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    Plenarprotokoll 15/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2530 D 2534 B 2536 C 2540 C 2542 A 2543 D 2547 B 2547 B 2549 C 2550 D 32. Sit Berlin, Freitag, de I n h a Tagesordnungspunkt 13: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler: Mut zum Frieden und zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 2479 A 2479 B 2493 B 2505 A 2511 C 2515 C 2520 D 2528 C zung n 14. März 2003 l t : Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern 2545 C 2547 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2479 (A) (C) (B) (D) 32. Sit Berlin, Freitag, de Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2547 (A) (C) (B) (D) Randinformationen hinaus durchsetzen. Wir glauben, dass die veränderte Form internationaler Rechtssetzung einmal, ob dies nicht der bessere Weg wäre. Dann wä- ren wir in der Lage, gemeinsame generelle Regeln zu wollen die Beteiligungsrechte des Parlaments über Herren von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen noch Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent- liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) Erich G. Fritz (CDU/CSU): Ich spreche zum Koali- tionsantrag GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität. Mir liegt als erstes daran, zu sagen, dass wir einen bestimmten Grundtenor des Antrages teilen. Wir Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 14.03.2003 Austermann, Dietrich CDU/CSU 14.03.2003 Breuer, Paul CDU/CSU 14.03.2003 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2003 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 14.03.2003 Hartnagel, Anke SPD 14.03.2003 Laurischk, Sibylle FDP 14.03.2003 Lehn, Waltraud SPD 14.03.2003 Möllemann, Jürgen W. fraktionslos 14.03.2003 Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 14.03.2003 Rühe, Volker CDU/CSU 14.03.2003 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.03.2003 Schmidt (Salzgitter), Wilhelm SPD 14.03.2003 Schneider, Carsten SPD 14.03.2003 Seib, Marion CDU/CSU 14.03.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 14.03.2003 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 14.03.2003 Wieczorek (Böhlen), Jürgen SPD 14.03.2003 Anlagen zum Stenografischen Bericht über multilaterale Verhandlungen dringend einer stärke- ren Beteiligung des Parlaments bedarf, wenn der Prozess der Globalisierung Akzeptanz in den Augen der Bevöl- kerung finden soll. Es gibt einen Anspruch der interessierten Öffentlich- keit auf frühzeitige Information, auf voraussehbare Dis- kussions- und Beteiligungsformen. Es gibt einen An- spruch des Parlaments als Gesetzgeber in einer Welt, in der immer mehr Regeln und Festsetzungen über supra- nationale und multilaterale Verhandlungen herbeigeführt werden. Soweit der Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen dieses Ziel verfolgt, unterstützen wir ihn. Anlass und Art des Vorgehens der Koalition scheinen mir aber sehr fragwürdig zu sein, um nicht zu sagen, falsch: Es ist ein purer Zufall, dass anlässlich der Ab- gabe der Verhandlungsangebote zu den GATS-Verhand- lungen durch die Europäische Kommission dieser An- trag gestellt wird. Es ist auch zufällig, dass gerade die GATS-Verhandlungen den Anlass für diese Diskussion und für den Antrag bieten, weil interessierte Abgeord- nete sich gerade diesen Teil der EU-Angebote ausge- sucht haben. Wir haben uns nicht mit gleicher Intensität um andere Offers bzw. um andere Teile der Verhandlun- gen in den Verhandlungsgruppen der WTO gekümmert. Im Prinzip habe ich überhaupt nichts dagegen, wenn die Koalition ein Exempel gegen die eigene Regierung statuieren will, um ihr einmal zu zeigen, wie sie sich nach der Auffassung der Koalition eigentlich verhalten sollte. Ich gehöre zu denen, die seit Jahren sagen, dass wir andere Formen der vorbereitenden Beteiligung des Parlaments brauchen, und bin auch schon lange der Auffassung, dass die Regierung von sich aus nicht nur eine Information, sondern eine Beteiligung des Parlaments herbeiführen soll. Wenn wir die Situation verändern wollen, dann muss allerdings das ganze Parlament darauf dringen, dass es fest geregelte, formalisierte Beteiligungsformen gibt, die bisher nicht existieren und deshalb entwickelt werden müssen. Die Vorbereitung von Verhandlungspositionen wie auch wesentliche Schritte der Verhandlungen selbst müs- sen transparent sein. Auch insofern folge ich der Inten- tion des Antrages. Ich glaube, dass der Deutsche Bun- destag durch sein beharrliches Drängen auf frühzeitige Information und Öffentlichkeit bereits dazu beigetragen hat, dass ein großes Maß der früheren Geheimniskräme- rei aufgehört hat. Jetzt geht es darum, dass über die Kenntnisnahme der Positionen auch die Abwägung, die politische Diskussion und die Abschätzung der Folgen in eine geordnete Bahn gelenkt werden und ein Prozess im Bundestag vereinbart wird, der die Beteiligung des Par- laments regelt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es sicher sinn- voll, wenn die Koalition ihren Antrag zurückziehen würde. Vielleicht überlegen Sie, meine Damen und 2548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) entwickeln, in welcher Form die Bundesregierung in Zukunft die zuständigen Ausschüsse des Bundestages bei welcher Gelegenheit und in welchem Umfang und zu welcher Zeit befassen muss, um eine tatsächliche Beteiligung des Parlaments zu gewährleisten. Es darf in Zukunft nicht dem zufälligen Engagement einiger Abgeordneter und dem guten Willen des Ministe- riums überlassen bleiben, ob es eine Parlamentsbeteili- gung gibt oder nicht. Zum Antrag selbst stelle ich fest, dass man ihm sehr deutlich anmerkt, dass er mit der heißen Nadel gestrickt ist. Er ist an einigen Stellen sehr oberflächlich. Er enthält formulierte Befürchtungen, die nach Kenntnis der Unter- lagen nicht haltbar sind. Einige Fragen des Antrages sind nur aufrechtzuerhalten, wenn man beharrlich nicht zur Kenntnis nimmt wie das GATS konstruiert ist. Damit kein Irrtum aufkommt: Der Bundestag hat die Pflicht zur Abschätzung der Folgen von zu erwartenden internatio- nalen Vereinbarungen. Unklarheiten müssen aufgeklärt werden. Deshalb ist die vom Wirtschaftsausschuss be- schlossene Anhörung insbesondere zu Mode 4 des GATS-Angebotes wichtig und sinnvoll. Nach unserer Auffassung muss man dazu aber das Verfahren zwischen Berlin, Brüssel und Genf nicht an- halten. Der Parlamentsvorbehalt ist deshalb eine über- triebene Reaktion, die auch nur zufällig an dieser Frage aufgehängt wird. Wir wissen, dass alle jetzt entwickelten Verhandlungsangebote veränderbar sind, dass uns nichts daran hindert, auch im weiteren Verlauf noch Grenzen einzuziehen, insbesondere dann, wenn es uns gelingt, das Netzwerk der nationalen Parlamente in Europa wei- ter zu verstärken. Manches aus dem Antrag muss man auch gar nicht verstehen. Heute Morgen wurde in der Debatte zum Zu- wanderungsgesetz noch für die dort vorgesehene Aufhe- bung des Anwerbungsstopps geworben. Heute Abend gibt es große Befürchtungen bei offensichtlich sehr ge- ringen Öffnungen, die die Bundesregierung nach ihren eigenen Aussagen auch noch von Arbeitsmarktprüfun- gen abhängig machen will. Eines muss man jedoch anerkennen: Die EU-Ange- bote sind im Vergleich zu dem, was wir von anderen Ländern fordern, eher bescheiden und lösen bei Ent- wicklungsländern keinerlei Jubel aus. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass man auf Dauer nicht erwarten kann, dass andere ihre Märkte für uns öffnen, wir selbst aber in Restriktionen und Abschottung erstar- ren. Sie schreiben, meine Damen und Herren von der Koalition, mit Recht in Ihrem Antrag, dass der Teil des Dienstleistungshandels noch weit hinter dem Dienstleis- tungsanteil an der Wertschöpfung Deutschlands zurück- steht. Gerade das GATS bietet deshalb große Möglich- keiten für deutsche Dienstleistungserbringer auf anderen Märkten. Dazu gehört natürlich auch das Signal, dass dieser Prozess keine Einbahnstraße ist und wir wissen aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass nur dann auf Dauer eine hohe Leistungskraft in bestimmten Bran- chen erreicht werden kann, wenn sie auch tatsächlich dem Wettbewerb ausgesetzt ist. Dann erwecken Sie in Ih- rem Antrag erneut den Eindruck, es gebe einen Zwang zur Liberalisierung hoheitlich erbrachter Dienstleistun- gen, was nach dem Angebot der EU-Kommission in kei- ner Weise zu erwarten ist. Gerade das GATS ermöglicht es wie kein anderes Abkommen der WTO, die nationa- len Sonderheiten auch national zu regeln. Wieviel GATS jedes Land will, entscheidet es im Prinzip selbst. In dem Antrag heißt es unter III., die EU-Kommission müsse die Zeitabläufe der nationalen Parlamente stärker be- rücksichtigen und auf Vertraulichkeit verzichten. Dem stimmen wir im Prinzip zu; allerdings muss umgekehrt auch gesagt werden, dass die nationalen Parlamente die Zeitabläufe der multilateralen Verhandlungen berück- sichtigen müssen und dass wir selbst schneller werden müssen, wenn wir unsere Beteiligungsrechte wahrneh- men wollen. Im Übrigen habe ich mich darüber gefreut, dass die Bundesregierung sich der Forderung nach schnellerer Öffentlichkeit der Verhandlungsgrundlagen angeschlos- sen hat und dass Herr Lamy bei seinem Gespräch mit Mitgliedern des Bundestages auch erklärt hat, dass nach der Zustimmung des Rates die EU-Position ins Internet eingestellt würde. Im Punkt 2 des Kapitels 3 fordern Sie, die betroffenen Fachausschüsse des Deutschen Bundestages müssten frühzeitig, regelmäßig, umfassend und detailliert über den Fortgang der GATS-Verhandlungen informiert wer- den. Das scheint mir nach allem, was wir in der Vergan- genheit erfahren haben, zu wenig zu sein. Man kann der Bundesregierung nicht nachsagen, dass sie ihre, vor al- len Dingen informellen Informationen gegenüber inter- essierten Abgeordneten nicht verbessert haben. Jetzt geht es darum zu überlegen, in welcher Form ein stan- dardisiertes und formalisiertes Beteiligungsverfahren or- ganisiert werden kann. Unter III Punkt 5 formuliert die Koalition einen Par- lamentsvorbehalt; dieser Position können wir uns nicht anschließen. Wir sind vielmehr der Meinung, dass wir damit unserem Land und dem Fortgang des Verhand- lungsprozesses einen schlechten Dienst erweisen wür- den. Wie allen bekannt ist, gibt es ohnehin eine Reihe von Zeitüberschreitungen im Verhandlungsprozess. Wir sollten nicht dazu beitragen, dass das Verfahren noch weiter verzögert und erschwert wird. So kann man im Übrigen nur vorgehen, wenn man nicht erkannt hat, dass im Zusammenhang mit den GATS-Verhandlungen es auch um die Durchsetzung von nationalen Interessen und um die Gefährdung eigener Vorteile geht. Diese Position können wir umso leichter einnehmen, als mittlerweile ja bekannt geworden ist, dass zu sensib- len Bereichen die Bundesregierung bereits einen aus- drücklichen Prüfvorbehalt eingelegt hat, sodass auch nachträgliche Korrekturen noch möglich sind. Ebenso scheint ja der Vorschlag auf eine Konditionierung durch eine „wirtschaftliche Bedarfsprüfung“ bei Sektoren mit erkennbaren Arbeitsmarktproblemen ein Weg zu sein, der vorhandene Bedenken bereits berücksichtigt. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Bundes- regierung, auch im Gespräch mit fachkundigen Instituten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2549 (A) (C) (B) (D) und Verbänden, die Zweifelsfälle weiter klären soll, die auch Gegenstand der Anhörung sein werden, sodass man sagen kann, dass die Diskussion bereits Ergebnisse ge- zeitigt hat. Was ich überhaupt nicht verstehe und was offensicht- lich nur so zu erklären ist, dass in der SPD-Fraktion jede Arbeitsgruppe wieder ihr Steckenpferd geritten hat, ohne allzu viele Kenntnisse über die Zusammenhänge zu ha- ben, dass auch im Zusammenhang mit GATS nun alle Themen, die in der WTO überhaupt eine Rolle spielen, auf die GATS-Verhandlungen draufgesattelt werden sol- len. Ich glaube, dass wir die Themen, die zusätzlich an- gesprochen sind, wie Umwelt und Sozialstandards dort behandeln sollten, wo sie hingehören, nämlich in den je- weils dafür vorgesehenen Vertragsverhandlungen. Man kann nicht alle Themen an einer Stelle bearbeiten. In ihrem Antrag ist unter Ziffer 5 dann eine Frage an- gesprochen, ob „geltende nationale und EU-weite Anfor- derungen und Regelungen fortbestehen“, wobei explizit auch die Frage von Tarifverträgen und Mindestlöhnen einbezogen sein soll. Ich weiß wirklich nicht, warum man einen Prüfauftrag vergeben soll für etwas, was aus dem Text des Verhandlungsangebots der EU so unmiss- verständlich hervorgeht wie nur irgend möglich. Und im Übrigen haben sowohl die Bundesregierung als auch der Handelskommissar Lamy das immer wieder geklärt. Ich habe den Eindruck, dass Sie ihrer eigenen Regierung mittlerweile überhaupt nichts mehr glauben. Weiterhin Klärungsbedarf sehe ich bei den so genann- ten „independent professionals“. In diesem Bereich gibt es sehr viel Misstrauen auch von außerhalb des Parla- ments und ich glaube, dass tatsächlich Definitionen ge- funden werden müssen, die frühzeitig klären, was sich dahinter verbirgt. Es hat keinen Sinn, Bereiche zu ver- handeln, derer Umfang im eigenen Verständnis nicht klar ist. Verwundert hat mich, dass in Ihrem Antrag erneut Sorgen zum Ausdruck kommen über eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte für verschiedene Bereiche aus der öffentlichen Daseinsfürsorge. Das verwundert deshalb, weil Sie wissen, dass die Europäische Union dazu über- haupt keine Angebote gemacht hat und auch nicht beab- sichtigt zu machen. Übereinstimmen kann ich mit Ihrem Antrag wieder in der Forderung nach einer klaren Defi- nition der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das würde si- cher auch in Zukunft Interpretationsschwierigkeiten ver- meiden. Wenn Sie unter Punkt 6 formulieren, dass Flexibili- tät und Transparenz erhöht werden sollen, und dann die Forderung erheben, „dies betrifft zum einen die souveräne Entscheidung der WTO-Mitglieder, welche Sektoren sie in welchem Ausmaß für ausländische An- bieter öffnen wollen, zum anderen, welche Sektoren sie von den GATS-Verpflichtungen ausnehmen wol- len“, so würde ein solche Formulierung auf uns selbst zurückfallen und Arbeitsplätze kosten. Bei all dem, was letztendlich vereinbart wird und was nicht ohne- hin in der freien Entscheidung der Nationalstaaten steht, muss das Recht auf Gegenseitigkeit gelten, sonst machen Abkommen keinen Sinn. Insgesamt sind wir der Meinung, dass der Antrag in keiner Weise geeignet ist, um die eigentlich bestehenden Probleme sachgerecht anzusprechen, und deshalb stim- men wir ihm nicht zu. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass eine funktionierende Dienstleistungswirtschaft, bei- spielsweise in Sektoren wie der Finanzwirtschaft, der Te- lekommunikation oder dem Verkehr weltweit von Bedeu- tung ist und als eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung gelten kann, wird heute sel- ten bestritten. Seit jetzt mehr als zehn Jahren entwickelt sich gerade der Dienstleistungssektor als dynamischster Bereich der Weltwirtschaft. Fast ein Fünftel des gesamten Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen entfällt auf den Bereich der Dienstleistungen. Schätzungen gehen da- von aus, dass im Jahr 2020 der Anteil der Dienstleistun- gen am grenzüberschreitenden Handel 50 Prozent ausma- chen wird. Bereits heute entfallen mehr als die Hälfte der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen auf den Dienstleistungssektor. Also gewinnt dieses Thema ge- rade auch für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie die unsere an Bedeutung. Die EU ist sowohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur von Dienstleis- tungen weltweit. Schon daraus lässt sich ablesen, welche Bedeutung die Dienstleistungswirtschaft für die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Mitgliedstaaten hat. Dies gilt mithin auch für Deutschland. So liegt beispielsweise auf der Hand, dass der Markt für Umweltdienstleistungen in allen Weltregionen in den kommenden Jahren massiv wachsen wird. Hieraus ergeben sich erhebliche Poten- ziale für deutsche Unternehmen. Andererseits erstreckt sich das Dienstleistungsabkom- men potenziell auch auf Sektoren, die als äußerst sensi- bel anzusehen sind, beispielsweise den Bereich der audiovisuellen Dienstleistungen, der Bildung, der Was- serversorgung oder der Gesundheitsdienstleistungen, also auch auf so genannte hoheitliche Aufgaben. Die GATS-Verhandlungen sind ein Teil der laufenden Welthandelsrunde. Sie sollen also gemeinsam mit der so genannten „Entwicklungsagenda“ (Doha Development Agenda), den Agrarverhandlungen, über die wir heute ebenfalls im Bundestag diskutieren, und der Präzisierung des Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums zu einem ausgewogeneren internationalen Handelssystems führen. Aktuell ist unsere Debatte über die GATS-Verhand- lungen, da die Europäische Kommission derzeit ihr Ver- handlungsangebot im Rahmen der Welthandelsrunde der Welthandelsorganisation WTO für das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS-Abkommen) vorbereitet. Dazu sind die Mitglied- staaten aufgefordert, bis zum Ende dieses Monats den Entwurf des Kommissionsvorschlags zu bewerten und in die Welthandelsorganisation einzubringen. Sollen die Schulen von McDonald’s übernommen werden, die Krankenhäuser von Red Bull?, so Verdi und Attac in einem gemeinsamen Flugblatt über die GATS- Verhandlungen. Unbewusst oder bewusst werden damit 2550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) Ängste geschürt gegen die Globalisierung und Liberali- sierung. Ich halte das nicht für verantwortungsbewusst. Über Bildung, Gesundheit, Kultur und Warenversorgung, das hat die EU mit ihrem Verhandlungsangebot klar ge- macht, wird gar nicht verhandelt. Und niemand – so sind die Verhandlungsstrukturen – kann die EU dazu zwin- gen. Für die grüne Fraktion möchte ich erklären, dass wir es außerordentlich begrüßen, dass die Europäische Union in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche Bil- dung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen sowie Gesundheitsdienstleistungen von den Liberalisierungs- verhandlungen ausgenommen hat. Gerade hier hat es in der Öffentlichkeit Einwände und Befürchtungen gege- ben, die sich im Lichte des EU-Angebots nicht bestäti- gen werden. Wir erwarten, dass in diesen Bereichen auch durch die Dynamik der Verhandlungen, an deren Anfang wir ja erst stehen, von der Kommission keine weiteren Angebote gemacht werden. Also: Lasst uns sachlich über die tatsächlichen Verhandlungspunkte zum Beispiel Modus 4 und die Auswirkungen auf die freien Berufe wie zum Beispiel Architekten sprechen und da- bei nicht nur die Gefahren, sondern auch die Chancen sehen. Dass die Diskussion über das GATS-Abkommen in der Öffentlichkeit erhebliche Sorgen und Befürchtungen ausgelöst hat, ist aber zu einem erheblichen Teil auf ein zentrales hausgemachtes Problem der Europäischen Kommission und der WTO-Verhandlungen insgesamt zurückzuführen: Und das besteht in mangelnder Trans- parenz. Ein zentrales Motiv des Koalitionsantrages ist es also, die Transparenz der laufenden Verhandlungen zu erhö- hen. Eine transparente, partizipatorische Beteiligung al- ler WTO-Staaten, der demokratisch legitimierten Parla- mente und der Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Gerade die Parlamente können ein wichtiges Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Verhandlungen bilden. Was bei anderen internationalen Verhandlungen gang und gäbe ist – die Veröffentlichung zentraler Dokumente im Internet –, muss auch bei diesen Verhandlungen gel- ten. Daher fordere ich ganz ausdrücklich, die relevanten Forderungen und Angebote entsprechend zu veröffent- lichen. In den bisherigen Parlamentsberatungen wurde mit Recht beklagt, dass die Zeit nicht ausreicht, sich intensiv mit den Auswirkungen des GATS-Abkommens zu befas- sen. Wir Grünen sprechen uns dafür aus, dies in allen re- levanten Ausschüssen zu tun. Der Wirtschaftsausschuss wird zu diesem Zweck Anfang April eine Anhörung zum Thema durchführen. So gibt es beispielsweise im Bereich der grenzüber- schreitenden, zeitlich begrenzten Dienstleistungen durch Personen (so genannter Modus 4) eine Reihe von offe- nen Fragen, die wir im Parlament mit Vertretern von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen beraten müssen. Nicht zuletzt deshalb halte ich es für richtig, vor einem abschließenden, bindenden Votum dem Parlament die Möglichkeit zu geben, seine geplanten Anhörungen durchzuführen und die parlamentarische Willensbildung zügig fortzusetzen. Entwicklungsländer drängen auf die Ausweitung der Liberalisierungsverpflichtungen für den grenzüberschrei- tenden Verkehr natürlicher Personen zur Erbringung von Dienstleistungen. Obwohl mir bekannt ist, dass es sich hier teils um sensible Fragen handelt, sollte sich die EU als einer der Hauptexporteure und -importeure von Dienst- leistungen gegenüber den Anliegen aus Entwicklungslän- dern aufgeschlossen zeigen. Generell gilt, dass wir vor der Übernahme von Ver- pflichtungen im Rahmen des GATS-Abkommens poli- tisch und gesellschaftlich transparent über die Folgen auf die einzelnen Dienstleistungssektoren debattieren müs- sen. Dabei sollte das Tempo der Verhandlungen nicht zu- lasten der Gründlichkeit gehen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele Entwicklungsländer von der Vielzahl der Verhandlungen überfordert sind. Aber auch die gesell- schaftliche Debatte in den Industrieländern braucht mehr Zeit. An dieser Stelle ist mir wichtig, einige Grundanliegen bezogen auf die GATS-Verhandlungen aufzugreifen. Die EU sollte selbstverständlich keine Verpflichtungen ein- gehen, die geltendes EU-Recht unterlaufen oder die Ver- einbarung hoher Standards und Normen innerhalb der EU erschweren würde. Die Flexibilität des GATS-Ab- kommens sollte erhalten bleiben. Dies betrifft vor allem die souveräne Entscheidung von Staaten über das Aus- maß der Liberalisierung und das Recht, einzelne Sekto- ren von den GATS-Verpflichtungen auszunehmen. Nicht nur die Industrieländer, sondern auch gerade Ent- wicklungsländer sollten bei der Erbringung von Dienstleis- tungen in ihrem Hoheitsgebiet, Dienstleistungssektoren im Einklang mit den nationalen politischen Zielsetzungen regulieren können. Grünes Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Verhandlungsergebnisse auch zur wirtschaftli- chen und sozialen Entwicklung in Entwicklungsländern beitragen. Das GATS-Abkommen ist ein äußerst komplexes Ab- kommen, dessen Nuancen und Fallstricke sich nicht im- mer direkt erschließen. Wir sollten als Parlamentarier mit Selbstbewusstsein die Zeit einfordern, die eine ange- messene Befassung mit dem Thema erfordert, denn wir sind diejenigen, die die Verhandlungsergebnisse in die- sem Hause ratifizieren müssen. Gerade bei komplexen internationalen Verhandlungen hat das Parlament auch die Aufgabe der „Übersetzung“ bzw. Vermittlung neuer internationaler Vereinbarungen und Verträge in die Gesellschaft. Dem gerecht zu wer- den, auch das zeigen die GATS-Verhandlungen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2551 (A) (C) (B) (D) der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2002 bis 2006 – Drucksachen 14/9751, 15/345 Nr. 46 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Stand und die voraussichtliche Ent- wicklung der Finanzwirtschaft des Bundes – Drucksachen 15/151, 15/402 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschreibung des Rheumaberichtes der Bundesregie- rung – Drucksachen 13/8434, 15/345 Nr. 66 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen – Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Radverkehrsplan 2002 bis 2012 „FahrRad“ – Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs in Deutschland – Drucksachen 14/9504, 15/345 Nr. 70 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit – Drucksache 14/9950 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2002 – Drucksachen 14/8950, 15/345 Nr. 74 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Eu- ropäischen Parlaments 2002 – Drucksachen 15/340, 15/389 Nr. 1.3 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Petitionsausschuss Drucksache 15/173 Nr. 1.9 Drucksache 15/173 Nr.1.10 Finanzausschuss Drucksache 15/339 Nr. 2.11 Drucksache 15/339 Nr. 2.12 Drucksache 15/339 Nr. 3.1 Haushaltsausschuss Drucksache 15/392 Nr. 2.45 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/103 Nr. 2.28 Drucksache 15/173 Nr. 1.3 Drucksache 15/173 Nr. 1.8 Drucksache 15/173 Nr. 1.15 Drucksache 15/173 Nr. 2.5 Drucksache 15/173 Nr. 2.6 Drucksache 15/173 Nr. 2.9 Drucksache 15/173 Nr. 2.10 Drucksache 15/173 Nr. 2.13 Drucksache 15/173 Nr. 2.14 Drucksache 15/173 Nr. 2.17 Drucksache 15/173 Nr. 2.18 Drucksache 15/173 Nr. 2.19 Drucksache 15/173 Nr. 2.21 Drucksache 15/173 Nr. 2.22 Drucksache 15/173 Nr. 2.23 Drucksache 15/173 Nr. 2.29 Drucksache 15/173 Nr. 2.30 Drucksache 15/173 Nr. 2.32 Drucksache 15/173 Nr. 2.35 Drucksache 15/173 Nr. 2.36 Drucksache 15/173 Nr. 2.37 Drucksache 15/173 Nr. 2.40 Drucksache 15/173 Nr. 2.42 Drucksache 15/173 Nr. 2.43 Drucksache 15/173 Nr. 2.47 Drucksache 15/173 Nr. 2.62 Drucksache 15/173 Nr. 2.67 Drucksache 15/173 Nr. 2.71 Drucksache 15/173 Nr. 2.76 Drucksache 15/173 Nr. 2.82 Drucksache 15/173 Nr. 2.83 Drucksache 15/173 Nr. 2.88 Drucksache 15/173 Nr. 2.90 Drucksache 15/268 Nr. 2.25 Drucksache 15/268 Nr. 2.27 Drucksache 15/268 Nr. 2.28 Drucksache 15/268 Nr. 2.31 Drucksache 15/268 Nr. 2.36 Drucksache 15/268 Nr. 2.42 Drucksache 15/268 Nr. 2.43 Drucksache 15/268 Nr. 2.44 Drucksache 15/268 Nr. 2.45 Drucksache 15/268 Nr. 2.46 Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 15/103 Nr. 2.69 Drucksache 15/103 Nr. 2.111 Drucksache 15/103 Nr. 2.112 Drucksache 15/268 Nr. 2.4 Drucksache 15/268 Nr. 2.8 Drucksache 15/268 Nr. 2.9 Drucksache 15/268 Nr. 2.11 Drucksache 15/268 Nr. 2.13 Drucksache 15/268 Nr. 2.14 Drucksache 15/268 Nr. 2.15 Drucksache 15/268 Nr. 2.16 Drucksache 15/268 Nr. 2.18 Drucksache 15/268 Nr. 2.30 Drucksache 15/339 Nr. 2.30 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 15/103 Nr. 2.7 Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Drucksache 15/103 Nr. 2.5 Drucksache 15/103 Nr. 2.66 2552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) Drucksache 15/173 Nr. 2.33 Drucksache 15/173 Nr. 2.53 Drucksache 15/268 Nr. 2.3 Drucksache 15/345 Nr. 67 Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen Drucksache 15/392 Nr. 2.61 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 15/103 Nr. 1.9 Drucksache 15/173 Nr. 2.78 Drucksache 15/173 Nr. 2.80 Drucksache 15/173 Nr. 2.81 Drucksache 15/173 Nr. 2.87 Drucksache 15/268 Nr. 2.22 Drucksache 15/268 Nr. 2.34 Drucksache 15/268 Nr. 2.39 Drucksache 15/268 Nr. 2.47 Drucksache 15/339 Nr. 2.9 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 15/345 Nr. 73 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 15/339 Nr. 2.25 Drucksache 15/339 Nr. 2.35 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 15/345 Nr. 78 Drucksache 15/345 Nr. 79 Drucksache 15/345 Nr. 80 Drucksache 15/345 Nr. 81 Drucksache 15/345 Nr. 82 Drucksache 15/392 Nr. 1.3 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/173 Nr. 1.14 nd 91, 1 22 32. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. März 2003 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Gerhard Schröder


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)



    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
    Herren! In der Verantwortung für die Zukunft unseres
    Landes habe ich der Regierungserklärung ein doppeltes
    Motto vorangestellt. Es beschreibt, worum es heute geht:
    Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.

    Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu
    kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht,
    dass der Krieg vermieden werden kann.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt
    die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind,
    zung

    n 14. März 2003

    .00 Uhr

    um wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der so-
    zialen Entwicklung in Europa zu kommen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Die Lage – das spürt jeder hier im Haus, aber auch
    draußen – ist international wie national äußerst ange-
    spannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die oh-
    nehin labile Konjunktur.

    Deutschland hat darüber hinaus – das gilt es ebenfalls
    zu sehen – mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen,
    die auch strukturelle Ursachen hat. Die Lohnnebenkos-
    ten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer
    zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist
    und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt,
    mehr Beschäftigung zu schaffen. Investitionen und Aus-
    gaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen,
    übrigens nicht zuletzt, seit an den Börsen allein in
    Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund
    700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet worden
    sind.

    In dieser Situation muss die Politik handeln, um Ver-
    trauen wieder herzustellen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


    Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachs-
    tum und für mehr Beschäftigung verbessern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Detlef Parr [FDP])


    Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche
    Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung
    vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen – für
    Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für
    die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit.

    Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenver-
    antwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem
    Einzelnen abfordern müssen.


    (Beifall des Abg. Detlef Parr [FDP])







    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten
    müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich
    Tätige und auch Rentner. Wir werden eine gewaltige ge-
    meinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser
    Ziel zu erreichen.


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Es wird höchste Zeit!)


    Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Bevor ich zu den Einzelheiten komme, verlangt die
    dramatische internationale Lage einige deutliche Worte
    zur Krise in und um den Irak. In den vergangenen Tagen
    und Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengun-
    gen noch einmal verschärft, diese Krise politisch zu lö-
    sen. Gemeinsam mit unseren französischen Freunden,
    aber auch mit Russland, China und der Mehrheit im
    Weltsicherheitsrat sind wir mehr denn je davon über-
    zeugt, dass die Abrüstung von Massenvernichtungsmit-
    teln im Irak mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden
    kann und herbeigeführt werden muss.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


    Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak
    unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft in-
    zwischen besser und auch aktiver kooperiert.

    Die Zerstörung der al-Samud-Raketen ist ein sicht-
    bares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die
    Inspektionen und die Inspekteure sind ein wirksames In-
    strument, das jetzt nicht beendet werden darf.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


    Mit einem ausgedehnten Inspektionsregime können wir
    nachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen. Des-
    halb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des
    Friedens beharrt haben, anstatt in eine Logik des Krieges
    einzusteigen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


    Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfas-
    send und nachvollziehbar abrüsten, übrigens auch des-
    halb, damit die Wirtschaftssanktionen, unter denen vor
    allen Dingen das irakische Volk leidet, gelockert und
    schließlich aufgehoben werden können. Das sind die Be-
    dingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen
    können. Wir sollten daran festhalten, mit all unserer
    Kraft mitzuhelfen, dass diese Bedingungen realisiert
    werden können.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


    Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch
    unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Welt-
    ordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfas-
    send wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis
    eines starken und geeinten Europas tun. Es geht um die
    Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es
    geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidun-
    gen in der Welt von morgen.

    Beides – auch das ist Gegenstand dieser Debatte –
    werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts-
    und sozialpolitisch beweglicher und solidarischer wer-
    den, und zwar in Deutschland als dem größten Land in
    Europa, was die Wirtschaftskraft angeht, und damit na-
    türlich auch in Europa.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Diesen Zusammenhang zwischen unseren wirtschaft-
    lichen und damit auch unseren sozialen Möglichkeiten ei-
    nerseits und unserer eigenen Rolle in Europa und Euro-
    pas Rolle in der Welt andererseits darf man nicht aus den
    Augen verlieren; denn er ist für uns und unsere Gesell-
    schaft genauso wichtig wie für unsere Partner in Europa.

    Dieses Europa ist eben mehr als die Summe seiner In-
    stitutionen und mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt.
    Deutschland hat dazu unter allen Bundesregierungen
    entscheidend beigetragen. Europa ist eine Idee, der wir
    uns verpflichtet fühlen, eine Idee des geeinten Konti-
    nents, der Kriege und Nationalismen überwunden hat
    oder dabei ist, sie zu überwinden. Heute kann und muss
    Europa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirt-
    schaftliche Kraft sowie Entwicklungschancen exportie-
    ren. Auch dafür müssen wir uns fit machen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Deutschland leistet hierzu – das dürfen wir ruhig
    selbstbewusst, ja sogar stolz sagen – einen entscheiden-
    den Beitrag, politisch wie finanziell. Wir finanzieren die
    Europäische Union zu einem Viertel. Wir zahlen jedes
    Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen
    Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns
    mit Abstand zum größten Nettozahler der Gemeinschaft.
    Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa die
    Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser ist
    als Konfrontation – ich denke, darüber sind wir uns in
    diesem Hohen Hause einig –, sondern auch, weil unser
    europäisches Sozialmodell, das auf Teilhabe beruht statt
    auf ungezügelter Herrschaft des Marktes, nur gemein-
    sam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest ge-
    macht werden kann.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Um in Europa eine führende Position einnehmen zu
    können, haben wir gemeinsam mit Frankreich und Groß-
    britannien für die beiden bevorstehenden Gipfel in Brüs-
    sel und Athen Vorschläge für eine europäische Indus-
    triepolitik erarbeitet. Mit diesen Vorschlägen wollen wir






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    dafür sorgen, dass zum Beispiel die Schiffbau- und die
    Chemieindustrie auch in Europa eine Zukunft haben.
    Denn die Industrie ist – das ist in Brüssel gelegentlich
    vernachlässigt worden – das Fundament unserer Wirt-
    schaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit
    der europäischen Industrie verbessern. Das ist die Grund-
    idee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative
    mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair,
    die wir unseren Partnern in der nächsten Woche auf dem
    Gipfel in Brüssel vorlegen werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Meine Damen und Herren, ich habe das Stichwort
    „Mut zur Veränderung“ auch und gerade im Innern unse-
    res Landes bereits genannt. Um unserer deutschen Ver-
    antwortung in und für Europa gerecht zu werden, müs-
    sen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wir
    modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft,
    oder wir werden modernisiert, und zwar von den unge-
    bremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite
    drängen würden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist ein richtiger Schmarren!)


    Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren
    praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen,
    etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instru-
    mente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerech-
    tigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohn-
    nebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.


    (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)


    Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau
    des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweis-
    bar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den To-
    desstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die
    Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brau-
    chen wir durchgreifende Veränderungen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das haben Sie 1998 verhindert!)


    Hierzu hat die Regierung in den vergangenen Jahren vie-
    les auf den Weg gebracht.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


    – Wir sind es gewesen und nicht Sie.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Deutschland zugrunde richten – um Ihren Satz zu vervollständigen!)


    Wir und nicht Sie haben die kapitalgedeckte private
    Vorsorge, die die zweite Säule der Rentenversicherung
    darstellt, auf den Weg gebracht.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist denn der Herr Riester?)

    Diese private Vorsorge als zweite Säule unter das Dach
    der Altersversorgung und Alterssicherung zu stellen, das
    haben viele große Länder in Europa noch vor sich. Unter
    Ihrer Führung ist mit solchen Reformen nie begonnen
    worden, geschweige denn, dass sie je zu Ende gebracht
    worden sind.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir haben eine mehrstufige Steuerreform beschlos-
    sen, die Bürger und Unternehmen um insgesamt
    56 Milliarden Euro entlastet.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ökosteuer!)


    Wir haben die Gesellschaft modernisiert: in der Energie-
    politik, im Familienbereich und beim Staatsangehörig-
    keitsrecht ebenso wie durch eine moderne Zuwande-
    rungsregelung, der Sie sich nicht verschließen dürfen,
    wenn Sie ernsthaft für Reformen in diesem Land eintre-
    ten wollen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir haben unsere Investitionen in Forschung ver-
    stärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schuli-
    sche und vorschulische Bildung zu verbessern. Es gilt
    aber einzuräumen: Wir haben feststellen müssen, dass
    diese Schritte nicht ausreichen. Vor allem reicht auch die
    Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den ver-
    änderten Bedingungen anpassen, nicht aus. Das ist der
    Grund, warum wir bei den Veränderungen weitergehen
    müssen.

    Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Struktur-
    reformen.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter!)


    Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts
    bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Gene-
    rationen gesichert und die Fundamente unseres Gemein-
    wesens gestärkt.

    Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen verspro-
    chen, die Maßnahmen, die wir in den Bereichen, die ich
    genannt habe, planen, Punkt für Punkt zu erläutern.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was versprochen wird, wird doch nie gehalten! – Michael Glos [CDU/CSU]: Versprochen – gebrochen!)


    Dabei geht es vor allen Dingen um drei Bereiche:

    Der erste ist „Konjunktur und Haushalt“. Die dramati-
    sche Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balance
    zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und
    steuerlicher Entlastung zu schaffen.


    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Also mehr Steuern!)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und ego-
    istisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind,
    die Kosten aber durch Verschuldung auf künftige Gene-
    rationen abzuwälzen. Das ist kein verantwortbarer Weg.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidie-
    rung und am Stabilitätspakt, den wir vereinbart haben,
    fest. Nur: Dieser Pakt darf eben nicht statisch interpre-
    tiert werden.


    (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt ist die Katze aus dem Sack!)


    Er lässt Raum und er muss auch Raum lassen für Reakti-
    onen auf unvorhergesehene Ereignisse. Phasen wirt-
    schaftlicher Schwäche – in Deutschland und in Europa
    sind wir in einer solchen – dürfen eben nicht durch pro-
    zyklische Politik ausgeglichen werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir sind uns in Europa mit unseren Partnern einig,
    dass wir auch Möglichkeiten zu Reaktionen auf unvor-
    hersehbare Ereignisse brauchen, die möglicherweise als
    Folgen der Verschärfung von Krisen in Regionen in der
    Welt eintreten. Auch diese Möglichkeit gibt der Stabili-
    tätspakt durchaus her. Wir werden diese Möglichkeiten
    zusammen mit unseren Partnern offensiv nutzen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Völlig falsche Signale!)


    Allerdings: Der Verweis auf den Stabilitätspakt und
    die europäische Verantwortung darf nicht als Ausrede
    benutzt werden, jetzt hier nichts zu tun. Auch in der jet-
    zigen Situation müssen und wollen wir Wachstumsim-
    pulse setzen. Das muss für die Ermunterung privater In-
    vestitionen ebenso gelten wie für die öffentlichen
    Investitionen, insbesondere für die in den Kommunen.


    (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie zum Beispiel?)


    Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachs-
    tums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichen
    Investitionen auf hohem Niveau zu halten.


    (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Hoch? Wo sind die?)


    Der Bund – wir werden das bei den Haushaltsberatun-
    gen diskutieren – kommt dieser Verantwortung durchaus
    nach.


    (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist ja lachhaft!)


    Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesem
    Jahr auf 26,7 Milliarden Euro.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Angela Merkel [CDU/ CSU]: Ja, durch die Flut!)

    Wir werden aber auch die Finanz- und Investitions-
    kraft der Kommunen nachhaltig stärken müssen. Dabei
    setzen wir auf folgende Maßnahmen:

    Erstens. Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden be-
    absichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitrag
    zur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das bringt Mehreinnahmen in einer Höhe von
    800 Millionen Euro.

    Zweitens. Das Steuervergünstigungsabbaugesetz und
    die Abgeltungsteuer werden voraussichtlich noch in
    diesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund 1 Milliarde Euro
    führen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Abrakadabra!)


    – Eine solche Reaktion von Ihnen habe ich erwartet.
    Aber an dieser Stelle zeigt sich, wie Ihre Politik wirklich
    ist: alles ablehnen und immer mehr fordern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Jede einzelne Maßnahme wird blockiert. Auf jede Blo-
    ckade, die Sie machen, erfolgt eine neue Forderung. Das
    ist vollkommen unverantwortlich. Damit werden Sie nicht
    lange durchkommen. Seien Sie sich dessen ganz sicher!


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ganz ruhig bleiben!)


    Drittens. Wir werden die Kommunen ab dem 1. Ja-
    nuar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozial-
    hilfeempfänger entlasten. Das heißt, für bis zu
    1 Million Sozialhilfeempfänger wird künftig die Bun-
    desanstalt für Arbeit materiell zuständig sein.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe ent-
    lastet. Sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zum
    Beispiel für Investitionen bei der Kinderbetreuung nut-
    zen können.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es muss aber auch klar sein: Diese Regelung soll die
    Kommunen nicht von ihrer Verantwortung entbinden,
    mitzuhelfen und alles dafür zu tun, dass Menschen Ar-
    beit in den Strukturen finden, die bei den Kommunen
    aufgebaut worden sind. Die unterschiedliche Finanzie-
    rung darf nicht zu geteilter Verantwortung führen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Viertens. Die Bundesregierung wird zum 1. Janu-
    ar 2004 die Gemeindefinanzen grundlegend reformie-
    ren. Zurzeit arbeitet eine Kommission,






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


    an der Sie, wie Sie wissen, beteiligt sind, mit Hochdruck
    an einer Umsetzung dieser Reform. Im Mittelpunkt wird
    übrigens nach unserer Auffassung eine erneuerte Gewer-
    besteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und den
    Gemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Auch an diesem Punkt werden Sie zeigen können, ob Sie
    bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu überneh-
    men, oder ob Sie weiterhin allein aus parteipolitischer
    Orientierung egoistisch Ihr eigenes Süppchen kochen
    wollen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Fünftens. Wir werden über die Kreditanstalt für
    Wiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe von
    insgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:


    (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Woher?)


    7 Milliarden Euro für ein kommunales Investitionspro-
    gramm und 8 Milliarden Euro für die private Wohnungs-
    bausanierung. Für dieses Investitionsprogramm wird der
    Bund aus eigenen Mitteln eine attraktive Refinanzierung
    sicherstellen. Das kommunale Programm ist für länger-
    fristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser,
    Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infra-
    struktur bestimmt. Dieses Programm – dessen bin ich si-
    cher – sorgt vor allen Dingen für Arbeit in der Bauwirt-
    schaft und im Handwerk. Es kommt den Bürgerinnen
    und Bürgern und denen unmittelbar zugute, die in klei-
    nen und mittelständischen Betrieben arbeiten.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemen
    und überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden die
    ohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deut-
    lich verbessert. Das wird zu mehr Investitionen führen.
    Mir liegt aber daran, festzustellen, dass dies kein kurz-
    fristiges und schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm
    ist. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen
    noch Steuern erhöhen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zu
    unseren Strukturreformen auf der Angebotsseite, die
    ich Ihnen erläutern werde. Beides bedingt einander:
    Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls.
    Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Refor-
    men indessen ins Leere.

    Deswegen setzen wir an beiden Seiten an. Wir werden
    – wie geplant – die nächsten Stufen der Steuerreform mit
    einem Entlastungsvolumen von rund 7 Milliarden Euro
    am 1. Januar 2004 und von 18 Milliarden Euro am
    1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998
    von 25,9 auf 15 Prozent und der Spitzensteuersatz von
    53 auf 42 Prozent sinken.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Völlig neu! Totale Überraschung!)


    Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenü-
    ber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkun-
    gen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Auch das
    gehört zur Wahrheit in diesem Land.


    (Beifall bei der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wollte man die Forderungen, die in die Welt gesetzt
    werden – sie gehen übrigens keineswegs nur zulasten
    des Bundes, sondern auch zulasten der Länder und der
    Kommunen; das wissen Sie doch alle –, wirklich reali-
    sieren, ginge das nur über eine Neuverschuldung oder
    die Erhöhung von Verbrauchsteuern. Anders wäre das
    nicht vernünftig finanzierbar.


    (Zuruf von der FDP: Einsparungen!)


    Beide Wege, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, hier
    der Mehrwertsteuer, und eine Verschuldung in dieser
    Größenordnung, sind nicht zu verantworten. Deshalb
    bleibt es bei den Festlegungen, die wir getroffen haben.
    Das ist planbar für die Steuerbürgerinnen und -bürger
    und für die Unternehmen und das ist der richtige Weg.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir werden zudem die Abgeltungsteuer auf Zinser-
    träge einführen und dadurch erreichen, dass im Ausland
    angelegte Gelder straffrei zurück transferiert werden.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wir hätten es gern noch einmal deutlicher beschrieben! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


    – Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie das sagen. Der
    Sinn der Abgeltungsteuer ist nicht zuletzt derjenige, dass
    wir auf diese Weise Geld, das im Ausland liegt, zurück-
    holen. Es ist doch besser, es arbeitet in Leipzig oder Gel-
    senkirchen, als dass es in Liechtenstein schwarz Zinsen
    bringt. Das ist der Sinn dieser Regelung.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja! Natürlich!)


    Wir brauchen Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch,
    aber wirksam sein. Über die Art und Weise, wie das ge-
    schieht, sind wir gegenüber denjenigen, die das in der
    zweiten Kammer mitzuentscheiden haben, durchaus ge-
    sprächsbereit. Über die Ausgestaltung dieser Kontrollen
    werden wir mit der Mehrheit im Bundesrat zu reden ha-
    ben. Ich bin sicher, dass wir aus der Sache heraus eine
    Einigung finden, weil das Ziel, das wir verfolgen, ver-
    nünftig ist und eigentlich jedem einleuchten müsste.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Es muss in diesem Zusammenhang Verlass darauf sein,
    dass mit dieser Operation nur diese und keine anderen
    Ziele verfolgt werden.

    Wir werden Gewinne aus Veräußerungen – das ist
    beschlossen – in Zukunft besteuern. Die Kehrseite ist,
    dass deshalb die Substanz von Vermögen steuerfrei blei-
    ben kann. Auch das muss klargestellt werden.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist der Beifall?)


    Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer
    Reformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft
    und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Vorausset-
    zungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damit
    für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Wir
    wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten
    kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt.

    Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue For-
    men der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöff-
    net. Wir haben das Programm „Kapital für Arbeit“
    aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermitt-
    lung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir ha-
    ben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in ein
    neues Gleichgewicht gebracht.

    Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzu-
    bauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen
    kann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln und
    sie nicht bloß zu verwalten.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    In den letzten Monaten haben wir – teilweise auch ge-
    meinsam – erhebliche Anstrengungen unternommen,
    den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren: Wir haben die
    Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkun-
    gen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen
    ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel de-
    cken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis
    800 Euro massiv von Abgaben entlastet.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


    – Ich dachte, Sie hätten sich daran beteiligt. Das ist doch
    nicht schlimm. Es kann durchaus auch einmal etwas Ver-
    nünftiges aus Ihren Reihen kommen. Das ist doch keine
    Frage.


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Selten genug!)


    Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Ar-
    beitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.

    Unser System der Arbeitsvermittlung hat unver-
    kennbare Schwächen. Zu Zeiten der Vollbeschäftigung
    fiel das nicht weiter ins Gewicht und dann haben wir uns
    20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwick-
    lungen zu korrigieren.

    Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aber
    jetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu be-
    setzen haben, diese Angebote einer erneuerten Arbeits-
    verwaltung auch annehmen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäf-
    tigung verlängert, wie es gefordert worden ist, für die
    über 50-Jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Auch das
    ist eine Maßnahme, um ältere Arbeitslose wieder in Be-
    schäftigung zu bringen. Ich appelliere an die Wirtschaft,
    das auch zu tun. Denn es ist nicht Sache der Bundesre-
    gierung, sondern der Unternehmen, so zu verfahren,
    dass auch jemand, der 50 oder älter ist, im Betrieb seine
    Chance behält oder wiederbekommt. Das ist eine Verant-
    wortung, die nicht nur bei der Politik abzuladen ist, son-
    dern die die ganze Gesellschaft und speziell die Wirt-
    schaft angeht. Auch sie müssen Verantwortung für das
    Gemeinwesen übernehmen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir werden den Arbeitsmarkt über die Hartz-Refor-
    men hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen und
    unsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbil-
    dungsplätze bereitgestellt werden. Aber es muss auch
    klar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung
    der Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es
    durchaus eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Refor-
    men auf dem Arbeitsmarkt greifen. Einfach die aktive
    Arbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschen
    Bundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuen
    Strukturen aufgebaut sind und ihre Wirkung entfalten
    können – das kann nicht die Lösung sein und das wird
    auch nicht die Lösung sein.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir werden speziell in Ostdeutschland für eine Über-
    gangszeit noch einen zweiten Arbeitsmarkt brauchen.
    Das gilt übrigens nicht nur für Ostdeutschland, sondern
    auch für andere besonders benachteiligte Regionen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei
    belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Ar-
    beitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das
    System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind
    die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brau-
    chen?


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


    Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen
    und können, zum Sozialamt gehen müssen, während an-
    dere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur
    Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.


    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deswegen wird jetzt die Statistik geändert!)


    Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleicher-
    maßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedli-
    cher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolg-
    reiche Integration sein.






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistun-
    gen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen de-
    rer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund,
    warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen-
    legen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch
    das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau
    der Sozialhilfe entsprechen wird.


    (Zurufe von der CDU/CSU: Wo bleibt der Beifall? – Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]: Jetzt bellen sie wieder wie die Hunde! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


    – Herr Schauerte, wenn Sie noch einen Moment zuhören
    könnten. Es kommt ja noch etwas.


    (Lachen bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es kommt tatsächlich noch etwas!)


    Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen,
    denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir da-
    mit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen
    Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistun-
    gen verlieren. Deswegen werden wir eine bestimmte Zeit
    Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufneh-
    men, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent der
    Transfers belassen. Das soll und wird ein Anreiz für die
    Aufnahme von Arbeit sein.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für
    diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger
    als zwölf Monate arbeitslos sind. Niemandem aber wird
    künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zu-
    rückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir wer-
    den die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit
    Sanktionen rechnen müssen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und das
    Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der
    Jahre Beschäftigungshemmnisse entwickelt haben. Aber
    auch hier vorweg eine Bemerkung: Der Kündigungs-
    schutz, wie er zum Wesen unserer sozialen Marktwirt-
    schaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern auch
    eine ökonomische und eine kulturelle Errungenschaft.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Unser Land ist nicht durch Gesetze des Dschungels oder
    durch bedenkenloses „Hire and Fire“,


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Donnerwetter!)


    sondern durch selbstbewusste Arbeitnehmer stark ge-
    worden, deren Motivation eben nicht Angst ist, sondern
    der Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern et-
    was zu leisten.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Wir wissen aber, welche gewaltigen Veränderungen
    an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft stattfin-
    den. Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutz
    für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die
    Unternehmen besser handhabbar machen. Das gilt insbe-
    sondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbei-
    terinnen und Mitarbeitern. Für sie muss und wird die
    psychologische Schwelle bei Neueinstellungen über-
    wunden werden. Der Wirtschafts- und Arbeitsminister
    hat dazu Vorschläge entwickelt. Diese werden ohne Ab-
    striche umgesetzt werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!)


    – Ich kann Ihnen das gerne erläutern, wenn Sie das wol-
    len. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann das so
    genannte Puffermodell nutzen, wonach dann, wenn ein
    sechster Mitarbeiter eingestellt wird, wenn also die
    Grenze von fünf überschritten wird, der erste Arbeitneh-
    mer quasi in den Kündigungsschutz hineinwächst. Das
    Problem ist unter Umständen, dass das schwierig zu kal-
    kulieren ist und dass Arbeitsgerichte Schwierigkeiten bei
    der Umsetzung haben. Deswegen hat der Wirtschafts-
    und Arbeitsminister ein anderes Modell entwickelt, das
    vorsieht, dass die Zahl derjenigen, die befristet einge-
    stellt werden – Sie kennen die diesbezüglichen Regelun-
    gen –, und die Zahl derjenigen, die als Leih- und Zeitar-
    beiter eingestellt werden, nicht auf die Obergrenzen für
    die Betriebe angerechnet werden. Mein Eindruck ist,
    dass dies das wirkungsvollere, das bessere Modell ist.
    Deswegen wird es auch umgesetzt werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Aber das wird nicht reichen. Man muss das im Zusam-
    menhang sehen.

    Darüber hinaus werden wir – Sie sollten das durchaus
    in Kumulation sehen – eine wahlweise Abfindungsre-
    gelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen.
    Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmer
    zwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einer
    gesetzlich definierten und festgelegten Abfindungsrege-
    lung wählen können.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umge-
    stalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
    die Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unter-
    nehmen gehalten werden können. Statt der Sozialaus-
    wahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer der
    Betriebszugehörigkeit sollen in Zukunft die Prioritäten
    auch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Ar-
    beitgebern erarbeitet und verbindlich gemacht werden.
    Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe und
    senkt die Hürde für Neueinstellungen.

    Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiteren
    Maßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maxi-
    male Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahre
    verdoppeln. Existenzgründer werden zudem in den ers-






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    ten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Hand-
    werks- und Industrie- und Handelskammern freigestellt.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])


    Abgerundet wird diese Strategie für mehr Beschäfti-
    gung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarz-
    arbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns alle
    beschämen müssen.


    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Trostlos!)


    Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität,
    Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auch
    ein Gebot der gesellschaftlichen und ökonomischen Ver-
    nunft. Wir haben bereits durch die Hartz-Reform legale
    Beschäftigung attraktiver gemacht.

    Für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Groß-
    unternehmen gewiss wichtig. Aber der Motor des
    Wachstums ist und bleibt der Mittelstand.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig! Wo er Recht hat, hat er Recht!)


    Mittelständische Unternehmen klagen über hohe Lohn-
    nebenkosten und über bürokratische Vorschriften. Des-
    halb werden wir kleine Betriebe künftig deutlich besser
    stellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe
    radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten redu-
    zieren und auch damit die Steuerbelastung kräftig sen-
    ken.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)


    Mit dem Small Business Act verbessern wir die Start-
    bedingungen in die Selbstständigkeit.


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Reden Sie Deutsch!)


    Wer sich selbstständig macht und damit für sich und an-
    dere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung
    und unsere politische Unterstützung.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es darf nicht sein – auch das gilt es klar zu machen –,
    dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unterneh-
    men inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengespräche
    aufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ih-
    rer Produkte.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir müssen in diesem Zusammenhang auch deutlich
    machen, dass ungeachtet von Schwierigkeiten gerade im
    Finanzierungssektor – Schwierigkeiten übrigens, die
    auch durch Managementfehler in diesem Bereich ent-
    standen sind und nicht durch die Politik –


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    die in diesem Markt tätigen Institute ihre eigentliche
    Aufgabe, nämlich nicht zuletzt die mittelständische
    Wirtschaft mit Finanzierungsmöglichkeiten zu versor-
    gen, besser wahrnehmen müssen, als das in der letzten
    Zeit der Fall gewesen ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Die Bundesregierung, die staatlichen Institutionen kön-
    nen nicht an die Stelle der privaten Finanzierungsinsti-
    tute treten. Sie können nur ergänzend tätig werden. Des-
    halb haben wir mit dem Programm „Kapital für Arbeit“
    und den so genannten Nachrangdarlehen, die bei der Be-
    wertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behan-
    delt werden können, die Kreditbedingungen für die
    Unternehmen verbessert. Aber die langfristigen Refinan-
    zierungsmöglichkeiten müssen durch die privaten Insti-
    tutionen dargestellt werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es wäre ein Fehler, davon auszugehen, dass Entbüro-
    kratisierung und mehr Flexibilität immer nur von der ei-
    nen Seite der Gesellschaft eingefordert werden könnten
    und werden dürften. Nein, wir müssen auch das Hand-
    werksrecht modernisieren und so verschlanken, damit
    es im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt,
    mehr Arbeitsplätze entstehen und die, die es gibt, etwa
    durch erleichterte Betriebsübernahmen besser gesichert
    werden können, als das in der Vergangenheit der Fall
    war.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich will in diesem Zusammenhang drei mir besonders
    wichtige Punkte ansprechen:

    Erstens. In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssie-
    gel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll und
    muss er auch künftig erhalten bleiben. Das sind alle Be-
    reiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahren
    für die Gesundheit oder das Leben anderer verursachen
    könnte. Ich weiß, dass das schwer abzugrenzen sein
    wird; aber es ist notwendig, auf diesem Gebiet endlich
    zu Veränderungen zu kommen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Zweitens. Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollen
    wir künftig den Aufbau einer selbstständigen Existenz
    erleichtern.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einen
    Rechtsanspruch auf die selbstständige Ausübung ihres
    Handwerks erhalten.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Drittens. Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als
    selbstständiger Einzelunternehmer braucht der Chef ei-
    nes Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Hand-
    werksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibi-
    lität und erleichtert Firmenübernahmen, was dringend
    notwendig ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)


    – Sie sollten einmal zuhören.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Es lohnt ja gar nicht bei Ihnen!)


    Ich habe Ihnen klar gesagt, wo es geht und wo es bisher
    nicht geht: In einer GmbH hat man bisher keine Pro-
    bleme. Da gilt das, was ich gesagt habe. In einem Einzel-
    unternehmen gilt das bisher nicht.


    (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Falsch! Da sind Sie schlecht informiert, Herr Bundeskanzler!)


    Also werden wir das auch für die Einzelunternehmen
    möglich machen, weil das sinnvoll ist, und so geschieht
    es auch.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in
    Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeits-
    beziehungen. Das schafft Sicherheit. Aber es ist häufig
    nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie es in einer
    komplexen Volkswirtschaft im internationalen Wettbe-
    werb sein muss. Die Verantwortlichen – Gesetzgeber wie
    Tarifpartner – müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen
    Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungs-
    spielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.
    Dazu ist es unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Opti-
    onen geschaffen werden, die den Betriebspartnern Spiel-
    räume bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.

    Übrigens, in der Praxis gibt es – auch das gilt es ein-
    mal klar zu machen – eine Vielzahl erfolgreicher Bei-
    spiele für solche Öffnungsklauseln auf dem Boden des
    geltenden Tarifvertragsrechtes. Diese Erfolge sollte man
    nicht kleinschreiben.


    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Es läuft ja auch alles prima!)


    Diese Erfolge haben Arbeits- und Ausbildungsplätze ge-
    schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe ver-
    bessert.

    Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Stand-
    ort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage
    von Öffnungsklauseln getroffen werden, dem Vorbehalt
    der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unter-
    liegen.


    (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Flasche leer!)


    Es muss aber auch klar sein, dass uns dogmatische
    Unbeweglichkeit ebenso wenig voranbringt wie aggres-
    sive Angriffe auf das Tarifsystem.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen
    ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden.
    Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner und es
    ist auch ihre Verantwortung. Art. 9 des Grundgesetzes
    gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang. Aber das ist
    nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung;
    denn Art. 9 verpflichtet die Tarifparteien zugleich, Ver-
    antwortung für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu
    übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteres-
    sen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stel-
    len.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang
    dessen, was es bereits gibt – aber in weit größerem Um-
    fang –, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in
    vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht,
    wird der Gesetzgeber zu handeln haben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich möchte zum Thema Arbeitsmarkt unmissver-
    ständlich klarstellen: Wir werden das Recht auf Mitbe-
    stimmung nicht antasten


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht ab-
    schaffen. Der Flächentarifvertrag schafft, wenn er flexi-
    bel gehandhabt wird, gleiche Konkurrenzbedingungen in
    einer Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitneh-
    mern Planungssicherheit und zwingt zur beständigen
    Steigerung der Produktivität.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Mir ist noch etwas wichtig – auch das gehört in eine
    solche Debatte –: Ohne mutige und verantwortungsbe-
    wusste Betriebsräte – das gilt es zu unterstreichen – wür-
    den heute viele Betriebe nicht mehr existieren, meine
    Damen und Herren.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Gerade in schwierigen Zeiten sind es doch Betriebs-
    räte und auch Gewerkschaften, die ihren Beitrag dazu
    leisten, dass Betriebe weiter arbeiten können. Natürlich
    müssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.
    Aber – auch das gilt es in einer solchen Debatte einmal
    klar zu machen – sie haben so viel für Wohlstand und so-
    ziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen, die
    man gelegentlich aus den Reihen von CDU/CSU und
    FDP hört,


    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


    eine geschichtslose Unverschämtheit sind.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang in
    eine bestimmte Richtung des Hauses noch einmal daran
    erinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmeri-
    scher Misserfolge nicht die Gewerkschaften und nicht
    die Betriebsräte zu verantworten haben, sondern


    (Zurufe von der CDU/CSU: Sie!)


    dass sie auch – das gehört ebenfalls in eine solche De-
    batte, auch wenn Sie das vielleicht nicht hören mögen –
    auf krasse kaufmännische und strategische Fehler im
    Management zurückgehen. Diese Fehler werden dann
    oft genug noch mit millionenschweren Abfindungen ver-
    gütet.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter Zustimmung der Gewerkschaften! Was hat denn der Herr Zwickel geschrieben? – Zurufe von der CDU/CSU)


    – Mein Eindruck ist, dass Sie das gern unter den Teppich
    kehren würden.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, im Gegenteil!)


    So wichtig es auf der einen Seite ist, Flexibilität zu for-
    dern, so wichtig ist es auf der anderen Seite, deutlich zu
    machen, dass sich auch in der bundesdeutschen Unter-
    nehmenskultur etwas bewegen und verändern muss.
    Auch dafür wird zu sorgen sein.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich kann Ihnen gleich Beispiele liefern.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Telekom! – Michael Glos [CDU/CSU]: Zwickel!)


    Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden
    und den Kammern für den Erhalt des dualen Ausbil-
    dungssystems gestritten – übrigens ein Ausbildungssys-
    tem, um das uns noch immer viele Länder der Welt be-
    neiden.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Die Bundesregierung hat, wie die Länder und die Kom-
    munen im Übrigen auch, mit diversen Förderprogram-
    men dafür gesorgt, dass junge Menschen eine Chance
    auf Ausbildung und Arbeit bekommen. Wir waren uns
    mit den Verbänden der Wirtschaft einig, dass die Verant-
    wortung dafür, dass jede und jeder am Anfang ihres oder
    seines Berufslebens nicht in Arbeitslosigkeit fällt, nicht
    allein bei der Politik abgeladen werden kann, sondern
    dass diese Verantwortung auch bei den Betrieben liegt.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110 000 be-
    triebliche Ausbildungsplätze – Ausbildungsplätze, die
    nicht von der Politik geschaffen werden können. 30 Pro-
    zent aller Unternehmen bilden aus, viele davon über Be-
    darf, und ich bin dankbar dafür.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrer
    sozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwor-
    tung. Sie sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sit-
    zen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirt-
    schaft, dass sich die unternehmerische Verantwortung
    nicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt. Unter-
    nehmer und Unternehmen tragen auch gesellschaftliche
    Verantwortung. Diese Verantwortung zeigt sich zunächst
    und vor allem im Engagement für diejenigen, die am
    Anfang ihres Berufslebens stehen. Das ist ein zentrales
    Gebot der Wirtschaftsethik, aber auch der blanken Nütz-
    lichkeit für unsere Gesellschaft.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Der Wirtschaft kann nicht erlaubt werden, sich zu-
    rückzuziehen, sondern sie muss zu der getroffenen Ver-
    abredung zurückkehren.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Diese lautet: Jeder, der einen Ausbildungsplatz sucht
    und ausbildungsfähig ist, muss einen Ausbildungsplatz
    bekommen! Davon können wir nicht abweichen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ebenso wie ich die Forderung an die Tarifparteien ge-
    richtet habe, Öffnungsklauseln zu schaffen, damit be-
    triebliche Bündnisse entstehen können, muss ich die
    Forderung an die Wirtschaft richten, die gegebene Zu-
    sage einzuhalten. Wenn nicht, werden wir auch in die-
    sem Bereich zu einer gesetzlichen Regelung kommen
    müssen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Jeder weiß, ich bin kein Freund der Ausbildungs-
    abgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung der
    Ausbildungsbereitschaft und ohne die Übernahme der
    zugesagten Verantwortung für diesen Bereich ist die
    Bundesregierung zum Handeln verpflichtet und sie wird
    das auch tun.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Dazu gehört aber auch: Wer bereit ist auszubilden,
    dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er be-
    stimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungen
    so umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestens
    fünf Jahre lang erfolgreich geführt hat, auch ausbilden
    darf.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Bundeskanzler Gerhard Schröder CSU]: Dann schafft doch gleich den Meisterbrief ab!)





    (A) (C)


    (B) (D)


    Genauso klar muss sein: Junge Menschen haben ein
    Recht auf neue Chancen, auf Ausbildung und dieses
    Recht muss ihnen die Gesellschaft gewähren. Diesem
    Recht – das muss genauso klar festgestellt werden – ent-
    spricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch
    anzunehmen. Geschieht das nicht, wird das zu Sanktio-
    nen führen müssen. Wir werden dafür sorgen, dass das
    funktioniert.

    Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Ab-
    sicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfas-
    sungsauftrag. Sie sind nach meiner festen Überzeugung
    das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine
    ganz und gar unsinnige Debatte, in der so getan wird, als
    stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzu-
    schaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer angesichts
    radikal veränderter Bedingungen der ökonomischen Ba-
    sis unserer Gesellschaft die Frage so stellt, der hat bereits
    verloren.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie
    die unsere eine wirklich gute Zukunft nur als Sozialstaat
    haben kann. Anders als in einem Sozialstaat lässt sich
    Zusammenarbeit in komplexen Ordnungen, in einer Ge-
    sellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und
    Dauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturellen
    Gegebenheiten dramatisch verändern, gar nicht organi-
    sieren. Aber wir müssen aufhören – das ist der Kern des-
    sen, was wir vorschlagen –, die Kosten von Sozialleis-
    tungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen,
    immer nur und immer wieder dem Faktor Arbeit aufzu-
    bürden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch
    Umstrukturierungen im System und durch Abbau von
    Bürokratie erreichen. Aber es wird unausweichlich nötig
    sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche
    und Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr
    belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Die Menschen in den Betrieben und Büros erwarten,
    dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben sen-
    ken. Ich betone noch einmal: Mit den Stufen 2004 und
    2005 werden wir das tun. Durch unsere Maßnahmen zur
    Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir
    die Lohnnebenkosten. Das ist gewiss nicht immer ein-
    fach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführen
    müssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeits-
    losengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die
    über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies
    notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu be-
    halten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem
    Hintergrund einer veränderten Vermittlungssituation Ar-
    beitsanreize zu geben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Helle Begeisterung bei den Roten!)


    – Natürlich gibt es darüber keine Begeisterung. Das
    kann doch gar nicht anders sein und das habe ich
    überhaupt nicht anders erwartet. Es gibt gelegentlich
    Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine
    Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht.
    Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sie
    auch umsetzen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Um auf die Rente zurückzukommen: Die Reform der
    Rentenversicherung im Jahr 2001 war sicherlich eine
    der wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen seit
    der Einführung der dynamischen Rente 1957. Weil darü-
    ber so viel und so viel Unsinniges verbreitet worden ist,
    will ich sagen: Bis Ende vergangenen Jahres wurden im
    Bereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 Millionen
    Verträge abgeschlossen; bei der betrieblichen Altersvor-
    sorge waren es etwa 2 Millionen. Das sind, bezogen auf
    die 35 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
    in unserem Land, immerhin 15 Prozent.


    (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Das ist nicht genug – keine Frage. Aber nach einem Jahr
    ist das eine ganze Menge.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir müssen uns endlich einmal entscheiden, ob wir ei-
    ner Reformmaßnahme in einem schwierigen Umfeld, in
    einem häufig rechtlich und auch politisch sehr vermachte-
    ten Umfeld Zeit geben wollen, ihre Wirkung zu entfalten,
    oder ob wir uns nur dranmachen wollen, jeden Ansatz von
    Reformen gleich wieder zu zerreden, weil er dem einen zu
    weit und dem anderen nicht weit genug geht.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Gleichwohl gilt, bezogen auf dieses System, dass wir
    in unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimis-
    tisch zugleich waren: zu optimistisch, was die Beschäfti-
    gungsentwicklung anging, und zu pessimistisch im Be-
    zug auf die durchschnittliche Lebenserwartung, die
    glücklicherweise – aber mit Problemen für die Alters-
    vorsorge – immer größer wird. Aus diesen beiden Grün-
    den ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujus-
    tieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden,
    dass die Renten für die alten Menschen so sicher wie nur
    irgendwie möglich gemacht werden und die Beiträge be-
    zahlbar bleiben. Das heißt auch, dass wir noch in diesem
    Jahr von Herrn Rürup ergänzende Vorschläge erwarten,
    wie die Rentenformel angesichts dieser Veränderungen
    neu zu fassen und entsprechend anzupassen ist.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Ich denke, wir sind uns klar darüber, dass alle, aber
    auch wirklich alle in der Gesellschaft einen Beitrag leis-
    ten müssen. Es betrifft natürlich die Mitglieder der Bun-
    desregierung und auch andere. Deshalb wird es – kein
    Zweifel – auch für die Gehälter der Bundesminister und
    der Staatssekretäre eine erneute Nullrunde geben.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politische
    Personal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.

    Noch einen Aspekt: Wie ich höre, haben sich die Län-
    der darauf verständigt, dass auch die Beamten einen Bei-
    trag zur Erneuerung des Sozialstaates und zur Konsoli-
    dierung der Länderhaushalte leisten sollen und leisten
    werden. Der Bund, der hier die Gesetzgebungsarbeit zu
    machen hat, ist durchaus bereit, auf die Vorschläge, die
    die Länder untereinander offenbar vereinbart haben, po-
    sitiv einzugehen. Denn klar ist: Auch aus diesem Bereich
    heraus muss es Solidarität geben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es gibt kaum einen Bereich der Politik, den die Men-
    schen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit so gro-
    ßen Sorgen betrachten wie die Reformen des Gesund-
    heitswesens. In der Tat, die Reform der gesetzlichen
    Krankenversicherung ist der wichtigste, auch notwen-
    digste Teil der innenpolitischen Erneuerung, weil wir nur
    mit einer Reform das hohe Niveau der medizinischen
    Versorgung für die Zukunft werden sichern können.
    Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichen
    Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitglie-
    dern ist immer noch enorm leistungsfähig. Qualität und
    Standards im deutschen Gesundheitswesen sind im inter-
    nationalen Vergleich immer noch vorbildlich.

    Aber Krisenzeichen auch in diesem System sind un-
    übersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkas-
    sen entwickeln sich weiter auseinander. Vor allem gilt:
    Die Strategie der Kostendämpfung ist eindeutig an ihre
    Grenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kosten
    durch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kennt
    das und jeder hat Beispiele vor Augen. Wir werden des-
    halb Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen,
    auch und gerade weil das deutsche Gesundheitssystem
    verkrustet und in einer Weise vermachtet ist wie kaum
    ein anderes gesellschaftliches System.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich hoffe sehr, dass wir in diesem Hohen Haus Einig-
    keit erzielen können: Das Gefühl einer gemeinsamen
    Verantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu ver-
    schwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des ra-
    schen, auch des bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalität
    der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität ver-
    drängt. Deshalb sage ich: Hier ist auch in den Haltungen
    aller Akteure ein Umdenken notwendig. Wir haben Ein-
    nahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit; der me-
    dizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird die
    Kosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben.
    Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürgerinnen und
    Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger ein-
    zahlen – das kann auch nicht anders sein –, aber weitaus
    mehr Leistungen in Anspruch nehmen.

    Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähn-
    lich. Dabei zeigt sich die Alternative: Entweder wir las-
    sen die Entwicklung treiben – dann bleibt nur die Ein-
    schränkung medizinischer Leistungen oder eine vom
    Alter abhängige Zuteilung von medizinischer Versor-
    gung – oder wir entschließen uns zu Reformen, die das
    hohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten. Der
    erste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jede und jeder erhal-
    ten die notwendige medizinische Versorgung, und zwar
    unabhängig von Alter und Einkommen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Das erwarten die Menschen von uns. Sie erwarten auch,
    dass wir am Solidarprinzip in der Krankenversicherung
    prinzipiell festhalten.

    Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wir
    aber einschneidende Kurskorrekturen. Ein Teil der not-
    wendigen Maßnahmen wird im zuständigen Ministerium
    vorbereitet. Zum Finanzierungsteil wird die Rürup-
    Kommission bis Mai ihre Vorschläge vorlegen.

    Ein paar wesentliche Punkte sind schon jetzt zu nen-
    nen. Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele un-
    strittig sind: hohe Qualität der Gesundheitsversorgung
    und kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkas-
    sen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen, aber
    auch der Versicherten.

    Der Staat muss dabei helfen, den Abbau von Verkrus-
    tungen zu ermöglichen. Er muss mehr Wettbewerb im
    System zulassen und fördern


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Weiße Salbe!)


    und kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der Kassen-
    ärztlichen Vereinigungen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Dieses Vertragsmonopol hat sich überlebt. Wir werden
    es den Krankenkassen deshalb ermöglichen, Einzelver-
    träge mit den Ärzten abzuschließen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unter-
    schiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungs-
    bedarf.






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Klar gesagt: So viele Krankenkassen werden es nicht
    bleiben können. Wir werden hier auf die Schaffung über-
    schaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.

    Qualitätssicherung wird die zweite große Ressource
    sein, die wir ausschöpfen werden. Die Sicherung von
    Qualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirk-
    lichen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung.
    Wir brauchen klare Standards; diese werden wir schaf-
    fen.

    Darüber hinaus werden wir – das ist für viele
    schmerzlich – den Leistungskatalog überarbeiten und
    Leistungen streichen. Wir müssen neu bestimmen, was
    künftig zum Kernbereich der gesetzlichen Krankenversi-
    cherung gehört und was nicht.

    Es gibt Vorschläge, den Zahnersatz oder gar die Zahn-
    behandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlen
    zu lassen. Ich halte das nicht für richtig.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir haben ein System, das Eigenvorsorge bei der
    Zahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchte
    nicht, dass man den sozialen Status der Menschen wie-
    der an ihren Zähnen ablesen kann.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ich habe mich lange mit einer Forderung auseinander
    gesetzt, die von vielen Seiten erhoben worden ist, näm-
    lich der Forderung, private Unfälle aus dem Leistungs-
    katalog der gesetzlichen Krankenversicherung heraus-
    zunehmen. Dies ist eine Forderung, die wirklich eine
    ernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob diese
    Forderung umgesetzt werden sollte,


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzung
    zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden über-
    haupt möglich ist.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Ich zweifle auch daran, ob die an sich wohlfeile For-
    derung, Extremsportarten aus dem Leistungskatalog he-
    rauszunehmen, viel bringt. Zudem ist auch hier fraglich,
    ob Abgrenzungen möglich sind.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Mir ist beispielsweise nicht einsichtig, warum Sport-
    unfälle insgesamt einer besonderen Versicherungs-
    pflicht unterworfen werden sollten. Damit würden wir
    vor allem den Breitensport treffen,


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und zur
    Krankheitsprävention beiträgt. Er ist zudem gerade für
    die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr
    wichtig.

    Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorge
    im Hinblick auf das Krankengeld. Hier handelt es sich
    um einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch für
    die Zukunft überschaubar bleibt. Die Kostenbelastung
    für den Einzelnen durch eine private Versicherung bliebe
    beherrschbar. Medizinisch notwendige Leistungen wür-
    den nicht berührt.

    Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im
    Rahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht haben:
    die Befreiung der gesetzlichen Krankenversicherung von
    einer Reihe so genannter versicherungsfremder Leistun-
    gen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das aus
    dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden
    muss.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir brauchen, glaube ich, auch ein neues Nachdenken
    – das will ich hier sehr deutlich sagen – über die öffent-
    liche Debatte über Zuzahlungen und Selbstbehalte. For-
    men von Eigenbeteiligungen sind im geltenden System
    lange bekannt. Sie haben Steuerungswirkung.


    (Zuruf von der FDP: Ach nein!)


    Sie halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben Seehofer diskriminiert! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schäbig! – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Der Groschen ist zu spät gefallen! – Weitere Zurufe von der SPD und der CDU/CSU)


    – Herr Glos, hören Sie einmal einen Moment zu! – Ich
    sage das doch, weil wir in diesem Bereich ohnehin nur
    weiterkommen, wenn die Mehrheit dieses Hauses und
    die Mehrheit des Bundesrats entschlossen sind, eine
    durchgreifende Reform auch durchzusetzen; sonst geht
    es ja nicht.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Früher habt ihr euch immer verweigert!)


    Weil das so ist und weil ich weiß, dass Sie ganz be-
    stimmte – für Sie elementare – Forderungen aufgestellt
    haben, macht es doch aus meiner Sicht – ich will eine
    solche Reform – keinen Sinn, so zu tun, als seien die für
    alle Zeiten indiskutabel. Das brächte doch niemanden
    weiter.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder
    Weil ich weiterkommen will, werde ich die Punkte, die
    für Sie existenziell sind, zumindest in die Diskussion
    einbeziehen müssen; das kann doch nur vernünftig sein.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wenn Sie sagen, das sei eine Veränderung in der ei-
    nen oder anderen Position, dann gebe ich Ihnen Recht.
    Ich stehe doch hier, weil es Veränderungen geben muss,
    weil das die angemessene Reaktion auf veränderte Zu-
    stände in unserer Gesellschaft ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden
    muss, sollten wir – ich komme jetzt zu den Instrumenten –
    Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und
    Selbstbehalte nutzen. Menschen mit geringem Einkom-
    men, Kinder, auch chronisch Kranke – auch darüber sind
    wir uns, glaube ich, einig – müssen davon ausgenommen
    werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis,
    dass sich Gesundheitspolitik nicht auf die Heilung von
    Krankheiten beschränken darf, sondern dass der Präven-
    tion Vorrang eingeräumt werden muss.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischen
    Länder orientieren, die durch systematische Förderung
    gesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zur
    Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.


    (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


    Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch die
    Reserven zu sein, die in einer Modernisierung der Kom-
    munikationstechnologie in diesem Bereich liegen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Der elektronische Patientenausweis und die elektroni-
    sche Krankenakte sind nicht nur technologisch an-
    spruchsvolle Projekte, die wir bis spätestens 2006 funk-
    tionsfähig haben wollen; sie werden auch dazu
    beitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachver-
    sorgung zu vermeiden und auf diese Weise die Qualität
    von Behandlungen zu erhöhen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Meine Damen und Herren, Sie verstehen, dass ich mit
    bezifferten Prognosen vorsichtig bin.


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Das kann man verstehen!)


    Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs-
    und strukturpolitischen Maßnahmen können wir es
    schaffen, die Beiträge zur Krankenversicherung unter
    13 Prozent zu drücken.


    (Lachen des Abg. Friedrich Merz [CDU/ CSU])


    Ich habe das, was ich „Agenda 2010“ genannt habe,
    vorgestellt. Ich habe beschrieben, was wir leisten müs-
    sen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden – Schritt
    für Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das an-
    packen – und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Un-
    ser Land hat – daran kann doch kein Zweifel bestehen –
    große Potenziale, Potenziale, die wir durch eine gemein-
    schaftliche Anstrengung wecken können und wecken
    müssen.


    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aber nicht mit dieser Regierung!)


    Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir
    tun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumt
    werden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und
    Höchstleistungen zu erbringen. Diese Chancen wollen
    wir uns erarbeiten. Das heißt zuerst: Chancen für Bil-
    dung und Investitionen in Forschung und Entwick-
    lung.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weit rei-
    chende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen in
    Bildung und Forschung einhergehen müssen, wenn man
    dauerhaft Erfolg haben will. Aber Folgendes gilt es mit-
    einander zu überwinden: In keinem vergleichbaren In-
    dustrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohem
    Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland.
    Das darf nicht so bleiben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es darf nicht so bleiben, dass in Deutschland die Chance
    des Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus der
    Oberschicht sechs- bis zehnmal so hoch ist wie für einen
    Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Was ist eine „Oberschicht“?)


    Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, dass je-
    der vierte ausländische Schüler ohne Schulabschluss
    bleibt. Auch das müssen wir im Interesse der jungen
    Menschen, aber auch im Interesse der Kohäsion unserer
    Gesellschaft ändern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Die auf der Bundesratsbank sind dafür verantwortlich! Da sitzen Ihre Genossen!)


    Wir sollten bei allem Respekt vor den unterschied-
    lichen Kompetenzen, die ich kenne und respektiere, zu
    einer nationalen Gesamtanstrengung kommen, um Stan-
    dards zu setzen






    (A) (C)



    (B) (D)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder

    (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bitte nicht Ihre Standards!)


    und die Defizite, die ich beschrieben habe, zu überwin-
    den. Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung
    – anders wird es nicht zu machen sein –, die die pädago-
    gischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Wir
    brauchen – nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen –
    ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathemati-
    schen Fächern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es macht Sinn, wenn sich die Bundesregierung und die
    Ministerpräsidenten der Länder auf eine gemeinsame
    Strategie in diesem Bereich verständigen und sie dann
    gemeinsam – jeder in seinem Bereich – materiell unter-
    legen.

    Wir werden unser Wohlstandsniveau nur dann halten
    können, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichen
    Situation verstärkt in Bildung und Forschung investie-
    ren.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Das war der Grund dafür, warum in der vergangenen Le-
    gislaturperiode in der Forschungspolitik umgesteuert
    und der Etat dieses Ministeriums um 25 Prozent erhöht
    wurde. Ich weiß, in diesem Jahr haben wir aus Gründen
    der Konsolidierung und der Schwierigkeiten, die Sie alle
    kennen, kürzer treten müssen. Aber das darf nicht so
    bleiben. Wir werden und müssen die Haushalte der gro-
    ßen Forschungsinstitutionen in den nächsten Jahren jähr-
    lich wieder um 3 Prozent erhöhen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es ist klar geworden, dass uns die Ereignisse der ver-
    gangenen anderthalb Jahrzehnte dazu gezwungen haben,
    unseren Blick auf uns selbst und auf die sich verän-
    dernde Welt zu richten. Aber das reicht nicht mehr.
    Heute ist es für unser Land erforderlich, Strukturen zu
    verändern.


    (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das reicht nicht!)


    Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generatio-
    nen die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichen
    und gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu ver-
    bauen. Das ist der Grund dafür, dass wir den Mut zu Ver-
    änderungen brauchen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuver-
    sicht in Europa werden – unseretwegen, aber auch Euro-
    pas wegen.

    Ich kann mir vorstellen, dass es in Verbänden und an-
    derswo viele Neunmalkluge gibt, die bereits unterwegs
    sind, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die be-
    reits erfüllten Forderungen wirklich umgesetzt worden
    sind. Ihnen allen sage ich: Nicht alle Probleme, vor de-
    nen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nicht
    alle Lösungen, über die wir heute diskutieren, können
    schon morgen wirken. Aber ich bin entschlossen, nicht
    mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank ge-
    schoben werden, weil sie kaum überwindbar erscheinen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


    Meine Damen und Herren, ich will nicht hinnehmen,
    dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern, weil die
    Kraft zur Gemeinsamkeit nicht vorhanden ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unserer
    Wirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, auf
    die Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Tra-
    ditionen unseres Landes.


    (Georg Brunnhuber [CDU/CSU]: Nur nicht auf die Regierung!)


    Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinder
    zu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammen-
    stehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen.

    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


    (Langanhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN erheben sich)




Rede von Dr. h.c. Wolfgang Thierse
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)


Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel,
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Angela Merkel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)



    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-
    deskanzler, ich habe Ihnen 90 Minuten in aller Ruhe zu-
    gehört. Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie sich Schritt für
    Schritt relativ mühevoll durch Ihr Referat gearbeitet ha-
    ben. Auch der Vernunftbeifall, der nur zu erklären ist,
    weil es bei Ihnen keine Alternativen gibt,


    (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der große Wurf für
    die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit
    nicht.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt!)


    Sie haben zum großen Teil nur Bekanntes wiederholt
    und vage Andeutungen gemacht. Aber immer dann,
    wenn es interessant und spannend wurde, gab es eisiges
    Schweigen auf Ihrer Seite in diesem Hause.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Ihre
    Politik, Herr Bundeskanzler, nicht aus dem Verwalten
    des Augenblicks herauskommt, aus dem Hetzen von Er-
    eignis zu Ereignis, dann war es das Theater um diese De-
    batte.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Nur kein Neid! Von Ihnen hat keiner etwas erwartet!)


    Es ist mir auch heute nicht ganz klar geworden, wer
    eigentlich aus der Krise herausgeführt werden soll:


    (Zuruf von der FDP: Mir auch nicht!)


    Sie, Herr Bundeskanzler, oder das Land, die Bundes-
    republik Deutschland.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Sie haben noch immer nicht verstanden, dass es Situatio-
    nen im Leben gibt, in denen Reden Silber, Handeln da-
    gegen Gold ist.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Meine Damen und Herren, nur wenige hundert Meter
    von hier entfernt, im Bundesrat, hätten Sie heute zeigen
    können, dass es Ihnen mit einer Debatte, die wirklich
    zum Fortschritt für Deutschland führt, ernst ist.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Sie hätten das Steuervergünstigungsabbaugesetz zu-
    rückziehen und sagen sollen, dass Steuererhöhungen in
    einer solchen Situation Gift für die Wirtschaft sind. Das
    wäre ein Zeichen gewesen.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)


    Dass einige Ihrer Ministerpräsidenten hier sitzen und
    nicht da, wo das Gesetz beraten wird, zeigt, dass sie das
    genauso sehen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Wieso ist dann der Herr Stoiber hier, Frau Merkel?)


    Sie haben dieses Gesetz nicht zurückgezogen. Des-
    halb sage ich Ihnen voraus, dass wir es tun werden, weil
    uns Deutschland am Herzen liegt.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Wir werden mit unserer Mehrheit im Bundesrat dafür
    sorgen, dass dieses zentrale Vorhaben Ihrer Regierung,
    das kontraproduktiv ist, nicht durchkommt; denn wir
    wollen, dass Ihre Politik in Deutschland nicht länger be-
    trieben wird und dass unser Land mit oder ohne Sie end-
    lich wieder nach vorne kommt, Herr Bundeskanzler.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Sie sich der Di-
    mension der Krise, in der wir uns befinden, wirklich be-
    wusst sind.


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, dafür brauchen wir Sie!)

    Herr Bundeskanzler, in den letzten Tagen vor dieser
    Rede haben Sie immer wieder von Opfern gesprochen.
    Viele, alle und nicht nur wenige müssten Opfer bringen.
    Ich gebe Ihnen ganz einfach zu bedenken, dass es schon
    unendlich viele Opfer Ihrer Politik gibt: 4,7 Millio-
    nen Arbeitslose sind Opfer Ihrer Politik.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Rekordhalter sind immer noch Sie! Denken Sie mal an die KohlZeit!)


    Das knappe Wirtschaftswachstum in diesem Land ist ein
    Opfer Ihrer Politik.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    40 000 Pleite gegangene Firmen sind Opfer Ihrer Politik.
    Die Kommunen sind Opfer Ihrer Politik.


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist vollkommen lächerlich!)


    Ich sage Ihnen vor allen Dingen eines – auch das hat
    in der Rede vollkommen gefehlt –: Zuversicht, Optimis-
    mus und der Glaube an eine gute Zukunft sind in den
    vergangenen fünf Jahren in Deutschland verloren gegan-
    gen. Das ist eines unserer wesentlichen Probleme.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen!)


    Die Krise, in der wir uns befinden – ich glaube, wenn
    wir es nüchtern beschreiben, müssen wir es so nennen –,
    ist eine Krise der inneren Verfasstheit dieser Bundesre-
    publik Deutschland.


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Krise der CDU!)


    Sie ist insbesondere eine Krise der Wirtschafts- und So-
    zialpolitik, zugleich aber auch eine Krise der histori-
    schen Ausrichtung unserer Sicherheits- und Außenpoli-
    tik.

    Meine Damen und Herren, wo stehen wir denn heute?
    Wir müssen es uns noch einmal vergegenwärtigen: Tech-
    nologie, Digitalisierung und die Informationsgesell-
    schaft haben diese Welt dramatisch verändert,


    (Ludwig Stiegler [SPD]: So etwas! Gut, dass Sie das bemerkt haben! – Franz Müntefering [SPD]: Das ist doch nicht neu!)


    sie haben zu einer Beschleunigung der Globalisierung
    geführt und sie wirken in jede Familie hinein. Unser Le-
    ben wird sich auch in den nächsten Jahren ändern.


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Ja, so was, das ist ja aufregend! – Gernot Erler [SPD]: Donnerwetter!)


    Schauen Sie sich einmal an, wie in den verschiedenen
    Ländern der Welt auf diese Veränderungen reagiert
    wird.






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel

    (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie reagieren Sie denn? – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Reaktion?)


    Irland ist vom Armenhaus Europas zu einem der prospe-
    rierendsten Länder geworden. Die USA halten sich seit
    Jahrzehnten in einem überdurchschnittlichen Auf-
    schwungprozess.


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Konzept? – Gernot Erler [SPD]: Gehen Sie doch rüber!)


    China, Hongkong und Taiwan – das alles sind Länder,
    die die Chancen der Globalisierung nutzen. Wie steht es
    um Deutschland? In Deutschland – das ist unsere Situa-
    tion – ist die Zeit scheinbar stehen geblieben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Ich sage Ihnen ganz selbstkritisch – auch das gehört
    dazu –: Vielleicht hat manches auch schon zu unserer
    Regierungszeit begonnen.


    (Jörg Tauss [SPD]: „Vielleicht“?)


    Mit Sicherheit hat sich der Prozess in den letzten fünf
    Jahren aber in dramatischer Art und Weise verschlim-
    mert. Das ist das Problem, über das wir heute zu debat-
    tieren haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Deutschland steht zweifellos an einem historischen
    Scheideweg. Wir müssen deshalb sagen, was Politik leis-
    ten kann und was unser Gestaltungsanspruch ist.


    (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, was denn? – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es doch einmal! – Zurufe von der SPD)