. Bei
allem Streit muss es im Interesse des Landes möglich
sein – darauf setzen wir –, dass das gelingt.

Die Koalition und diejenigen aus der CDU/CSU, die
mit sozialer Marktwirtschaft noch etwas anfangen kön-
nen, können zusammenarbeiten und gemeinsam vernünf-
tige Gesetze machen. Herr Schäuble, von Ihnen – Frau
Merkel sehe ich im Augenblick nicht – erwarte ich, dass
Sie diejenigen stoppen, die mit großer Lust und Arro-
ganz dabei sind, grundlegende Gemeinsamkeiten zu zer-
stören. Ich spreche Herrn Merz, Herrn Westerwelle und
auch Herrn Rogowski an: Das, was in den letzten Tagen
und Wochen gelaufen ist, muss aufhören. Herr Merz
sprach in Bezug auf die Gewerkschaften vom „Sumpf
austrocknen“. Betriebsräte sollte es im Osten nur noch in
Betrieben mit über 80 Beschäftigten und im Westen in
Betrieben mit über 20 Beschäftigten geben. Das Wahl-
recht sollte so geändert werden, dass nicht so viele Ab-
geordnete im Deutschen Bundestag Mitglied in einer
Gewerkschaft sein könnten.


(Zuruf von SPD: Unverschämtheit!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rührt an die
Grundwerte unserer Demokratie. Das ist kein Spaß
mehr, sondern das demaskiert Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Leute, die so reden, sind formal Demokraten, sie ha-
ben aber nicht verstanden, dass Wirtschaft und Demo-
kratie etwas miteinander zu tun haben. Die Wirtschaft ist
für die Menschen da und nicht umgekehrt. Die Demo-
kratie gehört zur Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich Herrn Westwelle höre, dann sehe ich Frau
Thatcher schon ihr Handtäschchen schwingen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Vorschläge gehen in die Richtung, die man von
Großbritannien kennt. Darauf lassen wir uns aber nicht
ein.

Der Deutsche Bundestag wird bei dem, was jetzt zu
tun ist, eine wichtige Rolle spielen.


(Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] hält eine Damenhandtasche hoch – Heiterkeit im ganzen Hause)


– Herr Westerwelle, das habe ich doch vermutet.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein! Das haben Sie gewusst, mein Lieber!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503200800


Eventkultur im Deutschen Bundestag.


Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1503200900


Bis zum Sommer werden wir drei große Komplexe in
Gesetzesform zusammenbinden: das Gesundheitswesen,
die Gemeindefinanzreform einschließlich Arbeitshilfe
und Sozialhilfe und den großen Komplex Mittelstand,
Wachstum, Handwerksordnung, Arbeitsmarkt, Arbeits-
recht. Wenn die Koalition die Eckpunkte hierfür fertig
hat, werden wir die Opposition einladen, gemeinsam mit
uns im Deutschen Bundestag diese Gesetze zu beraten
und zu verabschieden.

Es wäre nicht schlecht für die politische und demo-
kratische Kultur in unserem Land, wenn wir uns nicht
auf die scheinbare Selbstverständlichkeit einließen, dass
sich in der ersten Lesung die Koalition und die Opposi-
tion gegenüberstehen und dass das Vorhaben dann in den
Bundesrat kommt, wo es sozusagen im Rat der Weisen
beraten und letztlich im Vermittlungsausschuss entschie-
den wird. Es wäre weiß Gott nicht schlecht für dieses
Parlament, wenn wir nach der ersten Lesung, in der sich
unsere Meinung und die der Opposition gegenüberste-
hen, den Mut und die Entschlossenheit aufbringen wür-
den, in den Sitzungen der Ausschüsse und auch in Ge-
sprächen dafür zu sorgen, dass wir in der zweiten und
dritten Lesung zu gemeinsamen Entscheidungen kom-
men können. – Herr Seehofer nickt. Lassen Sie uns das
also einmal versuchen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
Ich will Ihnen auch noch einen Tipp geben, Frau
Merkel. Ich kann Frau Merkel gerade nicht entdecken.


(Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU] meldet sich)


– Entschuldigung. – Alle Gesetze, die wir im Bundestag
gemeinsam zustande bringen, bedeuten: Vorteil Merkel.


(Heiterkeit bei der SPD)


Alles, was wir im Bundesrat bzw. im Vermittlungsaus-
schuss erreichen, bedeutet: Vorteil Stoiber. Das ist doch
auch ein schönes Argument. Denken Sie deshalb einmal
darüber nach, wie Sie damit umgehen wollen!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat es bereits
angesprochen: Die deutsche Sozialdemokratie wird in
wenigen Wochen, am 23. Mai, 140 Jahre alt. Was die
Frage der Werte angeht, brauchen wir keine Ratschläge.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als die Sozialdemokraten seinerzeit zusammentraten,
hat der spätere Präsident des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins, Lassalle, ein Schreiben an die Konfe-
renz gerichtet, die nach seinen Beweggründen gefragt
hatte. Damals gab es in Deutschland nur die Arbeiterbil-
dungsvereine. – Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, gab es noch gar nicht. –


(Heiterkeit bei der SPD)


Daraufhin hat Lassalle gewissermaßen das erste Pro-
gramm meiner Partei verfasst. Damals waren die Pro-
gramme noch kürzer. Ich habe sie immer gerne gelesen.


(Heiterkeit bei der SPD)


Er hat zwei Grundwerte formuliert: Wenn du willst,
dass es besser wird, dann mach dich auf den Weg und
warte nicht ab, dass irgendjemand kommt, der das für
dich tut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der zweite lautet: Wenn du willst, dass es besser wird,
dann musst du wissen: Allein schaffst du das nicht. Du
brauchst Leute, mit denen zusammen du das tust.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Für diese Erkenntnis habt ihr vier Jahre gebraucht!)


Er hat damals gesagt: Geh in einen Verein! Wir würden
heute sagen: Mach in einer der demokratischen Parteien
mit! Am besten in unserer; das ist klar.

Das sind die Grundwerte, an denen wir uns orientie-
ren, Frau Merkel. Es geht darum, sich nicht mit den Ge-
gebenheiten abzufinden. Es geht nicht darum, zu glau-
ben, dass das Paradies auf Erden oder die Schaffung
eines neuen Menschen möglich sind. Es waren immer
linke oder rechte Fundamentalisten, die das geglaubt ha-
ben. Die Sozialdemokraten waren dagegen immer Refor-
mer, die gewusst haben: Wenn wir zwei Schritte nach
vorn gehen, gehen wir einen oder manchmal sogar zwei
Schritte zurück. Aber wir lassen uns dabei nicht in die
Knie zwingen.


(Beifall bei der SPD)


Ich versichere Ihnen: Wir werden auch das schaffen.
Wir werden Deutschland und der internationalen Gesell-
schaft zeigen, dass wir auf internationaler Ebene wie
auch in Deutschland diejenigen sind, die besser als alle
anderen politischen Gruppen in diesem Land in dieser
Koalition mit den Grünen garantieren können, dass in
Deutschland Wohlstand und soziale Gerechtigkeit dauer-
haft gewährleistet bleiben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Langanhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bundeskanzler Gerhard Schröder überreicht dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering einen Blumenstrauß – Bundesminister Otto Schily gratuliert dem Fraktionsvorsitzenden)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503201000


Für die FDP erhält jetzt der Abgeordnete Guido
Westerwelle das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1503201100


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Kollege Müntefering, ich möchte mich jetzt nicht über
die bei Ihnen und bei mir neu entdeckte Leidenschaft für
Handtaschen unterhalten. Aber das, was gerade stattge-
funden hat, nämlich dass der Bundeskanzler Ihnen, Herr
Kollege Müntefering, hier einen Blumenstrauß über-
reicht hat, ist bemerkenswert.


(Franz Müntefering [SPD]: Da ist leider ein bisschen viel Gelb darin, Herr Westerwelle!)


– Um das klar zu sagen: Blumen können gar nicht genug
Gelb haben. – Das ist, in allem Ernst, deshalb besonders
bemerkenswert, Herr Kollege Müntefering, weil Sie
während und besonders am Schluss Ihrer Rede genau
das zum Ausdruck gebracht haben, was wir als Opposi-
tion an Ihnen kritisieren. Für Sie ist zum Beispiel soziale
Gerechtigkeit ausschließlich eine Kategorie des Staates.
Wir setzen dagegen auf die Bürgergesellschaft. Das ist
der große Unterschied.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist auch bemerkenswert, wie Sie am Schluss Ihrer
Rede die große Tradition der Sozialdemokraten – nie-
mand würde ihnen diese absprechen – beschworen ha-
ben. Sie haben im Grunde genommen darauf verwiesen,
was vor 140 Jahren wie besprochen wurde. Vor dem
Hintergrund dieses Weltbilds des 19. Jahrhunderts den-
ken und handeln Sie heute noch immer. Das ist das Pro-
blem der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
Sie haben vor etwa drei Monaten gegenüber dem „Ta-
gesspiegel“ wörtlich gesagt – das ist, auf drei Sätze ge-
bracht, die Geisteshaltung der Sozialdemokraten in die-
sem Haus –:

Dennoch, was wir machen, ist richtig. Weniger für
den privaten Konsum und dem Staat Geld geben,
damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben
erfüllen können. Dazu muss man sich auch beken-
nen.

Herr Bundeskanzler, genau dazu – mehr für den Staat,
weniger für die Bürger – haben Sie sich mit Ihrem Kon-
junkturprogramm bekannt. Wir sind der Meinung, dass
es umgekehrt besser ist, und sagen deshalb: Gebt den
Bürgern mehr Freiheit, mehr Mittel und mehr Möglich-
keiten, dann geht es auch dem Staat besser! Das ist der
fundamentale Unterschied zwischen Regierung und Op-
position.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die heutige Regierungserklärung des Bundeskanz-
lers, vor allem die Schlusspointe, hat durchaus einen be-
merkenswerten Sinn für Humor offenbart. Am Schluss
seiner Rede hat der Bundeskanzler wörtlich gesagt:

Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen,
dass Probleme auf die lange Bank geschoben wer-
den.

Das fällt einem Bundeskanzler ein, der am heutigen Tag
1 600 Tage im Amt ist! Genau das ist das Problem: Die
Reden des Bundeskanzlers bewirken nichts. Sie müssen
handeln und endlich Ihren Worten Taten folgen lassen.
In der heutigen Regierungserklärung war keine Linie.
Sie war eine einzige Liste, nicht mehr!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die heutige Regierungserklärung sollte eigentlich
– tatsächlich ist nur ein bisschen Vibration übrig geblie-
ben – eine „Ruck-Rede“ werden. Sie ist vom Kanzleramt
inszeniert worden. Sie haben vorab entsprechende Erklä-
rungen an die Öffentlichkeit geben lassen. Allein das
Vorspiel zu dieser Rede – es wurde zum Beispiel die
Frage erörtert, welche Erwartungen man haben darf –
war bemerkenswert. Als ich dann aber die Regierungs-
erklärung, die mir gestern Nacht nach Hause gefaxt
wurde, gelesen habe, habe ich mich gefragt: Wo ist der
Ruck? Es war lediglich ein bisschen Gezitter, Gebibber
und Rhetorik. Diese Rede bestand in weiten Teilen aus
Lyrik. Sie haben vor allen Dingen dann geklatscht, wenn
es darum ging, die Interessen der Gewerkschaftsfunktio-
näre zu verteidigen, aber nicht, wenn es darum ging, das
Land zu modernisieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Übrigens, Herr Kollege Müntefering, man kann sich
im Deutschen Bundestag sicherlich eine Menge vorwer-
fen. Aber es ist, glaube ich, nicht angemessen, dass Sie
Oppositionspolitikern dieses Hauses vorwerfen, sie seien
nur Formaldemokraten. Darüber sollten Sie noch einmal
nachdenken.

Während Herr Kollege Müntefering hier erklärt hat,
wie wichtig die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre
sei, ist über die Agenturen die Nachricht über die erste
Reaktion Ihres grünen Parteifreundes Bsirske, des Verdi-
Chefs, verbreitet worden. Er sagte zur Regierungserklä-
rung von Gerhard Schröder wörtlich:

Nach 16 Jahren Umverteilung von unten nach oben
wird uns jetzt gesagt: Es war noch nicht genug Um-
verteilung.

Ich sage Ihnen dazu: Wir brauchen in Deutschland starke
Gewerkschaften, auch starke Tarifparteien. Aber wenn
Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr die Interessen ih-
rer Mitglieder, der Arbeitslosen oder der Arbeitnehmer
vertreten, dann gehören sie mit ihrem funktionärischen
Denken entmachtet und das werden wir in Angriff neh-
men, wobei wir auch einen Konflikt nicht scheuen.


(Beifall bei der FDP)


Genau das ist es doch, was in Wahrheit von Ihnen
hätte kommen müssen. Deswegen ist es in der Regie-
rungserklärung auch nicht gebracht worden. Wo Sie kon-
kret hätten werden müssen, haben Sie, Herr Bundes-
kanzler, Ausflüchte gemacht. Beispiel: Was ist denn in
Wahrheit das große Problem im Tarifvertragsrecht? Nie-
mand sagt doch: Das Tarifvertragsrecht soll abgeschafft
oder aufgehoben werden. Was wir sagen, ist, dass das
Flächentarifvertragsrecht so nicht mehr in eine mo-
derne Dienstleistungsgesellschaft passt. Das hat einen
ganz einfachen Grund. Wir erfahren immer wieder bei
Gesprächen und Verhandlungen auch in der Politik, dass
eine Unternehmerschaft und die Belegschaft eines Un-
ternehmens sich auf etwas verständigt haben oder ver-
ständigen wollen und anschließend Gewerkschaftsfunk-
tionäre kommen und im wahrsten Sinne des Wortes
einen roten Strich durch das machen, was souverän in
den Betrieben vereinbart wurde. Das hätte die Antwort
des Bundeskanzlers werden müssen, was die Flexibili-
sierung des Arbeitsmarktes betrifft. Wenn sich
75 Prozent einer Belegschaft mit der Betriebsführung
auf etwas verständigen, dann soll das auch gelten dürfen,
ohne dass ein Gewerkschaftsfunktionär auf seinem Le-
dersessel das verhindern kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dasselbe Problem zeigt sich bei dem, was hier zum
Kündigungsschutz gesagt worden ist. Ich freue mich,
dass der Bundeswirtschaftsminister noch da ist. Es ist
ohnehin eine Frage des Stils, was wir heute Vormittag er-
lebt haben. Vielen Dank an diejenigen von der Regie-
rung, die noch hier sind.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Der Bundeskanzler kommt gleich wieder!)


– Dass jemand einmal kurz weg ist, ist kein Problem. Ich
will Ihnen trotzdem eines dazu sagen, bei allem Respekt.
Ich habe das Verhalten der Regierung während der Rede
von Frau Kollegin Merkel verfolgt. Man kann zu jeder
Rede in diesem Hause eine bestimmte Meinung haben,
aber wie sich diese Regierung auf der Regierungsbank
mit Faxen und zum Teil Klamauk verhält, wenn Leute
von der Opposition reden,


(Zuruf von der SPD: Klamauk machen Sie doch!)







(C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
wirft die Frage nach dem Stil auf. Dieser Stil tut meiner
Einschätzung nach der Demokratie nicht gut.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der eine telefoniert mit dem Handy, der Außenminister
wandert durch die Gänge und macht irgendwelche Fa-
xen. Sie benehmen sich auf der Regierungsbank zum
Teil wie pubertierende Schüler im Aufklärungsunter-
richt. Das ist mittlerweile unerträglich geworden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte das Präsidium des Bundestages, sich dieser
Frage einmal anzunehmen und vor allen Dingen der Re-
gierung mitzuteilen, dass hier das Verfassungsorgan
Deutscher Bundestag tagt und die Regierung gefälligst
mit Respekt gegenüber den Parlamentariern aufzutreten
hat. Das muss an dieser Stelle endlich einmal gesagt
werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber es ist ja bemerkenswert, Herr Bundeskanzler,
um zur Sache zu kommen, zu dem zweiten konkreten
Punkt – –


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Na endlich!)


– Das zeigt es wieder einmal. In Ihrem Alter sollte man
aus der Pubertät wirklich langsam heraus sein. Wirklich,
das ist notwendig. Furchtbar: mit 60 wie ein 14-Jähriger!


(Franz Müntefering [SPD]: Da muss er ja selbst lachen!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
jetzt noch auf etwas in der Regierungserklärung antwor-
ten, auf etwas, was der Bundeskanzler zu einem ent-
scheidenden Thema gesagt hat. Das war in dem Kon-
zept, das Sie uns zur Verfügung gestellt haben, noch weit
konkreter. Da war man ja überrascht. In dem Konzept
hieß es zum Tarifvertragsrecht, Sie seien der Überzeu-
gung, es müsse mehr betriebliche Vereinbarungen geben,
aber das letzte Wort sollten dann die Tarifvertragspar-
teien haben. Denn alles, was innerbetrieblich vereinbart
werden solle, müsse sowieso von den Tarifvertragspar-
teien sanktioniert werden. Das ist doch das, was wir ha-
ben, und deshalb funktioniert es nicht.

Was Sie gesagt haben, Herr Bundeskanzler, war reine
Lyrik und reine Rhetorik. Sie sagen: Der Bundeswirt-
schaftsminister hat die volle Unterstützung, wenn er über
den Kündigungsschutz redet. Aber dazu haben Sie nichts
gesagt. Sie sagen, dass der Bundeswirtschaftsminister
die Unterstützung habe, Sie würden es so machen, wie er
es angekündigt habe, aber anschließend tragen Sie uns
zwei Gedankenmodelle vor, wie man es machen könnte.
So oder so, das ist Ihre Rede.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist für eine Regierungserklärung zu wenig.
Ich habe mit Interesse verfolgt, was der Bundeswirt-
schaftsminister – ich möchte ihm aus Sicht der Freien
Demokraten an dieser Stelle ausdrücklich Recht geben –
gestern in München gesagt hat. Herr Clement, Ihre Äu-
ßerungen werden folgendermaßen wiedergegeben – ich
zitiere –:

Unterdessen schlug der Bundesminister Wolfgang
Clement in der Debatte um eine Lockerung des
Kündigungsschutzes vor, Kleinstbetrieben mit bis
zu fünf Mitarbeitern künftig eine unbegrenzte Zahl
befristeter Neueinstellungen zu erlauben.

Das ist der entscheidende Punkt. Lassen Sie uns das
doch machen! Herr Bundeskanzler, bekennen Sie sich
dazu, ob Sie es machen oder ob Sie es nicht machen!


(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Haben Sie das nicht verstanden? Ich habe es doch vorgetragen!)


– Nein, Sie haben Wolken vor sich hergeschoben. Vorge-
tragen haben Sie eben nicht das, was man konkret erwar-
tet hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Bundeskanzler, genau das ist das Problem: Sie mei-
nen, eine medial geschickte Floskel sei schon ein Ersatz
für Regierungspolitik. Das funktioniert nun einmal nicht
und das merkt man an dieser Stelle ganz genau. Sie müs-
sen endlich Butter bei die Fische tun. Ein Bundeskanzler
der Bundesrepublik Deutschland darf sich nicht daran
messen lassen wollen, ob er seine Ziele im Jahr 2010 er-
reicht hat. Er muss erklären, welche Ergebnisse seine
Politik bis zum Ende der Legislaturperiode erzielt haben
soll und zu welchen Zeitpunkten er welche konkreten
Maßnahmen ergreift.


(Hubertus Heil [SPD]: Das hat er gerade getan! – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! So schwach waren Sie noch nie, Herr Westerwelle!)


In Wahrheit tun Sie nichts. Sie bleiben unverbindlich,
wo Sie konkret werden müssten. Konkret wurden Sie
nur da, wo Sie gesagt haben, was Sie nicht machen wol-
len. Das ist weiß Gott zu wenig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben gestern schon einmal erlebt, dass Sie sich
davon verabschiedet haben, das zu tun, was wirklich not-
wendig wäre. Die Debatte über die Neufassung des La-
denschlussgesetzes hat Bände gesprochen.

Das, was für einen Neuanfang in diesem Land not-
wendig wäre, lässt sich mit der Überschrift „Marktwirt-
schaftliche Erneuerung“ zusammenfassen. Es geht um
eine Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, zu der
Sie sich hätten bekennen müssen. Das heißt aber, dass
man sich den Problemen stellt. Sie müssten Steuersen-
kungen und Steuervereinfachungen vornehmen. Hier
kündigen Sie das Gegenteil an, nämlich die faktische
Ausweitung der Gewerbesteuer. Damit verabschieden

(A)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
Sie sich vom Ziel der Einkommensteuerreform im Sinne
von mehr Steuergerechtigkeit.


(Beifall bei der FDP)


Das passt einfach nicht zusammen.

Sie hätten sagen müssen, wie Sie das Tarifrecht kon-
kret ändern wollen. Im Hinblick auf das Kündigungs-
schutzgesetz hätten Sie sagen müssen: Das ist es, was
wir machen wollen. Besser wäre es, denjenigen Arbeit-
gebern, die bisher nur fünf Beschäftigte haben, die
Chance zu geben, bei einer guten Auftragslage einen
sechsten Arbeitnehmer zu beschäftigen, ohne dass das
für sie bedeutet – das wäre das Ergebnis eines erweiter-
ten, nicht rücknehmbaren Kündigungsschutzes –, in
schlechten Zeiten die gesamte Belegschaft entlassen und
Konkurs anmelden zu müssen. Die Situation in Deutsch-
land wäre besser, wenn es mehr Arbeitsplätze mit etwas
weniger Kündigungsschutz als eine Massenarbeitslosig-
keit mit vollem Kündigungsschutz gäbe.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu alldem kommt von Ihnen nichts Konkretes.

Sie behaupten, Ihr Vorhaben sei ein Investitionspro-
gramm und in Wahrheit gar kein Konjunkturprogramm.
Genauso hat man sich auch in den 70er-Jahren immer
ausgedrückt. In den 70er-Jahren hat es exakt vier Pro-
gramme wie das gegeben, das Sie heute vorgestellt ha-
ben: Im Jahre 1974 gab es zwei solcher Programme und
in den Jahren 1975 und 1977 je eins. Das Ergebnis waren
– das laste ich gar nicht einer Partei allein an; in dieser
Hinsicht haben wir genauso unser Lehrgeld gezahlt – zu-
nächst eine halbe Million Arbeitslose; später hat sich die
Arbeitslosenzahl mehr als verdoppelt.

Auch die Finanzierung Ihres Programms durch Mittel
der Kreditanstalt für Wiederaufbau bedeutet in Wahrheit
nichts anderes als eine Erhöhung der staatlichen Ausga-
ben. Sie setzen eben doch auf mehr Schulden. Ihre Re-
gierungserklärung enthielt bereits Begründungen für das
Scheitern Ihrer Politik. Ende des Jahres wird von zwei
Ursachen die Rede sein.

Erstens: die Weltlage. Sie werden sagen: Der instabile
Frieden und ein möglicher Krieg haben uns daran gehin-
dert, unsere Ziele zu erreichen. Ich wiederhole: Sie legen
schon jetzt Begründungen für das Scheitern Ihrer Politik
vor.

Zweitens – sehr bemerkenswert! –: Ihre Äußerungen
zum Stabilitätspakt.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ist das eine langweilige Rede! Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen!)


– Ich gehe genau auf die Regierungserklärung ein. Ich
glaube, dass der Bundeskanzler nach dieser langen Re-
gierungserklärung – die Regierungserklärungen werden
ja immer länger, auch wenn immer weniger drinsteht –
das Recht auf konkrete Antworten hat.
Sie sprechen von dem, was Sie vorbereiten. Sie sagen
zum Stabilitätspakt:

Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpretiert
werden. Er lässt Raum ... für Reaktionen auf unvor-
hergesehene Ereignisse.

Damit sagen Sie in Wahrheit schon jetzt: Sie glauben
gar nicht mehr daran, dass Sie eine stabile Finanzpolitik
durchhalten können. Sie haben die Katze aus dem Sack
gelassen. Das ist erstens schlecht für die Menschen, die
es betrifft; denn nichts ist so unsozial wie eine Weich-
währung. Zweitens ist es eine Katastrophe für Europa.
Wenn Deutschland diesen Weg der Instabilität geht, wer-
den die anderen Europäer ebenfalls ihren Reformdruck
sausen lassen. Dann ist der Euro irgendwann eine
Weichwährung. Das wollen wir Freidemokraten verhin-
dern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wollen ein Konjunkturprogramm wie in den 70er-
Jahren auflegen; aber wenn es konkret werden soll, sind
Sie nicht konkret geworden. Auf der Bundesratsbank saß
eben, wie ich finde, eine berechtigterweise große Zahl
von Ministerpräsidenten. Sie hätten sich bei Ihren eige-
nen Ministerpräsidenten einmal erkundigen können, was
sie zum Teil in ihren Ländern machen. Wenn Gutes um-
gesetzt wird, sollte das auch erwähnt werden. Das ist
doch kein Problem. Man freut sich schließlich darüber,
wenn das in die Debatte eingebracht werden kann. Es
geht dabei doch nicht um einen Streit über Urheber-
rechte. Aber wenn in einer Regierungserklärung zum
Thema Zukunft der Wirtschaft und Zukunft des Landes
kein einziges Wort zum Krebsübel des Mittelstandes und
unserer wirtschaftlichen Entwicklung gesagt wird,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


dazu, wie man das bürokratische Monstrum Staat etwas
zurückschneiden kann, zeigt das, dass Sie mit der Reali-
tät in Wahrheit nichts mehr zu tun haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine Regierungserklärung, die Deutschland eine neue
Perspektive geben soll, sich aber nicht an das Thema
Staatsausgaben – sprich: Subventionsabbau, Privatisie-
rungspolitik – herantraut, die sich vor der Flexibilisie-
rung des Arbeitsmarktes ins Unverbindliche flüchtet, die
auch noch das ganze Thema Bürokratieabbau ausspart,
eine solche Regierungserklärung ist nicht geeignet, die-
ses Land voranzubringen. So wird das nichts.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist bedauerlich für die Menschen. Ich glaube,
meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir an die-
ser Stelle als Opposition die große Aufgabe haben, mit
unserer gemeinsamen Mehrheit im Bundesrat richtig zu
handeln. Frau Kollegin Merkel hat Recht, wenn sie da-
rauf hinweist, dass Sie zu derselben Stunde, in der wir
im Deutschen Bundestag beraten, im Bundesrat Steuer-
erhöhungen zur Abstimmung stellen. Sagen Sie nicht,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
wir seien, weil wir diese Steuererhöhungen im Bundesrat
blockieren, die Übeltäter der Republik.


(Zuruf von der SPD: Doch, das seid ihr!)


Nein, wir werden auch künftig das unterstützen, was
in die richtige Richtung geht. Erneuerung der sozialen
Marktwirtschaft ja, aber mehr bürokratische Staatswirt-
schaft nein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wenn Sie die Steuern erhöhen wollen, bekommen Sie
das bei den neuen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat
nicht durch. Dafür werden die Oppositionsparteien in
diesem Hause und im Bundesrat sorgen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist sehr bedauerlich, dass Sie Ihre Chance nicht ge-
nutzt haben. Sie haben im Vorfeld eine große Erwar-
tungshaltung geschaffen. Diese Erwartungshaltung hat
dazu geführt, dass sehr viele Menschen heute Vormittag
Ihre Rede gehört haben, weil sie gedacht haben, wunders
was da kommt.


(Peter Dreßen [SPD]: Bei jeder Rede hätten Sie das gesagt!)


Sie dachten, jetzt käme eine Ruckrede wie damals von
Herzog. Das war es aber nicht.


(Franz Müntefering [SPD]: Ihre 18 Minuten sind um!)


Meine Damen und Herren, es wäre sehr schön gewe-
sen, wenn es an dieser Stelle heute mehr Bewegung ge-
geben hätte. Wir hätten Ihnen gerne Beifall gespendet.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ein bisschen mehr Ehrlichkeit würde Ihnen gut stehen, Herr Westerwelle!)


Aber dieser Politik können wir keine Zustimmung ge-
ben, weil sie das Land eher zurückführt, als es nach
vorne zu bringen. Sie sind auf dem alten Weg. Sie haben
sich nicht an das erinnert, was Sie 1999 gemeinsam mit
Tony Blair aufgeschrieben haben. Das hätten Sie hier sa-
gen sollen. Sie hätten Ihr altes Papier vorlegen sollen.
Darauf hätten wir vielleicht gesagt: Das kommt zwar ein
paar Jahre zu spät, aber wenigstens gehen Sie jetzt in die
richtige Richtung.

Sie sind mit dieser Regierung gescheitert und so kom-
men Sie nicht mehr auf die Beine. So bekommen Sie ein
paar Blumen von den Sozen, aber nicht die Zustimmung
des Volkes, meine sehr geehrten Damen und Herren.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503201200


Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende von
Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, das war schon eine Leistung: Sie haben fast
20 Minuten lang geredet, haben ein paar Bemerkungen
über gutes Benehmen gemacht, als ob wir hier nicht im
Deutschen Bundestag, sondern in der Tanzstunde wären,


(Heiterkeit des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


haben aber keinen einzigen inhaltlichen Vorschlag ge-
bracht. Ihr ganzes Gequatsche über Steuersenkungen
entbehrt jeglichen Fundaments.

Schauen wir uns einmal den Antrag an, den Sie einge-
bracht haben. Sie haben offenbar die Zeitungen gelesen.
Alle Vorschläge, die in den letzten Wochen und Monaten
in den Zeitungen standen, finden sich in Ihrem Antrag
auf grünem Papier wieder. Sie haben in der FDP aber of-
fensichtlich niemanden, der einen Taschenrechner be-
sitzt und die Zahlen am Ende zusammenrechnet. Das ist
das Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Kosten für die in Ihrem Antrag enthaltenen Vor-
schläge belaufen sich auf 45 Milliarden Euro. Sie hatten
aber keinen Taschenrechner dabei, was heute wieder be-
wiesen wurde.

Herr Westerwelle, Sie sprechen von der Bürgergesell-
schaft. Bei Ihnen bedeutet Bürgergesellschaft, dass jede
und jeder auf sich gestellt ist. Bei uns bedeutet Bürgerge-
sellschaft soziale Gerechtigkeit für alle. Das meinen wir,
wenn wir von Bürgergesellschaft reden, und nicht, dass
jeder seines Glückes Schmied sein soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die rot-grüne Koalition hat sich mit der Regierungs-
erklärung des Bundeskanzlers eindrucksvoll auf der in-
nenpolitischen Bühne zurückgemeldet.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Haben Sie die verlassen gehabt?)


Der Kanzler hat hier die Agenda 2010 vorgelegt. Auch
wenn die wirtschafts-, sozial- und weltpolitischen Bedin-
gungen extrem schwierig sind: Wir müssen die wirt-
schafts- und sozialpolitische Blockade überwinden, die
uns nicht erst seit vier oder fünf Jahren, sondern schon
seit mindestens zwei Jahrzehnten lähmt. Darum geht es
mit Blick auf das Gemeinwohl und damit wir die Verän-
derungen, die notwendig sind, sozial gerecht gestalten
können, und damit wir unserer Verantwortung für die
heutige sowie die kommenden Generationen gerecht
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Lassen Sie mich nun zu dem Thema kommen, das in
Deutschland wohl die meisten Menschen bewegt, näm-
lich das Thema Krieg und Frieden, die Frage des Krieges
im Irak. Ich glaube, wir sind uns hier im Hause alle ei-
nig: Nichts wäre uns lieber, als dass die Menschen in die-
sem Land von dem Terrorregime des Saddam Hussein so
schnell wie möglich befreit würden. Wir wissen aber
auch: Krieg in dieser Region würde zur Destabilisierung
beitragen. Er hätte unglaubliche Folgen für dieses Land
und die gesamte Region. Er hätte Folgen hinsichtlich der
terroristischen Gefahren für uns alle.

Deswegen bin ich so froh, dass diese Regierung sehr
frühzeitig gesagt hat: Nein, militärische Mittel im Irak
sind nicht richtig. Nein, wir werden alles tun und uns da-
für einsetzen, dass es nicht zu einem solchen Krieg
kommt. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei Bun-
deskanzler Schröder und Joschka Fischer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Merkel, mit dieser Frage haben Sie sich offen-
sichtlich nicht ausreichend beschäftigt. Es ist viel da-
rüber spekuliert worden, wann Deutschland aufgrund
seiner klaren Haltung gegen den Krieg isoliert sein
würde. Heute können wir festhalten: Deutschland steht
alles andere als isoliert da. Auch wenn die Motive der
Länder, die eine Allianz gegen den Krieg bilden, sehr
unterschiedlich sein mögen, ist klar: Es gibt in der Welt-
gemeinschaft heute eine breite Mehrheit dafür, zu sagen:
Eine Militärintervention im Irak wäre zu einem Zeit-
punkt, wo wir mit der friedlichen Entwaffnung weiter
sind, als wir es je gedacht haben, fatal. Aber das müssen
auch diejenigen erkennen – Herrn Pflüger kann ich im
Moment nicht entdecken –


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Doch! Er ist da!)


die der Meinung sind, dass das militärische Drohpoten-
zial so nötig wäre. Sie müssen sich heute auch dazu be-
kennen, dass militärische Interventionen zu diesem Zeit-
punkt nicht richtig sind. Das erwarte ich von Ihnen, aber
nicht das Rumgeeiere von Frau Merkel, das wir heute
wieder erlebt haben und angesichts dessen wir uns schon
seit Wochen fragen, was eigentlich die Position der
Union ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich nehme einmal die Aussagen dieser Woche. Frau
Merkel legte sich nicht fest. Sie sagte am Montag: Die
völkerrechtliche Betrachtung wird nur ein Element in
der Gesamtbewertung sein. Herr Glos am Dienstag: Die
Union wird im Konfliktfall keinen Zweifel daran lassen,
dass sie fest an der Seite der USA steht. Herr Kauder am
Dienstag: Wo wir stehen, haben wir klar gesagt: an der
Seite Amerikas. Er sagt weiter, dass die Union dennoch
keine eindeutige Position zu dem Konflikt formulieren
könne, da die Dinge ständig im Fluss seien. Herr
Schäuble am Donnerstag: Ein Krieg muss auf der Basis
des Völkerrechts geschehen.
Das ist die Positionierung der Union allein in dieser
Woche. Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger haben
ein Recht darauf, dass Sie endlich einmal sagen, wofür
Sie eigentlich sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Da wird von einer zweiten Resolution geredet. Frau
Merkel sagt uns und der Öffentlichkeit auf einer Presse-
konferenz am Montag, dass Sie darüber, wie Sie sich
verhalten werden, erst dann entscheiden werden, wenn
darüber abgestimmt worden ist.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Hussein kann sich auf Sie verlassen!)


Meine Kinder machen das so bei der Bundesliga: Erst
am Ende entscheiden sie sich, zu wem sie halten. Das ist
meistens der Tabellenführer. So machen Sie Politik.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Hussein kann sich gut auf Sie verlassen!)


Frau Merkel, wenn Sie heute wirklich Mut gehabt
hätten, dann hätten Sie ehrlich gesagt, dass die Position
von Bundeskanzler Schröder und von Außenminister
Fischer richtig ist, weil sie zu einer friedlichen Entwaff-
nung beiträgt. Bis zuletzt muss jede nur mögliche
Chance genutzt werden, um den Krieg im Irak zu verhin-
dern. Dafür steht die Bundesregierung und dafür stehen
wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich zur Innenpolitik kommen, wo es sich
ähnlich verhält. Frau Merkel, auch da wissen Sie offen-
sichtlich nicht, was eigentlich Ihre Positionierung ist. Sie
haben von dem Dreistufenplan und von Leitideen ge-
sprochen. Herr Stoiber hat einen 31-Stufen-Plan aufge-
stellt; dessen Umsetzung dauert vielleicht etwas länger.
Wir hätten uns gefreut, wenn wir erfahren hätten, was ei-
gentlich die Position der Union ist. Wenn ich mir Ihre
Rede und die Regierungserklärung des Herrn Bundes-
kanzlers vor Augen führe, dann muss ich ehrlich sagen,
dass Sie nicht sehr konkret geworden sind.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ach! Wenn hier einer konkret war!)


Es gab nur ein paar allgemeine Ideen, die man gut finden
kann oder auch nicht. Wo Sie konkret geworden sind,
Frau Merkel, haben Sie gesagt, dass Sie es so machen
wollen, wie es der Bundeskanzler machen will. Das ist
Ihre Politik und Ihr Dreistufenkonzept nach dem Motto
„Doppelt gemoppelt hält besser“. Vielleicht erfahren wir
bei den 31 Punkten etwas Konkretes. Ich glaube, das Hin
und Her, das wir zwischen Merkel und Stoiber erleben,
sollten wir Deutschland nicht antun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch wenn es in den letzten Wochen und Monaten für
diese Koalition nicht gut ausgesehen hat: Ich will daran






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt
erinnern, was wir in unserer ersten Regierungslegislatur-
periode getan haben – das ist mehr als das, was Sie, be-
sonders die FDP, in vielen Jahren Regierungszeit auf den
Weg gebracht haben –, und will nur die wichtigsten
Punkte nennen:


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Arbeitslosenzahl vergrößert!)


Haushaltskonsolidierung eingeleitet, eine wirklich mu-
tige Steuerreform auf den Weg gebracht, den ersten we-
sentlichen Reformschritt in der Rentenversicherung
durchgeführt, die Arbeitskosten durch die Ökosteuer ge-
senkt und damit zugleich zum Klimaschutz beigetragen.

Diese Instrumente reichen aber nicht mehr aus. Die
veränderte Situation führt dazu – das müssten auch Sie
langsam zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Her-
ren von der Opposition –, dass wir nicht mehr automa-
tisch auf Wachstum setzen können und dass wir uns
nicht mehr darauf verlassen können, dass es jährlich
Wachstum gibt. Deshalb brauchen wir ein Gesamtkon-
zept, wie es der Bundeskanzler heute vorgeschlagen hat.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist eben der falsche Ansatz! Sie wollen kein Wachstum! Das ist das Kernproblem!)


Zusätzlich hat die weltwirtschaftliche Situation Druck
erzeugt. Aber die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Es
geht um die demographische Entwicklung, die die Fi-
nanzgrundlagen der Sozialkassen sprengt. Es geht um
die hohen Lohnzusatzkosten, die durch die falsche Fi-
nanzierung der deutschen Einheit und durch einen Re-
formstau in den Sozialsystemen zustande gekommen
sind. Das führt dazu, dass nicht genügend Arbeitsplätze
entstehen, und das wiederum engt unsere Handlungs-
möglichkeiten ein, genauso wie die hohe Verschuldung
unsere Handlungsmöglichkeiten massiv einengt.

Wir brauchen den Mut zu Veränderungen. Dabei ist es
die Gerechtigkeit selbst, die nach Veränderungen ver-
langt. Denn nur so können wir das bewahren, was
Deutschland in sozialer Hinsicht ausmacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht darum, den Sozialstaat auf die radikal verän-
derten Bedingungen einzustellen: Wie wird Deutschland
attraktiver? Deutschland wird dadurch attraktiv, dass es
ein kinderfreundliches Land ist, dass es Vorreiter im Kli-
maschutz ist, dass hier die Schöpfung bewahrt wird, dass
es letztlich ein guter Standort für Innovationen ist. Wie
werden wir schneller, was den technischen Fortschritt
angeht? Wie werden wir besser, was die Qualität der so-
zialen Sicherung und was die Bildungschancen, die In-
vestitionen in die klugen Köpfe angeht? Aber auch: Wie
werden wir besser, was das Zusammenleben in Deutsch-
land angeht? Wir wollen Zuwanderung, die wir in die-
sem Land aus ökonomischen Gründen dringend brau-
chen,


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Soll doch weniger werden! Ist doch ein Begrenzungsgesetz!)

gestalten und sie durch notwendige Integrationsmaßnah-
men begleiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er all dies hier
umrissen hat.

Immer mehr Menschen in Deutschland sind ohne Job.
Wenn wir über Gerechtigkeit sprechen, dann – darin sind
wir uns hier wahrscheinlich alle einig – geht es vor allem
um Gerechtigkeit für jene, die heute außen vor sind. Das
ist die zentrale Frage: Wie sorgen wir dafür, dass nicht
immer mehr Menschen immer länger außen vor bleiben?
Dem muss sich alles unterordnen.

Deswegen reden wir darüber, wie es gelingen kann,
dass die Lohnzusatzkosten deutlich gesenkt werden. In
einem ersten Schritt wird dies im nächsten Jahr gesche-
hen. Ich kann nur all denen zustimmen, die sagen: Dieser
erste Schritt muss uns unter die 40-Prozent-Marge füh-
ren. Aber das wird nicht reichen,


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kommt doch erst mal dorthin! Fangt doch mal an!)


wir werden weitermachen müssen. Ich glaube, dass wir
es in den nächsten Jahren schaffen werden, die Lohnzu-
satzkosten um weitere Prozentpunkte zu senken. Eine
Senkung um 5 Prozent bis 2006 ist ein ehrgeiziges Ziel;
aber das ist zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deshalb macht es Sinn, die Bezugsdauer des Ar-
beitslosengeldes zu verkürzen – es geht eben nicht
mehr, dass die Unternehmen Ältere auf Kosten der Bei-
tragszahler aus dem Arbeitsprozess drängen – und be-
triebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen. Das ist hier
sehr deutlich vorgetragen worden, Herr Westerwelle; da
haben Sie einfach nicht zugehört. Die Unternehmen
müssen ihrer Pflicht zur Ausbildung in einem umfassen-
den Sinne gerecht werden.

Natürlich dürfen wir nicht nur über Maßnahmen des
zweiten Arbeitsmarktes und der Vermittlung reden, son-
dern müssen vor allem den ersten Arbeitsmarkt gestalten:
Wir brauchen Innovationen auf ökologischem Gebiet.
Weil dieser Wirtschaftszweig der neben dem Gesund-
heitsbereich einzige Wachstumssektor ist, kommt es auf
Innovationen in ökologischer Hinsicht besonders an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gerade in einer Situation, da der Ölpreis in die Höhe
schnellt und sich selbst die USA entschließen, Milliar-
den in die Förderung von Wasserstofftechnik zu investie-
ren, gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
Erdöl weltweit nur noch für 40 Jahre reichen wird, ist
eine langfristige Strategie, weg vom Erdöl, unverzicht-
bar – in unserem eigenen Interesse und im Interesse der
weltweiten Stabilität. Dazu müssen wir Energieeffizienz
und erneuerbare Energien miteinander kombinieren. Wir
müssen in Zukunftstechnologien investieren und ihnen
zum Durchbruch verhelfen. Letztlich müssen wir Öl-
importe ersetzen durch inländischen Ingenieursverstand






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt
und inländische Handwerksleistungen. Auf eine solche
Strategie kommt es jetzt an: weg vom Erdöl und hin zu
mehr Arbeitsplätzen. Wir werden das angehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Weil die Frage der Arbeitskosten so zentral ist, ist
auch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So-
zialhilfe richtig. 70 Prozent der Menschen, die heute
Arbeitslosenhilfe bekommen, erhalten weniger als den
Sozialhilfesatz. Deswegen ist es richtig, was der Bun-
deskanzler vorgeschlagen hat: dass diese Zusammenle-
gung vom Niveau her auf der Höhe der Sozialhilfe statt-
findet. Natürlich müssen diejenigen, Frau Merkel, die
Kinder haben, mehr bekommen. Das war von vornherein
klar und das war mit „grundsätzlich“ gemeint. An dieser
Stelle wird es darum gehen, zu neuen Angeboten zu
kommen.

Wenn wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem Ar-
beitslosengeld II zusammenlegen, muss das aber auf der
anderen Seite heißen, dass jeder und jede ein Angebot
erhält. Es muss jedem ermöglicht werden, Arbeit, Leih-
arbeit, eine Weiterbildung oder eine öffentliche Beschäf-
tigung zu bekommen. Ich sage dies in aller Klarheit: Es
kann nicht sein, dass die Arbeitsämter in diesem Land
heute eine Maßnahme nach der anderen streichen, die
insbesondere Jugendlichen zugute kommen. Zudem
kann ich die Tonlage, die mit Blick auf die ABM-Kräfte
in Ostdeutschland angeschlagen wird, nach dem Motto:
„Das ist eine Form von sozialer Hängematte“, nicht ak-
zeptieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diese Menschen in Ostdeutschland haben sich ihre Situ-
ation nicht ausgesucht. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Fördermaßnahmen fortgeführt werden.

Fördermaßnahmen sind auch im Bereich der öffentli-
chen Beschäftigung notwendig. Die Integration in den
Arbeitsmarkt braucht Strukturen. Diese müssen über-
prüft und zum Teil neu gestaltet werden. Wichtig aber
ist, dass sie gerade angesichts dieser Situation erhalten
bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, wir haben Ihre Auffassungen zum Kün-
digungsschutz gehört. Natürlich gibt es im Arbeitsrecht
eine Reihe von Verkrustungen. Mir hat ein junger Unter-
nehmer erzählt, er habe jetzt bereits drei Firmen mit je-
weils fünf Beschäftigten gegründet, weil er nicht wisse,
wie sich seine Situation in den nächsten Jahren entwi-
ckeln werde. Das kann doch nicht sein. Selbstverständ-
lich ist es gerecht, dass jemand, der seit 20 Jahren in ei-
nem Unternehmen beschäftigt ist, einen umfassenden
Kündigungsschutz hat. Auf der anderen Seite aber ist es
nicht gerecht, dass eine halbe Million Menschen unter
25 Jahren ohne Arbeit sind und noch nie auf dem ersten
Arbeitsmarkt tätig waren. Deswegen müssen wir in die-
sem Bereich etwas ändern.

Der Bundeskanzler hat hier sehr klar gesagt, um wel-
che Änderungen es geht: Es geht um Abfindungsregelun-
gen. Es geht darum, dass hinsichtlich des Kündigungs-
schutzes bei Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten
diejenigen, die befristet und in der Probezeit beschäftigt
sind, herausgerechnet werden. – Wenn Sie zugehört hät-
ten, Herr Westerwelle, hätten Sie das vielleicht verstan-
den. – Die dadurch geschaffene Flexibilität ist sozial ge-
recht und führt dazu, dass denjenigen, die sich schon
lange in der Arbeitslosigkeit befinden, der Zutritt zum
Arbeitsmarkt erleichtert wird. Dies wird in anderen Län-
dern bereits praktiziert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was uns nicht weiterhilft, Herr Westerwelle und Herr
Merz, ist ein Freund-Feind-Denken: hier die Wirtschaft,
da die Arbeitnehmer. Ihre Kriegserklärung gegen die
Gewerkschaften ist dümmlich und spalterisch. Wie
kommt es eigentlich, Herr Westerwelle – das interessiert
mich schon –, dass Sie so nicht auch über bestimmte Ge-
sundheitslobbyisten reden? – Sie tun dies nicht, weil Ih-
nen das nicht in Ihren Klientelkram passt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin froh, dass der Bundeskanzler klar gemacht
hat, dass in diesem Land weder die Arbeitgeberverbände
noch die Gewerkschaften regieren.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Das wussten wir schon vorher!)


Rot-Grün regiert und handelt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Kollegin, das sollten Sie, das machen Sie aber nicht!)


Alle müssen einen Beitrag dazu leisten.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Da müssen Sie etwas verwechseln!)


Wenn ich mir heute die Aufstellung in diesem Haus
ansehe, möchte ich an Folgendes erinnern: Es ist erst ein
knappes Jahr her, als Frau Merkel im Bayerischen früh-
stücken war. Wenn man sich die Chaostruppe heute an-
sieht, dann fragt man sich: Telefonieren Sie eigentlich
noch manchmal mit Herrn Stoiber oder laufen Ihre Vor-
stellungen inzwischen alle nebeneinanderher? Bezug des
Arbeitslosengeldes kürzer, länger oder gar nicht! Kündi-
gungsschutz so oder anders! Aus Ihren Reihen gibt es
dazu mindestens drei verschiedene Vorschläge. Als der
Bundeskanzler vorhin gesagt hat, er wolle erreichen,
dass der Beitrag zur Krankenversicherung auf unter
13 Prozentpunkte sinkt, hat Herr Stoiber ganz hektisch
in seinem Manuskript gestrichen. Wahrscheinlich stand
dort noch sein Vorschlag mit 14 Prozentpunkten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist Ihre Politik. Ganz schnell wird noch etwas geän-
dert. Frau Merkel wusste vermutlich noch nicht einmal,
dass er dies heute vorschlagen wollte. Ich kann nur sa-
gen: Ihr Verhalten ist schon sehr bemerkenswert.

Ich erinnere auch an gestern, als Sie hier ein wahres
Affentheater veranstaltet haben.






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Tiere sind geschützt! Reden Sie nicht von Affentheater!)


Sie haben einen Hammelsprung herbeigeführt wegen der
Verlängerung der Ladenöffnungszeiten um vier Stunden.
Man kann wirklich nur fragen: Wo ist die Reformkraft in
diesem Lande, wenn Sie wegen der Erweiterung der La-
denöffnungszeiten um vier Stunden einen Hammel-
sprung herbeiführen müssen, anstatt zuzustimmen, damit
sich in diesem Lande etwas bewegt?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie hatten doch gar keine Mehrheit! Sie reden Unsinn!)


Wenn Sie bei der Union herausfinden wollen, wer bei
Ihnen den Hut aufhat, dann müssen Sie – den Eindruck
habe ich – erst einmal einen Stuhlkreis – so kennen wir
das aus dem Kindergarten – veranstalten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: So etwas von peinlich!)


Zum Thema Rente. Frau Merkel, auch hier wieder
Fehlanzeige. Ich weiß nicht, ob Sie sich in den letzten
Jahren überhaupt einmal mit den Reformen der Renten-
versicherung beschäftigt haben. Sie haben wieder den
demographischen Faktor angeführt. Wie schön! Den
kennen wir schon. Wir haben einen demographischen
Faktor in die Rentenformel aufgenommen. Das haben
Sie vielleicht nicht mitbekommen, aber das ist so.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt ihn doch wieder außer Kraft gesetzt!)


Es gibt einen immer größeren Anteil älterer Men-
schen in unserem Land.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ach?)


Auch wenn wir mit der Privatvorsorge den entscheiden-
den Strukturschritt gemacht haben, müssen wir weiter
darauf reagieren. Das bewältigen wir, glaube ich, nicht
mit kurzfristigen Maßnahmen. Wir haben uns sehr darü-
ber geärgert – Sie wissen das –, dass im letzten Jahr be-
schlossen worden ist, die Rentenbeiträge steigen zu las-
sen und nicht auch von den Rentnerinnen und Rentnern
einen Beitrag zu verlangen. Mit solch kurzfristigen Maß-
nahmen kommen wir jetzt nicht weiter. Wir müssen auch
das auf eine solide Grundlage stellen.

Wenn sich die Rentnerinnen und Rentner beteiligen
sollen – sie sind dazu bereit –, dann müssen wir die
Grundlage für die Rentenanpassung verändern. Das kön-
nen wir so verändern, dass sich die Rentenanpassung
nicht mehr nur an denjenigen bemisst, die Einkommen
beziehen, sondern an all denjenigen, die Rentenbeiträge
zahlen, also auch an den Arbeitslosen. Wenn die Ren-
tenanpassung tatsächlich die Entwicklung des Lebens-
standards widerspiegeln soll, dann sollten wir das so
ändern; denn dann beteiligen sich alle, auch die Rentne-
rinnen und Rentner. Das ist ein Beitrag zu mehr Genera-
tionengerechtigkeit, der auf lange Sicht auch tatsächlich
Wirkung entfaltet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


1,6 Millionen Frauen und Männer in Deutschland,
und zwar meist Mütter, arbeiten nur deswegen nicht,
weil es keine Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Das
DIW rechnet vor: Wenn die alle in Arbeit wären, hätten
wir 6 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen und
fast 9 Milliarden Euro mehr in den Sozialkassen. Nun
würden sicherlich nicht alle Jobs bekommen; aber wir
brauchen weiterhin Fachkräfte in Deutschland und wir
verschenken weiterhin ein riesiges Potenzial. Wenn ich
mir das unendliche Gezerre um die Ganztagsschulen
angucke, Frau Merkel oder die Damen und Herren auf
der Bundesratsbank – so viele sind es nicht mehr –, dann
kann ich nur darum bitten: Lassen Sie uns das mit der
Kinderbetreuung anders machen! Herr Stoiber und Frau
Reiche – ich weiß nicht, ob sie noch hier ist –, vielleicht
unternehmen Sie noch einmal einen Anlauf. Frau Merkel
hat von der Demographie und von den vielen Schwierig-
keiten geredet. Nachdem Sie jetzt Ihr Familiengeld unter
Absingen des Chorals vom größten Wahlbetrug feierlich
beerdigt haben, bitte ich Sie: Machen Sie einen neuen
Anfang mit uns – für mehr Kinderbetreuung!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das war sehr originell, Frau Kollegin!)


Zu Recht hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen,
dass der entscheidende Reformteil im Gesundheitssys-
tem stattfinden muss, weil es dort falsche Anreize für
Patienten wie für Ärzte und Krankenhäuser gibt. Es kann
nicht sein, dass man mit einer Laboruntersuchung x-fach
mehr verdienen kann als mit einem ausführlichen Ge-
spräch beim Hausarzt. Es kann nicht sein, dass in
Deutschland die Heilungschancen bei Brustkrebs deut-
lich geringer sind als in vielen anderen Ländern dieser
Welt. Es kann nicht sein, dass wir uns eine doppelte
Facharztstruktur leisten.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Freie Berufe abschaffen! Typisch Rot-Grün!)


Deswegen brauchen wir mehr Wettbewerb. Herr
Seehofer, ich glaube, dass wir da an vielen Stellen über-
einkommen. Wir brauchen mehr Wettbewerb um das
Richtige, nämlich um Qualität und Effizienz. Aber wir
müssen auch ganz ehrlich sagen: Wir werden in diesem
System nicht mehr alles aus der Solidargemeinschaft be-
zahlen können. Wir müssen uns also gemeinsam ent-
scheiden, wie wir welche Finanzierung vornehmen. Die
beiden Vorschläge, die der Bundeskanzler gemacht hat,
nämlich beim Krankengeld und bei einer Gebühr für den
Arztbesuch einzusteigen, finde ich richtig, weil sie uns
weiterbringen, auch was die Beitragssätze angeht.

Trotzdem müssen wir über die versicherungsfrem-
den Leistungen reden. Brauchen wir in Deutschland
noch ein Sterbegeld? Ist es denn wirklich noch gerecht-
fertigt, dass Ehefrauen oder Ehemänner, die weder
Kinder erziehen noch Angehörige pflegen, in der gesetz-
lichen Krankenversicherung auf Kosten der Solidar-
gemeinschaft mitversichert werden? Das ist, finde ich,
nicht gerecht. Durch die Abschaffung dieser Leistung






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt
könnten die Beitragssätze um einen Punkt gesenkt wer-
den. Das sollten wir für die Gerechtigkeit in diesem Sys-
tem tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssen aber auch sagen, wie Sie unter wirt-
schaftspolitischen Gesichtspunkten – nur das meine ich –
mit Zuwanderung umgehen wollen. Die Frage der Zu-
wanderung wird eine Nagelprobe für die Modernisierung
der Wirtschaft sein. In einer schwierigen wirtschaftlichen
und arbeitsmarktpolitischen Situation einfach zu sagen:
„Macht die Grenzen dicht!“, zeugt von wirtschaftspoliti-
scher Inkompetenz. Denn zu einer modernen Wirtschaft
gehört ein modernes Zuwanderungsrecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zuwanderung heißt auch – das haben Ihnen die Wirt-
schaftsverbände ins Stammbuch geschrieben –, dass es
in Deutschland zu Neugründungen und Flexibilität
kommt. Dadurch entstehen Arbeitsplätze für Deutsche;
eigentlich wissen Sie das. Ich hoffe, Sie kommen zur
Vernunft, und ich hoffe, wir werden im Bundesrat ein
Übereinkommen erzielen. Dies betrifft die Menschen,
die zu uns kommen, sowie Innovationen in Deutschland
und sogar in Bayern, Herr Stoiber. Deswegen sollten Sie
sich an dieser Stelle bewegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Schluss möchte ich auf ein Potenzial verweisen,
das wir verspielen, wenn wir nicht sehr schnell handeln.
Ich meine Investitionen in die Köpfe. Auch dazu haben
wir von Frau Merkel keinen Vorschlag, sondern nur Bla-
bla gehört. Also Fehlanzeige!

Dem Aufschrei nach der PISA-Studie folgte hekti-
sche Aktivität. Inzwischen haben wir hektische Läh-
mung. Ich verstehe nicht, warum es so schwer sein soll,
Schulautonomie und Durchlässigkeit zu organisieren.
Ich verstehe nicht, warum wir Kinder nach wie vor
gleichschalten. Ich verstehe nicht, wie wir es zulassen
können, dass 23 Prozent der Jugendlichen ohne ausrei-
chende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben die Schu-
len verlassen. Wenn damit nicht endlich Schluss sein
wird, wenn die Chancen der Kinder und der Jugendli-
chen nicht endlich verbessert werden, dann werden die
Chancen Deutschlands rapide sinken.

Deswegen ist es richtig, dass wir heute sagen: Wir
müssen in Bildung und in Forschung investieren. Diese
Bereiche dürfen den Sparmaßnahmen, die an vielen Stel-
len richtig sind, nicht zum Opfer fallen. Diese Zukunfts-
investitionen in Forschung und Technologie müssen ge-
rade vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit erfolgen.
Hier darf nicht gespart werden. Im Gegenteil!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, bei allen Problemen, die
wir haben, halte ich nichts davon, Deutschland bzw. die
deutsche Wirtschaft, die deutsche Politik und die deut-
schen Verbände schlecht zu reden; denn wir reden uns
damit selber schlecht. Ich glaube, dass dieses Land die
Kraft hat, aus der Krise herauszufinden. Die Bereitschaft
ist vorhanden. Die Lobby derer, die sagen: „Reformen
ja, aber nicht bei uns!“,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Müntefering!)


hat spätestens mit dem heutigen Tag klar gesagt bekom-
men, dass man damit nicht mehr durchkommt.

Wir brauchen die Allianz mit den Bürgerinnen und
Bürgern. Das wollen wir im Interesse aller, im Interesse
unserer Kinder und unserer Kindeskinder. Wir müssen
endlich wieder das Ganze bzw. das Gemeinwohl im
Blick haben. Dann können wir es schaffen.

Im Vorfeld ist ja viel über die Regierungserklärung
geredet worden.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Aber nicht bei uns! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das sollte ein Jahrhundertwerk sein?)


Manchmal hatte ich das Gefühl: Wenn der Kanzler all
dem gerecht werden wollte, was gesagt worden ist, dann
hätte er über Wasser gehen oder mit fünf Broten und ein
paar Fischen die ganze Nation satt und glücklich machen
müssen. Weil wir aber Menschen sind, kann man keine
Wunder erwarten. Man kann jedoch erwarten, dass wir
das Notwendige tun. Was das Notwendige ist, hat der
Kanzler sehr eindrücklich in Form der Agenda 2010 dar-
gestellt. Sie steht Ihrem Chaos, Frau Merkel und Herr
Stoiber, und der allgemeinen Eierei gegenüber.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Osterzeit naht!)


Ich kann nur empfehlen: Machen Sie mit, damit es mit
Deutschland endlich wieder aufwärts geht!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503201300


Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Freistaa-
tes Bayern, Edmund Stoiber.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503201400


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine sehr verehrten Herren!


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Wahlsieger!)


Millionen Menschen in Deutschland haben Angst, Angst
um eine sichere Zukunft. Das gilt sowohl für den außen-
politischen wie auch für den innenpolitischen Bereich. In
weiten Teilen unseres Landes herrscht tiefe Depression.

Herr Bundeskanzler, wenn Sie glauben, das, was ich
hier sage, lächerlich machen zu können, kennen Sie of-
fenbar die Wirklichkeit nicht.






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eine richtige Therapie – Sie haben heute versucht, The-
rapien zu verordnen – setzt eine richtige Analyse voraus.
Wenn Sie sich vor Augen halten, dass laut einer Umfrage
von Gallup Deutschland, die in fast 100 Ländern durch-
geführt wurde, nur noch 13 Prozent der Deutschen opti-
mistisch gestimmt sind und dass Deutschland damit mit
Abstand auf dem letzten Platz liegt, dann kann ich ganz
offen sagen: Natürlich herrscht in diesem Lande gegen-
wärtig eine depressive Stimmung, wie ich sie in mei-
nem Leben noch nicht erlebt habe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Katrin Dagmar Göring Seien Sie doch nicht so traurig!)

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503201500

Die heutige Debatte über die Zukunft Deutschlands
ist überfällig.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mach ein Flasche Champagner auf!)


Aber sie wird überschattet von der Krise um den Irak. In
der Außenpolitik sehen wir, dass Säulen, die die Welt-
ordnung bisher getragen haben und die uns fünf Jahr-
zehnte lang Frieden und Freiheit gesichert haben, ins
Wanken geraten. Die UN, die NATO und die Europäi-
sche Union sind gespalten wie nie zuvor.

Dafür trägt diese Bundesregierung Mitverantwortung,


(Hubertus Heil [SPD]: Quatsch!)


und zwar durch ihre Vorwegfestlegungen und durch die
Verweigerung des transatlantischen Dialogs. Im deut-
schen Interesse muss unser gemeinsames Ziel lauten:
Die Irakfrage darf nicht zu einem dauerhaften Schaden
führen, nicht für Deutschland, für Europa, für die NATO
und für die UN.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte nicht mehr die Differenzierung zwischen
Kriegswilligen und Friedfertigen aufgreifen, die Sie in
diesem Zusammenhang in diesem Hause getroffen ha-
ben. Ich möchte festhalten – das sollte niemand mehr be-
streiten –: Alle hier in diesem Hause wollen Frieden.
Niemand will den Krieg. Deshalb sollte man mit diesen
Dingen sehr vorsichtig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Krieg ist immer eine Katastrophe,


(Hubertus Heil [SPD]: Dann muss man auch etwas dagegen tun!)


wo auch immer auf der Welt. Doch Friedenswille allein
genügt nicht, um den Frieden zu bewahren.


(Hubertus Heil [SPD]: Wir tun was gegen den Krieg!)


Der Friedenswille der Bundesregierung hat den Diktator
in Bagdad nicht beeindruckt. Es war die amerikanisch-
britische Entschlossenheit, die zur Wiederaufnahme der
Inspektionen und zu den diplomatischen Initiativen
geführt hat. Der deutsche Beitrag dazu war gleich null.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wenn das richtig wäre, hätten wir schon Krieg!)


Herr Bundeskanzler, Sie halten sich zugute, die In-
spektionen seien ein wirksames Instrument. Aber Sie
verschweigen erneut, dass nur die militärische Drohung,
die Sie abgelehnt haben, den Erfolg der Inspektoren
überhaupt möglich gemacht hat. Wenn es nach Ihnen ge-
gangen wäre, wären im Irak keine Inspektoren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter Dreßen [SPD]: Das ist eine dumme Unterstellung!)


Was Deutschland militärisch leistet, dieser militäri-
sche Beistand – Überflugrechte,


(Horst Kubatschka [SPD]: Die wollten Sie verbieten!)


Schutz amerikanischer Stützpunkte, ABC-Schützenpan-
zer, Patriot-Raketen und AWACS-Einsätze, Hilfe zur
See –, trennt uns nicht.


(Zurufe von der SPD: Ach!)


Doch außenpolitisch trennen uns Welten, nämlich in-
folge Ihres Sonderweges seit August letzten Jahres Herr
Bundeskanzler. Sie haben, statt den Dialog mit unseren
amerikanischen Freunden zu suchen, eine Mauer des
Schweigens aufgebaut. Wir müssen schon heute daran
arbeiten, die Kluft zwischen Amerika und den internatio-
nalen Bündnissen wieder zu schließen. Deswegen waren
auch die Reise und die Gespräche der Kollegin Merkel
so wichtig und notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Da hat nur noch der Stoiber gefehlt!)


Die Erfahrung der letzten Monate zeigt doch eindeu-
tig: Partner mit Einfluss auf die Vereinigten Staaten


(Hubertus Heil [SPD]: Und Rückgrat!)


kann nur ein einiges Europa sein. Herr Bundeskanzler,
Sie haben heute – ich zitiere – ein starkes, geeintes Eu-
ropa und einen geeinten Kontinent, der Nationalismen
überwindet, angemahnt. Gegenwärtig erleben wir aber
eine Renaissance nationalstaatlicher Sonderwege, die
der deutsche Bundeskanzler mit der Ausrufung des deut-
schen Weges im August des letzten Jahres eingeleitet
hat.

Ihre Vorgänger, insbesondere Helmut Kohl, hätten
schon im Vorfeld der Krise alles versucht, die Europäer
zusammenzuhalten. Vor allen Dingen hätte er den Draht
in die Vereinigten Staaten niemals abreißen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Er hätte das Scheckbuch gezogen!)







(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber
Eine solche Spaltung Europas hätte es mit der Union
nicht gegeben. Dass die kleinen Nationen jetzt einen ei-
genen Minikonvent stattfinden lassen, um sich gegen be-
stimmte Maßnahmen, die Sie mit Ihren Kollegen aus den
großen Ländern erörtern, abzustimmen, halte ich für eine
Katastrophe für die weitere Integration Europas.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)


Wir haben immer versucht, genau das zu verhindern. Es
war immer deutsche Außen- und Europapolitik, nie zwi-
schen großen und kleinen Ländern zu differenzieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Bundeskanzler, nicht nur außenpolitisch steht
Deutschland in gewisser Weise vor einem Scherbenhau-
fen. Auch innenpolitisch wissen die Menschen in
Deutschland nicht mehr, wie es weitergehen soll.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie führen sich rhetorisch auf wie eine Scherbe! – Peter Dreßen [SPD]: Ach Gott, Herr Stoiber!)


Im Ergebnis haben Sie heute eingeräumt, was Sie im
vergangenen Jahr noch erbittert bestritten haben.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie führen sich nicht einmal wie ein Scherbenhaufen, sondern nur wie eine einzelne Scherbe auf!)


Deutschland ist leider ein Sanierungsfall. Sie haben
heute eingeräumt, dass die Lohnzusatzkosten, die Steu-
ern und die Staatsabgaben zu hoch sind.


(Horst Kubatschka [SPD]: Wer hat sie hochgetrieben?)


In der Analyse kommen Sie langsam in der bitteren Rea-
lität an, die Ihre Politik letztlich mit verschuldet hat.


(Peter Dreßen [SPD]: Daran sieht man mal, welch einen Saustall Sie uns hinterlassen haben!)


Vor dieser ehrlichen Analyse haben Sie sich bis zu den
Wahlen gedrückt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die ganze Wahrheit ist jedoch: Nach viereinhalb Jahren
unter Ihrer Regierung befinden sich Wirtschaft und Ar-
beitsmarkt in einem steilen Abstieg.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist leider wahr!)


Sie haben die Probleme nicht gelöst, sondern Probleme
geschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Machen Sie doch einmal einen Vorschlag!)


Für Ihre heutigen Ankündigungen gilt: zu wolkig, zu
orientierungslos, zu wenig und zu spät. So führen Sie un-
ser Land nicht aus der Krise.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Null Optimismus! – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie ganz bestimmt nicht! Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man Lust, die Füße auf den Tisch zu legen!)


Wolkig ist Ihre Regierungserklärung, weil Sie wesent-
liche Positionen im Nebel lassen.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Meine Güte!)


Was heißt „Wir müssen bestimmen, was künftig zum
Kernbereich der gesetzlichen Krankenversicherung ge-
hört und was nicht“? Was heißt „Wir sind dabei, die
Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer ei-
gentlichen Aufgabe nachkommen kann“?


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie lange denn noch?)


Orientierungslos ist Ihre Regierungserklärung, weil
Sie noch im Oktober des letzten Jahres in Ihrer damali-
gen Regierungserklärung kreditfinanzierten Finanzsprit-
zen eine klare Absage erteilt haben. Sie sagten damals,
dass solche Finanzspritzen keine Wirkung entfalten wür-
den. Heute preisen Sie solche Finanzspritzen als Wun-
dermittel für die Bauwirtschaft und die Kommunen an.
Herr Bundeskanzler, auch wenn Sie das heute abstreiten,
bleibt es richtig: Das ist nichts anderes als ein Strohfeuer
auf Pump; denn auch die Kreditmittel der KfW sind na-
türlich staatliche Mittel, weil der Staat für die Schulden
haftet. Deswegen ist dies nur ein Trick. Sie machen ge-
nau das, was Sie vor einem halben Jahr von diesem
Platze aus noch kritisiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Orientierungslos ist ebenso, dass Sie hier im Bundes-
tag neue billige Kredite zur Förderung des Wohnungs-
baus versprechen, während Sie mit dem Steuervergünsti-
gungsabbaugesetz, das heute im Bundesrat abgelehnt
wurde, die Demontage der Eigenheimzulage betreiben.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie falsch verstanden! Es geht nicht um den Wohnungsbau!)


So viel Schizophrenie in der Regierung war in Deutsch-
land noch nie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zu wenig bietet Ihre Regierungserklärung für den
Mittelstand, der sehnlichst auf umfassende Entbürokrati-
sierung und spürbare Entlastungen wartet. Ihr „Small
Act“ für den Mittelstand ist wahrlich zu klein geraten.
Zu spät kommen Ihre Ankündigungen, der Max-Planck-
Gesellschaft erst im nächsten Jahr eine Ausgabenerhö-
hung von 3 Prozent in Aussicht zu stellen, die Sie noch
vor zwei Monaten verweigert haben, obwohl es früher
Zusagen gegeben hat, dass man genau in diesem innova-
torischen Bereich mehr Mittel zur Verfügung stellen
will. Ihre Klagen über zurückgehende Innovationen nüt-
zen gar nichts, wenn Ihre Regierung genau das Gegenteil
von dem tut, was notwendig wäre, um Innovationen zu






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber
fördern, Wissenschaftler im Land zu halten und vor allen
Dingen Wissenschaftler ins Land zu holen.

Zu spät kommt Ihre Regierungserklärung für Hun-
derttausende von Menschen, die allein in den letzten
Wochen und Monaten arbeitslos geworden sind oder ihre
Existenz verloren haben. Wieder einmal versprechen Sie
Mut zur Veränderung. Viele Regierungserklärungen von
Ihnen haben dies als Überschrift gehabt. Wenn Sie heute
tatsächlich mutig gewesen wären, dann hätten Sie Ihre
Dutzende Steuererhöhungen zurückgezogen, die heute
im Bundesrat gescheitert sind


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und auch im Vermittlungsausschuss nicht unsere Zustim-
mung erhalten werden. Herr Müntefering, Sie können
sich darauf verlassen: Natürlich gibt es auch innerhalb
der CDU/CSU eine breite Diskussion.


(Hubertus Heil [SPD]: Was für eine breite Diskussion?)


Aber wir arbeiten eng zusammen, was den Erfolg, den
wir in den letzten Wochen und Monaten erzielt haben,
begründet hat. Machen Sie sich mehr Sorgen um Ihre als
um unsere Partei.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Blockierer! – Hubertus Heil [SPD]: BlockadeEde!)


Was sollen die Menschen über folgende Worte den-
ken: „Die Menschen erwarten, dass wir die Belastungen
durch Steuern und Abgaben senken“? – Das haben Sie
heute hier gesagt. Gleichzeitig bürden Sie den Bürgern
und der Wirtschaft allein in diesem Jahr Belastungen in
Form von Abgaben und Steuern in Höhe von zusätzlich
24 Milliarden Euro auf. Mit diesem Vorgehen werden
Sie mit Sicherheit nicht das Vertrauen der Bürger be-
kommen. Auf der einen Seite weniger Belastungen für
die Bürger zu versprechen, auf der anderen Seite
36 knallharte Steuererhöhungen in Ihrem Steuervergüns-
tigungsabbaugesetz, das ein Steuererhöhungsgesetz ist,
vorzulegen, das ist Schizophrenie. Dafür werden Sie bei
den Bürgerinnen und Bürgern niemals Verständnis fin-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Sie lassen die Städte und die Gemeinden im Stich!)


Wenn Sie heute tatsächlich mutig gewesen wären,
dann hätten Sie Ihr Wahlkampfversprechen gehalten.
Vor einem halben Jahr waren Sie noch der Überzeugung:
Steuererhöhungen sind ökonomischer Unsinn und scha-
den Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. –
Diese Kehrtwende wäre tatsächlich Mut zur Verände-
rung. Wir alle müssen uns darüber klar werden


(Franz Müntefering [SPD]: Einsicht ist der beste Weg zur Besserung!)


und dies auch den Bürgerinnen und Bürgern in unserem
Land deutlich machen: Deutschland befindet sich in der
größten Strukturkrise seit 1949. Das Grundübel in
Deutschland ist die Massenarbeitslosigkeit. Massenar-
beitslosigkeit zerstört Lebensperspektiven. Sie zerrüttet
die öffentlichen Haushalte und die Sozialkassen. Es ist
heute jedem klar: Mehr Arbeitslose bedeuten weniger
Beitrags- und Steuerzahler. Weniger Beitrags- und Steu-
erzahler bedeuten weniger Sozialversicherungs- und
Steuereinnahmen. Arbeitslosigkeit vernichtet das Ein-
kommen, den Wohlstand und die soziale Sicherheit von
Millionen Menschen.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Machen Sie einen Vorschlag!)


Nicht Reformen führen zum sozialen Kahlschlag in
unserem Land, sondern das Hinnehmen von Massenar-
beitslosigkeit. Das ist der entscheidende Ansatzpunkt bei
allen Reformvorschlägen, die wir bisher gemacht haben.


(Zurufe von der SPD: Welche?)


– In der letzten und in dieser Legislaturperiode. Von Ih-
nen wurden sie immer sofort als sozialer Kahlschlag be-
zeichnet.

Ich erinnere mich, was Sie auf dem Kongress des
DGB gesagt haben: Sie haben versprochen, dass es
selbstverständlich keine Eingriffe in die sozialen Besitz-
stände gäbe.


(Ute Kumpf [SPD]: Woher wissen Sie denn das alles?)


– Ich war einen Tag später da. – Mir ist vorgehalten wor-
den, dass wir den Kahlschlag planen würden, während
Sie den sozialen Besitzstand großartig sichern. Man will
auf Ihrer Seite nicht begreifen, dass sozial ist, was Arbeit
schafft. Das ist heute unsere primäre soziale Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unter den 4,7 Millionen Arbeitslosen befinden sich
nicht nur ältere und gering qualifizierte, sondern auch
immer mehr junge und gut qualifizierte Menschen.
Selbst sie finden phasenweise keine Arbeit mehr oder
verlieren ihre sicher geglaubte Stelle. Weil viele junge
Menschen keine Perspektive mehr sehen, wandern natür-
lich auch die Besten ab.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Leo Kirch!)


Wir verlieren Hunderttausende von jungen, gut ausgebil-
deten Menschen. Das können wir uns auf Dauer nicht
leisten. Deswegen sollte man im Zusammenhang mit der
Debatte über die Zukunft Deutschlands neben der Zu-
wanderung viel intensiver über die Auswanderung re-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deutsche Traditionsunternehmen, die bis vor kurzem
als krisenfest galten, bauen Tausende Stellen ab oder
überlegen, ihren Sitz ins Ausland zu verlegen.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die wandern aus Bayern aus!)


37 700 Insolvenzen haben im letzten Jahr Kapital in
Höhe von 50 Milliarden Euro vernichtet.






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bayerische Landesbank! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles bayerische Unternehmen!)


Der DAX ist im internationalen Vergleich deshalb am
stärksten abgestürzt, weil in Deutschland die Hoffnung,
dass sich hier etwas ändert, am geringsten ist. Deutsch-
land lebt zunehmend von der Substanz; aber auch die
Substanz ist bald aufgebraucht. Das Wachstum in
Deutschland bleibt seit Jahren hinter dem Wachstum in
Europa zurück. Deutschland ist das Schlusslicht.
Deutschland fällt ab.

Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland an
Wettbewerbsfähigkeit verliert. Der Anteil Deutsch-
lands am Welthandel ist im letzten Jahrzehnt von
11 Prozent auf 8 Prozent zurückgegangen. Das zeigt:
Auch wenn der Export nominal gewachsen ist, verlieren
wir Anteile. Deswegen müssen wir hier darüber reden.
Derjenige, der darauf hinweist, macht Deutschland nicht
schlecht. Das Wichtigste für eine Therapie ist die rich-
tige Analyse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen müssen wir uns mit der Frage auseinander
setzen, auf welchen Gebieten wir verloren haben. Über
4 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland waren in den
letzten Jahren im globalen Wettbewerb nicht mehr wett-
bewerbsfähig.


(Franz Müntefering [SPD]: Eine schlechte Diagnose führt nicht zu einer richtigen Therapie!)


Ursache für den Abstieg ist, dass Deutschland den
Sprung von der Nationalökonomie in die Globalökono-
mie noch nicht geschafft hat. Diesen alles entscheiden-
den Sprung werden Sie mit den Strukturkonservativen in
der SPD und den Gewerkschaften niemals schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hier wurde Herr Bsirske zitiert, der Ihre wolkige
Rede auch noch als großen Angriff auf den Sozialstaat
bezeichnet. Wenn man diese Äußerung hört, kann man
sich vorstellen, was in solchen Köpfen vorgeht. Sie wol-
len nicht begreifen, dass unser Land dringend Reformen
braucht, wenn wir den Wohlstand für unsere Kinder und
Kindeskinder sichern wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Genau das hat Schröder auch schon gesagt!)


In Ihrer heutigen Rede hätten Sie etwas mehr über den
deutschen Tellerrand schauen müssen. Andere Länder
haben längst ihre Hausaufgaben gemacht. Finnland und
Norwegen haben in den vergangenen Jahren ihre Staats-
quote um 10 Prozent gesenkt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Aber sie liegen noch höher als wir!)


Schweden, ein Land mit einer ähnlichen Sozialstaatstra-
dition wie Deutschland, hat durch zahlreiche mutige
Strukturreformen die Arbeitslosenquote von 8 Prozent
auf 5 Prozent gesenkt.


(Franz Müntefering [SPD]: Das sind Sozialdemokraten! Das schaffen wir hier auch!)


In diesen Ländern gibt es wieder mehr Wachstum, Wohl-
stand und Arbeitsplätze.


(Franz Müntefering [SPD]: Es sind die Sozialdemokraten, die das machen, weil die das können! Die können das nämlich besser!)


– Herr Müntefering, Sie haben vor einigen Wochen fest-
gestellt: Es macht doch nichts, wenn die anderen Länder
ein etwas höheres Wachstum haben; dann holen sie im
Grunde genommen nur auf. Sie müssen aber auch fest-
stellen, dass die anderen Länder nicht nur aufholen, son-
dern dass uns die Engländer, Franzosen, Iren und Hol-
länder überholt haben. Sie überholen uns nicht nur,
sondern sie haben auch ein höheres Wirtschaftswachs-
tum. Das ist die Realität, mit der man sich auseinander
setzen muss.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Franz Müntefering Stoiber ist auch überholt worden!)


Die Finnen, Norweger und Schweden sind nicht besser
als die Deutschen, aber sie werden offensichtlich besser
regiert. Die Folge von Arbeitslosigkeit und Wachstums-
schwäche ist ein akuter Notstand in den öffentlichen Kas-
sen. Den deutschen Ländern brechen die Steuereinnah-
men weg.


(Franz Müntefering [SPD): Sie wollten doch

einen Plan vorlegen! Wo bleibt der denn?)

Werfen Sie einen Blick in die Länderhaushalte! Dort
fehlen die Mittel für Straßen, Schulen und Krankenhäu-
ser. Das kostet zusätzliche Arbeitsplätze in der Bauin-
dustrie. Die rot-grüne Steuerreform hat den Kommunen
einen Kahlschlag verpasst. Die Verschuldung der
Kommunen ist allein in den vergangenen eineinhalb
Jahren um 50 Prozent explodiert, Herr Müntefering.
Viele Städte sind bereits so stark verschuldet, dass sie
keine neuen Kredite mehr aufnehmen können und dür-
fen. Deshalb bringen billige Kredite den meisten Kom-
munen nichts.

Längst fordern Länder und Kommunen gemeinsam,
dass die rot-grüne Erhöhung der Gewerbesteuerumlage
sofort rückgängig gemacht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das würde den Kommunen schneller etwas bringen als
alles, was Sie heute vorgeschlagen haben.

Zuerst haben Sie mit der Erhöhung der Gewerbesteu-
erumlage den Städten mehr als 2 Milliarden Euro pro
Jahr entzogen. Jetzt bieten Sie ihnen billige Kredite an.
Es ist doch eine absurde Politik, den Kommunen zuerst
Geld wegzunehmen, aber dann zu beklagen, dass es ih-
nen schlecht geht, und ihnen billige Kredite anzubieten.






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch dem Steuervergünstigungsabbaugesetz zu!)


Schon heute hangeln sich die Stadtkämmerer mit kurz-
fristigen Krediten von Monat zu Monat.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Weil der Freistaat so verschuldet ist!)


Viele Stadthallen verfallen. Städtische Schulen und Bi-
bliotheken werden geschlossen, Stadttheater und Or-
chester aufgelöst.

Angesichts dieser dramatischen Lage sind Ihre heute
angekündigten Maßnahmen völlig ungenügend. Arbeits-
losigkeit treibt auch die Sozialversicherungen in den
Ruin. Die Sozialsysteme stehen vor dem Kollaps. Die
steigenden Beiträge treiben die Lohnzusatzkosten in die
Höhe.


(Hubertus Heil [SPD]: Haben Sie jetzt mal einen Vorschlag?)


Das macht Arbeit teuer und schadet der Wettbewerbsfä-
higkeit. Es kostet Arbeitsplätze und führt wiederum zu
Beitragsausfällen. Das ist der Teufelskreis der deutschen
Krankheit, den wir durchbrechen müssen.

Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Arbeits-
losigkeit, entgegen Ihren ständigen Bekundungen, nicht
konjunkturelle, sondern zu 85 Prozent strukturelle – also
hausgemachte – Ursachen hat. Diese Ursachen liegen im
Arbeitsmarkt. Notwendig sind Reformen, die deutsche
Arbeit und deutsche Produkte auf den Weltmärkten wett-
bewerbsfähig machen.

Sie aber haben Gesetze beschlossen, die das Gegen-
teil bewirken. Wer den bedeutenden Kosten- und Stand-
ortfaktor Energie mit der Ökosteuer im nationalen Al-
leingang verteuert, vernichtet in Deutschland, das im
Wettbewerb mit anderen Ländern in Europa steht, Ar-
beitsplätze.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es bleibt dabei, Herr Müntefering: Wer nach der Fi-
nanzplanung auch in den nächsten Jahren die Investiti-
onsausgaben des Staates zusammenstreicht, sodass sie
ein Rekordtief von 10 Prozent des Haushalts erreichen,
vernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.


(Franz Müntefering [SPD]: Weshalb lehnen Sie dann das Steuervergünstigungsabbaugesetz ab?)


Wer den Mittelstand und den Mut junger Existenz-
gründer durch noch mehr Bürokratie, das verschärfte Be-
triebsverfassungsgesetz und das Scheinselbstständigen-
gesetz stranguliert, vernichtet ebenfalls Arbeitsplätze in
Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch wer jetzt im Hauruckverfahren den Meisterbrief
im Handwerk infrage stellt,


(Zurufe von der SPD: Aha!)

und zwar mit einer solch eigenartigen Begründung, der
vernichtet in Deutschland Arbeitsplätze.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])


Sie werden auf erbitterten Widerstand stoßen, wenn Sie
den Meisterbrief in der angekündigten Art und Weise
– darauf läuft es praktisch hinaus – schleifen wollen;
denn damit zerstören Sie ein wichtiges Strukturelement
unseres deutschen Mittelstands.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Franz Müntefering [SPD]: Entbürokratisierung, Herr Stoiber!)


Wer bei 4,7 Millionen Arbeitslosen mehr Zuwande-
rung will und den Anwerbestopp aufheben will, der über-
fordert den deutschen Arbeitsmarkt und bewirkt Einwan-
derung in die sozialen Sicherungssysteme Deutschlands.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Wer so was sagt, redet Unsinn!)


Das bleibt das Problem. Hier werden wir uns niemals
verständigen können, wenn Sie an der Ausweitung der
Zuwanderung festhalten.

Herr Bundeskanzler, zu lange haben Sie der Struk-
turkrise Deutschlands tatenlos zugesehen. So wenig
politische Führung wie durch die jetzige Regierung war
noch nie in Deutschland. Zugleich gilt: Eine so kon-
struktive Opposition war nie in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir, die Opposition, machen konkrete Vorschläge.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Wo?)


Frau Merkel hat vorhin auf die Entscheidung der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion von Anfang Februar hingewie-
sen. Wann hat es das zu Ihrer Oppositionszeit gegeben,
dass man auch schmerzhafte Vorschläge unterbreitet, ob-
wohl man sich damit einen Schiefer einzieht?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch wenn ich hier immer nur Ihr höhnisches Lachen
höre, sage ich trotzdem: Wir reichen der Bundesregie-
rung die Hand zu notwendigen Strukturreformen; denn
Deutschland ist ein Sanierungsfall. Wir als Opposition
können in der gegenwärtigen Phase – Deutschland befin-
det sich in der tiefsten Strukturkrise – unsere Mitarbeit
bei den notwendigen Entscheidungen nicht verweigern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hubertus Heil [SPD]: Sie tun es aber!)


Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten in
den Jahren 1997 und 1998, als Herr Schröder und
Herr Lafontaine die damalige Steuerreform


(Zuruf von der SPD: Das war ein Schuldenprogramm!)







(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber
mutwillig gestoppt haben, um der Regierung Kohl Scha-
den zuzufügen. Das haben sie zwar erreicht. Aber sie ha-
ben damit auch Deutschland Schaden zugefügt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer heutigen Regie-
rungserklärung zum Teil das angekündigt, was Sie da-
mals bekämpft haben. Sie hätten es heute leichter, wenn
Sie 1998 bestimmte Veränderungen in unseren sozial-
staatlichen Sicherungssystemen akzeptiert hätten. Das
muss man – Sie ringen ja um Glaubwürdigkeit in der Be-
völkerung – immer wieder deutlich machen.

Wir müssen in einem ersten Schritt die Weichen neu
stellen. Wir müssen schnell und wirksam reagieren.
Dann können wir über die notwendigen und erforderli-
chen Maßnahmen für den Umbau Deutschlands diskutie-
ren. Deutschland braucht sofort eine Initiative zur Flexi-
bilisierung des Arbeitsmarktes, damit sehr schnell neue
Arbeitsplätze entstehen. Deutschland braucht Ruhe in
der Steuerpolitik, damit Investoren wieder auf verlässli-
che Rahmenbedingungen vertrauen können. Deutsch-
land braucht sofort eine Vereinbarung über die Belas-
tungsgrenzen in den sozialen Sicherungssystemen, damit
wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen.


(Hubertus Heil [SPD]: Sehr konkret!)


Deutschland braucht sofort eine Entlastung der öffentli-
chen Haushalte, damit Entscheidungsspielräume und
Luft für Investitionen entstehen. Deutschland braucht so-
fort eine Stärkung des Vertrauens in die Wirtschaft sowie
eine Ermutigung des Mittelstands durch Deregulierung,
damit Anleger und Unternehmer wieder in Deutschland
investieren.

Ein Schwerpunkt eines Akutprogramms muss mehr
Freiheit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Herr Stoiber, wir sind hier nicht im Bierzelt! Werden Sie mal konkreter!)


Wir brauchen – das hat schon Frau Merkel gesagt; wie
Sie das nennen, ist für mich nicht entscheidend – ein So-
fortprogramm, mit dem sich wesentliche Dinge sehr
schnell umsetzen lassen; denn wir benötigen für den
wirklichen Umbau des Sozialstaates, wenn wir zum Bei-
spiel das Arbeitsmarktrecht neu regeln und es aus dem
Richterrecht herauslösen wollen, ein bisschen mehr Zeit.
Aber so viel Zeit haben wir nicht. Also müssen wir mei-
nes Erachtens sehr schnell ein Akutprogramm oder ein
Sofortprogramm vorlegen, mit dem wir die wichtigsten
Dinge regeln. Darüber gibt es unterschiedliche Meinun-
gen. Dazu sollten meines Erachtens die Regelungen zum
Kündigungsschutz nicht für Unternehmen gelten, die
weniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen.


(Franz Müntefering [SPD]: Ach ja! – Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat Schröder vorgetragen!)


Ich bin für jede sinnvolle Lösung offen. Das ist gar keine
Frage. Derzeit gilt der Kündigungsschutz nicht für Be-
triebe mit maximal fünf Beschäftigten. Das schützt zwar
die fünf Beschäftigten, verhindert aber in vielen Fällen,
dass es sechs, sieben, acht, neun oder zehn Beschäftigte
werden.


(Widerspruch bei der SPD)


Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an: Es gibt
in Deutschland 1,46 Millionen Betriebe mit bis zu fünf
Beschäftigten, aber nur 260 000 Betriebe mit sechs bis
neun Beschäftigten. Nur 200 000 Betriebe haben zwi-
schen zehn und 20 Beschäftigte.


(Hubertus Heil [SPD]: Warum nicht 100?)


Dieses Ungleichgewicht zeigt doch ganz eindeutig: Der
Schwellenwert von fünf Mitarbeitern wirkt durchaus als
Jobbremse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was Sie vorschlagen, ist nicht ehrlich. Sie sagen: Die
Zeitarbeitsverträge zählen nicht mehr mit. Das ist
Trick 17.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: So ist es!)


Das ist keine offene, Vertrauen erweckende Politik. Sie
trauen sich nicht, weil Sie es in Ihrer Fraktion nicht kön-
nen, aber Sie wollen trotzdem versuchen, die Notwen-
digkeiten zu regeln. Also gehen Sie einen unklaren Weg.
Der führt nicht zum Erfolg, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Clement, für alle Unternehmen sollen bei Neu-
einstellungen Abfindungsregelungen unter Verzicht auf
den Kündigungsschutz ermöglicht werden. Die Höhe der
Abfindung wird gesetzlich geregelt. Unternehmen und
Betriebsrat sollen ohne Zustimmung der Tarifvertrags-
parteien selbst betriebliche Bündnisse für Arbeit ab-
schließen können. Ihr Vorschlag, der dies nur unter dem
Vorbehalt der Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu-
lässt, wird der dramatischen Situation in unserem Land
mit 4,7 Millionen Arbeitslosen in keiner Weise gerecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie beschreiben in Ihrer Regierungserklärung eigentlich
nur den Status quo, denn was Sie vorschlagen, geht jetzt
schon. Das ist aber doch nichts Neues, das führt uns
nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der nächste Krisenherd, den wir bereinigen, ist die
Steuerfront. Bürger und Wirtschaft warten doch sehn-
lichst auf Ruhe an der Steuerfront. Sie warten sehnlichst
auf die Botschaft: In Deutschland werden in den nächs-
ten Jahren die Steuern nicht mehr erhöht.


(Franz Müntefering [SPD]: Wir senken sie doch! Wer denn sonst?)


Sie können gar nicht erahnen, wie viel Vertrauen Sie mit
dem Steuervergünstigungsabbaugesetz verloren haben.

Die Gemeindefinanzreform, die Sie heute anpreisen
und die den Kommunen dauerhafte und solide Finanzen
sichert, muss natürlich umgehend kommen. Aber die ha-
ben Sie 1998 bereits angekündigt. Sie haben dreieinhalb
Jahre nichts getan. Sie haben im Sommer des letzten






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber
Jahres die Kommission eingesetzt. Diese Kommission
tagt kaum.


(Zuruf von der SPD: Das ist doch Blödsinn!)


Prüfen Sie doch einmal nach, wie dort getagt wird. Es ist
noch gar kein Konzept ersichtlich, was dabei eigentlich
herauskommen kann.


(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind hier nicht auf dem Nockherberg!)


Sie kündigen etwas zum 1. Januar 2004 an. Das ist wie-
der eine Ihrer vielen Ankündigungen, die bei der Ar-
beitsweise, die Ihre Regierung in diesem Punkt an den
Tag legt, nicht realistisch sind. Dreieinhalb Jahre haben
Sie nichts getan und jetzt sagen Sie: Ich mache alles in
einem halben Jahr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Was haben Sie gemacht? Gar nichts!)


Ich glaube, dass wir folgenden Weg gehen sollten:
Die Lohnzusatzkosten müssen in den nächsten Jahren
unter 40 Prozent sinken. Darin sind wir uns, glaube ich,
einig. Das muss meines Erachtens gesetzlich garantiert
werden. Wenn wir uns nicht selbst binden, werden wir
nicht die Chance haben, unter 40 Prozent zu kommen.
Wenn wir nicht unter 40 Prozent kommen, dann haben
wir keine Chancen mehr.

Es gibt leider große Unternehmen in Deutschland
– ich will die Namen nicht nennen; Sie kennen die Un-
ternehmen, Herr Bundeskanzler –, die interne Anwei-
sungen haben, keine Erweiterungsinvestitionen mehr in
Deutschland zu tätigen. Die Verlagerung von Arbeits-
plätzen findet zuhauf statt. 230 Arbeitnehmer verlieren
in Passau bei der Firma Siemens ihren Arbeitsplatz. Sie
verlieren ihn an Griechenland und an Rumänien. Warum
verlieren sie ihn? – Auf den Vorhalt sagt mir Herr von
Pierer: Es tut mir Leid, aber die Arbeitnehmer dieser
Länder haben heute dieselbe Produktivität wie bayeri-
sche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber sie sind
billiger. Ich als Vorsitzender einer Aktiengesellschaft
muss günstig produzieren. Das sind die Probleme, mit
denen wir es zu tun haben. Dass wir uns heute in einer so
schwierigen Situation befinden, haben wir uns vor einem
oder vor zwei Jahren vielleicht nicht vorstellen können.
Deswegen hätte Ihre heutige Regierungserklärung ein
größerer Wurf sein müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen über das Arbeitslosengeld reden. In die-
sem Bereich gibt es verschiedene Vorschläge. Ich habe
in den vergangenen Tagen eine Befristung der Zahlung
des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate zur Diskussion
gestellt.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn die CDU dazu?)


Ihr heute vorgestelltes Vorhaben geht in die gleiche
Richtung. Was Einsparungen angeht, können wir sicher-
lich zu gemeinsamen Lösungen kommen. Außerdem
sollten meines Erachtens die Haushaltsmittel der Bun-
desanstalt für Arbeit für Weiterbildungsmaßnahmen hal-
biert werden. Damit kann der Arbeitslosenversicherungs-
beitrag sehr schnell um mindestens einen Prozentpunkt
gesenkt werden.

Auch wenn das unpopulär ist: Der Abstand zwischen
Mindestlohn und Sozialhilfe muss dringend vergrößert
werden. Genauso wie die Sachverständigen schlage ich
vor, die Sozialhilfe für Arbeitsfähige generell um ein
Viertel zu senken. Das ist schon heute möglich, wenn ei-
nem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger nachgewiesen
wird, dass er eine Arbeit, die ihm angeboten wird, nicht
annimmt. Aber wir müssen meines Erachtens ein Stück
weitergehen. Wer arbeitet, der muss mehr in der Tasche
haben als jemand, der nicht arbeitet. Das muss ein fester
Grundsatz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn dieser Grundsatz gelten soll, dann müssen wir
dafür sorgen, dass alle, die arbeiten können und wollen,
auch tatsächlich Arbeit erhalten. Dafür zu sorgen ist un-
sere Aufgabe. Diejenigen, die arbeiten, sollen mehr in
der Tasche behalten dürfen. Mit Ihrem Vorschlag rennen
Sie bei uns offene Türen ein. Wenn Sie heute dafür ein-
treten, dass ein Arbeitslosenhilfe- oder Sozialhilfeemp-
fänger künftig vom Lohn für eine Arbeit, die er ange-
nommen hat, mehr behalten soll – gegenwärtig wird ihm
faktisch fast alles abgezogen –, dann muss ich Sie daran
erinnern, dass wir schon vor einem Jahr entsprechende
Vorschläge gemacht haben. Damals sind wir bei Ihnen
auf Widerspruch gestoßen. Sie und die Gewerkschaften
haben uns kritisiert. Ich freue mich, dass Sie mittlerweile
etwas am Baum der Erkenntnis der Union genascht ha-
ben. Das sollten Sie öfter tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich wiederhole: Mit dem von uns vorgeschlagenen
Weg ist kein Sozialabbau, sondern der Abbau von
Schwarzarbeit verbunden. Sozialhilfe ist eine zweite
Chance; aber sie darf kein Lebensstil sein. Dass sie das
ist, ist bei uns leider häufig der Fall.

Deutschland braucht einen Befreiungsschlag zur Stär-
kung der Wirtschaft und zur Stärkung des Vertrauens in
die Unternehmen. Ich teile Ihre Meinungen, was die Vor-
standsvorsitzenden und viele Selbstverpflichtungen der
Mitarbeiter in den großen Betrieben anbelangt. Das halte
ich für richtig. Nur durch das, was Sie beschrieben ha-
ben, kann man Vertrauen aufbauen.

Wir brauchen zur Stärkung des Vertrauens in Wirt-
schaft und Unternehmen auch eine stärkere Deregulie-
rung. Ich meine, dass man ein Kleinbetriebsrecht für
Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten schaffen sollte.
Diese Kleinbetriebe können sich keinen Steuerexperten
und erst recht keine Rechtsabteilung leisten. Unter ande-
rem schlage ich deshalb vor, dafür zu sorgen, dass das
Teilzeit- und Befristungsgesetz nur in Betrieben mit
mehr als 20 Mitarbeitern gilt. Das Arbeitszeitgesetz
muss für Betriebe mit bis zu 20 Mitarbeitern flexibili-
siert werden. Die geltende Arbeitsstättenverordnung
muss für Kleinbetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten auf-
gehoben werden. Das wäre ein weiteres Stück Entriege-
lung unseres komplizierten Arbeitsmarktes und damit






(A) (C)



(B) (D)


Ministerpräsident (Bayern) Dr. Edmund Stoiber
eine Hilfe gerade für diejenigen Betriebe, in denen über-
durchschnittlich viele Arbeitsplätze entstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Bundeskanzler, alles, was Sie heute wissen, ha-
ben Sie schon bei Ihrer Regierungserklärung im Oktober
letzten Jahres gewusst. So lange ist das noch nicht her.
Alles, was Sie heute wissen, haben Sie auch im Wahl-
kampf gewusst. Deshalb bietet Ihre heutige Regierungs-
erklärung eine treffliche Übersicht über die Fehler und
über die Versäumnisse Ihrer Regierungszeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was Sie vortragen, das sind zum großen Teil Ankün-
digungen, Wiederholungen von Ankündigungen, Ap-
pelle, Drohungen in Richtung Wirtschaft und Be-
schwichtigungsgesten in Richtung Gewerkschaften.
Damit werden wir den Sanierungsfall Deutschland nicht
lösen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503201600
Mehr
als zwei Drittel der Menschen in Deutschland trauen Ih-
nen nicht mehr zu, dieses Land in eine bessere Zukunft
zu führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier in diesem Hause haben Sie eine knappe Mehrheit,


(Franz Müntefering [SPD]: Aber eine Mehrheit!)


aber bei der Bevölkerung haben Sie keine Mehrheit
mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen werden Sie es auch nicht schaffen, den Men-
schen Mut zu machen.

Deutschland – da stimme ich Ihnen zu – hat Substanz.
Deutschland hat kreative und engagierte Menschen. Wir
können Deutschland wieder zu einem starken, sozial si-
cheren und zukunftsfähigen Land machen, wenn wir be-
reit sind, Einschnitte in unsere großartigen sozialen Si-
cherungssysteme nicht mehr nur als sozialen Kahlschlag
zu diffamieren, und wenn wir in diesem Hause und darü-
ber hinaus über Einschnitte diskutieren können, damit
der soziale Wohlstand in unserem Lande morgen und
übermorgen erhalten bleibt und unsere Kinder nicht das
Schicksal unserer Eltern haben. Denen ist es schlechter
gegangen als meiner Generation. Ich möchte, dass es
meinen Kindern morgen und übermorgen in diesem
Land mindestens so gut geht wie uns. Das ist in Gefahr.

Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
reichen wir die Hand, um einiges mitzumachen. Aber
Unsinn werden wir nicht mitmachen.

Herzlichen Dank.


(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503201700


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin darauf
aufmerksam gemacht worden, dass es im Augenblick
des Wechsels in der Sitzungsleitung einen Zuruf aus den
Reihen der Koalition an den Redner gegeben habe, den
ich nicht gehört habe, den ich aber beanstanden müsste,
wenn er tatsächlich so gefallen wäre. Wir werden das
durch Einsicht in das Sitzungsprotokoll klären.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Wer hat denn da gepetzt?)


Nun erteile ich dem Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit, Wolfgang Clement, das Wort.


(Beifall bei der SPD)


Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gestern war ich in München.


(Ute Kumpf [SPD]: Ehrlich? Mutig!)


Ich habe mich dort, Herr Kollege Stoiber, sehr gast-
freundlich aufgenommen gefühlt. Dafür bin ich natürlich
dankbar. Als ich aber heute Ihrer Rede zugehört habe,
musste ich meine ganze Kraft zusammennehmen, um
nicht meinen Optimismus in Bezug auf Deutschland zu
verlieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn einem hier Begriffe wie „Sanierungsfall
Deutschland“, „Ruin“ und „Kollaps“ um die Ohren flie-
gen, dann können nur noch ganz starke Charaktere dem
standhalten und nicht in Depressionen verfallen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Stoiber, wenn wir gemeinsam daran ar-
beiten wollen, dass sich die Gallup-Umfragen verbes-
sern, dass in Deutschland wieder gelacht werden darf,
dann lassen Sie uns anders reden, als Sie es hier getan
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Stoiber, Sie haben gestern sogar
gesagt – in etwas freundlicherer Tonlage; auch heute ha-
ben Sie es anklingen lassen –, dass uns andere Volks-
wirtschaften – Sie haben zum Beispiel Irland, Frankreich
und England erwähnt – beim Pro-Kopf-Einkommen
überholt hätten.

Zu einer wirklich sauberen Analyse, die Sie gefordert
haben, gehört es, sich endlich wieder in Erinnerung zu
rufen, dass Deutschland wie keine andere Volkswirt-
schaft in Europa oder in der Europäischen Union eine
Leistung vollbringt,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
die sich leider im Pro-Kopf-Einkommen niederschlägt.
Das wollen wir ändern. Ich spreche von der Leistung,
dass diese Volkswirtschaft Jahr für Jahr immer noch
4 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für den Aufbau
Ost, für den Aufbau Ostdeutschlands, aufbringt. Das ist
gut so und das tun wir gern, aber diese Leistung muss bei
einer halbwegs vernünftigen Analyse berücksichtigt
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Stoiber, Sie haben dem Bundeskanzler
abgesprochen, dass er über eine Mehrheit verfüge. Das
haben Sie jedoch zu Recht eingeschränkt, denn Sie ha-
ben diese Mehrheit nicht. Hier reden Sie etwas anders
als in München, jedenfalls wenn ich dabei bin. Herr Kol-
lege Stoiber, Sie haben die Wahl am 22. September 2002
nicht gewonnen und können auch hier keinen anderen
Eindruck erwecken. Deutschland hat Ihnen die zur
Kanzlerschaft erforderliche Mehrheit nicht gegeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie werden den Wahlkampf auch im Nachhinein nicht
mehr gewinnen.

Vorhin ist mir auf der Regierungsbank etwas zuge-
flüstert worden. Herr Kollege Westerwelle, wir auf der
Regierungsbank müssen einen starken Charakter haben.
Es gehört eine enorme Charakterfestigkeit dazu, auch bei
einer solchen Kritik von Ihrer Seite ruhig zu bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503201800


Herr Minister, was bei präziser Betrachtung übrigens
häufig nicht gelingt.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Mit meinem Status sitzt man dort auf der Bank und
darf sich noch nicht einmal zu Ihnen nach vorn bewegen.
Das ist wirklich schwierig.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist in Ihrem Gehalt drin, Herr Minister!)


– Nein, das ist nicht alles darin enthalten. Früher bin ich
schon besser behandelt worden als heute.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Wären Sie doch in Düsseldorf geblieben!)


– Sie können mich dort gern besuchen. Sie können dort
noch viel lernen, Herr Kollege Glos. Ich bin aber in der
letzten Zeit ziemlich häufig in Bayern.

Gehen wir einmal nach Niederbayern, Herr Kollege
Stoiber, und sprechen wir über das, was in Passau gewe-
sen ist. Für mich war es dort hochinteressant. Ich war
jetzt in Vilshofen, also dort, wo der politische Ascher-
mittwoch seinen Ursprung hat. Dort bin ich wie zu
Hause. Der Kollege Stoiber war nebenan in Passau in ei-
ner Halle, die demnächst bzw. unmittelbar nach seiner
Rede abgerissen wird.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das habe ich alles erst dort gelernt. Dazu war ich in Nie-
derbayern und bin nun wirklich firm.

Der Kollege Stoiber hat in der Nibelungenhalle in
Passau gesprochen,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Gut!)


und zwar, wie ich gehört habe, lange und eindrucksvoll
und noch länger als heute hier.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Und noch besser!)


In den Zeitungen stand anschließend sofort das Verspre-
chen: Die Halle wird jetzt abgerissen.


(Heiterkeit bei der SPD – Michael Glos [CDU/ CSU]: Was war daran jetzt originell?)


Herr Kollege Glos, sprechen wir über die Zeit des
Wahlkampfes. Ich habe verstanden, dass Sie mit Blick
auf den Irak für die Überflugrechte der Amerikaner in
Deutschland sind. Mir ist gesagt worden, im Wahlkampf,
insbesondere in Bayern, habe es aus Ihrem Munde an-
ders geklungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man also über Beliebigkeit spricht, wie das gele-
gentlich geschieht, bitte ich darauf zu achten, dass meh-
rere Finger der eigenen Hand immer auf einen selbst zu-
rückzeigen, wie uns das schon Bundespräsident Gustav
Heinemann gelehrt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Stoiber, einen Begriff aus dem Wahl-
kampf halte ich heute für völlig widersinnig: Jetzt mit
Blick auf die Situation im Irak, mit Blick auf das Ringen
fast aller Staaten um die Verhinderung eines Krieges im
Irak von einem „deutschen Sonderweg“ zu sprechen, ist
aus meiner Sicht an Abwegigkeit kaum zu überbieten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich wollte – Herr Kollege Glos, das hätte ich jetzt bei-
nahe vergessen – noch etwas zu Niederbayern sagen.
Das sage ich auch in Richtung des Kollegen Stoiber. Ich
finde es ganz interessant, dass Sie in der gesamten Re-
gion Passau in Niederbayern eine Arbeitslosenquote von
11,8 Prozent haben. Das ist sehr bedrohlich. Die Vertre-
ter des Betriebsrates des Siemens-Unternehmens in Pas-
sau waren bei mir, um mich und die Bundesregierung
um Hilfe zu bitten. Die Situation dort ist sehr schwierig,
das haben Sie richtig geschildert.

Aber die Menschen dort sagen mir auch etwas ande-
res: In Bayern war die gesamte Politik wie etwa die In-
vestitionen, die Sie aufgrund der Vermögensveräußerun-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
gen seitens des Freistaates Bayern haben vornehmen
können, sehr stark auf die exzellenten Gebiete wie den
Großraum München konzentriert. In Niederbayern ha-
ben Sie vergleichsweise wenig getan. Das wird Ihnen
dort vorgeworfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Oberpfalz und Niederbayern hat er immer vernachlässigt!)


– Ich bin jetzt in Bayern kundig.

Ich sage das auch deshalb, weil ich gut in Erinnerung
habe, wie ich von Ihnen beispielsweise wegen mancher
schwierigen Lagen in Nordrhein-Westfalen kritisiert
worden bin. In Zukunft komme ich zu Ihnen. Dann spre-
chen wir über die schwierigen Lagen bei Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Edmund Stoiber, Minis Sie müssen die makroökonomischen Bedingungen verändern!)

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1503201900

– Selbstverständlich werden wir die makroökonomi-
schen Bedingungen verändern. Daran arbeiten wir und
darüber diskutieren wir.


(Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident [Bayern]: Machen Sie es doch!)


Wenn ich Ihr „Akutprogramm“ dem Programm, das
Frau Kollegin Merkel heute vorgestellt hat, gegenüber-
stelle – ich habe versucht, zu erkennen, wo es Überein-
stimmungen gibt –, dann muss ich sagen, dass ich fast
mehr Übereinstimmungen bei dem Programm von Frau
Merkel mit uns festgestellt habe als bei dem Programm
des Kollegen Stoiber.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist additiv! Das ergänzt sich prima!)


Mich interessiert, was wir gemeinsam zustande bringen
können.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es
mir nicht glauben


(Michael Glos [CDU/CSU]: Nein!)


– warten Sie es ab! –: Ich gehe ungeachtet dieser Bei-
träge ermutigt aus dieser Debatte. Ich bin überzeugt da-
von, dass wir in der Bundesrepublik jetzt die Chance
haben, die notwendigen Veränderungen und die notwen-
dige Wende, von der wir alle wissen, dass sie geschafft
werden muss, tatsächlich zu vollziehen. Ich bin über-
zeugt davon, dass niemand, also keine nennenswerte ge-
sellschaftliche Kraft, die politisch, wirtschaftlich, ge-
werkschaftlich oder anderweitig organisiert ist, in der
Lage ist, sich dem zu entziehen, was zu tun ist.

Der Bundeskanzler hat heute genau dargestellt, in
welche Richtung wir gehen müssen. Er hat gesagt, wel-
che Schritte unternommen werden müssen, welche Op-
fer und welche Zumutungen damit verbunden sind und
welche Beiträge von den verschiedenen Gruppen in der
Gesellschaft erwartet werden müssen. Ich bin davon
überzeugt, dass wir darüber im Wesentlichen einig sind.
In den Passagen, die ich von Frau Kollegin Merkel ge-
hört habe, habe ich kaum einen Punkt erkannt, in dem
Sie nicht wenigstens in der Richtung mit dem überein-
stimmen, was der Bundeskanzler dargestellt hat. Deshalb
sage ich: Wir werden diese Schritte tun müssen – wir wer-
den sie auch tun – und Sie werden daran mitwirken.

Worum geht es, wenn der Bundeskanzler an das
Selbstbewusstsein und an die Eigenverantwortung der
Menschen, an die Selbstverantwortung der Institutionen
und an den Mut zur Veränderung appelliert? Es geht zu-
nächst darum, die internationale Wettbewerbsfähig-
keit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern und
uns nicht nur ganz vorn in Europa, sondern auch ganz
vorn in der Welt zu platzieren. Das steht im Gegensatz
zu dem, wie Sie die Lage darstellen, Herr Kollege Stoi-
ber. Ich verstehe nicht, warum es sinnvoll sein soll, die
Bundesrepublik Deutschland schlechter darzustellen, als
sie ist, und die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik
Deutschland zu leugnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesrepublik Deutschland ist die drittstärkste
Volkswirtschaft der Welt. Sie ist die zweitgrößte Export-
nation der Welt. Unsere Nation ist erstens kein Sanie-
rungsfall und zweitens Weltspitze in der Automobilin-
dustrie und im Maschinenbau. Sie liegt noch vorn in der
Chemieindustrie. Sie muss wieder nach vorne in der
Pharmaindustrie. Wir sind nicht schlecht positioniert in
der Bio- und Gentechnologie. Wir liegen in der Informa-
tionstechnologie, jedenfalls was die mobile Telekommu-
nikation angeht, weltweit ganz vorne. Das muss man
wissen. Darauf kann sich stützen. Genau das macht uns
Mut, die Schritte nach vorn zu gehen, die in der Bundes-
republik fällig sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden alles tun, dass diese Schritte unternommen
werden.


(Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, der Kollege Hinsken will bloß eine
Frage stellen, sonst würde ich gern ausreden.


(Heiterkeit bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503202000


Wenn die Kooperationsbereitschaft inzwischen schon
das Niveau erreicht hat, dass die Regierung Fragen be-
antworten will, bevor sie gestellt werden, dann sind das
die besten Aussichten für den Einigungsprozess.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege Hinsken, bitte.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1503202100


Herr Bundesminister Clement, können Sie mir ein
Land auf dieser Welt sagen, in dem die Insolvenzrate in






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Hinsken
den letzten zwei Jahren höher war als in der Bundesrepu-
blik Deutschland?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Herr Kollege Hinsken, darf ich Ihre Frage mit einer
Gegenfrage beantworten? Können Sie mir Länder nen-
nen, in denen auch in einer schwierigen Lage die Grün-
dungsquote höher ist als die Insolvenzrate, wie es in der
Bundesrepublik Deutschland der Fall ist?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Hinsken, um das klar zu sagen: Für
mich ist es nicht akzeptabel, wenn man, wie Herr Stoiber
es tut, die hohe Zahl der Insolvenzen ständig vor sich
herträgt. Jawohl, die hohe Zahl der Insolvenzen ist nicht
nur ein Problem, sondern eine Katastrophe. Jede Insol-
venz ist katastrophal, auch wenn wir heute ein Insolvenz-
recht haben, das gelegentlich nahe legt, diesen Weg zu
gehen, um dem Unternehmen die Möglichkeit zu geben,
eine neue Perspektive zu entwickeln.


(Beifall bei der SPD)


Wenn wir aber über Insolvenzen sprechen, dann müs-
sen wir auch über das Kreditgewerbe in Deutschland und
über die Frage sprechen, inwieweit beispielsweise die
Banken mitwirken, unsere Unternehmen in dieser
schwierigen Phase zu stärken.

Meine Bitte ist, dass Sie dann, wenn Sie die hohe Insol-
venzrate ansprechen, im selben Atemzug dazusagen: Die
Gründungsquote in Deutschland ist Gott sei Dank immer
noch höher als die Insolvenzrate. Das heißt zu Deutsch:
Es entstehen mehr neue Unternehmen, als Unternehmen
vom Markt gehen. Das sind nicht genug; da sind wir
beide gleich ehrgeizig. Wir wollen die Quote wieder da-
hin bringen, wo sie einmal war. Aber es ist wichtig, dies
zu wissen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503202200


Es liegt an Ihnen, Herr Minister, ob Sie eine weitere
Zusatzfrage gestatten wollen.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Bitte sehr, Herr Kollege Hinsken.


(Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Mach nicht zu lange!)


– Nein, aber ich muss mit Herrn Kollegen Hinsken ange-
messen umgehen. Er ist im zuständigen Ausschuss und
Mitglied des deutschen Parlaments.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1503202300


Herr Minister, Sie haben mir eine Frage gestellt. Nun
möchte ich meine Frage in eine Antwort kleiden.


(Heiterkeit)


Ich kann Ihnen sofort zehn Nationen nennen, bei denen
die Gründungsquote höher ist als in der Bundesrepublik
Deutschland: Dänemark, Italien, Großbritannien, Frank-
reich.

In diesen Ländern und zum Beispiel in den USA ist
die Gründungsquote fast doppelt so hoch wie bei uns.
Sie aber wollen mir sagen, dass es keine Länder gibt, in
denen die Gründungsquote höher ist als bei uns? Das
stimmt nicht. Ich bitte Sie, hier bei der Wahrheit zu blei-
ben und auch das zu erwähnen. In den von mir genann-
ten Ländern zum Beispiel ist es anders, als Sie behaup-
ten.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Der Bundeskanzler hat mich gewarnt, Sie noch weiter
reden zu lassen. Er hätte hinzufügen müssen – dann hätte
ich es sofort verstanden –: Wenn du einem Mitglied der
bayerischen CSU den kleinen Finger reichst, dann hackt
er dir die Hand ab.

Ich habe Sie verstanden; wir sind dort unterschied-
licher Meinung. Wichtig ist, dass Sie fähig sind, in Zu-
kunft jeweils hinzuzufügen, dass auch die Gründungs-
quote genannt werden sollte. Diesen Optimismus
strahlen Sie aus und dafür danke ich Ihnen, Herr Kol-
lege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und für Sie: Immer schön bei der Wahrheit bleiben!)


Es geht darum, die internationale Wettbewerbsfähig-
keit der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern und
unsere Unternehmen in der Weltspitze zu verankern. Es
geht darum, heimische wie internationale Märkte zu öff-
nen. Deshalb führen wir entsprechende Verhandlungen
in der WTO, der Welthandelsorganisation. Wir müssen
Wachstum freisetzen und mehr Einkommen aus regulä-
rer Arbeit schaffen. Notwendig ist, die Lohnnebenkosten
zu senken, damit aus dem Einkommen schneller neue
Jobs werden.

Wenn wir über Bürokratieabbau reden, dann geht es
darum, jene Kräfte freizusetzen, die bisher durch Büro-
kratie und Regulierung gebunden waren. Diese Kräfte
dürfen nicht nur im Bereich der sozial Schwachen gefor-
dert und können nicht nur dort entfesselt werden. Nein,
es geht um alle Bereiche des Lebens und Wirtschaftens
in Deutschland. Vor allem müssen wir all die zum Han-
deln bewegen, die in Deutschland in der Mitverantwor-
tung stehen. Peter Hartz hat Recht, wenn er diesen Ap-
pell an alle in Deutschland richtet.

Ich möchte nun noch zu einzelnen Punkten Stellung
nehmen, die heute in der Debatte angesprochen worden






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
sind, weil ich glaube, dass dies für die Klärung der Posi-
tionen wichtig ist.

Erstens. Wir müssen den Arbeitsmarkt in Ordnung
bringen. Das heißt, wir brauchen ein anderes Verständnis
von Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Wir müssen
umsteuern, also wirklich ernst machen mit dem, was in
vielen, vielen Debatten – auch von uns – gesagt wurde:
Es geht nicht darum, Arbeitslosigkeit zu finanzieren,
sondern es geht darum, alle Kraft darauf zu verwenden,
Menschen in Arbeit zu vermitteln. Das ist die Leitlinie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Umsteuern wird, wie der Bundeskanzler ge-
sagt hat, Auswirkungen haben, zum Beispiel im Bereich
des Arbeitslosengeldes. Erwerbstätige werden von der
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
betroffen sein. Ich möchte gerne, dass wir es schaffen,
dies nicht als Opfer zu verstehen, sondern die Kräfte so
zu bündeln, dass die Menschen, wenn irgend möglich,
eben nicht nur in Arbeitslosigkeit entlassen werden. Es
darf nicht sein, dass sie erst ein Jahr lang arbeitslos sind,
bevor wir es schaffen, sie in den Arbeitsmarkt zurückzu-
bringen. Vielmehr müssen sie direkt nach der Kündigung
eines Arbeitsverhältnisses in einen neuen Job gebracht
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist sehr wichtig, an Diskussionen mit den Men-
schen teilzunehmen, die ganz konkret von dem betroffen
sind, was wir hier diskutieren. Ich habe das in dieser und
in der vergangenen Woche hier in Berlin getan. Ich war
zu Diskussionen eingeladen, an denen auch diejenigen
teilgenommen haben, die von dem betroffen sind, was
hier so abstrakt klingt. Jedenfalls konnte man die Einzel-
schicksale erkennen. Da können einem Worte wie „Wir
legen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen und orga-
nisieren das neu“ wirklich im Halse stecken bleiben. Wir
reden über Menschen, die zum Teil erhebliche Probleme
haben, sowohl mit uns als auch mit dem Einstieg in den
Arbeitsmarkt nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit.
Manchmal haben sie auch Probleme mit sich selber.
Auch das gibt es, wie wir alle wissen, in nicht geringer
Zahl, und zwar nicht nur in unserer Gesellschaft, son-
dern in allen Gesellschaften.

Um diesen Menschen wieder eine berufliche Perspek-
tive eröffnen zu können, brauchen wir in den Arbeitsver-
waltungen, in den städtischen Sozialämtern und bei den
freien Trägern Menschen, die sich ganz konkret um die
Betroffenen kümmern und sie buchstäblich an die Hand
nehmen, um sie wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen.
Vor dem Hintergrund, dass, wenn es irgend geht, mehr
als 4 Millionen Arbeitslose in Arbeit gebracht werden
sollen, wissen wir, vor welcher Herausforderung wir ste-
hen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte es aber bei allen finanziellen Veränderun-
gen, die der Bundeskanzler angesprochen hat, ungern so
verstanden wissen, dass diese Menschen Opfer darstel-
len. Sie sind vielmehr ein Ansporn für uns alle, an einer
Veränderung mitzuwirken. Diese Veränderung be-
schränkt sich nicht auf Gesetzesänderungen. Wir alle
– ich möchte das Stichwort von den „Profis der Nation“
aufgreifen, wie immer man das auch verstehen will –, die
Unternehmensleiter, die Vorstände, die Manager, die Be-
triebs- und Personalräte und die Wissenschaftler, sind
gefordert, wenn es darum geht, dass es in den Städten
und Gemeinden, in den Betrieben tatsächlich zu Verän-
derungen kommt.

Das Gleiche gilt übrigens in Bezug auf die Ausbil-
dungsplätze; der Bundeskanzler hat dies in der gebote-
nen Deutlichkeit gesagt. Wir haben in Deutschland
wieder die Situation, dass uns Zehntausende von Ausbil-
dungsplätzen fehlen. Es ist wirklich schwer zu verkraf-
ten, wenn wir hören müssen, dass das notwendige Ange-
bot an Ausbildungsplätzen von Bedingungen abhängig
gemacht wird. Nein, wir müssen die Unternehmer bitten
und an sie appellieren – dafür werden wir sie heimsu-
chen; wir werden alles tun, um sie dazu zu bewegen –,


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: „Heimsuchen“ ist ein gutes Wort!)


mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Westerwelle, „heimsuchen“ ist wirklich
ein gutes Wort. Ich lade Sie ein, mitzukommen. Ich habe
meine Erfahrungen gesammelt. In meiner früheren
Funktion habe ich etwa 300 Unternehmen in Nordrhein-
Westfalen besucht, vor allen Dingen kleine. Ich bilde mir
ein, mir einen gewissen Eindruck verschafft zu haben.
Herr Hinsken weiß es genauso gut wie ich: Sie können
durch Gespräche mit denen, die Mitverantwortung tra-
gen und sich mitverantwortlich fühlen, mit Innungsmeis-
tern und anderen, zu einer Veränderung des Verhaltens
beitragen. Das geht aber nur, wenn wir nicht über ihre
Köpfe hinwegreden, wie es gelegentlich in unseren poli-
tischen Diskussionen geschieht. Wir müssen ganz gezielt
diejenigen vor Ort ansprechen, die dazu beitragen kön-
nen, dass die Ausbildungsplatzfrage gelöst wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich werde alles tun, um das zu erreichen, was der
Bundeskanzler angekündigt hat. Dazu gehört auch die
Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Ausbil-
dungsplätzen.

Ich will noch einmal unterstreichen, was ich gesagt
habe: Es geht nicht allein darum, Mittel zu kürzen; dies
ist leider notwendig. Aber wir müssen die Lohnneben-
kosten senken. Zu einer ehrlichen Analyse gehört, zu sa-
gen, warum die Lohnnebenkosten in Deutschland so
hoch sind. Wir haben so hohe Lohnnebenkosten, weil
wir Anfang der 90er-Jahre – ich glaube, darüber besteht
heute Konsens – eine falsche Richtungsentscheidung ge-
fällt haben. Es war falsch, einen Großteil des Aufbaus
Ost über die Lohnnebenkosten zu finanzieren.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir hätten diese Aufgabe allen Steuerbürgern auferlegen
müssen. Das ist heute aber nicht mehr zu ändern. Trotz-
dem ist es Zeit, die Belastungen anders zu verteilen.

Es ist leichter, von dieser Stelle aus solche Erwartun-
gen an andere zu richten, als zu wissen, was dies tatsäch-
lich bedeutet. Was wir bei der Arbeitslosenhilfe be-
schlossen haben und was bereits Gesetzeskraft ist –
Stichwort: Partnereinkommen und anzurechnendes Ver-
mögen –, bedeutet für einzelne Arbeitslosenhilfebezie-
her eine Reduzierung ihres Einkommens, die in einem
anderen Lebensbereich, zum Beispiel in einem Unter-
nehmen, kaum jemand akzeptieren würde. Dies sind Be-
lastungen in einer Größenordnung, die dort niemandem
zugemutet würden. Bitte lassen Sie uns, wenn wir über
das sprechen, was notwendig ist, auch über diese Men-
schen sprechen! Wir müssen sie gewinnen, auch dafür,
mit uns gemeinsam alles zu versuchen, dass sie wieder
in Arbeit kommen, soweit sie arbeitsfähig sind.


(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich will es noch einmal sagen: Wir reden über heute
4,7 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Es hängt alles
entscheidend davon ab – davon bin ich überzeugt –, dass
wir die Arbeitslosigkeit von Grund auf bekämpfen.
„Von Grund auf“ heißt in meinem Verständnis: vor allem
bei den jungen Leuten. Der Kollege Müntefering hat das
vorhin zu Recht angesprochen. Es sind 580 000 junge
Leute unter 25 Jahren arbeitslos. Wenn da nichts getan
würde, hieße das, die Arbeitslosigkeit schlichtweg fort-
zuschreiben. Wir müssen nicht nur einen Trend stoppen
oder umkehren, sondern wir müssen der hohen Arbeits-
losigkeit die Grundlage entziehen. Dazu muss es uns in
einer gemeinsamen Anstrengung gelingen, zu verhin-
dern, dass junge Leute unter 25 Jahren bei uns überhaupt
in Arbeitslosigkeit gehen. Das ist das Ziel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wie können wir dieses Ziel realisieren? Wir müssen
dafür sorgen – dazu brauchen wir die Unternehmen –,
dass kein junger Mann und keine junge Frau, die ausbil-
dungsfähig und ausbildungswillig sind, ohne Ausbil-
dungsplatz bleiben. Das ist die erste Aufgabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die zweite Aufgabe. Wir müssen dafür sorgen, dass
die jungen Leute dann auch einen Arbeitsplatz bekom-
men. Es macht keinen Sinn, sie an der so genannten
zweiten Schwelle scheitern zu lassen. Sie müssen auch
einen Arbeitsplatz bekommen. Wenn das nicht möglich
ist, dann müssen wir ihnen eine Qualifikation anbieten.
Kein junger Mann, keine junge Frau unter 25 Jahren darf
in Deutschland ohne ein solches Angebot bleiben – alle
diese Angebote sind zumutbar – : Ausbildungsplatz, Ar-
beitsplatz oder Qualifikation. Das ist das Ziel. Wenn wir
das erreichen, dann haben wir der Arbeitslosigkeit in
Deutschland tatsächlich die Grundlage entzogen. Des-
halb müssen wir hier ansetzen und deshalb werden wir
hier ansetzen. Das ist die wichtigste Aufgabe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Woher kommen die Arbeitsplätze?)


– Woher kommen die Arbeitsplätze?

Es wird eine gewaltige Aufgabe, diejenigen, die heute
Sozialhilfe beziehen und erwerbsfähig sind, in die Arbeits-
vermittlung hineinzunehmen. Es sind etwa 1 Million
Menschen – das ist vorhin zu Recht gesagt worden –, die
zusätzlich in Arbeit vermittelt werden müssen. Ein Groß-
teil davon ist bereits heute bei der Arbeitsverwaltung,
ein Teil nicht. Zusammen mit Familienangehörigen
werden sie in ein gemeinsames System gebracht wer-
den. Wir werden die Schizophrenie überwinden – das ist
eine Schizophrenie –, dass zwischen Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe unterschieden wird.


(Zuruf von der FDP: Wo bleiben die Arbeitsplätze?)


– Ich werde Ihnen gleich die Frage beantworten, wo die
Arbeitsplätze sind.

Unter anderem ist auf das zu verweisen, was wir bei-
spielsweise im Gesundheitssektor getan haben und was
Sie bisher noch nicht angesprochen haben, weil Sie da
offensichtlich noch sprachlos sind.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein! Überhaupt nicht!)


Wir werden Arbeitsplätze zu schaffen haben. Wir haben
schon Arbeitsplätze geschaffen. Wir haben neue Mög-
lichkeiten für Dienstleistungen geschaffen. Wir haben
mit dem, was wir hier beschlossen haben, Arbeitsmög-
lichkeiten geschaffen. Da hinein werden wir die Men-
schen vermitteln.

Wir werden das aber nicht schaffen, wenn sich die
Städte und Gemeinden und die freien Träger, die heute
mitwirken, zurückziehen. Was wir vor uns haben, geht
nur im Zusammenwirken von Bundesanstalt für Arbeit,
Arbeitsvermittlung, Kommunen und freien Trägern. Nur
im Zusammenwirken dieser drei Kräfte wird das gelin-
gen.

Weil es vermutlich nicht möglich sein wird, Herr Kol-
lege, alle diejenigen, die erwerbsfähig sind und bisher So-
zialhilfe beziehen, sofort in den ersten Arbeitsmarkt zu
bringen – jawohl, das wird nicht auf Anhieb gelingen –,
müssen wir es schaffen, gemeinsam mit den Städten und
Gemeinden sowie den freien Trägern so etwas wie einen
zweiten Arbeitsmarkt mit zumutbaren Arbeitsverhält-
nissen zu etablieren, in den wir diejenigen bringen kön-
nen, die nicht auf Anhieb in den ersten Arbeitsmarkt
kommen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht darum, meine Damen und Herren, alle Hebel
zu bedienen, die möglicherweise verhindern, dass Ar-
beitsplätze entstehen. Dazu gehört auch das Arbeits-
recht. Das ist die Diskussion, die wir führen. Der Bun-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
deskanzler hat dazu meines Erachtens das Richtige
gesagt. Der Kollege Stoiber ist jetzt leider nicht mehr
hier.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er ist hinter Ihnen!)


– Herr Kollege Stoiber, Entschuldigung; ich habe Sie
nicht gesehen. Sie sind also da.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er ist allgegenwärtig!)


– Wenn es spannend wird, dann ist er hier; das wissen
wir doch.

Herr Kollege Stoiber, wenn Sie die Grenze von
20 Beschäftigten in einem Betrieb so starr setzen, wie
Sie es hier formuliert haben, das heißt alles an der
Grenze von 20 Beschäftigten in einem Betrieb festma-
chen, dann spalten Sie den Arbeits- und Wirtschafts-
markt in Deutschland in einer Weise, die wir noch nie
gehabt haben. Ich halte es für einen grundlegenden Feh-
ler, so vorzugehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wollen alles an der Grenze von 20 Beschäftigten
festmachen. Sie werden dann eine Grenze haben, die den
Arbeitsmarkt und viele Beschäftigungsverhältnisse tref-
fen wird. Ich bin sicher, das werden Sie nicht durchhal-
ten. Auf die Diskussion darüber bin ich gespannt.

Ich glaube deshalb, dass der Vorschlag, den der Bun-
deskanzler hier skizziert hat, nämlich Betrieben mit bis
zu fünf Beschäftigten, die noch nicht dem Kündigungs-
schutz unterliegen, die Möglichkeit zu geben, zusätzlich
befristete Arbeitsverhältnisse einzugehen, wobei diese
nicht auf die in diesem Zusammenhang bestehende Be-
schäftigungsschwelle angerechnet werden, richtig ist. Er
führt zu mehr Elastizität. Die Unternehmen, die zusätz-
lich einstellen wollen – dabei geht es um die kleinen
Unternehmen –, sollten diese Möglichkeit erhalten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503202400


Herr Minister, lassen Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel zu?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Ja, sehr gerne.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503202500


Bitte.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1503202600


Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Minister, der Vor-
schlag, der vom Bundeskanzler und von Ihnen skizziert
worden ist, besagt ja, dass Betrieben mit bis zu fünf Ar-
beitnehmern, um das Kündigungsschutzgesetz nicht wir-
ken zu lassen, eine unbegrenzte Anzahl von befristeten
Beschäftigungsverhältnissen ermöglicht werden soll und
dass auch Zeitarbeitnehmer nicht auf den Schwellenwert
angerechnet werden sollen. Ist es denn zum einen nicht
so, dass schon heute Zeitarbeitnehmer nicht auf den nach
dem Kündigungsschutzgesetz bestehenden Schwellen-
wert der Beschäftigten angerechnet werden? Was soll
zum anderen daran besser sein, eine unbegrenzte Anzahl
von auf höchstens 24 Monate befristeten und, wie Sie
immer gesagt haben, prekären Beschäftigungsverhältnis-
sen zu ermöglichen, anstatt dauerhaft einzustellen?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Herr Kollege, das heutige Recht ist so, dass befristete
Arbeitsverhältnisse auf den Schwellenwert angerechnet
werden, sodass ein Arbeitgeber, der fünf Beschäftigte
hat und ein sechstes Arbeitsverhältnis eingeht, für all
seine Beschäftigten den Kündigungsschutz auslöst. Das
ist die heutige Rechtslage, die durch die Rechtsprechung
belegt ist. Nur Aushilfskräfte werden nicht angerechnet,
nicht aber befristete Beschäftigungsverhältnisse. Des-
halb haben der Bundeskanzler und auch Herr
Müntefering im Gegensatz zu Ihnen nur von befristeten
Arbeitsverhältnissen gesprochen. So ist es korrekt.

Was soll unser Vorschlag bringen? Das führt dazu,
dass ein Arbeitgeber mit bis zu zwei Jahren befristeten
Arbeitsverhältnissen arbeiten kann. Er kann sogar inner-
halb dieser zwei Jahre wechseln. Er kann mehrere Ar-
beitnehmer befristet beschäftigen und kann sich in dieser
Zeit – da müssten Sie mir eigentlich zustimmen – klar
darüber werden, ob er einen Schritt weiter geht oder ob
er besser mit befristeten Arbeitsverhältnissen arbeiten
kann. Das liegt so nüchtern und klar auf der Hand, dass
ich es besser nicht beschreiben kann. Ich bitte Sie, damit
einverstanden zu sein, dass ich dies so sehe und Ihnen so
darstelle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist also der Vorschlag, der dazu vorliegt. Es ist in-
teressant: In Wahrheit gibt es keinerlei Beleg dafür, ob
die eine oder die andere Ansicht richtig ist. Zur Zeit der
Regierung Helmut Kohls gab es einen Schwellenwert
von zehn Beschäftigten. Diese Regelung war drei Jahre
in Kraft. Es ist im Nachhinein nicht eindeutig festgestellt
worden, wie sie sich auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt
hat. Es gibt bisher keine Nachweise – auch international
kaum –, dass diese Grenze ihre Wirkung erzielt hat.

Weil es spannend und wichtig ist, sich ein bisschen
Orientierung zu verschaffen, habe ich bei Forsa eine
Untersuchung in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind
interessant. Denn sie zeigen, Herr Kollege Stoiber, wie
viele Menschen von den Regeln, über die wir hier disku-
tieren, betroffen sind. Es gibt in Deutschland 1,45 Millio-
nen Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten. In die-
ser Umfrage, deren Ergebnis ziemlich erhellend war,
haben 42 Prozent der Inhaber dieser Unternehmen ge-
sagt, dass sie sich vorstellen können, ein bis zwei Be-
schäftigte zusätzlich einzustellen, wenn dies nicht den
Kündigungsschutz auslöst. Sie sagen das nicht, weil sie
prinzipiell gegen den Kündigungsschutz sind, sondern






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
weil sie die damit verbundene rechtliche Einbindung be-
sorgt.

Auch ich bin nicht gegen den Kündigungsschutz. Ich
bin wie der Kollege Müntefering und meine Freunde in-
nerhalb der Sozialdemokratie dafür, den Kündigungs-
schutz zu erhalten. Ich bin aber auch dafür, nach Wegen
zu suchen, wie wir verhindern können, dass er sich zu ei-
ner Bremse entwickeln könnte. Darum geht es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn ich die von mir genannte Zahl von 1,45 Millio-
nen Unternehmen hochrechnen würde, dann müsste ich
sagen: Unser Vorschlag könnte, theoretisch gesprochen,
einige 100 000 Arbeitsplätze schaffen. Weil ich aber bei
allem Optimismus, zu dem ich mich trotz der vielen de-
pressiven Veranstaltungen, die man in seinem Leben
mitmachen muss,


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


immer wieder aufraffe und dem ich mich verpflichtet
fühle, versuche, ein Realist zu sein, sage ich: Wenn
10 Prozent dieser Unternehmen zusätzlich ein oder zwei
Personen einstellen, dann ist das viel. Dann betrifft das
immerhin einige 10 000 Menschen, die möglicherweise
dadurch einen Arbeitsplatz erhalten können. Es lohnt
sich also.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben nunmehr fünf Jahre lang darüber diskutiert,
was gegen eine solche Regel sprechen könnte, haben
evaluiert und haben versucht, festzustellen, ob sie etwas
bringt oder nicht. Es wird Zeit, dass wir etwas tun und
uns darüber klar werden, was geht und was nicht. Ich bin
für eine Regelung.

Wir haben – das hat der Bundeskanzler schon darge-
stellt – auch ein Abfindungsrecht vorgesehen. Herr
Kollege Stoiber, ich muss Ihnen ganz offen sagen – das
sage ich auch an Ihre Adresse, Frau Kollegin Merkel –:
Es ist, jedenfalls für die Arbeitnehmer, nicht fair, sich bei
Vertragsunterzeichnung entscheiden zu müssen, ob eine
Abfindungsregelung in den Vertrag aufgenommen wird
oder nicht. Das ist der Vorschlag der Union. Wer sich in
der heutigen Zeit angesichts der schwierigen Lage auf
dem Arbeitsmarkt um einen Arbeitsplatz bewirbt, ist in
der Situation des Unterlegenen. Das gilt nicht für jeden,
aber doch für viele. Man wird also bereit sein – das ist
völlig klar –, einen solchen Vertrag zu unterschreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb halten wir es für vernünftig, diese Entscheidung
den Betroffenen erst dann anheim zu stellen, wenn die
Kündigung ausgesprochen wird. Erst dann sollen gesetz-
liche Regelungen wirken. So haben wir es vorgesehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Tarifvertragsrecht. Zwischen Ihren und unse-
ren Vorstellungen hierzu gibt es einen entscheidenden
Unterschied. Wenn der Kollege Merz hier wäre, würde
ich das noch etwas härter ausdrücken. Sie, Frau Merkel,
sprechen dieses Thema sehr sanft an, weil Sie wissen,
dass dies kein guter Weg für die CDU ist. Sie wissen,
dass viele in der CDU bei dem, was der Kollege Merz
dazu sagt, nicht mitgehen werden und nicht mitgehen
können.

Herr Kollege Westerwelle, Sie bemühen sich erst gar
nicht um die Unterstützung der Gewerkschaft. Deshalb
muss ich mich mit Ihnen über dieses Thema gar nicht
erst auseinander setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme auf Ihre Position, Frau Merkel, zurück.
Hier besteht ein Widerspruch. Sie sprechen ständig von
Deregulierung und wollen ein Gesetz hierzu machen.
Aber auch die Arbeitgeber sagen: Lassen Sie uns einen
Tarifvertrag über betriebliche Öffnungsklauseln ab-
schließen. Ist Ihnen denn nicht klar, dass vertragliche
Regelungen immer besser sind als gesetzliche Regelun-
gen, erst recht da, wo es um Tarifautonomie geht? Das
ist doch selbstverständlich. Sie haben über Freiheit ge-
sprochen und dem Kanzler vorgeworfen, er hätte das
Wort „Freiheit“ nicht in den Mund genommen. Hätte er
an der entsprechenden Stelle von Freiheit gesprochen,
dann hätten Sie erkennen müssen, dass Sie eigentlich ge-
gen ein Gesetz und für freie Vereinbarungen zwischen
den Tarifparteien sein müssten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur dann, wenn der Weg über vertragliche Regelun-
gen wider Erwarten nicht gelingt, stellt sich die Situation
anders dar. Aber, Herr Kollege Stoiber, es gibt in einer
Vielzahl von Tarifverträgen in Nordrhein-Westfalen
– ich weiß nicht, wie viele es sind – und mit Sicherheit
auch in Bayern solche Öffnungsklauseln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es ist doch absurd, wenn von Ihnen, Herr Kollege
Westerwelle, dargestellt wird, die Gewerkschaften und
die Betriebsräte würden sich dem entziehen. Es gibt
viele Tarifverträge mit solchen Öffnungsklauseln.
Schauen Sie sich das in meiner Gewerkschaft an.

Sie fragen neuerdings nach, wer in welcher Gewerk-
schaft ist. Ich bin, damit Sie das wissen, in der IGBCE.
Früher war ich in der Journalistengewerkschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: 75 Prozent von Ihrer Partei sind in einer Gewerkschaft!)


– Diese 75 Prozent sind genauso unabhängig wie ich und
fühlen sich unabhängiger als mancher, der für andere
wichtige gesellschaftliche Gruppen eintritt, beispiels-
weise für die Arzneimittelindustrie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
Also lassen Sie das.

Das wollte ich Ihnen sowieso sagen. Wenn Sie in die-
sem Hohen Haus erwachsenen Leuten wie mir entspre-
chende Fragen stellen, mich auffordern, ich solle Aus-
kunft darüber geben, ob ich in einer Gewerkschaft bin
oder nicht, dann empfinde ich das als eine Zumutung.
Das finde ich nicht in Ordnung. Lassen Sie das sein!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich habe Sie das doch gar nicht gefragt!)


Ich beantworte solche Fragen nicht. Ich bin ein freier
Mensch. Ich berufe mich so wie Frau Merkel auf die
Freiheit. Solche Fragen werde ich nur dann beantworten,
wenn es mir gefällt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Der Karneval ist vorbei!)


Die Tarifautonomie gegebenenfalls mit Gesetzeskraft
einschränken zu wollen ist ein Thema, über das wir sehr
ernsthaft nachdenken sollten. Die Tarifhoheit wird näm-
lich über die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 unseres Grund-
gesetzes geschützt. Ich würde damit nicht auf diese
Weise umgehen, und ich sehe, dass manche von Ihnen
ebenfalls sehr vorsichtig sind und große Hemmungen
haben, auf diese Weise vorzugehen. Das kann man nur
tun, wenn Not am Mann ist. Aber dafür spricht nichts.
Die Vernunft der Gewerkschaften spiegelt sich in vielen
betrieblichen Vereinbarungen wider. Sie werden sich
auch in diesem Fall bewähren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503202700


Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schauerte?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Das kann ich gar nicht verhindern; er ist schließlich
Sauerländer. Franz Müntefering würde es mir verübeln,
wenn ich ihn nicht seine Zwischenfrage stellen ließe.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503202800


Die Sauerländer haben nach unserer Geschäftsord-
nung keine zusätzlichen Rechtsansprüche auf Redezeit.
Insofern liegt die Entscheidung, ob Sie die Frage zulas-
sen, ganz in Ihrem Ermessen.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Herr Präsident, Sie gehen sehr streng mit ihnen um.

Herr Kollege Schauerte, sammeln Sie sich.

Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1503202900


Ich hoffe, ich brauche nicht die Zustimmung von
Herrn Müntefering. Das würde ich als Belastung emp-
finden.


(Lachen bei der SPD)


Ich komme zu meiner Frage. Sie haben gerade so
engagiert über die Freiheit und die Notwendigkeit, unnö-
tige Gesetze und unnötigen gesetzlichen Druck zu ver-
meiden, gesprochen. Bei der Umsetzung des Hartz-
Konzeptes gab es bei der Frage, wie die entliehenen Ar-
beitnehmer bezahlt werden könnten, genau diese De-
batte.


(Dirk Niebel [FDP]: Jawohl!)


Sie haben bei diesem Thema eindeutig auf die gesetzli-
che Regelung gesetzt und die tarifliche Freiheit einge-
schränkt. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Herr Kollege Schauerte, ich bin so konsequent, wie
man überhaupt nur sein kann. Deshalb setze ich auch bei
den Zeit- und Leiharbeitsverträgen auf die Vernunft
der Tarifparteien. Wie Sie wissen, sind die Tarifparteien
zurzeit dabei – das ist ein sehr spannender Prozess –, Ta-
rifverträge abzuschließen. Noch ist es nicht zu den Tarif-
verträgen gekommen. Es scheint aber so zu sein, dass ich
mit meiner Prognose Recht gehabt habe, dass es nämlich
zu tariflichen Vereinbarungen kommen wird. Diese wer-
den auch Peter Hartz befriedigen. Ich bin mir noch nicht
ganz so sicher – ich glaube es aber –, dass ich das auch
bei Ihnen schaffe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch hier setze ich auf die Vernunft der Tarifparteien
und nicht auf das Gesetz.

Herr Kollege Schauerte, der Grundsatz, der im Gesetz
vorgesehen ist, dass nämlich in Deutschland und in ganz
Europa der gleiche Lohn für gleiche Arbeit gezahlt
wird – in English: Equal Pay –, soll für ganz Europa gel-
ten. Das legt die Europäische Kommission gerade in ei-
ner Richtlinie fest. Sie werden dieser Richtlinie später
genauso zustimmen wie ich auch. – Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun zum Handwerksrecht, das sehr spannend ist.
Ich höre Sie immer über die Felder sprechen, in denen es
wirklich – das muss ich Ihnen so deutlich sagen – um die
Schwächeren geht. Herr Kollege Hinsken, wir müssen
natürlich genauso hart und deutlich – der Bundeskanzler
hat das beispielsweise mit dem Bereich der Gesundheit
getan; er hat über Ärzte und andere gesprochen – über
das Handwerk und das Handwerksrecht sprechen. Auch
hier stellt sich die Frage, ob wir Türen verschlossen ha-
ben, die wir öffnen müssen, um mehr Unternehmen und
Arbeitsplätze zu schaffen.

Ich wurde vorhin durch einen Zwischenruf gefragt,
wo denn die Arbeitsplätze sind. Hier stellt sich die






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
Frage, ob unser heutiges Handwerksrecht geeignet ist,
zusätzliche Unternehmen und damit auch zusätzliche
Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Die Diskussion ist
teilweise emotional und ausgesprochen intensiv. Wir ha-
ben sie gestern in München und ich habe sie schon vor-
her mit dem Handwerk geführt. Dies werden wir auch
weiterhin tun.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das Kind mit dem Bade ausschütten!)


Wir müssen bald zu Ergebnissen kommen.

Ich habe überall gesagt: Lassen Sie uns mit allem,
was wir können, versuchen, im Konsens zu sein. Lassen
Sie uns versuchen, gemeinsam mit dem Handwerk eine
Lösung zu finden. Wir müssen diese Lösung finden. Es
kann nicht sein, dass wir uns immer wieder einem Punkt
nähern und dann vor der Lösung wieder zurückschre-
cken. Ich verstehe, dass das für das Handwerk sehr
schwierig ist. Es ist ein sehr stolzer und sehr wichtiger
Sektor unserer Wirtschaft mit einer großen Tradition. Ich
mag diese Tradition und das Handwerk und ich bin – das
habe ich schon oft gesagt – ein Anhänger der Hand-
werkskammern und erst recht der dualen Berufsausbil-
dung. Ich finde den Meisterbrief wunderbar. An zwei
Feststellungen führt aber kein Weg vorbei; denn das
Handwerksrecht wird von zwei Seiten unter Druck kom-
men:

Erstens nenne ich den kleingewerblichen Bereich,
der jetzt unter anderem mit der Ich-AG und anderem ent-
steht. Es besteht gar kein Zweifel, dass wir diesen klein-
gewerblichen Bereich brauchen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Unterlaufen der Handwerkskammer!)


Herr Kollege, Sie fragen, wo die Arbeitsplätze sind. Ich
sage Ihnen, dass sie nicht nur, aber auch dort sind. Der
Dienstleistungssektor in Deutschland ist unterentwickelt.

Herr Kollege Hinsken, Sie müssen auch Folgendes
bedenken – das muss auch das Handwerk beschäftigen –.
Einerseits ist es sehr wichtig und schön, in den einzelnen
Gewerken und Handwerkssektoren organisiert und ver-
treten sowie fachlich so hervorragend zu sein wie unsere
Handwerker. Sie sind – auch das ist ein solcher Bereich
– wirklich Weltspitze. Das straffe Recht hat aber den
Nachteil, dass neue Märkte nicht entwickelt werden. Wie
kommt es, dass das Handwerk beispielsweise nicht
schon längst im Handel tätig ist? Diese Grenzen müssten
wir längst übersprungen haben. Solche Entwicklungen
brauchen wir, wenn wir dort neue Beschäftigungsmög-
lichkeiten schaffen wollen.

Der zweite Punkt ist, dass aus allen Richtungen
Europas – wir haben neun Nachbarstaaten – Unterneh-
men auf uns zukommen, die im Handwerk tätig sind und
diese strengen Voraussetzungen nicht haben. In diesen
muss man keinen Meisterbrief haben. Wer in Belgien,
Polen, Frankreich oder einem anderen unserer Nachbar-
staaten seit sechs Jahren ein Unternehmen führt – unter
welchen rechtlichen Bedingungen auch immer –, der
kann in die Bundesrepublik Deutschland kommen und
hier dem Handwerksberuf nachgehen. Das führt schlicht
und ergreifend zu dem, was Juristen als drohende Inlän-
derdiskriminierung bezeichnen. Ich habe in Passau und
Vilshofen erlebt, wie ernst dieses Thema ist. Es ist
schwierig, eine Lösung dafür zu finden, dass aus der
Tschechischen Republik hervorragende Handwerker
nach Deutschland kommen, die aber nicht alle die glei-
chen Voraussetzungen wie die deutschen Handwerker
haben.

Es bringt also nichts zu sagen: Der Meisterbrief darf
nicht angetastet werden. Wir müssen vielmehr einen
Weg finden, die Pflicht zum Meisterbrief auf die Berei-
che zu konzentrieren, die rechtlich unangreifbar sind und
bei denen auch kein Druck aus dem Ausland droht. Das
haben unsere Experten als gefahrengeneigte Handwerke
definiert. Aber es kann sein, dass in anderen Bereichen
die Meisterprüfung nicht mehr verpflichtend, sondern
freiwillig ist. Sie verliert deshalb nicht an Qualität. Im
Handwerk müssen wir durchsetzen, dass die freiwillige
Qualifikation nicht als mindere Qualifikation angesehen
wird. Sie hat die gleiche qualitative Kraft wie die ver-
pflichtende Meisterprüfung. Das müssen wir zuwege
bringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Small Business Act haben wir vorgesehen, dass
einfache Tätigkeiten nicht mehr dem Handwerksrecht
unterliegen. Das ist in Wahrheit nicht mehr als eine
rechtliche Klarstellung; denn in der Rechtsprechung
wird es bereits heute so gehandhabt. Der nächste Schritt,
den wir mit der Reform der Handwerksordnung vor der
Sommerpause auf den Weg bringen müssen, geht wirk-
lich an die Substanz. Mit dieser Reform werden ver-
schiedene Punkte aufgegriffen. Ich bin überzeugt, dass
uns das gelingt, ohne dass das Handwerk deshalb an Be-
deutung verliert.

Wir müssen die Betriebe mobilisieren. Wir hatten ein-
mal fast 700 000 Handwerksunternehmen in Deutsch-
land.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!)


Zurzeit haben wir auch wegen der ökonomischen Lage
– das ist unbestreitbar – 560 000 Unternehmen. Es
spricht wenig dafür, dass wir unter dem Druck der euro-
päischen Entwicklung die Zahl von früher erreichen
werden. Deshalb müssen wir gemeinsam neue Wege ge-
hen. Für diese neuen Wege werbe ich. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will etwas zu den Existenzgründern sagen, über
die auch der Bundeskanzler gesprochen hat. Wir müssen
prüfen, ob über die Regelung der Beitragsfreiheit für
Existenzgründer hinausgehend – das hat der Bundes-
kanzler vorgeschlagen – Existenzgründungen in diesem
Bereich gefördert werden können. Möglicherweise
könnten die Handwerkskammern entsprechende Exis-
tenzgründerpakete anbieten, die dazu führen, dass vor al-
len Dingen mehr junge Leute den Weg in die Selbststän-
digkeit wagen.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
Ein anderes Thema ist der Bürokratieabbau. Frau
Kollegin Merkel, ich finde es wichtig, dass nun auch Sie
dieses Thema aufgenommen haben. Willkommen im
Klub!


(Siegfried Scheffler [SPD]: Besser spät als nie! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was?)


Es ist wirklich wichtig, dieses Thema voranzutreiben.
Dies ist, wie ich weiß und wie es auch alle anderen wis-
sen, eine sehr diffizile Aufgabe. Es geht dabei aber nicht
nur um das Handwerksrecht, sondern um alle Regeln
und Regularien, die sich die verschiedenen Berufsstände
in Deutschland zugelegt haben. Zu fragen, ob alle diese
Regeln vernünftig sind, ist ebenfalls Deregulierung und
Entbürokratisierung.

Einige Fragen, die mir gerade in den Sinn kommen,
sind: Ist es richtig, dass wir eine Honorarordnung für Ar-
chitekten und Ingenieure haben? Was spricht dafür, dass
der Staat eine solche Honorarordnung festlegt? Können
dies auch andere tun? Frau Kollegin Merkel hat das Bei-
spiel mit den Schornsteinfegern gebracht. Ich weiß nicht,
wie sie darauf gekommen ist, aber ihr Einwand ist be-
rechtigt. Diese Frage kann man aufwerfen. Man kann
dies an verschiedenen Berufsständen festmachen.

Wichtig ist mir zurzeit vor allen Dingen eine Ange-
legenheit, die mit der Frage der Ausbildung zusammen-
hängt. In Westdeutschland verfügen 44 Prozent der
Unternehmen nicht über eine Ausbildereignung, in Ost-
deutschland sind es 53 Prozent. Wer sich das vor Augen
führt, der wird sich nicht wundern, dass wir nicht genü-
gend Ausbildungsplätze haben. Das ist natürlich nicht
der einzige Grund. Aber es ist vermutlich ein Grund,
weil außer Meistern, Ingenieuren und Beamten ab einer
bestimmten Qualifikation alle anderen erst eine Ausbil-
dereignungsprüfung machen müssen. Diese Prüfung ist
nicht so ganz einfach und erfordert einen großen Kraft-
aufwand. Auch muss man seine Scheu gegenüber der
Bürokratie ablegen, die es gelegentlich auch in Kam-
mern geben soll.

Ich erwähne diese Scheu vor der Bürokratie deshalb,
weil ich dabei an Unternehmen mit einem ausländi-
schen Gründer denke. Zehntausende von Ausländern
führen bei uns ein Unternehmen. In Nordrhein-Westfa-
len sind es 57 000; das weiß ich aus der Erinnerung.
Aber nur ganz wenige von ihnen bilden aus. Sie bilden
nicht aus, weil sie vermutlich davor zurückschrecken,
sich an die Kammern mit ihrer Bürokratie zu wenden,
und Sorge haben, mit anderen zu kollidieren. Deshalb
versuchen sie, dem zu entgehen. Aus diesem Grunde
brauchen wir uns nicht zu wundern, dass zu viele auslän-
dische Jugendliche – es sind wesentlich mehr als deut-
sche Jugendliche – keine vernünftige Ausbildung bei
uns machen. Deshalb müssen wir auch in diesem Sektor
zu Veränderungen kommen. Das ist Entbürokratisierung,
die Sinn macht. Das bedeutet – das hat der Bundeskanz-
ler gesagt –, dass wir von den differenzierten Regelun-
gen, Prüfungen und Prüfungswiederholungen wegkom-
men wollen. Wir sagen: Jemand, der ein Unternehmen
fünf Jahre lang in Deutschland erfolgreich geführt hat,
ist auch geeignet auszubilden. Wir nehmen an, dass er
die Ausbildereignung hat, und werden ihn auch so be-
handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das machen wir nicht mit!)


Es hat mich übrigens gefreut, von Kollegin Merkel et-
was über die Reform des Föderalismus zu hören. Über
diese Reform wird seit zwei Jahren zwischen dem Bund
und den Ländern diskutiert, zwischen dem Bundeskanz-
ler und den Ministerpräsidenten, zwischen dem Bundes-
innenminister und seinen Kollegen in den Ländern.
Diese Gespräche werden, soweit ich orientiert bin, im
April fortgesetzt. Ich halte sehr viel davon, zu fragen, ob
die föderalen Strukturen in Deutschland wirklich noch
auf der Höhe der Zeit sind. Ich sage dies vor dem Hinter-
grund meiner ehemaligen Funktion, die noch nicht so
lange zurückliegt, als dass ich nicht wüsste, worüber ich
rede. Es ist sehr wichtig, dass wir uns fragen, ob die viel-
fachen Verflechtungen zwischen der Bundes- und der
Länderebene noch Sinn machen, oder ob wir dort zu
Veränderungen kommen sollten.

Ich fühle mich für einen Vorschlag, der sowohl im
Zusammenhang mit dem Bürokratieabbau, als auch mit
der Föderalismusreform diskutiert wird, ein wenig mit-
verantwortlich: die so genannte Experimentierklausel.
Im Rückgriff auf eine Äußerung von Helmut Schmidt
habe ich in meiner ersten Rede in meiner jetzigen Funk-
tion hier etwas dazu gesagt. Deshalb will ich heute das
sagen, was ich gestern den Wirtschaftsministern der
Länder gesagt habe: Ich habe sie gebeten, keine Irr-
wege einzuschlagen. Wir reden in Deutschland sicher
nicht – das würde ich auch nicht empfehlen – über
„Sonderwirtschaftszonen“. Dieser Begriff steckt Leuten
meines Alters noch so tief in den Knochen, dass sie ihn
gar nicht hören wollen. Es geht auch nicht um Sonder-
wirtschaftszonen oder -regionen in Deutschland. Es
kann nicht darum gehen, in einigen Ländern Sonder-
recht zu schaffen.

Von Kollegen – je weniger Einwohner ihre Länder
haben, desto größer ist der Mut – habe ich gehört, dass
sie am liebsten sofort das gesamte Arbeitsrecht abschaf-
fen würden. Ich habe gesagt: Wenn ein solcher Vor-
schlag überhaupt übernommen wird – wir erörtern das
zurzeit in der Bundesregierung; danach wird darüber
weiter zu diskutieren sein –, dann kann er sich bezüglich
des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern nur um
Verwaltungs- und Verfahrensfragen drehen. Er kann sich
nicht um materielles Recht drehen. Er kann sich nur um
Verwaltungs- und Verfahrensfragen drehen, weil die
Länder auf diesem Gebiet eine originäre Zuständigkeit
haben. Wenn man experimentieren und eine solche Inno-
vationsklausel einführen will, liegt es nahe, den Ländern
das für diesen Sektor anheim zu stellen. Im Übrigen ist
die Erwartung zu äußern, dass auch die Länder in ihren
Regionen solche Experimente durchführen, wie das in
einzelnen Ländern in der Bundesrepublik Deutschland
geschieht. Ich sage das nur, um für Klarheit zu sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
Neben dem, was dem Einzelnen zugemutet werden
muss, was er an Opfern und Beiträgen erbringen muss,
geht es vor allen Dingen darum, die Kräfte, die es – das
wissen wir alle – in unserem Land gibt, zu wecken, um
mehr junge Leute – aber nicht nur junge Leute – zu mo-
tivieren, den Weg in die Selbstständigkeit zu riskieren.
Bei aller Bedrängnis, die das Problem der Arbeitslosig-
keit aufwirft, finde ich es ermutigend, dass im vergange-
nen Jahr 123 000 Menschen den Weg aus der Arbeits-
losigkeit in die Selbstständigkeit gewagt haben. Dieser
Weg ist nicht von vornherein erfolglos, sondern in vielen
Fällen Erfolg versprechend.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist ein ganz erfolgreiches Programm!)


Deshalb ist der Weg der Ich-AG richtig. Das ist nicht der
einzige Weg, aber es ist ein Weg. Wir brauchen mehr
Unternehmen.

Außerdem müssen wir erreichen – mir ist es sehr
wichtig, was der Bundeskanzler zu den Themen Wissen-
schaft und Forschung sowie öffentliche und private Mit-
tel gesagt hat –, dass wir in den Spitzentechnologien
weiterhin in der Weltspitze bleiben. Das ist die wich-
tigste Aufgabe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb wehre ich mich dagegen, dass hier der Ein-
druck erweckt wird, Deutschland sei in der Automo-
bilbranche, in der Automobiltechnologie und im Maschi-
nenbau nicht Weltspitze. Wir befinden uns in diesen
Bereichen durchaus in der Weltspitze. Wir müssen mehr
tun, um auch in den Feldern, die über die Wachstums-
märkte der Zukunft entscheiden, ebenfalls in der Welts-
pitze zu sein. Dazu brauchen wir mehr öffentliche und
private Investitionen. In diesem Haushalt müssen wir in
diesem Sektor eine kleine Atempause einlegen. Wie der
Bundeskanzler ausgeführt hat, sind mehr öffentliche In-
vestitionen, auch der Länder, notwendig. Aber es sind
auch sehr viel mehr private Investitionen erforderlich. Es
ist nicht von Vorteil, dass die deutsche Wirtschaft ihre
Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwick-
lung drosselt, dass das Wachstum in diesem Bereich im
vergangenen Jahr nur noch 1,7 Prozent betragen hat und
dass es in diesem Jahr noch weiter sinken soll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist nicht damit getan, immer nur Erwartungen ge-
genüber der Politik zu äußern. Sie haben sich daran ge-
wöhnt, alle Schuld und Verantwortung bei Rot-Grün –
meistens bei der rot-grünen Bundesregierung – zu suchen.
Schauen Sie sich einmal in den Bereichen um, in denen
Sie Verantwortung tragen! Fragen Sie doch in den Unter-
nehmen und in der Kreditwirtschaft, was dort geschieht!
Fragen Sie in der Pharmaindustrie, warum wir trotz der
hohen Arzneimittelpreise in der Forschung nicht so gut
sind, wie wir sein könnten! Es gehört mehr dazu, als nur
immer mit dem Finger auf andere zu zeigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es ist notwendig, die Kräfte zu mobilisieren und über
Qualifikation zu reden. Wir müssen in der Tat über Bil-
dung und Wissenschaft wie auch über die Ausbildung
und Qualifikation der Bürgerinnen und Bürger reden.


(Markus Löning reden!)


Der Kollege Stoiber hat beklagt, dass junge Leute ins
Ausland gehen. In welcher Welt leben wir eigentlich?
Ich finde das, ehrlich gesagt, nicht dramatisch. Ich habe
selber eine Tochter an die USA verloren. Aber ich habe
noch nicht einmal ideologische Einwände dagegen erho-
ben.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das kann doch kein Problem darstellen. Wir wollen
schließlich nicht wieder zu den alten Formen des Zusam-
menlebens zurückkehren.

Ich freue mich sehr, dass seit der Einführung der Ju-
niorprofessuren in Deutschland der Ausländeranteil, der
früher 5 Prozent betragen hat, auf 15 Prozent gestiegen
ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wichtig ist, dass wir einen Austausch zustande bringen
und dass wir dafür sorgen, dass ein bisschen Luft in das
System kommt. Darauf, dass ab und zu jemand ins Aus-
land geht, können wir doch stolz sein. Wenn deutsche
Akademiker beispielsweise in den USA gesucht werden,
kann unser Bildungssystem so schlecht nicht sein. Der
amerikanische Vorteil besteht darin, dass die Amerikaner
Experten aus Asien und Europa die Türen öffnen. Das
müssen Sie beim Zuwanderungsrecht auch machen. Ge-
nau darum geht es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht auch um die Ausbildungsplätze. Bei diesem
Thema kann ich nicht lockerlassen. Ich bin dem Bundes-
kanzler sehr dankbar dafür, dass und wie er es zur Spra-
che gebracht hat. Ich gehe davon aus, dass vor allem von
außen – das wird aus den ersten Reaktionen deutlich;
zwar nicht in jedem Fall, aber bei den meisten hat man
es zwischen den Zeilen lesen können – verstanden wor-
den ist, dass diese Regierungserklärung das Signal zu
den entscheidenden Veränderungen in Deutschland be-
deutet, dass wir eine neue Weichenstellung vornehmen
müssen und dass alle aufgefordert sind, daran mitzuwir-
ken.

Wenn das der Fall ist – wir werden die Gespräche
fortsetzen, mit den Gewerkschaften und Arbeitnehmern
wie mit der unternehmerischen Seite, mit Wissenschaft-
lern und allen, die Mitverantwortung tragen, und zwar
auf allen Ebenen –, erwarte ich auch, dass die Unterneh-
men der deutschen Wirtschaft Maßnahmen ergreifen, da-
mit wir diese Ausbildungskalamität überwinden. Wir
werden vonseiten der Bundesregierung die notwendigen
Schritte einleiten, soweit wir das können. Aber wir wis-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Wolfgang Clement
sen auch, dass das nicht allein aus unserer Kraft möglich
ist, sondern dass wir dazu die Mitwirkung der Unterneh-
men brauchen und die Bereitschaft aller, darauf zu drän-
gen.

Wir brauchen übrigens auch - weil wir so oft über den
Mittelstand sprechen – die Mitwirkung der Kreditwirt-
schaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Kreditwirtschaft muss sich langsam, aber sicher in
Form bringen. Ich meine das nicht zurückblickend mit
irgendwelchen Vorwürfen verbunden, aber es ist tatsäch-
lich vor allem ein Manko der heutigen Mittelstandspoli-
tik, dass die Kreditwirtschaft bzw. die Banken nur be-
dingt bewegungsfähig sind, wenn es um Kredite und
Eigenkapitalbildung in kleinen und mittleren Unterneh-
men geht. Das – vor allem die Eigenkapitalbildung – ist
eines der Hauptthemen, mit denen wir uns beschäftigen
müssen.

Ich gehe davon aus, dass es ausgehend von dieser Re-
gierungserklärung in Deutschland zu einer gemeinsamen
Kraftanstrengung kommt, der sich keine Seite entziehen
kann. Das Reformfenster ist jetzt geöffnet worden und
wir haben keine Zeit zu verlieren. Deshalb bin ich sehr
froh, dass auch der Kollege Müntefering deutlich ge-
macht hat, dass die wichtigsten Reformen im Arbeits-
markt, im Gesundheitsbereich und in allen Sektoren, die
heute eine Rolle gespielt haben, bis zum Sommer hin-
sichtlich ihrer Strukturen feststehen müssen. Wir müssen
wissen, was wir wollen. Wir wissen das auch.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie wissen auch, dass es zu wenig ist, was Sie machen!)


Wir müssen wissen, was wir gemeinsam erreichen wol-
len, und das dann so rasch wie irgend möglich in gelten-
des Recht umsetzen. Das erwarten die Bürgerinnen und
Bürger und die Unternehmen von uns.

Unser Programm für eine Erneuerung der sozialen
Marktwirtschaft – darum geht es unverändert – liegt
vor. Das ist das, was heute zur Diskussion steht und was
jetzt die Grundlage des Handelns in Deutschland sein
muss. Das ist – um es klar zu sagen – keine „neue soziale
Marktwirtschaft“, von der Frau Kollegin Merkel einmal
gesprochen hat; denn diese richtet sich – diesen Ein-
druck gewinne ich, wenn ich Herrn Merz und anderen
zuhöre – offensichtlich in erster Linie gegen die Ge-
werkschaften. Das empfinde ich als unhistorisch. Man-
che Historiker in Ihren Reihen – nicht wenige, die aus
der Arbeiterbewegung kommen, sind historisch bewan-
dert und haben sich damit sehr intensiv beschäftigt –
wissen ganz genau, dass das nicht gut gehen kann.

Uns geht es darum, die soziale Marktwirtschaft in ih-
rer Substanz zu erhalten, sie nicht aufs Spiel zu setzen.
Deshalb wollen wir sie nicht durch eine neue ersetzen
lassen. Uns geht es darum, eine europäisch orientierte
soziale Marktwirtschaft zu begründen, die auch in die-
sem Jahrhundert ein tragfähiges Fundament für Wohl-
stand nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa
sein kann und – davon bin ich überzeugt – sein wird.
Schönen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503203000


Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt
für die FDP-Fraktion.


(Zuruf von der SPD: Nur vier Minuten!)



Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1503203100


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann
zwar über alles sprechen, aber bitte nicht so lange!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich möchte deshalb nur wenige Minuten reden. Herr
Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister Clement, Sie
haben gesagt, niemand komme an entscheidenden The-
men und Fragestellungen der Zeit vorbei.


(Zuruf von der SPD: Und Sie haben nichts zu sagen!)


Das ist völlig richtig. Ich habe heute lange auf den Mo-
ment gewartet, in dem die Redner Ihrer Partei auf die
Themen eingehen müssen, die wir seit einem Jahrzehnt
ansprechen.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben ein historisches Gedächtnis eingefordert.
Können Sie sich denn noch erinnern, mit welchem Voka-
bular wir belegt worden sind, als wir über eine Änderung
des Kündigungsschutzes nachgedacht haben?


(Zuruf von der CDU/CSU: „Soziale Kälte“!)


Darf ich Sie daran erinnern, wie wir beschimpft wor-
den sind, als wir gesagt haben, dass man vom Flächenta-
rif weg müsse und dass man betriebliche Bündnisse zu-
lassen müsse? Als meine Fraktion ihre Position zum
Umbau der sozialen Sicherungssysteme bestimmt hat,
haben Sie sich in diesem Hause bei Vokabular und Laut-
stärke überschlagen.


(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)


Als wir gesagt haben, dass eine Gemeindefinanzre-
form notwendig sei, weil die Einnahmen der Gemeinden
angesichts der gegenwärtigen Situation nicht mehr in
erster Linie von der Gewerbesteuer abhängig sein dürf-
ten, sind wir der Vernachlässigung der kommunalen
Finanzkraft geziehen worden. Heute hat Ihr Bundes-
kanzler, wenn auch nur halbherzig, all das nennen müs-
sen, was wir seit einem Jahrzehnt fordern.


(Beifall bei der FDP)


Bedauerlicherweise ist er auf halbem Weg stecken ge-
blieben.

Da Sie eine Antwort auf die Frage nach den Politik-
feldern wollten, werde ich sie Ihnen geben. Sie haben
vorgeschlagen, das Arbeitslosengeld auf zwölf Monate,
bei über 55-Jährigen auf 18 Monate, zu begrenzen sowie






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt
die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzu-
legen. Sie haben uns früher der sozialen Kälte geziehen
und uns als üble Neoliberale beschimpft. Wir sind trotz-
dem bereit, Ihnen die Hand zu reichen, weil es notwen-
dig ist, zusammenzuarbeiten. Wir begrüßen Ihr Ankom-
men in der Wirklichkeit. Jetzt können wir darüber reden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben des Weiteren angekündigt, dass im Rahmen
der Strukturreformen des Arbeitsmarktes auch der Kün-
digungsschutz zugunsten der Kleinbetriebe geändert
werden müsse. Ich habe heute zwei Regierungserklärun-
gen gehört: In der Vorverlautbarung war die Rede von
einer Abfindungsregelung und einem Schwellenwert
von fünf, in der anderen von einem Schwellenwert von
20 und von Zeitverträgen. Erst wenn Sie einen entspre-
chenden Gesetzentwurf vorlegen, wird die FDP-Fraktion
bereit sein, zu entscheiden, welchen Änderungen beim
Kündigungsschutz sie zustimmen wird. Mit Ihren heuti-
gen Luftblasen können Sie jedenfalls von uns keine ab-
schließende Antwort erwarten. Wenn Sie den Kündi-
gungsschutz novellieren wollen, dann tun Sie es richtig!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben außerdem gesagt, wir bräuchten eine Flexi-
bilisierung der Arbeitswelt und müssten betriebliche
Bündnisse für Arbeit zulassen. Aber solche Bündnisse
sind nicht von der Spitze der BDA und des DGB abzu-
segnen. Sie müssen nach unserer Meinung vielmehr zwi-
schen den Beschäftigten und dem Eigentümer eines Un-
ternehmens geschlossen werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind bereit, ein Gesetz zu novellieren, das vorsieht,
dass zwei Drittel der Belegschaft einem solchen Bündnis
zustimmen müssen. Aber wir werden keine Entschei-
dung treffen, solange Sie, Herr Bundeskanzler, auf hal-
bem Weg stehen bleiben.

Herr Bundeskanzler, der Schaden in unserer Wirt-
schaft besteht darin - das betrifft sowohl die Arbeitge-
berverbände als auch die Gewerkschaften –, dass beide
Seiten oft Tarifautonomie als Verwirklichung der
Machtinteressen ihrer Organisation sehen, nicht aber die
Beschäftigungswirksamkeit von Abschlüssen im Auge
haben. Wenn wir das nicht ändern, wird das nichts wer-
den.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dritter Sachverhalt: Der Umbau der sozialen Siche-
rungssysteme wird nur gelingen, wenn Sie deren Finan-
zierung aus der paritätischen Finanzierung und damit aus
dem Beschäftigungsverhältnis herausnehmen und neu
organisieren.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])


Tun Sie das nicht, dann werden Sie die Lohnneben-
kosten nicht senken können. Sie werden keine Wett-
bewerbslandschaft bekommen. Sie werden es dann nicht
der Entscheidung der Menschen überlassen, wie hoch
und bei wem sie sich versichern wollen.

Das ist ein Schritt, der nicht reicht. Ich sage Ihnen
heute voraus, dass Sie in wenigen Jahren, in welcher
Verantwortung Sie auch immer stehen mögen,


(Zuruf von der SPD: An der Regierung!)


ob als einfacher Abgeordneter Schröder oder in dieser
Funktion, zugeben müssen, dass Sie damals falsch gele-
gen haben. Entschließen Sie sich jetzt zu einem wirk-
lichen Schritt! Wenn Sie das tun, dann stimmen wir, die
Freien Demokraten, einem solchen Gesetzentwurf gerne
zu,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


aber nicht auf halbem Wege, nicht mit einer Modernisie-
rungsrhetorik, nicht nur mit Reden und ohne Taten.


(Zuruf von der SPD: 16 Jahre haben Sie nichts gemacht!)


Wir sehen gern Ihren Gesetzesvorlagen entgegen. Bei
Arbeitslosengeld, bei Arbeitslosenhilfe und bei Sozial-
hilfe: positiv. Was die betrieblichen Bündnisse betrifft,
sofern Sie sich am Ende durchringen, den Flächentarif
wirklich wegzunehmen: positiv. Bleiben Sie auf halbem
Wege stecken, werden wir das ablehnen. Wir reichen bei
4,7 Millionen Arbeitslosen nicht die Hand zu weiteren
Halbherzigkeiten.


(Beifall bei der FDP)


Wenn Sie keine Courage haben, die sozialen Siche-
rungssysteme umzubauen, müssen Sie sich andere su-
chen, die Ihnen im Bundesrat helfen. Wir tun das nicht.
Entweder wird jetzt umgebaut oder Sie können mit unse-
rer Stimme nicht rechnen. Ein weiteres Vertrösten und
Verschiebebahnhöfe finden nicht statt.


(Beifall bei der FDP)


Im Übrigen – die „FAZ“ hat es vor wenigen Tagen
kommentiert – : Die Rürup-Kommission kann doch nach
dem, was Sie hier erklärt haben, einpacken. Die braucht
doch gar nicht mehr weiter zu arbeiten. Wenn Sie hier er-
klären, es bleibe bei der paritätischen Finanzierung, dann
brauchen Sie die Leute nicht mehr zu beschäftigen, da-
mit sie sich die Köpfe zerbrechen.

Was soll denn die Gemeindefinanzreformkommis-
sion, wenn Sie heute sagen, die Gewerbesteuer werde
revitalisiert? Dann können die doch die Arbeit einstellen.
Die ist doch gerade einberufen worden, um zu einem
neuen System zu kommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das wird nichts werden. Deshalb regen wir an, in den
Feldern noch einmal nachzudenken.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503203200


Herr Kollege Gerhardt!






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1503203300


Herr Präsident, damit höre ich auch schon auf. Das
Nötigste ist gesagt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das war das Beste an der Rede: Sie ist vorbei!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503203400


Die Spielregeln sind manchmal grausam. Nun hat mit
einer ähnlich kurzen Redezeit die Kollegin Dr. Thea
Dückert für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt DIE GRÜNEN)



Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503203500


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Gerhardt, das ist ja gerade das Problem. Sie haben seit
Jahrzehnten Probleme benannt, aber nichts getan. Des-
wegen ist der Berg so groß, an den wir herangehen müs-
sen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Kanzler hat heute ein Programm mit dem Titel
vorgelegt: „Mut zum Frieden und Mut zur Verände-
rung“. Ich denke, was er uns heute vorgestellt hat, ist vor
allen Dingen durch den Mut zur Wahrheit gekennzeich-
net gewesen, durch den Mut, ein Gesamtkonzept vorzu-
legen, das nicht nur Annehmlichkeiten enthält. Es hat
deshalb nicht nur Annehmlichkeiten, weil wir es mit
vielfältigen Problemen zu tun haben, für die es nicht nur
eine einzige Lösung gibt, sondern für deren Lösung es
eines Gesamtkonzeptes bedarf.

Wir haben einen riesenhaften Schuldenstand. Der ist
ein richtiges Korsett. Vor dem Hintergrund dieses riesen-
haften Schuldenstands können wir die notwendigen
Strukturreformen nur dann machen, wenn wir zukünf-
tig und langfristig das Prinzip der nachhaltigen Finanz-
politik durchhalten. Das ist das Schwierige vor dem
Hintergrund der mit 4,7 Millionen viel zu hohen Zahl
der registrierten Arbeitslosen, der großen Zahl der Dau-
erarbeitslosen und des Problems der demographischen
Entwicklung, die unsere Sozialversicherungssysteme an
die Grenze führt. In diesem Zusammenhang braucht es
in der Tat Mut zur Veränderung.

Nachdem ich mir angehört hatte, was die Opposition
heute präsentiert hat, war ich doch ziemlich irritiert. Ich
habe gestern in der Zeitung gelesen, dass Herr Stoiber – man
könnte von einem „Reformen stoppen“ sprechen – ganz
schnell das Akutprogramm, ein Reformprojekt, vorgestellt
hat. Davon war die Union überrascht, weil vieles in diesem
Programm mit den Parteikollegen offenbar gar nicht abge-
stimmt ist. Mich hat allerdings irritiert, dass Sie angesichts
unserer großen Verantwortung, gerade in Bezug auf die Zu-
kunft, hier nicht den Mut gehabt haben, ein Gesamtkonzept
vorzulegen; vielmehr haben Sie wiederum nur mit kleinka-
rierter Kritik an Details Ihre Konzepte dargelegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das, was Frau Merkel hier vorgetragen hat, war eher
ein „wehendes Vakuum“, wie es Lichtenberg einmal be-
schrieben hat, und nicht einmal heiße Luft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bei Herrn Stoiber – er hat gestern immerhin das „Akut-
programm“ vorgestellt – war ich erst einmal gespannt,
dann aber auch enttäuscht.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt macht erst mal Gesetze und dann redet weiter! Macht erst mal Gesetze und schwafelt nicht.)


Wir haben wieder die alte Leier mit dem Hinweis auf
Deutschlands Position als Schlusslicht gehört. Wenn
Herr Stoiber häufiger in diesem Parlament wäre, dann
hätte er vielleicht mitbekommen, dass es seit Anfang der
90er-Jahre eine Schlusslichtdebatte gibt. Seit 1992 ran-
giert Deutschland zwischen den Plätzen 15 und 13. Das
hat etwas mit den Lasten der deutschen Einheit zu tun.

Außerdem hat Herr Stoiber über die große Anzahl
von Insolvenzen in diesem Land gesprochen. Dabei hat
er mit dem Zeigefinger auf die Regierung gezeigt. Herr
Stoiber – er sitzt vielleicht schon im Flugzeug nach
München –, wir alle wissen, dass es die größte Anzahl an
Insolvenzen zurzeit im Großraum München gibt. Wa-
rum?


(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Wegen Stoiber!)


– Nicht wegen Stoiber. –


(Jörg Tauss [SPD]: Aber auch!)


Das ist so, weil die „Spekulationsblase“ geplatzt ist. Nur:
Was für München gilt, das gilt auch für die Bundesrepu-
blik insgesamt.

Darüber hinaus habe ich etwas ganz besonders Inte-
ressantes gehört: Die OECD wurde sozusagen als Kron-
zeugin gegen die rot-grüne Regierung und deren Untä-
tigkeit angeführt. Es wurde nämlich darauf hingewiesen,
dass etwa 70 Prozent der Wachstumsprobleme, die wir
im Moment haben – Stoiber hat sogar von 85 Prozent
gesprochen –, strukturelle Probleme seien. Dazu kann
ich nur sagen: Das ist richtig. Aber was heißt das denn?
Das beweist doch ein weiteres Mal, dass wir es in dieser
schwierigen konjunkturellen Situation zugleich mit
strukturellen Problemen zu tun haben, die wir aus der
Vergangenheit übernommen haben. Man hat es in den
90er-Jahren verschlafen, die notwendigen Strukturrefor-
men der sozialen Sicherungssysteme durchzuführen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben die Reform der Rentenversicherung doch zurückgenommen! Das ist doch unglaublich! Sie müssen ein Gesetz vorlegen, Frau Dückert!)


Wenn man sich einmal anschaut, was Sie konkret vor-
schlagen, dann ist die Verwirrung komplett. Vor dem
Hintergrund der Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt müs-
sen wir natürlich auch über den Kündigungsschutz re-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Thea Dückert
den. Wir müssen ihn erhalten, aber flexibel gestalten.
Das ist vom Kanzler vorgeschlagen worden.

Was macht Herr Stoiber? – Er will ihn für Betriebe mit
bis zu 20 Beschäftigten abschaffen. Was macht Frau
Merkel? – Sie redet zwar über Kündigungsschutz für Be-
triebe mit weniger als 20 Beschäftigten, legt sich aber
nicht genau fest. Nach Stoibers Konzept dürfte es dort kei-
nen Kündigungsschutz geben. Ich kann nur fragen: Was
wollen Sie denn nun?

Stoiber schlägt vor, die Zahlung von Arbeitslosengeld
auf zwölf Monate zu beschränken. Das Programm, das
sich Frau Merkel vorstellt, sieht mehr Flexibilität vor. Es
war nicht ganz nachzuvollziehen, was sie meinte. Auf alle
Fälle passen die beiden Konzepte nicht zusammen. Wenn
Sie über vernünftige und notwendige Veränderungen am
Arbeitsmarkt diskutieren wollen, dann einigen Sie sich
zunächst einmal auf ein gemeinsames Projekt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Das einzige gemeinsame Projekt, das Sie zurzeit ha-
ben, ist die Blockadepolitik im Bundesrat.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das haben sie auch heute wieder vorgeführt. Das ist
genau das Problem. Herr Stoiber hat heute gesagt,
Schulden seien die Zinsen von morgen und das finde er
nicht gut. Insofern hat er dazugelernt, denn früher hat er
im Bundestag etwas anderes gesagt. Aber Sie benennen
zwar einzelne Reformschritte, über die man diskutieren
kann, reden jedoch gleichzeitig weiterhin neuen Schul-
den das Wort. Sie machen keine Politik, die Strukturre-
formen mit einer verantwortlichen, nachhaltigen Finanz-
politik verbindet. Deswegen können Sie das, was Sie
einklagen, nämlich Vertrauen in zukünftige Investitionen
zu schaffen, nicht erreichen.

Wenn wir Vertrauen in zukünftige Investitionen her-
stellen wollen, funktioniert das nur auf Basis einer Poli-
tik, bei der die Bevölkerung nicht fürchten muss, dass
wir übermorgen wieder einen riesigen Schuldenberg mit
Zinsen abbezahlen müssen. Wir können Zukunftsinvesti-
tionen nur möglich machen, wenn gleichzeitig eine so-
lide Finanzpolitik sichergestellt ist.

Da sind Sie, meine Damen und Herren von der Union,
bei allem Reformeifer in einzelnen Bereichen die Ant-
wort schuldig geblieben. Das ist in Bezug auf die jetzige
Situation nicht verantwortungsvoll.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503203600


Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503203700


Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Her-
ren, wir müssen auf dem Arbeitsmarkt große Schritte
gehen. Ich bin froh und begrüße es, dass der Bundes-
kanzler angekündigt hat, dass wir auch beim Kündi-
gungsschutz Schritte gehen wollen. Ich bin froh, dass
hier noch einmal ganz deutlich gesagt worden ist, dass
die Veränderungen am Arbeitsmarkt aber nicht dazu füh-
ren dürfen, dass zum Beispiel Modellprojekte für ju-
gendliche Arbeitslose gecancelt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin froh und unterstütze mit aller Entschiedenheit,
dass wir in der rot-grünen Koalition zwei Zielmarken ha-
ben: erstens mit allem, was uns dafür zu Gebote steht,
die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent zu senken
und zweitens die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent
zu senken. Denn nur dann, wenn wir die Lohnnebenkos-
ten nachhaltig senken, können wir in kleinen Betrieben
zusätzliche Beschäftigung möglich machen und mehr
und entschiedener gegen Schwarzarbeit vorgehen.

Last not least: Ich habe mich letztendlich nicht ge-
wundert, dass diejenigen, die immer sagen, der Arbeits-
markt müsse entrümpelt, es müsse entbürokratisiert wer-
den, nun wiederum diejenigen sind, die den Zunftzopf
des Meisterwesens, den wir aus dem vergangenen Jahr-
hundert übernommen haben, weiter pflegen wollen. Wir
wollen ihn frisieren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503203800


Frau Kollegin, ich muss Sie nun wirklich bitten.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1503203900


Wir wollen damit die Übernahme von Betrieben er-
leichtern.

Ich danke Ihnen, Herr Präsident.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503204000


Ich bitte sehr um Nachsicht. Es ist eine undankbare
Aufgabe, die Redezeiten, die vorher vereinbart worden
sind, auch nur einigermaßen durchzusetzen.

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Frau Dr. Gesine
Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1503204100


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Sehr geehrte Gäste! Der Titel der Regierungserklä-
rung lautet: „Mut zum Frieden und Mut zur Verände-
rung“. Nun hat die Friedensfrage im Laufe der Debatte
immer weniger eine Rolle gespielt. Das finde ich schade;
denn gerade in dieser Frage hat sich gezeigt, dass es sich
lohnt, dass Menschen aktiv werden und Protest einlegen,
dass Protest Erfolg zeitigen kann.

Der britische Premierminister Tony Blair ist aufgrund
dieses Protestes auf dem Rückzug. Er konnte eine ge-
wisse Zeit gegen sein Volk Politik machen; jetzt ahnt er
wohl, dass seine eigene Partei und sein eigenes Volk ihm
Grenzen setzen. Sein Starrsinn kann ihn die Macht kos-
ten.

Meine Damen und Herren, es ist gut, dass die Allianz
der Krieger zerbröselt. Selbst in den USA wird die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
Opposition gegen den Krieg stärker. Auch Präsident
Bush will wiedergewählt werden. Deshalb muss auch er
auf diese Opposition hören.

Die Friedenspolitik der Bundesregierung hat die Un-
terstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Wir als PDS
unterstützen diesen Kurs.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Es ist richtig, sich jetzt auf die Verhinderung eines Krie-
ges zu konzentrieren. Wenn es jedoch trotz aller Proteste
zu einem Krieg gegen den Irak kommen sollte, dann
muss die Bundesregierung neu überlegen, der US-Regie-
rung die Überflugsrechte entziehen und dafür sorgen,
dass Deutschland nicht als Militärbasis für einen An-
griffskrieg benutzt wird.

Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, Ihre positiven Er-
fahrungen in der Außenpolitik auf die Innenpolitik zu
übertragen. Doch hier scheitern Sie. Der Frieden ist ein
hohes Gut, ein Wert an sich, für den viele Bürgerinnen
und Bürger sogar bereit sind, Opfer zu bringen. Doch
Ihre Aufforderung an die Menschen, Mut zur Verände-
rung zu haben, ist aus zwei Gründen unsinnig: Viele
Menschen haben den Mut zur Veränderung bereits be-
wiesen. In Ostdeutschland hat fast jeder zweite Berufstä-
tige nach der Wende seinen Beruf gewechselt oder seine
Arbeit ganz verloren. Arbeitslose haben sich teilweise
mit dem Mut der Verzweiflung ohne Eigenkapital in ris-
kante Existenzgründungen gestürzt, um ihren Lebens-
unterhalt zu sichern. Viele Menschen haben mehr Mut
bewiesen als so mancher hoch dotierte Vorstandschef in
der so genannten freien Wirtschaft oder Politiker in die-
ser Regierung. Das Problem ist jedoch, dass die Men-
schen unentwegt durch die herrschende Politik entmutigt
werden.

Die Aufforderung, Mut zur Veränderung zu zeigen, ist
auch deshalb unsinnig, da Veränderung kein Wert an sich
ist. Ihr Problem, Herr Bundeskanzler, ist: Sie haben
keine Botschaft. Sie haben keine Botschaft für die Bür-
gerinnen und Bürger, für die diese auch bereit wären,
Opfer zu bringen. Sie wollten in der letzten Legislaturpe-
riode die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Dieses Ziel
war sehr ambitioniert und auch wenn Sie es verfehlt ha-
ben: Es war wenigstens ein Ziel. Die Bürger haben
Nachsicht bewiesen und Sie wiedergewählt, doch Sie ha-
ben die Schlussfolgerung gezogen, lieber gar keine Ziele
mehr zu bestimmen. Damit haben Sie Ihre Wähler demo-
tiviert und sie sind bei den Wahlen in Hessen und Nie-
dersachsen zu Hause geblieben.

Herr Bundeskanzler, Sie haben einen Wählerauftrag
und den müssen Sie erfüllen. Sie wollten die kohlsche
Umverteilung von unten nach oben beenden, doch Sie
haben das Gegenteil gemacht. Sie haben die Reichen
noch reicher und die Armen noch ärmer gemacht. Der
Witz ist, dass die von Ihnen Begünstigten es Ihnen noch
nicht einmal danken. Nehmen wir zum Beispiel die gi-
gantischen Steuersenkungen für die Kapitalgesell-
schaften. Wo sind die positiven Effekte? Wo sind die
neuen Arbeitsplätze? Ihre Steuerreform hat nur einen Ef-
fekt: Sie treibt die Kommunen in den Ruin. Allein meine
Heimatstadt Berlin verliert durch diese Steuerreform
Einnahmen in Höhe von 500 Millionen Euro pro Jahr.

Was haben die Wirtschaftsverbände nicht schon alles
versprochen: Schon Kohl hatten sie 500 000 neue Ar-
beitsplätze für die Lockerung des Kündigungsschutzes
zugesagt. Wo aber sind diese Arbeitsplätze? Nein, das
sind alles ungedeckte Wechsel.

Sie müssen alle in die Pflicht nehmen, auch die Unter-
nehmen. Ich denke zum Beispiel an die dramatische
Ausbildungssituation. Im Februar wurden den Arbeits-
ämtern bis zu 20 Prozent weniger Lehrstellen gegenüber
dem Vorjahresmonat gemeldet. Die Unternehmer for-
dern die Regierung auf, aktiv zu werden und mehr über-
betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Doch diese
Ausbildungsplätze sind steuerfinanziert und die gleichen
Leute fordern die Regierung auf, die Steuern zu senken.
Das ist zutiefst verlogen, das kann nicht der richtige Weg
sein.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1980 da-
rauf verwiesen, dass es eine „Verantwortung der Arbeit-
geber für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen
Ausbildungsplätzen“ gibt, und mahnte eine gesetzliche
Regelung an. Wir als PDS fordern eine gesetzlich gere-
gelte Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, muss
zahlen. Diese Ausbildungsumlage hatte sich übrigens
Rot-Grün bereits 1998 in die Koalitionsvereinbarung ge-
schrieben, aber bis heute nicht erfüllt.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Als Drohung!)


– Als Drohung am Horizont, Kollege Benneter, so ist es
auch heute wieder aufgemacht worden. Aber da diese
Drohung bereits seit vier Jahren nicht umgesetzt worden
ist, muss sich die Wirtschaft vor ihr wahrscheinlich nicht
besonders fürchten.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Es gehört kein Mut dazu, die Schwächsten in der Ge-
sellschaft unter Druck zu setzen. Ich finde, Sie sollten
endlich den Mut haben, sich mit den Mächtigen in dieser
Gesellschaft auseinander zu setzen. Ich darf Sie in die-
sem Zusammenhang an ein weiteres Wahlversprechen
von 1998 erinnern. Sie versprachen die Einführung der
Vermögensteuer. Diese würde – das haben wir hier
schon mehrmals besprochen – 10 Milliarden Euro im
Jahr einbringen. Damit könnte man schon ein ordent-
liches kommunales Investitionsprogramm ohne Kredite
finanzieren und Arbeitsplätze schaffen.

In Berlin wurden im Februar 317 678 Arbeitslose re-
gistriert, in Brandenburg 271 738, in Mecklenburg-Vor-
pommern 201 508 und in Sachsen 445 474. Das ist der
höchste Arbeitslosenstand seit 1945. Und wie reagieren
Sie auf diese Situation? Was macht zum Beispiel der
Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, in die-
ser dramatischen Situation? Er gießt Öl ins Feuer und
zertrümmert den zweiten Arbeitsmarkt. In Ostdeutsch-
land wurden in einem Jahr die AB-Maßnahmen um
18,3 Prozent und die berufliche Weiterbildung um
15,6 Prozent reduziert. Das ist für strukturschwache Re-
gionen nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ein
Desaster.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch

Der Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Regie-
rungserklärung verkündet, die alten Strukturen würden
erst dann weggeschnitten, wenn die neuen aufgebaut
sind. Ich muss leider sagen, dass er in diesem Punkt von
seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die Situa-
tion nicht informiert worden zu sein scheint. Denn die
Maßnahmen sind dramatisch beschnitten worden, ohne
dass es neue Strukturen gibt.

Die Bundesanstalt für Arbeit – wenn man Zeitungsbe-
richten und entsprechenden Gesprächen glauben kann,
meinen dies auch die ostdeutschen SPD-Abgeordneten –
braucht dringend einen Zuschuss aus dem Bundeshaus-
halt. Herr Gerster hat sich verrechnet, als er glaubte, die
Bundesanstalt könne ohne diese Bundeszuschüsse aus-
kommen. Nächste Woche haben wir in den Haushaltsbe-
ratungen die Gelegenheit, den Haushalt entsprechend zu
korrigieren und die Finanzierung einer Übergangsrege-
lung für 2003 zu beschließen.

Herr Bundeskanzler, Ihre Rede war nicht der lange
angekündigte Befreiungsschlag und auch nicht die An-
kündigung von schlüssigen Reformen. Sie haben uns ei-
nen Maßnahmehaufen vor die Füße geworfen, der unser
Land allerdings nicht weiterbringen wird.

sind wir am Ende der Aussprache, die bezogen auf den
Schluss eine große Zustimmung bei allen Fraktionen ge-
funden hat.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir wollen den Stiegler noch hören!)


– Zurufe, mit denen auf dem Redebeitrag bestanden
wird, bleiben folgenlos, weil sie nicht geschäftsord-
nungswirksam sind.

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/605.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau! – Ulrich Kelber [SPD]: Vielleicht verzichtet die FDP!)


Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –


(Jörg Tauss [SPD]: Sechs Leute!)


Wer stimmt gegen den Antrag? –


(Zurufe von der SPD und der CDU/CSU: Hammelsprung!)


Möchte sich jemand der Stimme enthalten? – Dann ist

Vielen Dank.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1503204200


Da der Kollege Stiegler ebenso überraschender- wie
freundlicherweise auf die Inanspruchnahme der verblie-
benen Redezeit verzichtet hat,


(Beifall im ganzen Hause – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist ein Segen für ganz Deutschland!)

dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition und der
Fraktion der CDU/CSU abgelehnt.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Dienstag, den 18. März 2003, 11 Uhr, ein.

Ich wünsche allen ein hoffentlich einigermaßen unge-
trübtes Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.