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    Plenarprotokoll 15/32 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . bis 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2530 D 2534 B 2536 C 2540 C 2542 A 2543 D 2547 B 2547 B 2549 C 2550 D 32. Sit Berlin, Freitag, de I n h a Tagesordnungspunkt 13: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler: Mut zum Frieden und zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . Katrin Dagmar Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 2479 A 2479 B 2493 B 2505 A 2511 C 2515 C 2520 D 2528 C zung n 14. März 2003 l t : Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern 2545 C 2547 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2479 (A) (C) (B) (D) 32. Sit Berlin, Freitag, de Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2547 (A) (C) (B) (D) Randinformationen hinaus durchsetzen. Wir glauben, dass die veränderte Form internationaler Rechtssetzung einmal, ob dies nicht der bessere Weg wäre. Dann wä- ren wir in der Lage, gemeinsame generelle Regeln zu wollen die Beteiligungsrechte des Parlaments über Herren von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen noch Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – GATS-Verhandlungen – Bildung als öffent- liches Gut und kulturelle Vielfalt sichern – GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität sichern (31. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 5 bis 7) Erich G. Fritz (CDU/CSU): Ich spreche zum Koali- tionsantrag GATS-Verhandlungen – Transparenz und Flexibilität. Mir liegt als erstes daran, zu sagen, dass wir einen bestimmten Grundtenor des Antrages teilen. Wir Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 14.03.2003 Austermann, Dietrich CDU/CSU 14.03.2003 Breuer, Paul CDU/CSU 14.03.2003 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2003 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 14.03.2003 Hartnagel, Anke SPD 14.03.2003 Laurischk, Sibylle FDP 14.03.2003 Lehn, Waltraud SPD 14.03.2003 Möllemann, Jürgen W. fraktionslos 14.03.2003 Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 14.03.2003 Rühe, Volker CDU/CSU 14.03.2003 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.03.2003 Schmidt (Salzgitter), Wilhelm SPD 14.03.2003 Schneider, Carsten SPD 14.03.2003 Seib, Marion CDU/CSU 14.03.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 14.03.2003 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 14.03.2003 Wieczorek (Böhlen), Jürgen SPD 14.03.2003 Anlagen zum Stenografischen Bericht über multilaterale Verhandlungen dringend einer stärke- ren Beteiligung des Parlaments bedarf, wenn der Prozess der Globalisierung Akzeptanz in den Augen der Bevöl- kerung finden soll. Es gibt einen Anspruch der interessierten Öffentlich- keit auf frühzeitige Information, auf voraussehbare Dis- kussions- und Beteiligungsformen. Es gibt einen An- spruch des Parlaments als Gesetzgeber in einer Welt, in der immer mehr Regeln und Festsetzungen über supra- nationale und multilaterale Verhandlungen herbeigeführt werden. Soweit der Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen dieses Ziel verfolgt, unterstützen wir ihn. Anlass und Art des Vorgehens der Koalition scheinen mir aber sehr fragwürdig zu sein, um nicht zu sagen, falsch: Es ist ein purer Zufall, dass anlässlich der Ab- gabe der Verhandlungsangebote zu den GATS-Verhand- lungen durch die Europäische Kommission dieser An- trag gestellt wird. Es ist auch zufällig, dass gerade die GATS-Verhandlungen den Anlass für diese Diskussion und für den Antrag bieten, weil interessierte Abgeord- nete sich gerade diesen Teil der EU-Angebote ausge- sucht haben. Wir haben uns nicht mit gleicher Intensität um andere Offers bzw. um andere Teile der Verhandlun- gen in den Verhandlungsgruppen der WTO gekümmert. Im Prinzip habe ich überhaupt nichts dagegen, wenn die Koalition ein Exempel gegen die eigene Regierung statuieren will, um ihr einmal zu zeigen, wie sie sich nach der Auffassung der Koalition eigentlich verhalten sollte. Ich gehöre zu denen, die seit Jahren sagen, dass wir andere Formen der vorbereitenden Beteiligung des Parlaments brauchen, und bin auch schon lange der Auffassung, dass die Regierung von sich aus nicht nur eine Information, sondern eine Beteiligung des Parlaments herbeiführen soll. Wenn wir die Situation verändern wollen, dann muss allerdings das ganze Parlament darauf dringen, dass es fest geregelte, formalisierte Beteiligungsformen gibt, die bisher nicht existieren und deshalb entwickelt werden müssen. Die Vorbereitung von Verhandlungspositionen wie auch wesentliche Schritte der Verhandlungen selbst müs- sen transparent sein. Auch insofern folge ich der Inten- tion des Antrages. Ich glaube, dass der Deutsche Bun- destag durch sein beharrliches Drängen auf frühzeitige Information und Öffentlichkeit bereits dazu beigetragen hat, dass ein großes Maß der früheren Geheimniskräme- rei aufgehört hat. Jetzt geht es darum, dass über die Kenntnisnahme der Positionen auch die Abwägung, die politische Diskussion und die Abschätzung der Folgen in eine geordnete Bahn gelenkt werden und ein Prozess im Bundestag vereinbart wird, der die Beteiligung des Par- laments regelt. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es sicher sinn- voll, wenn die Koalition ihren Antrag zurückziehen würde. Vielleicht überlegen Sie, meine Damen und 2548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) entwickeln, in welcher Form die Bundesregierung in Zukunft die zuständigen Ausschüsse des Bundestages bei welcher Gelegenheit und in welchem Umfang und zu welcher Zeit befassen muss, um eine tatsächliche Beteiligung des Parlaments zu gewährleisten. Es darf in Zukunft nicht dem zufälligen Engagement einiger Abgeordneter und dem guten Willen des Ministe- riums überlassen bleiben, ob es eine Parlamentsbeteili- gung gibt oder nicht. Zum Antrag selbst stelle ich fest, dass man ihm sehr deutlich anmerkt, dass er mit der heißen Nadel gestrickt ist. Er ist an einigen Stellen sehr oberflächlich. Er enthält formulierte Befürchtungen, die nach Kenntnis der Unter- lagen nicht haltbar sind. Einige Fragen des Antrages sind nur aufrechtzuerhalten, wenn man beharrlich nicht zur Kenntnis nimmt wie das GATS konstruiert ist. Damit kein Irrtum aufkommt: Der Bundestag hat die Pflicht zur Abschätzung der Folgen von zu erwartenden internatio- nalen Vereinbarungen. Unklarheiten müssen aufgeklärt werden. Deshalb ist die vom Wirtschaftsausschuss be- schlossene Anhörung insbesondere zu Mode 4 des GATS-Angebotes wichtig und sinnvoll. Nach unserer Auffassung muss man dazu aber das Verfahren zwischen Berlin, Brüssel und Genf nicht an- halten. Der Parlamentsvorbehalt ist deshalb eine über- triebene Reaktion, die auch nur zufällig an dieser Frage aufgehängt wird. Wir wissen, dass alle jetzt entwickelten Verhandlungsangebote veränderbar sind, dass uns nichts daran hindert, auch im weiteren Verlauf noch Grenzen einzuziehen, insbesondere dann, wenn es uns gelingt, das Netzwerk der nationalen Parlamente in Europa wei- ter zu verstärken. Manches aus dem Antrag muss man auch gar nicht verstehen. Heute Morgen wurde in der Debatte zum Zu- wanderungsgesetz noch für die dort vorgesehene Aufhe- bung des Anwerbungsstopps geworben. Heute Abend gibt es große Befürchtungen bei offensichtlich sehr ge- ringen Öffnungen, die die Bundesregierung nach ihren eigenen Aussagen auch noch von Arbeitsmarktprüfun- gen abhängig machen will. Eines muss man jedoch anerkennen: Die EU-Ange- bote sind im Vergleich zu dem, was wir von anderen Ländern fordern, eher bescheiden und lösen bei Ent- wicklungsländern keinerlei Jubel aus. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass man auf Dauer nicht erwarten kann, dass andere ihre Märkte für uns öffnen, wir selbst aber in Restriktionen und Abschottung erstar- ren. Sie schreiben, meine Damen und Herren von der Koalition, mit Recht in Ihrem Antrag, dass der Teil des Dienstleistungshandels noch weit hinter dem Dienstleis- tungsanteil an der Wertschöpfung Deutschlands zurück- steht. Gerade das GATS bietet deshalb große Möglich- keiten für deutsche Dienstleistungserbringer auf anderen Märkten. Dazu gehört natürlich auch das Signal, dass dieser Prozess keine Einbahnstraße ist und wir wissen aus der Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass nur dann auf Dauer eine hohe Leistungskraft in bestimmten Bran- chen erreicht werden kann, wenn sie auch tatsächlich dem Wettbewerb ausgesetzt ist. Dann erwecken Sie in Ih- rem Antrag erneut den Eindruck, es gebe einen Zwang zur Liberalisierung hoheitlich erbrachter Dienstleistun- gen, was nach dem Angebot der EU-Kommission in kei- ner Weise zu erwarten ist. Gerade das GATS ermöglicht es wie kein anderes Abkommen der WTO, die nationa- len Sonderheiten auch national zu regeln. Wieviel GATS jedes Land will, entscheidet es im Prinzip selbst. In dem Antrag heißt es unter III., die EU-Kommission müsse die Zeitabläufe der nationalen Parlamente stärker be- rücksichtigen und auf Vertraulichkeit verzichten. Dem stimmen wir im Prinzip zu; allerdings muss umgekehrt auch gesagt werden, dass die nationalen Parlamente die Zeitabläufe der multilateralen Verhandlungen berück- sichtigen müssen und dass wir selbst schneller werden müssen, wenn wir unsere Beteiligungsrechte wahrneh- men wollen. Im Übrigen habe ich mich darüber gefreut, dass die Bundesregierung sich der Forderung nach schnellerer Öffentlichkeit der Verhandlungsgrundlagen angeschlos- sen hat und dass Herr Lamy bei seinem Gespräch mit Mitgliedern des Bundestages auch erklärt hat, dass nach der Zustimmung des Rates die EU-Position ins Internet eingestellt würde. Im Punkt 2 des Kapitels 3 fordern Sie, die betroffenen Fachausschüsse des Deutschen Bundestages müssten frühzeitig, regelmäßig, umfassend und detailliert über den Fortgang der GATS-Verhandlungen informiert wer- den. Das scheint mir nach allem, was wir in der Vergan- genheit erfahren haben, zu wenig zu sein. Man kann der Bundesregierung nicht nachsagen, dass sie ihre, vor al- len Dingen informellen Informationen gegenüber inter- essierten Abgeordneten nicht verbessert haben. Jetzt geht es darum zu überlegen, in welcher Form ein stan- dardisiertes und formalisiertes Beteiligungsverfahren or- ganisiert werden kann. Unter III Punkt 5 formuliert die Koalition einen Par- lamentsvorbehalt; dieser Position können wir uns nicht anschließen. Wir sind vielmehr der Meinung, dass wir damit unserem Land und dem Fortgang des Verhand- lungsprozesses einen schlechten Dienst erweisen wür- den. Wie allen bekannt ist, gibt es ohnehin eine Reihe von Zeitüberschreitungen im Verhandlungsprozess. Wir sollten nicht dazu beitragen, dass das Verfahren noch weiter verzögert und erschwert wird. So kann man im Übrigen nur vorgehen, wenn man nicht erkannt hat, dass im Zusammenhang mit den GATS-Verhandlungen es auch um die Durchsetzung von nationalen Interessen und um die Gefährdung eigener Vorteile geht. Diese Position können wir umso leichter einnehmen, als mittlerweile ja bekannt geworden ist, dass zu sensib- len Bereichen die Bundesregierung bereits einen aus- drücklichen Prüfvorbehalt eingelegt hat, sodass auch nachträgliche Korrekturen noch möglich sind. Ebenso scheint ja der Vorschlag auf eine Konditionierung durch eine „wirtschaftliche Bedarfsprüfung“ bei Sektoren mit erkennbaren Arbeitsmarktproblemen ein Weg zu sein, der vorhandene Bedenken bereits berücksichtigt. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Bundes- regierung, auch im Gespräch mit fachkundigen Instituten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2549 (A) (C) (B) (D) und Verbänden, die Zweifelsfälle weiter klären soll, die auch Gegenstand der Anhörung sein werden, sodass man sagen kann, dass die Diskussion bereits Ergebnisse ge- zeitigt hat. Was ich überhaupt nicht verstehe und was offensicht- lich nur so zu erklären ist, dass in der SPD-Fraktion jede Arbeitsgruppe wieder ihr Steckenpferd geritten hat, ohne allzu viele Kenntnisse über die Zusammenhänge zu ha- ben, dass auch im Zusammenhang mit GATS nun alle Themen, die in der WTO überhaupt eine Rolle spielen, auf die GATS-Verhandlungen draufgesattelt werden sol- len. Ich glaube, dass wir die Themen, die zusätzlich an- gesprochen sind, wie Umwelt und Sozialstandards dort behandeln sollten, wo sie hingehören, nämlich in den je- weils dafür vorgesehenen Vertragsverhandlungen. Man kann nicht alle Themen an einer Stelle bearbeiten. In ihrem Antrag ist unter Ziffer 5 dann eine Frage an- gesprochen, ob „geltende nationale und EU-weite Anfor- derungen und Regelungen fortbestehen“, wobei explizit auch die Frage von Tarifverträgen und Mindestlöhnen einbezogen sein soll. Ich weiß wirklich nicht, warum man einen Prüfauftrag vergeben soll für etwas, was aus dem Text des Verhandlungsangebots der EU so unmiss- verständlich hervorgeht wie nur irgend möglich. Und im Übrigen haben sowohl die Bundesregierung als auch der Handelskommissar Lamy das immer wieder geklärt. Ich habe den Eindruck, dass Sie ihrer eigenen Regierung mittlerweile überhaupt nichts mehr glauben. Weiterhin Klärungsbedarf sehe ich bei den so genann- ten „independent professionals“. In diesem Bereich gibt es sehr viel Misstrauen auch von außerhalb des Parla- ments und ich glaube, dass tatsächlich Definitionen ge- funden werden müssen, die frühzeitig klären, was sich dahinter verbirgt. Es hat keinen Sinn, Bereiche zu ver- handeln, derer Umfang im eigenen Verständnis nicht klar ist. Verwundert hat mich, dass in Ihrem Antrag erneut Sorgen zum Ausdruck kommen über eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte für verschiedene Bereiche aus der öffentlichen Daseinsfürsorge. Das verwundert deshalb, weil Sie wissen, dass die Europäische Union dazu über- haupt keine Angebote gemacht hat und auch nicht beab- sichtigt zu machen. Übereinstimmen kann ich mit Ihrem Antrag wieder in der Forderung nach einer klaren Defi- nition der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das würde si- cher auch in Zukunft Interpretationsschwierigkeiten ver- meiden. Wenn Sie unter Punkt 6 formulieren, dass Flexibili- tät und Transparenz erhöht werden sollen, und dann die Forderung erheben, „dies betrifft zum einen die souveräne Entscheidung der WTO-Mitglieder, welche Sektoren sie in welchem Ausmaß für ausländische An- bieter öffnen wollen, zum anderen, welche Sektoren sie von den GATS-Verpflichtungen ausnehmen wol- len“, so würde ein solche Formulierung auf uns selbst zurückfallen und Arbeitsplätze kosten. Bei all dem, was letztendlich vereinbart wird und was nicht ohne- hin in der freien Entscheidung der Nationalstaaten steht, muss das Recht auf Gegenseitigkeit gelten, sonst machen Abkommen keinen Sinn. Insgesamt sind wir der Meinung, dass der Antrag in keiner Weise geeignet ist, um die eigentlich bestehenden Probleme sachgerecht anzusprechen, und deshalb stim- men wir ihm nicht zu. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass eine funktionierende Dienstleistungswirtschaft, bei- spielsweise in Sektoren wie der Finanzwirtschaft, der Te- lekommunikation oder dem Verkehr weltweit von Bedeu- tung ist und als eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung gelten kann, wird heute sel- ten bestritten. Seit jetzt mehr als zehn Jahren entwickelt sich gerade der Dienstleistungssektor als dynamischster Bereich der Weltwirtschaft. Fast ein Fünftel des gesamten Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen entfällt auf den Bereich der Dienstleistungen. Schätzungen gehen da- von aus, dass im Jahr 2020 der Anteil der Dienstleistun- gen am grenzüberschreitenden Handel 50 Prozent ausma- chen wird. Bereits heute entfallen mehr als die Hälfte der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen auf den Dienstleistungssektor. Also gewinnt dieses Thema ge- rade auch für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie die unsere an Bedeutung. Die EU ist sowohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur von Dienstleis- tungen weltweit. Schon daraus lässt sich ablesen, welche Bedeutung die Dienstleistungswirtschaft für die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Mitgliedstaaten hat. Dies gilt mithin auch für Deutschland. So liegt beispielsweise auf der Hand, dass der Markt für Umweltdienstleistungen in allen Weltregionen in den kommenden Jahren massiv wachsen wird. Hieraus ergeben sich erhebliche Poten- ziale für deutsche Unternehmen. Andererseits erstreckt sich das Dienstleistungsabkom- men potenziell auch auf Sektoren, die als äußerst sensi- bel anzusehen sind, beispielsweise den Bereich der audiovisuellen Dienstleistungen, der Bildung, der Was- serversorgung oder der Gesundheitsdienstleistungen, also auch auf so genannte hoheitliche Aufgaben. Die GATS-Verhandlungen sind ein Teil der laufenden Welthandelsrunde. Sie sollen also gemeinsam mit der so genannten „Entwicklungsagenda“ (Doha Development Agenda), den Agrarverhandlungen, über die wir heute ebenfalls im Bundestag diskutieren, und der Präzisierung des Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums zu einem ausgewogeneren internationalen Handelssystems führen. Aktuell ist unsere Debatte über die GATS-Verhand- lungen, da die Europäische Kommission derzeit ihr Ver- handlungsangebot im Rahmen der Welthandelsrunde der Welthandelsorganisation WTO für das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS-Abkommen) vorbereitet. Dazu sind die Mitglied- staaten aufgefordert, bis zum Ende dieses Monats den Entwurf des Kommissionsvorschlags zu bewerten und in die Welthandelsorganisation einzubringen. Sollen die Schulen von McDonald’s übernommen werden, die Krankenhäuser von Red Bull?, so Verdi und Attac in einem gemeinsamen Flugblatt über die GATS- Verhandlungen. Unbewusst oder bewusst werden damit 2550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) Ängste geschürt gegen die Globalisierung und Liberali- sierung. Ich halte das nicht für verantwortungsbewusst. Über Bildung, Gesundheit, Kultur und Warenversorgung, das hat die EU mit ihrem Verhandlungsangebot klar ge- macht, wird gar nicht verhandelt. Und niemand – so sind die Verhandlungsstrukturen – kann die EU dazu zwin- gen. Für die grüne Fraktion möchte ich erklären, dass wir es außerordentlich begrüßen, dass die Europäische Union in ihrer Verhandlungsposition die Bereiche Bil- dung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen sowie Gesundheitsdienstleistungen von den Liberalisierungs- verhandlungen ausgenommen hat. Gerade hier hat es in der Öffentlichkeit Einwände und Befürchtungen gege- ben, die sich im Lichte des EU-Angebots nicht bestäti- gen werden. Wir erwarten, dass in diesen Bereichen auch durch die Dynamik der Verhandlungen, an deren Anfang wir ja erst stehen, von der Kommission keine weiteren Angebote gemacht werden. Also: Lasst uns sachlich über die tatsächlichen Verhandlungspunkte zum Beispiel Modus 4 und die Auswirkungen auf die freien Berufe wie zum Beispiel Architekten sprechen und da- bei nicht nur die Gefahren, sondern auch die Chancen sehen. Dass die Diskussion über das GATS-Abkommen in der Öffentlichkeit erhebliche Sorgen und Befürchtungen ausgelöst hat, ist aber zu einem erheblichen Teil auf ein zentrales hausgemachtes Problem der Europäischen Kommission und der WTO-Verhandlungen insgesamt zurückzuführen: Und das besteht in mangelnder Trans- parenz. Ein zentrales Motiv des Koalitionsantrages ist es also, die Transparenz der laufenden Verhandlungen zu erhö- hen. Eine transparente, partizipatorische Beteiligung al- ler WTO-Staaten, der demokratisch legitimierten Parla- mente und der Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Gerade die Parlamente können ein wichtiges Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Verhandlungen bilden. Was bei anderen internationalen Verhandlungen gang und gäbe ist – die Veröffentlichung zentraler Dokumente im Internet –, muss auch bei diesen Verhandlungen gel- ten. Daher fordere ich ganz ausdrücklich, die relevanten Forderungen und Angebote entsprechend zu veröffent- lichen. In den bisherigen Parlamentsberatungen wurde mit Recht beklagt, dass die Zeit nicht ausreicht, sich intensiv mit den Auswirkungen des GATS-Abkommens zu befas- sen. Wir Grünen sprechen uns dafür aus, dies in allen re- levanten Ausschüssen zu tun. Der Wirtschaftsausschuss wird zu diesem Zweck Anfang April eine Anhörung zum Thema durchführen. So gibt es beispielsweise im Bereich der grenzüber- schreitenden, zeitlich begrenzten Dienstleistungen durch Personen (so genannter Modus 4) eine Reihe von offe- nen Fragen, die wir im Parlament mit Vertretern von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen beraten müssen. Nicht zuletzt deshalb halte ich es für richtig, vor einem abschließenden, bindenden Votum dem Parlament die Möglichkeit zu geben, seine geplanten Anhörungen durchzuführen und die parlamentarische Willensbildung zügig fortzusetzen. Entwicklungsländer drängen auf die Ausweitung der Liberalisierungsverpflichtungen für den grenzüberschrei- tenden Verkehr natürlicher Personen zur Erbringung von Dienstleistungen. Obwohl mir bekannt ist, dass es sich hier teils um sensible Fragen handelt, sollte sich die EU als einer der Hauptexporteure und -importeure von Dienst- leistungen gegenüber den Anliegen aus Entwicklungslän- dern aufgeschlossen zeigen. Generell gilt, dass wir vor der Übernahme von Ver- pflichtungen im Rahmen des GATS-Abkommens poli- tisch und gesellschaftlich transparent über die Folgen auf die einzelnen Dienstleistungssektoren debattieren müs- sen. Dabei sollte das Tempo der Verhandlungen nicht zu- lasten der Gründlichkeit gehen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele Entwicklungsländer von der Vielzahl der Verhandlungen überfordert sind. Aber auch die gesell- schaftliche Debatte in den Industrieländern braucht mehr Zeit. An dieser Stelle ist mir wichtig, einige Grundanliegen bezogen auf die GATS-Verhandlungen aufzugreifen. Die EU sollte selbstverständlich keine Verpflichtungen ein- gehen, die geltendes EU-Recht unterlaufen oder die Ver- einbarung hoher Standards und Normen innerhalb der EU erschweren würde. Die Flexibilität des GATS-Ab- kommens sollte erhalten bleiben. Dies betrifft vor allem die souveräne Entscheidung von Staaten über das Aus- maß der Liberalisierung und das Recht, einzelne Sekto- ren von den GATS-Verpflichtungen auszunehmen. Nicht nur die Industrieländer, sondern auch gerade Ent- wicklungsländer sollten bei der Erbringung von Dienstleis- tungen in ihrem Hoheitsgebiet, Dienstleistungssektoren im Einklang mit den nationalen politischen Zielsetzungen regulieren können. Grünes Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Verhandlungsergebnisse auch zur wirtschaftli- chen und sozialen Entwicklung in Entwicklungsländern beitragen. Das GATS-Abkommen ist ein äußerst komplexes Ab- kommen, dessen Nuancen und Fallstricke sich nicht im- mer direkt erschließen. Wir sollten als Parlamentarier mit Selbstbewusstsein die Zeit einfordern, die eine ange- messene Befassung mit dem Thema erfordert, denn wir sind diejenigen, die die Verhandlungsergebnisse in die- sem Hause ratifizieren müssen. Gerade bei komplexen internationalen Verhandlungen hat das Parlament auch die Aufgabe der „Übersetzung“ bzw. Vermittlung neuer internationaler Vereinbarungen und Verträge in die Gesellschaft. Dem gerecht zu wer- den, auch das zeigen die GATS-Verhandlungen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 2551 (A) (C) (B) (D) der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2002 bis 2006 – Drucksachen 14/9751, 15/345 Nr. 46 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Stand und die voraussichtliche Ent- wicklung der Finanzwirtschaft des Bundes – Drucksachen 15/151, 15/402 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschreibung des Rheumaberichtes der Bundesregie- rung – Drucksachen 13/8434, 15/345 Nr. 66 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen – Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Radverkehrsplan 2002 bis 2012 „FahrRad“ – Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs in Deutschland – Drucksachen 14/9504, 15/345 Nr. 70 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 2002 der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit – Drucksache 14/9950 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2002 – Drucksachen 14/8950, 15/345 Nr. 74 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Eu- ropäischen Parlaments 2002 – Drucksachen 15/340, 15/389 Nr. 1.3 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Petitionsausschuss Drucksache 15/173 Nr. 1.9 Drucksache 15/173 Nr.1.10 Finanzausschuss Drucksache 15/339 Nr. 2.11 Drucksache 15/339 Nr. 2.12 Drucksache 15/339 Nr. 3.1 Haushaltsausschuss Drucksache 15/392 Nr. 2.45 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/103 Nr. 2.28 Drucksache 15/173 Nr. 1.3 Drucksache 15/173 Nr. 1.8 Drucksache 15/173 Nr. 1.15 Drucksache 15/173 Nr. 2.5 Drucksache 15/173 Nr. 2.6 Drucksache 15/173 Nr. 2.9 Drucksache 15/173 Nr. 2.10 Drucksache 15/173 Nr. 2.13 Drucksache 15/173 Nr. 2.14 Drucksache 15/173 Nr. 2.17 Drucksache 15/173 Nr. 2.18 Drucksache 15/173 Nr. 2.19 Drucksache 15/173 Nr. 2.21 Drucksache 15/173 Nr. 2.22 Drucksache 15/173 Nr. 2.23 Drucksache 15/173 Nr. 2.29 Drucksache 15/173 Nr. 2.30 Drucksache 15/173 Nr. 2.32 Drucksache 15/173 Nr. 2.35 Drucksache 15/173 Nr. 2.36 Drucksache 15/173 Nr. 2.37 Drucksache 15/173 Nr. 2.40 Drucksache 15/173 Nr. 2.42 Drucksache 15/173 Nr. 2.43 Drucksache 15/173 Nr. 2.47 Drucksache 15/173 Nr. 2.62 Drucksache 15/173 Nr. 2.67 Drucksache 15/173 Nr. 2.71 Drucksache 15/173 Nr. 2.76 Drucksache 15/173 Nr. 2.82 Drucksache 15/173 Nr. 2.83 Drucksache 15/173 Nr. 2.88 Drucksache 15/173 Nr. 2.90 Drucksache 15/268 Nr. 2.25 Drucksache 15/268 Nr. 2.27 Drucksache 15/268 Nr. 2.28 Drucksache 15/268 Nr. 2.31 Drucksache 15/268 Nr. 2.36 Drucksache 15/268 Nr. 2.42 Drucksache 15/268 Nr. 2.43 Drucksache 15/268 Nr. 2.44 Drucksache 15/268 Nr. 2.45 Drucksache 15/268 Nr. 2.46 Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 15/103 Nr. 2.69 Drucksache 15/103 Nr. 2.111 Drucksache 15/103 Nr. 2.112 Drucksache 15/268 Nr. 2.4 Drucksache 15/268 Nr. 2.8 Drucksache 15/268 Nr. 2.9 Drucksache 15/268 Nr. 2.11 Drucksache 15/268 Nr. 2.13 Drucksache 15/268 Nr. 2.14 Drucksache 15/268 Nr. 2.15 Drucksache 15/268 Nr. 2.16 Drucksache 15/268 Nr. 2.18 Drucksache 15/268 Nr. 2.30 Drucksache 15/339 Nr. 2.30 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 15/103 Nr. 2.7 Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Drucksache 15/103 Nr. 2.5 Drucksache 15/103 Nr. 2.66 2552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2003 (A) (C) (B) (D) Drucksache 15/173 Nr. 2.33 Drucksache 15/173 Nr. 2.53 Drucksache 15/268 Nr. 2.3 Drucksache 15/345 Nr. 67 Ausschuss für Verkehr, Bau und Wohnungswesen Drucksache 15/392 Nr. 2.61 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 15/103 Nr. 1.9 Drucksache 15/173 Nr. 2.78 Drucksache 15/173 Nr. 2.80 Drucksache 15/173 Nr. 2.81 Drucksache 15/173 Nr. 2.87 Drucksache 15/268 Nr. 2.22 Drucksache 15/268 Nr. 2.34 Drucksache 15/268 Nr. 2.39 Drucksache 15/268 Nr. 2.47 Drucksache 15/339 Nr. 2.9 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 15/345 Nr. 73 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 15/339 Nr. 2.25 Drucksache 15/339 Nr. 2.35 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 15/345 Nr. 78 Drucksache 15/345 Nr. 79 Drucksache 15/345 Nr. 80 Drucksache 15/345 Nr. 81 Drucksache 15/345 Nr. 82 Drucksache 15/392 Nr. 1.3 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 15/173 Nr. 1.14 nd 91, 1 22 32. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. März 2003 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Angela Merkel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)



    Sie können wirklich davon profitieren, wenn Sie zu-
    hören.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD)


    Der Gestaltungsanspruch von Politik kann die Men-
    schen in diesem Lande nur erreichen, wenn wir unsere
    Ziele klar und eindeutig formulieren. Deshalb sage ich
    für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Ich will, dass
    Deutschland innerhalb von zwei Legislaturperioden, das
    heißt, bis zum Ende dieses Jahrzehnts, bis zum Jahre
    2010, wieder an der Spitze in Europa steht,

    (Hans-Peter Kemper [SPD]: Dann helfen Sie mit!)


    und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil es um die
    Menschen in diesem Lande geht. Wir wollen an die
    Spitze Europas!


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Dazu brauchen wir mehr als irgendeine Agenda. Wir
    brauchen einen Erfolgsweg. Wir wollen erreichen, dass
    Deutschland beim Wachstum unter den ersten drei Län-
    dern an der Spitze steht. Ich sage ganz konkret: Ich will
    erreichen, dass Deutschland bis 2010 seinen Bürgern so
    viel Arbeit verschaffen kann, wie es die Niederländer,
    die Briten und die Dänen schon heute schaffen. Das sind
    keine außereuropäischen, sondern europäische Bei-
    spiele. Ich will, dass wir für Bildung und Forschung so
    viel ausgeben, wie es die Finnen schon heute tun. Das
    bringt uns wieder an die Spitze Europas.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Wie denn? – Siegfried Scheffler [SPD]: Lächerlich, was Sie hier vortragen!)


    Uns alle in diesem Hause eint, dass wir nicht wissen,
    wie die Welt im Jahre 2010 aussieht. Wir wissen aber,
    dass der Erfolg nur mit einer freiheitlichen, leistungs-
    orientierten und gerechten Wirtschaftsordnung zu schaf-
    fen ist. Herr Bundeskanzler, das Wort „Freiheit“ ist pi-
    kanterweise in Ihrer ganzen Rede nicht ein einziges Mal
    vorgekommen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Ich weiß, dass wir dafür eine nationale Kraftanstren-
    gung brauchen. Bei allem, was aus unserer Sicht in die
    richtige Richtung weist – ich komme in Einzelfällen da-
    rauf zurück –, sagen war, dass wir mitmachen. Wir bie-
    ten Ihnen eine nationale Kraftanstrengung an. Sie ist
    mehr als das, was Sie heute hier vorgelegt haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Weil wir das wissen, hat unsere Fraktion am
    10. Februar dieses Jahres einen Dreistufenplan be-
    schlossen.


    (Franz Müntefering [SPD]: Was? Noch einmal! Drei Stufen?)


    Wir haben festgelegt, was wir in der ersten Stufe tun
    müssen. Wir müssen im Arbeitsmarkt, im Gesundheits-
    wesen, bei der Zurückziehung der Steuererhöhungen und
    bei der Entbürokratisierung Sofortmaßnahmen ergreifen.
    Darauf muss eine zweite Stufe folgen, diese reicht bis
    2004. Bis dahin müssen wir es schaffen, die sozialen
    Sicherungssysteme wetterfest zu machen. Wir müssen
    eine Offensive für Forschung und Bildung starten, damit
    wir endlich die Grundlagen für einen Aufstieg legen.


    (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Konkret!)


    Vor uns steht eine weitere schwierige Aufgabe. Ma-
    chen wir uns nichts vor: All das, was heute hier gesagt
    wurde, reicht bei weitem nicht aus, um die demographi-






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    schen Veränderungen unserer Gesellschaft wirklich zu
    beschreiben.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Wir brauchen weitere steuerliche Entlastungen. Wir
    brauchen Entbürokratisierung und Privatisierung. Wir
    brauchen auch eine neue Ordnung der Aufgabenvertei-
    lung im Föderalismus. All das steht bis 2010 auf der Ta-
    gesordnung. Über vieles habe ich von Ihnen nichts ge-
    hört.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann haben Sie nicht zugehört!)


    Herr Bundeskanzler, die Vorgeschichte dieser Erklä-
    rung zeigt deutlich: Herausreden wird Ihnen nichts mehr
    nutzen.


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Etwas konkreter!)


    Herr Bundeskanzler, auf der CeBIT wurden Sie ge-
    fragt, wann es mit Deutschland denn wieder aufwärts
    geht. Darauf haben Sie gesagt: Am Freitag.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gernot Erler [SPD]: Gute Antwort!)


    Herr Bundeskanzler, ich kenne Sie. In einem halben Jahr
    werden Sie sagen, Sie hätten ja nicht gesagt, an welchem
    Freitag es sein sollte.


    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Auch wenn mancher Punkt in Ihrem Vortrag beden-
    kenswert, vielleicht sogar richtig ist, sehe ich das Pro-
    blem – –


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


    – Entschuldigung, Sie wollen die Zusammenarbeit. Sie
    haben uns doch vorgeworfen, wir seien nicht konstruk-
    tiv. Jetzt zeigt sich, dass Sie nicht Recht haben. Sie
    schimpfen ja schon, wenn man andeutet, dass dies pas-
    sieren könnte. Was wollen Sie denn nun? Sie wollen eine
    Opposition so, wie Sie sie sich malen würden. Wir sind
    aber anders. Uns geht es um Deutschland und nicht um
    Klamauk!


    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Um die vor uns liegenden Herausforderungen meis-
    tern zu können, brauchen wir ein Verständnis dessen,
    was passiert ist. Der Zusammenbruch des Kalten Krieges
    ist kein Zufall. Er ist der Sieg der Freiheit über die Dik-
    taturen gewesen. Er ist der Sieg der Informationsgesell-
    schaft und der ökonomischen Überlegenheit des Westens
    über die sozialistischen Modelle gewesen.

    Das alles führt zu einer grundlegenden Veränderung
    der Welt. Diese Veränderung wird nach meiner festen
    Überzeugung unsere gesamte Wirtschaftsordnung auf
    eine neue Ebene heben. Ich bezeichne diese Ebene als
    bedeutend, weil wir, von der sozialen Marktwirtschaft
    kommend – mit dem Erbe Ludwig Erhards und mit al-
    lem, was wir geschaffen haben –, sagen müssen: Wir
    brauchen eine „neue soziale Marktwirtschaft“ im
    21. Jahrhundert.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Jetzt wissen wir genau, was los ist!)


    Herr Bundeskanzler, deshalb brauchen wir so etwas
    wie die zweiten Gründerjahre der Bundesrepublik
    Deutschland. Wir brauchen einen Gründergeist. Wir
    brauchen eine Offensive für Selbstständigkeit. Bei dem,
    was Sie uns eben vorgetragen haben, wurde das nicht
    spürbar.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Vor allen Dingen – das muss man leider sagen – ist es
    das Gegenteil dessen, was Sie uns seit der Bundestags-
    wahl geboten haben.

    Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christa Sager,


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Halbe Fraktionsvorsitzende!)


    hat beim politischen Aschermittwoch gesagt:

    Karneval ist Anarchie auf Kommando. Ich bin si-
    cher, das haben aber manche auch beim Antritt der
    Regierung in Berlin gedacht.

    Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht, Frau Sager. Am
    Aschermittwoch soll das sogar einmal vorkommen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Karneval!)


    Genau das ist der Unterschied: Wir brauchen keine Anar-
    chie auf Kommando, sondern Gründergeist in Freiheit,
    Selbstständigkeit und Kreativität für diese Bundesrepu-
    blik.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen kann ich über mich selber lachen!)


    Was wichtig ist und was ich bei Ihnen vermisst habe,
    ist die Tatsache, dass man dann, wenn man die Men-
    schen mitnehmen möchte, für das Dach eines gesell-
    schaftlichen Modells, wie es die „neue soziale Markt-
    wirtschaft“ ist, Leitideen braucht, die den Menschen
    sagen, nach welchen Prinzipien die Veränderungen von-
    statten gehen. Für mich ist die erste Leitidee: Wir brau-
    chen einen konsequenten Kurs der Investitionen in die
    Zukunft.

    Vom Bundeskanzler haben wir etwas über Investitio-
    nen gehört. Die Wahrheit ist doch: Die Investitionsquote
    im Bundeshaushalt dieses Landes ist auf einem histori-
    schen Tiefpunkt, wenn man die Hilfen für die Flutopfer
    herausrechnet. Sie liegt bei unter 10 Prozent des Bundes-
    haushaltes. Das ist die Wahrheit.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Franz Müntefering [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben keine Ahnung von den Zah Dr. Angela Merkel len! Das ist genau umgekehrt! Die Bundesinvestitionen sind höher als jemals zuvor! Das müssten Sie doch wissen!)





    (A) (C)


    (B) (D)


    – Herr Müntefering, Ihr Satz „Die Bundesinvestitionen
    sind höher als jemals zuvor“ stimmt nicht. Sie sind aber
    höher als 9,8 Prozent, und zwar deshalb, weil Sie in die-
    sem Jahr die Flutinvestitionen dazurechnen können. An-
    sonsten wäre die Investitionsquote auf einem histori-
    schen Tiefstand. Das können wir Ihnen jederzeit
    beweisen, jedenfalls was die prozentualen Verhältnisse
    anbelangt.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz Müntefering [SPD]: Das haben die Ihnen falsch aufgeschrieben! Sie sollten wenigstens die Zahlen kennen!)


    Deshalb lautet unsere Forderung ganz konkret: Bis
    zum Ende der Legislaturperiode muss die Investitions-
    quote wieder auf 13 Prozent angestiegen sein.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Das entspricht 7,5 Milliarden Euro mehr. Jeder Cent da-
    von ist besser angelegt als das Strohfeuer-Investitions-
    programm, das Sie uns heute hier vorgestellt haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber gleichzeitig im Bundesrat blockieren!)


    Viele haben sich gefragt: Warum muss der Kanzler
    heute reden und kann er das nicht nächsten Mittwoch
    machen?


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist die Frage!)


    Mir ist inzwischen klar geworden: Wenn wir parallel
    über den Haushalt debattiert hätten, dann wäre noch
    deutlicher geworden, dass Sie in diesem Jahr Ihr Zu-
    kunftsprojekt Kinderbetreuung auf Kosten des Zukunfts-
    projekts Wissenschaftsfinanzierung finanzieren. Der
    Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht
    einmal gegen seine eigene Wissenschaftsministerin ein-
    geschritten, meine Damen und Herren. Das ist die Wahr-
    heit darüber, wie wir mit unserer Zukunft umgehen.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Deshalb müssen wir uns neben der Frage, wie die Zu-
    wanderung zu steuern ist, auch fragen, wie wir Abwan-
    derung verhindern können. Wissen Sie, wie viele Wis-
    senschaftler dieses Land verlassen, weil sie hier keine
    Zukunft haben?


    (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für die Wissenschaft ausgegeben? Der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben Sie Mittel gestrichen. Den Menschen, die sich auf Ihre Zusagen verlassen haben, versprechen Sie jetzt, dass es 2004 besser wird. Wundern Sie sich nicht, wenn sie Ihnen überhaupt nichts mehr glauben! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Es ist immer noch besser als bei Ihnen!)


    Die für Deutschland vielleicht entscheidenden Fragen
    haben Sie allenfalls ansatzweise in zwei Sätzen schema-
    tisch zu beantworten versucht: Womit wollen wir in
    Deutschland in Zukunft Geld verdienen? Wo entstehen
    die Arbeitsplätze der Zukunft? Wir führen viel zu oft
    zuerst eine Diskussion über Risiken und vergessen, dass
    es auch Chancen gibt. Seit dem Bio-Regio-Wettbewerb
    im Biotechnologiebereich ist durch Ihre Politik nicht
    mehr viel Innovatives passiert. Sie haben die rote gegen
    die grüne Gentechnologie ausgespielt. Sie haben in der
    grünen Gentechnologie ein Moratorium verordnet, das
    die gesamten Saatgutbranchen aus Deutschland vertrei-
    ben wird, Herr Bundeskanzler. Das ist die Wahrheit.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Sie wollen eine Initiative starten, damit die chemische
    Industrie in Europa noch eine Heimat hat. Wer hat denn
    die Ökosteuer für alle Prozesstechniken erhöht? Wer
    schreitet energisch ein, wenn es um die Zukunft des Che-
    mikalienrechts in Europa geht? Kümmern Sie sich um
    das Chemie-Weißbuch, damit die chemische Industrie
    nicht aus Deutschland vertrieben wird! Das ist Ihre Auf-
    gabe, Herr Bundeskanzler.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Wer hat denn der pharmakologischen Industrie ver-
    sprochen, dass vier Jahre lang keine weiteren Abgaben
    drohen? Wer hat dann sein Wort nicht gehalten? So kann
    man die Industrie nicht in Deutschland halten. Wir müs-
    sen darüber nachdenken, wo die neuen Erfindungen zu-
    stande kommen. Eine Erfindung wie das Aspirin, das Me-
    dikament des 20. Jahrhunderts, muss auch in Zukunft – –


    (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    – Sie können ruhig lachen. – Ich sage Ihnen eines: So-
    lange Sie nicht verstehen, dass dieses Land ohne eine
    entsprechende Wertschöpfung und Produktion – sie fin-
    det in Deutschland nicht im Niedriglohnbereich, sondern
    in den Hochtechnologien statt – keine Zukunft hat, so-
    lange wird es mit Deutschland leider nicht aufwärts ge-
    hen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie einfach
    einmal kapieren.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür haben wir Sie gebraucht, unbedingt!)


    Deshalb ist die erste Aufgabe, in die Zukunft zu investie-
    ren und um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen, vor allem in
    den Hochtechnologien.

    Die zweite Leitidee muss lauten, die Spaltung der
    Gesellschaft in Arbeitslose und Arbeitende zu überwin-
    den. Ich glaube, dass diese Spaltung bzw. die Barriere
    zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen die entschei-
    dende soziale Frage unserer Gesellschaft ist. Deshalb
    muss sowohl für diejenigen, die sich selbstständig ma-






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    chen wollen, als auch für die, denen es um eine abhän-
    gige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht,
    der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert, erleichtert
    bzw. ermöglicht werden.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Dafür ist uns jede Initiative recht.


    (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche?)


    Aber dabei müssen wir weit springen, nicht kurz. Ihr
    Small Business Act allein reicht mit Sicherheit nicht aus,
    um Neugründungen in Deutschland zu ermöglichen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über Vereinfa-
    chungen im Handwerksrecht zu reden. Sie haben aber
    zum Teil nur Maßnahmen vorgeschlagen, die jetzt mög-
    lich sind. Wir sind bereit, auch über Maßnahmen zu reden,
    die erst in Zukunft umsetzbar sind, wie zum Beispiel über
    wettbewerbsbedingte Reformen der Gebührenordnungen
    der freien Berufe, über die Aufhebung der Schornstein-
    fegerbereichszuordnungen


    (Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)


    und über Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Wir
    können auch die Urlaubskassen ganzer Berufsgruppen
    auf den Prüfstand stellen und über eine Neuregelung der
    Arbeitsstättenverordnung nachdenken, in der vieles dop-
    pelt geregelt ist. Wir müssen außerdem das Berichts- und
    das Beauftragtenwesen neu ordnen. Eine riesige Auf-
    gabe liegt vor uns; denn es müssen Tausende Regelun-
    gen geprüft werden. Meine Fraktionskollegen sind in
    dieser Woche schon in Vorlage gegangen. Wir werden
    das weiterverfolgen. Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen
    dort, wo Regelungen vereinfacht werden sollen, jede
    Kooperation zu.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Zur Wahrheit gehört bei aller Freude über die Neuord-
    nung des Bereichs der 400- und 800-Euro-Jobs aber
    auch, dass es viel besser gewesen wäre, die Zeitarbeit-
    nehmerbranche nicht in die Tarifhoheit hineinzubringen.
    Es waren doch einfachere Lösungen vorhanden, mit de-
    nen wir vorangekommen wären.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


    Die Fragen, wie wir den Prozess der Lohnfindung
    gestalten sollen, wie wir Menschen in Arbeit bringen
    können und wie wir die Aussichten von Beschäftigten
    und Neueinzustellenden verbessern können, sind zentral.
    Herr Bundeskanzler – ich habe Ihnen mit großer Auf-
    merksamkeit zugehört –, Sie haben sich ja fast bis an das
    Notwendige heranbewegen wollen, bevor wahrschein-
    lich der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering als Ab-
    geordneter in der Fraktion gesprochen hätte und ein an-
    derer sagen muss: Franz, so geht das nicht! Ich sage
    Ihnen voraus: Wir werden in Deutschland betriebliche
    Bündnisse für Arbeit brauchen,


    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und zwar auf einer rechtlich sicheren Grundlage, damit
    die Betriebe, die solche Bündnisse eingehen, nicht an-
    schließend mit Klagen der Gewerkschaftszentralen rech-
    nen müssen. Die Menschen, die solche Regelungen ein-
    gehen, brauchen Rechtssicherheit. Deshalb müssen wir
    das Tarifvertragsrecht und das Betriebsverfassungsge-
    setz ändern. Zu beidem konnten Sie sich nicht durchrin-
    gen. Ich bedauere das. Wir wären dazu bereit gewesen,
    Herr Bundeskanzler.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind ge-
    nauso wie Sie der Meinung, dass die Betriebsräte in
    diesem Land Hervorragendes leisten.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie aber nicht!)


    Ich weiß das aus den neuen und den alten Bundes-
    ländern. Aber die Welt hat sich verändert.


    (Zurufe von der SPD: Ah! Ah!)


    Die deutschen Betriebe stehen in einem unmittelbaren
    Wettbewerb mit Betrieben aus der ganzen Welt. Deshalb
    brauchen sie mehr rechtliche Möglichkeiten und deshalb
    hätten Sie heute springen und betriebliche Bündnisse für
    Arbeit ermöglichen sollen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Ich nehme den Kündigungsschutz als Beispiel. Ich
    habe erwartet, dass Sie, Herr Bundeskanzler, heute klipp
    und klar sagen, welche Variante in welchem Umfang Sie
    wollen. Wir sind aber einigermaßen ratlos zurückgelas-
    sen worden.


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat er doch gesagt! Sie müssen zuhören! Das liegt an Ihrer Wahrnehmung! Er hat erklärt, was er will!)


    – Entschuldigung, ob Puffermodell oder nicht, es sind
    drei Varianten vorgeschlagen worden. – Wir schlagen Ih-
    nen eine eindeutige und klare Variante vor, die allen
    hilft, die einen neuen Arbeitsplatz bekommen sollen:
    Schon bei der Einstellung soll der Arbeitgeber mit dem
    Arbeitnehmer optional vereinbaren können, ob im Fall
    einer betriebsbedingten Kündigung eine Abfindung ver-
    einbart wird oder ob der normale Kündigungsschutz gilt.
    Das ist eine faire Lösung, die Rechtssicherheit sowohl
    für denjenigen, der einstellt, als auch für denjenigen, der
    eingestellt wird, schafft und die außerdem zusätzliche
    Bürokratie verhindert.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Es bedarf noch einer dritten Leitidee. Wir brauchen
    konsequente Leistungsanreize. Wer in diesem Lande ar-
    beitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Wer
    mehr leistet, muss mehr haben, als wenn er weniger leis-
    tet. Das muss die Devise auf allen Ebenen sein.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Deshalb, Herr Bundeskanzler, sind wir mit der Zu-
    sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein-
    verstanden. Sie haben sich etwas verklausuliert ausge-






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    drückt, als Sie sagten, dass dies „in der Regel“ auf dem
    Niveau der Sozialhilfe erfolgen solle. Wir sagen: Es soll
    auf dem Sozialhilfeniveau erfolgen. Wir sagen des Wei-
    teren, dass denjenigen, die eine bestimmte Arbeit, die ih-
    nen angeboten wird, nicht annehmen, die Sozialhilfe um
    25 Prozent gekürzt werden soll. Wir müssen zusätzlich
    in die Lage kommen, dass jedem, der arbeitsfähig ist, ein
    Angebot gemacht werden muss, und sei es eine gemein-
    nützige Tätigkeit, damit wir von der Sozialhilfe weg-
    kommen und jeder die Chance erhält, eine zumutbare
    Arbeit anzunehmen.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Das ist die Aufgabe, zu der wir kommen müssen. Wa-
    rum müssen wir zu dieser Aufgabe kommen? Wir müs-
    sen deshalb dazu kommen, weil es notwendig ist, dass
    wir in unserem Lande auch wieder Dienstleistungen
    möglich machen, für die die Lohnangebote heute so lie-
    gen, dass sie nicht attraktiv sind und deshalb in Fremd-
    arbeit oder Schwarzarbeit durchgeführt werden. Das ist
    die Aufgabe, gerade um Menschen, die einfache Tätig-
    keiten verrichten möchten, wirklich eine Chance in unse-
    rem Land zu geben.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Aber es kommt noch etwas hinzu, und da bin ich sehr
    enttäuscht von Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler.


    (Zurufe von der SPD: Oh!)


    Sie haben uns nicht gesagt, wie Sie die einen Erwerbs-
    fähigen, die anderen Erwerbsfähigen und die Nicht-
    erwerbsfähigen zwischen den Kommunen und der Bun-
    desanstalt für Arbeit aufteilen wollen. Das Ganze soll
    möglichst bald im Gesetzblatt stehen. Wann möchten Sie
    das denn genau tun? Ich hätte nach Ihrer heutigen Rede
    erwartet, dass wir konkret wissen, was die Aufgaben der
    Kommunen sind, welches Geld sie dafür erhalten, was
    die Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit ist, wo die Job-
    center angesiedelt sind und wie das alles funktionieren
    wird. Wir sind bei dieser Debatte an dieser Stelle keinen
    Schritt weiter, als wir es gestern waren.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Wir sind auch der Meinung, dass das Arbeitslosen-
    geld gekürzt werden sollte. Wir wollen insgesamt einen
    Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 5 Prozent.


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit Herrn Stoibers Vorschlag?)


    Aber ich glaube, dass wir dies intelligent machen könn-
    ten. Wir haben überlegt, dass eine Kürzung des Arbeits-
    losengeldes so aussehen muss, dass die Anreize, eine
    Beschäftigung wieder aufzunehmen, steigen. Das könnte
    durch eine Karenzzeit in den ersten zwei Wochen ge-
    schehen, in denen man den Bezug auf Darlehensbasis er-
    möglichen kann, das könnte auch durch eine degressive
    Gestaltung des Arbeitslosengeldes geschehen, bei der
    man den Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei Auslaufen des
    Arbeitslosengeldes vergrößern kann. Das könnte man
    natürlich – da haben Sie einen Ansatz, den man noch
    ausarbeiten kann – machen, indem man das Alter, die
    Zugehörigkeit zum Betrieb und die Dauer der Einzah-
    lung in die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt. Das
    wäre ein intelligenter Vorschlag.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die Bürokratie abbauen? – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so kompliziert, das versteht kein Mensch!)


    Aber ich sage auch: Leistungsanreize fördern heißt
    auch, etwas im steuerlichen Bereich zu tun. Wenn Sie
    eine Agenda für 2010 vorschlagen und kein Wort über
    die bisher schon verabschiedeten Steuerreformstufen hi-
    naus sagen, dann ist das zu wenig.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Wir brauchen ein einfaches, ein transparentes, ein wirk-
    lich niedriges Steuersystem. Das wird noch viele Auf-
    gaben mit sich bringen.


    (Gernot Erler [SPD]: Das sagen Sie seit 100 Jahren!)


    – Ich bitte Sie, wir hatten mit den Petersberger Beschlüs-
    sen einen hervorragenden Einstieg. Sie haben sie verhin-
    dert. Darauf können wir zurückkommen, daran können
    wir anknüpfen und dann weitermachen.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Sie waren letztlich bei der Zinsabgeltungsteuer wie-
    der ganz unkonkret und haben zwar von Kontrollen, aber
    unbürokratischen und dennoch wirksamen Kontrollen
    gesprochen. Das erinnert an den Spruch: Wasch mir den
    Pelz, aber mach mich nicht nass. So kommen wir doch
    nicht weiter. Ich hatte von Ihnen erwartet, dass Sie klipp
    und klar sagen: Kontrollmitteilungen in unserem Steuer-
    system führen nicht dazu, dass das Geld zurückkommt,
    sondern dazu, dass noch mehr Geld nach draußen geht.
    Das ist die Wahrheit.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Die vierte Leitidee hat etwas damit zu tun, dass wir
    im internationalen Wettbewerb stehen, dass die deut-
    schen Sozialsysteme an den Faktor Arbeit gekoppelt
    sind und dass dies unsere Arbeit teuer macht, weswegen
    Arbeitsplätze oft nur vergleichsweise schwer geschaffen
    werden können. Aus genau diesem Grunde müssen die
    Lohnnebenkosten unter 40 Prozent liegen.


    (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


    Herr Bundeskanzler, ich hätte bei der Beschreibung
    einer Agenda 2010 schon gern gehört, ob Sie sich die-
    sem Ziel noch verpflichtet fühlen oder ob es Sie nicht
    mehr interessiert, weil Sie sagen, dass es lediglich Teil
    der Koalitionsvereinbarung von 1998 war.


    (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es ein wenig konkreter gemacht als Sie!)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    Ich halte dieses Ziel nach wie vor für richtig und wich-
    tig. Es muss kurzfristig erreicht werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Sie haben in diesem Zusammenhang das Ziel ange-
    sprochen, die Krankenkassenbeiträge zu senken. Es ist
    richtig, dass die Krankenkassenbeiträge auf unter
    13 Prozent sinken müssen. Sie haben sich dem Gedan-
    ken von Selbstbehalten genähert. Das begrüße ich aus-
    drücklich.


    (Zuruf von der SPD: Aber?)


    Sie müssen die Höhe der Einsparungen allerdings quan-
    tifizieren. Bei einer Senkung der Krankenkassenbeiträge
    auf unter 13 Prozent bestehen im Bundeshaushalt nicht
    unendlich viele Spielräume, die versicherungsfremden
    Leistungen steuerlich zu finanzieren. Eine solche Finan-
    zierung versicherungsfremder Leistungen unterstützen
    wir grundsätzlich.

    Durch die Herausnahme einiger Leistungen aus dem
    Angebot der gesetzlichen Krankenkassen – Sie haben
    dazu einen Vorschlag gemacht – und durch die Einfüh-
    rung von Selbstbehalten muss es zu Einsparungen in
    Höhe von fast 2 Prozentpunkten kommen, damit die
    Krankenkassenbeiträge auf unter 13 Prozent sinken
    können. Im Bereich des Krankengeldes lassen sich
    7,7 Milliarden Euro einsparen. Dadurch lässt sich der
    Beitragssatz um 0,8 Prozentpunkte senken. Entspre-
    chend groß müssen der Selbstbehalt und die durch den
    Wettbewerb hervorgerufenen Einsparungen sein, damit
    Sie Ihr Ziel wirklich erreichen. Wir haben uns mit die-
    sem Thema intensiv befasst. Sie werden Ihr Ziel durch
    die Umsetzung dessen, was Sie vorgeschlagen haben,
    noch nicht erreichen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Wir verurteilen Ihr Vorhaben, dafür zu sorgen, dass
    Krankengeldzahlungen privat versichert werden müssen,
    nicht sofort; aber bitte diffamieren Sie dann auch nicht
    unseren Vorschlag, zu prüfen, ob man eine solche Rege-
    lung auch für den Bereich der Zahnbehandlung einfüh-
    ren kann.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und zwar sehr günstig! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mut zur Lücke!)


    Es gibt in Europa viele Länder, zum Beispiel Norwegen,
    in denen die Zahnbehandlung privat versichert werden
    muss. In diesen Ländern gibt es ganze Jahrgänge von
    Kindern, die dank einer entsprechenden Prävention ka-
    riesfrei sind. Lassen Sie uns an dieser Stelle wirklich
    nicht die alten sozialdemokratischen Neiddiskussionen
    führen!


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Wir müssen also auf unter 13 Prozent Krankenkassen-
    beiträge, 5 Prozent Arbeitslosenversicherungsbeiträge
    und deutlich unter 20 Prozent Rentenversicherungsbei-
    träge kommen. Wenn die Prognosen richtig sind – daran
    gibt es keinen Zweifel –, dann werden die Rentenver-
    sicherungsbeiträge im Sommer nicht mehr bei 19,5,
    sondern bei 19,9 Prozent liegen, Herr Bundeskanzler.
    Dazu kommen 1,5 Prozent Beiträge für die Pflegever-
    sicherung, bei der es noch viele Probleme gibt.

    Zur Rente möchte ich Folgendes sagen: Sie haben den
    von uns eingeführten demographischen Faktor fälsch-
    licherweise abgeschafft.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Ein Riesenfehler!)


    Wir haben schon damals gesagt, dass selbst der von uns
    eingeführte demographische Faktor der realen Alterung
    der deutschen Bevölkerung noch nicht im ausreichenden
    Maße gerecht wird. Lassen Sie uns gemeinsam wieder
    einen ehrlichen demographischen Faktor ins Visier neh-
    men, damit man wirklich realistische Rentenprognosen
    vornehmen kann!


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Die Förderung der privaten Altersvorsorge ist – ich
    sage das vollkommen unaufgeregt; auch wir hätten die-
    sen Weg eingeschlagen, wenn wir weiter regiert hätten –
    vom Grundsatz her richtig. Wir kritisieren, dass dank Ih-
    rer Politik ein bürokratisches Monster daraus entstanden
    ist.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Schon heute könnten 30 Prozent der Bevölkerung bereit
    sein, ein Angebot der staatlich geförderten Altersvor-
    sorge in Anspruch zu nehmen, wenn das Ganze nicht so
    kompliziert wäre. Das ist der Punkt. Wir sind jederzeit
    bereit, zu einer Entbürokratisierung auf diesem Gebiet
    beizutragen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


    In der nächsten Zeit werden wir über die Zukunft der
    sozialen Sicherung sprechen. Vielleicht kann einer der
    Nachredner einmal klarstellen, ob Sie das Ziel haben, die
    Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken oder
    nicht. Ist das Ihr Anspruch oder nicht? Ich habe eine sol-
    che Klarstellung vermisst und halte dies für ein großes
    Versäumnis in dieser Regierungserklärung.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Meine Damen und Herren, wir brauchen eine fünfte
    Leitidee. Wir müssen Vertrauen in die Menschen set-
    zen und den Rückzug des Staates ermöglichen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Sie haben heute hier ein Investitionsprogramm vor-
    geschlagen. Vor einem oder anderthalb Jahren haben so-
    gar Sie selbst in Ihren eigenen Ansprachen derartige Pro-
    gramme noch ins Abseits gestellt. Sie haben auf dem
    Deutschen Baugewerbetag gesagt, dass die Bauindustrie
    schrumpfen müsse und dass es keinen Sinn mache, sie
    durch Strohfeuerprogramme – das waren Ihre eigenen
    Worte – weiter in eine Situation zu versetzen,


    (Zuruf von der SPD: Da hatte er Recht!)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    die unrealistisch sei.


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Das sind keine Strohfeuer!)


    – Jetzt sagen Sie, das seien keine Strohfeuerprogramme.
    Ich finde, es ist eine ziemliche Unverschämtheit, die
    Kommunen in eine finanzielle Lage zu bringen, die in
    der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie
    schlechter war.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


    Wir haben hier schon mehrmals Anträge eingebracht, in
    denen wir fordern, die Gewerbesteuerumlage wieder
    auf den alten Stand anzuheben. Stimmen Sie zu! Das
    kostet nichts, aber es hilft den Kommunen, und zwar
    dauerhaft und real, nicht nur einmalig durch ein kurzfris-
    tiges Programm.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist der richtige Weg!)


    Fast ein bisschen zynisch finde ich an diesem Pro-
    gramm, dass viele Kommunen – das wissen Sie genauso
    gut wie wir – so hoch verschuldet sind, dass sie nicht die
    Erlaubnis bekommen werden, wieder einen Kredit auf-
    zunehmen.


    (Gernot Erler [SPD]: Dazu hat er doch etwas gesagt!)


    – Dazu kann man gar nichts sagen, weil das der Kommu-
    nalaufsicht unterliegt und weil ich nicht weiß, ob Sie
    möchten, dass über die Verschuldung der Kommunen
    die Legitimation dafür geschaffen wird, dass die Einhal-
    tung der Stabilitätskriterien von Brüssel ausgesetzt wer-
    den kann und Herr Eichel wieder sagen kann, die Kom-
    munen seien es gewesen und nicht er. Das ist ein
    komischer Verschiebebahnhof in Deutschland, den ich
    nicht akzeptieren kann.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Ich sage Ihnen nach wie vor: Wenn wir vorankommen
    wollen, dann müssen wir uns einer Staatsquote von
    40 Prozent nähern. Das wird dauern und ohne Wachstum
    nicht gehen. Aber es ist kein abwegiger, sondern ein
    richtiger Anspruch, dass die Menschen in diesem Lande
    von jedem verdienten Euro 60 Cent selbst verwalten dür-
    fen und nur 40 Cent durch den Staat verwaltet werden.
    Es ist ein Fehler von Herrn Müntefering, zu glauben, die
    Privatpersonen müssten erst dem Staat seinen Anteil ge-
    ben und behielten nur den Rest. Wir müssen an die Men-
    schen glauben, an ihre Kreativität, ihr Leben selbst zu
    gestalten. Das ist der große Unterschied zwischen Union
    und Sozialdemokraten.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit statt Müntefering!)


    Wir wissen, dass wir die öffentlichen Haushalte sanie-
    ren müssen. Das wird nur mit Wachstum funktionieren.
    Deshalb müssen alle Wachstumskräfte gestärkt werden.
    Wir müssen privatisieren. Herr Bundeskanzler, Sie ha-
    ben gesagt, die Abwasserinvestitionen könnten über Ihr
    Investitionsprogramm erfolgen. Ich hoffe, Sie lassen die
    Mittel auch den privaten Abwasserbetreibern zukommen
    und nicht nur den kommunalen;


    (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


    denn wir wollen, dass Aufgaben, die privat genauso gut
    wie kommunal erledigt werden können, privat erledigt
    werden. Gebt den Privaten eine Chance in diesem Land;
    das ist die Aufgabe!


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Meine Damen und Herren, wir brauchen eine klarere
    Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den ver-
    schiedenen Ebenen, zwischen Kommunen und Ländern
    und zwischen Bund und Ländern. Wenn Sie den Zeit-
    raum bis 2010 in Betracht nehmen und kein einziges
    Wort zu einer Föderalismusreform sagen, dann wird es
    auch mit der Staatsquote unter 40 Prozent nichts werden.

    Bei uns steht eine solche Föderalismusreform auf der
    Tagesordnung. Wir wären sogar bereit, einmal darüber
    nachzudenken, für eine solche Aufgabe einen Konvent
    zu schaffen und Leute zu beauftragen – weil wir alle be-
    fangen sind –, sich in Form dieses Konvents aus ihrer
    Erfahrung unvoreingenommen das Wirrwarr von Zu-
    ständigkeiten anzusehen, um herauszufinden, wie wir
    die Aufgabenverteilung in diesem Lande besser organi-
    sieren können. Die Union macht Ihnen hier ein Angebot.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Wir benötigen also fünf Leitbilder: konsequent
    Investitionen in die Zukunft tätigen, Leistungsanreize
    konsequent durchsetzen und jede politische Maßnahme
    daraufhin überprüfen, Spaltung der Gesellschaft in Ar-
    beitende und Arbeitslose überwinden, Arbeit im interna-
    tionalen Vergleich wettbewerbsfähig machen und die
    Staatsquote unter 40 Prozent drücken. An diesen Dingen
    wird sich entscheiden, ob Deutschland wirklich einen
    Platz an der Spitze innerhalb Europas erlangen wird oder
    dort bleibt, wo es ist.


    (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir wollen Stoiber!)


    Um diesen Prozess für die Menschen nachvollziehbar
    zu machen, biete ich Ihnen an, zunächst bis zum Jahre
    2010 in diesem Hause jedes Jahr eine Debatte über
    folgende sechs Punkte zu führen: Wachstum, Beschäf-
    tigung, Investitionsquote, Höhe der Steuersätze, Lohn-
    nebenkosten und Staatsquote. Wir sollten ein Bench-
    marking einführen und unabhängige Fachleute damit
    beauftragen, die notwendigen Zahlen zusammenzustel-
    len, um damit zu zeigen, ob wir unseren eigenen Ansprü-
    chen in Bezug auf unsere Politik selber gerecht werden.
    Nur so werden wir die Menschen auf dem Reformweg
    mitnehmen können. Sie müssen sehen, dass die notwen-
    digen Änderungen zu ihrem eigenen Vorteil durchge-
    führt werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Deshalb muss das Credo der Wirtschafts- und Sozial-
    politik lauten: Freiraum, Eigenverantwortung, mehr
    Luft zum Atmen. Dieses Credo ist wichtig, denn dann,






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    wenn wir nicht danach handeln, werden wir denjenigen,
    die in diesem Lande Hilfe brauchen, nicht mehr helfen
    können. Ich möchte nicht, dass die Behinderten in die-
    sem Lande immer von Sozialhilfe abhängig sind. Sie
    müssen raus aus der Sozialhilfe. Ich möchte nicht, dass
    alleinerziehende Mütter von der Sozialhilfe abhängig
    sind. Sie müssen raus aus der Sozialhilfe.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Damit das gelingt, müssen Sie denen, die etwas schaf-
    fen können, den Freiraum geben, auch etwas schaffen zu
    dürfen.


    (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel Kinderbetreuung!)


    Der Staat muss sich im Bereich der Wirtschafts- und
    Sozialpolitik zurückziehen, damit dort Hilfe geleistet
    werden kann, wo Hilfe notwendig ist.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


    Das entspricht unserem Verständnis von Gerechtig-
    keit. Ich erlebe häufig, dass heute vielen, die vielleicht
    Hilfe bräuchten, nicht mehr so gut geholfen werden kann.
    17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch die
    Schwarzarbeit erwirtschaftet, obwohl Schwarzarbeit die
    unsolidarischste Art von Tätigkeit ist. Das muss aufhö-
    ren, denn dadurch konzentriert sich Solidarität auf im-
    mer weniger Schultern in diesem Land und dadurch fal-
    len Menschen aus dem solidarischen System heraus.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Die andere Seite der Medaille des 21. Jahrhunderts
    ist: So wie sich der Staat im Bereich der Wirtschafts- und
    Sozialpolitik zurückziehen muss, muss er sich stärker
    engagieren, wenn es um innere und äußere Sicherheit
    geht. Das Ende des kalten Krieges hat uns eine Welt ge-
    bracht, in der die Bedrohungen zwar anders sind, aber
    Bedrohungen bleiben, mit denen wir uns werden aus-
    einander setzen und für die wir Abschreckungskapazi-
    täten entwickeln müssen. Diese Bedrohungen müssen
    von uns angegangen werden. Dafür ist die Bundesrepu-
    blik Deutschland und dafür ist Europa insgesamt noch
    nicht gewappnet.

    Deshalb geht es auch um die zweiten Gründerjahre
    dieser Republik bezüglich einer neuen Außen- und
    Sicherheitspolitik. Sie haben vom Frieden gesprochen.


    (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da sind wir jetzt sehr gespannt!)


    Ich kann nur sagen: Das, was wir in den letzten Monaten
    mit Blick auf den Irak erlebt haben, ist ein Trauerspiel.


    (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Reise nach Washington! – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


    – Das habe ich mir gedacht. Herr Volmer, die Armselig-
    keit kennt bei Ihnen keine Grenzen.


    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es ist wirklich traurig. Sie haben doch vier Jahre im
    Auswärtigen Amt gesessen und müssten wissen, dass
    spätestens seit dem 11. September 2001 jedem klar sein
    muss, dass sich die Bedrohungen in dieser Welt zwar
    verändert haben, dass sie aber real und nicht fiktiv sind.


    (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt sagen Sie uns einmal: Was wollen Sie?)


    Was in Sachen Irak passiert ist, ist ein Trauerspiel.
    Denn wir müssen uns hier und heute damit auseinander
    setzen, was die „Financial Times Deutschland“ dazu am
    Dienstag geschrieben hat: Leider steht, noch bevor über-
    haupt etwas passiert ist, der Sieger der Auseinanderset-
    zung fest: Saddam Hussein.


    (Zurufe von der SPD: Oh!)


    Der Schaden, den der Diktator dem Westen bereits zuge-
    fügt hat, ist kaum zu ermessen. – Ich teile diese Ein-
    schätzung.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Sieger heißt auf jeden Fall nicht Schröder!)


    Dabei geht es um die Europäische Union, dabei geht
    es um die NATO und es geht um die Rolle der UNO.


    (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, es geht um den Frieden!)


    Ich sage Ihnen: Wir haben die Aufgabe – das werden wir
    vonseiten der Union tun – –


    (Bundeskanzler Gerhard Schröder bekommt einen Blumenstrauß überreicht – Unruhe bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine Unverschämtheit! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eine mutwillige Störung!)


    – Ich finde, wir sollten ein bisschen großzügig sein. Wer
    weiß, ob der Kanzler sonst Blumen bekommt.


    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Ich denke, wir können trotz aller Kritik darüber hinweg-
    sehen.


    (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da zeigt sich der rot-grüne Kindergarten! Und die Feigheit der Präsidentin!)


    Zurück zur Außenpolitik. Ich sage in aller Ernsthaf-
    tigkeit: Das 21. Jahrhundert und die neue Situation
    Deutschlands nach der Wiedervereinigung fordern von
    der Außenpolitik, eine klare Orientierung und feste Ko-
    ordinaten zu geben. Ich stimme Ihnen zu, Herr Bundes-
    kanzler: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht.
    Ich füge hinzu: Deutsche Außenpolitik sollte deutschen
    Interessen gelten.


    (Zuruf von der SPD: Ja! – Ludwig Stiegler [SPD]: Das hätten Sie sich einmal in Washington überlegen sollen!)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    Zu diesen deutschen Interessen gehören für mich zwei
    Säulen. Die eine Säule ist ein gutes Verhältnis zu unse-
    ren europäischen Nachbarn.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Deutschlands historische Krux war die Tatsache, dass es
    Zeiten gab, in denen Deutschland die Balance nicht ge-
    schafft hat und in denen Deutschland nicht in die Politik
    seiner Nachbarn eingebunden war. Deshalb heißt es,
    gute und partnerschaftliche Verhältnisse zu Frankreich


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Haben wir doch!)


    und genauso gute Verhältnisse zu Polen, unserem ande-
    ren Nachbarn, zu haben.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Haben wir die nicht?)


    Einige von Ihnen werden in diesem Saal gesessen ha-
    ben, als am 8. Mai des Jahres 1995 der damalige polni-
    sche Außenminister Bartoszewski eindringlich und für
    mich emotional sehr berührend zu uns gesagt hat: Bitte
    machen Sie nie weder eine Politik von Deutschland und
    Frankreich mit Russland, die über die Köpfe von Polen
    hinweggeht. – Lassen Sie uns das gemeinsam beherzi-
    gen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der SPD)


    Bei aller Partnerschaft mit Frankreich haben wir als
    das größte Land Europas die Aufgabe, uns um die klei-
    nen Länder in Europa zu kümmern.


    (Jörg Tauss [SPD]: Andorra!)


    – „Andorra!“ Sagen Sie einmal: Wie bekloppt sind Sie
    eigentlich?


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir hören Ihnen zu, wenn
    es um ernsthafte Dinge geht. Wenn Sie in der Außen-
    und Sicherheitspolitik nicht aufpassen, dann werden Sie
    das, was wir in 50 Jahren deutscher Politik an Vertrauen,
    an Berechenbarkeit und an Verlässlichkeit aufgebaut ha-
    ben, in kurzer Zeit verspielen. Deshalb lassen Sie uns in
    aller Ernsthaftigkeit – ich sage das mit großem Nach-
    druck – über diese Fragen von Krieg und Frieden und
    der Zukunft Deutschlands in diesem Hause sprechen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Dazu gehört eine politische Union in Europa.
    Deutschland muss der Motor dieser politischen Union
    sein. Bitte schauen Sie sich an, wo Europa im Augen-
    blick steht: Es sind Bündnisse in Bündnissen gebildet
    worden. Es gibt Spaltungen und Achsen außerhalb der
    Bündnisse. Ich sage Ihnen ganz klar: Dies ist nicht gut
    für das Projekt einer politischen Union. Deshalb muss
    die Situation verändert werden. Ich sage dies ohne jede
    Aggressivität, weil mir Europa am Herzen liegt. Aber
    ich sage auch: Dazu gehören die neuen Mitgliedstaaten
    genauso wie die alten. Dazu gehört ferner ein deutscher
    Bundeskanzler, der über die Lippen bringen sollte, dass
    die Worte des Präsidenten der Französischen Republik
    nicht geeignet waren, das Selbstbewusstsein und das
    Selbstverständnis der osteuropäischen Nachbarn richtig
    zu beschreiben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Neben der europäischen gehört die transatlantische
    Säule dazu. Für mich ist das ganz unverzichtbar. Wenn
    Sie sich einmal über die wirklichen sicherheitspoliti-
    schen Fähigkeiten Europas Gedanken machen, dann wis-
    sen Sie, dass wir einen Sicherheitsverbund brauchen.
    Deshalb brauchen wir die NATO, und zwar als eine
    funktionsfähige, handlungsfähige Gemeinschaft, die un-
    sere gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen ver-
    treten kann.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Wer sich vielleicht manchmal dem Trugschluss hin-
    gibt, unser Europa sei so sicher, dass wir nie wieder Un-
    terstützung brauchen, der hat beim furchtbaren Tod von
    Zoran Djindjic vorgestern auf ganz erschreckende Weise
    erfahren müssen, wie zart die Sicherheit und der Friede
    selbst auf unserem Kontinent sind.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Lassen Sie uns deshalb, meine Damen und Herren, mit
    den Institutionen sorgsam umgehen! Wir brauchen auch
    in Zukunft eine NATO, genauso wie wir eine funktions-
    fähige UNO brauchen.

    Nun sagt der Bundesaußenminister schon wieder:
    über den Frieden nicht ein Wort! Herr Bundesaußenmi-
    nister, ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wenn eine uni-
    onsgeführte Regierung seit September letzten Jahres die
    Geschicke dieses Landes gelenkt hätte


    (Peter Dreßen [SPD]: Gott sei Dank war das nicht so! – Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hätten wir schon längst einen Krieg im Irak! Und deutsche Soldaten! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    – wenn Sie von uns eine Position erwarten, dürfen wir,
    so finde ich, sehr wohl einmal darauf hinweisen, was wir
    anders gemacht hätten –, wäre im Umgang mit dem
    Konflikt im Irak die militärische Option als letztes
    Mittel niemals ausgeschlossen worden.


    (Jörg Tauss [SPD]: Das denken wir uns! – Hans-Peter Kemper [SPD]: Sie wären vorneweg gelaufen! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen wäre das gar keine Option gewesen!)


    Wir hätten das, was Sie erst im Februar gemacht haben,
    nämlich die europäischen Staats- und Regierungschefs
    zu einer gemeinsamen Erklärung zu bewegen, schon im
    September initiiert. Die Erklärung vom Februar hätte
    schon im September stehen können; daran besteht über-
    haupt kein Zweifel.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Wir hätten uns jeden Monat erneut getroffen und mit
    dieser gemeinsamen europäischen Haltung wären wir
    in ein Gespräch mit den Amerikanern gegangen. Ich






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    bin ganz sicher, wir hätten eine gemeinsame Position
    gefunden.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Gernot Erler [SPD]: Weltpolitik zum Selbermachen! – Joseph Fischer, Bundesminister: Welch ein Geeiere! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie auf der Regierungsbank einmal ruhig, Herr Minister!)


    Wir hätten von Anfang an eine Befristung der Inspektio-
    nen befürwortet.

    Vielleicht kann man dann, wenn man so lange Minis-
    ter ist wie Sie, Herr Fischer, nicht mehr gut zuhören,


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dafür umso besser dazwischen quatschen!)


    aber ich sage es Ihnen trotzdem: Wenn Sie einer Befris-
    tung der Inspektionen zugestimmt hätten, dann hätten
    Sie eine Entwicklung beeinflussen können, die sich
    heute als eines der großen Dramen herausstellt, dann hät-
    ten Sie nämlich die Parallelität des Aufbaus einer militä-
    rischen Drohkulisse und des Zeitbedarfs der Inspekto-
    ren erkannt und beides miteinander koordinieren
    können.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Chefinspekteur Blix sagt heute: Ich weiß, ohne eine
    militärische Drohkulisse habe ich keinen Erfolg. – Dass
    wir die anglo-amerikanische Drohkulisse brauchen, gibt
    auch der französische Außenminister zu, dennoch oppo-
    niert er gegen England und Amerika. Diese Art von Ar-
    beitsaufteilung – die einen stellen die militärischen
    Kräfte und die anderen sind für unbefristete Inspektio-
    nen – geht in einer Gemeinsamkeit von Partnern nicht
    auf. Das ist der zentrale Vorwurf, den wir Ihnen machen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] – Ludwig Stiegler [SPD]: Ein Mangel an geistiger Weite!)


    Deshalb kann ich bei allem, was passiert ist, nur die
    ganz intensive Bitte an die Bundesregierung richten:
    Versuchen Sie in den nächsten Tagen, in der UNO – auch
    unter Aufbietung deutscher Kompromissbereitschaft –
    eine Lösung zu finden, welche die UNO stärkt und die es
    möglich macht, dass Saddam Hussein endlich wieder
    Angst vor der westlichen Staatengemeinschaft hat. Die
    Wahrheit nämlich ist: Derzeit kann er davon leben, dass
    sie gespalten ist.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Ich sage in aller Klarheit und mit allem Nachdruck:
    Unser Gegner ist nicht der amerikanische Präsident.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Unser Gegner ist noch immer Saddam Hussein. Ich
    glaube, darüber gibt es Einvernehmen in diesem Hause.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Diese Neuigkeiten haben wir gebraucht!)


    Gestern wurde in einer AP-Meldung beschrieben, wie in
    einer Art öffentlicher Zeremonie – das muss man sich wirk-
    lich einmal vor Augen führen – im Auftrag von Saddam
    Hussein 260 000 Dollar an 26 Familien von palästinen-
    sischen Selbstmordattentätern als Lohn und Dank für das
    „Märtyrertum“ übergeben wurden. Das macht deutlich,
    dass die Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht, real
    und nicht fiktiv ist. Ich bitte Sie, das jeden Tag zu beden-
    ken.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Die Sozialdemokratie in diesem Lande hat die Aufga-
    ben, die aus dem Leben in einer völlig neuen Zeit er-
    wachsen, nicht ausreichend verstanden.


    (Zuruf von der SPD: Aber Sie haben sie verstanden?)


    Die innere Verfasstheit dieser Bundesrepublik Deutsch-
    land kann wieder in Ordnung gebracht werden. Dafür
    aber brauchen Sie Mut, Ideen und vor allen Dingen ein
    Konzept.

    Meine Damen und Herren, Sie wurden in den vergan-
    genen Tagen von Parteienforschern, aber auch von Ihren
    eigenen Parteimitgliedern mehrfach daran erinnert, dass
    die Krux Ihres politischen Handelns darin besteht, dass
    Sie keine Werteordnung haben, nach der Sie Ihre Ent-
    scheidungen ausrichten.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD)


    Deshalb – so hat es sinngemäß der ehemalige nieder-
    sächsische Ministerpräsident gesagt – können Hinz und
    Kunz verkünden, was immer sie wollen. Sie haben kei-
    nen roten Faden, weil die innere Werteordnung fehlt.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


    – Lesen Sie, was im „Stern“ dazu steht!


    (Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie die Aussagen von Herrn Merz!)


    Ich bin froh, dass hier heute ein neuer niedersächsischer
    Ministerpräsident anwesend ist.


    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Der redet auch anders als Herr Merz!)


    Ich hoffe, dass Sie mit Ihrer 140-jährigen Tradition,
    die Sie im Mai feiern können, eines Tages die Herausfor-
    derungen und die Dimension der Herausforderungen, die
    sich uns außen- und innenpolitisch im 21. Jahrhundert
    stellen, vollständig verstehen. Ich kann Ihnen nur sagen:
    Was wir heute gehört haben, waren punktuelle Antwor-
    ten, die bei weitem nicht ausreichen, um das aus unse-
    rem Land zu machen, was wir alle in diesem Haus aus
    ihm machen wollen. Wir von der Union sind mit unse-
    rem Herzen und dem Verständnis für die Menschen da-
    bei, wenn es darum geht, die Menschen in die Lage zu






    (A) (C)



    (B) (D)


    Dr. Angela Merkel
    versetzen, ihre Fähigkeiten voll entfalten zu können, und
    zwar im Sinne des Gemeinwohls.

    Lassen Sie die Menschen dazu in der Lage sein! Las-
    sen Sie uns ihnen die Kraft geben! Lassen Sie uns das
    unterstützen, was in dieser Bundesrepublik Deutschland
    Unterstützung braucht! Lassen Sie uns den Menschen
    Optimismus geben! Lassen Sie eine Aufbruchstimmung
    aufkommen! Wecken Sie den Gründergeist! Dann wird
    es mit Deutschland wieder aufwärts gehen. Wir von der
    Union arbeiten daran, mit Herz und Verstand.

    Herzlichen Dank.


    (Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)




Rede von Dr. Antje Vollmer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD,
Franz Müntefering.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Franz Müntefering


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)



    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
    Herren! Das hätte nun die Antwort der Opposition auf
    die Regierungserklärung des Kanzlers sein sollen – war
    es aber nicht.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Man hat schon gemerkt, wie Frau Merkel immer vor-
    sichtig nach links hinten geguckt hat, um zu sehen, ob
    ihr da nicht jemand im Nacken sitzt, der anschließend
    die eigentliche Rede des Tages hält.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Deshalb hat sie 20 Minuten gebraucht, um zum ersten
    Konkreten zu kommen. Das erste ganz Konkrete nach all
    den Dingen, die sie zunächst angesprochen hat, war die
    Schornsteinfegerbereichsverordnung.


    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Das ist ein bisschen weniger als das, was man von der
    Opposition erwarten darf.

    Das Zweite war ihre Feststellung, dass die kommuna-
    len Finanzen so tief in den Keller gegangen sind. Das ist
    nicht neu. Interessant wird es, wenn man sich einmal die
    Statistik anguckt – wie es manchmal so ist, hat man sie
    in der Tasche –: 1992 33,14 Milliarden, 1998 24,4 Mil-
    liarden. Gucken Sie sich einmal dieses Diagramm an: So
    war das. Das war in der Zeit, als Sie regiert haben. In der
    Zeit ist die Investitionsfähigkeit der Kommunen so zu-
    rückgegangen, wie es auf diesem Diagramm zu sehen
    ist. Nachlesbar ist das im DIW-Wochenbericht 31/02.

    Als Allererstes aber hat Frau Merkel gesagt, ohne sich
    nach links hinten umzugucken – darauf muss man noch
    einmal zurückkommen –, eigentlich gehörten die Minis-
    terpräsidenten heute Morgen in den Bundesrat. Sie hat
    Herrn Stoiber zur unerwünschten Person erklärt. Inzwi-
    schen ist er wohl auch gegangen.


    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


    Ich weiß nicht, ob ihm das so richtig bewusst gewesen
    ist.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie waren auch schon besser!)


    Eine Opposition, die in dieser Situation nicht weiß,
    wer bei ihr die erste Geige spielt, ist eine schwache Op-
    position. Sie sind eine schwache Opposition. Sie wissen
    nicht, wer bei Ihnen das Sagen hat.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Das gilt für die Innenpolitik und das gilt für die Au-
    ßenpolitik. Frau Merkel, dazu muss doch noch ein Wort
    gesagt werden. Die ungewöhnlich gebückte Haltung, in
    der Sie über den Teich geflogen sind, und die Klassen-
    strebermentalität, in der Sie sich in den USA erklärt ha-
    ben, waren peinlich für die Führerin der Opposition in
    Deutschland.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Da nutzt kein Schönreden und da nutzt es auch nichts,
    sich die Weltpolitik nachher sozusagen aus dem Stabil-
    baukasten noch einmal selbst zu erklären.

    Die schlichte Wahrheit ist heute: Wenn Sie auf der
    Regierungsbank hier säßen, wäre das Bemühen Deutsch-
    lands um eine friedliche Lösung des Irakkonflikts nicht
    so erfolgreich und wäre die Welt nicht so weit gekom-
    men. Wir sind stolz auf das, was Gerd Schröder und
    Joschka Fischer hier geleistet haben und auch in Zukunft
    leisten werden.


    (Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Das war mutig und vorausschauend, als viele, auch bei
    uns im Land, noch gezweifelt haben. Es erweist sich nun
    als richtig.

    Mutig und vorausschauend war auch das, was der
    Bundeskanzler heute dem Deutschen Bundestag


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht gesagt hat!)


    für die Politik im Inneren des Landes verdeutlicht hat.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben die volle Unterstützung
    der SPD-Bundestagsfraktion für diese Politik.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Donnerwetter, Müntefering! )


    Deutschland hat Struktur- und Konjunkturprobleme –
    andere Länder übrigens auch; aber das ist kein Trost.
    Anstrengung ist gefordert. Wohlstand ist in Deutschland
    aufbauend auf den Trümmern von 1945 gewachsen. Wir
    haben uns in Deutschland an Wohlstand gewöhnt, daran,
    dass er wächst, und haben nicht immer realisiert, dass er






    (A) (C)



    (B) (D)


    Franz Müntefering
    nicht selbstverständlich ist, dass er stets immer wieder
    neu und unter anderen Bedingungen gesichert und wei-
    terentwickelt werden muss, dass Wohlstand Vorausset-
    zungen hat. Wenn wir uns in Deutschland anstrengen,
    dann brauchen wir keine Angst zu haben. Wenn sich je-
    der und jede anstrengen, brauchen wir keine Sorgen zu
    haben, was die Zukunft angeht. Das Potenzial für eine
    gute Zukunft in Deutschland, dafür, in Wohlstand und
    sozialer Sicherheit zu leben, ist gegeben.


    (Beifall bei der SPD)


    Richtig, die Regierung muss sich anstrengen. Aber
    auch die Parteien, der Bundestag, der Bundesrat und
    viele andere im Land müssen sich anstrengen. Wir sind
    dazu bereit. Auch die Opposition muss sich im Übrigen
    anstrengen. Ein bisschen weniger Besserwisserei, Herr
    Merz, und ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit,
    Frau Merkel, was die Opposition angeht, wären schon
    gut.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Oberlehrer!)


    Blockieren allein, Herr Wulff und Herr Stoiber, reicht
    nicht.

    In Deutschland sitzen zu viele auf der Tribüne – die
    Opposition gehört dazu; ich meine nicht Sie hier oben
    auf der Tribüne, sondern die politische Landschaft, die
    Gesellschaft –, die zuschauen und sagen, was alles nicht
    geht und wie schlimm alles in diesem Land ist. Es sind
    zu wenige, die bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln
    und die Dinge voranzubringen. Lassen Sie uns das mit-
    einander machen!


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir sind selbstkritisch genug, um zuzugestehen: Ja-
    wohl, wir machen Fehler. Aber ich sage Ihnen ebenfalls:
    Wer sich, auch wenn er Fehler macht, anstrengt, ist tau-
    sendmal besser als diejenigen, die nur herumsitzen und
    sich das Maul zerreißen über das, was nicht geht. Wir
    brauchen Leute, die bereit sind, die Ärmel hochzukrem-
    peln, anzupacken und das Land nach vorne zu bringen.
    Darum geht es.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Da sind auch Sie von der Opposition gefragt. Das
    geht nicht ohne Sie. Wir brauchen Sie dabei – nicht uns-
    retwegen, sondern für das Land. Es wird eine große He-
    rausforderung an die gesamte Opposition sein, wie sie
    sich dieser Aufgabe stellt. Die Opposition gehört zur De-
    mokratie. Sie muss ihren Teil dazu beitragen, dass die
    Dinge gelingen können.

    Die Strukturprobleme und Fragen – vielleicht auch die
    Strukturkrise –, die wir haben, sind übrigens nicht neu.
    Die Folgen der Globalisierung, der Europäisierung und
    der demographischen Entwicklung waren schon in den
    90er-Jahren erkennbar. Wir haben in Deutschland in den
    90er-Jahren – ich meine das nicht nur parteipolitisch – die
    Zeit verschlafen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Wir haben nicht hinreichend begriffen, dass außenpoli-
    tisch und innenpolitisch viel zu tun gewesen wäre. Wir
    haben uns in Deutschland mit Helmut Kohl an der Spitze
    darauf verlassen, dass der liebe Gott sozusagen von al-
    lein die Landschaften blühen lässt. Es ist nicht so. Wir
    müssen unseren Teil dazu beitragen. Da ist innenpoli-
    tisch und außenpolitisch einiges nachzuholen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja Unsinn! Wir haben Europa vorangebracht! Der Euro ist nicht von allein gekommen!)


    – Herr Kauder, es ist schlimmer: Sie haben nicht nur die
    Dinge, die hätten getan werden müssen, verschlafen, son-
    dern haben die deutsche Einheit im Wesentlichen auf der
    Grundlage unserer sozialen Sicherungssysteme finan-
    ziert.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Unter großer Zustimmung der SPD!)


    Jetzt schimpfen Sie, dass diese Sicherungssysteme nicht
    funktionieren. Sie waren hauptschuldig daran, dass die-
    ser Bereich explodiert ist.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ihre Ministerpräsidenten haben doch zugestimmt!)


    Der Kanzler hat Ihnen die Zahlen genannt: Anstieg
    der Lohnnebenkosten von 32 auf 43 Prozent. Es waren
    doch Sie, die das zugelassen und dafür gesorgt haben,
    dass Kosten hineingerechnet worden sind, die eigentlich
    nicht hineingehört hätten.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Ich wundere mich im Übrigen immer, mit welcher To-
    leranz Sie zugestehen, dass der gesamte Bereich der ille-
    galen Beschäftigung zunehmend alle sozialen Siche-
    rungssysteme belastet. Unternehmen, die in den großen
    Unternehmensverbänden von Herrn Rogowski und
    Herrn Hundt vertreten sind, sorgen mit Schwarzarbeit,
    illegaler Beschäftigung und Subsubunternehmen, also an
    den großen Unternehmen vorbei, dafür, dass der ehrliche
    Unternehmer und der ehrliche Arbeitnehmer – das ist in
    Deutschland leider wahr – die Dummen sind und die an-
    deren sich ins Fäustchen lachen. Das darf so in Deutsch-
    land nicht bleiben.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir haben zwischen 1998 und 2002 vieles in
    Deutschland in Bewegung gebracht.


    (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das kann man sagen!)


    Wir haben uns außenpolitisch neu justiert. Diese Neujus-
    tierung – gerade kam der Zuruf „Das kann man sagen“ –
    ist uns zwar nicht leicht gefallen, aber wir alle sind stolz,
    dass wir während unserer Regierungszeit – und nicht Sie –






    (A) (C)



    (B) (D)


    Franz Müntefering
    diese Neujustierung vorgenommen haben. Die Bereit-
    schaft, dass Deutschland als souveränes Land in Europa
    Rechte und Pflichten mit allen Konsequenzen über-
    nimmt, wie zum Beispiel auf dem Balkan, in Afghanis-
    tan oder in anderen Teilen der Welt, geht auf die Erfolgs-
    politik von Schröder und Fischer zurück und nicht auf
    Ihre Politik.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    In den vier Jahren von 1998 bis 2002 haben wir die ga-
    loppierende Neuverschuldung gebremst. 1998 musste
    der Bundesfinanzminister von jeder Mark aus den Steu-
    ereinnahmen des Bundes 22 Pfennig an Zinsen zahlen.
    Heute sind es nur noch 19 Pfennig. Wir sind stolz auf
    das, was wir in diesen vier Jahren erreicht haben. Diesen
    Weg, die Höhe der Nettokreditaufnahme zu senken, wer-
    den wir weitergehen und wir werden dieses Ziel weiter-
    hin im Auge behalten, weil unsere Kinder und Kindes-
    kinder von uns etwas anderes erben sollen als nur
    Schuldscheine und Hypotheken.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir haben in den letzten vier Jahren im Kern auch die
    zusätzliche Alterssicherung beschlossen. Sie ist nun aus-
    zugestalten.

    Wir stehen nun vor der schweren Aufgabe – das ist
    die Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode; ihre Erle-
    digung wird allerdings länger als vier Jahre dauern –,
    den Wohlstand dauerhaft zu sichern und den Sozialstaat
    in seiner Substanz zu garantieren. So sagt es auch der
    Koalitionsvertrag mit den Worten Erneuerung, Gerech-
    tigkeit und Nachhaltigkeit. Im Regierungsprogramm der
    Sozialdemokraten stehen dafür die Worte Erneuerung
    und Zusammenhalt.

    Wir wollen Wohlstand sichern und die Substanz des
    Sozialstaates garantieren. Wenn man beide Aufgaben
    ernst nimmt, erkennt man, dass man zuerst den Wohl-
    stand sichern muss. Wir alle, die wir über soziale Ge-
    rechtigkeit sprechen und sie erhalten wollen, müssen
    immer bedenken, dass es soziale Gerechtigkeit auf ho-
    hem wie auch auf niedrigem Niveau gibt. Wir alle gehen
    automatisch davon aus, dass das Niveau der sozialen Ge-
    rechtigkeit in Deutschland hoch ist und dass der Wohl-
    stand, der über 50 Jahre gewachsen ist, mindestens so
    bleibt wie heute. Das wollen wir auch erhalten. Aber
    selbstverständlich ist das nicht. Deshalb ist es die vor-
    rangige Aufgabe unserer Politik, dafür zu sorgen, dass
    wir dieses hohe Niveau der sozialen Gerechtigkeit erhal-
    ten, um darauf aufbauend den Sozialstaat in seiner Sub-
    stanz so zu organisieren, wie diese Koalition das will.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Zur Sicherung des Wohlstands tragen auch Investi-
    tionen in Bildung und Forschung bei. Ich kann nur be-
    stätigen, was manche Redner angesprochen haben und
    was der Bundeskanzler zum Schluss seiner Regierungs-
    erklärung verdeutlicht hat. Auch in der Rede von Frau
    Merkel kam dieses Thema vor, allerdings hat sie es
    falsch interpretiert. Frau Merkel, was Innovationen und
    was Forschung und Technologie angeht, können wir uns
    mit dem, was wir in den letzten vier Jahren erreicht ha-
    ben, sehr gut sehen lassen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Der Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung ist
    seit 1998 um 25 Prozent gestiegen. Deshalb war es mög-
    lich, auch in diesem Jahr die Mittel für die Deutsche For-
    schungsgemeinschaft um 2,5 Prozent zu erhöhen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Deshalb liegen wir im internationalen Vergleich, was die
    Ausgaben bei Forschung und Entwicklung angeht, im
    oberen Mittelfeld. Bei den kleinen Biotechnologieunter-
    nehmen sind wir Spitze. Die Quote der Studienanfänger
    ist von 1999, als sie bei 28,5 Prozent lag, auf jetzt
    35,6 Prozent gestiegen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    In den letzten Jahren haben wir 40 Lehrstühle für Exis-
    tenzgründer geschaffen.

    Trotz der guten Zahlen aus den letzten Jahren ist die
    Aufgabe aber noch nicht erfüllt. Wenn man die Alters-
    sicherung und die Sicherung des Sozialstaates gewährleis-
    ten will, sind Innovationen und das Investieren in die
    Köpfe und in die Herzen der Jungen, in die Forschung, in
    die Entwicklung, in die Technologie und in die Existenz-
    gründungen der entscheidende Punkt. Wichtiger als alles
    andere ist, in die Köpfe und die Herzen der jungen Men-
    schen zu investieren. Das ist die Zukunft des Landes. Dort
    muss der Schwerpunkt unserer Politik in Zukunft liegen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Zur Wohlstandssicherung gehört, dass Jugendliche
    eine Chance haben. Ich unterstütze ausdrücklich, was
    Sie, Herr Bundeskanzler, zur Erwartung an die Unter-
    nehmen gesagt haben. Darüber hinaus müssen auch die
    Schulen, die Eltern und die jungen Menschen ihren Teil
    dazu beitragen. Das Ziel, das sich die Koalition auf die
    Fahnen geschrieben hat, ist, dass kein junger Mensch
    von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit rutscht. Das ist
    eine der wichtigsten Forderungen, die wir stellen und an
    der wir festhalten müssen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das Schlimmste, was wir jungen Menschen zumuten
    können, ist, dass sie lernen, dass sie pauken – wir sagen
    ihnen immer, wie wichtig das ist –, und wenn sie die
    Schule beendet haben, müssen wir ihnen sagen, dass es
    leider keine Stelle für sie gibt: Setze dich in die Ecke, du
    bekommst Stütze, halte den Mund und störe uns nicht!
    Das ist das Schlimmste, was jungen Menschen passieren
    kann. Das verstößt gegen die Würde des Menschen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







    (A) (C)



    (B) (D)


    Franz Müntefering
    Deshalb brauchen wir das, was die Unternehmer und
    die Politik leisten können, um an dieser Stelle zu stoppen
    und die jungen Menschen zu fördern und zu fordern. Ich
    unterstütze Wolfgang Clement ausdrücklich dabei, alles
    dafür zu tun, dass wir an dieser Stelle anfangen. In
    Deutschland gibt es 580 000 arbeitslose junge Menschen
    unter 25 Jahre. Zwei Drittel davon haben keine Ausbil-
    dung. Der Sockel der nicht ausgebildeten jungen Men-
    schen steigt immer weiter. Das kann so nicht weiterge-
    hen; denn das ist der Sockel, der in dieser Wirtschaft
    später nicht mehr erwerbsfähig ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Zur Wohlstandssicherung gehört auch der Bereich der
    Investitionen; der Kanzler hat es angesprochen und deut-
    lich gemacht. Ich hoffe, dass Herr Stoiber inzwischen im
    Bundesrat ist und dort dafür sorgt, dass das Steuer-
    vergünstigungsabbaugesetz doch beschlossen wird;


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    denn davon hängt es ab, ob die Gemeinden bis zum
    Jahre 2006 etwa 7 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfü-
    gung haben. Man muss sich das noch einmal auf der
    Zunge zergehen lassen: 7 Milliarden Euro erhalten die
    Kommunen durch das Steuervergünstigungsabbauge-
    setz zusätzlich.

    Frau Merkel, es war Heuchelei und nicht ehrlich, dass
    Sie uns hier mit Kulleraugen erzählt haben, man müsse
    den Gemeinden helfen, damit sie ihren Aufgaben gerecht
    werden können; denn Sie veranlassen gleichzeitig, dass
    Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat dafür sorgen,
    dass gegen das Gesetz gestimmt wird.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Die Opposition muss dafür sorgen, dass die Kommunen
    handlungsfähig sind.

    Die CDU- und CSU-Oberbürgermeister und -Bürger-
    meister haben die Folgen des Steuervergünstigungs-
    abbaugesetzes schon längst in ihren Haushalten der
    nächsten Jahre berücksichtigt. Es ist so absurd: Sie
    kämpfen hier und im Bundesrat dagegen und die CDU-
    und CSU-Oberbürgermeister und -Bürgermeister rech-
    nen dringend mit dem Geld, das wir ihnen geben wollen.
    Sie wollen es ihnen aber verweigern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wohlstandssi-
    cherung gehört auch das schwierige Kapitel, das ich mit
    folgender Leitlinie überschreiben will: Alle Arbeit, die
    es in Deutschland gibt, muss von denen getan werden,
    die legalerweise in Deutschland sind. An dieser Stelle
    kneifen wir oft. Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit,
    sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmte
    Arbeit mit einem bestimmten Status und einem be-
    stimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle an-
    fällt. Das geht nicht zusammen. Ich bitte dringend, dass
    wir intensiv darüber diskutieren, was man hier machen
    kann und muss. Es kann nicht sein, dass wir in Deutsch-
    land eine hohe Arbeitslosenzahl haben und es Arbeit
    gibt, die nicht getan wird, sodass Menschen aus dem
    Ausland geholt werden müssen, die sie leisten. Es kann
    nicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegen
    des Status nicht erledigen.

    Die Lösung dieses Problems ist nicht leicht. Durch
    die Umsetzung des Hartz-Konzeptes haben wir damit
    begonnen. Mit den Projekten, über die wir jetzt reden,
    gehen wir die nächsten Schritte. Hierin stecken Fördern
    und Fordern. Die, die wir dabei angucken, müssen wis-
    sen, dass wir es ehrlich meinen. Wir wollen das nicht auf
    Kosten der unteren Schicht und derer, die arbeitslos sind,
    austragen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie im Kleinen
    und im Großen die Chance haben, in den Arbeitsmarkt
    hineinzuwachsen. Das ist unsere Aufgabe, an ihr haben
    wir zu arbeiten. Ich bestehe aber darauf: Wir müssen al-
    les dafür tun, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt,
    von denen getan wird, die in legaler Weise in diesem
    Land sind.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Dabei bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
    die Aufgabe aller. Hier hat Hartz Recht gehabt – das ist
    in den Debatten der vergangenen Monate ein wenig un-
    tergegangen –: Er hat immer gesagt, dass die Politik das
    nicht alleine kann und dass alle in der Gesellschaft an
    der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteiligen sind.
    Deshalb appelliere auch ich noch einmal an die Gemein-
    den, die Landkreise und die Länder: Steigen Sie nicht
    aus der Finanzierung von Beschäftigungsinitiativen und
    Qualifizierungsgesellschaften vor Ort aus, damit die
    Menschen eine Anlaufstelle haben und unterkommen
    können. Wir brauchen sie auch in Zukunft.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Der Kanzler hat deutlich gemacht – der Wirtschafts-
    und Arbeitsminister tut das auch –, dass wir die Brücke
    von der jetzigen Situation, die unbefriedigend ist, zu
    dem, was Hartz bedeutet, bauen wollen. Das gilt auch
    für das, was im nächsten Jahr, wenn die Arbeitslosen-
    und die Sozialhilfe zusammenwachsen, Schritt für
    Schritt zu leisten ist.

    Zur Wohlstandssicherung gehört ein ehrliches Wort
    über die Länge unserer Lebensarbeitszeit. Das waren
    früher 50 Jahre. Mit 13 oder 14 Jahren begann man ei-
    nen Beruf, mit 64 oder 65 Jahren stieg man aus dem Er-
    werbsleben aus. Heute liegt das Durchschnittsalter beim
    Arbeitsbeginn bei 21 Jahren, weil viele studieren. Übri-
    gens sind das nicht zu viele, sondern eher noch zu we-
    nig; manche finden auch keinen Job. Das Durchschnitts-
    alter beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben liegt bei
    59 Jahren. Die Lebenserwartung liegt heute höher als
    1950, nämlich um sieben Jahre. Aber die Lebensarbeits-
    zeit wird kürzer. Die ganze Last konzentriert sich auf die
    38 Arbeitsjahre zwischen 21 und 59 Jahren. Das kann so
    nicht weitergehen.

    Deshalb müssen wir klar sagen: Es ist nötig, dass sich
    das faktische Renteneintrittsalter von 59 Jahren auf
    65 Jahre verschiebt. Das müssen wir erreichen. Wir müs-






    (A) (C)



    (B) (D)


    Franz Müntefering
    sen uns von der Vorstellung trennen, es sei schick und so-
    zialpolitisch vernünftig, einen Menschen mit 50, 52 oder
    55 Jahren in Rente zu schicken. Nein, ein Mensch kann
    und muss auch noch mit 55, 60 oder 65 Jahren die Chance
    bekommen zu arbeiten.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Dabei wird deutlich, dass ein vernünftiger Umgang
    mit der Dauer des Arbeitslosengeldes an dieser Stelle
    Sinn macht. Der frühe Ausstieg aus dem Erwerbsleben
    ist kein biblisches Gesetz. Das ist vor zehn Jahren ge-
    macht worden – viele haben damals Blüm Beifall ge-
    klatscht –, als es darum ging, den großen Unternehmen
    die Möglichkeit zu geben, Sozialpläne zu finanzieren.
    Bei diesem Punkt geht es um Ehrlichkeit bzw. Unehr-
    lichkeit. – Herr Gerhardt, Sie nicken; Frau Merkel kennt
    diese Praxis noch nicht so genau. – Damals sind die Ar-
    beitslosenversicherungsbeiträge kräftig angehoben wor-
    den, damit große Unternehmen Menschen mit 55 oder
    57 Jahren entlassen konnten, die ein hohes Arbeitslosen-
    geld bekamen, um danach in Rente zu gehen. Das ist die
    Wahrheit.

    Wenn wir deutlich machen, dass wir es uns nicht leis-
    ten können, dass Menschen mit 55 oder 57 Jahren in
    Rente gehen, dann müssen wir auch sagen, wie wir dies
    anders regeln. Dies wird keine Strafaktion. Da gibt es ei-
    nen Vertrauensschutz. Aber wir müssen eine sinnvolle
    Regelung finden, um die Wirtschaft und den Arbeits-
    markt an dieser Stelle zu reformieren.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Zum Wohlstand gehört, dass wir ein anderes großes
    Arbeitspotenzial, das wir haben, besser als bisher nutzen.
    Ich spreche von der Arbeitskraft der Frauen, von der Ge-
    neration der jüngeren Frauen in diesem Land.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Die Erwerbstätigkeit der Frauen liegt im Westen bei
    60 Prozent, im Osten bei 73 Prozent. Das kann so nicht
    bleiben. Wir brauchen das Wissen, das Können und die
    Kreativität von Frauen. Wir müssen ihnen auch Lebens-
    chancen bieten. Das verbindet sich mit dem, was zwar
    heute nicht Hauptthema ist, aber was ebenfalls auf unse-
    rer Agenda steht: Hilfe zur Ganztagsbetreuung, damit
    die Frauen die Chance bekommen, Familie und Beruf zu
    vereinbaren.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir wollen in diesem Jahrzehnt endlich erreichen,
    dass auf Parteitagen nicht nur über Quoten gesprochen
    wird, sondern dass die Generation unserer Töchter und
    Enkeltöchter die reale Chance hat, Familie und Beruf
    vernünftig miteinander zu verbinden.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wohlstand und soziale Gerechtigkeit: Soziale Gerech-
    tigkeit ist nicht dasselbe wie Gleichheit. Gerechtigkeit
    beinhaltet immer auch die Frage von Leistungsfähigkeit
    und Leistungswilligkeit des Einzelnen. Soziale Gerech-
    tigkeit ist aber nur möglich, wenn der Zusammenhalt in
    der Gesellschaft organisiert ist.

    Der Begriff der Eigenverantwortung, Frau Merkel,
    schreckt uns nicht. Sie wissen: Die sozialdemokratische
    Überzeugung orientiert sich immer am Einzelnen. Ei-
    genverantwortung wird bei uns groß geschrieben. Aber
    Eigenverantwortung ist nur glaubhaft, wenn bei aller
    Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben, der
    Staat, die Gemeinschaft aller – der Staat ist keine Krake,
    die die Menschen ausbeuten will, sondern die berech-
    tigte und vereinbarte Organisation der Gesellschaft –,


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    in der Lage ist, die Rahmenbedingungen für Kindergär-
    ten, Schulen und Hochschulen so zu gestalten, dass auch
    Kinder aus Arbeiterfamilien diese Schulen besuchen
    können.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Sie können so viel reden, wie Sie wollen: Wir laufen
    vor dem Staat nicht weg. Wir wissen, dass der Staat allen
    Grund hat, sparsam zu sein und schlank zu werden. Jeder
    Euro, den er ausgibt, ist das hart verdiente Geld seiner
    Bürger. Aber ohne den Staat geht es nicht. Auch für die Zu-
    kunft muss gelten: Eigenverantwortung und Zusammen-
    halt, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit haben damit zu
    tun, dass alle Menschen in der Gesellschaft handlungsfähig
    bleiben und die Chance zur Selbstverwirklichung und
    Eigenverantwortung erhalten.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir sprechen viel über Generationengerechtigkeit.
    Bei all dem, was wir zu den Sozialversicherungssyste-
    men zu sagen haben, wird uns das noch beschäftigen.
    Dafür bleibt heute nicht viel Zeit. Ich will aber deutlich
    machen, dass wir nicht dem manchmal geäußerten Irr-
    glauben anhängen, dass die totale Privatisierung aller
    Lebensrisiken das Beste wäre. Ich sage Ihnen: Es gibt
    in einer Gesellschaft nichts Besseres, als dass Menschen
    für Menschen da sind


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    und man sich bei existenziellen Lebensproblemen auf
    Menschen verlassen kann. Diese sozialen Sicherungssys-
    teme, die wir finanzieren, sind sicherer als alle Lebens-
    versicherungen und Aktien. Wir wollen, dass Generatio-
    nen auch in Zukunft im vernünftigen Gleichschritt – nach
    dem Motto: Jeder trägt seine Last – füreinander sorgen.
    Das ist besser als alles andere.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Das gilt im Übrigen auch – ich bin sehr dankbar dafür,
    dass es in diesem Zusammenhang klare Worte gab – für
    die gesetzliche Krankenversicherung. Manche sagen:
    Ich weiß nicht, ob ich das wieder herausbekomme, was






    (A) (C)



    (B) (D)


    Franz Müntefering
    ich eingezahlt habe. Das ist in der Tat so. Das ist aber
    auch nicht der Sinn. Eine Krankenversicherung ist kein
    Sparklub. Die Krankenversicherung funktioniert nur,
    wenn viele wissen, dass sie mehr einzahlen, als sie he-
    rausbekommen, damit einige, die darauf angewiesen
    sind, mehr herausbekommen, als sie einzahlen. So funk-
    tioniert das ganze System.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Jeder kann der Betroffene sein, jeder kann – auch in
    jungen Jahren – verunglücken oder behindert sein und
    viele Jahre lang darauf angewiesen sein, dass sich die
    Gesellschaft für ihn engagiert. Insofern steht dieses Prin-
    zip nicht zur Disposition.

    Zur sozialen Gerechtigkeit gehört, dass alle Gruppen
    – der Kanzler hat das deutlich gemacht –, auch der öf-
    fentliche Bereich, ihren Teil leisten. Ohne jemandem
    vorzugreifen, sage ich deshalb: Die Koalitionsfraktionen
    haben gestern vereinbart, dem Deutschen Bundestag
    vorzuschlagen, zum 1. Januar 2004 die Diäten nicht zu
    erhöhen und das übliche Sterbegeld für Abgeordnete ab-
    zuschaffen. Mit diesem Vorschlag leisten wir einen Teil
    unseres Beitrages.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wenn wir in Deutschland die Dinge in den Griff be-
    kommen wollen, brauchen wir das Miteinander. Das
    wissen wir. Ein Großteil dessen, was der Kanzler vorge-
    schlagen hat, können wir nicht allein mit der Mehrheit
    des Bundestages erreichen. Dafür brauchen wir die Zu-
    sammenarbeit und die Zustimmung des Bundesrats. Bei
    allem Streit muss es im Interesse des Landes möglich
    sein – darauf setzen wir –, dass das gelingt.

    Die Koalition und diejenigen aus der CDU/CSU, die
    mit sozialer Marktwirtschaft noch etwas anfangen kön-
    nen, können zusammenarbeiten und gemeinsam vernünf-
    tige Gesetze machen. Herr Schäuble, von Ihnen – Frau
    Merkel sehe ich im Augenblick nicht – erwarte ich, dass
    Sie diejenigen stoppen, die mit großer Lust und Arro-
    ganz dabei sind, grundlegende Gemeinsamkeiten zu zer-
    stören. Ich spreche Herrn Merz, Herrn Westerwelle und
    auch Herrn Rogowski an: Das, was in den letzten Tagen
    und Wochen gelaufen ist, muss aufhören. Herr Merz
    sprach in Bezug auf die Gewerkschaften vom „Sumpf
    austrocknen“. Betriebsräte sollte es im Osten nur noch in
    Betrieben mit über 80 Beschäftigten und im Westen in
    Betrieben mit über 20 Beschäftigten geben. Das Wahl-
    recht sollte so geändert werden, dass nicht so viele Ab-
    geordnete im Deutschen Bundestag Mitglied in einer
    Gewerkschaft sein könnten.


    (Zuruf von SPD: Unverschämtheit!)


    Liebe Kolleginnen und Kollegen, das rührt an die
    Grundwerte unserer Demokratie. Das ist kein Spaß
    mehr, sondern das demaskiert Sie.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Leute, die so reden, sind formal Demokraten, sie ha-
    ben aber nicht verstanden, dass Wirtschaft und Demo-
    kratie etwas miteinander zu tun haben. Die Wirtschaft ist
    für die Menschen da und nicht umgekehrt. Die Demo-
    kratie gehört zur Wirtschaft.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wenn ich Herrn Westwelle höre, dann sehe ich Frau
    Thatcher schon ihr Handtäschchen schwingen.


    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Ihre Vorschläge gehen in die Richtung, die man von
    Großbritannien kennt. Darauf lassen wir uns aber nicht
    ein.

    Der Deutsche Bundestag wird bei dem, was jetzt zu
    tun ist, eine wichtige Rolle spielen.


    (Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] hält eine Damenhandtasche hoch – Heiterkeit im ganzen Hause)


    – Herr Westerwelle, das habe ich doch vermutet.


    (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein! Das haben Sie gewusst, mein Lieber!)