Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-öffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-büne haben der Präsident der Saeima der RepublikLettland, Herr Jãnis Straume, und seine DelegationPlatz genommen. Ich begrüße Sie und die begleitendenMitglieder auch von diesem Platz aus noch einmal sehrherzlich im Namen des Deutschen Bundestages.
Herr Präsident, es ist uns eine große Freude, Sie undIhre Begleitung zu einem offiziellen Besuch zu Gast zuhaben. Der Deutsche Bundestag misst der zukunftsträch-tigen Zusammenarbeit unserer Parlamente insbesonderebei der Gestaltung eines gemeinsamen Europa großeBedeutung zu. Wir verfolgen mit Aufmerksamkeit dieEntwicklung in Ihrem Lande auf dem Wege zu demo-kratischer Souveränität, wirtschaftlicher Stabilität undfinanzpolitischer Eigenständigkeit. Umso mehr freut unsdie Aufnahme Lettlands in den engen Kreis der EU-Beitrittskandidaten. Seien Sie versichert, dass wir alleBemühungen um die EU-Beitrittsfähigkeit Ihres Landesund dessen Annäherung an die NATO mit freundschaft-licher Anteilnahme begleiten und weiterhin nach bestenKräften unterstützen werden. Fühlen Sie sich herzlichwillkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun-destag und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesre-publik Deutschland sind bestürzt über die Hochwasser-katastrophe, die Mosambik in den letzten Wochenheimgesucht hat.
Nach bislang vorliegenden Angaben wurden 80 000Familien obdachlos. Noch ist unbekannt, wie vielenMenschen dieses Unglück ihr Leben gekostet hat. Un-vorstellbar ist das Ausmaß der Katastrophe, allenfallsbiblische Darstellungen vermögen uns einen Eindruckzu vermitteln von der gigantischen Zerstörung, die diegerade erst herangereiften Hoffnungen eines der ärmstenLänder der Welt zunichte zu machen droht. Wir alle sind aufgerufen, über die dringend notwen-dige Soforthilfe hinaus diesen Menschen, die alles verlo-ren haben, über den Tag hinaus zu helfen, auch wenn dieBilder dieser Tragödie nicht mehr auf den Bildschirmenerscheinen. Den Frauen und Männern des Bundesgrenz-schutzes und der Bundeswehr, die vermutlich noch län-ger als ursprünglich geplant in Mosambik Hilfe leistenwerden, danke ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich fürihre aufopfernde und gefahrvolle Arbeit.Wir gedenken mit Anteilnahme der Toten in Mosam-bik. – Ich danke Ihnen.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte icheiner Reihe von Kollegen zu einem runden Geburtstaggratulieren:Heute, am 16. März 2000, feiert der Kollege Dr. Rainer Jork seinen 60. Geburtstag. HerzlichenGlückwunsch!
Nachträglich gratuliere ich den Kollegen AlbrechtFeibel und Horst Schmidbauer ebenfallszum 60. Geburtstag, dem Kollegen Heinz Schemkenzum 65. Geburtstag und dem Kollegen Dr. HeinerGeißler zu seinem 70. Geburtstag.
Im Namen des ganzen Hauses spreche ich Ihnen un-sere herzlichen Glückwünsche aus.Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der KollegeFrank Hofmann sein Amt als Schriftführer niedergelegthat. Als Nachfolger wird der Kollege Reinhold Strobl
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kol-lege Strobl als Schriftführer gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in derfolgenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
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8554 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Bundespolitische Aus-wirkung der neuerlichen Parteispendensammelaktion
2. Weitere Überweisungen im Vereinfachten Verfahren
Rede von: Unbekanntinfo_outline
a) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung– Drucksache 14/2903 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der PDS: Besteuerung derUnternehmen nach deren Leistungsfähigkeit – Druck-sache 14/2912 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierungdes Mitgliederkreises von Bundesknappschaft undSee-Krankenkasse – Drucksache 14/2904 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer , Klaus Barthel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowieder Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Modernisie-rung der Ausbildungsförderung für Studierende – Drucksache 14/2905 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss 3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Über-gangsgesetzes aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Ände-rung der Handwerksordnung und anderer handwerks-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirt-schaft und Technologie – Drucksache 14/2922 – Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Kritische Bewertung der Umweltpolitik der Bundesregie-rung durch den Umwelt-Sachverständigenrat 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens,Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD sowie der AbgeordnetenAlbert Schmidt , Franziska Eichstädt-Bohlig,Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Verkehrs-infrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen desVerkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ Nr. 8Schienenneubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin – Drucksache 14/2906 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich,Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weitererAbgeordneter und der Fraktion der F.D.P: Ja zurSchienenneubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin – Drucksache 14/2914 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,Christine Ostrowski, Eva-Maria Bulling-Schröter, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDS: Flächenhafter Aus-bau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen,Thüringen und Sachsen – Drucksache 14/2525 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 8. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Umweltcontrolling und Umweltmanage-ment in Bundesbehörden und Liegenschaften – Drucksa-che 14/2907 –Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschuss-überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demInnenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, BirgitHomburger, Hildebrecht Braun , wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:Nordseeküste schützen, Küstenwache einrich-ten, international besser zusammenarbeiten – Drucksache 14/548 – überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen unddem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länderzur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Eine Steu-erreform für mehr Wachstum und Beschäfti-gung – Drucksache 14/2688 –Präsident Wolfgang Thierse
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8555
überwiesen: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlichdem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen wer-den. Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN zur Senkung der Steu-ersätze und zur Reform der Unternehmensbe-steuerung
– Drucksache 14/2683 – überwiesen: Finanzausschuss
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GODer in der 90. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zurMitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-rung von Vorschriften über die Tätigkeit derSteuerberater – Drucksache14/2667 – überwiesen: Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieDie in der 91. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen zu-sätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaftund Forsten zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDS zur Si-cherung und zum Ausbau der gekoppeltenStrom- und Wärmeerzeugung
– Drucksache 14/2693 – überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN zum Schutz der Stromer-
überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und4 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-desregierung Aktionsplan der Bundesregierung zur Be-kämpfung von Gewalt gegen Frauen – Drucksache 14/2812 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe b) Zweite und dritte Beratung des von den Ab-geordneten Hanna Wolf , LiloFriedrich , Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten Irmgard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck
, Claudia Roth (Augsburg), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung desAusländergesetztes – Drucksache 14/2368 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses
– Drucksache 14/2902 – Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Erwin Marschewski
Marieluise Beck
Dr. Max Stadler Ulla JelpkeZu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantragder Fraktion der F.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bun-desministerin Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!Gewalt gehört für viele Frauen in Deutschland leidernoch immer zum Alltag. Mehr als 50 000 Frauen flüch-ten jährlich mit ihren Kindern ins Frauenhaus. NachSchätzungen ist jede dritte Frau in Deutschland vonhäuslicher Gewalt betroffen und jede siebte Frau ist be-reits einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigungoder sexueller Nötigung geworden. Ein weiteres großes Problem in Deutschland ist derFrauenhandel. 1998 registrierte die Polizei etwa 1 300weibliche Opfer des Menschenhandels. Wie wir wissen,liegt die Dunkelziffer aber weitaus höher.Präsident Wolfgang Thierse
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8556 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Gewalt verletzt die Integrität, die Würde von Frauenund ihr Recht auf Selbstbestimmung in eklatanter Wei-se. Dieser Gewalt vorzubeugen und von Gewalt betrof-fenen Frauen Schutz und Hilfe zu bieten sind Aufgaben,die der Staat besser als bisher wahrzunehmen hat.
Über lange Jahre war Gewalt gegen Frauen ein The-ma, das weitgehend tabuisiert und als Privatsache be-handelt wurde. Das hieß natürlich auch, dass Täter nichtkonsequent zur Rechenschaft gezogen und Opfer nichtausreichend geschützt wurden. Damit muss endlichSchluss sein.
Deshalb hat diese Bundesregierung den Aktionsplanzur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschlos-sen. Damit liegt erstmals ein umfassendes und ressort-übergreifendes Programm vor, ein Gesamtkonzept, einelangfristige Strategie. Daran sind viele beteiligt. Die Re-gierung hat damit klargestellt: Die Bekämpfung vonGewalt, insbesondere von Gewalt gegen Frauen, ist fürsie ein vordringliches politisches Ziel. Ich denke, das isteine gute und ganz wichtige Botschaft an die vielenFrauen im Lande, die von Gewalt betroffen sind.
Das ist eine wichtige Botschaft auch an die vielenFrauen und Männer, die versuchen, von Gewalt betrof-fenen Frauen und Kindern zu helfen. Die Arbeit dieserFrauen und Männer ist nicht immer ganz einfach. Aberes ist auch eine gute und wichtige Botschaft an die Ge-sellschaft insgesamt, dass es eine Regierung gibt, dieangetreten ist, Gewalt in der Gesellschaft wirklich aufallen Ebenen wirksam zu bekämpfen.
Wir wollen mit diesem Aktionsplan strukturelle Ver-änderungen erreichen, und zwar in allen Bereichen, vonder Prävention über die Täterarbeit und die bessere Ver-netzung von Hilfsangeboten bis hin zu rechtlichen Maß-nahmen und einer stärkeren Sensibilisierung der Öffent-lichkeit. Ich sage ganz klar: Gewalt gegen Frauen ist keinFrauenproblem. Es ist ein Problem patriarchalischerStrukturen, ein Problem von Männern; es ist ein Pro-blem unserer gesamten Gesellschaft und unseres Rechts-staats.Wir wollen mit diesem Aktionsplan einen Paradig-menwechsel in der Antigewaltarbeit in Deutschland her-beiführen. Das ist dringend nötig.
Es geht eben nicht mehr ausschließlich um die natürlichwichtigen und unverzichtbaren Anlaufstellen für betrof-fene Frauen. Es geht nicht nur darum, betroffenen Frau-en in dieser schwierigen Situation eine Anlaufstelle, ei-nen Platz, wo sie hingehen können, zu bieten; vielmehrgeht es um eine gesamtgesellschaftliche Ächtung undVerfolgung von Gewalt gegen Frauen. Gewalt im häus-lichen Bereich ist keine Privatsache und danach mussgehandelt werden. Der Rechtsstaat hat dafür zu sorgen,dass seine Bürgerinnen und Bürger so gut wie möglichvor Gewalt geschützt werden. Am häufigsten erfahren Frauen Gewalt in sozialemNahraum, durch Bekannte und Verwandte. Und was ge-schieht? Die Täter werden häufig nicht angezeigt, weildie betroffenen Frauen auf ein staatliches Eingreifen zuihren Gunsten nicht vertrauen. Sie haben zum Teil wirk-lich sehr negative Erfahrungen gemacht. Alle, die sich indiesem Bereich einmal umgesehen haben, kennen dieunsäglichen Leidensgeschichten vieler Frauen und diemangelnde Hilfe, die Frauen in dieser Situation erfahrenhaben.Das heißt dann in der Folge eben auch: Viele Täterbleiben ohne Strafe und die von Gewalt betroffenenFrauen müssen mit ihren Kindern – häufig, nachdem siedieser Gewalt über Monate oder Jahre ausgesetzt wa-ren – aus dem vertrauten Umfeld in ein Frauenhaus oder zu Bekannten flüchten. Das kann von einemRechtsstaat nicht hingenommen werden. Es muss dasZiel sein, die gegen die Frau gerichtete Gewalt zu been-den und ihr Sicherheit zu gewähren. Ich denke, dass wirdazu nachher von der Bundesjustizministerin noch sehrviel ausführlicher etwas hören werden. Meine Damen und Herren, ein solches umfassendesGesamtkonzept, wie wir es mit dem Aktionsplan zurBekämpfung von Gewalt gegen Frauen verfolgen, um-fasst natürlich auch Zuständigkeitsbereiche der Länderund Kommunen. Das betrifft neben den Bereichen, überdie die Justizministerin sprechen wird, vor allen Dingenauch den Erhalt eines möglichst flächendeckenden Net-zes an Hilfsangeboten, seien es Frauenhäuser, Frauen-beratungsstellen, Notrufe, spezielle Therapieeinrichtun-gen oder Interventionsstellen. Mit einer engen Kooperation vor Ort zwischen denbeteiligten Institutionen und Beratungsstellen haben wirbisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Deswegen för-dern wir solche Kooperationen auch. Es gibt ja schonzwei Interventionsprojekte – wir haben darüber bereitsgesprochen – in Berlin und in Schleswig-Holstein. Diepositiven Erfahrungen, die hier gemacht worden sind,sind übertragbar; deswegen werden die Ergebnisse ausdiesen Interventionsprojekten auch allen anderen Län-dern und Kommunen zur Verfügung gestellt.Und natürlich geht es bei der Vernetzung von Hilfs-einrichtungen auch darum, diese Vernetzung zu fördern.Das tun wir. Wir fördern finanziell die Vernetzung derFrauenhäuser, der Notrufe, der Beratungsstellen gegenFrauenhandel, weil wir nur über diese Vernetzung einezielgenaue effektive Arbeit zugunsten der betroffenenFrauen erreichen können.Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8557
Meine Damen und Herren, ich sagte schon, dass dieUmsetzung des Gesamtkonzepts eine sehr enge Koope-ration zwischen Bund und Ländern erfordert. Wirwerden deshalb neben der bereits bestehenden Arbeits-gruppe zur Bekämpfung von Frauenhandel eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einrichten, die den gesamten Um-setzungsprozess begleitet und in der natürlich auch dieFrauenprojekte mit vertreten sind. Dadurch versprechenwir uns eine sehr gute Kooperation.Wenn wir aber Gewalt gegen Frauen wirksam be-kämpfen wollen, meine Damen und Herren, dann brau-chen wir auch einen anderen Umgang mit den Tätern.Dazu gehört neben einer konsequenten – auch strafrecht-lichen – Verfolgung ein Prozess, der zur Änderung desgewalttätigen Verhaltens dieser Täter gewissermaßenauffordert oder diese Änderung bewirkt. Wir haben des-halb in unserem Gesamtkonzept auch täterorientierteMaßnahmen vorgesehen, die diese Verhaltensänderun-gen bei Tätern initiieren müssen. In diesem Bereich ha-ben wir in Deutschland noch sehr wenig eigene Erfah-rungen; es gibt Konzepte, aber noch nicht viele Erfah-rungen. Wir werden in der nächsten Zeit verstärkt aufdie europäischen Erfahrungen, die es in dem einen oderanderen Fall schon gibt, zurückgreifen und auf dem Wegüber eine Konferenz die Kooperation mit anderen Län-dern ausbauen.Aber, meine Damen und Herren, nicht nur deutscheFrauen sind von Gewalt betroffen, wie wir wissen – wirreden ja heute auch über die Änderung des § 19 desAusländergesetzes –; für viele ausländische Frauen istdie Situation dramatisch, wenn sie – aufgrund der Tatsa-che, dass sie sich und ihre Kinder vor ihrem prügelndenEhemann in Sicherheit bringen wollen – nicht vor einerBeendigung des Aufenthaltsrechtes geschützt sind, wennalso nicht die Täter bestraft werden, sondern die Opfer.Daher ist die Novellierung des § 19 Ausländergesetz sowichtig.Um diese Reform ist ja lange gerungen worden. Ichhabe das auf unterschiedlichen Ebenen mit unterstütztund denke, das ist heute wirklich eine gute Botschaft anviele in diesem Land. Viele Frauen – über die Partei-grenzen hinweg – in Organisationen, Verbänden undKirchen haben dieses Thema zu ihrer eigenen Sachegemacht. Hier muss man den vielen danken, die immermitgezogen haben
– nicht zuletzt natürlich auch dem Innenministerium –,die wirklich in vorbildlicher Weise versucht haben, die-se Rechtsänderung zu erreichen. Das ist ein Beitrag zurStärkung der Menschenrechte von Frauen und es istauch ein Beitrag zum Abbau von Gewalt.Meine Damen und Herren, Gewalt gegen Frauen zubekämpfen ist eine Aufgabe, die über nationalstaatlicheGrenzen hinausgeht und internationale Kooperationerfordert. Wir haben unter der deutschen EU-Ratsprä-sidentschaft auf unserem Kongress in Köln schon dieEU-Kampagne zur Bekämpfung von häuslicher Ge-walt initiiert. Wir stehen hier in einer sehr engen Koope-ration. Es ist sehr wichtig, dass die EU-Staaten und auchdie assoziierten Staaten, die in diesem Bereich mitar-beiten, hier nicht locker lassen und dass sie kooperieren.Wir haben übrigens auch festgelegt, in den jeweiligenMitgliedstaaten Aktionspläne umzusetzen. Dadurch istes uns in unserer Ratspräsidentschaft auch gelungen, dasDAPHNE-Programm, das seit dem 1. Januar 2000läuft, im Rat durchzusetzen, was nicht ganz einfach war.Damit haben wir die Chance, insbesondere die Nichtre-gierungsorganisationen bei der präventiven Arbeit undder Arbeit der Beratungsstellen zu unterstützen, dortneue Möglichkeiten zu schaffen.Wir wissen alle, dass bei der Bekämpfung von Ge-walt gegen Frauen nur ein gemeinsames und konsequen-tes Vorgehen langfristig Erfolg verspricht. Wir habendiesen Weg mit der Verabschiedung des Aktionspro-grammes im Dezember ganz konsequent beschritten. Ichsage noch einmal: Das ist ein Programm der gesamtenBundesregierung; alle stehen hinter diesem Programm.Ich habe in den letzten Wochen und Monaten bei mei-nen Besuchen in Frauenhäusern und Beratungsstellen er-lebt, dass die Frauen, die dort arbeiten, sehr froh sind,dass sie endlich die notwendige Unterstützung und Hilfebekommen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Ich höreauch von Bürgerinnen und Bürgern, dass sie froh sind,dass diese Regierung endlich an vielen Stellen Ernstdamit macht, die Gewalt in der Gesellschaft ganz konse-quent zu bekämpfen.
Es muss klar sein – das sollen auch die betroffenenmisshandelten Frauen wissen –, dass die Bekämpfungder Gewalt, dass der Schutz dieser Frauen ein vordring-liches Anliegen dieser Bundesregierung ist.Danke schön.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Von all den Themen, die uns je-des Jahr anlässlich des Internationalen Frauentagesnäher gebracht werden, ist eines der wichtigsten dieGewalt gegen Frauen. Es ist auch eines der bedrü-ckendsten Themen. Wir können uns nicht hinter der Tat-sache verstecken und darauf verweisen, dass im Wesent-lichen Frauen in anderen Ländern davon betroffen sindund wie schrecklich jene Frauen dran sind, sondern esgeht wirklich um Gewalt an Frauen in unserem eigenenLand. Es geht um körperliche, seelische und sexuelleGewalt gegen die, die in der Regel von ihren Misshand-lern abhängig und kräftemäßig die Unterlegenen sind.Wir haben von der Ministerin Zahlen gehört, die er-schrecken und zugleich deutlich machen, dass wir, wiewir es heute tun, öffentlich darüber reden müssen unddass wir die Öffentlichkeit für das sensibilisieren müs-sen, was nebenan geschieht. Denn überwiegend findenBundesministerin Dr. Christine Bergmann
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diese Gewalttaten gegen Frauen und Kinder in der eige-nen Nachbarschaft, im eigenen Umfeld, meist zu Hausestatt, an dem Ort, an dem sich Frauen und Kinder am si-chersten fühlen sollten. Es ist also eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da-für zu sorgen, dass sich diese Hoffnung nicht in immermehr Fällen als trügerisch erweist. Daher begrüßen wires, dass die Bundesregierung die von unserer Regierungbereits begonnenen Maßnahmen jetzt weiterentwickeltund mit dem Aktionsplan ein dickes Bündel sinnvollerHandlungsvorschläge vorlegt.
Ich will daran erinnern, dass der Weg dieses Themasein langer Weg ist. Als man vor gut 20 Jahren daran-ging, häusliche Gewalt zu enttabuisieren, konnte mandies zunächst nur in kleinen Schritten tun, denn kaumjemand konnte sich vorstellen, was da mit Frauen undKindern passierte. Sexueller Missbrauch und Vergewal-tigung waren unaussprechbar. Genauso haben wir erstseit wenigen Jahren Gewalt gegen Behinderte und gegenalte Menschen realisiert. Auch hier geht es um Tabus,die wir aufbrechen müssen, um den Betroffenen wir-kungsvoll zu helfen.
Weil im Laufe der Jahre aus kleinen Schritten größereund mutigere geworden sind, können wir heute auf lang-jährige und vielfältige Erfahrungen in Frauenhäusernund Beratungsstellen zurückblicken. Wir können unsdiese Erfahrungen politisch nutzbar machen, notwendigeGesetze auf den Weg bringen und die bundesweite Ver-netzung dieser Einrichtungen vorantreiben. Aber eines will ich hier ganz deutlich sagen: Nichtdie jetzige Bundesregierung hat sich das Thema „Gewaltgegen Frauen“ auf die Fahnen geschrieben und vorange-bracht. Das ist schon vor Einsetzung der jetzigen Bun-desregierung geschehen. Wir als Frauen haben dasschon früher thematisiert. Zusammen mit vielen Män-nern haben wir zahlreiche Anliegen auf den Weg ge-bracht.
An einigen Beispielen aus den letzten beiden Legisla-turperioden, aus der Zeit von 1990 bis 1998, will ichzeigen, dass wir uns intensiv damit befasst haben undwelche Schwerpunkte wir gesetzt haben. Im Zeitraumvon 1993 bis 1996 gab es unter unserer Regierung dieAufklärungskampagne „Gewalt gegen Frauen hat vieleGesichter“ und im Jahre 1996 einen entsprechenden Ak-tionsplan. Wir haben in diesem Bereich auch eine Reihewichtiger Gesetzesänderungen verabschiedet: im Jahre1992 die Novellierung der Strafvorschriften gegen denMenschenhandel, im Jahre 1994 das Beschäftigungsge-setz, das vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatzschützen soll, die Verschärfung der Strafandrohung fürpornographische Darstellungen mit Kindern im Jahre1993 und im Jahre 1997 die Novellierung des § 177 desStrafgesetzbuches, der die Vergewaltigung in der Eheunter Strafe stellt. Frau Kollegin Wolf, Sie lachen. Diese Maßnahmensind natürlich von den meisten Frauen in diesem Parla-ment sehr unterstützt worden, auch von vielen Frauenaus meiner Fraktion.
Ebenfalls 1997 haben wir § 19 des Ausländergesetzesdahin gehend geändert, dass ausländische Ehegatten imFalle außergewöhnlicher Härte bei Ehescheidungen eineigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten, und zwar un-abhängig von der Ehedauer; darauf komme ich nachhernoch zu sprechen. Auch hat bereits die alte Bundesregierung auf einebessere Vernetzung aller auf diesem Feld tätigen Institu-tionen und Organisationen und ebenso auf eine effektiveZusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeindenhingearbeitet. Die damalige Familienministerin ClaudiaNolte brachte 1996 auf dem Fachkongress für Polizeiund Justiz zur Gewalt gegen Frauen in Ehe undPartnerschaft Vertreterinnen und Vertreter von Polizei,Justiz und Politik mit den Frauen und Männern zusam-men, die vor Ort in Antigewaltprojekten arbeiteten. Siediskutierten über Möglichkeiten, wie man die Zusam-menarbeit von staatlichen und nicht staatlichen Stellenverbessern, den Schutz für die Opfer ausbauen und dieTäter noch stärker zur Verantwortung ziehen kann.Schon damals war uns das In-die-Verantwortung-Nehmen der Täter wichtig, zum Beispiel durch sozialeTrainingskurse, die darauf abzielen, das Verhalten derMänner zu ändern. Denkbare Präventivmaßnahmen waren der Jugend-wettbewerb „Wo hört der Spaß auf? – bei Anmache, Be-ziehungen, Freundschaften“ und das Aktionsprogrammgegen Aggression und Gewalt. Das Berliner Interventionsprojekt gegen häuslicheGewalt, BIG, das durch gemeinsame Förderung vonBund und Stadt Berlin auf den Weg gebracht wurde,kann heute in der Tat als Vorbild für alle Projekte die-nen, die eine Vernetzung der im Gewaltbereich tätigenInstitutionen und Organisationen anstreben. BIG führteüber die reinen Anlaufstellen für betroffene Frauen hi-naus zu einer gesamtgesellschaftlichen Befassung undÄchtung von Gewalt gegen Frauen. Auch auf europäischer Ebene sind wir nicht untätiggewesen. Ich erinnere zum Beispiel an den diesbezügli-chen Aktionsplan des Europarates. Nun zu einzelnen Punkten, zunächst zum StichwortPrävention: Wir stimmen Ihnen zu, dass natürlich beider Bekämpfung von Gewalt präventive Maßnahmenvon höchster Priorität sind. Eltern, Erzieherinnen undErzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer müssen hier zu-sammenwirken. Da wissenschaftlich erwiesen ist, dassKinder, die Gewalt erlebt haben, mit hoher Wahrschein-lichkeit später selber Gewalt anwenden, muss diese Spi-rale – je früher, desto besser – unterbrochen werden. Ilse Falk
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8559
Was mir aber an Ihrem Katalog fehlt, ist die konkreteBenennung der Kernursachen dieses Problems. Sie drü-cken sich darum herum, die Wertevermittlung in Familieund Schule sowie die Stärkung der Erziehungsfähigkeitder Eltern aufzulisten.
Ein ganz großes Problem ist doch das mangelnde Un-rechtsbewusstsein bei Anwendung von Gewalt. Es istnotwendig, dies schon sehr früh in der Familie zu entwi-ckeln. Viele Eltern sind heute selbst nicht mehr in derLage, Alltagskonflikte zu lösen. Wie sollen ihre Kinderlernen, auf welche Weise angemessen mit Konfliktenumgegangen werden kann? Viele Eltern vermitteln – oftaus Unvermögen, oft aus Bequemlichkeit – ihren Kin-dern keine Spielregeln hinsichtlich des Zusammenle-bens, sondern erwarten, dass dies an anderer Stelle ge-leistet wird, zum Beispiel in der Schule. Die Fähigkeitzu reden und zuzuhören, Argumente gegeneinander ab-zuwägen, geht langsam verloren. Viele Jugendlichewerden schweigend groß, nämlich vor dem Fernseher,über den sie Probleme vorgeführt bekommen; sie redennicht mehr darüber. Sie lernen einfach nicht, sich zu ar-tikulieren, und lösen Konflikte lieber mit dem Ellenbo-gen, so wie sie es vielleicht auch von ihren Eltern ken-nen.Folglich sind viele Kinder fast ausschließlich ichbe-zogen orientiert. Sie glauben, ihre Umwelt stets nach ih-rem Willen gestalten zu können, sei es auch mit Gewalt,akzeptieren keine Grenzsetzungen für ihr eigenes Han-deln und können mit Verboten und Misserfolgen nichtmehr umgehen. Ich will es ganz deutlich sagen: Grenz-ziehungen und richtig verstandene Autorität sind dochkeine Unterdrückungsinstrumente.Ein Weiteres fehlt mir im Aktionsplan, nämlich einWort zur Rolle der Medien. Auch Presse, Funk, Fernse-hen und Videoverleiher sind aufgefordert, sich immerwieder ihren Einfluss und ihre negative Vorbildwirkungauf die Entstehung von Gewalt gegen Frauen bewusst zumachen. Wir sollten mit Nachdruck fordern, dass dieVerantwortlichen der freiwilligen Selbstkontrolle zumehr Wirksamkeit verhelfen und darüber hinaus überInhalte ihren Einfluss positiv geltend machen und Kam-pagnen gegen Gewalt fördern.
Ein ganz wichtiges Kapitel des Aktionsplans befasstsich mit der Rechtsetzung des Bundes. Dabei geht esnicht nur um neue Gesetze, sondern immer wieder auchum die Überprüfung bestehender Gesetze auf ihre Wirk-samkeit hin und gegebenenfalls um Verbesserungsmög-lichkeiten. Vielleicht ist es gerade in diesem sensiblenBereich wichtig, uns der kritischen Auseinandersetzungzu stellen und die Frage zu beantworten, ob die Gesetzetatsächlich die an sie gestellten Erwartungen erfüllen. Da ist zum einen das Gesetz zur gewaltfreien Erzie-hung, das von Ihnen sehr stark in den Vordergrund ge-stellt wird. Hier propagieren Sie das Recht des Kindesauf eine gewaltfreie Erziehung. Dass die Anwendungvon körperlicher und psychischer Gewalt nicht mehr zuden zulässigen Mitteln angemessener Erziehung gehört,ist völlig unstrittig. Wir meinen allerdings, dass ein sol-cher Rechtsanspruch des Kindes in der Praxis wedereinklagbar noch justiziabel ist. Deshalb halten wir dieBundesratsformulierung für besser, die da lautet: Kindersind gewaltfrei zu erziehen. Aber dieser Gesetzentwurfbefindet sich zurzeit in der parlamentarischen Beratung.Wir werden noch Gelegenheit haben, die Argumenteauszutauschen.Mit dem vom Bundesjustizministerium lange ange-kündigten Gesetzentwurf zum Schutz vor Gewalt sollenkünftig nach österreichischem Vorbild über die verein-fachte Zuweisung der Ehewohnung gewalttätige Ehe-gatten gezwungen werden, die gemeinsame Wohnung zuverlassen. Daneben soll ein Kontakt-, Belästigungs- undNäherungsverbot die Frau umfassend vor dem ge-walttätigen Ehemann schützen; ohne dies wäre die Bei-behaltung der Wohnung auch gar nicht sinnvoll. Aberdamit dieser Schutz überhaupt gewährleistet werdenkann, bedarf es der Absprache mit den Innenministernund den Polizeibehörden der Bundesländer. Das ist na-türlich nicht ganz einfach.
– Ach! Aber Sie haben diesen Gesetzentwurf in Ihren Koali-tionsvereinbarungen in Aussicht gestellt und sich zuge-traut, diese Abstimmung ganz schnell – sowieso vielschneller als wir – zu vollziehen.
Immer wieder wurde der Gesetzentwurf angekündigt.Bei der Vorstellung des Aktionsplans im Dezember hießes, er werde in Kürze vorliegen. In der letzten Wochehaben Sie, Frau Justizministerin, aus Anlass des Interna-tionalen Frauentages in einer Presseerklärung erneut ge-sagt, dass der neue Gesetzentwurf zum Schutz vor Ge-walt zügig in das Gesetzgebungsverfahren gebrachtwird.
– Wunderbar! Wir fordern Sie also auf, diese Abstim-mung zu vollziehen. Dann erübrigt sich das Weitere.Zum Thema Täter-Opfer-Ausgleich kennen Sie un-sere Auffassung. Grundsätzlich ist das eine gute Sache.Doch so, wie Sie ihn handhaben wollen, geht es nicht.Das bloße Bemühen des Täters soll zukünftig zur Been-digung des Strafverfahrens ausreichen. Doch geradewenn es um die Interessen des Opfers von Gewalttatengeht, muss die Wiedergutmachung auch von diesem ab-hängig gemacht werden. Ansonsten stehen nicht die In-teressen des Opfers, sondern die des Täters im Mittel-punkt. Und das kann nicht sein.Zur geplanten Änderung des § 19 des Ausländergesetzeswird der Kollege Uhl ausführlich Stellung nehmen.Deshalb will ich mich hier auf eine Bemerkung be-schränken: Ich bedaure sehr – das habe ich auch imIlse Falk
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8560 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Ausschuss gesagt –, dass dieser Gesetzentwurf sodurchgepaukt wird, denn ich hätte gern mit Ihnen zu-sammen geprüft, ob die Beispiele für das Vorliegen ei-ner besonderen Härte nicht besser im Gesetz statt in derBegründung stehen sollten, wo sie sich ganz offensicht-lich nicht bewährt haben, weil sie von den Ländern un-terschiedlich ausgelegt werden. Aber gut, Sie meinen, inder Vergangenheit sei darüber ausführlich diskutiertworden, und gehen nun Ihren eigenen Weg. Ich hoffe sehr, dass diese Erleichterungen wirklichdie richtigen Frauen treffen und damit das gemeinsameZiel des besseren Schutzes von ausländischen Ehefrauenvor ihren misshandelnden Ehemännern tatsächlich er-reicht wird.Es wären noch viele Punkte zu nennen, die eine nähe-re Betrachtung verdienen. Dabei denke ich an dasschwierige Thema der geschlechtsspezifischen Verfol-gung, der Genitalverstümmelung, an Menschenhandelund an das Zeugenschutzgesetz. Das sind alles Bereiche,für die in besonderem Maße die Forderung nach kompe-tenten, sensibilisierten Mitarbeitern in Verwaltungen,Gerichten, bei Polizeibehörden usw. gilt. Leider reichtfür eine Behandlung meine Redezeit nicht. Aber ich binsicher, dass im Laufe der Umsetzung der vielen Vorha-ben des Aktionsplans noch Gelegenheit sein wird, sichdazu zu äußern. Ich hoffe, dass er tatsächlich in allenPunkten umgesetzt wird. Es gibt eine Fülle von Ankün-digungen, von Maßnahmen, die in Aussicht gestelltwerden, von Prüfvermerken und Ähnlichem, sodass wirnur hoffen können, dass aus dem „Plan“ wirklich „Akti-on“ wird.So möchte ich mich zum Schluss noch mit einer Bittean Sie alle wenden, nämlich dass Sie zu Hause in IhrenWahlkreisen Ihre Möglichkeiten nutzen, dieses wichtigeThema noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, so-fern Sie das nicht ohnehin bereits tun. Sensibilisieren Siedie Menschen, stellen Sie Modellprojekte vor und helfenSie mit, diese auf örtlicher Ebene wirklich umzusetzen!Aufgrund meiner sehr guten Erfahrungen aus meinemHeimatkreis Wesel mit dem runden Tisch gegen Gewaltan Frauen weiß ich, dass vor Ort oft die Vernetzungzwischen all denjenigen fehlt, die Gewalt bekämpfenwollen. Sie haben unsere Unterstützung für ihre wichti-ge Aufgabe verdient.
Ich erteile der Kolle-gin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen,das Wort.
Kollegen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Es war dieFrauenbewegung, die mit dem Slogan „Das Private istpolitisch“ bereits vor 25 Jahren das Thema häuslicheGewalt gegen Frauen aus der Tabuzone herausgeholtund den Schutz des Staates eingefordert hat. EinzelnePunkte wie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in derEhe wurden in der letzten Legislaturperiode – Frau Falkhat es gerade gesagt – mithilfe der damaligen Oppositi-on umgesetzt. Aber ein umfassendes Aktionsprogrammmit einem Gesamtkonzept liegt erst heute, ein Viertel-jahrhundert später, vor. Gewalt hat viele Gesichter und trifft bestimmte Frau-engruppen wie Migrantinnen oder Behinderte zusätz-lich in einer besonderen Art. Mit einer frauenverachten-den Praxis wird heute Schluss gemacht: Misshandelteausländische Ehefrauen müssen sich nicht mehr dazwi-schen entscheiden, entweder vier Jahre lang bei ihremgewalttätigen Ehemann auszuharren oder in ihr Heimat-land ausgewiesen zu werden, wo sie häufig Ausgren-zungen oder lebensbedrohenden Handlungen ausgesetztsind. Diese Frauen erhalten ein eigenständiges Aufent-haltsrecht und damit den Schutz des Staates, den sie ver-dienen.
Auch das Kindeswohl wird endlich als schutzwürdigberücksichtigt. Eine inhumane Abschiebepraxis, wie sieinsbesondere in Bayern stattfand, wird beendet. Ich dan-ke an dieser Stelle ganz besonders den – zum Teil auchhier anwesenden – Frauen- und Migrantinneninitiativen,die nicht locker gelassen und die unzumutbare Situationimmer wieder zum Thema gemacht haben.
Ich freue mich, dass auch die F.D.P. das Gesetz nichtablehnen wird und es somit eine breite Unterstützung imParlament findet. Dies ist die erste konkrete Umsetzungeines Vorhabens aus dem gesamten Aktionsplan, beidem der Paradigmenwechsel deutlich wird: Es werdennicht mehr die Täter, sondern die Opfer geschützt. Dieswird auch bei den Maßnahmen zur Bekämpfung einerbesonderen Form der modernen Sklaverei, des Frauen-handels, deutlich. Frauen – zumeist aus Osteuropa –werden mit falschen Versprechen und einem Reisevisumnach Deutschland gebracht und nach der Wegnahme ih-rer Pässe zur Prostitution gezwungen. Nach EU-Angaben sind das allein eine halbe Million in West-europa. Wenn diese Frauen entdeckt wurden, galten siebisher als Täterinnen, weil sie keine Aufenthaltsberech-tigung besaßen. Sie wurden meist mit dem nächstenFlugzeug in ihr Heimatland zurückgeschickt. Das ge-schah häufig ohne anwaltliche Unterstützung.Erst in letzter Zeit werden diese Frauen nicht mehrals Täterinnen, sondern als Opfer des Menschenhan-dels betrachtet. Erst seit kurzem haben Polizei und Justizerkannt: Die Rechtlosigkeit dieser Opfer ist der besteTäterschutz. Wenn die Frauen nicht wenigstens so langehier bleiben können, bis sie in einem Prozess aussagen,werden die Täter nie ermittelt. Nirgendwo ist die Auf-klärungsquote so gering wie hier. Das Geschäft ist lukra-tiv: 1,8 Milliarden DM werden auf diese Weise inDeutschland „verdient“ – mehr als im Drogenhandel. Ilse Falk
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Einen wirksamen bundeseinheitlichen Abschiebe-schutz, Zeuginnenschutzprogramme, sichere Unterkünf-te und ein Bleiberecht stärken die Opfer und tragen auchdazu bei, die Täter zu finden und zu bestrafen. Eine Be-schlagnahme der Gewinne aus dem Frauenhandel würdezudem die Menschenhändler empfindlich treffen. Wo esum organisierte Kriminalität geht, ist eine internationaleZusammenarbeit unabdingbar. Die Opfer schützen und die Täter bestrafen – diesesPrinzip zieht sich auch durch das nächste Thema: Ge-walt im sozialen Nahbereich. „My home is my cast-le“ – mein Zuhause ist mein Königreich –: Wer wünschtsich das nicht? Dieser Satz drückt den Wunsch nach Si-cherheit und Geborgenheit im eigenen Zuhause aus. Aber dieser Wunsch geht für viele Frauen, für viel zuviele Frauen, nicht in Erfüllung. So unglaublich esklingt: Die eigenen vier Wände sind der unsicherste Ortfür Frauen, und zwar nicht nur, weil die meisten Unfälleim Hause passieren, sondern auch, weil sie der Gewaltdurch ihren Partner ausgeliefert sind. Die Zahlen sprechen für sich: In den Jahren 1987 bis1991 wurden 350 000 Frauen Opfer einer Vergewalti-gung durch ihren Ehemann. Die Dunkelziffer ist um einVielfaches höher. Jährlich suchen Zehntausende vonFrauen mit ihren Kindern Schutz in Frauenhäusern. Diegesellschaftlichen Folgekosten für diese Gewalttatensind enorm: Sie belaufen sich nach einer Aussage derBundesregierung auf jährlich 29 Milliarden DM. Daswäre doch für Herrn Eichel ein wunderbares Sparpoten-zial.Rechtliche Konsequenzen für diese Straftaten sind je-doch immer noch sehr selten. In der akuten Gefähr-dungssituation ist aber für die Frauen eine strafrechtlicheVerfolgung der Täter manchmal zweitrangig. An ersterStelle steht für sie der gegenwärtige und zukünftigeSchutz vor der Gewalt des Partners. Diesem Bedürf-nis nach effektivem Schutz müssen wir nachkommen.Opfer von Gewalt müssen sich mit Aussicht auf Erfolgwehren können. Die bisherige Rechtslage und die An-wendung des Rechts in Deutschland lassen einen ausrei-chenden Schutz vor häuslicher Gewalt immer noch ver-missen. Viel zu lange haben Justiz und Polizei Gewaltim sozialen Nahraum als Privatangelegenheit zwischenden Beteiligen angesehen, in die sich der Staat nichteinzumischen habe. Erst allmählich wird hier ein Bewusstseinswandeldeutlich. Dies ist unter anderem auf die erfolgreiche Ar-beit von Interventionsprojekten wie zum Beispiel derBerliner Initiative „ Gewalt gegen Frauen“ sowie vonFrauenhäusern, Notrufen und Beratungsstellen zurück-zuführen. Bis heute müssen geschlagene und vergewal-tigte Ehefrauen ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen.Die gewalttätigen Ehemänner hingegen verbleiben inder ehelichen Wohnung. Deshalb brauchen wir ein Ge-setz, mit dem der gewalttätige Ehemann und Partner desHauses verwiesen werden kann.
Nun ist unser Nachbarland Österreich in den letztenMonaten nicht gerade positiv in den Schlagzeilen gewe-sen. Dort wurde aber in der letzten Legislaturperiode einWegweisungs-Recht verabschiedet, das seit Jahren er-folgreich ist. Nach dem dort seit 1997 geltenden Sicher-heitspolizeigesetz steht der Polizei die Befugnis zu, ei-nen Gewalttäter von einer Wohnung fern zu halten, inder sich eine gefährdete Person aufhält. Kurz gesagt:Das Opfer kann bleiben, der Täter muss gehen. Dies giltfür zunächst sieben Tage.Es kommen dann gleich die Fragen: Wo bleiben dennnun die Männer? Müssen wir nicht besondere Häuser fürdie Männer schaffen? In Österreich ist die Obdachlosig-keit nicht signifikant gestiegen. Die Frage, wo die Män-ner bleiben, lässt sich so beantworten: die meisten beiihren Müttern oder ihren Freundinnen. Ich denke, daskönnen wir auch den deutschen Männern zumuten.
Noch bevor über eine erleichterte Wohnungszuwei-sung entschieden wird, wird so den betroffenen Frauenin der akuten Gefährdung geholfen.Daneben brauchen wir auch Kontakt, Belästigungs-und Näherungsverbote sowie gesetzliche Regelungen fürden Erlass von Schutzanordnungen. Eine enge Zusam-menarbeit mit den Ländern ist notwendig – dies dau-ert, Frau Kollegin Falk, natürlich lange und Sie unter-stützen uns ja auch jetzt darin – , und zwar nicht nur beider polizeilichen und juristischen Aus- und Fortbildung,sondern auch bei einer Änderung der Polizeigesetze derLänder. Das ist ein Problem. Das geben wir zu. Aberauch das werden wir lösen.
Justizministerin Däubler-Gmelin hat zum Internatio-nalen Frauentag angekündigt, dass ein neues Gewalt-schutzgesetz zügig in das Gesetzgebungsverfahren ein-gebracht wird. Die Grünen haben Eckpunkte dazu ent-wickelt. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir endlichdie Persönlichkeitsrechte der Frauen besser schützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzum Schluss auf die Situation widerstandsunfähiger – inden meisten Fällen behinderter – Frauen zurückkom-men. Sie brauchen einen besonderen Schutz vor sexuel-lem Missbrauch. Es ist nicht länger hinnehmbar, dassdie Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung dieser Per-sonen mit einer niedrigeren Strafe geahndet werdenkann als bei so genannten widerstandsfähigen Opfern.
Wir hatten bei der Verabschiedung des § 177 StGB ver-einbart, die Rechtsprechung zu § 179 bis zum Mai 2000zu beobachten. Danach müssen wir sehr schnell ent-scheiden, ob wir entweder diesen Paragraphen ganz ausdem Gesetz streichen oder das Strafmaß an das des§ 177 anpassen. Irmingard Schewe-Gerigk
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8562 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt gegenFrauen ist die schwerste Form der Benachteiligung vonFrauen in unserer Gesellschaft. Sie stellt einen Angriffauf die körperliche und seelische Unversehrtheit dar undist eine Verletzung der Menschenwürde. Dies muss ganzdeutlich gesagt werden: Das ist kein Kavaliersdelikt,sondern eine Verletzung der Menschenwürde.
Es ist höchste Zeit, dass wir in den verschiedenen Berei-chen entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen,damit wir der Gewalt, die tagtäglich gegen Frauen aus-geübt wird, Einhalt gebieten können. Heute machen wir einen ersten großen Schritt. Es wä-re schön, wenn auch einige CDU-Kolleginnen der Ände-rung des Ausländergesetzes zustimmen würden. FrauFalk, aus Ihrer Rede kann ich eigentlich nur schließen,dass Sie ihr zustimmen werden. Es gibt auch noch einigeandere Kolleginnen in Ihrer Fraktion, von denen ichweiß, dass sie inhaltlich mit diesem Gesetzesvorschlagübereinstimmen. Es wäre schön, wenn auch sie diesemGesetz zustimmen, damit wir hier im Parlament einebreite Mehrheit dafür haben. Das würde uns auch in derBevölkerung stärken. Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Der innere Frieden einer Gesell-schaft beruht auf der Freiheitlichkeit ihrer Rechtsord-nung, auf dem Schutz von Eigentum und auf demSchutz von Leib und Leben. Meine Damen und Herren, wenn wir in unserer Ge-sellschaft von Gewalt reden, dann sind Frauen häufigOpfer. Sie sind überproportional von Gewalt betroffen.Ich war kürzlich in der niedersächsischen Justizvoll-zugsanstalt Vechta. Dort sind Frauen in Haft. Sind siealle Täterinnen? Dort wurde mir gesagt, dass nur4 Prozent der Täterinnen und Täter Frauen sind. Dasheißt, hier ist nicht Gewalt im Spiel, sondern Drogende-likte und andere Straftaten, die wenig mit Gewalt zu tunhaben. Wir wissen das ist schmerzlich –, dass Gewalt sichnicht nur außerhalb der Familie, sondern auch innerhalbder Familie abspielt. Bei der Bekämpfung hat auch inder Vergangenheit die F.D.P.-Bundestagsfraktion ihrenPart im Parlament dieser Gewalt gespielt. Sie hat durchunsere Kollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger auchdie Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.Das ist jetzt Allgemeingut des gesamten Bundestages.
– Ich war in der letzten Legislaturperiode noch nichtMitglied dieses Hohen Hauses. Aber ich denke, dass alledieses Gesetz unterstützt haben bis auf die Hardliner; diewird es auch gegeben haben, nicht in unserer Fraktion,aber sicher in anderen.
Dabei haben wir den ersten Schritt getan. Es wird weite-re Schritte geben, die wir natürlich auch unterstützenwerden. Wir haben jetzt den Schutz von Frauen und Kin-dern in der eigenen Wohnung in der politischen Dis-kussion. Das entsprechende Gesetz werden auch wir un-terstützen. Wir werden sehen, ob wir dazu eine eigeneInitiative in den Bundestag einbringen. Ich und meineFraktion finden es richtig, dass der, der jemand anderemGewalt antut, aus der Wohnung verschwinden muss
und die Opfer – das sind meist Frauen mit ihren Kin-dern – ihr Lebensumfeld behalten. Dafür müssen wir unsalle hier im Parlament einsetzen. Ich denke, das giltnicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer.
In dem Aktionsplan gegen Gewalt sind die Präven-tion und die Hilfsangebote sehr hoch angesiedelt. Alle,die auch auf der kommunalen Ebene oder auf der Lan-desebene arbeiten, wissen, dass hier doch ein Wand-lungsprozess stattgefunden hat. Es gibt allerorten, auch im Landkreis Verden, ausdem ich komme, Präventionsräte, die sich zusammen-setzen und diese Art der Strategie fahren. Gerade auf derörtlichen Ebene kann direkt geholfen werden. Das kön-nen wir natürlich von Berlin aus nicht tun. Von hier auskönnen wir nur Gesetze ändern. Da ist jeder Einzelnevon uns gefragt, auch die Kommunalpolitiker und alle,die vor Ort tätig sind. Das sind wir ja auch, denn wir ha-ben unsere Wahlkreise und da sollten wir auch etwasmachen.Weiter wird im Aktionsplan ausgeführt, dass die Ver-netzung von Hilfsangeboten stattfinden soll. Ich musssagen: Auf Landesebene und auf kommunaler Ebene hatdas längst stattgefunden. Für die Bundesebene kann ichdas nicht beurteilen. Wir werden uns als Fraktion sichermit Ihnen auch im zuständigen Ausschuss ins Benehmensetzen. Wenn das effektiver gestaltet werden kann, kanndas nur hilfreich sein. Das wollen wir natürlich auch un-terstützen.In dieser Diskussion heute haben wir auch über § 19des Ausländergesetzes zu beraten. Die F.D.P. hat durcheinen Änderungsantrag maßgeblich und sehr gut – ichhoffe, Frau Schewe-Gerigk, auch in Ihrem Sinne – dazubeigetragen, dass ausländische Frauen, die mit Deut-schen verheiratet sind und hier in Deutschland leben,auch dann die Möglichkeit haben, ein eigenständigesIrmingard Schewe-Gerigk
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Aufenthaltsrecht zu bekommen, wenn sie Gewalt in derEhe und anderes erfahren müssen und die Ehe vor Ab-lauf einer bestimmten Dauer geschieden wird.Wir haben gesehen, dass das Gesetz mit der Härte-fallregelung in der letzten Legislaturperiode nicht ge-griffen hat, gerade nicht in Bayern und vielleicht auchnicht in anderen Bundesländern.
Das ist halt manchmal so. Man muss das überprüfen unddann auch zu neuen Ergebnissen kommen.Ich denke, dass dieses Gesetz durch unsere konstruk-tive Mitarbeit daran verbessert worden ist. Ich werdediesem Gesetz heute zustimmen,
weil ich es für richtig halte, dass hier etwas gemachtwird. Ich hoffe deshalb auch, Sie werden das nicht par-teipolitisch ausschlachten, meine Damen und Herren.
Ein besonderes Anliegen ist die Bekämpfung desFrauenhandels. In dieses Gebiet muss ich mich alsneue Abgeordnete erst noch einarbeiten. Ich werde dasaber mit Frau Schwaetzer und Frau Leutheusser-Schnarrenberger und anderen Frauen in meiner Fraktiontun. Wir werden – natürlich auch zusammen mit unserenKollegen – versuchen, diesbezüglich initiativ zu werden.Ich denke, da ist jede Bundestagsfraktion gefragt, nichtnur die Fraktionen, die die Regierung unterstützen.Ich finde es in Ordnung, dass wir uns zum Beispielfür eine Frist von vier Wochen als Abschiebungshinder-nis für Frauen, die Zeuginnen gegen potenzielle Tätersein sollen, einsetzen. Ob diese Frist vier Wochen odereinen anderen Zeitraum betragen soll, das werden wir zuprüfen haben. Diese Prüfung wird dann auch in den par-lamentarischen Beratungen stattfinden.Es ist wichtig, dass wir uns um all diese Dinge küm-mern. Zum Schluss möchte ich sagen: Die Debatte zeigt,dass immer wieder und immer noch politischer Hand-lungsbedarf besteht, Frauen vor Gewalt zu schützen. DieF.D.P. wird sich wie in der Vergangenheit konstruktivan diesen Initiativen beteiligen. Wir wollen das zumWohl der Frauen und zum Wohl der Gesellschaft tun.Wir wollen uns sehr intensiv daran beteiligen. Das Par-lament, auch die Bürgerinnen und Bürger in der Bundes-republik Deutschland haben unsere Unterstützung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Bundesrepublik gehört zu denreichsten Ländern der Erde. Umso erstaunlicher ist es,immer noch darauf verweisen zu müssen, dass Frauen-rechte Menschenrechte sind.Die Bundesregierung musste sich vor kurzem bei denVereinten Nationen bescheinigen lassen, dass es hierzu-lande eklatante Defizite bei der Umsetzung dieses An-spruches gibt. Der Ausschuss, der die Einhaltung desUNO-Übereinkommens zur Beseitigung aller Formender Diskriminierung von Frauen – übrigens das einzigediesbezüglich völkerrechtlich verbindliche Dokument –kontrolliert, hat der Bundesregierung vorgeworfen, zuwenig für die Gleichstellung von Frauen zu tun. DasCEDAW-Komitee begrüßt zwar ausdrücklich den vor-liegenden Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt ge-gen Frauen, aber es ist … besorgt über die bleibenden Lücken beim Schutzvon Frauen gegen Gewalt in der Familie und in derGesellschaft. Das gelte besonders für ausländische Frauen. Die Regie-rung soll deshalb dafür sorgen, dass Gewalt gegenFrauen gesellschaftlich und moralisch nicht akzeptiertwird. Viele Frauen leben in Gewaltverhältnissen. Jede drit-te Frau in der Welt hat mindestens einmal im LebenGewalt erfahren, sei es als sexualisierter Missbrauch,Vergewaltigung, seien es Schläge oder sonstige Miss-handlungen. Gewalt an Frauen findet in der Familie, imKollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis statt. DieseGewalt muss aus der privaten Sphäre herausgezogen, öf-fentlich und zum gesellschaftlichen Problem gemachtwerden, ohne die Täter dadurch zu entlasten. Nach mei-nem Eindruck zeigt die heutige Debatte, dass es hier ei-nen parteiübergreifenden Konsens gibt. Die konkretenMaßnahmen, die die Bundesregierung vorschlägt, zielenin die richtige Richtung. Aber sie sind nicht konsequentgenug. Die Bundesregierung will Polizei, Justiz, Sozial- undAusländerbehörden sowie Beratungsstellen und Notrufean einen Tisch holen und mit ihnen gemeinsame Kon-zepte erarbeiten. Das ist richtig und hört sich gut an.Doch die Polizei zum Beispiel steht dabei vor einemGlaubwürdigkeitsproblem; denn in ihren eigenen Reihenerfahren Polizistinnen massiv sexuelle Belästigung undNötigung. Im Übrigen hat der in dieser Woche veröf-fentlichte Bericht der Wehrbeauftragten bestätigt, dassauch die Frauen in der Bundeswehr damit konfrontiertsind. Obwohl das Sexualstrafrecht in der letzten Legisla-turperiode verschärft wurde, gelten sexueller Miss-brauch und Vergewaltigung von Frauen bei Gerichtennoch immer als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine rich-tige Fortbildungskampagne für die Polizei und die Jus-tiz. Die Bundesregierung fördert seit Ende des Jahres diebundesweite Vernetzung der Notrufe im Rahmen einesModellprojektes für drei Jahre. Das begrüßen wir, das istgut so. Aber was geschieht nach diesen drei Jahren? Werkontinuierlich mit Nichtregierungsorganisationen zu-sammenarbeiten will, muss deren Arbeit institutionellIna Lenke
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absichern. Wir müssen in diesem Bereich von der blo-ßen Projekt- und Modellförderung wegkommen.
Ein anderes Beispiel dafür, dass der Aktionsplan nochnicht weit genug geht: Die Bundesregierung hat ange-kündigt, sie wolle Opfer von Frauenhandel besser stel-len. Die betroffenen Frauen sollen eine Abschiebefristvon mindestens vier Wochen erhalten. Der DeutscheFrauenrat hat in seiner Stellungnahme zum Aktionsplaneindringlich darauf hingewiesen, dass diese Regelunghöchstens 1 bis 2 Prozent der betroffenen Frauen zugutekommt. Es genügt auch nicht, den Frauen eine vierwö-chige Abschiebefrist zu gewähren und den wenigenFachberatungsstellen die Betreuung zu überlassen.Wir brauchen wirksamere Maßnahmen zur Bekämp-fung des Frauenhandels. Das setzt zuerst einen exakte-ren Begriff von Frauen- und Menschenhandel voraus. Esgeht nicht an, dass als Opfer von Menschenhandel nurgilt, wer in die Zwangsprostitution verkauft wurde.Auch Frauen, die zu Sklavinnen gemacht werden oderauf dem Heiratsmarkt feilgeboten werden, müssen alsMenschenhandelsopfer gelten.
Wir müssen den Frauen, die sich zur Aussage entschei-den, Möglichkeiten bieten, in Zeuginnenschutzpro-gramme aufgenommen zu werden. Ferner müssen sieeinen dauerhaften Abschiebeschutz bekommen; denn siewerden immer wieder durch Racheakte gefährdet sein. Wir müssen ein dichtes Netz von Beratungsstellenfür die Opfer von Frauenhandel, aber auch für Migran-tinnen allgemein ausbauen und fördern. Die Beraterin-nen und Berater müssen dringend ein Zeugnisverweige-rungsrecht bekommen, damit sie in der Lage sind, zu ih-ren Klientinnen tatsächlich ein Vertrauensverhältnisaufbauen zu können.
Sie können sich vielleicht vorstellen, dass es fürBeratungsstellen, die durchaus mit der Polizei koope-rieren, ohnehin problematisch ist, den Frauen, die zu ih-nen kommen, Vertrauen einzuflößen. Aber wenn die be-troffenen Frauen dann erfahren, dass die Beraterinnenmöglicherweise gezwungen werden, ihre Informationenden Ermittlungsbehörden preiszugeben, wird es nochschwieriger. Zu Recht hat der UNO-Ausschuss die Bundesregie-rung gemahnt, die Situation ausländischer Frauendringend zu verbessern; denn sie sind besonders vonDiskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt betroffen.Die Änderung des § 19 Ausländergesetz , die wir heutebeschließen wollen, geht zweifellos in die richtige Rich-tung und wir werden ihr zustimmen. Dennoch werdenwir weiter darum kämpfen, dass Frauen bereits mit derEheschließung hier ein eigenständiges Aufenthaltsrechtbekommen.Völlig unzureichend ist indessen das Vorhaben derBundesregierung, bei der Anerkennung geschlechtsspe-zifischer Verfolgung lediglich die Verwaltungsvor-schriften zum Ausländergesetz ein bisschen zu ändern.Wir brauchen stattdessen klare Regelungen im Asylverfahrensgesetz und im Ausländergesetz.
Die Beamtinnen und Beamten im Bundesamt für dieAnerkennung ausländischer Flüchtlinge müssen genausoRechtssicherheit haben wie die betroffenen Frauen, dassgeschlechtsspezifische Verfolgung hier künftig als Asylgrund gilt, und zwar unabhängig davon, ob es sichum staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung handelt.
Das ist menschenrechtlich orientierte Frauenpolitik. Diebrauchen wir. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in anderen Be-reichen der Frauenpolitik geht der CEDAW-Ausschussder UNO mit der Bundesregierung hart ins Gericht. Ichdenke, das geschieht zu Recht, wobei man immer wiederdarauf hinweisen muss, dass die Hauptverantwortungbei der abgewählten Bundesregierung liegt. Das betrifftinsbesondere die anhaltende Lohndiskriminierung vonFrauen, die Defizite bei der Vereinbarkeit von Berufstä-tigkeit und Elternschaft, die nach wie vor zögerliche Po-litik bei der Gleichstellung von Frauen in der Privatwirt-schaft und die besondere Benachteiligung ostdeutscherFrauen.Ich garantiere Ihnen: Solange all diese Formen ge-schlechtsspezifischer Diskriminierung existieren, wirdes keine Ruhe geben, weder bei den Betroffenen nochbei denen, die ihre Interessen vertreten und sich konse-quent auf die Forderung „Frauenrechte sind Menschen-rechte“ berufen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
nun der Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ganz beson-ders, dass wir heute im Deutschen Bundestag ein Gesetzin zweiter und dritter Lesung verabschieden, das denhier lebenden Migrantinnen einen besseren Schutz vorgewalttätigen Ehemännern verschafft.
Ich freue mich, weil dieses in sehr engem Zusam-menhang zur Nachfolgekonferenz der Weltfrauenkon-ferenz von Peking geschieht, die im Juni in New Yorkstattfindet. Dort wird überprüft, was die einzelnen Län-der zur Umsetzung der Plattform getan haben. Ich freuemich auch, dass dies in zeitlicher Nähe zum Internatio-nalen Frauentag geschieht, weil es eine wiederholte For-derung der Frauenbewegung und der Frauen am Inter-Petra Bläss
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8565
nationalen Frauentag gewesen ist, dass endlich der § 19des Ausländergesetzes mit Blick auf die ausländischenFrauen geändert wird.
Es ist noch nicht einmal drei Jahre her, dass ich imDeutschen Bundestag zur Novellierung des § 19 geredethabe. Es ging damals um einen mühsam gefundenenKompromiss, den die SPD-geführten Bundesländer überden Bundestag im Vermittlungsausschuss durchgesetzthatten. Das war vor drei Jahren ein Erfolg, weil erstmalsEhegatten – hier ging es insbesondere um Ehefrauen –unabhängig von der Aufenthaltsdauer und der Ehe-bestandszeit ein eigenständiges Aufenthaltsrecht im Fal-le außergewöhnlicher Härte in Aussicht gestellt wurde.Es ist uns leider nicht gelungen, das, was außergewöhn-liche Härte ist, im Gesetz zu definieren. Es war eben einKompromiss. Die Entscheidung ist uns nicht leicht ge-fallen. Wir – die damalige Opposition, aber auch viele inden Fraktionen der damaligen Regierungsparteien – wa-ren bereit, einen Weg mit zu gehen in der Hoffnung,mehr Schutz für Migrantinnen zu schaffen. Auch die Frauen- und Menschenrechtsorganisationen,die uns beraten haben, waren skeptisch. Es war einKompromiss. Es ging um eine Güterabwägung zwischendem, was wir erreichen wollten, und dem, was unter dendamaligen Mehrheitsverhältnissen möglich war.Wir in der SPD haben nie einen Zweifel daran gelas-sen: Wenn wir endlich die Mehrheit haben, dann werdenwir Gesetze verabschieden, die den Frauen in unseremLande einen besseren Schutz gewährleisten.
Mit dem jetzt zur zweiten und dritten Lesung anstehen-den Gesetzentwurf lösen wir dieses Versprechen ein. Ich sage hier einmal ganz deutlich: Der Schutz vorMenschenrechtsverletzungen darf nicht durch Angsteingeschränkt werden. Es kann nicht sein, dass die imGrundgesetz verankerten Werte wie die Würde desMenschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit,Gleichheit vor dem Gesetz und das Selbstbestimmungs-recht nicht für alle unabhängig von ihrer Nationalität,von ihrem Geschlecht oder von ihrer religiösen Zugehö-rigkeit gelten sollen. Deshalb müssen wir in unseremLande auch Migrantinnen, so gut es geht, vor ihren ge-walttätigen Ehemännern schützen und ihnen ein hohesMaß an Rechtssicherheit gewähren.
Ich bestreite nicht, dass sich auch mit dem im Vermitt-lungsausschuss gefundenen Kompromiss die Bedingun-gen für Migrantinnen in einer Reihe von Fällen verbes-sert haben. Es gab aber in der Praxis nicht in jedem Falleine Verbesserung. Für uns ist jeder einzelne Fall, fürden keine Verbesserung erreicht wurde, ein Fall zu viel. Ich erinnere hier an den tragischen Fall einer miss-handelten Kurdin aus Kempten in Bayern. Sie verlor ihrAufenthaltsrecht und wurde zusammen mit ihren zweiKindern abgeschoben, weil sie sich von ihrem Peinigerhatte scheiden lassen. Nach gerichtlichen Aussagen wardie Frau regelmäßig massiv geschlagen, an den Haarengezogen sowie mit Fußtritten und Faustschlägen malträ-tiert worden. Der Mann habe sie mit vorgehaltenemMesser gezwungen, die Sozialhilfe herauszurücken. Inder leeren Wohnung sei sie mit ihren Kindern ohne Es-sen zurückgelassen worden. Es hat uns schon alle er-schüttert, dass dies dem bayerischen InnenstaatssekretärHermann Regensburger nicht genug war, um diese Situ-ation als Härtefall anzuerkennen. Er hat gesagt: Einesehr unglückliche Ehe alleine begründet keine besondereHärte. Wenn wir dann hören, dass die Eingriffe in die Inte-grität der Betroffenen durch ihren Ehemann in ihrer In-tensität nicht das entsprechende Ausmaß erreicht hätten,fällt es schon schwer, hier jetzt auszusprechen, wie dieBayern besondere Härte definierten: Ein schwerer Falloder eine schwere Körperverletzung läge im Sinne desStrafgesetzes nur „bei Verlust eines wichtigen Gliedes,bei Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrank-heit oder auch bei dauernder Entstellung“ vor. Ich glau-be, Kolleginnen und Kollegen, dies alleine reicht, um zusagen: Damit muss endlich Schluss sein. So darf Härtenicht definiert werden. Das wollen wir den Frauen nichtzumuten.
Hilfsorganisationen, Beraterinnen, Mitarbeiterinnenaus den Frauenhäusern und auch wir mussten viel zu ofthilflos zusehen, wie Migrantinnen trotz der Neuregelungaus der Bundesrepublik ausgewiesen wurden. Brutalmisshandelte Migrantinnen lebten nicht nur weiterhin inAngst vor ihrem gewalttätigen Ehemann, sondern auchin Angst vor dem Staat, der sie je nach Auslegung desHärtefallbegriffs und je nach Bundesland auch noch inein Heimatland abschob, in dem ihnen erneut Verfol-gung und auch körperliche Misshandlungen drohten.Genau in diesem letzten Bereich, in dem, was derStaat tun kann, muss gehandelt werden. Wir könnennicht jede Frau vor ihrem gewalttätigen Ehemann schüt-zen. Wir können aber Rahmenbedingungen schaffen,damit die Frauen in diesem Lande wissen, dass sie,wenn sie Gewalt ausgesetzt wurden, hier uneinge-schränkten Schutz finden und wir ihren Schutz höheransetzen als eventuelle Furcht vor Missbrauch eines Ge-setzes. Ich glaube, da sind wir uns alle einig.
Wir beraten heute die Neuregelung des § 19 des Aus-ländergesetzes, damit endlich bundeseinheitlich geregeltwird, wann ein Härtefall gegeben ist, sodass Frauen imganzen Bundesgebiet vor Gewalt geschützt werden undwillkürliche Entscheidungen der Vergangenheit angehö-ren. Trotz der früheren Neuregelung wurde von Land zuUlla Schmidt
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8566 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Land unterschiedliches Recht gesprochen. Eine Umfragein den Frauenhäusern aus dem Jahre 1997 ergab, dassvon 67 Anträgen auf Anerkennung eines Härtefalls le-diglich 16 Anträge positiv entschieden wurden, davonentfielen allein 12 auf Nordrhein-Westfalen, das vonAnfang an durch eine Verwaltungsvorschrift außerge-wöhnliche Härte im Interesse der betroffenen Frauen sobestimmt hat, wie wir es damals – ich sehe gerade denKollegen Marschewski – im Deutschen Bundestag in-tendiert hatten. Es war unser Wille, dafür zu sorgen,dass die Definition, die wir in der Begründung des Ge-setzes hatten, auch eine bundeseinheitliche Auslegungmöglich macht. Leider hat es die alte Bundesregierungversäumt, dafür zu sorgen, dass die Definition des Här-tefalls in einer Verwaltungsvorschrift überall gültig ist.Das holen wir heute mit der neuen gesetzlichen Rege-lung nach.
Die Umfrage, die ich eben genannt habe, ist aberauch ein Beispiel dafür, wie engagierte Frauenorganisa-tionen, Initiativen, Verbände, Beratungsstellen undFrauenhäuser die Auswirkungen des § 19 Abs. 1 Aus-ländergesetz verfolgten. Deshalb freue ich mich ganzbesonders, dass viele dieser engagierten Frauen heuteauf der Besuchertribüne der zweiten und dritten Lesungder Novellierung des § 19 Ausländergesetz folgen. Ichkann ihnen von dieser Stelle aus sagen: Wir sind Ihnenfür Ihr Engagement dankbar, das uns Frauen im Parla-ment jahrelang begleitet und den Rücken gestärkt hat.Auch das hat uns geholfen, dass wir heute im DeutschenBundestag zu der Verabschiedung der Novelle kommen.
Zukünftig erhalten Migrantinnen ein eigenständigesAufenthaltsrecht bereits nach zwei Ehejahren. In Fällenbesonderer – nicht mehr außergewöhnlicher – Härtemüssen sie nicht mehr in einer unzumutbaren ehelichenGemeinschaft ausharren. Wenn sie die Rückkehr in ihrHerkunftsland härter als andere mit einer vergleichbarkurzen Dauer des Aufenthalts in Deutschland trifft, dannbekommen sie hier ein Aufenthaltsrecht. Besonderswichtig ist uns, dass auch der Bezug von Sozialhilfe inFällen, in denen Frauen mit ihren Kindern in ein Frau-enhaus gehen müssen und keiner Erwerbstätigkeit nach-gehen können, einer Aufenthaltsgenehmigung nicht ent-gegensteht. Die Frauen dürfen dann hier bleiben, wennsie die Umstände nicht selbst zu verantworten haben.
Gewalt gegen Frauen und Kinder müssen wir be-kämpfen. Wir alle wissen, dass Gewalt immer individu-elle und gesellschaftliche Ursachen hat. Wir als Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten haben uns zumZiel gesetzt, ein Klima zu schaffen, in dem Gewalt ge-gen Frauen und Kinder geächtet wird. Uns ist damiternst. Das sehen Sie an dem heute vorgelegten Aktions-plan und auch nicht zuletzt an dem vorliegenden Ge-setzentwurf zur Änderung des § 19 Ausländergesetz.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, ich wünsche mir, dass Sie mit derselben Ernst-haftigkeit, wie es auch schon die Kollegin Lenke für dieF.D.P. vorgetragen hat, an dieses Thema herangehenund mit uns gemeinsam den Gesetzentwurf verabschie-den. Wir alle sollten den hier lebenden Migrantinnen einStück mehr Sicherheit und Schutz in Deutschland geben.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kol-
legen Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen! Ich bitte um Nachsicht,dass ich als Mann zu diesem Thema heute spreche.
Ich habe aber gehört, dass ich von der F.D.P. Verstär-kung bekomme: Herr Stadler beabsichtigt, als zweiterMann zu diesem Thema zu sprechen. Gleichwohl werdeich mich bemühen, mit der gehörigen Sensibilität mitdem Thema umzugehen. Sie haben heute einen Aktionsplan zur Bekämpfungder Gewalt gegen Frauen präsentiert. Das ist ein gutesZiel, in dem wir uns alle einig sein könnten. Denn: Be-nachteiligt sind bestimmte Gruppen von Frauen, insbe-sondere ausländische Frauen, die zum Teil auf schändli-che Weise behandelt werden, die gedemütigt, geschla-gen und vergewaltigt werden. Denen muss geholfenwerden. Das ist auch unser Anliegen. Deswegen warenwir in der Union, insbesondere die Frauen in der Union,sehr bemüht, einen Kompromiss zu finden. Leider kames zu diesem Kompromiss nicht. Ich werde erläutern,warum.Es kam nicht zum Kompromiss, weil Sie das Ziel, dasrichtig ist, mit den falschen Mitteln angehen. Sie habensich nämlich § 19 des Ausländergesetzes herausge-sucht. Ein flüchtiger Blick in das Gesetz hätte Sie ei-gentlich schon belehren müssen. In § 19 wird von einemeigenständigen Aufenthaltsrecht für ausländische Ehe-gatten – geschlechtsneutral formuliert – gesprochen,
für Männer und Frauen, für gewalttätige Männer und fürnicht gewalttätige Männer aus dem Ausland, für Guteund für Schlechte. Das ist der Gegenstand des § 19.Aufgrund ihrer Undifferenziertheit ist diese Vorschriftfür das angestrebte Ziel untauglich.Ulla Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8567
Mit Ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewaltgegen Frauen verbessern Sie unweigerlich, ob Sie eswollen oder nicht, auch den Aufenthaltsstatus des aus-ländischen Ehegatten, der ein gewalttätiger Schläger ist.Ob Sie es wollen oder nicht, verbessern Sie auch denAufenthaltsstatus des Strolches, der eine Ehe er-schleicht. Sie verbessern auch den Aufenthaltsstatus desBetrügers, der Scheinehen eingeht. Das wollen Sie zwarnicht, aber Sie tun es.
Sie verbessern also unfreiwillig auch die Rechte vonausländischen kriminellen Männern. Sie machen siemächtiger und geben ihnen die Möglichkeit, leichter alszuvor ein eigenständiges Aufenthaltsrecht durch Instru-mentalisierung von Frauen zu erlangen. Das nennen Sie,Frau Sonntag-Wolgast, pathetisch einen „Aktionsplander Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt ge-gen Frauen“.Es gibt zwei Regelungen, zum einen eine Härtefall-regelung und zum anderen eine Fristenregelung. Ge-gen die Härtefallregelung hätten wir nichts ein-zuwenden. In diesem Punkt könnten wir uns rasch eini-gen – kein Problem. Wir haben immer ganz offen im In-nenausschuss darüber diskutiert, an welcher Stelle dieseRegelung verbesserungsfähig und verbesserungswürdigist. Aber die Verkürzung der Ehezeit von vier auf zweiJahre ist der Punkt, an dem wir aus Gründen, die ich Ih-nen jetzt nennen werde, nicht mitmachen können undwollen.Diese Regelung öffnet nämlich dem Missbrauch Türund Tor, weil bei einer Verkürzung auf zwei Jahre eineEinzelfallprüfung bekanntlich nicht mehr stattfindenkann und nicht mehr stattfinden darf. Ich muss Sie ausmeiner Praxis und aus meiner Erfahrung im Gesetzes-vollzug leider mit konkreten Einzelfällen belästigen. Ichweiß, Sie wollen nicht hören, dass in der Praxis auchdiese Fälle vorkommen. Aber ich muss es tun.Ein ausreisepflichtiges bosnisches Ehepaar hat ge-sagt: Wir wandern weiter in die USA. Daraufhin hat dieAusländerbehörde den Aufenthalt hier für mehrere Jahregeduldet. Plötzlich lässt sich das Ehepaar scheiden. DieBosnierin überlässt die Kinder dem bosnischen Mannund heiratet einen Deutschen. Sie kann also hier bleiben,muss nicht mehr weiterwandern und auch nicht mehr zu-rück nach Bosnien.
Die Ausländerbehörde erkundigt sich, ob der Bosniermit den Kindern nach Bosnien zurückgekehrt ist oder ober in die USA weitergewandert ist. Siehe da, sie stelltfest, dass auch der bosnische Ehemann eine Deutschegeheiratet hat. Jetzt haben wir also zwei Verheiratungenmit Deutschen, keine Weiterwanderung und keineRückkehr nach Bosnien.
– Fragen Sie einmal Ihre Praktiker in der Fraktion; siewissen, wie es zugeht. Der Herr Landrat Veit aus Gießenweiß, was in seiner Praxis alles vorgekommen ist.
Die Ausländerbehörde muss jetzt innerhalb von zweiJahren prüfen – das ist Ihr Gesetzesvorschlag –, ob hierzwei Scheinehen vorliegen. Ich sage Ihnen: Das gelingtder Ausländerbehörde nicht.
Man kann in zwei Jahren in aller Regel diese Prüfungnicht gerichtsfest abschließen. Scheinehen wird man imFalle einer Zwei-Jahre-Frist nur noch aufdecken können,wenn es zur Selbstanzeige eines Partners kommt, weilder andere seiner Unterhaltspflicht nicht mehr genügt.Das ist die Wirklichkeit in Deutschland.
Ich möchte Sie auf einen weiteren Umstand hinwei-sen. Wir alle wissen, dass es immer mehr Schleuser gibt,die ausländische Frauen nach Deutschland einschleusen,sie pro forma verheiraten, sie zur Prostitution zwingenund sie – nach Ihrer Zwei-Jahre-Regelung – nach zweiJahren legalisieren. Die Schleuser können dann neueFrauen hereinschleusen, um sie auch auf diese Weise zulegalisieren.
Insofern ermöglichen und begünstigen Sie kriminellenMenschenhandel, ohne es zu wollen.Ein dritter Gedanke. Vielleicht kennen Sie die Ent-schließung des EU-Rates – sie stammt vom 4. Dezember1997 – über Maßnahmen zur Bekämpfung von Schein-ehen. Dort wird genau aufgezählt, welche Faktoren beiScheinehen typischerweise vorliegen. Die EU verpflich-tet alle Mitgliedstaaten, dagegen vorzugehen. Das heißt,die Behörden müssen diesen Verdachtsmomenten nach-gehen. Die EU verpflichtet uns, die nationalen Gesetz-geber, dafür zu sorgen, dass die Entschließung des EU-Rates zur Bekämpfung von Scheinehen in nationalesRecht umgesetzt wird. Sie machen heute genau das Ge-genteil. Mit der Änderung der Fristenregelung von vierauf zwei Jahre sorgen Sie dafür, dass die Behörden inDeutschland Scheinehen nicht mehr aufdecken können,das heißt, dass Scheinehen nicht bekämpft, sondern er-leichtert werden. Das verstößt gegen europäischesRecht.Wenn Sie schon die Härtefallregelung erleichtert ha-ben, wofür wir Sympathie haben und dem wir zustim-men könnten, dann sollten Sie zugleich nicht die Ver-kürzung auf zwei Jahre vornehmen, weil Sie mit demAutomatismus von zwei Jahren jedem Ausländer – obgut oder böse, ob Mann oder Frau – ein Aufenthaltsrechtgeben.Dr. Hans-Peter Uhl
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8568 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Das wollen wir nicht, weil auch Fälle begünstigt wer-den, die nicht begünstigt gehören. Wenn sich einMensch nach einer zweijährigen Ehe scheiden lässt undauf diese Weise lebenslang zu einem Sozialfall wird, istdies eine Belastung des deutschen Steuerzahlers, die wirnicht einsehen. Dies führt zu einem Wohlstandsgefällezwischen Deutschland und Entwicklungsländern, zu ei-nem Anreiz, auf diese Weise nach Deutschland zukommen.Jedes Jahr kommen Hunderttausende Armutsflücht-linge, Ausländer im Wege des Familiennachzugs odergleich illegal nach Deutschland. Sie wollen heute mitdieser Zwei-Jahre-Frist einen zusätzlichen, neuen Ein-wanderungstatbestand durch Scheineheschließung errei-chen.
Ich möchte Ihnen noch einmal zwei Beispiele ausder Praxis nennen, damit Sie wissen, was Sie heute tun.Ich hatte in meiner Zeit einmal einen gewalttätigen Tu-nesier, der aus Deutschland wegen seiner Kriminalitätzu Recht ausgewiesen wurde. Wir waren froh, dass erweg war. In Tunis heiratete er eine Deutsche. Er durftealso wieder nach München einreisen. Aus der Ehe gin-gen zwei Kinder hervor. Unvorhersehbar hat er dieseKinder und die deutsche Ehefrau fortlaufend belästigt,im betrunkenen Zustand geschlagen und vergewaltigt.Die Strafverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr,Diebstahls und sexueller Nötigung reihten sich aneinan-der. Aber er war ja deutsch verheiratet. Die Ehefrau hatjeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Die gepeinigteFrau hat die Scheidung eingereicht – was sonst? Jetzt hatsie natürlich nur ein Ziel: Sie möchte vor diesem Men-schen geschützt werden. Wissen Sie, was Sie machen?Sie belohnen ihn, indem Sie ihm nach zwei Jahren Ehe –die Scheidung war danach – ein eigenständiges Aufent-haltsrecht geben, sodass er sie weiter peinigen, belästi-gen und vergewaltigen kann.
Sie müssen sich damit anfreunden, meine Damen undHerren. Sie können sich den Menschen nicht so schnit-zen, wie Sie ihn haben wollen. Sie schaffen Gesetze.Gesetze wirken abstrakt und generell: für Gute, für Bö-se, für Deutsche, für Ausländer, für Männer, für Frauen.Deswegen muss ich Sie mit der rauen Wirklichkeit kon-frontieren, damit Sie darüber noch einmal nachdenken. Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Fall, vielleichtwachen Sie dann auf. Ein Nigerianer wurde als Asylbe-werber abgelehnt und deswegen abgeschoben.
Kollege Uhl, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?
Ich möchte dieseFälle vortragen. Im Anschluss gerne.Ein Jahr nach dieser Abschiebung kam er doch zuseiner Aufenthaltserlaubnis; er hat nämlich eine deut-sche Touristin in Nigeria, im Standesamt in Lagos, ge-heiratet. Gleich nach seiner Wiedereinreise nachDeutschland erinnerte er sich: Ich habe hier ja noch eineFreundin aus der Heimat Nigeria; sie ist Asylbewerberinund ist noch nicht abgeschoben. Er hat darauf bestanden,dass seine nigerianische Freundin in die Wohnung, dieer mit seiner deutschen Ehefrau teilte, mit einzieht; alsolebten sie zu dritt.Die deutsche Ehefrau hat diesen Zustand natürlichabgelehnt – ich hoffe, Sie würden sich auch als Beschüt-zerin dieser Frau bewähren –; aber sie war erfolglos. DerMann war der Stärkere. Am Schluss ging die Deutschezur Polizei und reichte die Scheidung ein, nachdem siemehrmals geschlagen worden war. Das Ergebnis: Nachzweijähriger Ehe bekäme dieser Nigerianer ein eigen-ständiges unbefristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland.Das hätten Sie mit Ihrem Gesetz erreicht. HerzlichenGlückwunsch!Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Noch einmal:Sie haben hier einen Aktionsplan vorgelegt und wollenFrauen helfen. Das wollen auch wir. Aber mit diesemGesetzentwurf helfen Sie eben nicht nur Frauen, sondernauch den männlichen ausländischen Peinigern. Um die-sen Punkt geht es mir. Ich habe aufmerksam dem zugehört, was die Staats-sekretärin Sonntag-Wolgast zur Begründung der Frist-verkürzung auf zwei Jahre gesagt hat.
– In der Innenausschusssitzung. – Sie, Frau Sonntag-Wolgast, sagten, es sei bedeutsam, dass auch bei einerintakten Ehe die Begründung der Eigenständigkeit einerSeite erfolgen soll.Meine verehrte Frau Staatssekretärin, sicherlich ist esbedeutsam, dass man eine Eigenständigkeit bekommt.Aber, wie gesagt, das geschieht für beide: Auch der pei-nigende ausländische Ehemann bekommt eine Eigen-ständigkeit. Wollen Sie das wirklich? Haben Sie das zuEnde gedacht? Was Sie hier machen, das ist doch groberUnfug.Ihr Vorschlag ist keine Reform; stattdessen öffnenSie dem Missbrauch Tür und Tor. Sie verletzen europä-isches Recht. Sie betreiben eine verkappte Einwande-rungserleichterung. Von ihren ausländischen Ehemän-nern gepeinigte deutsche Frauen lassen Sie gänzlich imStich.
Anscheinend gehören diese Frauen nicht zum Kreisihrer Interessensgruppen, weswegen Sie sie außer Achtlassen. Denken Sie daran: Es gibt deutsche Frauen, dievon ausländischen Ehemännern gepeinigt werden kön-nen. Haben Sie davon schon einmal gehört?Dr. Hans-Peter Uhl
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Die Welt ist leider nicht so, dass es nur böse deutscheMänner und gute ausländische Frauen gibt. Ich habeschon von anderen Fällen gehört.
Ich hoffe, auch Sie. Wir machen hier Gesetze für alle:für die Guten und für die Bösen, für die Frauen und fürdie Männer, für die Deutschen und für die Ausländer.Denken Sie an den Ausgang und verharren Sie nicht beieiner einseitigen Fallgestaltung. Wir wollen in echtenHärtefällen helfen. Wo Frauen gepeinigt werden, da sindwir dabei zu helfen. Aber so, wie Sie vorgehen, geht esleider nicht.
– Indem wir die Härtefallregelung, so wie sie jetzt vor-geschlagen wurde, übernehmen, es aber bei der Frist vonvier Jahren belassen. Das ist die Antwort auf Ihren Zwi-schenruf.
– Auf vier Jahre. Härtefallregelung plus vier Jahre, dasist die beste Lösung. Das ist unser Kompromissangebot.
Ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass das Rechtangewandte Macht ist. Sie wenden heute – wir könnenSie davon nicht abhalten – Ihre Mehrheitsmacht an, weilSie ausländischen Frauen mehr Rechte geben wollen.
In Wirklichkeit geben Sie aber auch kriminellen auslän-dischen Männern mehr Macht über Frauen. Das wollenwir nicht; deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurfab.
Ich erteile nun derKollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Ihre Rede, Herr Dr. Uhl, hatuns einen sehr tiefen Einblick in das finstere Denkenund in den Hintergrund gegeben, mit dem Sie an dieFrage des Verhältnisses von Ausländern und Deutschenherangehen.
Sehr deutlich wurde das genau an den Fällen, die Siegeschildert haben. Hier lebt eine bosnische Flüchtlings-familie – oft seit vielen Jahren; wir wissen, dass derKrieg schon vor zehn Jahren begonnen hat –, die Men-schen trennen sich und es passiert das Normalste von derWelt: Es finden sich neue Partner und sie finden sich –weil diese Menschen nun einmal in diesem Land leben –mit Deutschen. Es werden neue Ehen geschlossen – dasNormalste von der Welt.Dieser Sachverhalt wird nun von Ihnen von vornhe-rein zu einer Scheinehen-Tatsache umdefiniert.
Das bedeutet, dass Sie gegenüber Migrantinnen undMigranten schon vom Grundsatz her mit einer Ver-dachtshaltung auftreten. Genau in diesem Punkte tren-nen wir uns wirklich voneinander. Wir gehen davonaus – die Kollegin Schmidt hat das sehr schön ausge-drückt –, dass die Menschenrechte und die Würde desMenschen für alle Menschen – unabhängig von der Na-tionalität – von Anfang an angenommen werden müssenund sich auch in unserer Rechtsordnung niederschlagenmüssen.
Deswegen ist es sehr gut, wenn wir heute im Zusam-menhang mit einem nationalen Aktionsplan zur Be-kämpfung von Gewalt gegen Frauen auch darüber re-den, welche neuen Rechte Migrantinnen und Migrantenzugestanden werden müssen, denn eines wissen wir:Gewalt wird vornehmlich gegen Abhängige ausgeübtund unser Ausländerrecht führt so, wie es jetzt aussieht,immer auch dazu, dass sich Frauen – und Migrantinnendann auch noch doppelt – in Abhängigkeiten befinden.Diese Abhängigkeiten so weit wie möglich zu lockernist das Ziel und der Inhalt des § 19 des Ausländergeset-zes in der Form, wie er jetzt in der zweiten und drittenLesung debattiert wird.
Sie denken in Kategorien von Scheinehen. Wir wis-sen, dass die Realität im Wesentlichen anders ist. Michbeunruhigen die Katalogehen, die es hier gibt – darüberhaben Sie nichts gesagt, Herr Kollege Uhl –, also dieFälle, in denen Männer Frauen missbrauchen. Ich habenoch nicht gehört, dass es Kataloge gibt, in denen Män-ner als Ehemänner angeboten werden. Ich meine also dieKatalogehen, bei denen Männer ausländische Frauenmissbrauchen und bei denen diesen Männern mit dembisherigen § 19 die Knute in die Hand gegeben wird, dieEhe aufrechtzuerhalten, der Frau zu sagen: Wenn dunicht aushältst, was ich dir antue, dann kann ich dichwegschicken!
Das ist die Knute, die ich in der Hand habe. – Da wir inKategorien der Gleichheit von Männern und Frauendenken, da wir auch Frauen Rechte geben wollen, wol-len wir den Männern diese Knute aus der Hand nehmenDr. Hans-Peter Uhl
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8570 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
und deswegen wird die Bestandszeit dieser Ehen vonvier auf zwei Jahre verkürzt.
Wir gehen davon aus, dass Partnerschaften und Ehengleichberechtigt sein müssen, und zwar egal, welche Na-tionalitäten zusammenkommen. Es geht um die Gleich-heit von Mann und Frau. Das heißt, dass Ehen auf derBasis von Freiheit aufrechterhalten werden müssen; erstdann kann eine Partnerschaft gleichberechtigt werden.Zu der Freiheit gehört auch das Recht zu gehen, HerrDr. Uhl. Ich weiß sehr gut, warum bei den Männernimmer diese Nervosität aufkommt, wenn es um dasRecht von Frauen geht zu gehen.
Deswegen sind Sie so starr gegen eine Reform des § 19:Es geht Ihnen nicht wirklich um den Schutz der Frauen,sondern es trifft viele Männer ins Mark, wenn sie aner-kennen müssen, dass das Recht auch für die Frauen sogestrickt ist, dass sie Freiheiten bekommen, dass sieEntscheidungsfreiheiten bekommen, dass sie in der Ehenicht alles aushalten müssen, weder eine physische nocheine psychische Misshandlung. Das ist der Inhalt diesesneuen § 19: die Freiheit zu bleiben, aber auch die Frei-heit zu gehen, wenn eine Ehe unerträglich wird – nichtnur für deutsche Frauen, sondern auch für Migrantinnenin diesem Land.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Hanna Wolf, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Uhl, nureinen Satz zu Ihnen: Es stört nicht, wenn Männer in die-ser Debatte das Wort ergreifen. Unerträglich ist nur, wasSie gesagt haben.
Ich finde es sehr schlimm, dass die CDU/CSU-FraktionSie heute hier hat reden lassen.
Mit dem Aktionsprogramm zur Bekämpfung vonGewalt gegen Frauen haben die Bundesregierung unddie sie tragenden Fraktionen ein Zeichen gesetzt. Damitwill die Bundesregierung in dieser Republik zum Aus-druck bringen, dass – es stimmt, Frau Falk, dass wir die-se Themen immer sehr engagiert zusammen beraten ha-ben – sie endlich etwas auf den Weg bringt und Gesetzemacht. Deshalb möchte ich meinen Dank an die Betei-ligten zum Ausdruck bringen: an die FrauenministerinChristine Bergmann, die Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, den Innenminister Otto Schily, die Bildungsmi-nisterin Edelgard Bulmahn, die EntwicklungsministerinHeidemarie Wieczorek-Zeul und auch den Arbeitsminis-ter Walter Riester. Alle haben ihren Beitrag zu diesemAktionsprogramm geleistet und Gesetzesvorschlägeunterbreitet. Deswegen mein herzlicher Dank, dassdieser Aktionsplan heute so einmütig von dieserBundesregierung getragen wird!
Es ist für mich eine besondere Freude, dass wir mitgroßer Mehrheit in diesem Haus § 19 des Ausländerge-setzes in der neuen Form verabschieden. Ich freue michauch sehr, dass die F.D.P. dies nach einer intensivenDiskussion – ich gebe zu, dass sie eine Verdeutlichungin das Gesetz hineingebracht hat – ebenfalls mitträgt.Frau Falk, es tut mir ein bisschen weh, dass Sie heutenicht mitstimmen,
obwohl wir in vielen Punkten, wenn auch nicht in allen,übereinstimmen. Aber wenn Herr Uhl hier eine solcheRede halten darf, gibt es, glaube ich, keine Chance fürFrauen aus Ihrer Fraktion, heute mit uns zu stimmen.Das finde ich schlimm!
Frau Falk, ich kann Ihnen leider nicht ersparen, dassich hier einmal der Wahrheit die Ehre gebe. Herr Merzist leider gegangen. Trotzdem muss ich sagen: Ja, es gabeine sehr dramatische, aber doch eindrucksvolle Debatteim Deutschen Bundestag, bevor wir für die Bestrafungder Vergewaltigung in der Ehe ein Gesetz verabschie-den konnten, wie es auch für die Bestrafung der Verge-waltigung außerhalb der Ehe eines gibt. Viele von Ihnenhaben sehr mutig mitgestimmt, gerade viele Frauen. Ichsehe einige, die dabei waren. Ich nenne einmal FrauKarwatzki, die das Gesetz mit vorangebracht hat. AberIhr neuer Hoffnungsträger und jetzt Fraktionsvorsitzen-der, Herr Friedrich Merz,
hat bei der Abstimmung über die Sanktionierung derVergewaltigung von Ehefrauen mit Nein gestimmt. Dasfinde ich ziemlich schlimm. Dass er nun auch noch IhrFraktionsvorsitzender ist, lässt befürchten, dass von die-sem Thema bei Ihnen noch nichts angekommen ist.
Eigentlich sollte er seine Meinung korrigieren und sichentschuldigen.Wir bringen heute Gesetze auf den Weg, einschließ-lich der Reform des § 19. Praktisch kurz vor demMarieluise Beck
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8571
Abschluss steht das Recht von Kindern auf ge-waltfreie Erziehung. Es ist für uns sehr wichtig, dass eswirklich als Recht von Kindern auf gewaltfreie Erzie-hung bezeichnet wird. Ich hoffe, dass wir da noch einenKompromiss finden werden. Die häusliche Gewalt sollendlich sanktioniert werden. Sie ist nämlich nicht einePrivatsache, sondern eine gesellschaftliche Angelegen-heit. Unsere Justizministerin wird sicherlich noch etwasdazu sagen.Frau Ministerin Bergmann hat klar und eindeutig da-rauf aufmerksam gemacht, dass Prävention, also Verhü-tung von Gewalt, eine große Aufgabe für uns alle indieser Gesellschaft ist: in den Schulen, um die alten Rol-lenklischees zu überwinden, in den Jugendzentren; über-all muss thematisiert werden, dass Gewalt geächtet ge-hört.
Wir haben auch angesprochen, dass wir endlich etwasgegen den Frauenhandel unternehmen wollen. DiesesThema wird auch von der Reform des § 19 des Auslän-dergesetzes mit erfasst. Wir brauchen das Zeugen-schutzprogramm und deswegen eine Abschiebefrist vonmindestens vier Wochen. Aber wir brauchen ebenso Hil-fen für die Frauen, die man nach Deutschland gelocktund dann in die Prostitution gezwungen hat. Ihnen mussauch in ihrem Heimatland geholfen werden. Es gibt jadie Zusammenarbeit zwischen den nicht staatlichen Or-ganisationen. Diese müssen wir stärken.
Wir brauchen – auch da waren wir in diesem Parla-ment einig – eine Gesetzgebung, die auch das Asylrechtdahin gehend präzisiert, dass Genitalverstümmelung alsGrund für das Recht auf Asyl anerkannt wird. Wir hof-fen, dass dies durch die europäische Gesetzgebung unddie Novellierung des Asylrechts ermöglicht wird. Ichdenke, dass wir uns darin einig sind.
Frau Kollegin Wolf,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?
Ja.
Frau Kollegin, ich möchte folgende Frage stellen: Wie
können Sie durch die Neuformulierung des § 19 des
Ausländergesetzes Frauenhandel verhindern? Diese Fra-
ge würde ich gerne von Ihnen beantwortet haben. Öffnet
nicht vielmehr Ihre neue Formulierung dem Missbrauch
Tür und Tor, und ist es nicht richtig, dass mit der derzei-
tigen Regelung des § 19 alle schwierigen Fälle – es mag
Fälle geben, die verwaltungsmäßig problematisch ent-
schieden worden sind – gelöst werden?
Alle Fälle werden
sicherlich nicht gelöst. Marieluise Beck hat ja darauf
hingewiesen, dass dieser Kataloghandel, also das Recht,
Frauen umzutauschen, oft deswegen ermöglicht wird,
weil die betroffenen Frauen kein eigenständiges Aufent-
haltsrecht haben. Das heißt, die Ehemänner kündigen
einfach die Ehe auf, wenn ihnen die Ehe nicht passt.
Damit erledigt sich für den Mann das Problem, und die
Frau wird ausgewiesen. Halten Sie das für richtig? Ich
denke, die Neuformulierung des § 19 des Ausländerge-
setzes ist ein Schritt, um ein solches Vorgehen zu be-
kämpfen.
Sind Sie denn nicht wie ich der Auffassung, dass gerade
dieser Fall des Frauenhandels durch den bestehenden
§ 19 des Ausländergesetzes voll und ganz geregelt wird,
und zwar zur Zufriedenheit der misshandelten Frau?
Frau Kollegin, es ist wirklich so. Deswegen ist der § 19
in der neuen Form überflüssig. Das wird Ihnen jeder
Fachmann, jeder Jurist sagen.
Daher frage ich Sie: Sind Sie nicht der Meinung, dass
die bestehende Regelung gerade im Hinblick auf die
Verhinderung des Frauenhandels voll und ganz aus-
reicht? Ich bitte darum, diese Frage ganz konkret zu be-
antworten.
Wir gehen davon
aus, dass sie nicht ausreicht. Wenn Sie meinen, sie rei-
che aus, dann sehen Sie das eben anders; aber auch dann
schadet die Neuregelung nicht.
Kollegin Wolf, ge-
statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Beck?
Ja.
Frau Kollegin, sind Sie mit mir der Auffassung, dass imGegensatz zu den Missbrauchsbefürchtungen von HerrnMarschewski der eigentliche Missbrauch dann besteht,wenn Männer mit ihren ausländischen Frauen, die siesich in einem Katalog ausgesucht haben, zum Notar ge-hen, die jeweilige Frau notariell auf alle Unterhalts-rechte verzichtet, der Mann mit der Ehe faktisch keineVerpflichtung eingeht und die betroffene Frau finanziell,aber auch ausländerrechtlich völlig schutzlos gestellt ist,wenn ihr Mann seine Machtstellung in der Ehe auslebt?Sollten wir nicht noch einmal darüber nachdenken, obdamit die Ehe sittenwidrigerweise ausgehöhlt wird undob in diesem Zusammenhang nicht eine Missbrauchs-regelung notwendig ist, die vielleicht auch von derCDU/CSU im Sinne eines Schutzes der Ehe bzw. in die-sen Fällen der Ehefrauen unterstützt wird? Hanna Wolf
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8572 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Herr Kollege Beck,
ich stimme voll mit Ihnen überein. Es wäre wirklich
angemessen – damit möchte ich auf den Vorwurf von
Herrn Uhl an sich selber dahin gehend, dass er hier als
Mann spricht, eingehen –, wenn sich angesichts dieses
Themas mehr Männer engagieren würden.
Letztendlich geht nämlich die Gewalt von den Männern
aus. Wer könnte Männern besser klarmachen, dass Ge-
walt geächtet werden muss? Männer können Männern
sehr viel besser sagen, dass es sich nicht gehört, so mit
Frauen umzugehen.
Das wäre eine große Hilfe. Folgenden Appell möchte
ich an das gesamte Parlament, an die Öffentlichkeit und
auch an alle Männer richten: Helft mit, dass Männer
Frauen nicht mehr mit Gewalt begegnen! Das wäre heu-
te ein gutes Signal, das wir nach außen geben können.
Ich möchte mit folgendem Hinweis schließen: Mit
der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bekämpfen
wir Gewalt als solche auch in unserer Gesellschaft. Ich
glaube, das bringt dieses Parlament heute mit dieser De-
batte zum Ausdruck.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächstdaran erinnern, dass die geltende Fassung des § 19 desAusländergesetzes in der letzten Legislaturperiode vomVermittlungsausschuss gestaltet worden ist, also faktischvon einer großen Koalition. Entsprechend sah das Er-gebnis aus: ein Zwitter, ein Formelkompromiss. SPDund Grüne konnten Verbesserungen des eigenständigenAufenthaltsrechts von geschiedenen Ehegatten für sichreklamieren, aber die Union, insbesondere die CSU,konnte mit gleichem Recht gegenüber ihrer Wähler-klientel behaupten, dass ausländische Ehegatten nach ei-ner Scheidung weiterhin ausgewiesen und abgeschobenwerden. Kurzum: Dies war eine in sich widersprüchlicheRegelung mit unklarem Inhalt, die in den Ländern zu ei-ner unterschiedlichen Verwaltungspraxis geführt hat.Das kann so nicht bleiben.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt daher dievorliegende Novelle des Ausländergesetzes insofern, alsdie so genannten Härtefälle, bei denen ein eigenständi-ges Aufenthaltsrecht unabhängig von Fristen zuerkanntwird, nunmehr präziser definiert sind. Fälle, wie inKempten geschehen – dieser Fall ist heute schon ange-sprochen worden –, sind künftig nicht mehr möglich.Dies ist gegenüber der Gesetzeslage von 1996 eindeutigein Fortschritt.
Der Koalitionsentwurf in seiner ursprünglichen Fas-sung hatte aber eine Widersprüchlichkeit der alten Rege-lung beibehalten wollen. Auf Betreiben Bayerns war1996 im Vermittlungsausschuss festgelegt worden, dasstrotz Vorliegens eines Härtefalls geschiedene ausländi-sche Ehegatten ausgewiesen und abgeschoben werdenkönnen, wenn sie sozialhilfeberechtigt sind. GrafLambsdorff hat dies damals als kleinlich und menschlichschäbig kritisiert. Wir schließen an seine Kritik an.Deswegen hat die F.D.P. im jetzigen Gesetzgebungsver-fahren darauf hingewirkt, dass diese Sozialhilfeklauselnur noch gilt, wenn der oder die Betroffene die Sozial-hilfebedürftigkeit selbst zu vertreten hat, also etwa beigrundloser Verweigerung der Annahme angebotenerArbeit. Dieser Änderungsantrag der F.D.P. war notwendig,weil man den Frauen – um diese geht es im Wesentli-chen – ansonsten Steine statt Brot gegeben hätte. Dannnämlich wäre es zwar zu einer auf dem Papier großzügi-geren Härtefallregelung gekommen, was aber durchBeibehaltung der alten Sozialhilfeklausel sofort wiederkonterkariert worden wäre; denn in den kritischen Fällenliegt meistens unverschuldete Sozialhilfebedürftigkeitvor. Den betroffenen Frauen hätte daher weiterhin Aus-weisung und Abschiebung gedroht.Wir stellen mit Befriedigung fest, dass unser Ände-rungsantrag in den Ausschüssen von allen Fraktionenmit Ausnahme der CDU/CSU unterstützt worden ist unddieser Gesetzentwurf somit gegenüber der Fassung ausder ersten Lesung im Interesse der Frauen in einemPunkt entscheidend verbessert worden ist.
Von einer Zustimmung zur gesamten Neuregelungtrennt uns aber die Frage, wie einem denkbaren Miss-brauch des eigenständigen Aufenthaltsrechts entge-gengewirkt werden kann. Die Koalition ist der Meinung,dass man einem solchen, immerhin denkbaren Miss-brauch in Normalfällen, nicht also in Härtefällen, mit ei-ner Fristsetzung von zwei Jahren Bestandsdauer der Ehein Deutschland entgegenwirken muss. Die F.D.P.-Fraktion meint, diese Frist sei zu kurz bemessen undsollte auf drei Jahre ausgeweitet werden. Dieser Teil unseres Änderungsantrages ist in denAusschüssen abgelehnt worden. Wir wiederholen ihndaher im Plenum in zweiter Lesung. Die F.D.P.-Fraktionmacht ihr Gesamtvotum vom Ausgang der Abstimmungüber diesen Änderungsantrag abhängig.
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8573
Nun erteile ich derBundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichglaube, es ist gut, wenn wir an einem Tag wie heute, ineiner Debatte, in der es insbesondere um die Bekämp-fung von Gewalt gegen Frauen geht, gemeinsam und öf-fentlich drei Feststellungen treffen. Erste Feststellung:Wir lehnen Gewalt ab, Gewalt ist unzulässig. Wir gehenalle gemeinsam entschlossen gegen sie vor.
Wir wissen genau, dass dies nicht nur eine Frage derMoral ist. Das betrifft vielmehr den Kern unseresSelbstverständnisses in unserem Rechtsstaat und auchunsere Rechtskultur.Zweite Feststellung: Der Staat hat zentral die Aufga-be, Schwächere zu schützen, ihnen gegen Gewalt zu hel-fen und damit dazu beizutragen, dass Gewalt allgemeinzurückgedrängt wird.
Die dritte Feststellung, die wir alle gemeinsam treffensollten, ist, dass Opfern von Gewalt und Schwächerengeholfen werden muss, dass das viel zu häufig Frauen,Kinder und in zunehmendem Maße auch Ältere sind unddass Gewalt viel zu häufig auch heute noch bzw. heutewieder in Familien stattfindet. Meine Damen und Herren, der Aktionsplan der Bun-desregierung macht sehr gut deutlich, dass wir Gewalt,gerade auch Gewalt in der Familie, mit unterschiedli-chen Instrumenten, mit unterschiedlichen Mitteln undauf unterschiedlichen Wegen bekämpfen müssen, wennwir erfolgreich sein wollen. Diese rot-grüne Bundesre-gierung hat sich zum Ziel gesetzt, erfolgreich zu sein.Das sind wir den Schwächeren und den Opfern schuldig.
Meine Damen und Herren, ich habe mich über das,was die Kollegin Falk zur Gewalt in der Familie gesagthat, sehr gefreut. Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz.Darauf sollten wir unsere gemeinsame Politik über dieParteigrenzen hinweg aufbauen. Aber lassen Sie micheines hinzufügen: Gewalt in den Familien ist aus mehre-ren Gründen besonders problematisch. Sie ist über dasLeiden der Opfer hinaus problematisch. Warum ist siedas? Sie ist es, weil wir ganz genau wissen, dass Gewaltdort gelernt und weitergegeben wird. Frau Falk, Kinderwerden nicht gewalttätig oder als Schläger geboren,sondern sie werden durch eigene leidvolle Erfahrungenund schlechte Vorbilder zu Gewalt gebracht, sie werdendurch Gewalttätige und Schläger zu Gewalt und auf dieschiefe Ebene gezogen. Genau deshalb müssen wir hiereingreifen.
Wir müssen auf verschiedenen Ebenen aber auch da-durch eingreifen, dass wir Gewalt in der Erziehung,Gewalt als Erziehungsmittel durch Gesetz ächten. Wirmüssen dies allen Menschen, die dies noch nicht wissenund uns zuhören, klarmachen und mit ihnen besprechen.Wir zielen damit auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit,wir zielen auf den guten Willen der Eltern, zu erkennen,dass man mit Gewalt nichts erreicht, außer Menschengewaltgeneigter zu machen. Erziehung findet dadurchnicht statt. Es ist richtig, die Fähigkeit zur Erziehung zustärken. Auch das ist Teil der Politik dieser Bundesre-gierung. Dazu brauchen wir natürlich auch die Eltern.Wir brauchen aber auch die Jugendämter, wir brauchenalle, die guten Willens sind. Aber Erziehung und Erzie-hungsfähigkeit zu stärken ist das eine, deutlich zu ma-chen, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört, ist dasandere. Das können wir als Bundesgesetzgeber sehrdeutlich machen.
Wir wollen auch deutlich machen, dass ErziehungFördern und Fordern bedeutet, dass Erziehung bedeutetVorbild zu sein, dass Erziehung bedeutet, das Selbstbe-wusstsein von Kindern zu stärken, und dass Erziehunghin zu Solidarität, zu Menschlichkeit, aber auch zuSelbstbewusstsein und demokratischem Verhalten füh-ren muss. Gerade darauf, meine Damen und Herren vonder Opposition, müssen Kinder ein Recht haben, wennes wirksam sein soll.
Deshalb werben wir auch bei Ihnen für das Gesetz zurÄchtung von Gewalt in der Erziehung. Wir müssen auch auf anderen Wegen gegen Gewaltvorgehen. Wir müssen den Opfern helfen. Deshalb ha-ben wir das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich ge-macht. Deswegen haben die Justizministerinnen undJustizminister auf europäischer Ebene endlich Maßnah-men zur Verhinderung und Bekämpfung des Frauen-handels eingeleitet. Natürlich dauert das lange. Natür-lich ist das kompliziert. Aber wir haben einen Anfanggemacht, und mit der Unterstützung des gesamten Hau-ses, des gesamten Parlaments, werden wir ein Stückweiter kommen.
Das Nächste ist deshalb der Gesetzentwurf, den ichheute hier vorstelle und der jetzt in das parlamentarischeGesetzgebungsverfahren kommt. Frau Falk, ich dachteübrigens, dass heute der richtige Zeitpunkt und derDeutsche Bundestag der richtige Ort ist, um das zu tun.Gerade deswegen haben wir unser Gewaltschutzgesetzvorgelegt und wollen es als Teil des Aktionsplans, dervon der Kollegin Bergmann vorgestellt wurde, gegenGewalt einsetzen. Dr. Max Stadler
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8574 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Was erreichen wir damit? Wir verstärken den zivil-rechtlichen Schutz für gequälte und geschlagene Frau-en. Wir haben im Zivilrecht heute schon einige Mög-lichkeiten. Ansprüche auf Unterlassung, auf Schadener-satz, auf Schmerzensgeld und bisweilen auch – bei Vor-liegen der Voraussetzungen – auf Zuweisung der ge-meinsamen Wohnung. Aber wir wissen genau, dass dieDurchsetzung dieser Ansprüche im täglichen Lebenbisweilen zu viel Mühe erfordert. Die Durchsetzung derAnsprüche müssen wir erleichtern und ergänzen und dasversuchen wir. Wie machen wir das? Unser Gesetzentwurf sieht zweiwesentliche Dinge vor: einmal die Erleichterung derWohnungszuweisung – –
Liebe Kollegen undKolleginnen, wir werden offensichtlich darüber infor-miert, was wir gerade behandeln. Ein herzliches Danke-schön!
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Lassen Sie mich noch einmal da beginnen, wowir von der Stimme aus dem Hintergrund unterbrochenwurden. Wie machen wir das? Wir tun das durch zweiwesentliche Neuerungen. Einmal erleichtern wir dieWohnungszuweisung. Das ist gut und richtig. Bisher –seit in den siebziger Jahren; und es war schwer, das da-mals durchzusetzen, – hatten geschlagene Frauen undderen Kinder letztlich nur noch die Möglichkeit, insFrauenhaus zu gehen. Es ist ein Glück, dass es die gibt.Frauenhäuser sind dringend nötig und jeder, der seinenBeitrag dazu leisten kann, sie zu unterstützen, muss diestun.
Aber eigentlich empört sich da doch unser Rechtsbe-wusstsein. Ich bin ganz sicher, dass auch das über dieFraktionen und Parteien dieses Hauses hinweg so ist. Esempört unser Rechtsbewusstsein, wenn das Opfer, diegeschlagene Frau, ins Frauenhaus flüchten muss, wäh-rend der Täter, der Schläger, der prügelnde Mann, derden Mietvertrag unterschrieben hat, die Wohnung behal-ten darf.
Weil uns das empört und weil es nicht richtig ist und derAufgabe des Staates, Schwächeren zu helfen, geradezuins Gesicht schlägt, sagen wir: Wir drehen das um undverpflichten den Schläger zu gehen, während die Ge-schlagene bleibt.
Das ist das Ziel. Dazu brauchen wir die Möglichkeit derErleichterung der Wohnungszuweisung. Als Zweites schaffen wir die Möglichkeit für neuegerichtliche Anordnungen, Menschen, insbesondereprügelnden Männern, vorzuschreiben, wie sie sich inZukunft nicht mehr verhalten dürfen. Wir schaffen dieMöglichkeit, durch Anordnung Hausverbote und Beläs-tigungsverbote sowie Verbote, sich geschlagenen Ehe-frauen oder den Kindern zu nähern, auszusprechen. Wirsanktionieren das bei Nichteinhaltung der Anordnungmit Ordnungsgeld und unter Umständen Ordnungshaft. Ich sage hier ganz offen: Es steht noch nicht fest, obwir nicht später, wenn die Praxis das verlangt, mit Buß-geld – oder Strafvorschriften nachlegen müssen. Das al-les wird noch zu diskutieren sein. Eines ist aber auf je-den Fall wichtig: Solche Anordnungen werden nicht nurdann ergehen, wenn bereits geschlagen wurde bzw. –wie die Juristen es nennen – die Verletzung bereits er-folgt ist. Wir setzen die Bedrohung mit der Verletzunggleich. Deswegen soll es auch vorbeugend Anordnungentreffen. Ich glaube, dass ist genau das, was wir brauchen.
Wir wissen genau: Die Österreicher haben damit guteErfahrungen gemacht. Sie haben auch deshalb gute Er-fahrungen gemacht, weil sie nicht nur Gesetze geänderthaben, sondern weil es ihnen gelungen ist, mit der Öf-fentlichkeit und auch mit gutwilligen Männern – alsogenau auf die Weise, die die Kolleginnen Schmidt undWolf hier vorgetragen haben – in das Bewusstsein derMenschen und der Männer hinein zu wirken und Ände-rungen zu erreichen. Das haben auch wir vor.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt ei-nen Teil vermissen, den Frau Falk angesprochen hat.Auch ich will dazu etwas sagen. In Österreich sind Jus-tiz und Polizei Aufgaben der zentralen Regierung. Dortkönnen vorläufige polizeiliche Wegweisungsrechte aufBundesebene geregelt werden. Wir können das nicht.Wir haben den Ländern schon vor mehr als einem hal-ben Jahr geschrieben und sie gebeten, zu überprüfen, obund gegebenenfalls wie polizeiliche Wegweisungsrechterechtsstaatlich verwirklicht werden können. Ich schließemich Ihrem Appell an die Länder, so wie ich ihn ver-standen habe, an, sehr schnell in die Prüfung einzutreten.Selbstverständlich helfen wir gern dabei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungensind, wie gesagt, gut. Wir möchten, dass dieser Aktions-plan über den heutigen Tag hinaus ernst genommenwird, dass darüber beraten wird und dass wir mit einermöglichst breiten Unterstützung des Deutschen Bundes-tages in der Öffentlichkeit sagen können: Wir schützenSchwächere und wir sind gegen Gewalt. Das ist das Sig-nal für die Öffentlichkeit, das wir brauchen. Herzlichen Dank. Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8575
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Änderung des Ausländergesetzes.
Zur Abstimmung hat die Kollegin Jelpke eine schrift-
liche Erklärung abgegeben.*)
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/2917 vor, über den wir zuerst ab-
stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der
F.D.P.-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Stimment-
haltungen? – Damit ist der Änderungsantrag mit den
Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der
Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und einige
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der PDS-Fraktion sowie einigen Stim-
men aus der F.D.P.-Fraktion und einer Stimme aus der
CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der Mehrheit
der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimmenthaltungen
aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, von
Bündnis 90/Die Grünen, der PDS-Fraktion, einigen
Stimmen aus der F.D.P.-Fraktion und zwei Stimmen aus
der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der großen
Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimment-
haltungen aus der F.D.P.-Fraktion angenommen worden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2812 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
und der Fraktion der CDU/CSU
Modernes europäisches Asyl- und Ausländer-
recht
*) Anlage 4
– Drucksache 14/2695 –
Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheit der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeord-
neten Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund einer Initia-tive der CDU/CSU-Bundestagsfraktion debattieren wirheute über die Frage, was die Bundesrepublik Deutsch-land gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäi-schen Union unternehmen muss, um die dringend not-wendige Harmonisierung des Asyl- und Ausländer-rechts zügig voranzutreiben.
Die Erörterung unseres Antrages kann jedoch nicht iso-liert von anderen ausländer- und asylrechtlichen Fragenerfolgen, die uns hier im Parlament, aber auch und vorallem die Menschen im Lande intensiv beschäftigen.Wir haben uns in den vergangenen Jahren viel zulange mit der Erörterung der Frage beschäftigt, obDeutschland nun ein Einwanderungsland sei odernicht. Ob man die Bundesrepublik als Einwanderungs-land bezeichnet oder nicht, ist ausschließlich eine Frageder Definition, ohne dass mit der Beantwortung der Fra-ge mit Ja oder Nein irgendein Erkenntnisfortschritt odergar eine sachliche Problemlösung verbunden wäre. ImGegenteil: Wer sich ständig nur mit dieser Frage be-schäftigt und sie je nach politischer Interessenlage mit Jaoder Nein beantwortet, gerät leicht in die Gefahr, diewirklich wichtigen Fragen des deutschen Asyl- und Aus-länderrechts sowie einer europäischen Harmonisierungauf diesem Gebiet zu vernachlässigen.Man kann diese Frage deskriptiv oder normativ be-antworten. Wer die Ansicht vertritt, dass jedes Land einEinwanderungsland ist, in das Angehörige ausländischerStaaten einreisen, um sich dort auf Dauer niederzulas-sen, der wird bei einer Zahl von über 7 Millionen Aus-ländern selbstverständlich behaupten, dass Deutschlandein Einwanderungsland ist. Wer mit guten Argumentendie Auffassung vertritt, dass man richtigerweise nur sol-che Länder als Einwanderungsländer bezeichnen könne,die sich gezielt und nachhaltig um Einwanderung bemü-hen, der kann die Bundesrepublik selbstverständlichnicht als Einwanderungsland bezeichnen,
da wir spätestens seit dem Anwerbestopp aus dem Jahre1973 aus guten innerstaatlichen Gründen nicht mehr umZuwanderung werben.Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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8576 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Angesichts des Umstandes, dass wir uns durch dieErörterung dieser Frage seit langer Zeit rhetorisch im-mer wieder im Kreise drehen, plädiere ich mit Nach-druck dafür, dass wir uns alle gemeinsam von Schlag-worten und Überschriften lösen
und uns stattdessen mit Inhalten, also mit den Problemenund Chancen unseres Landes beschäftigen.
Eine ähnlich skurrile Debatte führen wir derzeit zudem Thema Videoüberwachung von öffentlichen Räu-men. Niemand in der Union denkt daran, die Republikeiner flächendeckenden Videoüberwachung zu unterzie-hen. Es geht nur um die Frage, ob Videoeinsatz an eini-gen ausgewählten Kriminalitätsbrennpunkten sinnvollsein könnte – und wenn ja, wie man datenschutzrecht-lichen Bedenken Rechnung tragen kann. Um alles ande-re geht es bei dieser Frage nicht. Ich bin der festen Über-zeugung: Die Menschen in der Republik sind es leid,dass wir uns nicht selten um des Streites willen streiten;sie verlangen stattdessen von uns, dass wir Problemenicht nur analysieren, sondern auch lösen.
Was wir gerade auf dem ebenso wichtigen wie sen-siblen Gebiet des Ausländer- und Asylrechts benötigen,ist eine von jeder Ideologie befreite Erörterung der Fra-ge: Was ist gut und notwendig für die Zukunft unseresLandes und die Menschen, die hier leben? Ich bin sehrdafür, dass wir Debatten zur Ausländerpolitik zwar nichtemotionslos, aber dass wir sie ruhig und sachlich führen.
Aber es kann nicht sein, dass bestimmte Sachverhaltenur von Sozialdemokraten, aber nicht von den Mitglie-dern der Union erwähnt werden dürfen, weil es dann so-fort eine straff organisierte Empörung der politisch Kor-rekten gibt.
Der Bundesinnenminister hat vor einigen Monatenvöllig zutreffend festgestellt – ich zitiere –:Die Grenze der Belastbarkeit der Bundesrepublikdurch Zuwanderung ist überschritten.Rustikal formuliert: Das Boot ist nicht nur voll, sondernüberfüllt.Meine Damen und Herren, was wäre eigentlich pas-siert, wenn sich ein Innenminister von CDU oder CSUderart geäußert hätte? – Mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit wäre eine Welle der Empörungdurch unser Land gegangen, vorneweg die Sozialdemo-kraten, und vermutlich wäre Ausländerfeindlichkeit derallermildeste Vorwurf gewesen.
Doch wenn der Kollege Jürgen Rüttgers nur zutref-fend darauf hinweist, dass es wesentlich sinnvoller ist, indie Ausbildung unserer Kinder und die Qualifizierungvon Erwerbslosen zu investieren, statt in den Ent-wicklungs- und Schwellenländern dringend benötigteFachkräfte abzuwerben, muss er sich den Vorwurf gefal-len lassen, dies sei – so Müntefering wörtlich – „Hetzegegen Minderheiten“.
Auf diesem Niveau kann man auf SPD-Parteitagen Er-regungszustände organisieren, aber man löst kein einzi-ges Problem.
Es ist für uns immer von Interesse, was ein Innenmi-nister öffentlich äußert. Aber uns und die deutsche Öf-fentlichkeit interessiert viel mehr, was er eigentlich un-ternimmt, um unser Land von der von ihm persönlichdiagnostizierten Überbelastung zu entlasten. All das,was wir an konkreter Politik erleben oder an Planungenerfahren, deutet nicht auf Begrenzung, sondern auf einenstärkeren Zuzug hin. Beispielhaft erwähnen möchte ich die so genannte li-beralere Visapolitik. Sie soll eine Abkehr von der Poli-tik der Union sein, unter deren Regierung – so Ihr Vor-wurf – das Verhindern illegaler Einreise sehr stark imVordergrund gestanden habe. Jawohl, wir wollten nicht,dass Besuchsvisa für einen illegalen Daueraufenthaltmissbraucht werden. Das soll jetzt geändert werden. ImKlartext: Der Innenminister stellt fest, dass die Grenzeder Belastbarkeit überschritten ist. Der Kollege Außen-minister organisiert gleichzeitig eine Abkehr von demZiel, die illegale Einwanderung durch Visamissbrauchso weit wie eben möglich zu unterbinden. Zum Themenkomplex „Straffälligkeit von Auslän-dern und deren Konsequenzen“ steuerte unser heutigerBundeskanzler als damaliger Ministerpräsident von Nie-dersachsen mit der ihm eigenen Präzision und Sensibili-tät unter anderem Folgendes bei: Beim organisierten Autodiebstahl sind die Polennun einmal besonders aktiv. Das Geschäft mit derProstitution wird beherrscht von der Russenmafia.Wer das Gastrecht missbraucht, für den gibt es nureins: Raus, und zwar schnell. Bleiben Sie ruhig. Er ist Ihr Kanzler.Man darf gar nicht daran denken, was in unseremLand geschehen wäre, wenn sich ein Politiker der Unionso geäußert hätte. Wie hat sich der Bundeskanzler tat-sächlich verhalten? Unsere Vorschläge für ein strengeresRecht zur Ausweisung von ausländischen Straftäternwurde auch von ihm im Parlament abgelehnt. Wir brau-chen eine ruhige, ideologiefreie Istanalyse, mit demZiel, Ursachen von Fehlentwicklungen zu vermeiden.
Durch die seit Jahrzehnten andauernde starke Zu-wanderung, insbesondere von Asyl begehrendenWolfgang Bosbach
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8577
Ausländern und Bürgerkriegsflüchtlingen, trägt unserLand eine Last, die es auf Dauer nicht tragen kann. FrauKollegin Beck, Sie können ganz entspannt bleiben. Ichkenne die Zahlen und weiß, dass der Fortzug von Aus-ländern in den beiden letzten Jahren sogar stärker warals der Zuzug. Ich möchte keine falschen Sachverhaltevortäuschen. Aber unter den – im Saldo – 90 000 Aus-wanderern waren 89 000 bosnische Bürgerkriegsflücht-linge, die man nur einmal in ihr Heimatland zurückfüh-ren kann. In den letzten zehn Jahren betrug der durch-schnittliche Nettozuzug 200 000. Das macht nach AdamRiese einen Nettozuzug von 2 Millionen innerhalb einesZeitraumes von zehn Jahren. Das muss man sagen dür-fen. Das hat mit latentem Rassismus überhaupt nichts zutun.
Dies ist insbesondere nachteilig für die Menschen, diezu uns kommen und von denen die meisten auf Dauermit uns gemeinsam leben werden. Ein starker Zuzug istin aller Regel nicht integrationsfördernd, sondern inte-grationshemmend. Wenn für die Zukunft unseres Landesirgendetwas von überragender Bedeutung ist, dann ist eseine gelungene Integration aller Migranten, die dauer-haft und rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschlandleben möchten. Deshalb wollen wir den Zuzug vonNicht-EU-Ausländern weiter begrenzen.Wir wollen innerhalb der EU eine gerechtere Vertei-lung derjenigen Belastungen, die mit der Aufnahme ei-ner großen Zahl von Asyl begehrenden Ausländern undBürgerkriegsflüchtlingen zwangsläufig verbunden sind.Wir wollen und müssen auf allen staatlichen Ebenen dieBemühungen um eine bessere und schnellere Integrationder hier rechtmäßig und dauerhaft lebenden Ausländernverstärken. Dazu haben wir im vergangenen Jahr einschlüssiges und kluges Konzept vorgelegt. Es wurde oh-ne inhaltliche Auseinandersetzung oder fundierte Sach-kritik von Rot-Grün niedergestimmt. Von Alternativenfehlt derzeit jede Spur. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derKoalition, unsere Sorgen hinsichtlich einer Überbelas-tung der Aufnahme- und Integrationskapazität unseresLandes nicht teilen, so darf ich an ein Zitat von WillyBrandt erinnern: Es ist notwendig geworden, dass wir uns sorgsamüberlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Ge-sellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft undVerantwortung Halt gebieten. Dieses Zitat stammt aus dem Jahre 1973, als der Aus-länderanteil in der Bundesrepublik Deutschland um einDrittel geringer war als heute. Natürlich muss und wird ein reiches Land wie dieBundesrepublik Deutschland auch zukünftig aus huma-nitären Gründen politisch Verfolgten oder von Kriegund anderen Katastrophen Heimgesuchten Zuflucht bie-ten. Das ist gar keine Frage. Es geht doch nur um dieGrößenordnung und darum, dass wir nicht alleine undauf Dauer eine Last tragen können, die die meisten eu-ropäischen Länder nicht tragen können oder nicht tragenwollen. Wir können nicht alle Probleme dieser Welt aufdem Boden der Bundesrepublik lösen, ohne unser Landund die hier lebenden Menschen zu überfordern.Deshalb sagen wir in unserem Antrag: Es muss vor-rangiges Ziel der EU-Politik sein, die Fluchtursachenvorbeugend in den Herkunftsländern, in den Krisen-regionen zu bekämpfen. Das hilft den betroffenen Men-schen und es vermeidet unkontrollierte Wanderungsbe-wegungen. Es wird höchste Zeit, dass wir uns nicht heute mit je-ner und morgen mit einer ganz anderen ausländerrechtli-chen Frage beschäftigen. Vielmehr müssen wir uns ein-mal ideologiefrei mit der Beantwortung der Frage befas-sen: Welche Ausländer- und Zuwanderungspolitik ist imInteresse der Bundesrepublik Deutschland und der Men-schen, die hier leben? Ich füge hinzu: Es ist ganz gleich,welche Staatsangehörigkeit sie haben.In diesem Zusammenhang muss auch die Frage er-laubt sein, ob wir uns auf Dauer unser derzeitiges welt-weit einzigartiges Asylrecht erlauben können, obwohlwir genau wissen, dass die Anerkennungsquote bei nurcirca drei Prozent liegt und dass die Rückführung derrechtmäßig abgelehnten Asylbewerber oft mit großenProblemen verbunden oder ganz und gar unmöglich ist –von den Vorkommnissen in Bremen, über die sich dieMenschen zu Recht empören, ganz zu schweigen.Niemand in der Union will das Asylrecht abschaffen.Aber wer es auf Dauer für die wirklich politisch Ver-folgten erhalten will, muss bereit sein, es so zu reformie-ren, dass ein ganz überwiegender Missbrauch von97 Prozent so weit wie eben möglich verhindert werdenkann.
Deshalb sollten wir einmal in aller Ruhe ohne gegen-seitige Schuldzuweisungen darüber nachdenken, ob esaus vielfältigen Gründen nicht wirklich notwendig wäre,das derzeitige individuelle Asylgrundrecht in eine insti-tutionelle Garantie abzuändern. Ich halte es für möglich,dass wir dann, wenn wir die gerade geschilderten Pro-bleme einer Lösung zuführen, neue Spielräume für Zu-wanderung aus einem wohlverstandenen eigenen natio-nalen Interesse gewinnen: zur Behebung eines Fachkräf-temangels für Investoren und Wachstumschancen fürForschung und Lehre. Aber wir können nicht gleichzeitig – das ist unserPunkt – einen ungesteuerten und unsteuerbaren Zuzugbeibehalten, im europäischen Vergleich überproportio-nale Lasten tragen, durch Verwaltungsvollzug Einreise-anreize schaffen und darüber hinaus weltweit 10 000oder mehr Arbeitnehmer anwerben.Wir wollen auch vorurteilsfrei die Absicht – unter derÜberschrift Green Card – diskutieren, eine neue Zu-wanderung von Fachkräften im Interesse der deutschenWirtschaft zu organisieren, wohl wissend, dass dieseIdee nichts mit der US-amerikanischen Green Card zuWolfgang Bosbach
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8578 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
tun hat. Der Kanzler hat sich das wohl so vorgestellt,dass EDV-Spezialisten aus Osteuropa oder dem indi-schen Subkontinent für fünf Jahre in die Bundesrepublikeinreisen – ob mit oder ohne Familie, schauen wir mal.Während dieser Zeit legt sich die Wirtschaft mächtig insZeug und bildet aus. Wenn dann die Aus- und Fortge-bildeten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, gehendie Angeworbenen am nächsten Tag wieder nach Osteu-ropa oder Indien zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hiernicht über seelenlose Roboter, sondern über Menschen.
Die Erfahrungen der Vergangenheit lehren uns, dassnicht alle, aber sehr viele Arbeitsmigranten bei Frist-ablauf nur einen einzigen Wunsch haben, nämlich den,auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben zu können. DerWunsch ist menschlich verständlich. Er kollidiert abermit der richtigen Feststellung des Innenministers, dassdie Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung über-schritten sind.Will die Bundesregierung, dass sich die Menschenund die Familien bei uns integrieren? Wenn ja, wie kannman sie dann nach Fristablauf – nach dem Motto: DerMohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann ge-hen – wieder nach Hause schicken? Wenn nein, kann ei-ne Desintegration in unserem Interesse sein? Wir sindnicht aus Prinzip oder Ideologie gegen die Initiative.Aber wir haben viele Fragen und wir erwarten, dass siehier im Parlament erörtert und entschieden werden, be-vor die Bundesregierung Fakten schafft, die nicht mehrzu ändern sind.
Welche Institution hat wann und auf welche Art undWeise präzise ermittelt, welche Computerspezialistengenau und wie viele Fachkräfte in der Branche fehlen,die auf absehbare Zeit weder in der Bundesrepubliknoch in der EU für die Besetzung freier Arbeitsplätzegewonnen oder ausgebildet werden können? Welche geradezu revolutionäre Entwicklung hat eseigentlich in den vergangenen sechs Wochen – sechsWochen, nicht sechs Jahren! – auf dem deutschen Ar-beitsmarkt gegeben? Die Frage stellt sich deshalb, weilder Kollege Johannes Singhammer Anfang des Jahresdie Bundesregierung gefragt hat, ob sie daran denke, ir-gendwelche Änderungen bei der Zulassungsbeschrän-kung für ausländische Arbeitskräfte vorzunehmen.Anfang Februar 2000 hat die Bundesregierung dieseFrage verneint: Es sei gegenwärtig nicht daran gedacht,irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, die den Zugangzum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern können. Ichfrage also: Was hat sich in den letzten sechs WochenRevolutionäres ereignet?
Die „Rheinpfalz“ hat in der Ausgabe vom 10. Märzgemeldet, dass in Rheinland-Pfalz 500 offenen Stellen inder informationsverarbeitenden Wirtschaft 1 100 ar-beitssuchende Datenverarbeitungsfachleute gegenüber-stünden. Warum ist die Arbeitsmarktlage in Rheinland-Pfalz auf diesem Sektor eine völlig andere als im Restder Republik? Welche Argumente gibt es dafür, dass die Beschäfti-gung von ausländischen Arbeitnehmern nur einer einzi-gen Branche gestattet werden soll, nicht jedoch gleich-zeitig anderen Branchen, die ebenfalls über Fachkräfte-mangel klagen? Anders formuliert: Warum soll ein Zu-zug für die Pflege von EDV-Programmen möglich sein,nicht aber ein Zuzug zur Pflege von alten und krankenMenschen?
An einem einzigen Tag konnte man in drei verschie-denen Zeitungen drei verschiedene Zahlen über denFachkräftemangel auf dem Computersektor lesen. Andiesem Tag waren beispielsweise 60 000, 70 000 bzw.100 000 im Angebot. Nach Lage der Dinge ist davonauszugehen, dass die Zahl der fehlenden Fachkräfte mitder Dauer der Debatte steigt. Angenommen, die Zahl 60 000 ist richtig: Wenn aber,wie angekündigt, zunächst nur 10 000 Einwanderungser-laubnisse erteilt werden sollen, wer bzw. welche Behör-de entscheidet dann nach welchen Kriterien, welcherBetrieb wie viele Zuwanderungs- und Arbeitserlaubnisseerhalten soll? Wer garantiert, dass kleine und mittelstän-dische Unternehmen im Wettlauf um die Spezialistendie gleichen Chancen haben wie IBM? Angenommen, dass nach Fristablauf viele Arbeits-migranten auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben wol-len, aber nicht mehr benötigt werden: Wer soll dann dieRückführung organisieren? Machen das die Betriebeoder handelt auch hier der Bundeskanzler höchstpersön-lich? Wieso kann das Bildungssystem Osteuropas oderIndiens etwas leisten, was angeblich weder das deutschenoch die Bildungssysteme in allen anderen EU-Ländernleisten können?
Kann es im Interesse der Entwicklungs- oder Schwel-lenländer sein, wenn eine reiche Industrienation wieDeutschland dort die besten Fachkräfte abwirbt?
Meine Damen und Herren, im Jahre 1973 betrug dieZahl der Arbeitslosen im Durchschnitt 274 000. DieseZahl war so hoch, dass sich die sozialliberale Bundesre-gierung veranlasst sah, einen Anwerbestopp zu erlassen.Heute registrieren wir 4 Millionen Arbeitslose, darunter32 000 Computerfachkräfte. Wir wollen gar nicht ver-hehlen, dass es auch gute Argumente für die Aktion ge-ben kann. Es gibt aber auch berechtigte Zweifel an derSinnhaftigkeit. Von daher sollte dieses Thema im Deut-schen Bundestag und nicht im Verwaltungsvollzug ent-schieden werden. Es mag zulässig sein, die gewünschteNovellierung der so genannten Anwerbestoppausnah-Wolfgang Bosbach
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8579
nahmeverordnung am Parlament vorbei zu organisieren.Das entspräche jedoch nicht der Intention des Gesetz-gebers und auch nicht dem Sinn und Zweck dieser Ver-ordnung. Der Kollege Wiefelspütz hat in der Zeitung „DieWelt“ auf die zukunftsweisende Bedeutung der Initiativehingewiesen; er wird in diesem Zusammenhang wiefolgt zitiert: Sie macht klar, dass Ausländer für die deutsche Ge-sellschaft sehr nützlich sein können.Dann zieht er folgenden Vergleich:Im Fußball haben wir das schon lange begriffen.Lieber Herr Wiefelspütz, ich greife Ihren Vergleich ger-ne auf. Wir beide sind begeisterte Fußballfans, wir freu-en uns beide, wenn Giovane Elber oder Zé Roberto amBall sind. Ihre sportlichen Leistungen haben dazu beige-tragen, dass Bayern München und Bayer Leverkusen dieTabelle anführen.
Aber, Herr Wiefelspütz, der Vergleich hinkt. Sie könnennicht ernsthaft behaupten, dass die hohe Zahl ausländi-scher Fußballspieler in der Bundesliga dazu beigetragenhat, dass auch unsere Nationalmannschaft stärker ge-worden ist.Das Gegenteil ist der Fall. Aber auch unsere National-mannschaft müsste Ihnen am Herzen liegen.Deswegen dürfen wir die Diskussion nicht auf dieFrage verkürzen, was in einer bestimmten Situation fürein bestimmtes Wirtschaftsunternehmen oder, um bei Ih-rem Beispiel zu bleiben, für einen Fussballklub vorteil-haft sein kann, sondern wir müssen immer auch die Fra-ge stellen, welches Interesse unser Land und die hier le-benden Menschen haben.
In diesem Sinne bieten wir der Bundesregierung undden Koalitionsfraktionen eine offene und ehrliche De-batte und eine konstruktive Zusammenarbeit über alleFragen an, die für die Zukunft unseres Landes wichtigsind.Danke fürs Zuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Rüdiger Veit.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Auch wenn dieses Angebot noch sofreundlich gemeint und formuliert wurde, können wirnicht darauf zurückkommen; ich bitte dafür um Nach-sicht. Die von der CDU/CSU für die Harmonisierungdes Asyl- und Ausländerrechts auf europäischer Ebenegenannten Gesichtspunkte offenbaren nicht nur einigeknackige Widersprüche in sich und untereinander, son-dern sie beinhalten auch eine Reihe von auffällig unauf-fälligen Selbstverständlichkeiten, etwa Regelungen, dieentweder schon im geltenden deutschen Recht vorhan-den sind oder aber sich in vielen europäischen Doku-menten wiederfinden, seien es nun Beschlüsse des Eu-ropäischen Parlaments, des Rates, der Kommission oderseien es Bestimmungen des Amsterdamer Vertragesvom 2. Oktober 1997 oder die Schlussfolgerungen vonTampere aus dem Oktober 1999.Was also ist das politische Ziel und mithin die wahreAbsicht dieser, wie ich finde, etwas zweifelhaften par-lamentarischen Initiative der CDU/CSU? Es deutet sichin der Begründung des Antrags an, aber auch in denAusführungen des Kollegen Bosbach, soweit er sichnicht mit dem aktuellen Thema Green Card oder mitFußball befasst hat. Von der neu gewählten Fraktions-spitze, von den Herren Merz und Bosbach, ist Ihre Inten-tion laut „Tagesspiegel“ von gestern ausdrücklich ange-sprochen worden. Das gilt auch für die Äußerungen Ih-res innenpolitischen Sprechers Marschewski von ges-tern.Es geht der CDU/CSU nicht um etwas wirklich „Mo-dernes“, wie es in dem Antrag steht, auch nicht um eineechte „Harmonisierung“ im positiven Sinne und offen-bar schon gar nicht um die wirksame Verwirklichungvon Flüchtlings- und Menschenrechten nach europä-ischen Maßstäben oder denjenigen des Grundgesetzes.Ganz offensichtlich geht es der CDU/CSU um die Ab-schaffung des individuellen, subjektiven und damit aucheinklagbaren Grundrechtes auf Gewährung von politi-schem Asyl, um eine radikale Abschottung gegenüberFlüchtlingen und Zuwanderern und um ein Abdrückeneines Teils unserer historisch bedingten Verantwortungfür Verfolgte in aller Welt in andere Staaten der Europä-ischen Union. Das ist inakzeptabel.
Das wird unsere Billigung nicht finden, sondern ebensoabgelehnt, wie andere Initiativen im letzten Jahr abge-lehnt worden sind, die Sie, Herr Bosbach, angesprochenhaben. Das haben wir nicht getan, weil wir parlamenta-rische Macht ausüben wollten, sondern weil wir Inhaltezurückweisen mussten, die Sie für richtig halten.Offenbar will nach dem Vorbild des einzigen Lügnersunter den derzeit amtierenden deutschen Minister-präsidenten, den man in voller Legitimität so bezeichnenkann und muss, also des Herrn Koch, der mithilfe eineran Ausländerfeindlichkeit appellierenden Unterschrif-tenaktion zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft an dieMacht gekommen ist, nunmehr Herr Rüttgers, der alserster den Antrag unterschrieben hat – er hat auch dasStichwort „Kinder statt Inder“ gegeben, das wir bean-standet haben –, den Wolf der ausländerfeindlichen Ge-sinnung unter dem Schafspelz der Europafreundlichkeitverbergen. Aber man kann den Wolf noch erkennen.Man merkt die Absicht und man ist verstimmt, meineDamen und Herren.
Wolfgang Bosbach
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8580 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Ja, es ist wahr: Deutschland hat im europäischenVergleich bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus demfrüheren Jugoslawien Beispielhaftes geleistet, sehr vielmehr als viele andere europäischen Staaten getan. Daswar gut und richtig.
Insgesamt muss man natürlich im europäischen Konzertirgendwann einmal zu vernünftigen Lastenverteilungenkommen.Genauso wahr ist aber auch – das sage ich an dieAdresse von Herrn Dr. Uhl, der in der Debatte vorhinvon Hunderttausenden gesprochen hat, die zu uns ge-kommen sind –, dass zwar in den Jahren 1991, 1992 und1993 300 000 bis 400 000 Asylsuchende zu uns ge-kommen sind, dass aber diese Zahlen in der Zeit danachdrastisch und ständig rückläufig waren und bis zum heu-tigen Tage sind. In 1998 und 1999 lag die Zahl, Herr Dr.Uhl, unter 100 000. Sie betrug im Jahr 1999 93 000.Und auch dieser Punkt muss richtig gestellt werden:3 bis 4 Prozent wurden in diesen Jahren als Asylberech-tigte durch das Bundesamt anerkannt. Alle Erfahrunglehrt, dass ungefähr noch einmal die gleiche Zahl vordeutschen Gerichten anerkannt wird. Darüber hinauswird gerne verschwiegen, dass der Abschiebeschutznach den §§ 51 und 53 des Ausländergesetzes etwa6 Prozent der Menschen zugesprochen wird. Dieser An-teil erhöht sich noch einmal im Laufe der gerichtlichenVerfahren.Wenn man dann noch die Zuwanderungen berück-sichtigt, die mit Genehmigungen nach dem Ausländer-gesetz oder die im Rahmen der Freizügigkeit aus EU-Staaten erfolgen, dann verstehe ich nicht, lieber HerrMarschewski, wie Sie in der „Berliner Zeitung“ von ges-tern behaupten können, dass 95 Prozent – so war IhreAussage – aller Ausländer illegal nach Deutschland kä-men. Wie Sie auf diese Zahl kommen, bleibt Ihr Ge-heimnis.Wann werden Sie in der CDU/CSU-Fraktion endlicheinmal erkennen – der erste Ansatz ist eben von HerrnBosbach gemacht worden –, dass wir einen so genanntenNegativsaldo in der Wanderungsbilanz haben, und zwardergestalt, dass in den beiden zurückliegenden Jahreneinige Zigtausende Menschen mit ausländischem Passmehr Deutschland verlassen haben, als zu uns gekom-men sind? Wie wollen Sie denn mit Ihren Abschottungs-tendenzen diesem Umstand Rechnung tragen?Sie sind, wie ich eingangs sagte, dabei auch noch insich widersprüchlich. Sie verlangen zwar in Ihrem An-trag – ich finde, zu Recht – die Definition des Flücht-lingsbegriffes nach Maßgabe der Genfer Flüchtlings-konvention, aber dabei ist vermutlich Ihrer Aufmerk-samkeit entgangen, dass zwar das europäische Regel-werk keinen individuell einklagbaren Rechtsanspruchauf Asyl enthält, dass aber der Flüchtlingsbegriff nachder Genfer Flüchtlingskonvention sehr wohl erheblichweiter geht als geltendes deutsches Recht. Dies gilt imHinblick auf die Frage, ob subjektive Verfolgungsfurchtals Asylgrund ausreichen kann, wenn sie objektiv be-gründbar ist, und ob nicht staatliche und geschlechtsspe-zifische Verfolgung als Grund anerkannt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Veit,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege, Sie sprechen von Widersprüchen bei der
CDU/CSU-Fraktion. Was sagen Sie aber zu den Äu-
ßerungen unseres verehrten Herrn Bundesinnenminis-
ters, der gesagt hat – Kollege Bosbach hat zu Recht dar-
auf hingewiesen –, erstens sei die Grenze der Belastbar-
keit überschritten und zweitens müsse das subjektive
Asylrecht geändert werden? Was sagen Sie zu dieser
Äußerung? Welche Auffassung hat die SPD-Fraktion zu
dieser Äußerung des Herrn Bundesinnenministers?
Ich halte diese Äußerung des
Bundesinnenministers nicht für zutreffend und teile sie
nicht. Mit Ihrer Erlaubnis wende ich mich wieder Ihren
Widersprüchen zu. Unsere Widersprüche lassen Sie un-
sere Sorge sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ja.
Wollen Sie damit sagen, dass die Äußerung von Herrn
Schily falsch ist und dass Sie diese Äußerung verurtei-
len? Ist auch die SPD-Fraktion dieser Meinung? Welche
Konsequenzen wird die SPD-Fraktion aus der Diskre-
panz zwischen den Auffassungen von Schily und von
Ihnen ziehen?
Ich sage dazu hier und auch an
anderer Stelle meine Meinung und werde auch nicht
müde, diese Meinung zu wiederholen. Ich respektiere
auch andere Auffassungen; auch mit Ihrer Auffassung
muss ich mich ja auseinander setzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Veit, es
gibt vom Kollegen Uhl den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage.
Ja, bitte. Aber das ist die letzteFrage, die ich zulasse.Rüdiger Veit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8581
Herr Kollege Veit,
Sie sind ja ein Mann der Praxis. Sie waren 13 Jahre
Landrat im Landkreis Gießen. Dort hatten Sie mit Aus-
länderrecht im Vollzug zu tun.
So ist es.
Innenminister
Schily hat gesagt, das Problem liege im Asylverfahren,
in der subjektiven Einklagbarkeit des Grundrechts auf
Asyl, in der Möglichkeit, das Verfahren zu verschlep-
pen, Folgeanträge zu stellen und damit das Verfahren
über Jahre hinauszuziehen.
Wenn Sie die Meinung des Innenministers Schily nicht
teilen, frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass Ihre
hier vertretene abweichende Position die Meinung Ihrer
früheren Mitarbeiter im Landratsamt Gießen ist?
Ich darf Ihnen sagen, dass es
von Seiten der SPD einen eindeutigen Beschluss des
Bundesparteitages in Berlin gibt, der besagt: Wir halten
an dem individuell einklagbaren Rechtsanspruch auf
Gewährung von politischem Asyl in Deutschland fest.
Das ist gut so. Das ist richtig so. Das sieht die SPD-
Fraktion insgesamt auch so. Von daher bin ich der
Überzeugung, dass auch meine früheren Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter das genauso sehen, die sich im Üb-
rigen im Landratsamt und in der zentralen Abschiebebe-
hörde auch mit anderen Fluchtgründen und Flüchtlingen
haben auseinander setzen müssen.
– Sie waren nicht alle Sozialdemokraten, aber unter
meiner Führung wurden es ständig mehr, wenn Sie das
beruhigt.
– Ich warte noch auf das Ende Ihrer Zurufe, weil es viel-
leicht noch etwas Lustiges zu erwidern gibt.
Ich komme auf den zweiten Widerspruch zurück, von
dem ich meine, ihn in Ihrem Antrag zu erkennen, und
über den der Kollege Bosbach wenig geredet hat. Ich
nehme aber an, dass wir das im Ausschuss tun werden.
Der zweite Widerspruch liegt darin, dass Sie Flücht-
linge möglichst bereits außerhalb der Grenzen der EU
zurückhalten wollen, sie dort Asylanträge stellen sollen,
womöglich dann abgelehnt werden und gar nicht mehr
in das Gebiet der EU einreisen dürfen. Ist Ihnen dabei
entgangen, dass Art. 33 der Genfer Flüchtlingskon-
vention das so genannte Refoulmentverbot enthält, also
das Zurückweisungsverbot, um es auch für die Zuhörer
einzudeutschen? Das beinhaltet den Rechtsanspruch
auch eines hier Asyl suchenden Flüchtlings, in Europa
einzureisen und seinen Anspruch geltend zu machen,
und zwar egal woher er kommt.
Außerdem – das möchte ich Ihnen auch vorhalten –
sprechen Sie in der Begründung von der Menschen-
rechtskonvention. Haben Sie übersehen, dass der Euro-
päische Gerichtshof gerade in der jüngsten Zeit – das
halte ich für sehr beachtlich und für sehr wichtig – den
einklagbaren Abschiebeschutz für Flüchtlinge unter Be-
rufung auf die Art. 3 und 8 der Menschenrechtskonven-
tion eindeutig ausgeweitet hat?
Schließlich muss ich Sie noch daran erinnern, dass
der Amsterdamer Vertrag – den hat bekanntlich der
frühere Bundeskanzler und nicht Gerhard Schröder un-
terschrieben – ausdrücklich festlegt: Wir brauchen auf
europäischer Ebene Mindestnormen für die Aufnahme
von Asylbewerbern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Veit,
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Danke sehr. Ich komme sofort
zum Ende. – Wir brauchen Mindestnormen für die An-
erkennung als Flüchtling, Mindestnormen für das Asyl-
verfahren, Mindestnormen für den vorübergehenden
Schutz. Das ist unsere Aufgabe, nicht etwa der Abbruch
weiter gehender nationaler Rechte. Diesen Bemühungen
erteilen wir jedenfalls eine klare Absage.
Ich muss zum Schluss kommen: Wir werden daher
Ihren Antrag ablehnen.
Wir werden uns darum bemühen, dass auch auf euro-
päischer Ebene, wo es das nicht gibt, das individuelle,
subjektive Recht eines Einzelnen, Asyl zu gewähren,
verankert werden kann.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wir führen in diesem Hauseseit Jahren Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungsdebat-ten. Der Bundesinnenminister hat ein Vokabular ge-braucht, das der Herr Kollege Bosbach vorhin zu Rechtmit der kritischen Bemerkung belegt hat: Hätte sich je-mand aus dem konservativen Spektrum der Bundesre-publik dieser Wortwahl bedient, wäre er öffentlich an-geklagt worden.
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8582 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Der Bundeskanzler hat dem Bundesinnenminister zu-weilen assistiert. Seine Politik schwankt eigentlich zwi-schen grüner und roter Karte, je nach Belieben.
Die Grünen haben das Scheunentor BundesrepublikDeutschland immer offen gehalten und wissen genausowie wir, dass die Probleme aller Welt nicht auf dem Bo-den der Bundesrepublik Deutschland gelöst werdenkönnen.
Die Kollegen der CDU/CSU haben aus meiner Sichtin den letzten Jahren eine Debatte geführt, die überflüs-sig war. Herr Bosbach hat das heute Morgen zum erstenMal zugegeben. Wir brauchen nicht darüber zu diskutie-ren, ob wir ein Einwanderungsland sind. Die Debatteist gänzlich überflüssig. Die Menschen kommen zu uns.Deshalb ist das Vokabular nicht die Streitfrage.
Wir diskutieren – das hat der Kollege Veit wieder ge-tan – seit Jahren das Thema: Wie gestalten wir dasGrundrecht auf Asyl aus, wenn es manche gibt, die esanders denn als Individualrecht ausgeprägt sehen wol-len?Jeder hier weiß: Asylverfahren in Deutschland dauernlange. Die Unerträglichkeit des Bewerberverfahrens istjedem klar vor Augen geführt worden. Wir halten unsmit Flughafenregelungen und mit Widersprüchen auf.Unser Rechtsmittelstaat ist bis zum Ende ausgefeilt.Manchmal bescheiden wir einem Menschen, dass er hierkein Asyl genießt, obwohl er schon so lange bei uns ist,dass es fast menschenunwürdig ist, dies zu tun.Es herrscht überhaupt keine Klarheit. Die letzte Akti-on des Bundeskanzlers mit der Green Card zeigt das imÜbrigen. Er hat wohl in Hannover gestanden und für dieinformationstechnologische Branche etwas zugesagt,über dessen bildungspolitische, zahlenmäßige undmenschliche Konsequenzen er sich gar nicht im Klarengewesen sein kann, als er die Zusage gegeben hat.
Wir haben 1998 und danach diesem Hohen Hause ei-nen Gesetzentwurf über eine Zuwanderungsbegren-zung vorgelegt, den Sie alle im Innenausschuss abge-lehnt haben, obwohl Sie genauso wie ich wissen: Wirbrauchen ein Einwanderungsgesetz.
– Es ist völlig egal, wie Sie das nennen. Nennen Sie es„Einwanderungssteuerungsgesetz“! Die BundesrepublikDeutschland braucht eine gesetzliche Grundlage, umnicht in solchen Mechanismen wie der Green Card zulanden. Diejenigen Menschen, die zu uns kommen wol-len, müssen wissen, woran sie sind.
Herr Veit, das heißt, dieses Land braucht eine Ein-wanderungspolitik, egal ob wir es als Einwanderungs-land bezeichnen oder nicht.
– Ich habe nie behauptet, dass die letzte Regierung trotzunserer Anstrengungen eine glückliche Einwanderungs-politik gemacht hätte. Aber Ihnen darf ich vorhalten: Siemachen überhaupt keine!
Deshalb sollten wir ganz vorurteilsfrei diskutieren kön-nen, meine Damen und Herren von der parlamentari-schen Linken. Sie wissen genauso wie ich: Es gibt in Deutschlandeine begrenzte Anzahl von Wohnungen; es gibt eine be-grenzte Aufnahmekapazität von Schulen in Deutschlandund es gibt einen begrenzten Arbeitsmarkt in Deutsch-land. Wer das nicht beachtet, der legt sozialen Spreng-stoff. Wir haben das an verschiedenen Orten schon ge-spürt.
Daher ist es doch gut, wenn wir einmal Trennendesbeiseite legen und jetzt den Versuch unternehmen, unsauf eine gesetzgeberische Beratung zu konzentrieren, dienicht immer beim Asylrecht, bei der grünen Karte oderbei Segmenten endet, sondern parteiübergreifend eineRegelung für die Einwanderung nach Deutschland aufden Weg bringt, in die die Arbeitsmarktlage plus dieAsylbewerberzahl eingebettet ist. Anders kann mannicht verfahren. Da unser Gesetzentwurf noch im Ausschuss liegt,können wir ihn jederzeit wieder hervorholen. Wenn erauf Bedenken stößt, dann gehen wir darauf ein. Die Zeitist reif für ein solches Gesetz. Ich sage das auch, weilwir im letzten Jahr unter großen Anstrengungen die ge-sellschaftlich wichtige Frage einer modernen Staatsan-gehörigkeit gesetzlich geregelt haben. Lassen Sie uns indiesem Jahr die gesellschaftlich wichtige Frage derWanderungsbewegung nach Deutschland unter eine kla-re gesetzliche Norm stellen.
Es wäre gut, wenn wir das täten, weil es im legitimen In-teresse unseres Landes liegt, zu bestimmen, wie viele zuuns kommen können und wer zu uns kommen kann.
Auch jede andere große Demokratie dieser Welt behan-delt das so.Dieses Vorgehen beinhaltet im Übrigen den größtenRespekt vor den Zukunftschancen derer, die zu unskommen. Sie kommen nicht nur mit der Green Card fürein paar Jährchen, und dann als isolierte Arbeitnehmer;vielmehr stehen deren Familien im Hintergrund, sieDr. Wolfgang Gerhardt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8583
entwickeln gesellschaftliche Bezüge und sie können nurkommen, wenn die Integrationsfähigkeit unserer Gesell-schaft in der Schule, beim Wohnen und auf dem Ar-beitsmarkt kräftig genug ist, um ihnen eine Integrationanzubieten.Deshalb ist die isolierte Diskussion – heute über dasIndividualrecht auf Asyl, morgen über die Green Card,überhaupt über alles, aber bei Gott und der Welt nichtüber das Wichtigste, nämlich über eine gesetzliche Ein-wanderungssteuerungsregelung – so kurzatmig und sofalsch.
Ich biete allen Fraktionen namens der Freien Demokra-ten an, dass wir uns jetzt auf eine Einwanderungsrege-lung verständigen. Sie liegt ja auch vor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Ja, klar.
Herr Gerhardt, erkennen
Sie nicht an, dass wir die Chance der Initiative des
Kanzlers – bei einem Thema, das in Deutschland sehr
polarisierend debattiert wird, das verständlicherweise
und vielleicht auch, leider Gottes, angstbesetzt ist – zu
einer rationalen Debatte auf diesem Sektor nutzen soll-
ten?
Herr Gerhardt, ich anerkenne, dass Sie aus der Oppo-
sition heute auf eine rationale Ausländerpolitik ganz of-
fenbar mehr Einfluss haben, als Sie in der Regierung
hatten. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren Beitrag
zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie haben
aus der Opposition einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie
könnten dies auch jetzt tun. Aber bitte: Nicht die Sache
zerreden! Die Initiative des Kanzlers hat, wie ich finde,
ein Denkverbot aufgebrochen, das sich viele auferlegt
haben, vielleicht auch der eine oder andere von uns.
Es ist die Chance, rational darüber zu reden: Was
bringt dieses Land weiter? Was nutzt diesem Land? Das
dürfen wir genau so tun, wie andere Gesellschaften es
auch tun, aber bitte nicht im Zusammenhang mit Asyl
und sonstigen Fragen. Und bitte – Sie sind ein erfahre-
ner Politiker, Herr Gerhardt – überfrachten Sie nicht die
Debatte, –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Wiefelspütz,
würden Sie bitte Ihre Frage formulieren?
– damit sie nicht vor die
Wand gefahren wird.
Ja, ich bin gegenalle diese Vermutungen, die Sie mir gegenüber äußern,wirklich gefeit, Herr Kollege Wiefelspütz. Ich überfor-dere die Debatte nicht; ich will sie nur auf den Kernbringen. Ich nehme auch gern die Green-Card-Initiativedes Bundeskanzlers mit Ihrem Hinweis auf, er habe eineArt Denkverbot durchbrochen, und bemühe mich, weiterzu denken als der Herr Bundeskanzler.
Deshalb führt mich das Ende der Debatte eben nicht zueiner isolierten Green-Card-Regelung. Wir gehen ja fairmiteinander um; Sie können ruhig wieder Platz nehmen. Ich möchte die Gelegenheit Ihrer Frage auch nutzen,um zu sagen, was mich zu meiner Wortmeldung heuteMorgen veranlasst hat. Es geht mir darum, die Debattenicht allein den Fachsprechern der Fraktionen zu über-lassen, die sich immer mit Asylfragen beschäftigen,
sie nicht allein den Arbeitsmarktpolitikern zu überlas-sen, die nur den Arbeitsmarkt betrachten. Dieses Hausmuss jetzt mit einer politischen Debatte über die Ein-wanderung nach Deutschland reagieren und muss dannüber ein Gesetz reden. Das ist unser Angebot. Daraufwill ich hinaus.
Deshalb möchte ich Ihnen in dieser Debatte aber nocheinmal erläutern, dass einige Argumente, die bisher vor-gebracht worden sind, nicht stimmen. Sie haben in denAusschussberatungen gesagt – das hat mich bei Rotgrüngewundert; diese kleine Polemik gestatten Sie mirwohl –, das Gesetz bringe zu viel Bürokratie mit sich.Wer die Scheinselbstständigkeitsgesetzgebung und die630-DM-Gesetze gemacht hat, bei dem wundert michdieses Argument doch.
Aber sei es, wie es ist. Wir machen es natürlich gernschlanker und erwarten Anregungen.Sie sagen, für die Zuwanderung empfehle es sichnicht, jetzt eine nationale Regelung zu treffen; man müs-se ohnehin nach dem Amsterdamer Vertrag auch mitvielen anderen Mechanismen auf europäischer Ebenerechnen. Das ist ja auch richtig, nur: Ich warte schonlange auf europäische Regelungen, und die Menschenkümmern sich nicht darum, ob es europäische Regelun-gen gibt. Sie kommen vorzugsweise nach Deutschland.Deshalb sollten wir doch das eine tun und das anderenicht lassen. Lassen Sie uns doch über eine nationaleRegelung reden, die Kontingente umfasst und die imGrunde genommen auch die Arbeitszuwanderung klärt!Ich möchte nicht dauernd Verschiebebahnhöfe. Ich freuemich, wenn das in Europa gelingt, aber ich bin skep-tisch, ob es in einem Zeitraum gelingt, in dem wir Deut-schen dauernd mit diesen Problemen beschäftigt sind
und in dem wir innenpolitische Probleme bekommenund beobachten, wie sich die politische Landschaft ent-wickelt. Ich möchte einfach – wenn wir parteiübergrei-fend reden –, dass Sozialdemokraten wie Grüne, wieDr. Wolfgang Gerhardt
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8584 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
auch Christdemokraten und meine Fraktion den Men-schen in Deutschland eindeutig und klar sagen, wo esauch Grenzen der Zuwanderung gibt, und dass wir nichtjeweils in der Auseinandersetzung meinen, der eine seider bessere Menschenfreund und der andere nicht. Siewissen nämlich als Sozialdemokratische Partei eben-falls – Sie haben auch Elternvertreter in Ihren Reihen –,dass Sie an der Grenze der Zumutbarkeit angekommensind, wenn Sie Ihre Kinder in Klassen schicken, die ei-nen überwiegenden Ausländeranteil haben, ohne dassderen Familien die Integrationsbemühungen annehmenund auf richtige Kenntnisse der deutschen Sprache Wertlegen. Das sind Wahrheiten, die man gesellschaftlich zurKenntnis nehmen muss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ger-
hardt, es gibt eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Veit.
Herr Kollege Gerhardt, Sie
sprachen eben davon, dass die meisten Zuwanderer in
Europa nach Deutschland kämen. Wären Sie bereit zur
Kenntnis zu nehmen, dass nach den offiziellen Zahlen
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge bezogen auf die Zahl der Bevölkerung –
immer bezogen auf die Zahl der Bevölkerung – die
Schweiz mit 5,68 Prozent an der Spitze liegt, gefolgt
von den Niederlanden mit 2,86 Prozent sowie Belgien,
Norwegen, Österreich, Schweden und Irland, und dass
Deutschland mit 1,2 Prozent Asyl-Erstanträgen im euro-
päischen Vergleich erst auf Platz acht steht?
Wenn Sie die ge-
samte Wanderungsbewegung betrachten, Herr Kollege
Veit, wissen Sie so gut wie ich – wenn Sie einmal die
Kontingente derjenigen abgrenzen, die aus spezifischen
Erwägungen in die Schweiz und in andere Länder ge-
hen –, dass der größte Wanderungsdruck auf Deutsch-
land gerichtet ist, wegen des Erwartungshorizonts und
der Kraft seiner Volkswirtschaft. Das gilt insbesondere
auch in den Bereichen derjenigen Menschen, die zu uns
kommen, ohne dass wir die Chance hätten, die Zuwan-
derung zu regeln, und die dann am Ende in unserem so-
zialen Sicherungssystem landen. Das ist eine ganz ande-
re Situation, als sie die Schweiz hat, als sie Belgien hat
und als sie die Niederlande haben.
An unserem Gesetz ist kritisiert worden, dass große
Gruppen, wie die Asylbewerber, davon nicht erfasst
würden. Dazu muss ich Ihnen sagen: Das Argument ist
völlig falsch. Die Asylbewerber stehen bei uns wegen
der humanitären Erfordernisse völlig außen vor. Sie
werden nur zugerechnet, weil sie nur dann in einer Be-
lastungsgrenze einbezogen werden können. Gerade das
bietet eher die Chance, das individuelle Grundrecht auf
Asyl zu halten. Denn der Hauptvorwurf bei diesem
Grundrecht war immer die fehlende Praktikabilität.
Wenn ich aber jemandem sage, er könne nur einen Weg
nach Deutschland wählen, entweder als Zuwanderer
zum Arbeitsmarkt oder als Asylbewerber, dann kann ich
zu Recht den Asylbewerbern, die bisher über Asyl zum
Arbeitsmarkt zugewandert sind, sagen, dass das nicht
geht und dass sie sich im Herkunftsland entscheiden
müssen, welches Argument sie im Schilde führen.
Dann können sie sich von der deutschen Botschaft als
Zuwanderer eintragen lassen. Umgekehrt wird ein Schuh
daraus. Dieses Gesetz hält auseinander und gliedert wie-
der die Sachverhalte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Gerhardt, bevor Sie darauf kommen, möchte ich Sie
darauf aufmerksam machen, dass es eine weitere Zwi-
schenfrage gibt, und zwar des Kollegen Edathy.
Gerne.
Herr Kollege Gerhardt,
können Sie mir bestätigen, dass Sie seit Wochen die
Aufsetzung Ihres so genannten Zuwanderungsbegren-
zungsgesetzes auf die Tagesordnung des Deutschen
Bundestages aufschieben, obwohl Sie dazu die Mög-
lichkeit gehabt hätten? Können Sie mir ferner zustim-
men, dass wir hier über einen Antrag der CDU/CSU
sprechen, über den bisher allerdings weder die
CDU/CSU noch Sie gesprochen haben? Und können Sie
mir drittens vielleicht bestätigen, dass es wenig Sinn
macht, einerseits Erwartungen und andererseits Befürch-
tungen aufgrund eines Zuwanderungsgesetzes zu we-
cken, wenn Sie hier selber einräumen, dass vor dem
Hintergrund von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutsch-
land eine grundsätzliche Regelung letztlich keinen Ef-
fekt haben würde, weil wir angesichts dessen zusätzliche
Zuwanderung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme auf
breiter Basis gar nicht werden realisieren können?
Zu Ihrer erstenFrage, warum wir den Gesetzentwurf bisher nicht aufge-setzt haben: Die heutige Debatte zeigt, dass das sogarklug war. Denn wenn Sie weitere Erkenntnisse gewin-nen wollen, können wir auf der Grundlage unseres Ge-setzentwurfs erneut in die Ausschussberatung eintreten.Wenn Sie darauf bestehen, dass unser Entwurf hier auf-gesetzt wird, damit Sie ihn ablehnen können, tue ich Ih-nen auch diesen Gefallen. Aber dann müssen Sie mir,angesichts der Debatte, die Ihre Partei führt, begründen,warum Sie ihn ablehnen.
Die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast hat erklärt,dass eine zuwanderungsgesetzliche Regelung notwendigwäre. Ich kann Ihnen Bundesinnenminister Schily inseiner früheren Eigenschaft mit Zwischenrufen zitieren,um deutlich zu machen, dass auch er sie für notwendigDr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8585
hält. Aus Ihrer Fraktion gibt es dieselben Äußerungen.Ebenso hat die Fraktion der CDU/CSU erkennen lassen,dass sie solche Erwägungen hat. Das heißt, wenn dieChance besteht, hier etwas zustande zu bringen, war esdoch nicht weniger als nützlich, dass wir hier etwas ge-wartet haben.Zum zweiten Punkt Ihrer Fragestellung, warum ichnicht über den Vorschlag und die Initiative derCDU/CSU diskutiere. Das ist bei mir eingebettet. Ichsehe keinen Sinn, dass wir uns jetzt wieder dauernd mitAsyldebatten und europäischen Regelungen beschäfti-gen, die wir bereits in der Vergangenheit hin und herdebattiert haben.
Wir müssen das jetzt in einen Gesamtkontext bringen.Die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen auf dem deut-schen Arbeitsmarkt erscheint mir differenzierter alsmanchem Sozialdemokraten. Darunter befinden sichsolche, die dringlichst Arbeit suchen, aber keine Chancehaben. Darunter befinden sich ebenso solche, die nichtdringlichst Arbeit suchen und sehr auskömmlich von derKombination aus sozialen Stützmaßnahmen undSchwarzarbeit leben.
– Aber wenn Sie sie nicht vermitteln können und dieBranchen trotz dreimaliger Aufforderung jemandennicht bewegen können, von Bruchsal nach Karlsruheumzuziehen, aber jemanden dazu bewegen können, vonKalkutta nach Karlsruhe umzuziehen, den wir als Ar-beitskraft im gesamtwirtschaftlichen Interesse brauchen,dann bin ich, wie auch der Bundeskanzler, bereit, diesenMenschen hier eine Lebensperspektive zu geben, diebeiden Seiten nutzt.
Deshalb ist das mit dem Arbeitsmarkt so einfach nicht.Ich lese doch in Ihren Programmen, dass Sie jetzt über Zuwanderungssteuerung offener reden, als dasfrüher der Fall war. Bei der CDU/CSU höre ich dasGleiche. Bei den Grünen höre ich es noch nicht.
Ich kann nur die Ausländerbeauftragte bitten: Ihre Vor-gängerin im Amt hat den Gesetzentwurf mit bearbeitet;ich glaube, Sie könnten ihn mittragen.
Wenn es noch Bedenken gibt, dann sind wir gesprächs-bereit, um einiges zu ändern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Gerhardt, es gibt noch eine Zwischenfrage, und zwar des
Kollegen Marschewski.
Ja.
Herr Gerhardt, Sie werden mir sicherlich bestätigen,
dass die Schaffung eines Zuwanderungsbegrenzungs-
gesetzes auch uraltes Gedankengut der CDU/CSU ist.
Sie werden mir aber sicherlich auch bestätigen, dass Ihr
Gesetzentwurf deswegen Probleme aufweist, weil Sie
nur Erfolg haben könnten, wenn Sie Art. 16 a des
Grundgesetzes, das Asylrecht, verändern und wenn Sie
über Art. 6, Familiennachzug, und über Art. 116 nach-
denken. Nur so können Sie legal eine Begrenzung ein-
führen. Alles andere würde – auch das können Sie mir
sicherlich bestätigen –, wenn Ihr Gesetzentwurf Wirk-
lichkeit würde, zu einer Quote null führen. Das ist bei
Ihrem Gesetzentwurf – das können Sie mir sicherlich
nochmals bestätigen – das Problem. Deswegen meine
ich: Ihr Versuch ist in Ordnung; aber Sie müssten auch
zu der Auffassung kommen, das Grundgesetz zu ändern
und zu einer Änderung dieser wichtigen Bestimmungen
Ja zu sagen.
Herr Marschews-ki, ich schlage Ihnen Folgendes vor: Lassen wir dochunsere unterschiedliche persönliche Auffassung hin-sichtlich des Grundrechts auf Asyl bestehen. Das istnicht der Knoten, der jetzt durchschlagen werden muss.Ich würde ihn auch nicht vor einer europäischen Rege-lung angehen, wenn wir denn dereinst wirklich eine sol-che bekämen.
Wenn wir angesichts der jetzigen Chance bzw. der Be-merkungen, die Sie ansonsten zu unserem Gesetzent-wurf machen – darauf reagieren wir gerne –, arbeits-technisch überhaupt weiterkommen und eine gesetzlicheEinwanderungsregelung beschließen wollen und wennwir die weiteren europäischen Verhandlungen hinsicht-lich des Themas Asyl abwarten, wäre das ein Gewinnfür die Bundesrepublik Deutschland und würde zu einerKalkulierbarkeit der Wanderungsbewegungen nachDeutschland führen.Ich habe nicht vor, jemandem vorzuhalten, dass ersich in seiner Meinung, es gebe keine Chance zur Eini-gung, getäuscht hat. Ich begrüße die Entwicklung beider Christlich Demokratischen Union, zu einer gesetzli-chen Grundlage hinsichtlich der Zuwanderung zu kom-men. Hätten wir diese in der letzten Legislaturperiodeschon gehabt, hätten wir gemeinsam ein Gesetz ver-abschieden können; diese Bemerkung darf ich mir ge-statten.
– Ich spreche heute sehr bewusst zu diesem Tagesord-nungspunkt. Der vorliegende Antrag gibt Gelegenheit,jetzt noch einmal über eine solche Gesetzgebungschancenachzudenken. Ich werde zusammen mit meinen Kolle-ginnen und Kollegen der F.D.P.-Fraktion im Hinblickauf unseren Gesetzentwurf so verfahren, dass dieseChance nicht zunichte gemacht, sondern neu eröffnetwird.Dr. Wolfgang Gerhardt
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8586 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Deshalb gehen wir am besten wieder zu den entspre-chenden Ausschussberatungen über und machen unsdaran, Ihre Einwände gegenüber unserem Gesetzentwurfzu bearbeiten.Denn es macht am Ende keinen Sinn – damit will ichabschließen –, zum einen, wie es der Bundesinnenminis-ter tut, über die Grenze der Belastbarkeit Deutschlandsim Hinblick auf Zuwanderung zu sprechen, zum anderenaber, wie es der Bundeskanzler tut, die Zuwanderungvon Arbeitskräften im Rahmen einer so genanntenGreen Card zu ermöglichen und über den Individual-grundsatz des Grundrechts auf Asyl zu diskutieren, ohneeine Einwanderungssteuerung vorzunehmen. Erkenntnis in allen Fraktionen muss jetzt sein: Mitden bisherigen Debatten kommen wir nicht mehr weiter.In der nächsten Woche eine Debatte über die GreenCard, in dieser Woche eine Asyldebatte, das hilft unsjetzt nicht weiter. Ich glaube, dass die Öffentlichkeit er-wartet, dass wir jetzt darlegen, wie wir uns künftig inDeutschland eine Regelung der Zuwanderung vorstellen.Ich schlage Ihnen deshalb ernsthaft vor, parteiüber-greifend – denn dies ist eine wichtige gesellschaftlicheFrage; daher sollte man Verwerfungen zwischen denParteien vermeiden und in der Wortwahl abwägen – die-se Gelegenheit zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr einmodernes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen; wirsollten in diesem Jahr ein modernes Einwanderungs-gesetz schaffen. Wir sollten uns dann bemühen – denn dies ist einmassives Interesse von uns –, eine europäische Rege-lung der Asylpolitik zu erzielen. Wenn es eine solchegibt, ist bei uns die Diskussion über das Grundrecht aufAsyl vielleicht viel einfacher und klarer zu führen, ohnedass man wesentliche humanitäre Grundsätze verletzt.Denn wir sind ja von anderen großen Demokratien um-geben, die für uns beispielhaft sind. Dann könnte unserLand endlich einmal diese gesellschaftspolitische Fragelösen, ohne sie nur dem parteipolitischen Schlagab-tausch zu überlassen. Dazu ist die Fraktion der Freien Demokraten bereit.Wir werden mit unserem Gesetzentwurf so verfahren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die KolleginMarieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Herr Kollege Bosbach, es ist gut, dass Sie hier dasAngebot einer sachlichen Diskussion machen. Das kannich nur begrüßen. Denn gerade die Schlacht um denDoppel-Pass im vergangenen Jahr hat im Lande eineStimmung hervorgerufen, die sehr bedenklich war. Ichbin froh, wenn wir uns auf einen gewissen Grundkon-sens einigen können. Die Diskussion über alle Fragen, die mit Migration zutun haben, also Migration sowohl aufgrund von Fluchtund Asyl als auch aufgrund einer anderen Art der Zu-wanderung, darf nicht mit der Grundhaltung der Abwehrgeführt werden.
Als Sie heute Morgen über § 19 des Ausländergesetzesgesprochen haben, so muss ich feststellen, war dies keinguter Einstand von Ihnen im Hinblick darauf, dass Sievon einer modernen CDU/CSU sprechen wollen. Es kann in Zeiten, in denen wir alle wissen, dass eszu Migration, ob wir sie wollen oder nicht, kommt, nichtum die Perspektive der Abwehr gehen. Jeder, der zurEuropäischen Union und auch zu deren Erweiterung Jasagt, sagt damit Ja zum Hin- und Herwandern von Men-schen, zu Mobilität. Demnächst wird Europa aus 27Ländern bestehen. Das wird Wanderungsbewegungennach sich ziehen und damit die Notwendigkeit, dieseZuwanderung zu gestalten und integrationspolitisch zubegleiten, sowohl innerhalb der Europäischen Union alsauch darüber hinausgreifend. Wir alle sprechen von der Globalisierung der Öko-nomie, davon, dass sich Ökonomien vernetzen, undmerken, dass wir diesen Fragestellungen mit dem natio-nalstaatlichen Denken des vergangenen Jahrhundertsnicht mehr gewachsen sind.
Was wir aber übernommen haben, Herr Kollege Bosbach, ist ein absolutes Chaos in integrationspoliti-schen Fragen, weil in den vergangenen 20 Jahren andem Diktum festgehalten worden ist, Deutschland seikein Einwanderungsland, und zwar wider besseres Wis-sen, wie meine Kollegin Schmalz-Jacobsen immer be-tont hat. Es gibt keine wirklich gestaltete Sprachförde-rung auf Bundesebene. Die Zugänge sind zwar gesetz-lich geregelt, aber verstreut in unterschiedlichen Geset-zeswerken. Es gibt also sehr viel Aufräumarbeit zu leis-ten; das kann ich Ihnen versichern. Wenn Sie jetzt den pragmatischen Schritt „GreenCard“, der vorgeschlagen worden ist, um einen Ar-beitskräftemangel zu heilen, angreifen, dann doch auch,weil Sie überdecken müssen, was Sie in den vergange-nen Jahren versäumt haben. Der so genannte Zukunfts-minister hat es eben nicht geschafft, die Universitäten indie Lage zu versetzen, so auszubilden, dass uns dieseArbeitskräfte hier zur Verfügung stehen.
Das gilt für Bildung und Ausbildung genauso wie fürQualifikation. Nehmen Sie sich also bitte zurück! Sieübertünchen nur die Versäumnisse der vergangenen Jah-re.Dr. Wolfgang Gerhardt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8587
Allerdings sagen auch wir, dass die Debatte um dieGreen Card dazu genutzt werden muss, um eine ver-nünftige, sachliche Debatte über die Gestaltung – nichtdie Begrenzung, Herr Kollege Gerhardt; das ist der Un-terton, der bei Ihnen mitschwingt – der Zuwanderung
in diesem Hause zu führen.
Denn angesichts der Vorschläge, die gemacht wordensind, gibt es viele Fragen, zum Beispiel in Bezug auf dieVerfestigung des Aufenthalts, die Regelung zumFamiliennachzug und die Integrationsperspektive, dieauch das Green-Card-Modell beinhalten muss.
Wir werden die Zuwanderung also auf eine neue ge-setzliche Grundlage stellen müssen, wobei ich daranerinnern möchte, dass wir jetzt keinen ungeregelten Zu-zug haben. Dazu gibt es Gesetze: das Recht auf Schutz,abgesichert durch das Grundgesetz und das Völkerrecht,das Recht auf Familiennachzug und die EU-Freizügigkeit. Es gibt politisch gewollte Zuwanderer wiedie Spätaussiedler und die jüdischen Kontingentzuwan-derer. Das alles ist ein Strauß gesetzlich normierten Zu-zugs. Insofern geht es um eine Erweiterung der Zu-wanderung, und zwar aus humanen Gründen und ausGründen der Arbeitsmigration, wie es jetzt mit derGreen Card kurzfristig noch einmal organisiert werdensoll.Es geht aber nicht an – genau das ist das Infame, wasdie Union versucht –, diese neu aufgebrochene Zuwan-derungsdebatte mit der Abwehr von Asyl und Schutz zuverknüpfen. Sie wollen unter dem Deckmantel einer Zu-wanderungsdebatte das Grundrecht auf Asyl schleifenund damit den Schutz für politisch Verfolgte aufheben.Das geht nicht, wenn man sich auf dem Boden europäi-scher Gemeinsamkeit bewegen möchte.
Ich möchte noch einmal festhalten, dass der Europäi-sche Rat die Bedeutung bekräftigt hat, die der unbe-dingten Achtung des Rechts auf Asyl zukommt. Er hatgesagt, es sei auf „ein gemeinsames europäisches Asyl-system hinzuwirken, das sich auf die uneinge-schränkteund allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlings-konvention stützt“.
Das bedeutet: Wir haben eine gemeinsame Grundlage.Die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäischeMenschenrechtskonvention geben Deutschland eher ei-nen Nachbesserungsbedarf auf,
zum Beispiel bei der Anerkennung innerstaatlicher Ver-folgung, also nicht staatlicher Verfolgung.
Hier stehen wir vor großen nationalen Problemen. Es ist auch so, dass Deutschland nicht mehr aufPlatz 1, sondern auf Platz 8 der aufnehmenden Staatensteht. Es ist ein Mythos, mit dem hier gearbeitet wird.Wichtig ist, zu erkennen, dass wir in Teilen unseresSchutzsystems gerade wegen der Nichtanerkennung dernicht staatlichen Verfolgung unter den europäischenStandard gesunken sind.
Es ist bedenklich, wenn im Vereinigten Königreichder Court of Appeal in seiner Entscheidung vom 23. Juli1999 darauf hingewiesen hat, dass die Bundesrepublikkein sicheres Drittland sei, weil es für die Ausgrenzungnicht staatlicher Verfolgung aus dem Flüchtlingsbegriffkeine Rechtfertigung gebe. Deswegen hat das Gerichtdie Rücküberstellung nach der Dubliner Konvention un-tersagt. Das ist eine große Herausforderung auf demWeg der Harmonisierung des europäischen Rechts.Die Genfer Flüchtlingskonvention begründet dasRecht auf Schutz und auf Nachprüfbarkeit von Schutz.Damit sind wir bei Art. 19 Abs. 4 unseres Grundgeset-zes, nach dem Verwaltungsakte über das Gerichtswesennachprüfbar sein müssen. Insofern bewegen wir uns mitArt. 16 a des Grundgesetzes und § 51 des Ausländer-gesetzes sehr wohl auf dem Boden der Genfer Flücht-lingskonvention. Der Eindruck, der immer wieder er-weckt wird, dass uns die europäische Harmonisierungdazu bringen würde, diese deutsche Gesetzgebung bei-seite zu schieben, ist falsch. Im Gegenteil: SowohlArt. 16 a des Grundgesetzes als auch § 51 des Auslän-dergesetzes sind faktisch die Umsetzung der GenferFlüchtlingskonvention. Wer jetzt wie Sie von der Uni-on – wieder unter dem Deckmantel der Zuwanderungs-debatte –
von einer Institutsgarantie spricht, der muss auch deut-lich sagen, dass er sich damit von der europäischen Ver-einbarung, die Genfer Flüchtlinskonvention zur Grund-lage der europäischen Harmonisierung zu machen, ver-abschiedet.
Die Institutsgarantie passt nicht zur Genfer Flüchtlings-konvention.Wir haben durch die Beschlüsse von Tampere einegute Grundlage für die europäische Harmonisierung. Esgibt Herausforderungen für Deutschland. Wir alle wis-sen, dass die historische Idee für unser Schutzrecht, vorallem für Art. 16 des Grundgesetzes, die gewesen ist,dass Menschen vor staatlicher Verfolgung geschütztwerden müssen. Das war die Lehre, die aus dem deut-schen Faschismus gezogen worden ist. Marieluise Beck
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Aber die Verfolgungsbedingungen in anderen Län-dern haben sich geändert. Dass wir den Bosniern selbstdann, wenn wir wussten, dass sie aus Konzentrationsla-gern kamen, hier kein Asylrecht zuerkennen konnten,weil sie nicht von einem Staat verfolgt wurden, ent-spricht – dessen bin ich sicher – nicht der Idee der Väterdes Grundgesetzes, die eigentlich mit der Gewährungvon Schutz und der Festschreibung dieses Schutzes imGrundgesetz als Grundrecht eine ganz hohe Hürde unddamit auch einen hohen Schutz aufbauen wollten. Ichbin mir sicher, dass dies nicht mehr der eigentlichen Idee des Grundgesetzes entspricht. Deswegen haben wir mit der Schaffung eines mo-dernen Schutzrechtes eine Aufgabe vor uns, der wiruns – ohne immer nur den Abwehrgedanken im Hinter-kopf zu haben – in diesem Parlament gemeinsam sorg-sam widmen sollten. Wir müssen Regelungen finden,die der Würde und den Schutzbedürfnissen der Men-schen angemessen Rechnung tragen. Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDUhat meiner Meinung nach in einem Punkt ihres Antragestatsächlich Recht: Die Vorstellungen der Bundesregie-rung zum Asyl- und Ausländerrecht in der EU liegenuns bisher in der Tat nicht vor. Ich meine, Kollege Veit,dass man hier auch die eigene Politik mit zur Diskussionstellen sollte, wenn ein solcher Antrag vorliegt.Doch zu Beginn lassen Sie mich einige Bemerkungenzur Green Card machen: Eine Politik, die eine ver-meintliche Elite aus anderen Ländern zum Wohle derdeutschen Wirtschaft anheuert, die weiterhin arme Men-schen, Menschen in Not feuert, ist inhuman und kannmeines Erachtens von uns nicht mitgetragen werden,
zumal Sie in diesem konkreten Fall genau wissen, dassSie die 20 000 Menschen, die Sie mithilfe der GreenCards hierher holen wollen, wahrscheinlich dann, wennsie älter als 40 Jahre alt geworden sind, unter unmensch-lichsten Bedingungen wieder zurückschicken werden,weil sie hier keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Ich finde eine solche Politik abstoßend, mit der in deröffentlichen Diskussion eine neue Hierarchie von Men-schen produziert wird. Auf einmal sollen zehntausendjunge Leute aus dem Ausland die Zukunft der deutschenWirtschaft sichern, während auf der anderen SeiteFlüchtlinge nach wie vor dem Arbeitsverbot unterliegen.Ich möchte hier jetzt nicht auf die weiteren sozialenProbleme von Jugendlichen und gerade auch älterenMenschen eingehen, die im Computerbereich arbeiten. Jahrelang – darauf ist heute schon hingewiesen wor-den – haben wir die Sprüche von der Union gehört: DasBoot ist voll!
Was ist jetzt? Jetzt wackelt die CDU/CSU, wie wir heu-te hier gesehen haben, weil die IT-Branche nach jungenLeuten zu Dumpinglöhnen ruft. Die SPD wackelt gleichmit. Der Innenminister, der uns noch vor kurzem erzähl-te, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht, weißwahrscheinlich selbst nicht mehr, wie voll bzw. leer seinBoot ist. Wir dagegen bleiben dabei: Dieses Land ist ein Ein-wanderungsland und es soll und wird auch in Zukunftein Einwanderungsland bleiben.
Nötig ist – das fordern wir von der PDS schon lange –eine Asyl- und Migrationspolitik, die den Menschenhilft und ihre Menschenrechte stärkt. Nicht die Wirt-schaft, sondern die Menschen müssen im Zentrum derPolitik stehen.
Das sollte auch für die Harmonisierung der Asyl- undAusländerpolitik der EU die Richtschnur sein. Jetzt zum Antrag der CDU/CSU: Herr Bosbach, ichhabe in Ihren Ausführungen sehr wohl Ihre Bemühun-gen um Differenzierung beim Thema Einwanderungs-land erkannt. Ich meine aber, dass sowohl angesichtsder Debatte zu § 19 des Ausländergesetzes heute Mor-gen als auch bei genauerer Betrachtung Ihres Antragsder Begriff „Modernisierung“ fehl am Platze ist. ImGrunde genommen sind Sie im Wesentlichen bei Ihreralten Politik geblieben. Es wird Abschottung gefordertund vor allen Dingen eine regressive Politik bei derFlüchtlingsverfolgung. Was mich immer wieder stört, istdie Tatsache, dass Sie versuchen, die Flüchtlinge per seals Risiko darzustellen.Ein einziger Punkt in Ihrem Antrag hat mir ein biss-chen Hoffnung gegeben, nämlich der Punkt 1. Dort heißtes, dass der Flüchtlingsbegriff unter Berücksichtigungder Genfer Flüchtlingskonvention einheitlich zu defi-nieren sei. Das hört sich in der Tat gut an. Aber wasmeinen Sie praktisch damit? Meine Kollegin Beck hat eseben schon angesprochen. Heißt das tatsächlich, dass Siedie Genfer Flüchtlingskonvention endlich umsetzen wol-len? Das würde bedeuten, nicht staatliche Verfolgungund frauenspezifische Fluchtgründe anzuerkennen. Eswäre ein echter Fortschritt, wenn die rot-grüne Regie-rung diesen Antrag umsetzen würde. Der UN-Flüchtlingskommissar sagt, dass die Bundes-republik im Umgang mit Flüchtlingen, die vor nichtstaatlicher Verfolgung fliehen, gegenwärtig das restrik-tivste Land in ganz Europa sei. Das oberste Gericht inGroßbritannien – auch das ist hier schon erwähnt wor-den – hat die Bundesrepublik Deutschland nicht mehrals sicheres Drittland eingestuft. Ich vermisseMarieluise Beck
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8589
tatsächlich, vor allem von der Regierung, ein entsprechen-des Verhalten. In Ihrem Antrag begrüßen Sie zum Beispiel Eurodac.Eurodac soll ein System werden, das dazu berechtigt,jedem Flüchtling Fingerabdrücke abzunehmen. Das be-deutet, dass Sie – unter anderem mit den repressivenForderungen in Ihrem Antrag – beispielsweise vierzehnJahre alte Jugendliche ganz pauschal verdächtigen undunter Umständen in Abschiebehaft stecken wollen. IhreWarndatei haben wir hier schon ausführlich diskutiertund abgelehnt. Auch hier haben Sie eine Datenerfassungvor, die per se einer Kriminalisierung von Ausländerin-nen und Ausländern gleicht.Es wird mehr als deutlich, dass Ihre Ausländer- undAsylpolitik nur eine Bezeichnung verdient: Sie ist Men-schen verachtend und inhuman. Das muss ich ganz deut-lich sagen. Herr Bosbach hat heute die Zahlen richtigdargestellt. Wir haben in der Tat mehr Abwanderungals Zuwanderung. Im gleichen Atemzug behauptenSie – Herr Merz und Herr Schäuble haben es heute wie-der getan –, dass 700 000 Ausländer im letzten Jahr er-neut ins Land gekommen sind. Ich meine, wer von Zu-wanderung redet, sollte die Auswanderung nicht ver-schweigen. Sie picken sich immer die Zahlen heraus, dieSie gerade brauchen, um Ihre Politik zu begründen. Icherspare mir hier Ihre Zahlen im Einzelnen zu nennen,bin aber bereit, sie jedem Kollegen zur Verfügung zustellen. Leider ist – auch das muss man hier diskutieren – diePolitik der alten Regierung auch die Politik der rot-grünen Regierung. Herr Schily ist in vielen Punkten mitIhnen einig. Dass er dabei nicht nur die Grünen vor denKopf stößt, sondern auch die Beschlüsse der SPD-Parteitage missachtet, interessiert diesen Minister über-haupt nicht. Ich erinnere an die Ausführungen von HerrnSchily, das Asylrecht lasse sich in der EU nicht halten.Ich erinnere an seinen Plan, den Rechtsweg für Flücht-linge zu verkürzen. Ich erinnere daran, dass sich HerrSchily trotz Bundestagsbeschlusses weiter weigert, dieUN-Kinderrechtskonvention ohne Vorbehalt anzuwen-den. Jugendliche werden deshalb weiter in Abschiebe-haft gesperrt. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Kin-derrechtskonvention. Auch das Bild, das diese Regierung und die Unionvon der deutschen Asyl- und Ausländerpolitik im Ver-gleich zu anderen EU-Staaten verbreiten, stimmt hintenund vorne nicht. Sie sagen zum Beispiel, Deutschlandnehme die meisten Flüchtlinge auf. Das ist seit langerZeit schlicht falsch. Tatsache ist, dass Länder wie dieNiederlande, Großbritannien, die Schweiz und Belgieneinen immer größeren Teil der Flüchtlinge aufnehmen.Diese Länder, deren Einwohnerzahl etwa der Deutsch-lands entspricht, nehmen im Moment mehr als die Hälfteder Flüchtlinge in Europa auf. Auch in der Hinsichtmuss man die Wahrheit sagen. So sieht es nämlich wirk-lich aus. Bei anderen Fragen tritt Innenminister Schily eben-falls auf die Bremse, wenn es um die Harmonisierungder europäischen Asyl- und Migrationspolitik geht. Auch in Sachen Staatsbürgerschaftsrecht, das hierimmer wieder so hoch gelobt wird und mit Sicherheitauch einige fortschrittliche Punkte enthält, tritt dieseRegierung europaweit auf die Bremse. Seit 1997 gibt eseine Konvention des Europarates zum Staatsbürger-schaftsrecht, die einheitliche Regelungen zum Beispielfür die doppelte Staatsbürgerschaft aufstellt. Diese Kon-vention wurde von Innenminister Schily bis heute nichtunterzeichnet. Und warum nicht? Ganz einfach deshalb,weil diese Konvention ihm verbieten würde, Men-schen – beispielsweise Jugendlichen, die sich mit23 Jahren nicht für eine Staatsbürgerschaft entschiedenhaben –, wie es mit dieser Staatsbürgerschaftsreformgeplant ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen.Das ist nach dieser Konvention einfach nicht erlaubt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ja, ich komme gleich zum
Schluss. – Sie werden sich auch damit auseinander set-
zen müssen, dass immerhin 41 Staaten diese Konvention
unterzeichnet haben.
Es ist wohl klar: Der Antrag der CDU/CSU hat mit
Modernisierung nichts zu tun. Deswegen werden wir ihn
ablehnen. Aber wir werden mit Sicherheit weiter eine
Debatte um die Modernisierung des Asylrechts in der
EU führen und hier unsere Initiativen einbringen.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekre-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin!Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Jelpke, um beiIhnen anzufangen: Gedulden Sie sich etwas! Dann wer-den Sie sehen, wie die Bundesregierung mit der Frageder Unterzeichnung der Konvention umgeht.
Meine Damen und Herren, der Antrag, den wir heutein erster Lesung beraten, hat drei Kennzeichen: Erstens. In einigen Teilen – etwa bei den Mindest-standards und dem einheitlichen Flüchtlingsbegriff –rennt er offene Scheunentore ein. Zweitens. In anderen Teilen entfernt er sich von in-ternationalen Vereinbarungen zum Menschen- undFlüchtlingsrecht und wird im zusammenwachsenden Eu-ropa ganz gewiss nicht als Basis für eine einheitlicheAsylpolitik dienen können. Drittens. Modern ist er auch nicht. Deshalb stelle ich die Frage: Was soll das? Ulla Jelpke
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8590 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Da sich der Kollege Bosbach mehr in allgemeinenmigrationspolitischen Fragen ergangen hat, möchte icherst einmal näher auf Ihren Antrag eingehen. Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, dieHarmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts voran-zutreiben, illegale Einwanderung einzudämmen, dieZahl unberechtigter Asylanträge zu verringern, eine ge-rechte Lastenteilung unter den Mitgliedstaaten zu errei-chen und die Bekämpfung der Fluchtursachen zum Zielder EU-Politik zu machen. Meine Damen und Herren, haben Sie eigentlich überall die Monate, angefangen von der EU-Ratspräsident-schaft der Bundesrepublik bis hin zum heutigen Tage,nicht gemerkt – oder vielleicht nicht bemerken wollen –dass diese Bundesregierung in allen von Ihnen genann-ten Punkten, und zwar sehr umfassend, längst tätig ist
und weiter vorangeschritten ist, als Sie es wahrhabenwollen?Ich weiß ja, dass Sie in den zurückliegenden Wochenandere Probleme zu behandeln hatten, intern und auchnach außen. Aber selbst einem abgelenkten, zerstreutenund verunsicherten Unionspolitiker können doch nichtdie wesentlichen Etappen der vergangenen 15 Monateauf dem Gebiet der europäischen Migrations- undFlüchtlingspolitik verborgen geblieben sein.
Ich darf die wichtigsten Stufen einmal nennen: Ratund Kommission haben im Dezember 1998 einen Akti-onsplan mit Schwerpunkten für die Arbeit und mit zeit-lichen Vorgaben verabschiedet. Am 1. Mai 1999 gingmit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages die Aus-länder- und Asylpolitik in die Kompetenz der Gemein-schaft über.Seit ihrer Amtsübernahme hat sich die Bundesregie-rung konsequent für eine Angleichung in diesem Poli-tikbereich stark gemacht. Auf dem Europäischen Rat inTampere im letzten Oktober hat die Bundesregierung dieInitiative ergriffen – begleitet von sehr skeptischenPrognosen, was den Ausgang dieser Veranstaltung be-traf –, gemeinsam mit ihren französischen und britischenFreunden die wesentlichen Prinzipien formuliert und –allen Unkenrufen zum Trotz – auch durchgesetzt. AlsBeispiele nenne ich die Partnerschaft mit den Herkunfts-ländern der Flüchtlinge, ein gemeinsames europäischesAsylsystem, die gerechte Behandlung von Drittstaatsan-gehörigen, die Steuerung von Wanderungsbewegungenund last not least die Bestätigung der Genfer Flücht-lingskonvention als gemeinsame Basis der Asylpolitik.Das war ein echter Erfolg und ist eine tragfähigeStartrampe für die weiteren Bemühungen.
Weiter verlangen Sie einheitliche Standards für Asylverfahren. Diese Forderung ist überflüssig, dennschon der EG-Vertrag in der Fassung des AmsterdamerVertrages erteilt dazu den Auftrag.Mindestgarantien im Asylverfahren sind ebenfallslängst in der Diskussion. Mit einem Vorschlag für denEG-Rechtsakt können wir noch in diesem Jahr rechnen.Auch Rückübernahmevereinbarungen mit Dritt- undTransitstaaten sind längst konkrete Politik der Bundes-regierung. Ich könnte diese Revue der Selbstverständlichkeitenfortsetzen, aber das ist nicht nötig. Nötig sind vielmehreinige Bemerkungen zu Forderungen, die – jedenfallsbis auf weiteres – in der Europäischen Union nichtmehrheitsfähig sind oder nicht den menschenrechtlichenNormen der Gemeinschaft entsprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Herr
Kollege Marschewski möchte eine Zwischenfrage stel-
len.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie machen hier sehr interessante
Ausführungen zum Kernbereich deutscher Innenpolitik.
Gestatten Sie mir die Frage: Warum ist der Bundesin-
nenminister heute bei diesem wichtigen Punkt nicht
anwesend? Befürchtet er vielleicht, dass die Diskrepanz
zwischen ihm und seiner Fraktion und zwischen ihm
und den Grünen heute offenkundig wird? Ist er deswe-
gen zu Hause geblieben?
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Marschewski, Sie wissen sehr genau – auch aufgrundder langjährigen Regierungszeit der CDU/CSU –, dassMinister neben der Pflicht zur Anwesenheit im Parla-ment sehr viele andere dringende Verpflichtungen ha-ben. Sie können sich darauf verlassen, dass das, was ichhier vortrage, den Ansichten und den Überzeugungendes Bundesinnenministers entspricht. Sie sind also beimir gut aufgehoben, zumal Sie mir ja schon zugebilligthaben, dass ich hier interessante Ausführungen zu Kern-bereichen der deutschen Innenpolitik mache. Ich möchtedamit gern fortfahren.
Sie fordern die in der Diskussion der vergangenenZeit sehr wichtige so genannte quotenmäßige Vertei-lung der Bürgerkriegsflüchtlinge und der Asylbe-werber innerhalb Europas, also das viel beschworeneBurdensharing. Wenn sich jemand darum bemüht hat,dann dieser Bundesminister des Innern. Das wissen Siedoch auch, zum Beispiel aus der Zeit, als wir die Koso-vo-Albaner hier aufgenommen haben. Ein starres Ver-teilungssystem mit festgelegten Quoten war nicht er-reichbar. Stattdessen schlug die Bundesregierung seiner-zeit das so genannte Pledging-Verfahren vor, mit demsich die jeweiligen Staaten freiwillig bereit erklärten, ei-ne bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen.Die Flüchtlinge ihrerseits erklärten sich bereit, ihre Zu-flucht dort zu suchen.Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8591
Dieses Prinzip der doppelten Freiwilligkeit hat inner-halb der EU eine viel positivere Resonanz gefunden alsdas alte Modell der früheren Bundesregierung mit festenAufnahmequoten, die Sie jetzt wieder in Ihrem Antragaufwärmen. Die Bundesregierung sieht sich jedenfallsdurch den Erfolg bei der Aufnahme der geflüchtetenKosovaren vor einem Jahr in ihren Bemühungen um ei-ne faire Aufgaben- und Lastenteilung innerhalb der EUbestätigt. Sie möchte in ihren Bemühungen nicht nach-lassen und wird das Konzept des vorübergehendenSchutzes von Menschen aus Bürgerkriegsregionen wei-terverfolgen. Schlicht und einfach zu leicht machen Sie es sich mitder Forderung, Flüchtlinge mit offensichtlich unbe-gründeten Asylanträgen generell sofort abzuschieben.Das ist wahrscheinlich populistisch, aber mindestens ebenso verantwortungslos; denn die Abschiebung kannnur erfolgen, wenn sie im Einklang mit der Europäi-schen Menschenrechtskonvention und der GenferFlüchtlingskonvention steht. Darüber setzen Sie sich of-fenbar hinweg. Jetzt möchte ich auf den letzten Punkt Ihres Forde-rungskatalogs eingehen, der in den letzten Tagen zuneuer Aktualität gelangt ist, nämlich auf die von Ihnenverlangten einheitlichen Regelungen für legale Ein-wanderung.
Sie erwähnen Wissenschaft, Kunst, Sport und Kapi-talinvestoren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, es
gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
In Ihren Reihen –
ich merke es an der Unruhe, die im Moment bei Ihnen
und auch bei den Kollegen von der F.D.P. herrscht – hat
die begrüßenswerte Initiative des Bundeskanzlers, für
einen begrenzten Zeitraum ausländische Computerspe-
zialisten ins Land zu holen, offenbar beträchtliche Ver-
wirrung erzeugt. Das ist kein Wunder, wenn man auf ei-
gene frühere Versäumnisse in der langen Regierungszeit
hingewiesen, ja gestoßen wird. Jetzt geht bei Ihnen alles
durcheinander.
Die CSU fühlte sich zunächst einmal bemüßigt, vor
neuer und kontinuierlicher Einwanderung warnend den
Finger zu erheben. Danach klang es schon ein bisschen
positiver. Kollegen aus der CDU – zum Beispiel der
Kollege Merz und heute der Kollege Wolfgang
Bosbach – brachen aus der alten Allianz der Gegner jeg-
licher Einwanderungsgesetze aus und wandelten sich zu
Befürwortern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, es
gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gut.
Frau
Staatssekretärin, die Unruhe bei uns ist entstanden, als
Sie gesagt haben, der Innenminister sei bei einer
bedeutenden Veranstaltung. Bei uns geht das Gerücht
um, er sei bei einem Starkbierfest. Trifft das zu?
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe gesagt,
dass ein Innenminister wie alle Minister der Regierung
neben der Pflicht, im Parlament anwesend zu sein, auch
noch andere Pflichten hat.
– Ich glaube, die Antwort war erschöpfend genug.
– Ich bitte Sie um Ruhe. Sie können noch heute den In-
nenminister treffen. Er kommt noch ins Haus. Ich habe
Ihnen bereits gesagt, dass das, was ich hier vortrage, die
Position meines Hauses ist und mit dem Innenminister
abgestimmt ist. Wenn er kommt, dann werden Sie selber
feststellen, dass er damit einverstanden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Uhl hat
eine Zwischenfrage.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Er darf sie stellen.
In meiner Eigen-
schaft als Stadtrat in München hatte ich 20 Jahre lang
die Ehre, beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg
dabei zu sein. Heute ist es das erste Mal, dass ich hier
sitzen muss und nicht dabei sein kann. Ich sehe es mit
etwas Neid, dass der Herr Innenminister – das ist wohl
wahr – seit 11.30 Uhr – zu diesem Zeitpunkt ist immer
der Starkbieranstich – auf dem Nockherberg in München
weilt. Stimmt das oder nicht? Nach meiner Meinung hat
er wie wir alle die Pflicht, bei der jetzigen Diskussion
anwesend zu sein und den Termin in München dieses
Jahr sausen zu lassen.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Uhl,es tut mir Leid, dass Sie das offenbar mit Bedauern zurKenntnis nehmen.
– Doch, er bedauert es; es tut ihm Leid.
Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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8592 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
– Herr Kollege Uhl hat gesagt, er nehme mit Bedauernwahr, dass er heute erstmalig an einem bestimmten Er-eignis, bei dem er schon sehr oft war, nicht teilnehmenkönne. Ich würde jetzt gern zu dem hier zu diskutieren-den ernsten Thema zurückkehren.Herr Kollege Gerhardt, darf ich um Ihre Aufmerk-samkeit bitten. Auch Sie haben sich für ein Zuwande-rungsgesetz stark gemacht und sehr wortreich für diesesgeworben. Ich muss sagen: Das, was die Freien Demo-kraten uns vorgelegt haben, begrenzt praktisch die Mi-gration, ja greift sogar in Rechtsansprüche ein, etwa inden auf Familiennachzug von Ausländern, und eröffnetkeinerlei neue Perspektiven. Deswegen kann dieser An-satz, Herr Kollege Gerhardt, unsere Billigung nicht fin-den.
– Ich komme noch darauf. Am peinlichsten, meine Damen und Herren, gebärdetsich der ehemalige Zukunftsminister, der in der Vergan-genheit die Chance zu einer Offensive zur Aus- undFortbildung einheimischer Hightech-Experten verpassthat und jetzt mit dem törichten Spruch „Kinder statt In-der“ Feindseligkeiten schürt. Lothar Späth, nachweislichkein Parteigänger der rot-grünen Koalition, fand dafürein treffendes Wort: Schwachsinn. Dem ist nichts hinzu-zufügen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wirbtauswärtige Spezialisten an, weil es dafür einen akutenBedarf gibt; sie tut das befristet. Gleichzeitig unter-nimmt sie verstärkt Anstrengungen, um hier im Landejunge, aber auch ältere Kräfte in der Informations-technologie zu schulen. Was das mit Unmenschlichkeit,Frau Jelpke, zu tun haben soll, das müssten Sie mirschon erklären. Davon sorgfältig zu trennen ist die Diskussion um dasFür und Wider eines Einwanderungsgesetzes etwa mitjährlichen Aufnahmequoten. Ein solches Gesetz steht inder Tat kurzfristig nicht auf der Tagesordnung. Dazubrauchen wir Zeit und möglichst die Einbettung in deneuropäischen Rahmen.Fazit: Wir setzen den Schwerpunkt darauf, die Inte-gration unserer nichtdeutschen Mitbürger zu verstärken.Wir haben die Einbürgerung deutlich erleichtert undhoffen, dass diese gesetzliche Regelung positiv gewür-digt wird. Wir treiben die Harmonisierung des Asyl-rechts in Europa voran. Wir verbessern das Ausländer-gesetz da, wo es notwendig ist, zum Beispiel bei denVerwaltungsvorschriften, damit etwa die geschlechts-spezifische Verfolgung im Asylverfahren besser undsensibler beachtet wird. Bei § 19 des Ausländergesetzes haben wir heutewirklich einen Schritt nach vorne gemacht. Ich kann nurnoch einmal sehr lebhaft meiner Freude darüber Aus-druck verleihen, dass wir die Frist für die Erlangung deseigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehe-partner deutlich verkürzt und damit vor allen Dingenetwas für die Verbesserung der Lage der Frauen getanhaben.
Mit alledem, meine Damen und Herren, sind wir aufgutem Weg. Ich bin sicher, dass wir auf diesem Wegegut vorankommen können. Einer sachlichen Debatte –ich betone das – über all die Fragen, die heute angeklun-gen sind, stehen wir offen gegenüber. Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort zur Ge-
schäftsordnung hat die Kollegin Birgit Schnieber-
Jastram.
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir sind
uns einig, dass das, was hier eben an Frage und Antwort
stattgefunden hat mit der Bedeutung dieses Parlaments
nicht gerecht wird.
Deswegen möchte ich Ihnen sagen, dass die CDU/CSU-
Fraktion beantragt, gemäß § 42 unserer Geschäftsord-
nung die Herbeirufung des Ministers zu beschließen.
Ich glaube, die Selbstachtung des Parlamentes gebietet
dies. Es gibt keinen anderen Weg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort zur Ge-
schäftsordnung hat die Kollegin Angelica Schwall-
Düren.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau
Staatssekretärin hat ausgeführt, dass ein Minister auch
anderweitig wichtige Veranstaltungen zu besuchen hat.
Wir beantragen jetzt eine einstündige Sitzungsunter-
brechung; um eine Sondersitzung unserer Fraktion
durchzuführen, in der wir über die Vorfälle, die hier
stattgefunden haben, beraten werden
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn eine Fraktion für eine Fraktionssit-
zung Sitzungsunterbrechung beantragt, ist es in diesem
Haus üblich, dass diesem Antrag stattgegeben wird.
Deshalb unterbreche ich die Sitzung des Deutschen
Bundestages für circa eine Stunde. Sie werden rechtzei-
tig informiert, wann die Plenarsitzung fortgesetzt wird.
Die unterbro-chene Sitzung ist wieder eröffnet. Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8593
Wir haben, wie geplant, zunächst noch über den vonder CDU/CSU-Fraktion gestellten Antrag auf Herbeiru-fung des Bundesministers des Innern abzustimmen. Werstimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Antrag ist abgelehnt
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen von CDU/CSU und F.D.P., während die PDSsich enthalten hat. Damit können wir nun mit der Aussprache zum An-trag der CDU/CSU-Fraktion zum Asyl- und Ausländer-recht fortfahren. Als nächstem Redner in der Debatte er-teile ich das Wort dem Abgeordneten WolfgangZeitlmann.
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es könnte
jetzt durchaus jemand den Vorwurf erheben, wir hätten
irgendeine Werbevereinbarung mit der Paulaner-Brau-
erei, die jenes Starkbierfest veranstaltet, an dem der In-
nenminister teilnimmt.
Ich habe heute den ganzen Vormittag an den Debat-
ten einschließlich der zur Änderung des § 19 des Aus-
ländergesetzes teilgenommen und mich hier informiert.
Eines möchte ich vor diesem Hintergrund sagen: Es ist
schon ein besonderes Zeichen parlamentarischer Diskus-
sionskultur, dass niemand von uns, obwohl die Medien
in den letzten Tagen vom Thema Green Card, Zuwande-
rungsbegrenzungsgesetz und anderen Dingen voll wa-
ren, dieses zum Gegenstand parlamentarischer Debatten
machte. Mir muss einmal einer erklären, wie wir im An-
sehen in der öffentlichen Meinung steigen sollen, wenn
wir so inaktuell über Themen debattieren.
Ich glaube deshalb, dass der Zeitpunkt für die Bera-
tung des Antrages der CDU/CSU für ein modernes
Asylrecht genau richtig war und dabei von den Kollegen
mit guten Gründen auf die eigentlichen Themen, die
jetzt draußen debattiert werden, eingegangen wurde.
Der Kollege Bosbach hat völlig zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass es eine Riesenkluft zwischen dem gibt,
was die Regierung erklärt, und dem, was sie tatsächlich
macht.
Die Äußerungen Schilys über die Belastbarkeit dieser
Republik in Bezug auf die Zuwanderung wurden schon
erwähnt. Es gibt ja noch weitere Äußerungen, die er in
der Vergangenheit von sich gegeben hat, die bei seinen
eigenen Regierungsgenossen meistens auf heftige Kritik
gestoßen sind.
So hat er zum Beispiel im Oktober 1999 in der „Zeit“
erklärt, dass nicht jede Wohltat, die wir den Menschen
gewähren, einklagbar sein müsse. Damit sind wir genau
beim Kern der Debatte. Ich fand es sehr gut, dass wir
hier einmal breiter darüber diskutiert haben und von der
engen Sicht der Begrenzung von Zuwanderung wegge-
kommen sind. Heute Vormittag wurde von einem Teil
der Abgeordneten hier ganz deutlich gesagt –das ist un-
bestreitbar – das ist im Protokoll auch nachlesbar –, dass
ein Teil dieses Hauses ein Mehr an Zuwanderung will.
Sie haben gesagt, dass das Ausländerrecht in frauenspe-
zifischen Belangen und in anderen Bereichen geöffnet
werden solle. Jetzt kommt in diese Debatte der Vor-
schlag einer Green Card hinein.
Heute Vormittag ist auch gesagt worden, die Regie-
rung bereite Rechtsänderungen vor. Ich weiß nicht, ob
der Auswärtige Ausschuss Detailinformationen darüber
hat, wie die Visaerteilung erleichtert wird. In einer Mit-
teilung des Auswärtigen Amtes im Internet wird bedau-
ernd darauf hingewiesen, dass die Zahl der Visaerteilun-
gen zurückgegangen sei, weshalb es hier Erleichterun-
gen geben müsse. Dann steht dort noch folgender schö-
ner Satz: Im Zweifel sollte man sich immer für die Ein-
reise aussprechen.
Im Februar dieses Jahres haben Sie den Bundesrats-
vorschlag zur Begrenzung asylbewerberleistungsgesetz-
licher Regelungen abgelehnt, gleichzeitig wollen Sie die
Arbeitserlaubnis für Asylbewerber erleichtern. Daraus
wird schon ein gewisses Konzert: Man will in Zukunft
ein Mehr an Zuwanderung; eine Verringerung der jetzi-
gen Probleme der Kommunen ist nicht in Sicht.
Wir können jederzeit parteienübergreifend eine De-
batte beginnen, sofern es von keiner Seite irgendwelche
heiligen Kühe gibt. Herr Gerhardt, bei Ihnen gab es im-
mer eine solche heilige Kuh, nämlich das Asylgrund-
recht. In der letzten Wahlperiode hat Ihre Ausländerbe-
auftragte stets gesagt, man wolle ein Zuwanderungsbe-
grenzungsgesetz, sei aber nicht bereit, die derzeitige
Zuwanderung in Frage zu stellen. Das hat auch Ihr Ex-
kollege Hirsch viele Jahre lang gesagt. Daher sage ich:
Wir können über alles debattieren, sofern keine Vorbe-
dingungen gestellt werden.
Eine Vorbedingung, die ich von der linken Seite höre,
ist, dass das Grundrecht auf Asyl als heilige Kuh ange-
sehen wird.
– Sie können doch nicht so tun, als sei ohne ein solches
subjektives Grundrecht Asyl nicht denkbar. Anderen-
falls müssten Sie doch einem Teil der europäischen
Staaten den Vorwurf machen, dass sie zutiefst undemo-
kratisch seien. Das tun Sie aber nicht. Sie wissen genau,
dass es verschiedene Formen gibt – –
Herr KollegeZeitlmann, darf ich Sie einmal unterbrechen? Es bestehtbei Ihrem Kollegen Belle der Wunsch nach einer Zwi-schenfrage.Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
8594 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Dem Kollegen
Belle gestatte ich sie immer.
Herr Kollege
Zeitlmann, wie beurteilen Sie das großzügige und um-
fassende Gesprächsangebot des Herrn Kollegen
Gerhardt von der F.D.P., der das individuelle Asyl-
grundrecht beibehalten will, unter dem Gesichtspunkt,
dass die beiden F.D.P.-Minister Döring und Goll aus
Baden-Württem-berg ganz intensiv die Abschaffung des
subjektiven Asylgrundrechts fordern?
Herr Kollege
Belle, als ich auf den Kollegen Hirsch einging, wollte
ich schon Herrn Gerhardt sagen, er müsse sich von
Hirsch freischwimmen und auf Dörings Position zube-
wegen. Dann können wir ganz offen über dieses Thema
diskutieren. Der linken Seite des Hauses sage ich, sie
soll sich von den linken Träumern freischwimmen,
die der deutschen Bevölkerung ein Mehr an Zuwande-
rung zumuten wollen. Dann können wir miteinander
ringen, Herr Wiefelspütz.
Meine Damen und Herren, die Frau Staatssekretärin
sprach hier davon, es müsse in Europa Mindeststan-
dards geben. Das ist ein bisschen gefährlich, da dieser
Begriff bedeuten könnte, dass Länder im Rahmen der
EU auch über diese Mindeststandards hinausgehen. Ich
halte es für sinnvoller, dass man sich für einheitliche
Standards einsetzt. Es soll gleiches Recht für alle in al-
len Bereichen Europas gelten.
Eine Debatte macht nur Sinn, wenn wir uns nicht ge-
genseitig sozusagen an den Pranger stellen und so tun,
als wenn jeweils der andere Unrecht habe. Herr Veit, Sie
haben es gemacht, indem Sie gesagt haben, wir würden
uns abschotten. Wer in die Republik schaut, der weiß
genau, dass sich unser Land nicht abschottet. Es macht
auch keinen Sinn, Frau Kollegin Beer, wenn Sie hier so
tun, als ob die Flüchtlingskonvention ein Einreiserecht
gibt. Sie schützt vor Abschiebung und Zurückweisung,
aber sie gibt kein Einreiserecht. Ich sage das, damit die
Sachverhalte nicht verwischt werden.
Frau Kollegin Beer, auch Sie sagten, die Union habe
eine Abwehrgrundhaltung. Dies ist in einer Gesellschaft
legitim. Wiefelspütz schreibt, dass in den letzten Jahren
700 000 bis 900 000 Menschen zu uns gekommen sind
– ich wollte diesen Punkt gerade erwähnen – und derzeit
in etwa gleicher Zahl gehen.
Aber jeder weiß, dass dieser Prozess des Gehens damit
zusammenhängt, dass der Staat mit großer Kraftanstren-
gung abschiebt. Wenn es diese Abschiebungen nicht
gäbe, hätten wir eine hohe Zuwanderung.
Angesichts der Tatsache, dass diese Zuwanderung
Probleme im kommunalen Bereich erzeugt, etwa in
Schulen und bezüglich der Einteilung der Schulbus-
linien, und dass die Integration in manchen Städten
wirklich nicht funktioniert, kann man doch unsere Posi-
tion nicht verunglimpfen und so tun, als ob eine Ab-
wehrhaltung etwas Negatives sei. Es ist legitim, dass
sich eine Gesellschaft vor zu viel Zuwanderung schützt.
Es hilft auch nichts, wenn wir den Eindruck erwe-
cken, als seien die, die sich vor zu viel Zuwanderung
schützen wollen, leicht asoziale Elemente, die für die
Nöte der Welt kein Herz haben. In diesem Zusammen-
hang ist diese Meinung unfair, denn unser Land tut sehr
viel im Rahmen der Zuwanderung. Denken Sie nur an
die Lasten der letzten acht Jahre, die Deutschland im
Fall der Hilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge erbracht hat!
Das ist bemerkenswert und rechtfertigt solche Vorwürfe
nicht.
Ich halte es auch für bemerkenswert, dass wir heute
erstmalig im Parlament dieses Thema diskutieren, nach-
dem der Bundeskanzler mit der Green Card sozusagen
einen Versuchsballon gestartet hat. Ohne den Antrag der
CDU/CSU hätte es die Mehrheit dieses Hauses anschei-
nend nicht für notwendig gehalten, das Parlament mit
diesem Thema zu befassen.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-
sen.
Sie können die Probleme der Republik nicht auf diese
Weise abhandeln und andererseits den Vorwurf erheben,
die Union schneide Themen an, die mit ihrem eigenen
Antrag nichts zu tun haben.
– Ich gebe gern zu, dass es nicht unbedingt mit dem
Wortlaut übereinstimmt. In Anbetracht Ihrer relativ un-
parlamentarischen Haltung erscheint es mir aber voll ge-
rechtfertigt, Ihren Kanzler sozusagen sausen zu lassen,
weil Sie das Parlament nicht einmal darüber diskutieren
lassen wollen.
– Herr Kollege Wiefelspütz, bitte schön.
Herr Zeitlmann, es gibtdoch so etwas wie bayerischen Liberalismus. Warumsind Sie kein toleranter, liberaler bayerischer Mensch?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8595
Die zweite Frage: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen,dass das gesamte Haus auch in Zukunft immer wiederdie wichtigen Fragen dieses Landes erörtern wird? Dazugehört beispielsweise selbstverständlich auch die wich-tige Frage hinsichtlich der Zuwanderung, Migration,Asyl und alles, was – wie die Green Cards – damit zu-sammenhängt. Sie sind bereit anzuerkennen, dass derheutige Tag selbstverständlich nicht der letzte Tag ist, andem eine Debatte auf diesem Felde geführt wird?
Herr Kollege
Wiefelspütz, wer mich kennt, zweifelt nicht an einer
gewissen Liberalität.
Herr Kollege Wiefelspütz, es kommt natürlich immer
auf den Standpunkt an. Sie haben wahrscheinlich relativ
wenig Detailkenntnis von bayerischer Liberalität. Das
muss man Ihnen nicht vorwerfen. Ich bleibe dabei: Es ist
bemerkenswert, dass die Mehrheitsfraktionen ihren
Kanzler etwas sagen lassen und es in der Woche darauf
nicht zum Gegenstand einer Debatte machen. Entweder
kennen Sie sich selber noch nicht aus, was damit ge-
meint ist, oder Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil
Sie kalt erwischt wurden. Das mag alles sein. Aber das
wird man doch feststellen dürfen, ohne dass man von
Ihnen Kritik erfährt.
Meine Damen und Herren, ich würde es begrüßen,
wenn die heutige Diskussion zu dem Ergebnis käme,
dass sich die Parteien zu einem neuen Diskurs zusam-
menfinden, um das Thema Zuwanderung wirklich ein-
mal aufzuarbeiten.
Es ist doch festzustellen, dass wir derzeit eine zu ho-
he Zuwanderung haben, die ungesteuert ist – es ist zig-
mal über die Anerkennungsquoten und dergleichen mehr
gesprochen worden –, und dass es in der Republik viele
gibt, die gerne Ausländer beschäftigen würden. Ich be-
haupte, nicht nur die IT-Industrie, sondern auch viele
Unternehmen würden Ausländer beschäftigen. Jeder von
Ihnen hat die Fälle in seiner Praxis, dass Kosovo-
Albaner, Bosnier zurückgeschoben werden sollen und
irgendjemand erklärt, wie wichtig, notwendig und sinn-
voll sie sind. Das Arbeitsamt erklärt fünfmal, dass sie
keine deutsche Arbeitskraft für diesen Bereich haben,
und trotzdem schieben wir ab.
Diskutieren wir doch einmal ganz unvoreingenom-
men, wie wir zu einer Steuerung kommen. Dann dürfen
Sie aber keine Vorbehalte geltend machen und sagen:
Im Ergebnis muss eine größere Zahl der Zuwanderung
herauskommen. Dieses höre ich immer wieder bei Ihnen
– nicht bei Ihnen, Herr Wiefelspütz; ich habe Sie nicht
persönlich gemeint, sondern die Gesamtheit der Stim-
men, die aus dem Regierungslager kommen. Auch die
Kritik, die Sie an dem Innenminister Schily üben, macht
es deutlich. Ich sage Ihnen: Offene Debatte ja, aber zur
rechten Zeit. Dann könnte vielleicht einmal etwas Sinn-
volles herauskommen. Eines müssen Sie auch akzeptie-
ren: Wenn wir unsere Hausaufgaben in Deutschland
nicht machen, wird eine europäische Lösung wahr-
scheinlich nicht möglich sein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Claudia Roth.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist mir ein Vergnügen, nach dem baye-rischen Abgeordneten Zeitlmann zu sprechen,
weil auch ich aus Bayern bin und es hoffentlich klarwird, dass es ein anderes Bayern gibt, dass Bayern zu-mindest sehr pluralistisch ist. Manchmal gibt es Vorur-teile, gegen die ich mich wenden möchte.
Der Antrag, über den wir heute debattieren – das wirdin der Debatte manchmal vergessen –, trägt den Titel„Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“.Wenn modern heißt: Ausbau und Schutz von Grund-und Menschenrechten, wenn modern heißt: Europäisie-rung auf dem höchsten Niveau im Sinne derer, die Hilfeund Zuflucht suchen, wenn modern heißt: liberale Inter-pretation der einschlägigen Konventionen, dann ist das,liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wasSie vorschlagen, nicht modern, sondern entsetzlich alt-modisch, überholt, mit sehr entdemokratisierenden Zü-gen.
– Herr Merz, ich bitte, dass Sie hier bleiben.
Ich wollte Sie als alten Europäer ansprechen. Ich erzählees Ihnen später.Sie treiben in alter, wohl bekannter Manier Schindlu-der mit Europa, wenn Sie die europäische Harmonisie-rung als Vehikel zum Abbau nationaler Standards undrechtsstaatlicher Errungenschaften missbrauchen wollen.Modernität ist für mich der Ausbau und Schutz vonGrundrechten, zum Beispiel im Rahmen derGrundrechtecharta der Europäischen Union. Ein mo-dernes europäisches Asylrecht setzt auch bei unsDieter Wiefelspütz
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8596 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Veränderungen voraus – das stimmt. Meine Kollegin FrauBeck hat darauf hingewiesen, dass eine Veränderung beiuns zum Beispiel heißt: eine weitergehende Interpretati-on der Genfer Flüchtlingskonvention im Sinne desUNHCR, also die Anerkennung geschlechtsspezifischerund nicht staatlicher Verfolgung. Wir wollen auf keinenFall einen europäischen Wettlauf der Schäbigkeit, dieHarmonisierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nen-ner. Wir wollen vielmehr die Sicherheit von Standardsauf einem sehr hohen Niveau.In meiner Interpretation ist Modernität nicht die Fort-setzung dessen, was in 16 Jahren Kohl-Regierung prak-tiziert wurde. In dieser Zeit wurde das GrundgesetzStück für Stück demontiert und es ist zu einem regel-rechten Steinbruch verkommen. Mit Ihrem Antrag verfolgen Sie wirklich nichts ande-res als die Demontage eines rechtsstaatlichen Asylver-fahrens. Wer fordert, dass Asylanträge bereits an derGrenze beschieden werden, der schlägt ein Prüfungsver-fahren vor, das kein Verfahren, sondern ein juristischkaschierter Fußtritt ist. Wer Rechtsschutz suchendeFlüchtlinge ins Ausland abschieben will, der entzieht ih-nen die Möglichkeit, effektiv Rechtsmittel einzulegen.Er verweigert damit die Rechtsweggarantie. Wer dasBeweisantragsrecht in Asylverfahren, das Grundrechtauf freie Meinungsäußerung, auf Vereinigungsfreiheit,auf Versammlungsfreiheit für Asyl Suchende einschrän-ken will, der entrechtet systematisch das Recht.Lieber Herr Kollege Zeitlmann, ganz nebenbei ge-sagt: Das hat auch mit christlichen Werten, so wie ichsie verstehe, nicht mehr viel zu tun.
In der aktuellen Debatte – wir haben es in den Mediengehört, wir haben es gelesen, wir haben es aber auchheute im Plenum gehört – gehen Ihre Vorstellungen weitüber das hinaus, was im Antrag vorgeschlagen wird. Esgeht tatsächlich darum – das haben Sie gesagt, HerrZeitlmann –, das individuelle Grundrecht auf Asyl ab-zuschaffen. Auch Herr Merz hat sich im „Spiegel“ dazugeäußert. Er hat erklärt, das Asylrecht zugunsten einerZuwanderungsregelung ablösen zu wollen, die sich – ichzitiere – „ausschließlich an den Interessen des Staates“orientieren solle.Die Nöte derjenigen Menschen, die vor Todesgefahr,vor Folter, vor Misshandlung fliehen wollen, sollen alsovolks- und betriebswirtschaftlichen Erwägungen unter-geordnet werden. Mit Verlaub, liebe Kollegen: Das istder untaugliche Versuch der Entsorgung unserer histori-schen Verantwortung, wie sie als Konsequenz des Nazi-terrors in Art. 16 des Grundgesetzes formuliert wurde.
Das Grundrecht auf Asyl ist ein subjektives Rechtund eben kein Gnadenrecht des Staates. So ist es und somuss es bleiben, ganz im Sinne der Genfer Flüchtlings-konvention, auch auf europäischer Ebene. HerrZeitlmann, seien Sie sicher: Das wird von uns auch eu-ropäisch so eingefordert.Ich möchte gerne noch auf Punkt 10 Ihres Antragseingehen, in dem Sie eine so genannte Lastenverteilungfordern, die in erster Linie nach Quoten erfolgen soll.Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag vorge-legt, der von mir in den Grundzügen voll geteilt wird.Ich begrüße sehr, dass der geplante Aufbau von Asylsys-temen in Ländern, die in diesem Bereich noch einenNachholbedarf haben, stattfinden soll. Ich finde es lo-benswert, dass diejenigen Flüchtlinge, die nur einen sogenannten subsidiären Schutz genießen, in staatliche In-tegrationsprogramme aufgenommen werden sollen. Außerdem – darum geht es in dem Streit über Quoteund Flüchtlingsfonds – begrüße ich das sehr, dass dieKommission vorschlägt, dass in Massenfluchtsituationendiejenigen EU-Länder einen finanziellen Ausgleich er-halten sollen, die mehr Flüchtlinge als andere aufge-nommen haben. Also: Bitte keine Blockaden!Ich wollte Herrn Merz – leider ist er hinausgegangen– viel Glück und Kraft in seinem neuen Amt wünschen.Das kann er sicherlich gebrauchen.
Ich wollte ihn an seine Ankündigung erinnern, Europa-politik zu einem Schwerpunkt der politischen Auseinan-dersetzung zu machen. Das halte ich für eine gute undpositive Ankündigung.Nur, die Tonlage, mit der von Unionsvertretern dieThemen „Asyl“ und „Türkei“ angestimmt werden,macht mich sehr skeptisch, weil ich nicht glaube, HerrBosbach – auch er ist nicht mehr da –, dass es wirklicheine verantwortungsvolle Debatte ist; vielmehr geht esum eine rechtspopulistische Stimmungsmache. Ich glau-be, dass billige Polemik und neue Kampagnen, dieFlüchtlinge kriminalisieren und sie zur Bedrohung erklä-ren, sehr gefährlich sind. Wie brandgefährlich das ist,haben wir – im wahrsten Sinne des Wortes – in der ÄraKanther erlebt. Also: Bitte keine Stammtisch- undStarkbierparolen, sondern eine wirklich verantwortungs-volle Diskussion.Zum Schluss: Ich glaube, dass wir die allerbesten Eu-ropäer sind, wenn wir dafür kämpfen, dass die europä-ische Harmonisierung am besten auf der Basis des un-veräußerlichen Schutzes und Respektes gegenüberGrundrechten geschieht, weil die Grundrechte das Al-lermodernste sind, was wir haben und was Europa hat.Ohne Grundrechte, ohne das individuelle Grundrecht aufAsyl wäre dieses Europa sehr viel ärmer.
Und dies, Herr Zeitlmann, sagt eine Dame aus Bay-ern!
Claudia Roth
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8597
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Barthel.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ich habe es ein bisschen be-dauert, dass durch dieses – ich nenne es einmal so –Zwischenspiel eine Debatte, die teilweise Aussagen her-vorgebracht hat, über die man reden sollte, unterbrochenwurde. Es fielen in der Tat einige Bemerkungen – ichdenke besonders an die von Herrn Gerhardt –, von de-nen man sagen kann, dass man darüber weiter redenmüsste.Ich habe mir auch von Herrn Bosbach einen Satz auf-geschrieben, der mich doch tief beeindruckt hat. DerSatz lautet:Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondernüber Menschen.Herr Bosbach, dieser Satz wird bestimmt auch im Zu-sammenhang mit Ihrem Namen häufig zitiert werdenund ich kann Ihnen auch sagen: Er wird nicht nur zitiertwerden, sondern daran wird sich auch vieles messen las-sen müssen, was Sie in der konkreten Politik in diesenBereichen, über die wir heute reden, tun.Es ist ein wichtiger Satz – manche behaupten, es seiein Bischofswort –, aber er steht völlig im luftleerenRaum im Verhältnis zu allem, was wir bisher ansonstenhierzu gehört haben.Mich wundert auch, dass alle Debatten, die bei Ihnengeführt werden, offensichtlich immer mit der Aussageenden: Wir müssen das individuelle Asylgrundrechtabschaffen. – Komisch, immer läuft das darauf hinaus,angefangen mit der Green Card bis zu allem Möglichen;es läuft immer auf diesen Punkt hinaus. Wie hieß es abernoch? Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondernüber Menschen.Meine Damen und Herren, was mich ebenfalls ge-wundert hat, ist Folgendes. Der Antrag lautet „Moderneseuropäisches Asyl- und Ausländerrecht“ und Sie wollendamit die Bundesregierung auffordern, die Harmonisie-rung voranzutreiben. Gesagt haben Sie zu Ihrem eigenenAntrag nichts. Nun könnte man das damit abtun, dassman sagt: Jeder Schüler hat es schon einmal erlebt, dassunter einem Aufsatz stand „Thema verfehlt“. Aber ichdenke, hier liegt der Grund ein bisschen tiefer.Warum bringen Sie einen solchen Antrag ein, redenaber nicht über das eigentliche Ziel des Antrages, näm-lich die europäische Ebene, die hiermit doch gemeintist? Dafür gibt es eine Erklärung: Sie nehmen den An-trag selbst nicht ernst, weil Sie meinen, das Thema liegebei der jetzigen Bundesregierung schon in guten Hän-den. Die Staatssekretärin hat vorhin ja auch vorgetragen,was alles in diesem Bereich bereits getan wurde. Ichgehe davon aus, dass Sie das auch wissen. Also müsstees dafür einen anderen Grund geben.Ich werde Ihnen anhand eines kleinen Beispiels ausIhrem eigenen Antrag zu begründen versuchen, weshalbdas nach meiner Ansicht stimmt. Ich habe das Gefühl,dass es Ihnen gar nicht um die Harmonisierung auf eu-ropäischer Ebene geht, sondern dass für Sie das Ziel„Harmonisierung“ eigentlich nur ein Instrument ist, umdie Standards, die wir in der Bundesrepublik haben, ab-zubauen. Nach meinem Eindruck ist also Ihr Interessegar nicht auf das gerichtet, was wir eigentlich alle wol-len und was wichtig ist, nämlich in der Tat zu einerHarmonisierung des Ausländer- und Asylrechts auf eu-ropäischer Ebene zu kommen, sondern auf eine Senkungder Standards, die wir heute in Deutschland haben. Da-bei ist es meines Erachtens doch so wichtig, dass wir unsauch einmal mit den Problemen beschäftigen, die vorder Harmonisierung stehen und die wir zu lösen haben. Jeder versteht unter Harmonisierung eigentlich einbisschen etwas anderes. Wer versteht aber was darunter?Welche Positionen sollen überhaupt harmonisiert wer-den? Gibt es nicht auch Unterschiede, die weiterhin alsUnterschiede behandelt werden müssen? Nach demGleichheitsgrundsatz, den wir einmal gelernt haben, warja nicht alles gleich zu machen, sondern unterschiedlicheTatbestände waren entsprechend ungleich zu behandeln.Alle diese Fragen bleiben aus und für mich ist diewichtigste Frage: Was ist am Ende? Werden wir ein li-berales, ein liberaleres europäisches Asyl- und Auslän-derrecht haben oder wird der Vorwurf, der immer zu hö-ren ist, vom „Ausbau der Festung Europa“ bestätigt?Meine Damen und Herren, wie wichtig die Einheit-lichkeit in bestimmten Bereichen und auch die Harmoni-sierung ist, geht aus dem Punkt 10 Ihres Antrags, denich einmal als Beispiel herausgreife, hervor, nämlich ausdem, was Sie als „Lastenverteilung“ bezeichnet haben.Man könnte auch von „gemeinsamer Verantwortung fürFlüchtlinge“ reden, aber der Begriff „Lastenverteilung“hat sich in diesem Zusammenhang wohl eingebürgert.Es kann in der Tat nicht sein, dass die Partner humanitä-re Hilfen aus purem Eigeninteresse anderen Ländern überlassen. Das kann nicht so bleiben. Ich glaube, wirsollten versuchen – hier liegen wohl die größten Pro-bleme –, zu einer Harmonisierung zu kommen, damitein „Lastenausgleich“ zustande kommt.Lassen Sie mich ein Problem benennen: Wir werdenin dieser Frage auf europäischer Ebene erst dannglaubwürdig sein, wenn wir das auch innerhalb Deutsch-lands geregelt haben. Wir haben doch innerhalbDeutschlands zwischen den Bundesländern ebenfalls dasProblem, dass wir diesen Ausgleich nicht schaffen. Ichnenne das Stichwort: Bosnien-Flüchtlinge. Es gab Län-der, in denen eine große Anzahl von Flüchtlingen war,und es gab Länder, in denen nur wenige Flüchtlinge wa-ren. Bevor wir auf europäischer Ebene einen Ausgleichfordern, müssen wir es erst schaffen, den Ausgleich zwi-schen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschlandhinzubekommen.Es war eine Leistung – jedenfalls bewerte ich dassehr hoch –, dass es die jetzige Bundesregierung ge-schafft hat, bei den Kosovo-Flüchtlingen diesen Aus-gleich in der Bundesrepublik Deutschland endlich zu-stande zu bringen. Ein Kompliment; das ist gut. Mit die-ser Position haben wir auf europäischer Ebene si-cher größere Chancen, dieses sinnvolle Ziel des
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8598 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Lastenausgleichs hinzubekommen und in diesemBereich eine Harmonisierung zu erreichen.Im Kern geht es bei der Harmonisierung darum, einengemeinsamen Nenner zu finden. Hier ist nun die Frage:Will man den kleinsten gemeinsamen Nenner oder willman einen größeren Nenner auf humanitärer Basis? Derkleinste gemeinsame Nenner darf es wohl nicht sein. Ichvermute, dass dies das Ziel der CDU/CSU ist: Sie wol-len nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner auf eu-ropäischer Ebene, sondern es sollen auch die Möglich-keiten gedeckelt werden, dass einzelne Ländern in dieserFrage einen größeren Spielraum haben.Wir haben vor einiger Zeit in diesem Hause über ei-nen Antrag der CDU/CSU gesprochen, und zwar überdie so genannte Warndatei. Er ist von allen Fraktionen,außer der der CDU/CSU – ich erinnere mich noch an Ih-re Rede –, abgelehnt worden, auch von der F.D.P. Dashat mich gewundert. Hier sieht man nun eine gewisseMethode. In Punkt 12 Ihres heutigen Antrages zur Har-monisierung des Ausländer- und Asylrechts taucht ge-nau dieser Punkt als Forderung wieder auf. Mit anderenWorten: Das, was Sie hier nicht erreichen, wollen Siejetzt auf europäischer Ebene durchsetzen, damit es auchin Deutschland gültig wird. Das ist nicht unser Ansatzfür eine notwendige Harmonisierung des europäischenAusländer- und Asylrechts.
Die Bereiche, die bereits von der Bundesregierunggenannt worden sind, möchte ich jetzt nicht wiederho-len. Ich möchte nur abschließend eines sagen: Ich binnach den Vorläufen, den Diskussionen, Anträgen undEntscheidungen seitens der CDU/CSU-Opposition, diewir in diesem Bereich bisher hatten, eigentlich froh, dassdie Verhandlungen über die notwendige Harmonisierungauf europäischer Ebene nicht weiter von Ihnen geführtwerden, sondern von der jetzigen Bundesregierung.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gegenstand dieser Debatte ist ein
Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel – man muss
das vielleicht sagen, weil heute über den Antrag selber
wenig gesprochen worden ist –: „Modernes europäi-
sches Asyl- und Ausländerrecht“. Ich habe allerdings als
jemand, der die Debatte, die ja doch ein bisschen länger
geworden ist als geplant, verfolgt hat, seitens der Uni-
onsfraktion von Modernisierung wenig gehört. Ich habe
mich daran erinnert, dass ich vor einigen Wochen Herrn
Bosbach nach seiner Wahl zum stellvertretenden
Unionsfraktionsvorsitzenden – Nachfolger von Herrn
Rüttgers – zuständig für den Bereich Inneres und Recht,
ausdrücklich gratuliert habe, weil ich ihn im Vergleich
zu Herrn Rüttgers als sehr sachlich auftretenden Kolle-
gen, gerade im Innenausschuss dieses Hauses, erlebt ha-
be. Aber es scheint wirklich so zu sein, dass unter den
Blinden der Einäugige König ist und dass auch der Ein-
äugige, wenn er hier ans Rednerpult tritt, offenbar dem
Rechnung tragen muss, was bei Ihnen Methode zu sein
scheint, nämlich Ausländerpolitik so zu gestalten, dass
man erst einmal schaut, wie man sie parteipolitisch in-
strumentalisieren und nutzen kann. Das wird dem An-
spruch, den wir als Parlamentarier haben sollten, nicht
gerecht.
Wer zudem in diesen Tagen die Nachrichten auf-
merksam verfolgt, der kann eigentlich nur zu der
Schlussfolgerung gelangen, dass wieder einmal das
Thema Ausländer dafür herhalten soll, zum Zwecke par-
teipolitischen Vorteils unberechtigte Ängste in der Be-
völkerung zu wecken. Wenn man etwa die Äußerungen
des Kollegen Marschewski in diversen Interviews nach-
liest, dann kann man fast den Eindruck gewinnen, dass
wir das bestehende Recht am besten durch die Abschaf-
fung des Rechtes modernisieren, in diesem Falle also
das Asylrecht am besten dadurch modernisieren, dass
wir das Grundrecht auf Asyl abschaffen, von dem der
Generalsekretär der CSU, Herr Goppel, gesagt hat, es
dürfe keine heilige Kuh darstellen. Dies macht ein biss-
chen verständlicher, warum Herr Rüttgers etwas gegen
Hindus hat. Denn die haben ja bekanntlich Respekt vor
heiligen Kühen.
– Das stünde Ihnen auch gut an.
– Herr Ramsauer, wollen Sie eine Zwischenfrage stel-
len?
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ja, in diesem Falle tue ich
das gerne.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Edathy. Ich habe einenschönen Namen: Ich heiße Erwin Marschewski undnicht Otto Schily. Wer hat denn jetzt gesagt, die Grenzeder Belastbarkeit sei überschritten? Ich frage das nunzum wiederholten Male. Wer hat denn gesagt, wir müss-ten das subjektive Asylgrundrecht abschaffen? Dochnicht primär ich, sondern der Kollege Schily!Eckhardt Barthel
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8599
Herr Kollege Edathy, geben Sie mir da Recht?Was sagt denn Ihre Fraktion zu dieser Äußerung desHerrn Bundesinnenministers? Fordert sie ihn endlichzum Rücktritt auf? Wir würden dies gerne tun; denn ersagt und verspricht viel, verwirklicht aber nichts. Ange-sichts dessen, dass seine Haltung im Widerspruch zu Ih-rer politischen Meinung und auch zu der Ihres verehrtenVorredners steht, müssten Sie ihn doch konsequenter-weise auffordern – ich erinnere an seine Äußerungenhinsichtlich der Abschaffung des Asylrechts und derGrenze der Belastbarkeit –, nun endlich zurückzutreten.Warum tun Sie das nicht, Herr Kollege?
Herr Kollege
Marschewski, ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis,
dass Sie offenkundig in jede Debatte mit dem Vorsatz
gehen, ein und dieselbe Zwischenfrage mindestens
fünfmal zu stellen. Die mir soeben gestellte Frage haben
Sie – wahrscheinlich in der Hoffnung, dass es inzwi-
schen vergessen worden ist – bereits an den Kollegen
Veit gerichtet. Ich kann Ihnen hier nur sagen: Ich trete
an dieses Rednerpult als Parlamentarier, als direkt ge-
wählter Vertreter des deutschen Volkes und ich erlaube
mir als Parlamentarier, darauf hinzuweisen – da befinde
ich mich in großer Übereinstimmung mit der SPD-
Fraktion –, dass für uns die Verfassung nicht zur Dispo-
sition steht,
sondern dass wir ganz im Gegenteil stolz darauf sind,
Herr Marschewski, ein Land zu sein, das aus seiner leid-
vollen Geschichte gelernt hat und das dementsprechend
verfolgten und bedrängten Menschen Zuflucht gewährt.
– Das war eine eindeutige Antwort, so denke ich.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Es steht Ihnen frei.
Wenn es der Erkenntnis-
gewinnung des Herrn Marschewski dient, dann darf er
gerne noch eine weitere Frage stellen.
Ich möchte das Gleiche noch einmal fragen; denn ich
habe erneut keine Antwort bekommen. Meine Frage lau-
tet: Warum halten Sie diese politische Ansicht – wenn
Sie eine andere Meinung vertreten, akzeptiere ich das –
ununterbrochen mir vor und nicht dem Bundesinnenmi-
nister?
Herr Marschewski, ichwill jetzt nicht vertieft in Debatten einsteigen, die wirunter anderem im letzten Herbst miteinander geführt ha-ben. Aber ich will Sie doch darauf hinweisen, dass derBundesinnenminister über mögliche Änderungen desAsylrechtes stets nur perspektivisch in Bezug auf dieWeiterentwicklung des europäischen Rechtes gespro-chen hat. Sie versuchen jetzt im Grunde genommen, ei-ne aktuelle Debatte, nämlich die hinsichtlich der Com-puterspezialisten, zu missbrauchen, die mit dem ThemaZuwanderung grundsätzlich nicht viel zu tun hat.
Ich komme darauf noch zu sprechen. Ich bin sehr dank-bar, dass ich meine Redezeit ein bisschen erweiternkann, weil Herr Marschewski so kluge Fragen an michstellt. Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als besteheim Asylrecht ein kurzfristiger Handlungsbedarf. Ichkann nur feststellen: Das deutsche Asylrecht ist in Ord-nung. In den letzten Jahren haben, wenn man sich dieentsprechenden Zahlen ansieht, in Deutschland jährlichetwa 100 000 Menschen Asyl beantragt. Die Zahl derAntragsteller lag 1992 bei 400 000 und 1993 bei300 000. Jetzt aufgrund dieses Datenmaterials zu be-haupten, es gebe einen kurzfristigen Handlungsbedarf,das halte ich vor allen Dingen für eines – Herr Marschewski, das will ich Ihnen so deutlich sagen –,nämlich für völlig unverantwortlich. Denn Sie weckenin der Bevölkerung Ängste, obwohl es gar keinen Grundfür diese Ängste gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,ich habe vorhin mit Freude gehört, dass Sie in Bezug aufdie Bereiche Ausländerpolitik und Migrationspolitik einGesprächsangebot gemacht haben. Ich will aber nocheinmal deutlich machen, was ich schon in meiner Ant-wort auf die Frage von Herr Marschewski kurz betonthabe: Für uns kann es, wenn Herr Zeitlmann davonspricht, man dürfe keine Vorbedingungen stellen, nichtheißen, dass wir als deutsche Parlamentarier auf dieVorbedingung verzichten, die Verfassung zur Grundlageunseres Handelns zu machen. Die Verfassung zur Dis-position bzw. infrage zu stellen ist für uns keine Vorbe-dingung, die wir erfüllen könnten. Vielleicht sollten Sienoch einmal über Ihr Selbstverständnis als Bundespoli-tiker, als Mitglieder dieses Hauses nachdenken, wennSie hier solche abenteuerlichen Forderungen stellen.
Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicherlich da-rin übereinstimmen, dass das europäische Recht weiter-entwickelt werden muss, nicht zuletzt dahin gehend, zu-nehmend gemeinsame Regelungen für die Asyl- undMigrationspolitik zu schaffen. Der im Mai 1999 in
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Im Antrag der Union wird unter Punkt 14 ein „ein-heitliches Regelungssystem hinsichtlich legaler sonsti-ger Einwanderung“ gefordert. Diese Forderung bestehtvöllig zu Recht. Dann aber habe ich an Sie, Kolleginnenund Kollegen von der Union, die Bitte, auch konsequentzu sein und damit aufzuhören, die Zuwanderung ständigals Bedrohung darzustellen. Mit Schwarz-Weiß-Malerei,mit Ideologie kommen wir nicht weiter; denn Zuwande-rer sind weder die besseren Deutschen, noch stellen siedie Lebensgrundlagen der Einheimischen infrage. Des-halb meine Bitte an Sie: Kommen Sie weg von dem Ge-danken der Abwehr und hin zu dem Gedanken der Ge-staltung von Zuwanderung! Wir sind darauf angewiesen,die damit verbundenen Chancen zu nutzen.
Ich war ausgesprochen überrascht – ich bin es nachder heutigen Debatte umso mehr –, als wir Ende letztenJahres im Innenausschuss einen Entschließungsantragder Union vorgelegt bekamen, in dem folgender Satzabgedruckt war:Die demographische Überalterung unserer Gesell-schaft erfordert eine Zuwanderung jüngerer Men-schen.Ich weiß nicht, ob Herr Rüttgers diesen Entschließungs-antrag kennt.
Herr Zeitlmann jedenfalls scheint ihn nicht zu kennen.Sonst hätte er nicht so gesprochen, wie er es heute getanhat. Meine Damen und Herren, das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung veröffentlichte erst vor wenigenMonaten eine Studie zur Bevölkerungsentwicklung mitdem Fazit, dass angesichts rückläufiger Bevölkerungs-zahlen und steigender Lebenserwartung Zuwanderermittel- und langfristig dringend benötigt werden, umArbeitsplätze in Deutschland nicht verwaisen zu lassenund den Sozialstaat auch in Zukunft finanzieren zu kön-nen. Insofern sind wir gut beraten, eine sachliche Debat-te zu führen. Gerade weil wir perspektivisch auf Zu-wanderung angewiesen sein werden, brauchen wir eineparteiübergreifende Verständigung über ihre Gestaltung.Zu dieser Verständigung gehört meines Erachtens auch,dass wir uns neben der stattfindenden Zuwanderung ba-sierend auf gesetzlichen Verpflichtungen und humanitä-ren Gründen auch Gedanken darüber machen, welcheGruppen wir langfristig mit Blick auf den Arbeitsmarktin Deutschland benötigen.Hierzu ein klares Wort an Herrn Gerhardt, der vorhinfür die F.D.P. gesprochen hat: Angesichts von4 Millionen Arbeitslosen ist die Frage eines Zu-wanderungsgesetzes nicht Gegenstand einer tagesaktuel-len Debatte. Dies unterscheidet sie meines Erachtensganz deutlich vom Staatsbürgerschaftsrecht, das wirdringend reformieren mussten, weil Handlungsbedarfgegeben war. Wir haben die Zeit, das Vorhaben einesEinwanderungsgesetzes in aller Ruhe, vielleicht in dernächsten Wahlperiode unter Beteiligung möglichst vie-ler Kolleginnen und Kollegen sowie unter Beteiligungvieler Wissenschaftler, in Angriff zu nehmen. Das soll-ten wir auch machen.Ein Letztes will ich noch zu dem Herrn KollegenRüttgers sagen, der nun leider nicht hier ist. Er hat mei-nes Erachtens billige und ausländerfeindliche Sprüchegeklopft, als er darauf hinwies, man bräuchte Kinderund nicht Inder an den Computern. Dazu will ich Ihneneinmal ausdrücklich etwas als jemand sagen, der Kindeines gebürtigen Inders ist, der schon Anfang der 60er-Jahre nach Deutschland gekommen ist: Ich hoffe, HerrRüttgers hat es nicht nötig, bald einmal ins Krankenhauszu gehen. Aber wenn er dies machen würde, könnte ersich dort ein Bild davon machen, was für eine gute Ar-beit schon seit langer Zeit gerade indisches Personal alsÄrzte, Krankenschwestern oder Pfleger in deutschenKrankenhäusern leistet.
Der Erfolg dieses Landes, meine Damen und Herren,beruht auch auf der Arbeit von Menschen, die vor ge-raumer Zeit hierher gekommen sind. Die Bedeutung desEngagements solcher Menschen, die zu uns gekommenSebastian Edathy
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sind, um mit uns für den Erfolg dieses Landes zu arbei-ten, wird noch zunehmen. Ich wünsche mir eine ideologiefreie Debatte über die-se Fragen. Schaufensterreden, wie wir sie heute vielfachvon der Opposition gehört haben, sollten wir uns schen-ken. Die Sache, um die es geht, ist viel zu wichtig, umsie hier billigen tagespolitischen Effekten zu opfern. Vielen Dank.
Ich schließedamit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-sung der Vorlage auf Drucksache 14/2695 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zusätz-lich an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar-beit und Entwicklung vorgeschlagen. Sind Sie einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-wie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: 12. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset-zes zur Änderung des Futtermittelgesetzes – Drucksache 14/2636 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. IljaSeifert und der Fraktion der PDS Strukurelle Erneuerung der Ausbildungs-förderung – Drucksache 14/2789 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschussZP 2 a) Erste Beratung des von der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Umsetzung einer Steuerreformfür Wachstum und Beschäftigung – Drucksache 14/2903 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, HeidemarieEhlert, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on der PDS Besteuerung der Unternehmen nach derenLeistungsfähigkeit – Drucksache 14/2912 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Erste Beratung des von der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Stabilisierung des Mitglieder-kreises von Bundesknappenschaft und See-Krankenkasse – Drucksache 14/2904 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Modernisierung der Ausbildungs-förderung für Studierende – Drucksache 14/2905 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu einigen Beschlussfassungen zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 a auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Verlängerung der Gel-tungsdauer des Internationalen Kaffee-Über-einkommens von 1994 – Drucksache 14/2125 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 14/2744 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-SperkWir kommen gleich zur Abstimmung. Der Ausschussfür Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksa-che 14/2744, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen,sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koaliti-Sebastian Edathy
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onsfraktionen und der CDU gegen die F.D.P. bei Enthal-tung der PDS angenommen worden. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 13 b: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Körperschaftsteuer- und Gewer-besteuergesetzes – Drucksache 14/1520 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses – Drucksache 14/2780 – Berichterstattung: Abgeordnete Nicolette KresslNorbert BarthleDer Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf aufDrucksache 14/1520 für erledigt zu erklären. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Ge-genstimmen oder Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommenworden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 c: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Investitionszulagengesetzes 1999 Drucksache 14/2270 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses – Drucksache 14/2818 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Mathias Schubert Hans Seiffert Heidemarie EhlertDer Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf aufDrucksache 14/2270 für erledigt zu erklären. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-lung ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundes-tag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundes-verfassungsgericht– Drucksache 14/2779 –Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/2779? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen worden.Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzesaus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Ände-rung der Handwerksordnung und andererhandwerksrechtlicher Vorschriften – Drucksache 14/2809 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 14/2922 – Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt auf Drucksache 14/2922, den Gesetzentwurf un-verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetz-entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange-nommen worden.Wir kommen zur dritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitten Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen. – Sollte jemand dagegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-mit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzenHauses angenommen worden.Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Kritische Bewertung der Umweltpolitik derBundesregierung durch den Umwelt-Sach-verständigenratIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Abgeordnete Grill.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sachver-ständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung hatin seiner jüngsten Bilanz eine vernichtende Kritik an derUmweltpolitik der jetzigen Bundesregierung ausgespro-chen. Man könnte diese Kritik auch damit überschrei-ben, dass man sagt: Stell dir vor, ein Grüner wird Um-weltminister und keiner merkt was.
Es ist so, dass der Sachverständigenrat in seiner Bi-lanz deutlich macht, dass das, was sozusagen als Mar-kenzeichen der Grünen in den Wahlkämpfen wie eineMonstranz vorweggetragen worden ist, gar nicht wahr-genommen wird. Sie sind schlicht und einfach dabei, aufdem klassischen, Ihnen im Parteienspektrum zugewiese-nen Kompetenzfeld zu versagen. Umweltpolitik ist indieser Bundesregierung, in dieser Koalition eher einVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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fünftes Rad am Wagen und sie ist kein zentraler, inte-grativer Bestandteil der Politik.Sie haben sich das sehr einfach gemacht, indem Siegesagt haben: Ökosteuern rauf, raus aus der Kernener-gie. Das war die Bilanz der letzten Monate. Das wird derKomplexität von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpoli-tik in keiner Weise gerecht. Ihre Politik ist mehr an Pres-tigeobjekten orientiert als an der Frage, wie komplexeSachverhalte Lösungen zugeführt und Interessen mitein-ander versöhnt werden können. Ganz nebenbei haben Sie die internationale Kompe-tenz der Bundesrepublik aufs Spiel gesetzt und zum Teilsogar zerstört, weil Sie sowohl im europäischen als auchim globalen Geleitzug nicht mehr als Lokomotive vornesind. Sie hängen vielmehr hintendran und halten dasGanze eher auf. Ich nenne nur die Blamage, die Sie inSachen Altautoverordnung der Bundesrepublik Deutsch-land – sozusagen von Wolfsburg aus über das Bundes-kanzleramt – in der europäischen Umweltpolitik zuge-fügt haben.
Hinzu kommt, dass Sie in einem der Felder, in demSie massivste Kritik an der alten Koalition geübt haben– im Bereich des Naturschutzes –, bis heute den Beweiseiner besseren, anderen Politik schuldig geblieben sind.Es herrscht Funkstille statt Aufbruch im Naturschutzund in der Klimapolitik. Herr Loske hat vor wenigenMonaten in der „Zeit“ ganz richtig festgestellt, es beste-he die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland ihreLeitbildfunktion verliere. Es besteht nicht nur die Ge-fahr, Herr Loske, sondern es ist Realität, dass die Bun-desregierung in Sachen Klimapolitik die Leitbildfunkti-on verloren hat.
Der Sachverständigenrat stellt zu Recht fest – damitentlarvt er die Ökosteuer als das, was sie ist –, dass dieÖkosteuer kein ökologisches Instrument, sondern einBeitrag zur Finanzierung der Sozialpolitik ohne ökologi-sche Wirkung ist. Wenn wenigstens eine ökologischeWirkung festzustellen wäre, könnten wir das anderenoch besser akzeptieren. Aber dass sie nur ein fiskali-sches Instrument sein soll, das kann es wohl nicht sein:Belastungen statt Fortschritt. Das Ozongesetz ist eher das Vehikel, das schon im-mer zentrale Thema der Grünen in der Verkehrspolitik –alle Autos fahren nur noch 30 km/h – durchzusetzen, alsdass es zur Lösung der Ozonproblematik dient. Wenn man einmal fragt, wo das klimapolitische Kon-zept dieser Bundesregierung ist, dann können Sie eigent-lich nichts vorweisen. Das sieht man auch an der Ant-wort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik. Sowohldie Klimakonferenz in Bonn als auch viele andere Er-eignisse machen deutlich, dass weder der Bundeskanzlernoch der Umweltminister in der globalen und europäi-schen Politik eine Meinungsführerschaft haben. Das isteine fundamentale Veränderung. Denn wenn wir heuteVerpflichtungen haben – Rio plus 10, Agenda 21 undÄhnliches –, dann sind sie der globalen Politik vonHelmut Kohl, Klaus Töpfer und Angela Merkel zu ver-danken, aber nicht Ihrer Politik, meine Damen und Her-ren.
Sie haben keine Konzepte und verschärfen das CO2-Problem. Was Sie in den letzten Wochen hier vorgelegthaben, ist keine Energiewende, sondern Stückwerk. Daswird daran deutlich, dass der Bundeskanzler in einemseiner entscheidenden Beiträge zur Umweltpolitik ge-sagt hat: Kernenergie raus, Kohlekraftwerke rein. Diesist eine Antiklimapolitik und kein Beitrag zurKlimapolitik. Das gilt auch für die UVP und Ähnliches.
Meine Damen und Herren, auch ich hätte selber for-muliert: Umweltpolitik ist eine Sache von Herz undVerstand. Ich hätte das aber gar nicht so gut ausdrückenkönnen wie Sie es, Herr Loske, jüngst auf die Frage, wasgrüne Umweltpolitik sei, gesagt haben.
Herr Kollege,
nur fünf Minuten!
Sie haben gesagt: Es
fehlt das grüne Herz. Bei vielen unserer Spitzenleute
spielt das Thema Umweltpolitik keine große Rolle oder
ist zumindest keine Herzensangelegenheit. – Dann sagen
Sie: Der enge Zuschnitt des Umweltministeriums ist völ-
lig falsch, er garantiert die immanente Impotenz. Hier
muss sich in der nächsten Legislaturperiode ... etwas än-
dern. – Ich rufe Ihnen zu: Herr Loske, ändern Sie jetzt
die Tatsache, dass dieser Umweltminister und Ihre Koa-
lition nach Ihrer eigenen Aussage eine impotente Um-
weltveranstaltung sind. Das ist die Bilanz.
Das Wort hat
die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Dieses Spielchen kennen wir: wieman solche Gelegenheiten nutzt, um irgendjemandenvorzuführen.
Da machen Sie es sich ein wenig einfach. Denn Sie zie-hen einiges heran, was im Sachverständigengutachtensteht, nämlich das, was Ihnen passt. Aber das, was Ihnennicht passt, übergehen Sie natürlich: dass die Sachver-ständigen den Ausstieg aus der Atomenergie befürwor-ten und darin keinen Widerspruch zum Klimaschutz se-hen. Deswegen hoffe ich sehr, dass mit dieser AktuellenStunde das Sachverständigengutachten für Sie nicht er-ledigt ist, sondern dass Sie sich damit zukünftig noch einbisschen intensiver auseinander setzen. Hätten Sie das schon getan, dann wäre Ihnen sicher-lich aufgefallen, dass das, was in der Presse über dasGutachten verbreitet worden ist, nicht dem entspricht,Kurt-Dieter Grill
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8604 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
was im Gutachten steht. Es ist im Übrigen ein Werk vonfast 1 000 Seiten. Es lohnt sich, hier und da etwas ge-nauer hinzusehen. Grundsätzlich ist der Sachverständigenrat natürlichberechtigt, Kritik zu üben. Das ist sicherlich ein Teilseiner Aufgabe. Das heißt aber nicht, dass wir alle Vor-schläge, die er macht, befürworten müssen. Ich darf Siedaran erinnern, dass Ihre Seite genau dies in den letztenLegislaturperioden, wo das Spielchen andersherum ge-laufen ist, gesagt hat, übrigens auch die damalige Um-weltministerin. Davon abgesehen kann man dem Umweltgutachten2000 entnehmen, dass die meisten Probleme, die dortangesprochen sind, nicht erst in der Zeit der rot-grünenRegierung entstanden sind, sondern wesentlich früher.
Dort werden eine ganze Reihe von Problemen angespro-chen, die man nicht, wie Herr Grill es eben dargestellthat, damit in Verbindung bringen kann, dass vorher dieWelt in Ordnung war. Vielmehr werden dort viele altePositionen des Sachverständigenrates wiederholt, die erauch heute noch vertritt; aber er hat diese Positionen,weil Sie nichts gemacht haben.Jetzt wird erwartet, dass innerhalb von anderthalboder zwei Jahren die Welt umgekrempelt wird; aber ichglaube, dass dabei ein kleines bisschen auch dasschlechte Gewissen bei Ihnen eine Rolle spielt. Sie ha-ben sich nämlich bisher eines öffentlichen Kommentarsenthalten.Ich bin davon überzeugt: Wir wären in vielen Punk-ten sehr viel weiter, wenn Sie wirklich eine Umweltpoli-tik umgesetzt hätten und nicht nur Projekte angekündigtund auf Papieren zusammengetragen hätten, wenn alsodie Regierung Kohl das getan hätte, was sie immer an-gekündigt hat; aber das hat sie nicht getan. Wenn sie nurhalb so viel Umweltpolitik realisiert hätte, wie wir in derkurzen Zeit bisher angefangen haben, wären wir einganzes Stück weiter.
Natürlich kann man als Umweltpolitiker ungeduldigwerden. Das werde ich und viele meiner Kollegen wer-den es auch. Wir hätten es gern, wenn das eine oder an-dere sehr viel schneller umgesetzt werden würde; aberwir können ja nicht so tun, als wären die Probleme, dieSie 16 Jahre lang auflaufen ließen, in zwei Jahren zu lö-sen. In diesem Punkt hätte ich mir auch etwas mehr Rea-litätssinn beim Sachverständigenrat gewünscht.
Vielleicht könnte sich der Sachverständigenrat jaauch einmal damit beschäftigen, warum in den Medienganz bestimmte Themen die Überschriften dominieren,andere Themen aber nicht. Das hat nämlich häufig damitzu tun, dass es um Auflagen und nicht um die Vermitt-lung besonders wichtiger Inhalte geht. Das hat der Sach-verständigenrat in diesem Falle für sich genutzt, um dis-kutiert zu werden. Wie gesagt, wir bleiben hoffentlichnicht bei dieser Diskussion in der Aktuellen Stunde ste-hen.Einiges, was in diesen Ausführungen steht, sind Posi-tionen, die wir teilen. Es sind aber auch Positionen ent-halten, die wir nicht teilen. Ich habe mich zum Beispieldarüber gewundert, dass es eine uneingeschränkt positi-ve Bewertung von handelbaren Emissionslizenzen oderhandelbaren Flächenverbrauchsregelungen gibt. Als ichmir ansah, was dort vorgeschlagen wird, habe ich mirerst einmal die Augen gerieben. Vielleicht muss mandarüber noch einmal intensiver diskutieren. Natürlichmuss die Flächenversiegelung zurückgeführt werden –da brennt es in der Tat –, aber das, was dort vorgeschla-gen ist, fand ich nicht sehr überzeugend.Im Übrigen halten die Sachverständigen weiter an ei-ner emissionsbezogenen Energiesteuer fest, die wir ausvielen Gründen ablehnen. Diese Steuer lehnen nicht nurwir ab, sondern auch die meisten Wissenschaftler unddie Umweltverbände lehnen sie ab. Das ist politisch adacta gelegt. Deswegen wundere ich mich, dass so etwasüberhaupt noch darin steht.
Immerhin hat der Sachverständigenrat die Ökosteuernicht so niedergemacht, wie Herr Grill das sagte, son-dern – im Gegenteil – dessen Mitglieder haben sie vomGrundsatz her für richtig gehalten. Die Sachverständigensagen, es muss eine im Voraus angekündigte schrittwei-se Energieverteuerung geben, sodass sich alle Bürgerin-nen und Bürger, Gewerbe, Industrie usw. darauf einstel-len können; und genau das haben wir gemacht.In einer ganzen Reihe von Schlussfolgerungenkommt der Sachverständigenrat zu Ergebnissen, die wirunterstützen. Deshalb ist es durchaus nicht nur eineFloskel, wenn wir sagen: Wir fühlen uns bei einer gan-zen Reihe von Positionen, die der Sachverständigenratin dem Gutachten vertreten hat, unterstützt. Über dieje-nigen, die wir nicht teilen, müssen wir uns noch einmalauseinander setzen. Wir werden uns sicherlich im Aus-schuss mit diesem Gutachten befassen, aber bitte erstdann, wenn es gewissenhaft studiert worden ist und wirauch in der Lage sind, darüber eingehend zu sprechen.Wir sollten uns nicht nach ganz kurzem Studium desSachverständigenratsgutachtens in Pressemitteilungenverbreiten. Ich bitte dann doch wirklich um eine inhaltli-che Auseinandersetzung.
Das Wort hat
jetzt Kollegin Homburger.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Gestern im Umweltaus-schuss hat der Staatssekretär im Umweltministerium dieUlrike Mehl
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Sache auf den Punkt gebracht. Ich zitiere Herrn Baake,er sagte:Es ist Aufgabe der Räte, zu beraten – Aufgabe derRegierung ist es, zu regieren.Eine kluge Erkenntnis! Ich frage: Warum handeln Sieeigentlich nicht danach?
Ich zitiere aus dem Erlass über die Einrichtung desSachverständigenrats für Umweltfragen: Seine Gutach-ten legt er vor, um bei allen verantwortlichen Instanzendie umweltpolitische Urteilsbildung zu erleichtern. –Nun also legt dieses Gremium sein neues Gutachten vor.Das Urteil der Experten ist absolut einhellig: Die Um-weltpolitik des Ministers Trittin ist ein Debakel. HoheErwartungen wurden enttäuscht; mangelhaft ist die Um-setzung wichtiger Maßnahmen; einseitig und ideolo-gisch ist die Fixierung auf Ökosteuer und Atomausstieg.Selbst im Energiebereich gab es eine Blamage: Sämtli-che Maßnahmen, so die Experten, seien ergänzungsbe-dürftig. Schlimmer noch: Alles, was bisher angekündigtund eingeleitet wurde, verlangt nach Korrektur, undzwar in mehrfacher Hinsicht.
Liebe Frau Mehl, Sie haben gerade davon gespro-chen, dass man das Spielchen kenne. In Kenntnis derUmweltgutachten der letzten Jahre, die ich alle begleitet,mitdiskutiert und gelesen habe, kann ich nur eines sa-gen: Das jetzt vorliegende Umweltgutachten ist ein Ar-mutszeugnis, wie man es selten liest.
Wie reagiert der Bundesumweltminister? Er begegnetallen Ernstes der Kritik mit der Bemerkung, er freuesich, nicht nur gelobt, sondern auch kritisch unter dieLupe genommen zu werden. Einen fachlichen K.-o.-Schlag so zu kommentieren ist schon Arroganz, HerrMinister Trittin.
Ich frage Sie, Herr Minister: Wo bleibt die ökologi-sche Modernisierung? Dem Wähler wurde vorgegaukelt,nach dem Regierungswechsel würde Rot-Grün schonbald Konzepte für eine tragfähige, umfassende und kon-sistente Umweltpolitik vorlegen. Nichts ist passiert!
Der Sachverständigenrat sagt eindeutig, er habe dasGutachten auch unter Berücksichtigung dessen, was Sieversprochen haben, erarbeitet. An dem, was Sie verspro-chen haben, müssen Sie sich nun einmal messen lassen.Jetzt ist Ihnen die Enttäuschung schriftlich bestätigtworden.
Frau Kollegin Mehl, Sie können nicht immer wiederalles auf die alte Regierung schieben. Was haben Siedenn gemacht? Sie haben eine Ökosteuer ohne Wirkungeingeführt, wie Sie festgestellt haben. Über den Ausstiegaus der Kernenergie streiten Sie nach wie vor. BeimUGB ist nichts passiert,
ebenso wenig wie beim Bodenschutz- und Naturschutz-gesetz. Den Nachhaltigkeitsrat, dessen Einsetzung Sieinnerhalb eines Jahres versprochen hatten, haben Sieimmer noch nicht auf den Weg gebracht.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie müssen sich zuerstdas vor Augen führen, was Sie vorher angekündigt ha-ben und dann das, was Sie erreicht haben. Wenn Sie dastun, dann werden Sie uns zustimmen müssen und dannkönnen wir weiterdiskutieren.Durch Ihre einseitige Beschränkung auf Atomaus-stieg und Ökosteuer – wir von der F.D.P. haben das im-mer gesagt; dies hat uns jetzt der Sachverständigenratbestätigt – haben Sie die Umweltpolitik verstümmelt.
Sie erreichen damit – das liegt auf der Hand – die geisti-ge Verödung der politischen Ideenlandschaft. GeistigeVerarmung als Leitmotiv! Der Umweltschutz verliertden letzten Rest seiner Glaubwürdigkeit, den er besaß.Umweltpolitik à la Trittin ist die ständige Wiederholungdes immer Gleichen. Umweltschutz wird kaum nochernst genommen. Die schlimmste der traurigen FolgenIhrer Umweltpolitik ist, dass die Bürger das Interesse anihr verlieren.
Schon Ihre so genannte ökologische Steuerreformhatte nichts mit Umweltschutz zu tun. Die Bürger habenlängst gemerkt, dass Herr Trittin sie nur auf den Armnimmt. Es geht um das Abkassieren und das Eintreibenzusätzlicher Steuern. Gerade erst gestern konnte man le-sen, was das für die Kasse bringt. Der politische Ver-trauensschaden ist ungeheuer. Ein weiteres deprimierendes Beispiel, das Sie sichvorhalten lassen müssen, ist der Klimaschutz. Die Bun-desregierung hat nichts Konkretes geleistet, um das Kio-to-Protokoll in Deutschland rechtzeitig in Kraft treten zulassen. Der Sachverständigenrat stellt jetzt fest, dass dasKlimaschutzziel aller Voraussicht nach verfehlt wird.Den Bundesumweltminister kümmert es offensichtlichnicht. Wo bleibt eigentlich der seit langem angekündigteEntwurf einer umfassenden nationalen Strategie zurMinderung der Treibhausgase?
Statt einen solchen Entwurf vorzulegen, führt die Bun-desregierung eine ideologische Debatte über den Aus-stieg aus der Kernkraft. Aber es fehlt ein schlüssigesEnergiekonzept. Die Antwort auf die Frage, wie Sie un-ter solchen Bedingungen auf den verstärkten Einsatzklimaschädlicher fossiler Brennstoffe verzichten wollen,sind Sie nach wie vor schuldig geblieben.Birgit Homburger
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8606 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Der Deutsche Bundestag nimmt im Gegensatz zu Ih-nen, Herr Minister, das Sachverständigengutachtenernst. Die F.D.P. fordert das ein, was der Sachverständi-genrat verlangt: Entwickeln Sie endlich ein klares undverlässliches Handlungsprofil in der Umweltpolitik! Ge-ben Sie dem Umweltschutz die Ernsthaftigkeit, die Seri-osität und den politischen Rang zurück, die ihm gebüh-ren! Fragen Sie einfach einmal Ihren Staatssekretär: Re-gieren ist Aufgabe der Regierung. Das, Herr Minister,hat mit Verantwortung zu tun.
Jetzt hat dasWort der Abgeordnete Reinhard Loske.
Potenzwettbewerb mit Herrn Grill eintreten. Ich glaube,da hätte ich gute Aussichten.
Ich habe mit diesem Punkt etwas sehr Wichtiges an-gesprochen: Wir brauchen institutionelle Reformen.Wenn man Umweltpolitik betreiben will, muss das sei-nen Niederschlag im Zuschnitt der Häuser finden; dennUmweltpolitik ist eine Aufgabe der Gesamtregierung.
Jetzt aber zum Umweltgutachten 2000. Ich glaube –das kann ich für meine ganze Fraktion sagen –, dass die-ses Gutachten ein wichtiger Beitrag zur umweltpoliti-schen Diskussion ist. Wir begrüßen ihn und nehmen ihnals Ansporn, um besser zu werden. Das muss man sa-gen.
Es ist natürlich völlig klar, dass ein Sachverständi-genrat dazu da ist, die große Perspektive einzunehmenund nicht gleich die politischen Restriktionen, also bei-spielsweise Leute wie Sie, im Kopf zu haben. Wir müs-sen schauen, was nötig ist und nicht, was geht. Denn mitIhnen geht gar nichts. Das wissen wir.
Wenn ich mir das Gutachten anschaue – manche aufder rechten Seite des Hauses haben es offenbar gar nichtgelesen –, dann kann ich sagen: Es ist eine Mischungaus Unterstützung, der Aufforderung, mutiger zu sein,und auch partieller Kritik. Wenn wir uns jetzt den bei-den Themen ökologische Steuerreform und Atomaus-stieg zuwenden, dann muss man erstens zur ökologi-schen Steuerreform festhalten – ich zitiere wörtlich –:Sie ist ein wichtiges Signal, um die Kosten derUmweltinanspruchnahme verursachungsgerecht an-zulasten. Zweitens: Sie muss über das Jahr 2003 hinaus fortgesetztwerden. Mal schauen, wo Herr Grill und die anderen Umwelt-Helden der CDU sind, wenn es 2003 um die Weiterent-wicklung geht. Ich glaube, Sie werden nicht da sein.Zum Atomausstieg – jetzt bitte zuhören – zitiere ichden Umweltrat:Der Umweltrat hält eine weitere Nutzung derAtomenergie für nicht verantwortbar.Herr Grill, das sollten Sie sich hinter die Ohren schrei-ben; Platz genug ist ja da.
Jetzt zur ökologischen Steuerreform. Es heißt in demGutachten in der Tat: Die ökologische Lenkungswir-kung soll erhöht werden. Wir teilen das. Es gibt nochDinge nachzuarbeiten; das ist völlig klar. Wir müssenbei der Behandlung der Wirtschaft, des produzierendenGewerbes bis 2002 eine Lösung vorlegen, die zielfüh-render ist. Daran arbeiten wir. Wir müssen uns auch be-mühen, so schnell wie möglich die erneuerbaren Ener-gien hiervon auszunehmen, um diese offene Flanke zuschließen.
In diesem Punkt möchte ich dem Sachverständigen-rat aufgrund eigener langjähriger Forschungstätigkeitdurchaus widersprechen. Genauso viele Gründe, die esfür einer CO2-Steuer gibt, gibt es für eine allgemeine Energiesteuer; denn Energieverbrauch ist nicht nurein Klimaproblem, sondern er verursacht verschiedeneProbleme, von Bergbaufolgeschäden über klimaverän-dernde Spurengase, Säure bildende Schadstoffe usw., bishin zu Endlagern. Das heißt, wir wähnen uns auf derrichtigen Seite und sind im internationalen Geleitzug.Da möchte ich dem Rat widersprechen.
Vielleicht ein Punkt zur Aktualität der Kritik. Wennder Rat diese Kritik im Oktober 1999 geäußert hätte,hätte ich gesagt: Okay, sie ist zu einem guten Teil be-rechtigt. Aber wenn man sich anschaut, was seitdem ge-schehen ist, so kann man sagen: Manches hat der Ratleider übersehen. Wir haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz durch den Bundestag gebracht. Wir werden sehrbald eine dauerhafte Regelung für die Kraft-Wärme-Kopplung durch den Bundestag bringen. Wir haben ei-nen klaren Fahrplan – Frau Homburger, offensichtlichhören Sie nicht zu – zur Entwicklung einer nationalenBirgit Homburger
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Klimaschutzstrategie vereinbart. Sie soll im Juli im Ka-binett verabschiedet werden. Das wissen Sie ganz genau.
Wir haben eine Nachhaltigkeitsstrategie verabschie-det. Den Zukunftsrat wird der Bundeskanzler in wenigenWochen selber einsetzen. Das sind die Fakten. Bitte,wenden Sie sich den Fakten zu und reden Sie nicht nurso wirr daher.
Was die berechtigte Kritik betrifft, glaube ich, bei derBundesnaturschutzgesetznovelle müssen wir jetzt in derTat handeln. Es wird zu Recht moniert, dass da etwasgeschieht. Wir haben die Ziele im Koalitionsvertrag klarformuliert. Wichtig ist eben auch, dass wir mit den Län-dern gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen.Ich glaube, Mitte dieses Jahres ist die Zeit dafür reif. Auch bei der Abfallpolitik müssen wir handeln. Dashaben wir gerade heute wieder vom Umweltministeriumerfahren. Wir müssen den Trend zur Wegwerfgesell-schaft, zur Ex-und-hopp-Gesellschaft stoppen. Die Quo-te wurde mittlerweile zweimal unterschritten.Wir müssen bei der Verpackungsverordnung jetzt ei-ne Lösung finden, die aktuelle Aspekte und neue Öko-bilanzen einbezieht. Wir müssen die Scheidelinie zwi-schen Gut und Böse neu ziehen und eine klare Wachs-tumsperspektive für umweltverträgliche Verpackungs-systeme aufzeigen.Jetzt zum letzten Punkt – meine Redezeit ist gleichum –: Die einzige Kritik, die man am Rat üben kann, ist,dass man sich das politische Erwachen der älteren Her-ren ein wenig früher gewünscht hätte.
Während der Amtszeit von Frau Merkel haben sie ganzbrav auf ihrem Schoß gesessen.
Es ist manchmal nicht wirklich mutig, erst dann Mut zuzeigen, wenn man sich zurückzieht. Trotzdem wären dieSachverständigen mit ihren Ansichten bei den Grünenbestens aufgehoben. Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ein „miserables Zeugnisfür die Umweltpolitik der Regierung Schröder“ hat esJochen Flasbarth vom NABU genannt; „es hat also nichtso geklappt mit der ökologischen Wende“, umschreibtes das Herzblatt der Grünen, die „taz“. Das Gutachtendes Umweltrates wird in der Schärfe abgestuft, in derRichtung aber einmütig kommentiert: Der umweltpoliti-sche Aufbruch der Koalition ist in weiten Teilen zumStillstand gekommen, wenn er denn je stattgefunden hat.Rot-Grün wurde das erste Mal wissenschaftlich undumfänglich evaluiert. Es drängt sich im Ergebnis dasBild auf, dass im Schatten der alles überragenden Debat-ten um Ökosteuer und Atomausstieg einiges im klassi-schen Umwelt- und Naturschutz sowie bei der Ausarbei-tung und Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie andie Seite gedrängt wurde: beispielsweise die Weiterent-wicklung des stellenweise durchaus respektablen Ent-wurfs eines umweltpolitischen Schwerpunktprogrammesvon 1998, die seit bald 20 Jahren überfällige Novel-lierung des Bundesnaturschutzgesetzes, die umwelt- undentwicklungspolitische Neuausrichtung der Hermeskre-dite, der gesetzliche Stopp der Privatisierung ostdeut-scher Naturschutzflächen oder das Aus des ökologischwahnwitzigen Ausbaus von Havel und Elbe. Das allesgibt es aber nicht. Das Kleinkochen dieser Aufgaben hatsich noch nicht einmal gelohnt, denn die vermeintlichenSchwerpunkte Ökosteuer und Atomausstieg sind ja kräf-tig vergeigt worden!Letzte Woche bestätigte beispielsweise eine Expertisedes Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts Kölnfür das Bundesumweltministerium alle wesentlichen Ar-gumente der PDS gegen die irrwitzige Konstruktion derökologischen Steuerreform unter Rot-Grün. Der um-weltpolitische Lenkungseffekt sei unterentwickelt unddie Beschäftigungseffekte seien zu vernachlässigen, ana-lysiert das Institut in seinem vernichtenden Gutachten.Die Reform trage kaum zur Minderung des Treibhausef-fektes bei. Der Anreizeffekt für den ökologischen Um-bau tendiere gegen Null. Auch der Umweltrat kritisiertdie zahlreichen Sonderregelungen, die die Wirtschaftvon den Steuern entlasten, und Sozialverbände weisennach, dass Familien umso stärker belastet werden, jeärmer sie sind. Zum Thema Atom durften wir gerade erst vorgesternin der Zeitung lesen, dass der Ausstieg jetzt erst einmalmit einem Einstieg beginnt, nämlich durch die Hermes-absicherung von Siemens-Technik für ein neues Atom-kraftwerk in China. Ich bin einmal gespannt, wie diesesThema am Wochenende auf Ihrem Parteitag diskutiertwird. Zurück zum Gutachten. Besonders pikant wird dieTatsache dadurch, dass die Professoren des Umweltrateserstmalig feststellten, das Entsorgungsproblem sei ob-jektiv nicht zu lösen, weil irgendwann radioaktive Gaseauch durch die besten Behälter diffundieren und in dieAtmosphäre eindringen werden. Während für die Anti-atomfront ungeahnte Rückendeckung vom bekann-termaßen mehrheitlich konservativen Umweltrat kommt,schießt sich die Koalition selber ins Knie. Manchmal tutes wirklich weh zu sehen, wie Sie bestimmte Dinge inDr. Reinhard Loske
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den Sand setzen. Wie es mit der Berücksichtigung vonMenschenrechten und Umweltschutz bei der Vergabevon Hermeskrediten aussieht, zeigt auch Ihr Ja zumDrei-Schluchten-Staudamm und zu anderen Vorhaben inChina. Beim Klimaschutz befinde sich Deutschland nicht aufeinem CO2-Reduktionspfad, der die nationale Zielerrei-chung bis 2005 ermöglichen würde, steht im Gutachtengeschrieben; einschneidende Maßnahmen seien notwen-dig. Doch das Antistauprogramm von Herrn Klimmt istnichts anderes als ein Klimakillerprogramm. Jeder, derverkehrspolitisch die Pubertät hinter sich gelassen hat,weiß das. Allein mit der Förderung erneuerbarer Ener-gien ist bei der CO2-Reduktion kein Blumentopf zu ge-winnen, zumal nicht, wenn die Strompreise durch dieüberstürzte Liberalisierung sinken, was Rot-Grün ja be-grüßt, der Stromverbrauch also nach allen Regeln derMarktwirtschaft steigen wird.Noch ein Wort zum Naturschutz: Darauf, dass dieFFH-Ausweisungen in Deutschland um den Faktor 5 un-ter dem Durchschnitt der anderen EU-Länder liegen, hatder Rat hingewiesen. Zum Thema Schutzgebiete möchteich hinzufügen, dass es eine Schande ist, mit welcherPenetranz sich das Bundesfinanzministerium gegen einekostenlose Übergabe von Naturschutzflächen an dieLänder und Naturschutzverbände wendet. Eines seinerHauptargumente war der so genannte Vorbehalt der EU-Kommission. Diesen Vorbehalt gibt es aber gar nicht,schreibt die „Financial Times Deutschland“. Eine Erfin-dung des Berliner Finanzministeriums sei das, zitiert dasBlatt die Kommission.Hier wurde von Potenz gesprochen. Ich wünsche Ih-nen, Herr Loske, ein gutes Frühlingserwachen.
Heute scheintder Frühling ja häufiger in die Debatte hineinzuspielen.Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister JürgenTrittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! So eine nette Opposition wie dievon links wünscht sich natürlich jede Regierung. VielenDank, Frau Bulling-Schröter.
Da ich gerade beim Danken bin, möchte ich nun demSachverständigenrat für Umweltfragen für sein Gutach-ten danken. Dieses Gutachten fordert die Umsetzungökologisch anspruchsvoller Ziele konsequent ein undsteht auch zu den dafür notwendigen, teilweise sehr un-bequemen Maßnahmen. Obwohl der Rat – das ist seineAufgabe, dafür haben wir ihn – mit Kritik in Einzelfäl-len nicht sparsam umgeht, bestätigt er den Weg, den dieBundesregierung in der Umweltpolitik eingeschlagenhat.Selbst in den Punkten, in denen er uns kritisiert, mussich ihm Recht geben. Der Rat hat Recht, wenn er daraufhinweist, dass die Auseinandersetzung um Ökosteuerund Atomausstieg die Regierung viel Kraft kostet. Abersind dies nicht zentrale Voraussetzungen für eine mo-derne Energieversorgung, für eine ökologische Moder-nisierung von Wirtschaft und Gesellschaft? Sind diesnicht genau die Forderungen, die der SRU bereits in sei-nen Gutachten 1994, 1995, 1996, 1998 immer wiedererhoben hat? Wir haben das, was in diesem Gutachtengefordert worden ist, mit dem Einstieg in die ökologi-sche Steuerreform, mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, mit dem 100 000-Dächer-Programm und mitdem Markteinführungsprogramm für erneuerbare Ener-gien vorangebracht und damit tatsächlich etwas für denKlimaschutz getan.
Frau Bulling-Schröter, erlauben Sie mir folgendeAnmerkung: Dass das Erneuerbare-Energien-Gesetzheute noch im Bundesrat hängt, liegt daran, dass die vonIhnen mitgetragene Regierung in Mecklenburg-Vor-pommern noch nicht Ja sagt. Das erklären Sie einmalden Photovoltaikbetreibern und den Windenergieleuten!
Wir haben das umgesetzt, was Sie auf der rechtenSeite des Hauses sich über Jahre hinweg haben abhan-deln lassen. Deswegen, Herr Grill, haben Sie auch einProblem: Die Kostümierung als Ökologe steht Ihnennicht. Sie ist selbst für Sie zu klein. Unter dem grünenWams guckt überall der schwarze CDUler hervor.
Das merkt man spätestens, wenn es um die konkretenForderungen der Gutachter geht. Dann stehen Sie näm-lich ziemlich nackt da. Uns hält der SRU nicht vor, dieBundesregierung solle umkehren, sondern er verlangt,dass wir den von uns eingeschlagenen Weg schnellergehen sollen. Das ist eine Mahnung für uns, aber eineOhrfeige für Sie, denen die ganze Richtung nicht passt.
Wenn Sie sich auf dieses Gutachten berufen, dann istdas ungefähr so glaubwürdig, als würde sich der Beelze-bub als heiliger Samariter ausgeben.
Ich will das an ein paar Beispielen verdeutlichen. Ichzitiere das Gutachten: Angesichts der Dringlichkeit ... und der richtungs-weisenden Wirkung des deutschen Klimaschutz-ziels bei den internationalen KlimaverhandlungenEva Bulling-Schröter
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begrüßt der Umweltrat das Festhalten der Bundes-regierung am 25-Prozent-Ziel.
Wir haben die Emissionen im vergangenen Jahr um3 Prozent, klimabereinigt um 1,8 Prozent gesenkt. Wirwissen auch, dass wir das Ziel von 25 Prozent nochnicht erreicht haben. Mit den heutigen Maßnahmen wer-den wir ungefähr 18 Prozent im Jahre 2005 erreichen.Das ist der Grund, weswegen wir erklärt haben, dass wirzusätzlich zu den eingeleiteten Maßnahmen, die ich ge-nannt habe, eine neue Klimaschutzstrategie vorlegen.Neben den erneuerbaren Energien wird der Schwer-punkt auf der Steigerung der Energieeffizienz liegen. Esgeht beispielsweise um die Frage, wie der Anteil derKraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung bis zumJahre 2010 verdoppelt werden kann. Übrigens werdenwir auch in dieser Frage von den Gutachtern unterstützt,die „eine zeitlich befristete staatliche Förderung um-weltfreundlicher Energieerzeugungsformen ... für erfor-derlich ...“ halten. Sie aber versuchen, den Menschen imLand weiszumachen, dass die Frage von Energie aus-schließlich eine Frage von Preisen und Preissteigerungist.
Ich habe in diesem Zusammenhang noch HerrnLippold vor Augen, der voller Empörung sagte, dieBundesregierung wollte über das Jahr 2003 hinaus dieökologische Steuerreform fortschreiben. Was schreibendie Gutachter? Sie schreiben über die Notwendigkeit ei-nes „stufenweisen Anstiegs der Steuersätze über dasJahr 2003 hinaus, und zwar so lange, bis das Klima-schutzziel erreicht ist“ und über „den Abbau ökologischschädlicher Subventionen“. Das betrachte ich nicht alsKritik an dieser Bundesregierung, sondern als Aufforde-rung, den eingeschlagenen Weg nachdrücklich und ziel-genau weiterzugehen.
Ein anderes Beispiel, gnädige Frau: Bodenschutz. DieGutachter schreiben:Dem Schutz von Böden ist in der Vergangenheit zuwenig Aufmerksamkeit gewidmet worden.In diesem Punkt kritisiere ich die Gutachter. Es han-delt sich nämlich um eine verharmlosende Darstellung.
: Was haben Sie
denn gemacht?)Wer ist denn dafür verantwortlich, dass jedes Jahr indiesem Land bis zu 100 Hektar pro Tag versiegelt wer-den? Werden diese Flächen vom Bundesumweltministerausgewiesen? Nein. Wer ist denn verantwortlich für dasÜberangebot an Gewerbeflächen in West- und Ost-deutschland? Sie haben im Zuge der deutschen Einheitdas blinde Ausweisen von Gewerbeflächen durch Steu-ersubventionen begünstigt. Sie sind verantwortlich fürdiese Form der Bodenversiegelung. Sie sind verantwort-lich für dieses Überangebot.
Sie sind verantwortlich dafür, dass ostdeutsche Städteheute Probleme haben, ihre Innenstädte zu beleben.
: Wer ist „Sie“?
Lächerlich!)Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Wir gehen da-ran, in Europa solchen Entwicklungen künftig vorzu-beugen, indem schon bei der Aufstellung solcher PläneUmweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden.
Was machen CDU/CSU und F.D.P.? Sie laufen Sturmselbst gegen ein so vorbeugendes Instrument wie diePlan-UVP. Erzählen Sie mir doch nichts vom Boden-schutz! Sie machen doch das glatte Gegenteil.
Zum Naturschutz. Die Gutachter fordern, dass Natur-schutz auf 10 bis 15 Prozent der Fläche „absoluten Vor-rang“ genießt. Wir haben einen Anteil von 10 Prozentgenannt. Da gibt es eine Differenz. Aber diese Differenzist doch lächerlich, wenn man sich einmal Ihre Praxisansieht. Ich habe mir einmal den Anteil an FFH-Gebieten in den von Ihnen lange regierten Ländern her-ausgesucht: Bayern 1,7 Prozent und Baden-Württem-berg 1,5 Prozent. Nur 0,67 Prozent der Landesflächesind in Baden-Württemberg, im Schwarzwald und in derSchwäbischen Alb, als Vogelschutzgebiet ausgewiesen.Das müssen Sie sich sagen lassen.
Sie aber sagen, Deutschland war einmal Spitzenreiterin Europa. Deutschland und besonders die von Ihnen re-gierten Länder sind aber das absolute Schlusslicht inBezug auf Naturschutzgebiete. Der europäische Durch-schnitt liegt nämlich bei 12,3 Prozent. Das ist die Reali-tät.
Meine Damen und Herren, während Sie den Natur-schutz klein machen, betreiben Sie eine riesige Kam-pagne gegen die weitere Ausweisung von FFH-Gebieten.
Dazu kann ich nur sagen: Der Bock versucht sich alsGärtner. So geht es nicht.
Letzter Punkt. In einem hat der SRU die Bundesre-gierung besonders nachdrücklich unterstützt, offensicht-lich zu Ihrem besonderen Ärger. Er hat nicht nur daraufverwiesen, dass die Nutzung der Atomenergie aufgrundBundesminister Jürgen Trittin
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der Entsorgungsprobleme unverantwortlich ist. Er hatauch nachdrücklich gesagt: Der Umweltrat befürwortet wegen der bestehendenrechtlichen Unsicherheit die Strategie der Bundes-regierung, die Möglichkeiten einer entschädigungs-freien Beendigung der Nutzung der Atomenergie...zu suchen .... Nach Auffassung des Umweltratesdürfte den berechtigten Belangen der Betreiber vonAtomkraftwerken durch eine Gesamtlaufzeit von25 bis 30 Jahren hinreichend Rechnung getragenworden sein.
Meine Damen und Herren, lieber Herr Koppelin, diesenAusführungen des Sachverständigenrates habe ich nichtshinzuzufügen.
Sie sprechen für sich. Aus diesem Grunde fällt es mirauch leicht, zum Abschluss dem Herrn Rehbinder, derzum letzten Mal diesem Gremium vorgesessen hat, des-sen Amtszeit ausgelaufen ist, für sein Gutachten, fürseine Arbeit zu danken und ihm zu bescheinigen, dassdiese Arbeit wegweisend für die kommenden Gutachtenund für den neu zu berufenden Rat ist. Vielen Dank,Herr Rehbinder!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Ruck.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Siemir, nach den Nebelkerzen und den rhetorischen Kunst-stücken des Herrn Trittin wieder zur Realität zurückzu-kommen. Die Realität ist, dass Sie, Herr Minister, undniemand anders die Ohrfeige des Umweltgutachtens be-kommen haben.
Die „Berliner Zeitung“ hat das am Freitag ironischauf den Punkt gebracht – ich zitiere –:Jürgen Trittin neigt nicht zur Selbstkritik, dochwenn er in diesem Bereich noch über einen Rest-Reflex verfügen sollte, dann muss der grüne Um-weltminister nach der Lektüre des Sachverständi-gen-Gutachtens für Umweltfragen rot anlaufen.
So ist es.
Die Versäumnisse Ihrer Politik werden von den Gut-achtern bis ins Detail dargestellt. Hier noch einige Kost-proben für die, die behaupten, wir hätten es vielleichtoberflächlich gelesen.Die neue Bundesregierung – so haben Sie versprochen, meine Damen und Herrenvon Rot-Grün –wird eine Nachhaltigkeitsstrategie mit konkretenZielen erarbeiten. Dazu die Einschätzung der Sachverständigen:Deutschland gehört bei der Entwicklung einerNachhaltigkeitsstrategie inzwischen zu denNachzüglern.
Weiterhin haben Sie versprochen:Das zersplitterte Umweltrecht wird in einem Um-weltgesetzbuch zusammengeführt.Die Einschätzung der Sachverständigen ist: Bereitsdie Umsetzung der IVU- und der UVP-Richtlinie ist1999 endgültig gescheitert. Sie haben versprochen: Im Bodenschutz muss der Vorsorgegedanke einstärkeres Gewicht erhalten. Was, Herr Trittin, sa-gen die Sachverständigen dazu? Man höre undstaune: Nach den besonders intensiven Sanierungs-anstrengungen im Altlastenbereich zu Beginn der90er-Jahre ist inzwischen ein, „Sanierungsminima-lismus“ eingetreten. Das ist das, was dort steht. Sie haben natürlich auch versprochen, die Artenviel-falt zu schützen. Der Sachverständigenrat urteilt, dassder Zustand von Natur und Landschaft unverändert Be-sorgniserregend ist.
Meine Damen und Herren, Frau Mehl, man mussauch in diesem Bereich bei der Wahrheit bleiben. Siesind doch auch so stolz auf die Existenz unseres Pro-gramms für die gesamtstaatlichen Gebiete. Es war dieletzte Bundesregierung, die dieses Programm mit40 Millionen DM eingebracht hat. Sie haben eines ge-tan: Sie haben es gekürzt.Herr Trittin, es ist auch nicht wahr, dass Bayern bei1,7 Prozent landet. Bayern wird in allen Tranchen zu-sammengenommen bei mindestens 7 Prozent landen,Thüringen bei 9 Prozent.
Im Gegensatz zu Rot-Grün allerdings sprechen wir dieAusweisung mit der Bevölkerung ab und machen sienicht gegen die Bauern und nicht gegen die Landwirt-schaft.
Eine Energiesparverordnung haben Sie versprochen.Wort gebrochen! Sie kommt erst im Jahr 2001 – viel-leicht.Ich möchte bei all der billigen Rhetorik, die jetzt wie-der gegen die letzte Bundesregierung aufgetaucht ist,noch einmal sagen, was die letzte Bundesregierungwirklich geleistet hat. Herr Loske, Sie tun doch immerBundesminister Jürgen Trittin
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so, als würden Sie das Thema seriös angehen. Wir habengroße konkrete Erfolge bei der Luftreinhaltung erzielt,siehe zum Beispiel Schwefeldioxid.Wir haben große Erfolge bei der Gewässerreinhaltungerzielt. Sogar Herr Töpfer konnte wieder aus dem Rheintrinken.
– Getrunken hat er auch. – Ohne Helmut Kohl – dasmöchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen – wäreder Rio-Prozess gar nicht erst in Gang gekommen und erwäre spätestens bei Rio de Janeiro, Frau Ganseforth, ge-platzt.
Es bleibt dabei: Dort, wo dringender Handlungsbe-darf besteht, haben Sie wenig bis gar nichts zustandegebracht. Stattdessen haben Sie vieles getan, was Siebesser gelassen hätten, zum Beispiel die Entwicklungs-hilfe zum Steinbruch zu machen und die Umweltmittelim Entwicklungshaushalt zusammenzustreichen. Bei der Förderung der regenerativen Energien gebenSie das Geld der Bürger mit vollen Händen aus und er-reichen ein Maximum an Umverteilung, aber nur einMinimum an ökologischer Wirkung. Bei den anstehen-den Gesetzesberatungen zur Kraft-Wärme-Kopplungmachen Sie einseitig Klientelpolitik für die öffentlicheKWK und lassen die hocheffizienten Anlagen der In-dustrie außen vor. Das Maß an Flickschusterei und Un-vernunft wird nur noch durch Ihre Ökosteuer übertrof-fen. Auch das steht übrigens im Umweltgutachten, weilSie wahllos CO2-intensive und nicht CO2-intensive Tat-bestände treffen.Besonders gefährlich ist Ihr Versagen beim Klima-schutz. Auch das steht übrigens in dem Umweltgutach-ten. Deutschland befindet sich nicht mehr auf einem Re-duktionspfad. Nicht zuletzt die Beendigung der Nutzungder Atomenergie – auch das steht in dem Gutachten –setzt dabei zunehmend enger werdende Grenzen. Die von Ihnen betriebene Ausstiegspolitik wird jedenTag unsinniger.
Sie, Herr Trittin, haben bei uns im Ausschuss behauptet,die Atomkraft sei für die Entwicklungsländer kein The-ma. Bundeswirtschaftsminister Müller hat noch amSonntag im Fernsehen, also öffentlich, bekräftigt, eswerde keine Bürgschaften für ausländische Kernkraft-werke geben. Zwei Tage später bewilligt die Bundesre-gierung Hermes-Bürgschaften über 300 Millionen DMfür den Neubau von Atomkraftwerken in China und fürdie Nachrüstung in Argentinien.
Wie wollen Sie den Bürgern eigentlich erklären, dassSie bei uns die Atomenergie verteufeln, während Sie siein anderen Ländern finanzieren? Oder wie wollen Sieden Bürgern erklären, dass bei uns Castorbehälter alsTransporter gefährlich, aber als Zwischenlager harmlossind? Das ist doch keine Politik mehr, das ist realpoliti-sche Satire. Auch das steht in dem Umweltgutachten.Herr Trittin, Sie haben etwas von Weismachen ge-sagt. Sie wollten den Menschen weismachen, dass Siefür Umweltschutz angetreten sind und dass die Men-schen Sie für den Umweltschutz gewählt haben. InWirklichkeit ist Ihre bisherige Arbeit ein Einbruch undkein Aufbruch. Es ist ein Raubbau und kein Umbau. Esist ein Ausstieg aus der Vernunft. Herr Trittin, für unsund für die Umwelt wäre es am besten, wenn Sie end-gültig aussteigen würden, und zwar mit Ihrer gesamtenCrew.
Ich gebe der Kolle-
gin Marion Caspers-Merk von der sozialdemokratischen
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! HerrKollege Ruck, ich muss mich etwas wundern, weil Sieuns einige Schlagzeilen vorgelesen haben, aus denen Sieeine Fundamentalkritik des Sachverständigenrats an derrot-grünen Bundesregierung abgeleitet haben. Dies ha-ben Sie mit einigen Zitaten garniert. Genau dasselbekann man natürlich in umgekehrter Weise tun und mankommt dann zu ganz anderen Ergebnissen.Auch ich darf Ihnen einige Schlagzeilen vorlesen:„Umwelt-Sachverständige legen Gutachten vor – War-nung vor Selbstverpflichtungen“, „Sachverständige be-klagen Reformstau in der Umweltpolitik“, „Um-welt-Weise rügen Reformstau“, „Merkel Reformstauvorgehalten“. Sie sehen: Es sind Überschriften aus deröffentlichen Würdigung des Sachverständigengutachtens1998.Es ist ganz richtig, dass Sachverständige dazu dasind, uns kritisch den Spiegel vorzuhalten. Dass einiges,was schon 1998 gerügt wurde, bis jetzt noch nicht um-gesetzt wurde, hängt auch damit zusammen, dass vieleDinge Altlasten sind, die wir nach und nach abarbeiten.Aber Sie sollten ein Stück weit reeller und ehrlicher inder Wertung sein.
Ich lese Ihnen auch noch etwas anderes vor, was imGutachten des Jahres 1998 steht. Dort wurde schon da-mals gerügt, dass zum Beispiel die Neufassung desBundesnaturschutzgesetzes auf sich warten lasse. Werwar damals an der Regierung? Sie waren es! Ebensowurde beklagt, dass Ausführungsbestimmungen zumKreislaufwirtschaftsgesetz fehlen. Außerdem wurde einmodernes Abfallwirtschaftsrecht ausdrücklich eingefor-dert.Wenn man sich das alles ansieht und die öffentlicheAufgeregtheit etwas beiseite lässt, muss man sagen: DasUmweltgutachten ist eine kritische Würdigung der Poli-tik. Das war es aber auch schon immer; der Sach-Dr. Christian Ruck
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verständigenrat hat schon immer kritische Schlagzeilengemacht.
Damals haben wir den Sachverständigenrat als Kron-zeugen gegen die damalige Regierung verwendet, jetztist die Situation in Teilen umgekehrt. Aber auch hierbeisollten wir mit größerer Gelassenheit reagieren, einfacheinmal in das Gutachten einsteigen und uns damit aus-einander setzen, denn es lohnt die Auseinandersetzung.Diesmal ist zu Recht das Thema „Nachhaltigkeit“ einStück weit aufgearbeitet worden. Dabei kommt derSachverständigenrat zu folgenden Ergebnissen. Er sagt,dass er seit 1994 eine Nachhaltigkeitsstrategie der Bun-desregierung einfordert. Ich erinnere daran: 1994 warnun wirklich noch nicht Herr Trittin in der Bundesregie-rung.
Wenn aber Ihre Wertung, die Sie vorhin zitiert haben,richtig ist, dass wir auf diesem Sektor international nichtzu den Vorreitern gehören, dann sind doch Sie es, diedas zu verantworten haben, weil Sie dieses Thema jahre-lang überhaupt nicht besetzt haben. Erst nachdem wirIhnen das in der Enquete-Kommission vorgehalten ha-ben, sind überhaupt zögerlich erste Schritte getan wor-den.
– Das ist doch die Wahrheit, Herr Kollege Grill undHerr Kollege Ruck!
Das muss auch einmal gesagt werden.
In dem Gutachten ist zum Thema der Nachhaltigkeitund zu dem, was wir dazu fordern, Folgendes zu lesen:Insgesamt ist das Konzept einer ökologischen Mo-dernisierung im Sinne einer innovativen und be-schäftigungsorientierten Strategie grundsätzlich zubegrüßen.Es ist also nicht so, dass alles nur Schatten ist, son-dern der eingeschlagene Weg wird ausdrücklich begrüßt.Wenn man sich dann ansieht, welche Vorschläge zumThema „Nachhaltigkeitsstrategie“ gemacht werden,stellt man fest, dass wir uns doch auf einem guten Wegbefinden. So soll das Sachverständigengutachten dochauch gewertet werden, nämlich dass es uns Hinweisegibt, wie wir künftig damit umzugehen haben.Es wird die Politikintegration gefordert – jawohl, dasind wir uns einig –, es wird gefordert, dass wir moder-nes Umweltmanagement betreiben, indem wir wenigerunklare Ziele setzen und genaue Instrumente vorschrei-ben, sondern umgekehrt klare Umwelthandlungszielefestlegen und Flexibilität bei den Instrumenten zulassen.Genau dies tun wir im Übrigen durch einen Antrag derbeiden Regierungsfraktionen zum Thema Umweltcon-trolling in Bundesbehörden. Wir fordern das Öko-Auditnicht nur von Betrieben ein, sondern fordern es jetzt fürdie gesamte Bundesregierung ein.
Das sind doch moderne Politikkonzepte, in denen Sieuns weit unterstützen sollten, wobei Sie erkennen müs-sen, dass genau dies in dem Sachverständigengutachteneingefordert wird, wenn Sie die Seiten, die zum ThemaEMAS darin stehen, richtig würdigen.
Wenn ich mir die einzelnen Punkte genauer ansehe,möchte ich auch zum Thema „Abfallpolitik“ noch eini-ges sagen. Dazu hätte ich mehr erwartet, denn das, wasdas Sachverständigengutachten hier tut, ist im Wesentli-chen eine Wiederholung der kritischen Punkte, die dieSachverständigen schon in mehreren Gutachten immeraufgelistet haben, ohne dass – nach meinem Empfin-den – neuere Entwicklungen in der Abfallwirtschaft aus-reichend berücksichtigt worden sind. So wird in diesem Gutachten zum Beispiel mehrMarktwirtschaft in der Abfallwirtschaft eingefordert,und es wird – wie ich finde, sehr naiv – gefragt, ob ei-gentlich Mehrwegsysteme heute noch geschützt werdenmüssen. Wir erleben doch gerade mit dem Unterschrei-ten der Quote und mit den Konsequenzen daraus, dassMehrwegsysteme sehr wohl geschützt werden müssen.
– Ja, doch, dann müssen Sie einmal genau hineingucken,nicht nur in die Pressemitteilungen, Frau Kollegin Hom-burger.
Wenn man dort einmal hineinguckt, liest man, dass eini-ge Punkte im Bereich der Abfallwirtschaft kritisch be-wertet worden sind – zum Beispiel auch von uns damalsnoch aus der Opposition heraus, weil wir meinen, dassnicht die Forderung nach mehr Marktwirtschaft in derAbfallwirtschaft der entscheidende Punkt ist. Wir habenes doch heute mit der Situation zu tun: Der Abfall suchtsich den billigsten Weg –, und zwar ohne ökologischeStandards.
Genau diese Dinge, für die es keine ökologischen Stan-dards gibt, die vielen Billig-Deponien, die werden ver-füllt.
Wir haben nicht mehr einen Müllnotstand, sondern wirerleben das Leerlaufen der hohen ökologischen Stan-dards, die wir bei einigen Verbrennungsanlagen oderMarion Caspers-Merk
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8613
Deponien vorfinden. Das ist heute unser Problem. Viel-leicht ist dies beim Sachverständigenrat für Umweltfra-gen noch nicht ausreichend angekommen.Für die kritischen Anmerkungen danke ich demSachverständigenrat ausdrücklich. Ich weiß, dass esnicht immer einfach ist, ein solches Gutachten zu erstel-len. Mit den Punkten, zu denen Ideen und Wegweisun-gen gegeben werden, werden wir uns – seriöser, als es ineiner Aktuellen Stunde möglich ist – im Ausschuss undnatürlich auch in den Fraktionen auseinander setzen.Für uns ist dieses Gutachten Auftrag und Wegweisungzugleich. Ich finde, wir sollten Ihre Polemik nicht zumAnlass nehmen, das Gutachten wegzulegen, sondern wirwerden es studieren
und es dort, wo wir die richtige Richtung sehen, Stückfür Stück umsetzen.
Das Wort hat der
Kollege Dr. Peter Paziorek für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Nach Einschätzung desSachverständigenrates für Umweltfragen ist die Um-weltpolitik der rot-grünen Bundesregierung bislang alsvöllig unzureichend anzusehen. So erklärte der Sachver-ständigenrat, dass durch die Konzentration auf den Atomausstieg und die Ökosteuer leider andere wichtigeThemen in der Umweltpolitik zurückgedrängt wordenseien.Am 12. Dezember 1996 sagte die damalige umwelt-politische Sprecherin der Grünen im Bundestag, FrauHustedt:
Es ist abgrundtief falsch, sich nur auf die Lösungeines Problemfeldes oder auch zweier zu konzen-trieren, so wie es zur Zeit die Bundesregierung tut,die anderen dabei aber zu vernachlässigen.Damals war die Aussage von Frau Hustedt sicherlichfalsch. Aber sie hatte wohl nicht vorhergesehen, dass siedamit ganz treffend die Problemlage der heutigen rot-grünen Umweltpolitik beschrieben hat. Für ihre hellse-herischen Fähigkeiten kann man ihr nur ein Komplimentaussprechen.
Anders ausgedrückt: Von den vielen Versprechungenaus der Oppositionszeit ist bei der rot-grünen Umwelt-politik nicht viel übrig geblieben.Was haben Sie in den damaligen Legislaturperiodennicht alles angemahnt? So hat zum Beispiel FrauHustedt am 29. Mai 1998, ebenfalls im Plenum, erklärt,um nur einige Beispiele zu nennen: Wir wollen ein Altbausanierungsprogramm für dieUmwelt und für die Bauwirtschaft. Wir wollen eineSommersmogverordnung ... Wir wollen einen nati-onalen Umweltplan ...Nichts ist bis jetzt daraus geworden. Sie haben vielesangekündigt, aber Sie haben tatsächlich kaum etwasangepackt, kaum etwas auf den Weg gebracht und kaumetwas in der Umweltpolitik einer Lösung näher ge-bracht.Wenn Sie, Herr Minister Trittin, sich nur hier hinstel-len und sagen, was die jetzige Bundesregierung bisherim Bodenschutz getan hat, kann ich nur darauf verwei-sen – ich habe die Diskussion hier im Bundestag ja, imGegensatz zu Ihnen, seit 1990 verfolgt –: Das erste Bo-denschutzgesetz ist von der CDU/CSU/ – F.D.P. – Re-gierung, auch unter Mitwirkung von Frau Homburger,auf den Weg gebracht worden.
Die ganze Diskussion in Sachen Ausgleichsregelungbei neuen Bauvorhaben in Bauplangebieten haben wirvon der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung auf den Weg ge-bracht, gegen den massiven Widerstand zum Beispielvon sozialdemokratisch bestimmten kommunalen Spit-zenverbänden, die diese Regelung nicht wollten.Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und fragen, waswir in den Ländern, in denen wir das Sagen haben, hin-sichtlich FFH auf den Weg gebracht haben, muss ichentgegnen: Die FFH-Richtlinie in Europa ist deshalb zu-stande gekommen, weil der damalige Bundesumweltmi-nister Töpfer maßgeblich mit dafür gesorgt hat, dass esauf europäischer Ebene überhaupt eine FFH-Richtliniegibt.
Sie versagen jetzt bei der Umsetzung dessen, was diedamalige Regierung auf den Weg gebracht hat.
– Sie lachen gerade. Nehmen wir als Beispiel das Um-weltgesetzbuch. Das Umweltgesetzbuch war im Refe-rentenentwurf praktisch fast fertig.
Dann haben Sie festgestellt, dass das Umweltgesetzbuchaufgrund einer wasserrechtlichen Problematik nach derRahmengesetzgebung des Grundgesetzes doch nicht Re-alität werden kann. Ich kann nur eines sagen: Sie habengar nicht genügend Mühe und Kraft darauf verwandt,diese rechtliche Problematik zu diskutieren und daran-zugehen, sondern Sie haben dies als Vorwand benutzt,das Umweltgesetzbuch erst einmal in die Schublade zulegen.
Marion Caspers-Merk
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8614 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Warum wird Umweltpolitik bei dieser Regierungnicht erfolgreich betrieben? Die Antwort ist ziemlichklar: Sie wird deshalb nicht erfolgreich betrieben, weilniemand von den Spitzenleuten, egal ob es Herr Fischeroder Herr Trittin von den Grünen oder der parteiloseWirtschaftsminister Müller ist, ernsthaft und konsequentUmweltpolitik betreiben will.Der umweltpolitische Sprecher der Grünen, HerrLoske, hat Recht, wenn er sagt: Für unsere Spitzenleuteist die Umweltpolitik leider keine Herzensangelegenheitmehr. – Das ist der wahre Grund, warum es in der Um-weltpolitik so nicht weitergeht.
Dann haben Sie, Herr Trittin, bei Ihren Ausführungengerade gesagt: Der Umweltrat warnt davor, zu dem zu-rückzukehren, was vorher in der Umweltpolitik gelaufenist. – Ich weiß gar nicht, wie Sie zu dieser Aussagekommen. Schauen Sie sich nur einmal Seite 5 der Kurz-fassung dieses Gutachtens an.
– Diese Stelle liegt mir gerade vor. Ob Sie sie gehabthätten, ist fraglich, Frau Caspers-Merk. Ich zitiere:Insgesamt sollte – auch um weitere Zeitverzöge-rungen zu vermeiden – an den Schritteprozess derbisherigen Bundesregierung angeknüpft und diehier angelegte Möglichkeit der Entwicklung einerparteiübergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie aus-gelotet werden. Der Sachverständigenrat fordert Sie also ausdrücklichdazu auf, zur entsprechenden Methodik der früherenBundesregierung zurückzukehren. Sie aber stellen sichhier hin und warnen geradezu davor, Instrumente der al-ten Bundesregierung aufzugreifen.
Zu einer weiteren in diesem Bericht gemachten Äu-ßerung: Das Umweltindikatorsystem, das von Frau Merkel entwickelt worden ist, ist ausdrücklich gelobtworden. Man hat die Empfehlung ausgesprochen, daraufzurückzugreifen. Frau Mehl aber erklärt, es gebe deshalbeine Beunruhigung an der Umweltfront, weil vieles vor-her unerledigt geblieben ist. Liebe Frau Mehl, der Sach-verständigenrat sieht das genauso wie wir. Die Umwelt-politik hat heute einen aus unserer Sicht leider – so mussman feststellen – nicht sehr hohen Stellenwert, weil invielen dramatischen Bereichen Entwarnungen – diesesWort gebraucht der Umweltrat – ausgesprochen wordensind. Denn viele Probleme in der Umweltpolitik sind ge-löst worden. Wodurch denn? Durch die Aktivitäten dervon CDU/CSU und F.D.P. geführten Bundesregierung.
Der Umweltrat hat Recht. Denn er erklärt, dass vie-les, was in der Umweltpolitik zu einer Effektivitätsstei-gerung führen kann, von der jetzigen Regierung bishernicht aufgegriffen worden ist. Sie haben zu diesen Fra-gen kein Konzept vorgelegt. Sie haben keine realistischePrioritätensetzung vorgenommen. Sie haben in vielenkonzeptionellen langfristigen Umweltfragen eindeutigversagt. Die kritische Bewertung ist zu Recht erfolgt.Machen Sie endlich eine gute und damit in sich schlüs-sige Umweltpolitik!
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Win-
fried Hermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Da-men und Herren von der Opposition, nach dieser Debat-te bin auch ich versucht, polemisch noch eins draufzu-setzen. Das sage ich Ihnen ganz offen.
Ich glaube aber nicht, dass wir auf dieses Gutachten unddie damit zusammenhängende Problematik angemessenreagieren, wenn wir weiter polemisieren. Ich möchte einen Punkt von Herrn Paziorek aufgrei-fen. Er hat kritisiert, dass meine Fraktion und auch dieSpitzen der Grünen heute nicht in genügender Zahl ver-treten sind. Sie haben vollkommen Recht. Auch michärgert das.
Ich würde aber auch gerne den Fraktionsvorsitzendender SPD, den Fraktionsvorsitzenden der PDS und denHoffnungsträger der CDU, Herrn Merz,
Frau Merkel, die ehemalige Umweltministerin, und an-dere begrüßen.
– Natürlich auch Herrn Gerhardt. Warum sage ich das so deutlich, dass Sie lachen müs-sen? Wir haben in der Umweltpolitik ein gemeinsamesProblem, nämlich das Problem, dass wir zwar unterein-ander sozusagen streiten und jeder von uns noch bessereökologische Vorschläge hat, dass aber bereits jeweils inunseren Fraktionen die Probleme und Schwierigkeitenbeginnen, sich durchzusetzen. Das gilt übrigens sowohlfür die vergangene als auch für die jetzige Regierungs-politik.
Dr. Peter Paziorek
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8615
Insofern haben wir keinen Grund, Kritik nicht ernst zunehmen, und niemand hat einen Grund, sich hier selbst-gerecht hinzustellen, wie Sie das getan haben. Wenn man das Umweltgutachten richtig liest, undnicht nur die Überschriften und das Vorwort, dann mussman feststellen, dass es eine sehr differenzierte Be-schreibung der Umweltsituation in der BundesrepublikDeutschland und in Europa ist. Es ist eine differenzierteBeschreibung der Probleme sowohl auf Bundes- alsauch auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Esist kein Gutachten, das sich nur an die Bundesregierungrichtet nach dem Motto: Wir kritisieren einmal die Bun-desregierung. Es ist vielmehr eine ausgesprochen kriti-sche Auseinandersetzung mit der Umweltsituation undder Umweltpolitik auf allen Ebenen Deutschlands undEuropas. Insofern sind wir alle Adressaten dieser kriti-schen Auseinandersetzung.
Ich möchte Ihre Kritik und auch die des Gutachtensan einigen Punkten aufgreifen; man kann dies ja nur inaller Kürze tun. Hinsichtlich der Nachhaltig-keitsstrategie gebe ich Ihnen Recht. In dem Gutachtensteht, wir seien inzwischen von einem Vorläuferland inden 70er-Jahren – so ist dort übrigens zu lesen – in denfrühen 90er-Jahren zu Nachzüglern geworden. Ich sageIhnen ganz offen: Ich selber wäre heute gerne weiter.Aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen,dass Sie etwas geleistet haben.
Denn das Schritteprogramm von UmweltministerinMerkel ist rechtzeitig in der Schublade versenkt worden.Sie haben nicht den Mut gehabt, daraus eine Strategie zuentwickeln.
Das ist doch der Punkt: Immer dann, wenn es konkretwerden sollte, hatten auch Sie Ihre Schwierigkeiten. Übrigens wird ausdrücklich erwähnt, wie man sichdie nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorzustellen hat.Wenn Sie sich einmal unseren Antrag anschauen – demhaben Sie übrigens zugestimmt –, dann werden Sie fest-stellen, dass auch wir das in vielen Punkten tun: Zielori-entierung, Konzentration, Angabe klarer Schritte. Ichhabe in der Debatte deutlich gemacht, dass wir dasSchriftkonzept von Ihnen und Angela Merkel mit auf-nehmen werden; denn wir fangen nicht bei Null an. Alsobitte, wir haben bereits kritische Punkte aufgenommen.Zum nationalen Nachhaltigkeitsrat: Hier wird eineplurale Zusammensetzung aus den Kräften der Gesell-schaft vorgeschlagen. Genau das ist es, was wir vor-schlagen und in den nächsten Wochen durch Berufungenauch klarstellen werden.Nächster Punkt: Umweltgesetzbuch. Sie haben es an-gesprochen, Herr Paziorek. Auch hier finde ich keinenGrund zur Selbstgerechtigkeit. Natürlich ärgert es michungeheuer, dass wir dieses Projekt, das wir als großesModernisierungsprojekt angesehen haben, nicht voran-gebracht haben. Aber dasselbe Problem hatten Sie alsUmweltpolitiker. Frau Merkel hatte einen Entwurf, derwieder um rechtzeitig in der Schublade, in der Versen-kung verschwand, der nicht an die Öffentlichkeit kam.
Wir haben erneut einen Entwurf erarbeitet. Er gerietin die Kritik; es gab verfassungsrechtliche Bedenkenund Bedenken seitens der Länder. Ich habe mit HerrnGrill – er ist jetzt nicht da – ganz offen darüber geredet:Wenn man in Deutschland kein Umweltgesetzbuch er-arbeiten kann, weil Länderkompetenzen berührt werdenund die Länder mit einer verfassungsmäßigen Ein-schränkung ihrer Kompetenzen nicht einverstanden sindund deshalb drohen,
dann muss es eine Allparteienkoalition geben, dannmüssen Bund und Länder gemeinsam dieses große Mo-dernisierungsvorhaben durchsetzen. Das ist uns nicht ge-lungen. Übrigens hat mir Herr Grill ganz deutlich ge-sagt: Unsere Leute in den Ländern sind dagegen. Es istauch nicht so, als seien bei uns alle von der Idee einesUmweltgesetzbuches begeistert.
Also auch hier haben wir das Problem, mit den Mitteln,die wir haben, komplexe Gesetzgebungsprozesse wieetwa ein Umweltgesetzbuch nur sehr schlecht umsetzenzu können.Es gibt noch einige andere Punkte, wo die kritischenAnmerkungen der Gutachter, wie ich glaube, wirklichangemessen sind. Aber im Grunde genommen treffen siealle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen. Allesollten sich aufgefordert fühlen, daraus mehr und Besse-res zu machen.Ich sage Ihnen zum Schluss eines: Für mich ist einesolche kritische Schrift eine Ermutigung, hart und ge-duldig weiterzukämpfen und dort, wo wir gemeinsametwas machen müssten, weiter nach einem Konsens zusuchen, Ihnen aber auch zu sagen, dass Sie nicht viel da-zu beitragen, in diesem Bereich voranzukommen. Siehaben heute nur Ihre alten Platten aufgelegt, die Sieschon seit einem Jahr spielen. Sie haben sich aber nichtmit diesem Gutachten auseinander gesetzt. Ich hoffe,dass wir darüber im Ausschuss eine kritische Debatteführen können, und danke den Gutachtern für diesen kri-tischen Anstoß.
Winfried Hermann
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8616 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Vera Lengsfeld.
Herr Präsident! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin,Sie hatten anderthalb Jahre Zeit, zu beweisen, dass SieUmweltpolitik besser machen können als die von Ihnenviel geschmähte Kohl-Regierung. Worin Sie allerdingsam erfolgreichsten waren, war, den Eindruck zu erwe-cken, als würden die Grünen in ihrem krampfhaften Ver-such, ihrer Ein-Punkt-Kompetenz zu entkommen, dieZwischenbilanz ihrer Umweltpolitik am liebsten verste-cken, weil sie ihnen peinlich ist. Hauptsächlich ging esder Koalition um die Frage – damit hat sie sich medien-wirksam gequält –, ob die Atomkraftwerke nun früheroder später abgeschaltet werden – als ob das der ganzeInhalt der Umweltpolitik wäre. In der Schule hieße es:Thema verfehlt – fünf!
Ähnlich ist es beim Gutachten des Umweltsachver-ständigenrates. Herr Kollege Loske, Sie haben vorhingesagt, wir hätten dieses Gutachten nicht gelesen. Siekönnen ganz sicher sein, dass wir lesen können und dasGutachten auch gelesen haben.
Wenn ich allerdings die Redner der Koalition so höre,dann frage ich mich manchmal, ob wir eigentlich dasgleiche Gutachten gelesen haben.
Ich lese aus diesem Gutachten etwas ganz anderesheraus. Nehmen wir einmal das Thema Ökosteuer. Indem Gutachten steht – das hat der Umweltrat so for-muliert –: Welche Beanspruchung der Umwelt durch dasGesetz in erster Linie vermieden werden soll, ist völligunklar. Zur Reduktion von Treibhausemissionen, insbe-sondere CO2-Emissionen, wären der Ökosteuer andere Optionen vorzuziehen. Der Umweltrat hat zwei Optio-nen aufgeführt: die CO2-Lizenzen und die emissionsbe-zogene Energiesteuer.
Er hat dann eine verheerende Bilanz gezogen: DieStromsteuer der Bundesregierung belastet die Wirtschaftund die Haushalte unnötig und sorgt für zusätzlicheKosten durch die Notwendigkeit kompensierender För-derprogramme für erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-Koppelung. Dies heißt: Die Ökosteuer ist keineÖkosteuer. Auch sonst haben Sie es natürlich schwer, denn dieumweltpolitische Bilanz der Regierung Kohl war her-vorragend. Wir haben vorhin schon über die Luft- undWasserreinheitswerte geredet.
– Herr Loske, das muss ich Ihnen doch nun wirklichnicht sagen. Unsere Oberflächengewässer sind inzwi-schen schon so sauber,
Stattdessen üben Sie sich lieber in überholten Glau-bensbekenntnissen: Erstens. Gentechnik ist des Teufels,obwohl die Neukombination von Erbgut eines der Er-folgsrezepte der Natur ist. Zweitens. Atomkraft – neindanke. Wir lassen uns auch nicht davon verwirren, dasses inzwischen revolutionäre wissenschaftliche Erkennt-nisse über neue Endlagermöglichkeiten gibt.
Drittens – Frau Caspers-Merk hat es vorhin wieder be-stätigt – sagen Sie sogar: Einweggut ist schädlich, Mehr-weggut ist umweltfreundlich, obwohl inzwischen sogarder NABU einräumt, dass dies so nicht stimmt. Aber Siewollen an Ihrem Glauben festhalten und Quoteneinführen, statt der Realität Rechnung zu tragen.
Der Mensch wird immer noch als Störfaktor für dieNatur angesehen. Deshalb hat die Naturschutzpolitik derRegierung vor allen Dingen etwas mit gelben Verbots-schildern zu tun. Dass die Menschen dann Schutzgebietenicht attraktiv finden, ist eine bedauerliche Folge dieserPolitik. Meine Damen und Herren, die Regierung hat die positive wirtschaftliche Dimension der Umweltpolitiküberhaupt nicht erkannt.
Sie versucht, den Markt zu knebeln, statt ihn seine Kräf-te zum Wohle der Umwelt entfalten zu lassen. Der deut-sche Umweltrat ist da viel weiter. Er hat die Chancen
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8617
der Privatisierung für die Verbesserung der Umwelt er-kannt. Er fordert zum Beispiel eine Privatisierung derWasser- und Abwasserversorgung und sagt: Das könntedazu führen, dass überfällige Investitionen in die Infra-struktur getätigt und dass deutsche Anbieter wettbe-werbsfähig werden. Auch an die private Betreuung vonSchutzgebieten sollte gedacht werden. Vorbild ist hierdie USA, wo „wildlife-related activities“ längst einWirtschaftsfaktor und Nationalparks Katalysatoren fürdie Entwicklung ganzer Regionen geworden sind. Aber die Bundesregierung hat nicht einmal ansatz-weise versucht, entsprechende Strategien zu entwickeln.Stattdessen gibt es eine ganze Menge umweltschädigen-der Subventionen; auch unter Ihnen als Umweltminister.Uneffektive kommunale Trink- und Abwasserverbändewerden alimentiert. Der Umweltrat empfiehlt, das abzu-schaffen. Der Preis für Fischfilets beruht zu einem Drit-tel auf Steuern. Mit staatlichen Subventionen werden tierquälerischeProduktionsfirmen in der Landwirtschaft am Laufen ge-halten und unsere Umwelt mit Herbiziden und Pestizi-den belastet. Allen vollmundigen Ankündigungen in den langenOppositionsjahren zum Trotz hat die rot-grüne Regie-rung nicht erkennen lassen, dass sie einen Ausweg ausdieser umweltpolitischen Sackgasse sucht.
Frau Kollegin,
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!
Wer die Umwelt
nachhaltig schützen will, kommt um den Abbau von
umweltschädigenden Subventionen nicht herum. Was
hat denn Ihr Herr Funke kürzlich gemacht? Das Gegen-
teil davon. Jeder Grüne wusste, als er noch nicht in Re-
gierungsverantwortung war, was „perverse subsidies“
sind. Heute muss der Umweltrat Sie auffordern, umwelt-
schädigende Subventionen abzubauen. Ich frage mich,
ob das nicht ein Zeichen von „reverse politics“ ist.
Frau Kollegin
Lengsfeld, ich muss Sie jetzt doch bitten.
Ja, gleich, sofort. Ich
bin sofort fertig.
Nein, Sie haben
lange genug gesprochen. Ich muss Sie jetzt doch bitten,
zum Schluss zu kommen.
Ich möchte noch einen
Punkt zum Schluss anbringen. Ein Blick über die Grenze
würde ab und zu gut tun. Ich meine in diesem Falle den
Blick nach Österreich. Österreich hat die höchste Bio-
bauerndichte Europas. Da könnte es nicht schaden, ein-
mal hinzufahren und nachzufragen, wie Österreich dazu
gekommen ist. Dass man dabei einen FPÖ-Land-
wirtschaftsminister fragen muss, sollte einen extremis-
muserfahrenen Umweltminister nicht abschrecken;
denn er hat ja genügend Erfahrungen auf der Seite der
Linken.
Frau Kollegin
Lengsfeld, ich muss Sie wirklich bitten. Kommen Sie
jetzt bitte zum Schluss! Ich kann Ihnen jetzt keine weite-
re Redezeit geben.
Okay, ich bin beim
letzten Satz.
Nein, bitte!
Tut mir Leid. Der
letzte Satz wäre der beste.
Ich will an alle
Fraktionen sagen, dass bisher alle Redner in der Aktuel-
len Stunde überzogen haben. Wir haben das großzügi-
gerweise auch zugelassen. Aber irgendwo ist die Gren-
ze. Deswegen bitte ich um Verständnis, dass man ir-
gendwann eingreifen muss. Wir haben eine Aktuelle
Stunde und noch drei Redner. Diese sollen nicht darun-
ter leiden, dass ich jetzt eingegriffen habe. Aber im We-
sentlichen möge man sich an die Redezeiten halten!
Frau Kollegin Monika Ganseforth spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächste Jahr-tausend“ heißt das Gutachten des Sachverständigenrates,über das wir heute debattieren. Die Empfehlungen rich-ten sich eindeutig an Regierung und Parlament. Deswe-gen ist es richtig, dass wir uns damit befassen, und zwargründlich.Die Tatsache, dass die CDU/CSU eine AktuelleStunde dazu beantragt hat, scheint mir aber aus anderenGründen zu resultieren. Es geschieht nicht, weil sie sichdamit gründlich befassen will oder weil wir das diskutie-ren wollen. Das Gutachten ist noch nicht einmal eineWoche alt. Ich habe es nur geschafft, die Kurzfassung zulesen, und diese ist schon 150 Seiten stark. Ich habe denEindruck, dass viele von Ihnen nur die Presseerklärunggelesen haben, und die noch nicht einmal richtig.
Für eine gründliche Befassung mit einem so umfang-reichen Werk braucht man ein bisschen mehr Zeit als ei-ne halbe Woche. Ich hoffe, wir werden noch dazu kom-men. Aber Sie haben vielleicht gute Gründe, sich hinterVera Lengsfeld
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8618 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
einem solchen Gutachten zu verstecken, anstatt sich mitIhren eigenen Konzepten – die es immer noch nichtgibt – auseinander zu setzen. Ich möchte etwas zu einem Schwerpunktthema desGutachtens sagen, nämlich zu den energiewirtschaftli-chen Fragen. Diese nehmen einen großen Raum ein.Deswegen möchte ich mich sehr wohl mit den Empfeh-lungen auseinander setzen, aber nicht mehr mit der Öko-steuer. Das hieße nur, Schlachten von gestern zu schla-gen. Wir erwarten von den Sachverständigen, dass sie –wie heißt es so schön – „Schritte ins nächste Jahrtau-send“ weisen und nicht die verlorenen Schlachten vongestern schlagen. Die Argumente dazu sind widerlegtworden; das muss nicht wiederholt werden. Der Sachverständigenrat spricht sich wie eh und je –ich finde, manchmal etwas zu euphorisch – für die Li-beralisierung der Strom- und Gasmärkte aus. Das ist jaIhr Erbe. Er weist auf das „ungelöste Problem einer aus-reichenden umweltpolitischen Flankierung der liberali-sierungsbedingt sinkenden Preise“ hin. Er spricht alsodavon, dass die sinkenden Preise insofern ein ungelöstesProblem sind, als sie sich auf die erneuerbaren Energienund die Kraft-Wärme-Kopplung negativ auswirken. Ersagt, die im Energiewirtschaftsrecht vorhandenen Mög-lichkeiten zum Schutz und zur Förderung dieser Ener-gieformen seien „kein taugliches Instrument“.Ich finde, hier wird sehr deutlich, dass man vorherhätte überlegen müssen, ehe man so ein gravierendes In-strument etwas leichtfertig – ohne die Folgen zu beden-ken – auf den Markt bringt. Der Sachverständigenratsagt ganz eindeutig, dass wir hier noch ganz am Anfangstehen. Wir schlagen uns jetzt mit diesen Altlasten he-rum. Sie wissen, dass wir in fast jeder Woche damit zutun haben, wie man diese schädlichen Nebenwirkungenin den Griff bekommen kann, die wir von Ihnen, vor al-len Dingen der F.D.P., aber auch der CDU/CSU, und Ih-rer Gesetzgebung, geerbt haben. Der Umweltrat ist mit uns der Ansicht, dass dieKraft-Wärme-Kopplung bei der rationellen Energienut-zung eine besondere Rolle spielen muss. Er kritisiert,dass die Kraft-Wärme-Kopplung bisher diskriminiertworden ist – das bezieht sich auf Ihre Regierungszeit –,sodass sich nicht eine kleinräumige flächendeckendeVersorgungsstruktur auf der Basis von BHKWs, alsovon Blockheizkraftwerken, aufbauen konnte. Wir wer-den das ändern und wir haben schon damit begonnen.Wir haben die Blockheizkraftwerke von der Ökosteuerausgenommen. Das hat inzwischen Wirkung. Dies zeigt,dass flankierende Maßnahmen getroffen werden können.Das hätte früher passieren müssen.
Wir sind in der Kraft-Wärme-Kopplung beim Vor-schaltgesetz. Das wissen Sie. Im Übrigen teilen wir dieAnsicht des Umweltrates, dass durch Quoten der Markt-zugang für die Kraft-Wärme-Kopplung geöffnet und de-ren Nutzung so ausgebaut werden muss. Dass der Um-weltrat klipp und klar ausführt, dass eine Atomenergie-nutzung nicht verantwortbar ist und dass die Bundesre-gierung mit ihrem Konzept auf dem richtigen Wege ist,ist hier schon gesagt worden. Zu einem der Instrumente, die in Ihrer Regierungszeitim Zusammenhang mit dem Klimaschutz das Heil seinsollten, nämlich die Selbstverpflichtung, hätte das Urteilnicht vernichtender ausfallen können. Aber auch hier istes so: Wir werden nicht die Schlachten der Vergangen-heit schlagen, sondern auf dem Vorhandenen aufbauen.Aber das Instrument der Selbstverpflichtung ist unge-eignet – darauf weist der Umweltrat hin –, vor allenDingen weil Sie nur spezifische und keine absolutenReduktionsziele eingegangen sind. Was der Sachverständigenrat zur Energieeinsparver-ordnung sagt, ist nur richtig. Er ist gegen das vereinfach-te Verfahren für kleine Wohngebäude. Er spricht sichmit Recht gegen die Bevorzugung elektrischer Wärme-bereitstellung aus, weil sie hinsichtlich der Primärener-gie und ökologisch unsinnig ist. Und er fordert, dass fürden Gebäudebestand Instrumente wie Energiebedarfs-ausweis und Heizkostenspiegel eingeführt werden. Auchdas sind alles Altlasten, mit denen wir uns herumzu-schlagen haben. Zu den erneuerbaren Energien führt der Sachverstän-digenrat interessanterweise aus, dass es nicht richtig ist,immer nur die Nachteile zu diskutieren, zum Beispielbei der Windenergie die Auswirkungen auf die angebli-che Störung des Landschaftsbildes, den Düngemittelein-satz bei Biogas oder den Abfall bei der Photovoltaik.Vielmehr seien bei den anderen Energieformen dieAuswirkungen wesentlich gravierender und spielten inder öffentlichen Diskussion, aber auch in der Politik eineviel zu geringe Rolle. Was die erneuerbaren Energien anbelangt, haben wirdas Erneuerbare-Energien-Gesetz, das 100 000-Dächer-Photovoltaik-Programm und das Markteinführungspro-gramm auf den Weg gebracht. Hier sind wir also aufdem Weg, der vom Umweltrat vorgeschlagen wird. Hier blinkt die Lampe, die das Ende meiner Redezeitsignalisiert. Ich will nicht das nachmachen, was meineVorgängerin gemacht hat. Deswegen werde ich zumSchluss kommen. Ich hoffe, dass wir noch eine gründli-che Diskussion der umfangreichen Empfehlungen füh-ren werden, die ein bisschen mehr Substanz als das hat,was heute nach der kurzen Zeit besprochen werdenkonnte. Schönen Dank.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Mei-ne Damen und Herren! Ich will noch einmal auf Folgen-des hinweisen, verehrte Frau Caspers-Merk: Die Tatsa-che, dass wir die Kritik des Sachverständigenrates auf-greifen und sie auch in der Öffentlichkeit so diskutiertund dargestellt worden ist, wie Sie es hier beklagt haben,hängt nicht damit zusammen, dass der Sachverständi-genrat für Umweltfragen einen Vergleich zwischen derMonika Ganseforth
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8619
alten und der neuen Regierung vorgenommen hat. Ichnehme vielmehr das auf, was Christian Ruck gesagt hat:Die Differenz zwischen dem Anspruch, den Sie vor demRegierungswechsel auf dem Feld der Umweltpolitik ge-stellt haben, und der Wirklichkeit einer rot-grünen Um-weltpolitik beschreibt das Versagen. Das heißt, Sie sindan Ihren eigenen Ansprüchen gescheitert.Weil es in der Umweltpolitik nicht nur um Geld oderum technische oder um sonstige Lösungen geht, kannich Ihnen nur raten: Sie sollten auch immer einkalkulie-ren – das kann man an den 16 Jahren der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition hervorragend beweisen –, dass derFaktor Zeit für den Wandel eine unabdingbare Voraus-setzung ist. Das würden wir Ihnen ja sogar zugestehen,wenn Sie nicht so täten, als könne man das alles in ei-nem Jahr verändern. Insofern ist es immer auch eine Frage, unter welchenzeitlichen Perspektiven wir diskutieren. Wenn heute ver-schiedene Redner der Koalition meinten, sie müsstennoch einmal behaupten, dass in 16 Jahren nichts passiertist, dann will ich Ihnen nur sagen: Ein Stück der Exis-tenz der Grünen hängt auch damit zusammen, dass esbis zu Beginn der 80er-Jahre und bis zum Regierungs-wechsel am Ende der sozialliberalen Koalition – dieF.D.P. könnte da vielleicht beredter als die CDU/CSUZeugnis ablegen – eine Blockade von Sozialdemokratenund DGB gab, nach dem Motto: Umweltpolitik vernich-tet Arbeitsplätze.Am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl warenwir Weltmeister im Export von Umwelttechnologien.Das ist doch nicht ein Ergebnis, das die Wirtschaft sel-ber produziert hat, sondern das ist eine Folge der He-rausforderungen von Umweltpolitik an die Wirtschaft,die sie dann an den Stellen, an denen technische Lösun-gen erforderlich waren, auf diese Weise gemeistert hat.
Nur so konnte die global akzeptierte Leistung der Füh-rerschaft – der einzigen übrigens – im Bereich der Um-welttechniken entstehen.Ich brauche ja nur einmal in Ihre Papiere zu schauen;dann weiß ich, dass Sie das Problem viel differenzierterangehen, als Sie das hier am Podium darstellen. Ichnehme einmal Bezug auf den Kollegen Loske, der jaselber gesagt hat, dass akute Umweltprobleme wie dieLuft- und Wasserverschmutzung nicht mehr so gravie-rend sind.Ja, meine Damen und Herren, das lag an der Tatsa-che, dass 1983 nach dem Regierungswechsel kein ande-rer als Herr Zimmermann, der nun wirklich nicht origi-när vom Stamme der Umweltpolitiker war, innerhalbvon wenigen Monaten die TA Luft, den Katalysator undviele andere Dinge mehr umgesetzt hat.Herr Loske, es kann doch wohl nicht wahr sein, dassSie sich hier hinstellen und sagen, im Oktober 1999 wardie Kritik des Sachverständigenrates noch richtig, undim März 2000 ist das alles erledigt.
Im Übrigen, Herr Loske, würde ich Ihnen dringend et-was mehr Bescheidenheit empfehlen. Es fällt mir auf,dass Sie in jeder Debatte in einer geradezu banalen, aberauch nicht mehr akzeptablen Art Wissenschaftler kriti-sieren, die anderer Meinung sind als Sie. Das unter-scheidet den Umweltminister, wenn er es vielleicht auchnur aus taktischen Gründen gesagt hat, sehr deutlich vonIhnen. Sie sollten sich etwas mehr Bescheidenheit angewöh-nen, denn die alten Herren, die Sie hier am Schluss sopolemisch kritisieren zu müssen glaubten, gehören zuder Garde der Leute, die für die Umweltpolitik in derBundesrepublik Deutschland und ihre Entwicklung,auch wenn man nicht alle ihre Wünsche erfüllt hat, ei-nen unschätzbaren Dienst geleistet haben.
Und ein Letztes, Herr Trittin, da Sie heute hier sozu-sagen die Wettbewerbsphilosophie der Union kritisierthaben: Ich muss doch davon ausgehen, dass Sie alsBundesumweltminister es waren, der im Kabinett in derAntwort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik dar-gestellt hat: Die Bundesregierung ist für einen Wettbe-werb in der Energie, sie ist für Staatsferne und sie ist fürsubventionsfreie Energie. Unsere Kritik setzt doch da an, dass Sie die Spielräume,die wir mit der Energiepolitik, mit der Liberalisierung,mit den Standortvorteilen geschaffen haben, durchStromsteuer und zusätzliche Subventionen „verfrühstü-cken“ und sich für Ihre Politik zunutze machen, anstattsie bei den Verbrauchern zu lassen. Das ist auch genaudie Kritik, die der Sachverständigenrat übt.
Sie müssen versuchen, einen Teil Ihrer Glaubwürdigkeitzurückzugewinnen. Ich kann nur sagen: Wer in Deutsch-land so über den Ausstieg aus der Kernenergie diskutiertund gleichzeitig in China neue Kernkraftwerke baut, dersollte sich an diesem Pult etwas bescheidener gerieren.
Wenn Sie der Meinung sind, dass ich ein Ökologesei, bei dem das Schwarze durchschimmere, dann sageich Ihnen, Herr Trittin: Die Konservativen sind der Ur-sprung der Umweltpolitik.
Leute wie Sie, die vom linken und sozialistischen Flügelstammen, haben die Umweltpolitik eher als Vehikel zurMacht denn aus Überzeugung eingesetzt. Das ist derzentrale Punkt, warum Sie als Umweltpolitiker scheiternwerden:
Kurt-Dieter Grill
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8620 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
nicht deshalb, weil mir das Schwarze nicht gut zu Ge-sichte steht, sondern deshalb, weil Ihnen das Grüne derUmweltpolitik so schlecht zu Gesichte steht.
Als letzter Redner
in der Aktuellen Stunde spricht nun für die SPD-
Fraktion der Kollege Michael Müller.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es ist nicht das erste Mal,dass wir im Plenum über Jahresberichte des Sachver-ständigenrates diskutieren. Ich kann mich an keinen Be-richt erinnern, in dem nicht die Bundesregierung kriti-siert worden ist. Ich halte es für legitim und sogar not-wendig, dass ein solches Gremium Anstöße gibt undKritik übt. Es ist auch legitim, diese Kritik zu bewertenund aufzugreifen. Aber das bedeutet noch lange nicht,dass diejenigen, die diese Kritik aufnehmen, auch dieMeinung des Sachverständigenrats vertreten. Das ist dereigentlich entscheidende Punkt. Ich möchte das an dreiPunkten deutlich machen: Herr Ewers, der Mitglied des Sachverständigenratesist, vertritt beispielsweise die Auffassung, dass sich derPreis pro Liter Mineralöl auf 4,50 DM bis 5 DM durcheine entsprechende Besteuerung einpendeln soll. Mir istnicht bekannt, dass irgendjemand von der heutigen Op-position je eine solche Forderung erhoben hat – oder et-wa doch? –, im Gegenteil! Das ist der entscheidendePunkt. Herr Ewers, der das entsprechende Kapitel derökologischen Steuerreform nachdrücklich geprägt hat,hat in der Vergangenheit im Rahmen der Diskussion über die Ökosteuer immer wieder einen solchen Preisfür Mineralöl verlangt. Ich bitte Sie darum, ehrlich zusein. Ein weiteres Beispiel. Der Sachverständigenrat plä-diert in seinem Gutachten für höhere Strompreise. HerrGrill hat soeben genau das Gegenteil vertreten. Er hatgefordert, man müsse die Strompreissenkungen nutzen,die sich durch die Liberalisierung ergeben haben. Aberwofür sollen sie genutzt werden? Sollen sie etwa beibe-halten werden? Wir haben diese Senkungen zum Teilgenutzt, um die Ökosteuer durchzusetzen. Aber mankann nicht eine Kritik aufgreifen, gleichzeitig hinter derKritik zurückbleiben und behaupten, das sei die Kritikan der Bundesregierung. Das passt doch überhaupt nichtzusammen.
Ich halte es für völlig legitim, die Kritik des Sachver-ständigenrates zu übernehmen. Aber zur Ehrlichkeit ge-hört auch dazu, dass man sich mit dieser Kritik ausei-nander setzt und eine eigene Position bestimmt. Das isthier nicht erfolgt. Aus meiner Sicht ist ein Teil der Kritik des Gutach-tens berechtigt. Zum großen Teil werden in ihm aller-dings lange beklagte Altlasten im Umweltbereich aufge-führt, die zu unserem Bedauern nicht schneller abgear-beitet werden können. Zum Teil sind sie auch umstrit-ten. Manches ist auch falsch. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen,über das der Bundestag diskutiert hat, nämlich am Bei-spiel der emissionsbezogenen Besteuerung. Wir habenüber sie in diesem Haus sehr intensiv im Zusammen-hang mit Maßnahmen zum Klimaschutz diskutiert. Eswar damals übereinstimmende Meinung – einschließlichder CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion –, dass eine emissi-onsbezogene Besteuerung des Energieverbrauchs nichtsinnvoll sei. Im Gegenteil: Wir alle haben damals über-einstimmend die These vertreten, es gehe vor allem umdie Senkung des gesamten Energieverbrauchs und des-halb müsse der gesamte Energieverbrauch besteuertwerden. Das war die übereinstimmende Position.
Ich halte das nach wie vor für eine richtige Position.Ich möchte dies an einem weiteren Punkt illustrieren:Nach meiner Meinung macht es keinen Sinn, ein So-larenergiehaus zu bauen, das schlecht gedämmt ist. Daswürde nichts bringen. Man kann für emissionsbezogeneKriterien eintreten. Aber die Logik, die Besteuerung aufdie Senkung des Energieverbrauchs auszurichten, istauch legitim und vielleicht sogar die richtigere Strategie.Insofern sollten wir hier keine falschen Fronten aufbau-en.
Hierüber gab es immer Streit. Zumindest damals – viel-leicht ist dies heute nicht mehr der Fall – hat sich derBundestag einmütig für eine andere Linie ausgespro-chen. Sie können natürlich sagen: Der Sachverständigenratkritisiert, dass die ökologische Steuerreform nicht denLenkungseffekt hat, den sich vielleicht die einzelnenMitglieder dieses Sachverständigenrates gewünscht hät-ten. Ich will jedoch darauf hinweisen, dass sich bei derPräsentation des Berichtes die Sachverständigen, die dasvorgetragen haben, in ihren Aussagen zum Teil ganzschön widersprochen haben. So eindeutig ist deren Linieauch nicht. Aber auch bei diesem Ausgangspunkt mussman sagen: Die Opposition hat bei der Ökosteuer überhauptnichts zuwege gebracht. Auf welcher Basis kritisierenSie uns eigentlich? Soll uns das eine Hilfe sein? WollenSie, dass wir bei der nächsten Stufe der Ökosteuer nochsehr viel mutiger sind, und wollen Sie das Ganze unter-stützen? Heißt das, Sie machen keine Kampagne mehrgegen die Ökosteuer? Dazu müssten Sie sich einmal äu-ßern. Das ist doch völlig unklar, wenn man ehrlich ist.Was wir an Kritikpunkten deutlich sehen und wo wirnachbessern müssen, sind die Fragen betreffend Boden-schutz, Abfallpolitik, Altlasten, Naturschutz. Nur weiseich darauf hin: In der Vergangenheit hat die damaligeOpposition immer die Bereitschaft geäußert, hier imBundestag sehr viel weitergehende Positionen durchzu-setzen. Sie waren es, die blockiert haben. Sie könnenKurt-Dieter Grill
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8621
sich jetzt nicht hier hinstellen und dies auch noch kriti-sieren. Das passt nicht zusammen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass diesesDokument eher der Nachläufer eines verlorenen Jahr-zehnts ist. Eine in der Substanz schon die neue Regie-rung treffende Kritik sehe ich nicht. Ich sehe das abersehr wohl als einen Hinweis und Ansatzpunkt dafür,dass wir unsere Anstrengungen verstärken. Ich glaube,das sollte unser aller Anliegen sein. Unter den Bedin-gungen der Globalisierung und, der Veränderung derWirtschaftsstrukturen darf die Umwelt- und Natur-schutzpolitik nicht auf ein Nebengleis gestellt werden.Wenn der Sachverständigenrat dazu einen Beitrag ge-leistet hat, dieses wieder stärker ins Zentrum zu rücken,dann danken wir ihm sehr dafür.
Damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf.
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Entschließungsantrag
der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und F.D.P.
zu der Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers zum bevorstehenden Europäi-
schen Rat in Helsinki am 10./11. Dezem-
ber 1999
– Drucksachen 14/2279, 14/2757 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen
Karl Lamers
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Entschließungsantrag
der Fraktion der PDS
zu der Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers zum bevorstehenden Europäi-
schen Rat in Helsinki am 10./11. Dezem-
ber 1999
– Drucksachen 14/2289, 14/2756 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen
Karl Lamers
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem
Kollegen Rudolf Bindig für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Da-men und Herren! Im Zentrum dieser Debatte steht derTschetschenienkonflikt. Ich möchte mich vor allem mitder humanitären Situation und der menschenrechtlichenLage in der Krisenregion im Kaukasus und besonders inTschetschenien befassen sowie mit einigen politischenFolgerungen, die daraus zu ziehen sind. Durch die heftigen Kämpfe, die in Tschetschenien,vor allem in Grosny, in einigen umliegenden Städtenund den Dörfern der Bergregionen des Kaukasus stattge-funden haben und noch stattfinden, sind große Teile derZivilbevölkerung Tschetscheniens in Not und Elend ge-kommen und als Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniensund in die Nachbarrepubliken zerstreut worden. Grosny ist total zerstört, die Stadt ist ein Trümmer-feld. Als Mitglied einer Delegation der Parlamentari-schen Versammlung des Europarates bin ich am vergan-genen Wochenende an mehreren Stellen in Tschetsche-nien und auch in der Innenstadt von Grosny gewesen.Diese besteht nur noch aus Mauerresten, Ruinen,Schuttbergen und Geschosskratern. Nur wenige Militär-LKWs und Panzer fuhren durch diese Trümmerland-schaft. Die Innenstadt ist weitgehend menschenleer. Etwas außerhalb des Zentrums wurde aus Feldküchenheißes Essen an ältere Leute, Frauen und Kinder verteilt,die mit vielen Personen in den wenigen heil gebliebenenKellern und Räumen hausen. Sie dürfen ihr jeweiligesStadtviertel nicht verlassen. Etwa 12 000 bis 14 000Menschen sollen sich unter diesen Bedingungen noch inGrosny aufhalten.Sammelpunkte für Flüchtlinge innerhalb Tschetsche-niens gibt es in Sernovodsk, Argun und Gudermes. Essoll sich um etwa 100 000 Flüchtlinge handeln. DieVerantwortung für diese geschundene Bevölkerung fälltin den Aufgabenbereich des russischen Ministeriums fürNotlagen, das sich um den Transport der vertriebenenPersonen und die Versorgung der Flüchtlinge in den La-gern kümmern muss. Die Versorgung mit Nahrung, Un-terkunft und medizinischer Hilfe für die innerhalbTschetscheniens Vertriebenen ist extrem prekär. Hiermuss der dringende Appell an die staatlichen russischenOrgane gerichtet werden, ihre humanitäre Hilfe zu ver-stärken und internationale humanitäre Hilfe der dafürzuständigen UN-Organisationen und von erfahrenenNichtregierungsorganisationen zuzulassen.
In einem von mir besuchten Krankenhaus in Argun wa-ren Medikamente nur für absolute Notbehandlungenverfügbar. Jede weitere Medizin muss von den Krankenmitgebracht, das heißt zuvor auf lokalen Märkten ge-kauft werden, wozu die meisten Patienten nicht in derLage sind. Da es grundsätzlich ein international verfüg-bares medizinisches Hilfspotenzial gibt, kommt eshauptsächlich auf die Erlaubnis durch die russischenMichael Müller
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Behörden und natürlich auf die Sicherheitslage an, umauch vor Ort Hilfe für die Patienten erbringen zu kön-nen. Der Großteil der Flüchtlinge ist allerdings aus Tsche-tschenien in die Nachbarrepubliken Dagestan, Nordos-setien und vor allem nach Inguschetien geflohen. Ingu-schetien unterhält traditionell vielfältige und gute Kon-takte nach Tschetschenien. Der inguschetische Präsi-dent Aushev nannte uns die Zahl von 210 000 Flüchtlin-gen, von denen circa 80 Prozent bei Verwandten oderBekannten untergekommen sind. Die verbleibenden cir-ca 42 000 leben in drei Flüchtlingslagern. Dort sind sieteils in Zelten, teils in Eisenbahnwaggons untergebracht.Mit Unterstützung internationaler humanitärer Hilfsor-ganisationen ist für registrierte Flüchtlinge die Grund-versorgung mit Nahrung und Wasser sowie mit Unter-kunft und Hygiene einigermaßen gesichert. Unterschwierigsten Bedingungen leben allerdings nicht regist-rierte Flüchtlinge. Auch für die von der lokalen Bevöl-kerung aufgenommenen Flüchtlinge gibt es keine odernur unzureichende Unterstützung.Am bedrückendsten ist die Perspektivlosigkeit derFlüchtlinge, weil wegen der Zerstörungen eine Rückkehrnach Grosny auch mittelfristig unmöglich sein wird.Auch ist nicht erkennbar, dass die russischen Regie-rungsstellen Vorstellungen darüber haben, wie es mitden Flüchtlingen einmal weitergehen soll. Hier ist derdringende Appell an die russischen Regierungsstellen zurichten, in Zusammenarbeit mit den internationalen hu-manitären Hilfsorganisationen Konzepte nicht nur füreine kurzfristige Notversorgung zu erarbeiten, sondernauch eine mittelfristige Perspektive für den Verbleib unddie Versorgung der Flüchtlinge und ihre gesicherteRückkehr nach Tschetschenien aufzuzeigen.
Internationale Unterstützung kann und muss es ge-ben. Die Hauptverantwortung aber liegt bei der Russi-schen Föderation, welche durch ihr gewaltsames Vor-gehen in Tschetschenien, also gegen die eigene Bevöl-kerung, Verursacher der humanitären Katastrophe gewe-sen ist. Außer Frage steht allerdings auch, dass es nichtakzeptable Akte der Gewalt auch durch die tsche-tschenischen Kämpfer gegeben hat, zum Beispiel bei derAnwendung des Scharia-Rechtes, durch Geiselnahmenund durch den Einsatz von Zivilisten als menschlicheSchutzschilder. Eng verknüpft mit der humanitären Notlage ist diemenschenrechtliche Situation in der Krisenregion inund um Tschetschenien. Durch den unterschiedslosenund unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt leidet inbesonderem Maße die Zivilbevölkerung. Das russischeMilitär hat dabei das humanitäre Kriegsvölkerrecht, wiees in den Zusatzprotokollen zum Genfer Rot-Kreuz-Ab-kommen niedergelegt ist, und die UN-Resolutionen zumSchutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konfliktenaufs Schwerste missachtet. Berichte über Gewalttaten anZivilisten durch russisches Militär sind vor allem vonHuman Rights Watch dokumentiert worden. RussischeSoldaten sollen Zivilisten willkürlich hingerichtet haben:38 Menschen im grosnischen Stadtteil Staropro-myslovski und 17 Menschen in der Nähe des Ortes Alk-han-Yurt. Die internationale Gemeinschaft muss vonden staatlichen Organen Russlands verlangen, dass diesevon Zeugen gut dokumentierten Kriegsverbrechen un-tersucht und die Schuldigen zur Verantwortung gezogenwerden.
Zu Menschenrechtsverletzungen kommt es insbeson-dere immer dort, wo Menschen gefangen gehalten wer-den. In der Region gibt es unter der Verantwortung desrussischen Justiz-, Innen- oder Verteidigungsmi-nisteriums bzw. der Sicherheitsdienste wahrscheinlichEinrichtungen, in denen Menschen inhaftiert sind. Über das Schicksal der Menschen in diesen Gefäng-nissen ist wenig bekannt. Ich hatte mit der Europaratsde-legation in Tschetschenien Gelegenheit, das Gefängnisin Tschernokosowo und in der örtlichen Polizeistation inNaurskaya zu besuchen. Dort berichteten die Gefange-nen, dass sie „angemessen“ behandelt würden. Sie be-klagten lediglich, dass sie keinen Zugang zu Rechtsan-wälten hätten. Hier muss allerdings bedacht werden,dass diese Haftanstalten bereits vom EuropäischenKommissar für Menschenrechte, von der EuropäischenAntifolterkommission und von Journalisten besuchtworden sind, sodass es sich um Vorzeigegefängnissenach potemkinschen Muster handeln könnte.Nicht zuletzt wegen der starken internationalen Kritikan den schweren Menschenrechtsverletzungen in derKaukasusregion ist vom amtierenden Präsidenten dasAmt eines speziellen Beauftragten für Menschenrech-te und Freiheiten in Tschetschenien eingerichtet undmit dem durchaus einflussreichen russischen PolitikerWladimir Kalamanov besetzt worden ist. Dieser hatnach eigenen Angaben bereits alle staatlichen Organe inRussland aufgefordert, ihn über Zahl, Haftdauer und er-hobene Anschuldigungen gegen alle in ihrem Bereichinhaftierten Personen zu informieren. Er kündigte an,dass er auch den von Nichtregierungsorganisationenvorgetragenen Fällen von Menschenrechtsverletzungennachgehen wolle. Ob diese Aufgabe ernsthaft wahrge-nommen wird, und ob die Schuldigen auch bestraft wer-den, kann sich nicht durch Worte, Absichtserklärungenund Planungen, sondern nur durch Taten erweisen.
Der Europarat bemüht sich intensiv darum, einigeExperten als Beobachter im Büro des Menschenrechts-beauftragten mitwirken zu lassen. Über das Mandat derinternationalen Beobachter wird allerdings noch verhan-delt, da noch ungeklärt ist, ob und wie sie nicht nur demrussischen Beauftragten, sondern auch selbstständig derinternationalen Öffentlichkeit berichten können. Aufkeinen Fall dürfen diese Leute in eine Strategie der Rus-sischen Föderation eingebunden werden.Viel politische Bemühung sollte darauf verwendetwerden, jene politischen Kräfte in der Duma und in derZivilgesellschaft der Russischen Föderation zu stärken,Rudolf Bindig
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8623
die für die Beachtung der Menschenrechte in Russlandeintreten. In der Duma könnte und sollte ein besondererAusschuss eingesetzt werden, der sich mit der humanitä-ren und menschenrechtlichen Lage in Tschetschenienbefasst. Wichtige Beiträge zur Aufklärung können auchdie vorhandenen Menschenrechtsorganisationen wieMemorial und die Soldatenmütter erbringen. Gerade fürdie Nichtregierungsorganisationen müssten allerdingsdie Bedingungen geschaffen werden, in der Regionselbst tätig sein zu können.
Von einigen Parlamentariern des Europarates ist auchder Vorschlag in die Diskussion gebracht worden, inRussland ein nationales Komitee nach dem Vorbild derWahrheitskommission in Südafrika und entsprechendenKommissionen in einigen Ländern Zentral- und Süd-amerikas einzusetzen. Dieser Vorschlag birgt jedoch eingroßes Problem in sich, weil bei einer solchen Kommis-sion das Aufklärungsinteresse, also das Interesse anWahrheit, mit Vorstellungen von Versöhnung, Amnestieund Straflosigkeit verbunden wird. Dazu bedarf es einerzeitlichen Distanz zum Geschehen. In Tschetschenienmuss jedoch Aufklärung und zugleich eine Bestrafungder Schuldigen gefordert werden.
Deshalb ist dieses Modell wohl noch zu durchdenken.Damit habe ich einige menschenrechtliche und hu-manitäre Aspekte des Konfliktes dargestellt. Der Kolle-ge Weisskirchen wird die übergreifenden außenpoliti-schen Aspekte darstellen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff.
Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben unshier im Plenum des Deutschen Bundestages schon wie-derholt mit dem Krieg in Tschetschenien beschäftigt, dervon russischer Seite mit großer Brutalität und ganz ge-zielt gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Die Bun-desregierung hat praktisch keine Möglichkeit gehabt,politisch in den Konflikt einzugreifen oder auf die russi-sche Kriegsführung Einfluss zu nehmen. Sie hat den rus-sischen Machthabern wiederholt Gelegenheit geboten,das auch öffentlich zu dokumentieren. Herr Außen-minister, man kann geteilter Meinung sein, ob IhreAufwartung in Moskau auf dem Höhepunkt der Kampf-handlungen in Tschetschenien angemessen und hilfreichwar. Der Kreml hat diesen Krieg gezielt eskaliert und zuWahlkampfzwecken in den russischen Medien insze-niert. Natürlich wurde auch Ihr Besuch für dieses Pro-pagandaspektakel benutzt; Sie haben das in Kauf ge-nommen. Der amtierende russische Präsident hat de-monstrativ zur Schau gestellt, dass er sich in seinerTschetschenienpolitik überhaupt nicht beeinflussen lässt.Sie haben nichts erreicht, Herr Außenminister. Wirkonnten das bei realistischer Betrachtung auch nicht an-ders erwarten. Deshalb machen wir Ihnen auch keinenVorwurf. Das Problem der Bundesregierung ist vielmehrder krasse Gegensatz zwischen ihrer öffentlichen Zu-rückhaltung im Kaukasuskonflikt und ihren emotionali-sierenden Auftritten im Balkankonflikt.
Sie sind in Tschetschenien von Ihrer überzogenenund martialischen Kosovorhetorik eingeholt worden. ImKosovokonflikt hatte der Außenminister Fischer wie-derholt auf Auschwitz angespielt, ein unangemessenerVergleich, der sich uns Deutschen verbietet. Im Koso-vokonflikt hatte Minister Scharping in großer ErregungBilder von Gräueltaten an Zivilisten präsentiert – Bilder,die es auch aus Tschetschenien gegeben hätte –, um sei-ne moralische Betroffenheit und die Grausamkeit desKrieges zu dokumentieren. Wir waren damals genausomoralisch betroffen wie die Bundesregierung. Wir sindin Grosny genauso moralisch betroffen wie in Sarajevound Pristina.Herr Kollege Bindig, Ihr Augenzeugenbericht sprichtwahrlich eine deutliche und beeindruckende Sprache.Aber – darin unterscheiden wir uns von manchen Kolle-gen auf der linken Seite des Hauses – Betroffenheitreicht eben nicht aus, um eine Außenpolitik zu gestalten,die unseren Interessen und unserer Verantwortung ge-recht wird.Es war richtig und notwendig, im Kosovokonflikteinzugreifen, auch militärisch, weil dieser Konflikt dieStabilität Deutschlands beeinträchtigt hat: von den un-mittelbaren Auswirkungen auf unsere Bündnispartnerund Nachbarn bis zu der Bedrohung unserer eigenen in-neren Stabilität und dem Zustrom von Flüchtlingen nachDeutschland.In Tschetschenien war ein direktes Eingreifen derdeutschen Politik nicht nur nicht möglich, sondern auchnicht zu verantworten, weil eine offene Konfrontationmit Russland die Stabilität unseres Kontinents undinsbesondere die Stabilität Deutschlands beeinträchtigenwürde. Die Einbindung Russlands in die künftige euro-päische Sicherheitsordnung ist ein vorrangiges strategi-sches Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Un-sere Russlandpolitik ist um so wirkungsvoller, je weni-ger wir Dissonanzen und Interessenkonflikte öffentlichinszenieren, erst recht, wenn es aus innenpolitischenMotiven geschieht.Tschetschenien ist ein Musterbeispiel dafür, dass dieUnterscheidung zwischen wertorientierter Außenpolitikund interessenorientierter Außenpolitik einer politischenIdeologie entspricht, aber nicht der politischen Wirk-lichkeit. Zu unseren Interessen gegenüber Russland ge-hört das klare Bekenntnis zu den Prinzipien von Demo-kratie, Freiheit und Menschenrechten, selbstverständlichauch in Tschetschenien.Rudolf Bindig
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8624 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Zu unseren Interessen gehören die diplomatischeEinbindung Russlands und der kontinuierliche Dialogmit diesem schwierigen Nachbarn. Umgekehrt müssenwir auch dem Interesse Russlands an einer Verankerungin Europa und in internationalen SicherheitsstrukturenRechnung tragen. Ausgrenzung und Isolierung sind keindauerhafter Beitrag zur Stabilität in Europa und in derWelt, wie die jüngsten Beispiele zeigen.Der Deutsche Bundestag muss noch intensiver alsbisher den Dialog mit der neuen Staatsduma suchen undunseren Kollegen verdeutlichen, dass die Russische Fö-deration Gefahr läuft, sich selbst außerhalb des europäi-schen Fundamentes zu stellen und international zu iso-lieren. Mit öffentlichen Appellen ist es nicht getan.Die strategische Diskussion über die künftigen Be-ziehungen zwischen der NATO und Russland, zwischender Europäischen Union und Russland hat für die deut-sche Außenpolitik erste Priorität. Herr Außenminister,zu dieser Diskussion hat die Bundesregierung bisher sogut wie keinen Beitrag geleistet. Wir fordern Sie auf,diese wichtige Debatte gemeinsam mit unseren Partnernzu intensivieren und dazu eigene Vorschläge einzubrin-gen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich an dieser Debat-te konstruktiv beteiligen.Vielen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gebe ich nunmehr das Wort
dem Kollegen Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag,den wir nach langem Zögern heute endlich verabschie-den, kommt fast schon zu spät. Er ist fast ein Nachrufauf die furchtbare Tragödie, die Herr Bindig eben ge-schildert hat; eine Tragödie, für die neue Worte aus dem„Wörterbuch des Unmenschen“ entstanden sind, wiebeispielsweise „Filtrationslager“, und wo wir auch aufeigene Wörter zurückgreifen können, wenn wir Auf-nahmen davon sehen oder vorgeführt bekommen, diedann „potemkinsche Dörfer“ heißen, weil sie zwischen-durch wieder umgemodelt wurden.Wir müssen uns hier mit Tschetschenien auseinandersetzen, nicht weil wir gegen, sondern weil wir für eineuropäisches Russland sind, weil wir mit Russland daseuropäische Haus bauen wollen, allerdings mit einemRussland, das die Menschenrechte achtet, selbst wenn eszur Wahrung seiner Integrität meint, gegen Separatistenvorgehen zu müssen, und doch die Normen des humani-tären Kriegsvölkerrechts achtet. All das geschieht nicht.Vor vier Wochen – Sie haben Recht, Herr Schocken-hoff – haben wir hierüber schon einmal diskutiert, frak-tionsübergreifend. Ich habe dann festgestellt, dass Sieauch da von der Kritik an der Rhetorik zur Zustimmungin der Sache zurückkamen. Fraktionsübergreifend habenwir die Reise des Außenministers für richtig gehalten.Fraktionsübergreifend haben wir gefunden, dass er sierichtig und gut durchgeführt hat. Trotzdem müssen wirdarüber intensiver und länger nachdenken, denn schondie Folge der europäischen Reise, die von Moskau ausgesehen – hier war erst der Anfang – fast den Eindruckeines Wettlaufs zum Hofe von Herrn Putin machte, istmehr oder weniger eine massive Wahlkampfhilfe für ei-nen Kandidaten geworden. Das muss man sehen. Damuss man sich fragen: Ist das der Kandidat wirklichwert? Da muss man dann ein bisschen genauer hinsehen. Eines fällt inzwischen auf und wird immer deutlicher:Der amtierende Präsident sagt zu allen das, was sie hö-ren wollen. Er ist darin sehr geschickt. Er sagt sehr ge-nau abgestimmt den Europäern das, was sie hören wol-len, nach innen aber sagt er etwas ganz anderes. Das istder Unterschied zwischen Worten und Taten. Das bedarfeiner Analyse. Schon in den Worten tauchen solche Wi-dersprüche auf, wie in dem Brief an die Wähler, in demer von der Notwendigkeit, die „Diktatur des Rechts“durchsetzen zu müssen, schreibt. Wir alle fragen uns:Dürfen wir uns nun die Hoffnungen auf die Entwicklungeines russischen Rechtsstaates machen oder müssen wirvor der Diktatur Angst haben?Deshalb werden an Tschetschenien nicht nur die Tra-gödie und die Zerstörung eines Volkes deutlich, es wirdauch sehr deutlich, dass es geradezu ein Lackmustest istfür die Entwicklung russischer Innenpolitik und die Fra-ge, wohin Russland geht. Das hat schon mit der Presse-freiheit zu tun.Am Dienstag voriger Woche hat auf einer Pressekon-ferenz der beste russische Tschetschenienkenner, derJournalist Babitzky, unter dem Schutz des PEN-Clubserzählt, wieso und wo er drei Monate verschütt gegan-gen ist. Zuerst – das wussten wir ja – ist er von den Ge-nerälen festgenommen worden, weil er zu viel über dieKriegsführung wusste. Dann ist er aber in einer dramati-schen Aktion an tschetschenische Freunde ausgeliefertworden. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dasses keine tschetschenischen Freunde waren, sondern dasses der FSB war, der mit tschetschenischen Kollaborateu-ren kooperierte. Die konnten ihn allerdings so unterbrin-gen, dass er für eine ganze Zeit von der Bildfläche ver-schwunden war.Das heißt, wenn wir über Tschetschenien sprechen, dannmüssen wir über einen Raum sprechen, in dem früherschreckliche Dinge geschehen sind. Ich muss das nichtwiederholen. Über all das Negative der Tschetschenen –Scharia, Geiselhandel und anderes – haben wir viel ge-sprochen. Wir müssen jetzt in der nachträglichen Betrachtungintensiver über Russland reden. Wir müssen uns natür-lich damit beschäftigen, dass es noch nie eine so massi-ve Informationsblockade wie in diesem zweiten Tsche-tschenienkrieg gegeben hat, dass diese Informationsblo-ckade durchbrochen werden muss, wie es der Europaratjetzt tut. Ich hoffe allerdings, dass die beiden Personen, die un-ter dem Schutz von Kalamanov dorthin können, vor al-lem dem Europarat berichten werden. Ich hoffe, dass sienicht etwa nur auf dem Weg über Kalamanov infor-Dr. Andreas Schockenhoff
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8625
mieren. Wenn das so wäre, dann sollten wir sie nichthinschicken. Die Klärung dieser Fragen steht dringendan.Ich sage etwas zum Gespräch mit den Duma-Abgeordneten. Ich habe vor kurzem eine ganze Wochelang mit Duma-Abgeordneten gesprochen. Es gab wel-che, die in Tschernokosovo, in diesem schrecklichen„Filtrationslager“, waren. Sie haben mir diesen Ort wieein Sanatorium geschildert. Wenn einem das widerfah-ren ist, dann kommt man dahinter, dass ein tapferer, mu-tiger russischer Journalist herausgefunden hat, dass dieGefolterten und Gebrochenen in Tschernokosovo in ei-nen Güterzug gepackt worden sind, der auf dem Ab-stellgleis bei Piatigorsk steht.Die Informationsblockade in diesem Fall ist massiv,sodass selbst Duma-Abgeordnete einem ganz glaubwür-dig erzählen, wie schön die Verhältnisse und wie weißdie Kittel der Ärzte sind. Vom FSB ist ein potemkin-sches Dorf gebaut worden, und unsere Gesprächspartnerfallen darauf herein. Das ist alles gar nicht so einfach.Wir haben erfahren, dass eine der in Russland be-kanntesten Eliteeinheiten, die Fallschirmjäger vonPskor, beim Eindringen in das Argun-Tal erleben muss-te, dass von 90 nur sechs Fallschirmjäger übrig ge-blieben sind. Es war wiederum Babitzky, der die Nach-richt als Erster überbrachte; deshalb ließ es sich nichtlänger verheimlichen. Das heißt, wir erleben im Momentden Übergang in einen Guerillakrieg. Gleichzeitig habenwir erlebt, dass es auch innerhalb des so genannten be-friedeten Tschetscheniens Guerilla-Aktionen gegebenhat. Wir stehen also an einem ganz wichtigen Wende-punkt in diesem Krieg, der nicht so bald zu Ende geht.Umso wichtiger wird es sein, dass Russland von derfalschen Vorstellung, eine Großmacht dürfe auf ihremTerritorium keinen Einblick von außen nehmen lassen,abgeht. Russland muss begreifen, dass das Eingeständ-nis von Schwierigkeiten keine Schande ist, sondern dasses geradezu ein Merkmal europäischer Politik ist. Russ-land, das uns bei der Beendigung des Kosovokrieges ge-holfen hat, muss lernen, dass ihm genauso durch Ver-mittlung europäisch geholfen werden könnte und sollte. Wenn das aber geschieht, dann muss dieser ganzegraue Schleier, der vom FSB und vom Militär überTschetschenien ausgebreitet wird, wirklich zerstört wer-den. Es gilt für Russland, sich darüber im Europarat undauch mit der OSZE zu einigen. Es geht darum, Russlandzu sagen, dass es zum Kriterium europäischen Verhal-tens gehört, Hilfe von Freunden auch anzunehmen, so-dass wir bei der Beendigung des Krieges mithelfen kön-nen und wenigstens noch ein paar Menschen gerettetwerden können.
Ich gebe dem Kol-
legen Ulrich Irmer für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der Kollege Lippelt hat die Meinung ver-treten, bei dem Antrag, über den wir heute beschließen,handele es sich wegen des Zeitablaufs fast schon um ei-nen Nachruf auf eine Tragödie. Ich fürchte, er hat Un-recht; denn wenn ich es richtig einschätze, dann werdensich die Kämpfe, und sei es als Guerillakrieg, über Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Das ThemaTschetschenien wird uns in den Gremien der westlichenLänder weiterhin beschäftigen, auch wenn es vielleichtnicht die Schlagzeilen beherrschen wird. Ich fürchte, eswird so sein. Ich fürchte weiter, dass Tschetschenienmöglicherweise – wenn wir die Russische Föderationbetrachten – nur die Spitze eines Eisbergs sein könnte,denn wir haben es bei der Russischen Föderation ja miteinem Vielvölkerstaat zu tun, in dem es brodelt und gärtund in dem sich viele Völker durch die russische Vor-herrschaft bevormundet fühlen. Es wäre also gut, wennman sich rechtzeitig darauf einstellte, dass es in diesemRiesenreich auch an anderen Stellen zu Schwierigkeiten,zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte.Wir sind uns alle darüber einig, dass wir Russlandnicht isolieren dürfen – wir sind auf Russland angewie-sen, aber genauso ist Russland auf uns angewiesen –,und zwar im Interesse eines gesamteuropäischen Frie-dens und gesamteuropäischer Sicherheitsperspektiven.Russland ist ja nicht nur Atommacht, es ist nicht nurnach wie vor eine Großmacht, sondern es ist auch – wirhaben immer wieder gemerkt, wie wichtig das ist – einesder Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Ver-einten Nationen. Wir haben im Falle Kosovo schmerz-lich erfahren, wie lähmend sich dies auf die internationa-le Handlungsfähigkeit auswirken kann, wir haben zumSchluss aber auch erfahren, wie konstruktiv Russlanddann handeln kann, wenn man es einzubinden versuchtund an seine Verantwortung appelliert.
Insgesamt ist es außerordentlich schwierig, mit einemLand wie Russland angemessen umzugehen. Wie be-handelt man ein solches Land? Auch ich bin der Mei-nung, Herr Bundesaußenminister, dass es richtig war,dass Sie zu Putin gereist sind. Ebenso bin ich mit Ihnender Meinung, dass es relativ wenig Sinn machen würde,an das Verhängen von Wirtschaftssanktionen gegenRussland zu denken. Ich halte es aber für falsch, dassSie in öffentlichen Erklärungen von vornherein gesagthaben, Sanktionen kämen nicht in Frage.
Man begibt sich damit einer möglichen Waffe. Sanktio-nen sind immer nur so lange wirksam, wie man mit ih-nen drohen kann. In dem Moment, in dem man sie an-wendet, verlieren sie ihre Wirkung. Deshalb ist esfalsch, diese Waffe aus der Hand zu geben und vonvornherein zu erklären, Sanktionen kämen nicht in Fra-ge.
Außerdem möchte ich Sie an dieser Stelle noch ein-mal auf das eigentlich Schlimme hinweisen, das mirimmer wieder auffällt. Das ist dieser himmelweite Ab-Dr. Helmut Lippelt
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8626 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Abgrund, der sich zwischen Anspruch und Wirklichkeitauftut. Ich will gar nicht so hämisch sein, Ihnen hier Zi-tate aus der Zeit des ersten Tschetschenienkriegs vorzu-halten, als Sie von dem entsprechenden Rednerpult inBonn aus die damalige Bundesregierung attackiert ha-ben. Da war die Wendung „Wandel durch Anbiederung“noch eine der vornehmeren Formulierungen; man hatdamals auch viel Härteres gehört. Ich bin ja froh, HerrFischer, dass Sie jetzt der harten Realität ausgesetzt sindund endlich einmal als Politiker, der verantwortlich han-deln muss, sehen, wie schwierig und unausweichlich soetwas in manchen Fällen ist.
Sie merken eben jetzt plötzlich, dass es mit verbalenBekundungen nicht mehr getan ist.In Ihrer Partei, die ja insgesamt das Organigramm derGutmenschen bildet, ist ja die Sparte der Fernethikerganz besonders stark ausgeprägt.
Sie werden es auf Ihrem Parteitag am kommenden Wo-chenende wieder erleben, dass Sie Prügel für Dinge be-ziehen werden, die Sie wahrscheinlich gar nicht anderstun konnten. Aber ich sage es noch einmal: Diese Dis-krepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist er-schreckend. Davon müssen Sie herunter kommen.Wir stehen auf Ihrer Seite, wenn Sie uns erklären,dass man aus Gründen des Pragmatismus und um Russ-land nicht zu isolieren bestimmte Dinge eben einfachnicht tun kann. Dann soll man sich aber bitte auch derhochtrabenden Rhetorik enthalten.
Die beiden Anträge beziehen sich auf den Gipfel vonHelsinki. Die Bundesregierung sollte aufgefordert wer-den, dafür zu sorgen, dass Russland verurteilt würde,dass auf Russland Einfluss genommen würde. Dazu istvon dem Gipfel auch eine harte Erklärung herausgege-ben worden. Aber geschehen ist nachher nichts!Wenn man seine eigene Machtlosigkeit noch in allerÖffentlichkeit dokumentieren will, dann tut man das na-türlich auf die Weise, dass man erst große Worte findetund nachher einräumt: Ja, ja, weil das mit Russland allesso schwierig ist, konnten wir leider nichts tun.Was Sie aber jetzt tun können und wozu ich Sie auf-fordere, ist, dass Sie, zusammen mit den anderen Euro-päern und mit Herrn Solana, den Versuch unternehmen,eine gemeinsame Aktion der Europäischen Union indie Wege zu leiten, wie man auf Russland zugeht undmit Russland zusammen versucht, das, was es in Tschet-schenien an Problemen gibt, zu lösen, und wie man viel-leicht mit Russland gemeinsam Konflikt verhütendeStrategien entwickelt und überlegt, wie sich Europa ver-halten soll, wenn in anderen Gegenden der RussischenFöderation Auseinandersetzungen aufbrechen sollten.Ich erwarte von der Bundesregierung auch, dass siejetzt massiv darauf drängt, dass die Zusagen eingehaltenwerden, die Russland, die Präsident Putin zum Beispielgegenüber dem Europarat gemacht hat, dass er nämlicheine ständige Beobachtermission in Tschetschenienzulässt. Meines Wissens ist das noch nicht geschehen.Der Kollege Bindig hat ja im Übrigen in eindrucksvollerWeise nicht nur die Lage geschildert, sondern auch ge-sagt, was zur Bewältigung der schwierigsten Menschen-rechtsprobleme jetzt dort geschehen müsste.
Die Vorwürfe an die Bundesregierung hinsichtlich ih-res Verhaltens in der Tschetschenienfrage halten sich –auch Kollege Schockenhoff hat das gesagt – in Grenzen.Wir sind hier moderat und zurückhaltend. Aber wir sa-gen noch einmal: Wir erwarten, dass die Kluft zwischenAnspruch und Wirklichkeit verkleinert wird. Bitte ver-sprechen Sie in Zukunft nur noch das, was Sie auchwirklich einhalten können.Vielleicht hilft es ja, Herr Fischer, dass Sie sich jetztaus der inoffiziellen Führung Ihrer Partei etwas zurück-ziehen wollen. Ich habe heute früh in der Zeitung gele-sen, dass Sie mit der Partei eigentlich nichts mehr zu tunhaben wollen. Ich verstehe das ganz genau, ich fühle mitIhnen. Auch ich möchte mit dieser Partei nichts zu tunhaben.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion der
PDS spricht nun der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es ist und es bleibt bitter,hier im Parlament und anderswo gegen Kriege zu redenund sich zugleich der Grenzen der eigenen Einwirkungbewusst zu sein. Trotzdem: Angesichts vernichteterStädte und leidender Menschen, angesichts von Not,Hunger und Flüchtlingselend ist Schweigen unmoralischund ein deutliches Nein dieses Parlamentes nötig undletztlich auch nicht vergeblich.
Ich werde mich nicht damit abfinden, dass Kriegmittlerweile zur Ultima Ratio erklärt wird, weder wenndies die russische Regierung mit dem Hinweis auf Ter-roristenbekämpfung tut noch wenn dies vonseiten derNATO mit dem Wort „Menschenrechte“ begründetwird. Krieg und Vernunft sind einander ausschließendeBegriffe.Russland versucht nach eigenem Bekunden in einerscheinbar alternativlosen Situation die Souveränität überTschetschenien mit massivem militärischen Einsatz ge-gen Abtrennungsversuche zu erhalten. Ich halte, wennman darüber nachdenkt, das Ziel, einen drohenden Zer-fall Russlands zu stoppen, für legitim. Die Mittel indeslehne ich kategorisch ab. Sie sind völkerrechtswidrig.Ulrich Irmer
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Ich verstehe, dass Russland Sorge um seine Sicher-heit hat, dass auch die Fragen aufzuwerfen sind, werdenn die Rebellen in Tschetschenien finanziert und aus-rüstet oder wessen und welche Interessen in der Regionaufeinander stoßen. All das darf nicht außer Acht gelas-sen werden. Aber kein Argument rechtfertigt es, einLand zu verwüsten, es in die Steinzeit zurückzubomben,Flüchtlingselend und Übergriffe der geschilderten Artund Weise zuzulassen.
Der entscheidende, tragische Punkt ist, dass auch die-ser Krieg die Probleme Russlands nicht lösen wird. Die-ser Krieg wird noch nicht einmal die Voraussetzungenfür die Lösung der Probleme schaffen. Die Ausgangssi-tuation verschlechtert sich eher dramatisch, auch imVergleich zum ersten Krieg in Tschetschenien. Russlandzahlt einen hohen Preis für diesen Krieg: Innenpolitisch,demokratisch, sozial und auch in der Außenpolitik.Wir werden heute über zwei Anträge zu entscheidenhaben, über einen Antrag der PDS-Fraktion und einender Regierungskoalition plus F.D.P. Ich finde unserennatürlich besser, ist er auch.
– Wir bekommen ja, auch wenn wir in der Sache über-einstimmen, aufgrund mancher bornierter Haltung nochnicht einmal hin, auch nur die Uhrzeit gemeinsam zu un-terschreiben. Das haben Sie mir ein paar Mal gesagt,was ich immer bedaure.Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Bundes-regierung neben vielem Richtigen – deswegen kann manihm auch zustimmen – für ihr außenpolitisches Engage-ment bei der Einflussnahme auf Russland gelobt. Ichmöchte die Frage aufwerfen, ob es wirklich Anlass fürein solches Lob gibt. Ich hatte angesichts der breit ge-tragenen gesellschaftlichen und parlamentarischen Zu-stimmung in Russland zu Putins harter Haltung keineübertriebenen Erwartungen an die Einwirkungsmöglich-keiten deutscher Politik im Rahmen der Reise des Au-ßenministers nach Moskau; ich habe das hier bereitsausgeführt. Aber ich halte es – das will ich hier betonen – für ei-nen unglaublichen Vorgang, der die Glaubwürdigkeitder Bundesregierung mehr als nur infrage stellt, wennder deutsche Verteidigungsminister Ende Februar diesesJahres in Moskau – kurz nach der Übertragung derschrecklichen Bilder aus Grosny und aus den Flücht-lingslagern – eine Zusammenarbeit zwischen der russi-schen Armee und der Bundeswehr in 33 Projekten ver-einbart, unter anderem auch bei der Ausbildung vonSoldaten. Der Presse war zu entnehmen, dass der russi-sche Marschall Sergejew auf die Frage, ob Scharpingdas Problem Tschetschenien angesprochen habe, betonteindeutig antwortete, über „innere AngelegenheitenRusslands“ sei nicht gesprochen worden. Wie nennt mandas – der Verteidigungsminister ist leider nicht anwe-send –: unterlassene Hilfeleistung? Ermutigung? Weg-schauen? Heuchelei? Oder welchen Begriff kann mandafür verwenden? In einer Situation, in der Grosny sozerstört wird, wie Sie es hier geschildert haben, verein-bart der Verteidigungsminister eine Zusammenarbeit mitder russischen Armee! Wie nennen Sie das? Das möchteich hier erklärt haben.
Der Außenminister spricht von Menschenrechten undder Verteidigungsminister von militärischer Zusammen-arbeit – zur gleichen Zeit. Ich habe mich hier in diesem Hause immer gegen dieAusgrenzung Russlands gewandt. Ich verteidige die Zu-sammenarbeit und den Dialog mit Russland; dafürgibt es viele Felder. Aber muss es ausgerechnet der mili-tärische Bereich sein, in dem diese Zusammenarbeitkonkret entwickelt wird? Ich kenne viele Felder, auf de-nen dies dringender notwendig wäre.
Krieg ist kein Mittel der Politik, auch kein letztrangi-ges, und wird es auch nicht sein. Krieg ist immer einVersagen der Politik. Krieg – im Kaukasus und anders-wo – ist aber immer auch Kampf um Macht und Macht-anspruch und die Verteidigung von Ressourcen, geostra-tegischen Interessen und Ansprüchen. Ob es Ihnen ge-fällt oder nicht, ich will es auch hier aussprechen: DerNATO-Krieg gegen Jugoslawien war der Freifahrtscheinfür den zweiten Tschetschenienkrieg. Ich glaube, auchdas kann man mittlerweile beweisen.Dem durch besonnene Politik vorzubeugen und ent-gegenzuwirken müsste Aufgabe deutscher Politik sein.Wir müssen das ernst zu nehmende Interesse verdeutli-chen, dass wir Gleichgewicht und Stabilität für Russ-land befürworten und dass uns an einer Zusammenarbeitmit Russland viel liegt, dass wir sie für wichtig halten.Das müssen wir dokumentieren; das muss eindeutigsein. Deswegen müssen auch die Signale eindeutig sein.Zu allem, was Russland in Richtung Demokratie undModernisierung führt, ist Ja zu sagen. Alles, was dazugeeignet ist, zu glauben, man könne sich mit dem Tsche-tschenienkrieg abfinden, muss von uns deutlich kritisiertund abgelehnt werden. Ich möchte, dass Sie sich dazuerklären, was der Verteidigungsminister in Moskau ver-einbart hat.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorwegist zu sagen: Wir stimmen der Beschlussempfehlungzum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, desBündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. auf Drucksa-che 14/2279 zu, aber nicht deswegen, Herr Kollege Lippelt, weil das Verfahren, mit dem dieser Antrag da-mals eingebracht worden ist, besonders glücklich gewe-sen ist. Das sind zwar nur formale Aspekte; sie sind aber, parlamentarisch gesehen, durchaus von Bedeutung.Wolfgang Gehrcke
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8628 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Darüber sollten wir uns noch einmal gesondert unterhal-ten.Inhaltlich müssen wir aber – gerade unter dem Ein-druck des Berichts des Kollegen Bindig; das will ichausdrücklich unterstreichen – trotz mancher Punkte, über die wir streiten könnten, feststellen: Dieses Haus istverpflichtet, gemeinsam eine klare Botschaft auszuspre-chen, und zwar in dem Sinne, dass dieser Krieg, dieserKonflikt weder in der Art und Weise, wie er geführtworden ist und noch geführt wird, noch vom Anlass, vonder Ursache her ein akzeptabler Weg für ein Mitglieddes Europarates ist.
Russland ist Mitglied des Europarates und damit der eu-ropäischen Völkergemeinschaft und hat sich deswegen –das wissen wir und hören wir jeden Tag – einer ver-schärften Beobachtung zu unterziehen.Wir haben hier bereits in den vergangenen Wochendarüber diskutiert, wie es mit diesem Krieg weitergehenwird. Ich habe in der letzten Debatte gesagt, dass ermöglicherweise nicht auf Tschetschenien beschränktbleiben wird, sondern in die Russische Föderation hi-neingetragen wird, was ich nicht hoffe, dorthin also, vonwo er aus Sicht mancher seinen Ausgang genommenhat. Wenn nicht kluge politische Schritte unternommenwerden, um den Konflikt dort zu befrieden, wo er ge-genwärtig schwelt, und zwar auf dramatische Weise,dann ist dies nicht auszuschließen.Wir sollten das als Anlass für einen sehr ernsten Dia-log mit Russland nehmen. Es stimmt mich doch sorgen-voll, dass wir uns so konturenlos gezeigt haben. Herr Fischer, Sie kommen einfach nicht daran vorbei – ichhabe es schon wiederholt gesagt –: Realpolitik zubetreiben ist das eine, zu deklamieren im Sinne vonMenschenrechten das andere. Es ist notwendig, Kontu-ren auch in den Bereichen zu zeigen, in denen es umRealpolitik geht. Realpolitik bedeutet nicht platte Poli-tik, sondern heißt, Ziele verwirklichen zu wollen.Um welche Ziele geht es? Welche Ziele haben wir?Wir haben im Verhältnis zu Russland viele Interessen.Wir müssen uns allerdings entscheiden, ob wir eine Ein-dämmung russischer Politik oder eine Kooperation mitrussischer Politik wollen. Wenn wir eine Kooperationmit russischer Politik wollen, dann bedarf es gewisserVoraussetzungen auf russischer Seite – darüber ist ge-sprochen worden –: Dazu gehört ein Verhalten, das ge-rade in Tschetschenien nicht gezeigt worden ist. Dazugehört die Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung undauch – allerdings nur in diesem Rahmen – die Aner-kenntnis berechtigter sicherheitspolitischer Interessen.Ich zucke immer etwas zusammen, wenn die Begrün-dung für den Tschetschenienkrieg mit dem Satz beginnt,man habe Verständnis für Terroristenbekämpfung. Ge-rade aus manchen Mündern klingt das schal und hohl.Ich glaube aber, dass hier die Dimensionen verschobenwerden. Um Sicherheitsinteressen jenseits der Terroris-tenbekämpfung, über die geredet werden müsste, han-delt es sich dann, wenn man den Blick auf die südlichePeripherie Russlands lenkt, auf Zentralasien. Ich glaubein der Tat, dass wir hier in der Lage wären, dortige Inte-ressen mit unseren zu verknüpfen.Herr Fischer, Sie haben auf der Mitgliederversamm-lung der DGAP – ich glaube, das war im November letz-ten Jahres – gesagt, erzwingen könne man gegenüber ei-ner atomaren Großmacht nichts. Das ist richtig; demstimme ich zu. Aber man kann die eigene Interessenlageeinbringen, um ein Verhalten einzufordern und mögli-cherweise durchzusetzen. Darüber hinaus kann manvielleicht auch klarmachen, Herr Lippelt, dass vermeint-lich interne Angelegenheiten in Form einer bewaffnetenAuseinandersetzung in der Föderation eben keine in-ternen Angelegenheiten sind, wenn sie den Frieden de-stabilisieren, Menschenrechte verletzen und deswegenauch unsere Interessen betreffen.Wenn man Russland eine Verantwortung für die eu-ropäische Stabilität unterstellen will, dann müssen wirgemeinsam mit Russland eine offene Sprache sprechenund unseren Fundus an Interessen, Argumenten und An-geboten gegenüber Russland formulieren und darlegen.Ich bin mir nicht sicher, ob das stattgefunden hat.Putin hat umgekehrt als eine seiner ersten Amtshand-lungen ein neues Sicherheitskonzept in Kraft gesetzt.Das hat uns aufhorchen lassen, zum Beispiel weil darin,bezogen auf den Stellenwert der Nuklearkräfte, nicht nurUnbedenkliches steht. Allerdings glaube ich, dass gera-de das ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch mit Putin sein kann. Die strategischen Fragen der Part-nerschaft, die von den Europäern in ihrem eigenen Inte-resse definiert werden müssen, sind, soweit ich es sehe,nicht vorgetragen worden, weder bei den Wasserstundenim Kreml noch bei den Teestunden in Sankt Petersburg.Wenn wir über diese Fragen nur reden und gleichzei-tig hören, dass unsere amerikanischen Partner bereitsfleißig über Fragen verhandeln – Herr Außenminister,Sie können in diesem Hause anschließend noch einmaldarlegen, dass es anders ist, ich höre gerne zu, aber bis-her habe ich keinerlei Informationen darüber, ganz imGegenteil –, die sich beispielsweise mit dem verknüp-fen, was die strategische Sicherheit an der südlichen Pe-ripherie Russlands betrifft, dann wird klar: Das ist offen-sichtlich gegenwärtig wieder eine nahezu ausschließlichrussisch-amerikanische Angelegenheit. Das kann nichtrichtig sein. Hier gibt es eine Anforderung an die Euro-päer zu definieren, welche Form der gemeinsamen Poli-tik sie in dieser Frage führen wollen. Helsinki hat eineDeklaration gebracht, aber die nachfolgende gemeinsa-me politische Strategie gegenüber Russland vermisseich.Im Rahmen der zukünftigen Kooperation – ich nennedas Wort „Kooperation“ im Zusammenhang mit der Kri-senbewältigung in den „hot spots“ Europas und Zentral-asiens – können die Interessen legitim, vernünftig undmaßvoll miteinander verflochten werden. Das ist undmuss das Ziel unserer Politik sein. Wir stimmen diesem Antrag nicht deswegen zu, weilall dies darin enthalten ist, sondern weil, darauf aufbau-end, die Perspektive dahin entwickelt werden muss. EsChristian Schmidt
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8629
ist Ihre Aufgabe, das in der Europäischen Union in dieRealität umzusetzen.
Nun spricht der
Kollege Professor Gert Weisskirchen für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! LieberKollege Christian Schmidt, ich glaube, dass wir uns ineinem Punkt vielleicht sogar noch „einiger“ sind, als Siedas hier beschrieben haben.
Kooperation mit Russland ja, aber sogar noch mehr.Was wir wirklich wollen, ist, dass ein demokratischesRussland in Europa einen festen, unverrückbaren Platzfindet. Das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam erfüllenmüssen. In zehn Tagen – so hoffe ich jedenfalls – wird HerrPutin wohl zum Präsidenten gewählt werden. Er hat jetzt eine Duma zur Seite, die so zusammengesetzt ist,dass er – anders als sein Vorgänger im Amt des Präsi-denten, anders als Boris Jelzin – die Chance hat, das,was er politisch will, auch gemeinsam mit der Dumadurchzusetzen. Zum ersten Mal also, seit es eine neueDemokratie in Russland gibt, besteht die Chance, dassPräsident und Parlament gemeinsam auf das gleiche Zielhinsteuern und dies auch in die gesellschaftliche Realitätumsetzen werden. Wenn ich von gesellschaftlicher Realität spreche,möchte ich hier heute jemanden begrüßen, Zoran Djindjic, der dafür sorgen wird – so hoffen wir jeden-falls –, dass die gesellschaftliche Realität an einer ande-ren Stelle in Südosteuropa, in Jugoslawien, endlich soverändert wird, dass Demokratie auch in jenem Teil Eu-ropas den Platz findet, der Jugoslawien angemessen ist.Ich hoffe, Zoran Djindjic, dass Sie die Gelegenheit ha-ben, das, was Sie wollen, in Ihrem Land auch durchzu-setzen. Wir wünschen Ihnen alles Gute dabei.
Boris Jelzin hat vor zehn Jahren gesagt: Die Geschichte hat uns gelehrt, dass einem Volk,das über andere herrscht, kein Glück beschiedensein kann.Das hat er zu Beginn jener schrecklichen Auseinander-setzungen, fünf Jahre später und jetzt wieder gesagt.Was für ein Krieg findet in Tschetschenien statt? Ist esein Krieg gegen Verbrecher, die eine ganze Republik er-obert haben, ein Subjekt der Russischen Föderation, wieWladimir Putin in seinem offenen Brief – er ist zitiertworden – an die Wähler Russlands schreibt? Ist es einKrieg gegen ein ganzes Volk, wie die, die sich Frei-heitskämpfer nennen, behaupten? Verteidigt RusslandEuropa – wie manche uns in der Administration in Moskau glauben machen wollen – gegen terroristischenIslamismus? Ist der Krieg ein Zeichen des Zerfalls einesKolonialreiches, vergleichbar mit dem Algerienkrieg,den Frankreich nicht mehr hat gewinnen können, weilein militärischer Sieg damals das Recht auf Selbstbe-stimmung vernichtet hätte? Ist es ein Krieg Putins, wieSergej Kowaljow eben noch einmal geschrieben hat? Ister, der amtierende Präsident, ein Getriebener? Voll-streckt er, was andere vor ihm geplant, wozu ihnen aberselbst die Kraft ausgegangen war? Ist der zweite Tschet-schenienkrieg im letzten Herbst allein Revanche für dieSchmach, unter der die Militärs seit dem Ende des erstenKriegs in den 90er-Jahren leiden?Sieht nicht derjenige, der heute durch die RuinenGrosnys geht – Kollege Bindig hat es einfühlsam be-schrieben –, in den Ruinen die stummen Zeugen all derDemütigungen, durch die Russland, die einstige Super-macht, seit dem inneren Sturz gegangen ist? Warum nurist Tschetschenien die Fläche, auf die sich alle Ängste,zumal die, die von den Risiken der Transformation aus-gehen, projizieren? Warum nur haben – auch das mussgesagt werden – Tschetschenen Vorwände dafür gelie-fert und Tatsachen geschaffen, leider durch Verbrechen?Sie sind zu Projektionsflächen geworden, in denen sichÄngste brechen. Sind nicht auch die, die dazu beigetra-gen haben, Gefangene im kaukasischen Kreis der Ge-walt? Das alles sind Fragen, die wir gern unseren Kollegender Duma stellen würden. Wir wissen aber auch, wie dieAntworten lauten würden, die sie uns gäben. Sie weisendiese Fragen alle zurück. Sie sind nicht bereit, Antwor-ten auf diese Fragen zu geben, von denen wir erhoffen,dass aus ihnen neue Logiken entstehen könnten, dassendlich die Chance genutzt würde, sich aus der militäri-schen Logik zu befreien, damit die zivile Logik endlichwieder ihren Platz finden kann. Das ist die Situation, inder sich Russland gegenwärtig befindet. Meine Angst ist, dass Putin die Prägekraft, die er mitseinem Sieg in zehn Tagen erzielen wird – die Dumawird ihm zur Seite stehen –, nicht so nutzen kann, dassdie neue Zeit durch Zivilität geprägt sein wird, sondernweiterhin Gewalt und Militär vorherrschen. Ich hattegehofft, dass wir uns von der Logik des vergangenenJahrhunderts befreit hätten. Ich wünsche mir sehr, dasswir, soweit es für uns als Parlamentarier in unserer Mög-lichkeit steht, mit dafür sorgen können – die Regierunghat in diesem Punkt eine andere Aufgabe –, dass dieKolleginnen und Kollegen in der Duma, dass also dieje-nigen, die in ihrem eigenen Land die politische Verant-wortung tragen, mit uns gemeinsam dazu beitragen, dassRussland seinen Platz im gemeinsamen Europa, in demwir leben, finden kann. Ich hoffe, dass uns dies gelingenwird. Keiner kann uns sagen, ob das möglich ist. Werden diejenigen, die Zeugnis geben können – Soldaten und Journalisten, Kämpfer und Zivilisten –,stumm bleiben gegenüber einer Realität, in die derSchmerz und das Leid eingebrannt sind? Ich nenneSergej Adamowitsch Kowaljow, der in seinem Artikelsehr präzise beschrieben hat, wo Russland steht: Könntesich Russland nicht hin zu einem Polizeistaat ent-Christian Schmidt
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8630 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
wickeln? Kann nicht das, was Kowaljow befürchtet, Re-alität werden? Die russische Regierung befindet sichjetzt auf einem gefährlichen Weg, weil sie glaubt, Kon-flikte nur durch militärische Logik überwinden zu kön-nen, und dadurch selbst Gefangener des eigenen Han-delns wird. Somit kann sich die zivile Logik nichtdurchsetzen. Das ist eine Sorge, die wir ernst nehmenmüssen. Ein anderes Beispiel ist Jelena Bonner, die uns auf-gerufen hat, auf dass zu sehen, was in diesem Land ge-schieht. Jelena Bonner ist eine Frau, die zusammen mitihrem Mann Beispiel dafür war, was Russland seinkann: ein Land der Demokratie und der Menschenrech-te. Auch Memorial zeigt ein anderes Russland.Deshalb wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kol-legen, das es uns gelingt, mit dem demokratischen Russ-land, das es auch gibt, ein Zeichen der Hoffnung für eineandere Zukunft dieses Landes zu setzen. Wir müssengemeinsam mit Russland versuchen, die Verknüpfungs-linien aufzubauen, von denen Christian Schmidt soebensprach. Wir müssen versuchen, innerhalb der Gesell-schaft zwischen den Städte- und Gemeindepartnerschaf-ten, die existieren, und den Gewerkschaften, die mitein-ander kooperieren, sowie den Künstlern Netzwerke auf-zubauen und dafür zu sorgen, dass diese Netzwerke trag-fähig gegenüber allen Gefährdungen sind – von welcherRegierung sie auch immer ausgehen.Wenn das ein Ziel werden kann, an dem wir gemein-sam arbeiten, dann glaube ich, dass wir gemeinsam mitebenjenen Partnerinnen und Partnern mithelfen können,dafür zu sorgen, dass Russland irgendwann einmal, wiees in dem Artikel von Jelena Bonner heißt, ein sicheresund stabiles Land wird: für die eigene Bevölkerung wieauch für andere Länder und Völker. Ich darf am Schluss hinzufügen, dass es mittlerweilenoch jemanden gibt, der sich in der praktischen Politikzurückgemeldet hat: Michail Gorbatschow. MichailGorbatschow hat am letzten Sonntag auf einem Kon-gress die unterschiedlichen – es sind ein bisschen viele,nämlich 13 an der Zahl – sozialdemokratischen Parteienund Strömungen Russlands zusammengeführt. Er ist derPräsident ebenjener 13 unterschiedlichen Gruppierungengeworden, die nun eine gemeinsame, vereinigte Sozial-demokratie sind.
Wir hoffen sehr, dass Michail Gorbatschow mit der So-zialdemokratie versuchen kann, in diesem neuen demo-kratischen Russland einen Akzent zu setzen.Auf diesem Gründungskongress ist ein Beschluss zuTschetschenien gefasst worden. Die Übersetzung ist et-was spröde, aber ich zitiere sie dennoch: Die Sozialdemokratische Partei Russlands fordert,das Problem Tschetschenien ausschließlich auf derGrundlage der Gesetze und des Humanismus zu lö-sen. Sie ist sich bewusst, dass die Lösung der gro-ßen nationalen Probleme mit gewaltsamen Metho-den nicht möglich ist, und hält Folgendes für not-wendig: auf dem Territorium Tschetscheniens denNotstand auszurufen und dadurch den Einsatz derArmee legitim zu machen; die Ereignisse in Tsche-tschenien für die Gesellschaft durchsichtiger zumachen und sie dadurch unter öffentliche Kontrollezu stellen. Hiermit ist das entscheidende Problem beschrieben.In diesem Beschluss wird deutlich, dass die Sozialde-mokratie in Russland das Vorgehen der Armee in Tsche-tschenien für illegal hält, um es mit unseren Worten aus-zudrücken. Das macht klar, dass es andere Kräfte in derpolitischen Szenerie, in der zivilen Gesellschaft Russ-lands gibt. Wir hoffen sehr, dass diese Kräfte, auchGrigorij Jawlinskij und viele andere, die das andereRussland repräsentieren, Russland künftig stärker prä-gen werden als die militärische Logik, in der sich diegegenwärtige Regierung in Russland immer noch ver-fangen hat.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Friedbert Pflüger.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle ha-ben die Berichte gehört, auch den Bericht des KollegenBindig, über Zerstörung und Gräueltaten, über Lagerund über Flucht. Wer wollte angesichts solcher Berichtenicht aufschreien und fordern: Her mit Sanktionen! KeinGeld mehr für Russland! Lasst uns jetzt endlich mora-lisch deutlich werden und sagen: So nicht! Wir tun das nicht. Wir verbleiben alle miteinander inder Rhetorik. Das fällt uns allen miteinander schwer.Warum tun wir es? Hat die Moral in der Außenpolitikabgedankt? Haben sich realpolitische Interessen so weitnach vorne geschoben, dass wir unsere Werte verges-sen? Ich glaube, bei näherem Hinsehen ergibt sich: Das istnicht der Grund. Der Grund, warum man Moral in derAußenpolitik nicht hundertprozentig einsetzen kann, sowie man sich das wünscht, liegt in zwei Dingen: erstensdarin, dass wir eine realistische Einsicht in unsere Mög-lichkeiten haben. Moral in der Außenpolitik hat dort ihreGrenze, wo wir de facto nicht in der Lage sind, Einflusszu nehmen, oder wo uns ein so gewaltiges und großesLand gegenübersteht, dass wir keine Hebelwirkung ha-ben. Es gehört in einer solchen Debatte zur Ehrlichkeit,so etwas zuzugeben. Nicht Indifferenz und Gleichgül-tigkeit gegenüber dem Leid in Tschetschenien führenuns dazu, auf Sanktionen zu verzichten, sondern Ein-sicht in die Grenzen unserer Macht.Eine zweite Erwägung: Es gibt auch konkurrierendemoralische Ziele. Das eine ist die Not der Flüchtlingeund das Elend in Tschetschenien. Aber würden wirRussland mit Sanktionen überziehen und isolieren, wür-den dann nicht andere moralische Ziele gefährdet, näm-lich zum Beispiel das Ziel, Stabilität in Europa aufrecht-zuerhalten, Bürgerkriege auf nuklear hochgerüstetemTerritorium zu verhindern oder einen Partner in derGert Weisskirchen
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8631
Abrüstung von Massenvernichtungswaffen oder bei derBekämpfung der Weiterverbreitung von Massenvernich-tungswaffen nicht zu verlieren?Mit anderen Worten: Es gibt auch konkurrierendemoralische Zielsetzungen, die in dieser Situation dazuführen, dass es richtig ist, hier im Parlament der Empö-rung Ausdruck zu geben und das zu sagen, was wir an-gesichts der Gräueltaten in Tschetschenien denken, dieaber auch dazu führen, gegenüber Russland mit Maß zureagieren.Ich glaube, dass es, anstatt Sanktionen zu beschlie-ßen, viel besser ist, den Versuch zu unternehmen, mitPutin, der am 26. März mit großer Wahrscheinlichkeitgewählt werden wird, einen Dialog aufzubauen und zuversuchen, Moskau wieder in die Strukturen von NATOund EU einzubinden. Wir haben das EU-NATO-Kooperationsabkommen. Das müssen wir mit neuemLeben erfüllen: Wir müssen gemeinsam Patenschaftenaufbauen, das Sozial- und Gesundheitswesen re-formieren, Umweltschutz und grenzüberschreitende Zu-sammenarbeit realisieren. Da gibt es eine ganze Agenda,und diese müssen wir wiederbeleben.Das Gleiche gilt für den NATO-Russland-Rat. HerrRobertson, der NATO-Generalsekretär, ist im Februar inMoskau gewesen. Was würde eigentlich näher liegen,als jetzt in diesen NATO-Russland-Rat Start II undStart III hineinzubringen, also das Weiterarbeiten an dernuklearen Abrüstung, das Thema nationale Raketenver-teidigung, das die Amerikaner aufbauen und das dieRussen und uns Europäer bewegt, hier in aller Offenheitzu besprechen und einen Weg zu finden, wie man einPaket schnüren kann, um Start II und Start III zu ratifi-zieren, weitere nukleare Abrüstung und eine Raketen-verteidigung, mit denen Russland und wir leben kön-nen?Ich finde es ganz wichtig, dass wir die Instrumenteder Sicherheitspolitik, die wir auf europäischer Ebenehaben, wiederbeleben und auf diese Weise versuchen,die Regierung Putin dazu zu bringen, sich verantwortli-cher zu verhalten.Putin hat gegenüber Robertson erklärt, er wünschesich, dass sich in Russland die europäische Optiondurchsetzt. Er blickt in erster Linie nach Westen, übri-gens auch nach Deutschland. Er will, so hat er gesagt,dass seine Kinder in einem Russland aufwachsen, das inEuropa integriert ist. Dieses Angebot des russischenPräsidenten zur Zusammenarbeit mit uns, so schwam-mig und diffus das auch noch sein mag, sosehr da nochüber andere Optionen nachgedacht wird, müssen wirernst nehmen, die Russen beim Wort nehmen und ihnensagen: Wenn ihr denn Integration mit Europa weiterwollt, wenn ihr wirklich Partnerschaft wollt, dann müsstihr um Himmels willen diesen Krieg, diese Gräueltatenbeenden und dann müsst ihr zu einem zivilen Umgangzurückkehren.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überzogen.
Ich glaube, mei-
ne Damen und Herren, dass wir uns in einer sehr ernsten
Situation befinden. Die moralische Empörung ist wich-
tig, aber sie kann in einem solchen Fall nicht die Leit-
schnur und vor allem nicht die einzige Leitschnur
unserer politischen Arbeit sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht Herr
Bundesaußenminister Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist indieser Debatte viel Richtiges gesagt worden, was sichnicht nur bereits im Ausschuss auf breite Unterstützungaller Fraktionen des Hauses gründen konnte, sondernwas auch die Haltung der Bundesregierung wiedergibt.Zum Krieg im Kaukasus: Wer die Geschichte desnördlichen Kaukasus und die dortigen Eroberungen inder ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennt und wersich die heutige Situation anschaut, der muss mit Er-schrecken feststellen, wie sehr sich die Geschichte dortwiederholt, wie oft es um Tschetschenien ging und wiebisher weder das zaristische Russland noch die Sowjet-union unter Stalin und auch nicht das heutige Russland,das sich auf dem Weg zur Demokratie befindet, mit denMitteln der Gewalt in der Lage war, eine Lösung imnördlichen Kaukasus herbeizuführen. Neben den huma-nitären Erwägungen ist unsere Hauptsorge, dass derKrieg im Kaukasus zu einer dauerhaften Destabilisie-rung nicht nur der Region, sondern ganz Russlands bei-tragen kann und dass der Demokratisierungsprozess alssolcher durch einen lang anhaltenden Krieg auf unter-schiedlichster Ebene gefährdet wird.Wir haben schon jetzt viel zu viele unschuldige Opferzu beklagen. Die Zerstörung einer Großstadt und derKrieg gegen ein ganzes Volk können und dürfen niemalslegitime und verhältnismäßige Mittel im Kampf gegenTerrorismus sein. Dies haben wir der russischen Seite indirekten Gesprächen auf verschiedensten Ebenen immerwieder klargemacht. Wir werden auch in Zukunft klar-machen, dass wir dies nicht akzeptieren können, nichtakzeptieren wollen und nicht akzeptieren dürfen.
Ich möchte hier vor allen Dingen auf die außenpoliti-schen Punkte und nicht auf den innenpolitischen Teil derDebatte eingehen. Es ist legitim, dass die heutige Oppo-sition darauf eingeht. An Ihrer Stelle würde ich vermut-lich ähnlich handeln.
– Richtig, aber Sie müssen noch mehr lernen, wenn Sieunser Niveau erreichen wollen. Sie haben ja noch vieleJahre vor sich, um das zu lernen. Ich bin durchaus hoff-nungsfroh, dass Sie diese Zeit nutzen werden. Dr. Friedbert Pflüger
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8632 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Ich möchte zur Sache zurückkehren, denn die Sacheist verflucht ernst. Es geht nicht nur um die Frage desnördlichen Kaukasus. Hier macht die PDS einen großenFehler: Die Parallelität besteht nicht zum Kosovokrieg.Russland bedurfte keiner weiteren Entfesselung oderEnthemmung. Sie können schon an der VorgehensweiseRusslands im ersten Tschetschenienkrieg sehen, dass eshier keinen Zusammenhang gibt. Aber das heutige Pro-blem hat eine ähnliche – um nicht zu sagen: dieselbe –Ursache. Gerade Sie müssten aufgrund profunder Schu-lungskenntnisse aus früheren Tagen noch wissen, dassneben der Agrarfrage die Nationalitätenfrage die ent-scheidende Frage war, die in vielen Schriften auch vonWladimir Iljitsch Lenin erörtert wurde und die nochimmer ihrer Beantwortung harrt. In der Tat ist die Nati-onalitätenfrage die entscheidende Frage für Russland, imKaukasus und auf dem Balkan. Ich komme nun, Herr Schmidt, zu den entscheiden-den Unterschieden. Wir haben die russische Seite immerwieder gefragt: Wo sind eure politischen Antworten?Wir haben das immer wieder gefragt, weil wir glauben,dass eine militärische Lösung nur noch mehr unschuldi-ge Opfer und eine weitere Destabilisierung bringt.Auf unsere Frage haben wir nur die Antwort bekom-men, dass man im Moment jede Autorität akzeptiere, diein der Lage sei, das Gebiet zu kontrollieren und Tsche-tschenien innerhalb der Grenzen Russlands zu halten.Das ist entschieden zu wenig, um dieses Problem zu lö-sen.Deswegen ist der Stabilitätspakt nicht irgendeineKopfgeburt. Der Stabilitätspakt, den wir als präventiveAntwort auf die ungelöste Frage des Balkans entwickelthaben, ist von entscheidender Bedeutung, um diese Re-gion an das Europa der Integration heranzuführen undeines fernen Tages – wenn es von den Beteiligten ge-wünscht wird – in Europa hineinzuführen. Er ist dieAntwort, damit die Völker, wenn sie um dasselbe Terri-torium oder um ihre Unabhängigkeit kämpfen, ebennicht zu den Mitteln der Gewalt greifen und damit sie imRahmen eines integrativen und kooperativen Prozesses,der Entwicklung, Wohlstand, Frieden und Sicherheit be-deutet, eine Perspektive haben.Auch Russland wird in diese Richtung Antworten ge-ben und sich engagieren müssen. Wenn es das nicht tut,glaube ich nicht an eine politische Lösung in dieser Re-gion. Dann wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen.
Wenn man das Problem so sieht, dann sind aus mei-ner Sicht nach dem Abschluss des Vertrages von 1996,der bei allen Unzulänglichkeiten gar nicht so schlechtwar, entscheidende Fehler gemacht worden, nämlich in-sofern, als sich die Russische Föderation zurückgezogenhat und sie Tschetschenien sich selbst überlassen hat,mit der Konsequenz, dass man in die Falle der Talibani-sierung hineinlief, die mit dem Begriff des islamischenTerrorismus beschrieben werden kann, und dass maneine Entwicklung hat treiben lassen, deren negative Fol-gen die Russische Föderation in eine Situation gebrachthaben, in der nur noch maßlose Gewalt anscheinend ei-nen Ausweg zu bieten schien. Ich halte dieses nicht füreinen Ausweg.Ich stimme aber auch jenen zu, die hier zu Recht be-tonen, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russlandnicht allein an Tschetschenien festmachen kann. Ichkann Sie beruhigen. Wir haben sehr stark daran gearbei-tet, dass der NATO-Russland-Rat in die Gänge ge-kommen ist. Er hat sich gestern getroffen. Von russi-scher Seite wurde dort unter anderem über NMD ge-sprochen und darüber diskutiert. Wir halten das für ei-nen wichtigen Punkt und einen wichtigen Schritt nachvorne. Die strategischen Fragen, die Sie, Herr AbgeordneterSchmidt, angesprochen haben, spielen in allen Gesprä-chen mit der russischen Seite eine zentrale Rolle. Siekönnen ganz beruhigt sein. Es ist nichts vergessen wor-den. Es wäre auch töricht, die Gelegenheit nicht zu nut-zen, um die russische Position kennen zu lernen undgleichzeitig unsere Position entsprechend darzustellen.Russland steht auch vor einem ganz entscheidendenSchritt der inneren Demokratisierung und Zivilisierung.Dies bedeutet eine Abkehr von der Geschichte der Ge-walt, auch und gerade staatlicher Gewalt, die Russlandin den vergangenen Jahrhunderten geprägt hat. Dies be-deutet auch ein Hinwenden zu einem Rechtsstaat, zurBeachtung der Menschenrechte und zur Beachtung vonMinderheitenrechten, bei allen legitimen InteressenRusslands an seinem Territorium. Auch wir haben einInteresse daran, dass Russland nicht zerfällt, sondern einstabiler und integrierter Faktor bleibt.Aber das heißt auch, dass Russland unter der neuenRegierung einen neuen Schritt in Richtung Westpolitikmachen muss. Ich denke, hier besteht eine große Chan-ce, und wir sind bereit, einen solchen Schritt Russlandsnicht nur zu unterstützen, sondern mit einem Neuansatzzu beantworten. Ich denke hier nicht nur an eine bilate-rale Ostpolitik, sondern in der Tat an eine europäischeOstpolitik, die nach dem In-Kraft-Treten des Vertragesvon Amsterdam eine der wichtigen Angebote Europasan Russland ist. Die erste Strategie, die die EU verabschiedet hat, wardie Russland-Strategie. Wir sind bereit, hier einen neuenWeg einzuleiten und auch einen Schritt zu machen, umeine neue Epoche unserer Beziehungen zu eröffnen.Gleichzeitig dürfen wir aber in den Fragen der Men-schenrechte und dieser humanitären Katastrophe nichtnachlassen, hier mit klarer und eindeutiger Sprache –auch wenn unsere Mittel sehr begrenzt sind – Russlandklarzumachen, dass dieser Weg ein Weg ist, der in denIrrtum, zu unschuldigen Opfern und zu unhaltbaren Zu-ständen führt und den wir auf keinen Fall akzeptierenkönnen. Die Bundesregierung hat es an dieser klarenSprache nicht fehlen lassen. Auf der anderen Seite ist Russland ein entscheidendesElement europäischer Sicherheit. Geopolitisch wird esimmer unser Nachbar sein. Wir Deutschen wissen, wiewichtig ein gutes Verhältnis zu Russland für Europa ist.Auch daran sollten wir arbeiten. Ich hoffe, hier dieBundesminister Joseph Fischer
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8633
Unterstützung des ganzen Hauses auch für die Zukunftzu haben.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswär-
tigen Ausschusses, zu dem Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der
F.D.P., Drucksache 14/2757. Der Ausschuss empfiehlt,
den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2279 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für die-
se Beschlussfassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswär-
tigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2756. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Druck-
sache 14/2289 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltun-
gen? – Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschluss-
empfehlung angenommen worden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nungspunkte 8 und 10 von der heutigen Tagesordnung
abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Die soeben abgesetzten Tagesordnungspunkte sollen
in der kommenden Sitzungswoche behandelt werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zu-
satzpunkte 5 bis 7 auf.
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Otto , Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche
Einheit Nr. 8 – Schienenneubaustrecke
Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin
– Drucksache 14/2692 –
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr.
Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt , Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thü-
ringen/Nordbayern im Rahmen des
Verkehrsprojektes Deutsche Einheit
Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg–Er-
furt–Halle/Leipzig–Berlin
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich, Hans-Michael Goldmann, Dr.
Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Ja zur Schienenneubaustrecke Nürnberg–
Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin
– Drucksache 14/2914 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Eva
Bulling-Schröder, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im
Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und
Sachsen
– Drucksache 14/2525 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Otto, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die verschie-denen Äußerungen der Bundesregierung zum Verkehrs-projekt Deutsche Einheit Nr. 8, also zur ICE-StreckeNürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin, ähneln in ihrerSprunghaftigkeit dem Verlauf einer Achterbahn. Hieltdie Vorgängerregierung noch ihre klare Aussage für denBau der Trasse Nürnberg–Erfurt–Berlin ein, so änderteRot-Grün alle paar Monate die Meinung. Nach anfänglichen Zusagen und einem knappen JahrStillstand folgte im Juli 1999 die Talfahrt. MinisterMüntefering stieß den ICE in den freien Fall und be-gründete dies mit Unwirtschaftlichkeit der Strecke. Seri-öse Untersuchungen haben vorher das genaue Gegenteilausgewiesen. Kaum sechs Monate später – sein Nachfolger, HerrKlimmt, war gerade im Amt – zeigte sich die Regierungwieder gesprächsbereit. Nach diversen Wahlniederlagenin den Ländern hatte die SPD erkannt, dass Menschenund Wirtschaft in Thüringen, Bayern und Berlin dieICE-Verbindung als Lückenschluss im europäischenNetz haben wollen und brauchen. Es gab also wiederHoffnung.
Bundesminister Joseph Fischer
Metadaten/Kopzeile:
8634 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Doch auf die ersten positiven Signale von MinisterKlimmt, die zahlreiche SPD-Kollegen sogleich mitvollmundigen Zusagen für den Weiterbau der Trasse un-terlegten, folgte die Rückrufaktion durch den KollegenEichel. Eine eindeutige Aussage für den Weiterbau hatdie Regierung seitdem immer wieder geschickt vermie-den. Allerdings – und das nehmen wir auch gerne zurKenntnis – gehen die jüngsten Aussagen von HerrnKlimmt und Bahnchef Mehdorn nun endlich wieder indie richtige Richtung, in die Richtung, welche wir vonAnfang an vertreten haben. Auch die unsinnige Saale-bahn-Umleitung, die keiner wollte, ist nunmehr zumGlück vom Tisch. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition, weitgehende Passagen Ihres Antrages,der heute hier beraten wird – das bitten wir genau zu be-achten –, entsprechen auch unserer Intention und der seitgeraumer Zeit bekannten Vorlage, die wir ja heute auchberaten. Wenn Sie jedoch die Regierung auffordern zuprüfen, ob und wie die Nord-Süd-Trasse ausgebaut wer-den kann, dann frage ich mich doch allen Ernstes, wasSie eigentlich in den ersten anderthalb Jahren Ihrer Re-gierungszeit gemacht haben.
Sie wollen das Ob und das Wie prüfen; das heißt, Siestellen das Projekt in Ihrem Antrag wiederum infrage.Das muss hier deutlich gesagt werden.
Als Ergebnis kam ein Baustopp heraus. Ich hoffe, dassdieser wieder aufgehoben wird. Jetzt wollen Sie aberschon wieder prüfen lassen. Sie wollen wieder prüfen,prüfen, prüfen.
Vielleicht kommt dabei dann heraus, dass das Ergebnisim Jahre 2002 oder später auf den Tisch des Hauseskommt. Liebe Freunde, das alles ist reine Verzögerungs-taktik. Ich möchte Ihnen heute raten: Greifen Sie die Hand,die Ihnen CDU/CSU, das Land Thüringen und der Frei-staat Bayern in Form verschiedener Realisierungsvor-schläge reichen. Nehmen Sie die positiven Signale auf,die die Thüringer Landesregierung und Bahnchef Meh-dorn bei ihrem letzten Gespräch am Montag ausgesandthaben. Bewegen Sie die Bundesregierung dazu, das Pro-jekt umgehend zu realisieren. Nur so lassen sich unteranderem die Ausgaben in Höhe von 15 Millionen DMan Steuergeldern, die pro Jahr durch diesen Baustoppanfallen, vermeiden. Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möch-te ich mich noch kurz an meine Thüringer SPD-Kollegen wenden.
Wir arbeiten hier ja eigentlich zusammen und habendasselbe Ziel; davon bin ich völlig überzeugt. Lassen Siebei der kommenden Abstimmung Ihren Worten endlichTaten folgen, indem Sie sich unserem Antrag anschlie-ßen und nicht wieder wie beim vergangenen Mal denSaal vor der Abstimmung verlassen!
Den Menschen in Thüringen würden Sie mit Ihrer Zu-stimmung ein eindeutiges Zeichen geben. Damit könn-ten Sie das Vertrauen, das Sie bei der letzten Wahl inThüringen verloren haben, wieder herstellen. Aus-nahmsweise sind wir Ihnen dabei einmal behilflich.Schönen Dank.
Das Wort hat nun
Herr Kollege Wieland Sorge, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Kollege Norbert Otto, wenn Sieuns unterstellen, wir betrachteten das VerkehrsprojektDeutsche Einheit Nr. 8 als Achterbahn, dann ist dasschon ein tolles Stück. Wir haben uns mit diesem Themabereits im vergangenen Jahr beschäftigt; seinerzeit lagendazu Anträge aus allen Fraktionen vor. Damals ging esdarum, die Überprüfung durch die Bundesregierung zubeenden und eine Aussage dahin gehend zu treffen, dassweitergebaut wird. In einem zweiten Antrag wurde ge-fordert, dass der Baustopp durch die Bundesregierungbeendet, die Strecke gebaut und der Bau von Erfurt ausin Richtung Ilmenau und Nürnberg fortgesetzt wird.Meine Damen und Herren, was haben wir eigentlichan unterschiedlichen Positionen bisher gehabt? Wir So-zialdemokraten hatten uns von Anfang an für diese Stre-cke entschieden.
– Moment, Moment! Was uns immer unterschied, ist,dass wir aus der Verantwortung für dieses Land herauszu prüfen hatten, ob Einzelprojekte zu finanzieren sind.Wir reden hier ja nicht über Peanuts; es geht immerhinum 15 Milliarden DM. Ich bezweifle, ob wir diese15 Milliarden DM so ohne Weiteres aufbringen können.In keinem der Anträge steht, wie diese Summe aufzu-bringen ist.
Norbert Otto
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8635
Nun stellt sich die Frage, warum wir uns am heutigenTage erneut mit vier Anträgen zu diesem Thema be-schäftigen müssen. Hat sich die Situation in irgendeinerForm geändert? Die Antwort lautet Ja. Die Bundesregie-rung hat mit der Landesregierung von Thüringen denBeschluss gefasst, auf die Querspange nach Saalfeld zuverzichten und den Bau von Traßdorf in Richtung Ilme-nau fortzusetzen, also genau auf der geplanten Strecke.Damit setzt die Bundesregierung das Signal, dass sieauch weiterhin an dieser Strecke interessiert ist.Das Zweite, was sich geändert hat, ist, dass sich HerrMehdorn, der neue Vorstandsvorsitzende der DeutschenBahn AG, ebenfalls zu dieser Strecke bekannt hat. Er hataber, lieber Kollege Norbert Otto, in dem Gespräch mitMinisterpräsident Vogel klipp und klar gesagt – Siekönnen alle fragen, die bei diesem Gespräch dabei ge-wesen sind –, für ihn habe das Netz 21 erste Priorität,was in erster Linie bedeute, den Bestand zu sichern undzu entwickeln.
Er fügte hinzu, erst wenn wir zusätzliche Mittel aufbrin-gen könnten, könne er sich für den Bau dieser Bahnstre-cke aussprechen. Er hat nirgends gesagt, dass er dieseStrecke sofort bauen wolle.Was hat sich noch geändert? Die beteiligten Landes-regierungen haben sich noch einmal in aller Öffentlich-keit dazu geäußert. Es sind im Wesentlichen die Regie-rungen von Thüringen, Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt, die an dieser Bahnstrecke ein riesengroßes Inte-resse haben. Wie sie die Strecke begründen, deckt sichexakt mit unserer Auffassung: Es ist eine wichtige Nord-Süd-Verbindung innerhalb Deutschlands. Wir haben na-türlich ein Interesse daran, dass die europäischen Netzevollendet werden. Das heißt: Die europäischen Infra-strukturmaßnahmen müssen in dieses System eingebautwerden. Von uns wird eine klare Aussage getroffen, diein diese Richtung geht.Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, der genaudiesem Ansinnen gerecht wird. Wir wollen diesenSchritt in Richtung des Baus der Strecke Erfurt–Ilmenaumachen. Die Kritiker haben früher immer gesagt: DieseStrecke ist nicht sinnvoll, weil der Verkehr erst möglichist, wenn die letzte Schiene gelegt ist. Wir wollen, dassder Verkehr zwischen Erfurt und Ilmenau sofort aufge-nommen wird, wenn der Bau der Strecke beendet wird.
Wir haben im Rahmen unserer Investitionspolitik, diewir im Investitionsprogramm begründet haben, ganzdeutlich gemacht, dass wir in erster Linie für die neuenBundesländer Sorge tragen
und dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“immer an erster Stelle stehen. Wir haben in unserem An-trag die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, wel-che Möglichkeit wir haben, diese Strecke kostengünstigzu bauen, und wie wir zusätzliche Mittel beschaffenkönnen, um so schnell wie möglich diesen Bau zu be-ginnen und durchzuführen.
– Das, lieber Kollege Otto, steht für uns eigentlich fest.Wir haben an keiner Stelle gesagt, dass wir uns von die-ser Strecke verabschieden
und dass wir diese Strecke nicht bauen wollen. Wo stehtdas?
Es ist völlig falsch, was uns hier unterstellt wird.Wir haben immer ganz klar zum Ausdruck gebracht,wo das Problem liegt: Wir können unter den jetzigenBedingungen aufgrund der Haushaltssituation die15 Milliarden DM nicht finanzieren. Diese Tatsachemüssen Sie endlich einmal einsehen. Deshalb müssenwir jetzt gemeinsam versuchen, Möglichkeiten zu fin-den, wie die Strecke von Bund, Ländern und Bahn fi-nanziert und dann gebaut werden kann. Das sollten wirgemeinsam tun.Wenn Sie diese Strecke unbedingt wollen, dann be-deutet das natürlich, meine Damen und Herren von derrechten Seite, dass andere Vorhaben in anderen Ländernzurückgestellt werden müssen und dass es möglicher-weise zur Streichung von anderen Strecken kommt. Wirkönnen nicht mehr Geld ausgeben.
– Das zu fordern ist Ihr gutes Recht.
Herr Kollege, ich
darf Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit abgelaufen
ist.
Ich darf kurz zusammenfas-
sen: Liebe Kollegen, wenn Sie uns Wege aufzeigen, wie
wir die 15 Milliarden DM aufbringen können, dann sind
wir gerne bereit, diese Strecke zu bauen. Dabei bleiben
wir.
Das Wort hat nunder Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die Koalitionspartner haben vonWieland Sorge
Metadaten/Kopzeile:
8636 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass bei allenFragen der weiteren Verkehrsplanung ein Grundsatzgilt: Es wird und darf in diesem Land keine Investitions-ruinen geben. Das steht im Koalitionsvertrag; das kön-nen Sie nachlesen. Es ist nichts Neues. Dieser Grundsatzgilt generell und auch an dieser Stelle.Deshalb bin ich nachdrücklich dafür, dass die begon-nenen Baumaßnahmen, die wir vorgefunden haben unddie heute zu besichtigen sind – ich kann Ihnen versi-chern, ich habe sie mir mehrmals an Ort und Stelle ange-schaut –, selbstverständlich einen Verkehrswert erhaltenmüssen und dass sie nicht sozusagen als Stumpf in derLandschaft ungenutzt täglich Kosten verursachen, ohneeinen verkehrlichen Wert zu entwickeln.Von daher haben wir, Bündnis 90/Die Grünen, selbstvorgeschlagen – Sie konnten dies auch öffentlich fest-stellen –, den bisherigen Neubauabschnitt von ErfurtRichtung Arnstadt weiterzuführen und die aufstrebendeUniversitätsstadt Ilmenau mit einer Verbindungskurveanzuschließen, sodass künftig auf der Strecke zwischender Landeshauptstadt Erfurt und der UniversitätsstadtIlmenau gegenüber einer Fahrtzeit von heute 60 Minutenlediglich 20 Minuten Fahrzeit aufzuwenden sind. Diesschließt ausdrücklich ein – das möchte ich deutlich sa-gen –, dass die Altstrecke, die Bestandsstrecke, weiter-hin bedient wird. Denn dies ist notwendig, damit dieFahrgäste im Nahverkehr, die entlang der Altstreckewohnen, auch künftig ein angemessenes Angebot haben.
Das hat die Landesregierung von Thüringen ausdrück-lich versichert.Durch den Anschluss von Ilmenau wird auch dieLandesregierung in die Lage versetzt, einen Nahverkehrin der Größenordnung von 20, 25 Zugpaaren pro Tagdurchzuführen, sodass künftig eine attraktive Verbin-dung hergestellt ist.Diese Entscheidung, die in unserem gemeinsamenAntrag noch einmal ausdrücklich begründet wird, be-inhaltet aus meiner Sicht allerdings – das sage ich ge-nauso deutlich – keine terminliche oder sonstige Festle-gung hinsichtlich des weiteren Verfahrens.
Die Finanzierung, die wir derzeit zusagen können,erstreckt sich bis zum Horizont der Jahre 2003, 2004.Bis dann muss der Anschluss an Ilmenau hergestelltsein. Diese Zeit – das ist nach wie vor meine Auffas-sung – sollten wir intensiv nutzen, um gemeinsam zuprüfen – ich meine hier das Unternehmen DeutscheBahn AG, das prüfen muss, inwieweit es in deren Kon-zepte passt; ich meine aber auch die Verkehrspolitik inBund und Ländern –, ob das Festhalten an der jetzigenPlanung südlich von Ilmenau die optimale Lösung dar-stellt oder nicht. Ich sage Ihnen mit allem Ernst – Sie konnten das inden letzten Tagen in der Presse nachlesen –: Überalldort, wo wir derzeit Großbaustellen im Bahnbau haben –das gilt für Köln–Frankfurt, das gilt für den Knoten Ber-lin und es gilt auch für die im Bau befindliche Neu-baustrecke von Nürnberg nach Ingolstadt –, erleben wireine Kostenexplosion in einer Größenordnung, die sichnach Milliarden und nicht nach Millionen bemisst. Diesführt dazu, dass die Frage immer dringlicher wird – siewird immer schwerer zu beantworten sein – ob wir überhaupt noch genug Geld haben, um das Bestandsnetzzu sichern. Bei den Projekten VDE 8.1 und 8.2, alsoNürnberg–Erfurt und Halle–Leipzig, haben wir summasummarum einen Kostenstand von 15 Milliarden DM.Ich unterstelle, dass auch diese Projekte mit 40 Kilome-tern Tunnel, bei denen die Sicherheitsauflagen vielstrenger sind als vor Jahren, mehr kosten werden.Ich rate dringend dazu, gemeinsam zu überlegen, obdies wirklich eine Planung ist, die uns an das Ziel führt,oder ob es nicht schädlich ist, dass wir an maximalenForderungen festhalten und dabei in Kauf nehmen, dasswir diese immer weniger finanzieren können. Deswegenrate ich nach wie vor dazu, die verschiedenen Möglich-keiten für den weiteren Verlauf der schnellen Verbin-dung Richtung Nürnberg, die wir gemeinsam wollen,auszuloten und zu prüfen: in technischer Hinsicht, inverkehrspolitischer Hinsicht, aber auch in fiskalischerHinsicht, liebe Frau Kollegin. Denn was Sie gemachthaben, war keine Politik.Sie haben uns diese miserablen Verträge hinterlassenund haben uns garantiert, dass die Kosten der Neubau-strecke zwischen Frankfurt und Köln 7,8 Milliarden DMbetragen. Dazu sage ich: Pfeifendeckel! Wir marschie-ren in Richtung 10 Milliarden DM. Die verlogenen Zah-len, die bei der Berlin-Planung zugrunde gelegt wordensind, waren keine Politik. Sie haben uns falsche Zahlenhinterlassen. Das Unternehmen muss es jetzt ausbaden.
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Herr Kollege.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsiden-
tin.
Ich kann deshalb nur dringend dazu raten, auch zu
prüfen, ob eine Kombination von Nutzung des vorhan-
denen Neubauabschnittes, Schließen von Lücken, was
zweifellos notwendig ist, und Ausbau von Bestandstras-
sen nicht zielführender, wirtschaftlicher und umweltver-
träglicher ist als das starre Beharren auf einer Maximal-
planung von gestern, die in absehbarer Zeit letztlich
nicht bezahlbar sein wird.
Ich danke Ihnen.
Jetzt hat der KollegeDr. Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion das Wort.Albert Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8637
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vor-
handenen Straßen- und Schienenwege in den neuen
Bundesländern sind derzeit in keiner Weise im Hin-
blick auf Erschließung und Qualität mit denen in den al-
ten Bundesländern vergleichbar. Deswegen muss die
Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern als
Voraussetzung für eine dynamische Wirtschaftsentwick-
lung dringend verbessert werden.
Genau dies war der Grund dafür, dass die Bundesregie-
rung aus CDU/CSU und F.D.P. das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ Nr. 8 in den Bundesverkehrswege-
plan eingebracht hat.
Wegen der eminenten Bedeutung für den Aufbau der
neuen Bundesländer wurde für die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 unter Anwen-
dung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset-
zes in kürzester Zeit Baufreiheit geschaffen. Seit April
1996 wurde die Strecke Leipzig/Halle-Erfurt-Ebersfeld
gebaut. Nach mehr als drei Jahren stoppt die Bundesre-
gierung den begonnenen Bau.
Insgesamt wurden bisher 1,3 Milliarden DM in dieses
Projekt, in die Planung, in die Beschaffung von Grund
und Boden und in die Ausführung von Baumaßnahmen,
investiert. Sie müssen sich einmal am Erfurter Kreuz an-
schauen, welche Investruinen hinterlassen worden sind.
Der Baustopp für die ICE-Strecke bedeutet im Übri-
gen auch einen Verstoß gegen die gegenüber der EU und
dem Europäischen Rat übernommene Verpflichtung,
diesen Abschnitt der ICE-Trasse von München bis Ber-
lin als ein Segment der transeuropäischen Strecke
zwischen Barcelona und den skandinavischen Ländern
zu realisieren.
na ist links unten!)
Der Europäische Rat in Köln hat für dieses Vorhaben
die Bereitstellung von 4,6 Milliarden Euro beschlossen.
In dieser Pflicht stehen auch Sie. Erfreulich ist die Mit-
teilung von Herrn Mehdorn, dass er der Strecke Berlin –
München eine herausragende Bedeutung beimisst.
Das Vorhaben, von dem Sie, Herr Sorge, gerade ge-
sprochen haben, nämlich die Priorität auf die Mitte-
Deutschland-Bahn zu setzen, ist mit dem Vorhaben
hinsichtlich der Eisenbahnstrecke Nürnberg–Erfurt–
Leipzig/Halle nicht vergleichbar. Beide Projekte haben
eine unterschiedliche Linienführung; insofern können
wir diese beiden Linien nicht austauschen.
Es ist schon spektakulär, wenn von der Bundesregie-
rung der Ausbau der Mitte-Deutschland-Bahn als ein
Ergebnis des Stopps des Baus an der ICE-Trasse Mün-
chen – Berlin bezeichnet wird. Das muss man sich wirk-
lich auf der Zunge zergehen lassen.
Die Aussage, dass das Investitionsvolumen für die
Mitte-Deutschland-Bahn im Ergebnis auf 665 Millio-
nen DM angehoben werden könnte, ist schlicht und ein-
fach falsch. Schon im Investitionsprogramm für den
Ausbau der Schienenwege des Bundes 1998 bis 2000
wurden diese 665 Millionen DM für den Ausbau der
Gesamtstrecke Paderborn – Chemnitz festgeschrieben.
Ich halte es für gerechtfertigt und für gut, dass dem Land
Thüringen 35 Millionen DM für den Ausbau der Mitte-
Deutschland-Bahn im Abschnitt zwischen Glauchau,
Gera und Weimar sofort zur Verfügung stehen.
Mit unserem Antrag möchten wir die Bundesregie-
rung auffordern, ihre Fehlentscheidung zu korrigieren,
den vorläufigen Baustopp für das Projekt aufzuheben
und die Neubaustrecke zügig zu realisieren. Außerdem
bitten wir darum, dem Deutschen Bundestag über die
Finanzierung und die Ausführungsplanung regelmäßig
zu berichten.
Ich danke.
Ich erteile dem Kol-
legen Winfried Wolf, PDS-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es stimmtschon: Es ist grotesk, dass zehn Jahre nach der Vereini-gung keine Schienenschnellverbindung zwischen Berlinund München existiert, dass der ICE München – Berlinweiterhin zunächst über Braunschweig nach Osten fährtund dass er 40 Prozent mehr als auf der Direktverbin-dung zurücklegen muss. Er fährt also in der Form einerDeutschlandrundreise.Richtig ist schließlich: Die neue Bundesregierung hatdas Projekt einer Hochgeschwindigkeitsstrecke überErfurt bis 2002 weitgehend auf Eis gelegt. Dass jetztaber CDU, CSU und F.D.P. mit roter Schaffnermütze„höchste Eisenbahn“ brüllen, ist höchst demagogisch.Tatsächlich hatten Sie, werte Kolleginnen und Kollegenvon den alten Regierungsparteien, acht Jahre lang Zeit,gewissermaßen Zug um Zug den Osten zu erschließen.
Während im Deutschen Reich nach 1871 Jahr für Jahr1 000 Kilometer neue Schienenwege gebaut wurden,wurden in den acht Jahren in den neuen Ländern 1 000 Kilometer Schienenwege abgebaut. Es war doch HerrWissmann, der beim Bau der Verbindung München -Berlin über Erfurt bereits im Bremserhäuschen saß.
Metadaten/Kopzeile:
8638 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Doch tragischerweise präsentieren sich jetzt SPD undGrüne mit ihrem Antrag zu diesem Thema heute vor al-lem als Pausenclowns auf leeren Bahnsteigen. Da wirddie „Entscheidung der Bundesregierung begrüßt...“,nämlich die Entscheidung, nichts zu tun. Dieser Bundes-regierung wird attestiert, sie praktiziere den „Vorrangfür den Aufbau Ost“. Das stimmt einfach nicht. AußerBremsen tut sie gar nichts. Indirekt verfolgen Sie mit dem Prüfauftrag für einenweiteren Ausbau der Nord-Süd-Schienenverbindunggenau dieselbe falsche Philosophie wie die alte Bundes-regierung: Von München nach Berlin soll es möglichstfix gehen. Gerade das nützt aber den neuen Ländern wenig –siehe die Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover – Ber-lin, die bekanntlich als Interzonenbahn betrieben wird,meist ohne Halt in den neuen Ländern.
Die anvisierten 3,5 Stunden Fahrzeit für eine Verbin-dung München-Berlin laufen auf das Folgende hinaus:Erstens. Es wird extrem umweltzerstörend gebaut.Zweitens. Die bevölkerungsdichtesten Regionen wer-den nicht an einen modernen Schienenverkehr angebun-den.Drittens: Wichtige Städte bleiben abgehängt – sieheals abschreckendes Beispiel die aktuelle Debatte da-rüber, Frankfurt am Main und Stuttgart besser zu ver-binden und dabei Mannheim abzuhängen.Der PDS-Antrag fordert stattdessen, umgehend mitdem Ausbau eines halben Dutzends konkret benannterStrecken in der besagten Region zu beginnen. Damitkönnten mit denselben Summen Schienenwege von runddreimal größerer Länge auf den modernsten Stand ge-bracht werden. Die Fahrzeit zwischen München undBerlin würde von derzeit sechs Stunden auf rund4,5 Stunden reduziert werden und es würden in ersterLinie bestehende Schienenwege ausgebaut, das heißt,die Umwelt würde wenig belastet.Vor allem: Es würden rund fünfmal mehr potenzielleFahrgäste an ein modernisiertes Schienennetz angebun-den als bei dem bisher geplanten Projekt.Wir gestehen – zum Schluss –: Die PDS ist hier ex-trem konservativ. „Conservare“ heißt „erhalten“, denBestand erhalten; das heißt in diesem Falle: ausbauen.Uns geht es nicht um Höchstgeschwindigkeit für weni-ge, sondern uns geht es darum, für einen modernenSchienenverkehr zu sorgen, das heißt für einen Schie-nenverkehr für viele mit Komfort und mit Reisegenuss.Danke schön.
Jetzt hat die Kolle-
gin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Das ICE-Trassen-Verwirrspiel zeigtdie Unfähigkeit der Bundesregierung und der Koalition.
Der Bundeskanzler sagt Ja zur Trasse und zur zügigenRealisierung – natürlich insbesondere im Wahlkampf inThüringen – und jetzt ist er auf Tauchstation.
Der ehemalige Minister Müntefering wollte die Tras-se, die Trasse wird gebaut, und dann haben SPD – Leutevor Ort – ich nenne nur die Namen Verheugen, den Sienach Europa geschickt haben, die Kollegin Mattischeckusw. – das Aus für die Strecke verkündet.Der Minister Klimmt scheut klare Aussagen,
obwohl die SPD vor Ort für den Bau dieser Trasse istund die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands inNürnberg auf einem Kongress den schnellen Weiterbauder Trasse gefordert hat. Ich hoffe, dass der neue Staats-sekretär vielleicht eher auf die Aussagen der Gewerk-schaft hört, als es bisher der Fall war.Mittlerweile hat man ja gemerkt – oder scheint ge-merkt zu haben –, dass diese Trasse in den transeuro-päischen Netzen enthalten ist. Kollege Schmidt von denGrünen, man sollte die transeuropäischen Netze nichtlächerlich machen, denn sie sind geschaffen worden, umin Europa schnell von A nach B zu kommen.
Man hat nun gemerkt, dass diese Trasse in den trans-europäischen Netzen enthalten ist, und stellt sie jetzt indas so genannte Investitionsprogramm ein – allerdingsnur 365 Millionen DM bis zum Jahre 2002; der Rest von6,4 Milliarden DM kommt danach. Das tut man auch nurdeshalb, weil Gelder an die EU hätten zurückgezahltwerden müssen, wenn der Stopp des Baus der Trasseeingetreten wäre.Jetzt hat Bahnchef Mehdorn vor dem Ausschuss aus-drücklich darauf hingewiesen, dass er eine Schnelltras-se München – Nürnberg – Erfurt – Berlin möchte. Dazugehört nun einmal der Ausbau, damit man von Münchennach Berlin in dreieinhalb Stunden kommen kann. Dannkann man auf der Strecke zwischen Nürnberg und Erfurtnicht Blümchen pflücken; das ist nun einmal nichtmachbar.
Die Grünen reden dauernd davon, dass mehr Verkehrauf die Schiene gebracht werden soll. Wenn aber eineSchnelltrasse gebaut werden soll, wird sie von Ihnen undIhren Anhängern vehement bekämpft. Kollege Schmidt, Sie spielen sich hier ein bisschenauf,Dr. Winfried Wolf
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8639
als der heimliche Verkehrsminister oder auch als Bahn-chef.
Vielleicht denken Sie noch ein bisschen um.Aber die größte Scheinheiligkeit ist der Antrag derKoalitionsfraktionen. Denken Sie eigentlich, dass wir,die Bürger oder die Verbände Ihre Verschleppungstaktiknicht merken?
Oder sollte plötzlich bei Ihnen Einsicht eingekehrt sein,sodass Sie umdenken? Aber Ihre Halbherzigkeit, IhreWidersprüche und Ihre Täuschungen
bezeichnen Sie in Ihrem Antrag als „Politik der verläss-lichen und verbindlichen Investitionen in die Verkehrs-infrastruktur auf höchstmöglichem Niveau“. Diese Be-merkung in Ihrem Antrag ist schon äußerst dreist.
Denn Sie wollen ja nicht schnell bauen, sondern weiterprüfen, prüfen und prüfen,
obwohl die Trasse für das Wachstum und die Beschäfti-gung gerade in den neuen Ländern dringend erforderlichist.
Zum Schluss möchte ich mich bei dem aus dem Amtdes Parlamentarischen Staatssekretärs geschiedenenKollegen Ibrügger ganz herzlich für die gute, sachlicheund kompetente Zusammenarbeit sowohl im Ausschussals auch in seiner Eigenschaft als ParlamentarischerStaatssekretär bedanken.
Wir wünschen ihm alles Gute und vor allen Dingen guteGesundheit.Aber, Kolleginnen von der SPD – das kann ich mirjetzt nicht verkneifen –: Ich erinnere mich an eine Dis-kussion in Bonn, bei der eine Kollegin von der SPD ge-sagt hat, es sei Zeit, dass endlich ein weibliches WesenParlamentarische Staatssekretärin werde.
– Ich habe von einer Parlamentarischen Staatssekretärin,nicht von einer beamteten gesprochen.
Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass das gesagtworden ist.
Meine Damen, fühlen Sie sich seit der Neubesetzunggestern eigentlich nicht ein bisschen übergangen odersogar abgemeiert bzw. nicht bevorzugt?
Ich würde mich an Ihrer Stelle schon ein bisschen är-gern. Ich wundere mich, dass Sie keinen Aufschrei los-lassen, nachdem Sie uns in Bonn kritisiert haben,
dass wir keine Parlamentarische Staatssekretärin haben.
Nehmen Sie sich das einmal zu Herzen und denken Siedarüber nach.
– Sie können es nie werden, Sie wollen doch Ministeroder Bahnchef werden.
Dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ wird unssicherlich noch länger beschäftigen. Ich hoffe, dass indiesem Zeitraum, zumindest bis zur Aus-schussbehandlung, bei Ihnen noch der Prozess desNachdenkens einsetzt und dass Sie am Schluss vielleichteiner schnellen Realisierung dieser Strecke zustimmenwerden.
Renate Blank
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8640 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Ich erteile das Wortdem Bundesminister Reinhard Klimmt.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Frau Blank, ich darf Ihnen mittei-len, dass es bei uns in der Sozialdemokratie üblich ist,dass es, wenn man überzeugende personelle und sachli-che Lösungen findet, deswegen keinen Aufschrei undkeine Kritik gibt, sondern immer den geziemenden Bei-fall, weil etwas auf die richtige, in diesem Fall personel-le, Schiene gebracht worden ist. Dafür herzlichen Dankan die mich unterstützende Fraktion!
– Das muss jetzt nicht wiederholt werden, den Beifallhat es vorher schon gegeben.Es geht um die Strecke von Berlin nach München.Wir haben in einem wichtigen Schritt entschieden, dasswir die Schienenstrecke Nürnberg-Erfurt nicht ins Saale-tal führen werden, sondern sie nach Ilmenau ausbauen.Die Entscheidung, weiter nach Ilmenau zu bauen, istübrigens in Abstimmung mit den Abgeordneten vor Ortund auch mit der thüringischen Landesregierung getrof-fen worden, die von sich aus gesagt hat, sie wolle die an-dere Streckenführung nicht. Es ist ein wichtiger Punkt –er betont das Funktionieren des föderalen Systems –,dass wir es geschafft haben, im Rahmen eines Gesprä-ches eine optimale Lösung zu suchen und nach den Ge-gebenheiten zu finden. Deswegen bin ich froh, dass wirim Rahmen dieser Entscheidung erreicht haben, sowohldie Interessen des Bundes als auch die des Landes Thü-ringen in Einklang zu bringen.
Weiterhin wollen wir den Bahnhof Ilmenau-Wolfsberg bauen, der in der zukünftigen Trassenführungeine Rolle spielen wird, und, so wie im Raumord-nungsverfahren vorgesehen, eine entsprechende Anbin-dung an die Innenstadt von Ilmenau schaffen. Wenn diesim Jahre 2004 oder 2005 fertig sein wird, werden wir ei-ne sehr attraktive Verbindung zwischen der Landes-hauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt Ilmenau ha-ben. Ich hoffe, dass die Landesregierung – denn sie wares, die sich eine entsprechende Lösung gewünscht hat –die Kapazitäten im Regionalverkehr und im Nahverkehrentsprechend erhöht, um so zu gewährleisten, dass dieseInvestition einen Nutzen abwirft und diese Entscheidungals richtig erkannt werden kann.Der Weiterbau nach Süden in Richtung Coburg undNürnberg ist, wie hier schon ausgeführt worden ist, nurauf Eis gelegt worden. Er ist nicht aufgehoben, sondernnur aufgeschoben worden. Er ist nicht Bestandteil desvorliegenden Investitionsprogramms. Das war eine Ent-scheidung, die Franz Müntefering gefällt hat. Wir wer-den jetzt im Zuge der Bewertung, die wir im Rahmender Neufassung des Bundesverkehrswegeplanes zu tref-fen haben, festlegen, in welcher Schrittfolge der Weiter-bau erfolgen wird und erfolgen soll.
Dafür haben wir die notwendige Sicherung der bereitsgemachten Planfeststellungen eingeleitet. Das heißt, eswird keinen Verfall der geplanten Investitionen, wie erbefürchtet worden ist, geben. Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt hin-weisen, und zwar auf das Verkehrsprojekt „DeutscheEinheit“ Nr. 8. Davon ist dieses nur ein Teil, nämlichder Teil 8.1. Wir haben den Teil 8.3, der die Streckezwischen Berlin und Halle/Leipzig betrifft, mit einemAufwand von etwa 3 Milliarden DM fast schon fertiggebaut. Es gibt noch einige Ingenieurbauwerke, die fer-tig gestellt werden müssen. Im Jahre 2002 kann bei die-sem Investitionsvorhaben dann der Verkehr starten.
– Genau, auch das ist eine Leistung, die man einmal un-terstreichen und betonen sollte. Wir sind, was die Neubau- und Ausbaustrecke Leip-zig/Halle–Erfurt angeht, ebenfalls dabei, Teilabschnittezu bauen. Auch dort geht die Arbeit weiter. Im Rahmendes Abschnittes 8.1 wird weiter bis Ilmenau gebaut. Ich freue mich, dass es auch vonseiten der Union Un-terstützung für dieses Schienenprojekt gibt.
Denn ansonsten hat sie immer wieder in Richtung mei-ner Arbeit Vorwürfe dahin gehend gemacht, dass wiruns zu sehr auf die Schiene kaprizieren und die Straßevernachlässigen. An dieser Stelle schönen Dank dafür,dass Sie sagen, dass unsere Ausrichtung auf die Prioritätder Schiene von Ihnen – jedenfalls in diesem Fall – mit-getragen und unterstützt wird.
Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass die Zu-rückstellung von Investitionen, die wir haben vorneh-men müssen, eine Konsequenz aus der bestehenden Fi-nanzsituation ist
und nicht darauf beruht, dass man diese Strecke mögli-cherweise nicht so sehr unterstützt wie andere. DieseKonsequenz aus der Finanzsituation hat natürlich etwasmit Ihrer Politik in der Vergangenheit zu tun. Diese Entscheidung hat übrigens auch etwas mit denPrioritäten der Bahn zu tun. Man muss darauf hinwei-sen, dass es Herr Dürr und Herr Ludewig waren, diehinsichtlich der Prioritätensetzung, wenn es also darumging, Schieneninvestitionen in eine bestimmte Reihen-folge zu bringen, gesagt haben, man möge diese Streckebitte zurückstellen. Es sollte nicht vergessen werden,
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8641
dass wir alle unsere Investitionen in diesem Bereich inZusammenarbeit mit der Bahn vorantreiben. Wenn Herr Mehdorn jetzt von seiner Seite aus gesagthat, dass er im Rahmen eines größeren Konzeptes auchdiese Strecke verwirklicht sehen möchte, dann steht ernicht im Widerspruch zu uns. Selbstverständlich wollenwir diese Strecke, wenn sie sich verantwortlich reali-sieren lässt, verwirklichen. Wenn uns die Bahn sagt,welche anderen Projekte sie nicht mehr weiterverfolgenwill, dann kann auch noch über eine Veränderung derPrioritätensetzung geredet werden. Aber Herr Mehdornhat doch eindeutig erklärt, dass es zu dem, was wir inder nächsten Zeit vorhaben, keine Alternativen gibt.Dies wäre nur über eine zusätzliche Finanzierung mög-lich. Eine zusätzliche Finanzierung scheitert nun einmalan den Haushaltsgegebenheiten, mit denen wir zurecht-kommen müssen – als Konsequenz Ihrer Politik in derZeit, in der Sie die Verantwortung getragen haben.
Herr Minister, ich
darf Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Eine letzte Bemerkung sei
mir erlaubt: Wenn es darum geht, Investitionen in Ver-
kehrsprojekte zu tätigen, dann kann ich die Thüringer
beruhigen. Wenn man die Investitionen auf die Einwoh-
nerzahl umrechnet, wird man feststellen, dass es kein
Bundesland gibt, das so gut bedient wird wie Thüringen.
Wir sind stolz, dass wir auch in ein neues Bundesland so
viel Geld sinnvoll investieren können.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2692, 14/2906, 14/2914 und
14/2525 zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Län-
der, den Ausschuss für Tourismus, den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union und den
Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es weitere Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 8 ist abgesetzt worden. Ich rufe
deswegen den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht
– Drucksachen 14/1335, 14/2840 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir zudem Antrag zur Abschaffung der Arbeitserlaub-nispflicht während der letzten neun Monate erlebenkonnten – so lange hat es aufgrund der Verzögerungs-taktik der Regierungskoalition gedauert, bis wir im Ple-num wieder darüber beraten können –, hat sehr verwun-dert. Von der Union hätte man es vielleicht noch erwar-ten können, aber dass auch Rot und Grün in reaktionärenDenkmustern gefangen sind, hätte man nach den Äuße-rungen im Wahlkampf, nach dem Wahlprogramm derGrünen, aber auch nach den Bundesparteitagsbeschlüs-sen der SPD in Berlin im Dezember letzten Jahres nichterwartet.Die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht ist durchden Vorstoß von Herrn Bundeskanzler Schröder nochaktueller geworden. Natürlich gibt es schon Menschenim Land, die arbeiten könnten und wollten, die es abernicht dürfen, die zwangsweise, aufgrund eines Arbeits-verbotes, an den Tropf der Sozialkassen gehängt wer-den, obwohl sie die Möglichkeit hätten, selbst für ihreneigenen Lebensunterhalt aufzukommen.
Mit unserem Antrag auf Abschaffung der Arbeitser-laubnispflicht verfolgen wir fünf Ziele gleichzeitig: Wirwollen Schwarzarbeit verringern, Bürokratie abbauen,offene Arbeitsplätze schneller besetzen, die Verwaltungvereinfachen und nicht zuletzt die Menschenwürde derBetroffenen stärken. Es ist menschenunwürdig, wennman, obwohl man arbeiten könnte und wollte, wenn eseinen Arbeitgeber gibt, der einen einstellen würde, wennes einen Arbeitsplatz gibt, der nicht anderweitig besetztwerden kann, trotzdem von staatlicher Seite verpflichtetwird, nicht zu arbeiten und Sozialleistungen zu bezie-hen. Die Argumente, die während dieser neun Monatezu hören waren, waren teilweise grotesk, teilweisespießbürgerlich und unredlich. Der Gewerkschaftsvorsitzende Schulte hat im „Fo-rum Migration“ des DGB im Februar 2000 geschrie-ben – bei 243 Gewerkschaftsmitgliedern in der SPD-Fraktion ist das vielleicht nicht ganz uninteressant –:Grundsätzliche Arbeitsverbote für bestimmte Per-sonengruppen ... sind überflüssig.Er schreibt weiter:Bundesminister Reinhard Klimmt
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8642 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Befürchtungen, dass es bei einer Öffnung des Ar-beitsmarktes für alle, die sich rechtmäßig inDeutschland aufhalten, zu Verdrängungseffektenkommen könnte, teilt der DGB nicht. Sie seien – so Schulte – „auch historisch unbegründet. So sank die allge-meine Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zwi-schen den Jahren 1985 und 1990 um 420 000 Men-schen bei einem gleichzeitigen Anstieg der sozial-versicherungspflichtigen Ausländer um ca.260 000.“Meine sehr verehrten Damen und Herren, kein Nicht-deutscher in diesem Land nimmt einem Deutschen denArbeitsplatz weg. Alles andere ist ein Ammenmärchen.
Es gibt viele Arbeitsplätze, die aus vielerlei Gründennicht besetzt werden können, und zwar auf allen Quali-fikationsniveaus, sowohl im Niedriglohnbereich als auchim hoch qualifizierten Bereich. Es gibt Menschen, diewollen für ihren Lebensunterhalt selbst arbeiten, und Sieverhindern das. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung,Frau Marieluise Beck, hat laut der „Berliner Zeitung“vom 2. März 2000 gesagt:Zudem plädiert Beck dafür, das Arbeitsverbot fürAsylbewerber und Flüchtlinge aufzuheben. „Unterihnen befinden sich auch viele Fachleute, bei-spielsweise indische Software-Spezialisten“, betontdie Bundesausländerbeauftragte. Mit der Aufhe-bung des Arbeitsverbots könnten die unter Fach-kräfte-Mangel leidenden Branchen Mitarbeiter ge-winnen. Frau Beck, jawohl, Sie haben Recht. Aber dann ma-chen Sie es, Sie regieren.
Das Einzige, wozu Sie in der Lage sind, ist, einen Ar-beitskreis zu gründen, nachdem sich die Kanzlerrundenicht geeinigt hat, wie sie mit diesem dringenden Pro-blem der Bundesrepublik Deutschland umgeht. Es gibt Menschen in diesem Land, die seit Jahrenzwangsweise aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossenwerden, obwohl es Arbeitsplätze gibt, die nicht ander-weitig besetzt werden können. Arbeitsverbote schadennicht nur den betroffenen Menschen, Arbeitsverboteschaden der deutschen Wirtschaft, Arbeitsverbote erhö-hen die Schwarzarbeit und belasten öffentliche Haushal-te durch Mindereinnahmen und Mehrausgaben, Arbeits-verbote führen nicht zuletzt dazu, dass Vorurteile in die-sem Land gepflegt werden. Es gibt genügend Stammti-sche, an denen behauptet wird: Ausländer in diesemLand schaffen nichts. Aber dass diese nicht dürfen, wirdnicht gesagt. Das ist falsche Politik. Sie haben jetzt dieMöglichkeit, das, was Sie im Wahlkampf versprochenhaben, zu tun.
Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lasse keine
Zwischenfragen zu und sage auch, warum. Ich bitte da-
für um Verständnis. Wir stehen alle ein bisschen unter
Zeitdruck. Alle Fraktionen haben heute Abend noch
Verpflichtungen. Wir haben Gäste eingeladen.
Ich bitte sehr um Nachsicht dafür, dass ich keine Zwi-
schenfragen zulasse.
Herr Kollege, Sie haben weiter das Wort.
Ich hätte Glück gehabt, wenndie Frau Präsidentin die Frage zugelassen hätte. Dannhätte ich zeigen können, wie scheinheilig grüne Politikist, seit Sie, Frau Marieluise Beck, in der Regierungsind.
Das betrifft insbesondere die Ausländerpolitik dieserbündnisgrünen Bundestagsfraktion. Sie haben nichts au-ßer einem Staatsbürgerschaftsrecht zuwege gebracht,das Sie von der F.D.P. vorgesetzt bekommen haben. Siehaben überhaupt nichts geleistet: heiße Luft durch dieganze Bank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ar-beitsverbot führt zu geradezu grotesken Notwendigkei-ten. Ich zitiere noch einmal, und zwar aus der Unterrich-tung durch den Bundesrechnungshof zur Haushalts-und Wirtschaftsführung unter der Textziffer 84.3.1. Da-rin – es geht um die Vorrangprüfung – stellt der Bundes-rechnungshof formaljuristisch korrekt fest: Es entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers,wenn Arbeitsämter Fortsetzungserlaubnisse – das sind die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse,für die die Arbeitserlaubnis verlängert werden muss – schon deshalb erteilen, um nicht in bestehende Be-schäftigungsverhältnisse einzugreifen. Wird dieArbeitserlaubnis ... versagt, muss ... gegebenenfallsauch der Verlust des Arbeitsplatzes hingenommenwerden. Die Ausübung einer bisher erlaubten Tä-tigkeit schafft insoweit keinen Vertrauenstatbe-stand. Das geltende Recht führt zu nichts anderem als zu ei-nem Stellenbesetzungsmonopol durch eine öffentlicheVerwaltung. Hier wird durch Verwaltungsakt ein Ar-beitsvertrag zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebernverhindert, die miteinander ins Geschäft gekommensind, die sich geeinigt haben, dass sie zusammen auchzum Wohle dieses Volkes das WirtschaftswachstumDirk Niebel
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8643
mehren wollen und die Menschen in ihren individuellenRechten stärken wollen. Dieses Stellenbesetzungsmono-pol ist unerträglich und führt zu erheblichen Verwerfun-gen am Arbeitsmarkt.Wenn die Bundesregierung behauptet, dass sie sichbemüht, Menschenrechte zu stärken, dass sie sich insbe-sondere auch um Integrationsleistungen für Nichtdeut-sche bemüht, die sich legal in diesem Land aufhaltenund deswegen auch einen Anspruch auf Leistungen ir-gendeiner Sozialkasse haben, wenn sie sich bemüht, die-se zu integrieren, muss man ihr vorhalten, dass sie indiesem Punkt, nämlich die Menschen, die sich ohnehinschon hier befinden und arbeiten können und wollen, zuintegrieren, kläglich versagt hat. Sie haben die Men-schen vor der Wahl belogen und betrogen. Sie setzendas fort in einem Arbeitskreis, der auch weiterhin nurheiße Luft produzieren wird, weil Sie vor den Stammti-schen Angst haben. Das ist keine zukunftsweisendePolitik. Ich persönlich bin sehr von Ihnen enttäuscht. Ichweiß, dass viele Menschen in diesem Land, die mit Aus-länderinnen und Ausländern zusammenarbeiten, von Ih-nen ähnlich enttäuscht sind und Sie jedes Maß anGlaubwürdigkeit bei diesen Personengruppen verlorenhaben.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Kollegin Marieluise Beck fühlt sich
so angegriffen, dass sie jetzt um das Wort zu einer
Kurzintervention bittet. Ich muss sie zulassen, ich finde
sie auch in Ordnung. Kollege Niebel, Sie dürfen darauf
antworten. Mein Bemühen, zügig zu verfahren, darf
nicht dazu führen, dass wir die Inhalte verschleiern.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Lieber Kollege Niebel, Sie sind in dieser
Legislaturperiode neu ins Parlament gekommen, deswe-
gen sollte man vielleicht etwas nachsichtig sein. Sie ma-
chen aber nicht erst seit einem Jahr Politik, und deswe-
gen dürfte es Ihnen nicht entgangen sein, dass der Cle-
ver-Erlass, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge, gegen das
ich mich ausspreche, entstanden ist, als die F.D.P. zu-
sammen mit der Union regiert hat.
Dass Sie sich vor diesem Hintergrund hier hinstellen
und die Backen aufblasen, finde ich äußerst verwunder-
lich.
In diesem Punkt kann ich nur sagen: Denken Sie an die
Zeit, als Sie mitregiert haben und die Ausländerbeauf-
tragte von der F.D.P. den Clever-Erlass nicht verhindert
hat. Wir sind jetzt nach Kräften dabei, diesen Erlass bei-
seite zu räumen. Sie werden auch noch erleben, dass die-
ser Erlass fallen wird.
Herr Kollege Niebel.
Sehr geehrte Frau Kollegin
Beck, Sie wissen, dass sich die ehemalige Ausländerbe-
auftragte massiv gegen den Clever-Erlass ausgesprochen
hat
und dass wir das gleiche Problem hatten, das Sie nun al-
le naselang mit Ihrem großen Koalitionspartner haben.
Wir konnten uns nicht durchsetzen. Tun Sie jetzt nicht
so, als ob Sie ständig grüne Programmatik umsetzen
würden. Sie leisten überhaupt nichts.
Liebe Frau Kollegin Beck, ich darf auf eines hinwei-
sen: Die Ausländerbeauftragten des Bundes und der
Länder haben diesen Antrag auf ihrem Treffen bis zu
dem Moment außerordentlich wohlwollend zur Kenntnis
genommen, als der Ausländerbeauftragte des Landes
Mecklenburg-Vorpommern darauf hingewiesen hat, dass
dies ein Antrag der F.D.P. sei und man ihn daher nicht
unterstützen könne. Wenn Sie Ausländer so integrieren
wollen, sind Sie auf dem falschen Weg.
Nun hat das Wort
die Kollegin Leyla Onur, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! An Scheinheiligkeit undinsbesondere Vergesslichkeit ist die F.D.P. überhauptnicht zu übertreffen.
Sie als neuer, aber nicht frischer Abgeordneter mögendas vielleicht verdrängen.
Eines sollten Sie aber nicht vergessen: Der F.D.P. ist es,als sie mit an der Regierung war, wenn es ihr wirklichernst war, immer gelungen, den großen Koalitionspart-ner so unter Druck zu setzen, dass er bestimmte Dingenicht umsetzen konnte. Ich kann Ihnen Beispiele aufzäh-len, die sehr wichtig waren. Das galt zum Beispiel fürdie Veränderung im Pflege-Versicherungsgesetz. Alleswar schon abgesprochen und abgestimmt, und Sie, dieVertreter der F.D.P., haben die CDU so lange geknetetund zurechtgestutzt, bis sie von dieser Vereinbarung zu-rücktreten musste.Stellen wir doch einfach ehrlich fest: Es war Ihnengar nicht ernst damit, das Arbeitsverbot für Asylbe-Dirk Niebel
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8644 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
werber, für Flüchtlinge und geduldete Ausländer zu ver-hindern. Es war Ihnen nicht ernst damit. Vergießen Siedeshalb jetzt keine Krokodilstränen darüber, dass diesesArbeitsverbot – ich sage ausdrücklich: bedauerlicher-weise – immer noch existiert.
Alle Änderungen in Bezug auf die Arbeitserlaubnis-pflicht sind in Ihrer Zeit unter Ihrer Verantwortung vor-genommen worden.
Wenn Sie heute feststellen, das muss anders werden,dann sagen Sie damit klar und deutlich – dabei gebe ichIhnen sogar zum Teil Recht –, dass Ihre Politik falschgewesen ist.
Dann haben Sie Recht. Sie haben nicht immer, nicht inallen, aber in vielen Punkten Recht. Ihre Politik warfalsch. Wenn Sie das heute zugeben, könnte man viel-leicht sagen: Sie sind auf dem Wege der Besserung.
Schauen wir uns aber den Antrag genauer an. Worumgeht es eigentlich? Geht es wirklich darum, den Men-schen etwas Gutes zu tun, wie Sie den Eindruck zu er-wecken versuchten? Nein, ganz im Gegenteil. Es gehtIhnen um etwas ganz anderes. Aber der Reihe nach. Ichwerde mich nicht all diesen Argumenten zuwenden. Sowichtig sind sie nicht. Fangen wir einmal bei der Schwarzarbeit an. Siewollen mit Ihrem Antrag, die Arbeitserlaubnispflicht ab-zuschaffen, die Schwarzarbeit bekämpfen.
Das klingt erst einmal sehr löblich; denn Schwarzarbeitund illegale Beschäftigung sind in der Tat kriminelleMachenschaften, die einen gesamtwirtschaftlichenSchaden in Milliardenhöhe verursachen.
– Schwatzen Sie nicht immer dazwischen. Wenn Sie re-den wollen, dann nehmen Sie sich gefälligst Redezeit.
Sie behaupten, das sei nun ein wirksames Instrument,um Schwarzarbeit zu bekämpfen. Das ist natürlichfalsch; denn es geht der F.D.P. um etwas anderes. Sieschlagen nicht vor, gegen den massiven Betrug und dieBetrüger vorzugehen, also gegen die Arbeitgeber, die il-legale Arbeitskräfte beschäftigen, sondern Sie wollen,dass die Regeln, die illegale Beschäftigung undSchwarzarbeit verbieten, abgeschafft werden. Das ken-nen wir von Ihnen übrigens schon.
Wie war das neue Motto der F.D.P.? Wenn eine be-stimmte Gruppe der Bevölkerung gegen ein geltendesGesetz verstößt, dann muss man sie nicht bestrafen,sondern man muss das Gesetz abschaffen. Das ist dieneue F.D.P.-Philosophie.
Demnächst bringen Sie den folgenden Antrag ein: Weileinige Menschen in diesem Land gegen Verkehrsregelnverstoßen, schaffen wir die Verkehrsregeln ab. Dannfährt jeder so, wie er will. Nennen wir einmal das Kind beim Namen. Sie wol-len, dass endlich die Arbeitgeber ungehindert und un-kontrollierbar willige und natürlich billige Arbeitskräftezum Heuern und Feuern zur Verfügung gestellt bekom-men.
Das nennen Sie auch noch sozial gerecht. Das ist uner-hört. Das ist deswegen mit uns natürlich nicht zu ma-chen.
Wir wollen und wir werden, Herr Niebel, wie im Ko-alitionsvertrag festgehalten, gegen illegale Beschäfti-gung und Schwarzarbeit vorgehen, und zwar mit einemGesetz und nicht durch die Abschaffung notwendigerund zum Teil auch richtiger Regeln.
Lesen wir in Ihrer tollen Begründung weiter. Ich zi-tiere:Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt und damit dieBestreitung des Lebensunterhalts aus eigener Kraftgehören zu den Grundlagen eines menschenwürdi-gen Lebens und individueller Freiheit.Da haben Sie völlig Recht.
Das klingt in der Tat in Ihrem Text edel, hilfreich undgut. Aber Sie meinen etwas ganz anderes. Mit der Ab-schaffung der Arbeitserlaubnispflicht soll Ausländern inNot – das sollten wir nicht vergessen: in Not – die indi-viduelle Freiheit gewährt werden, körperlich schwereund schmutzige Arbeit mit geringen intellektuellen An-sprüchen zu Niedrigstlöhnen anzunehmen.
– Die Adjektive stammen aus Ihrem Antrag und aus Ih-rer Begründung. Offensichtlich wissen Sie nicht, was inIhrer Begründung steht.
Das heißt, Asylbewerber, Flüchtlinge und geduldeteAusländer sollen als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarktfür Lohn- und Sozialdumping benutzt werden. DasLeyla Onur
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8645
allein ist schon schändlich, aber es ist nicht alles. Wennsich diese Menschen trotz ihrer Notlage weigern sollten,zu Niedrigstlöhnen, womöglich noch unter dem Sozial-hilfesatz, Arbeit abzulehnen, dann endlich kann man Ih-nen die Sozialhilfe kürzen. Steht das in Ihrer Begrün-dung oder nicht? Das hat mit Menschenwürde und indi-vidueller Freiheit gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil.Es geht aber noch weiter. Ganz nebenbei beleidigen Sie, meine Damen undHerren von der F.D.P., soweit Sie noch hier sind, in Ih-rer Begründung zu diesem Antrag die Menschen in un-serem Lande, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung ste-hen, also die Arbeitslosen in unserem Lande, indem Siesie als unmotiviert, zu gering qualifiziert und nicht bereitzu körperlicher Arbeit abqualifizieren. Das ist eine sol-che Ungeheuerlichkeit, dass Sie sich dafür schämen soll-ten, Herr Niebel und meine Damen und Herren von derF.D.P.
Es gibt sicherlich noch mehr zu diesem Antrag zu sa-gen. Aber ich meine, er ist es nicht wert, dass man sichmit ihm weiter befasst. Wir werden diesen unsäglichenAntrag heute ablehnen. Aber wir sind nicht untätig undwerden es auch in Zukunft nicht sein. Wir werden denZielkonflikt zwischen hoher Arbeitslosigkeit und Er-leichterung des Arbeitsmarktzugangs für Migranten undMigrantinnen auflösen. Wir werden auch den Arbeits-marktzugang für Flüchtlinge, Asylbewerber und gedul-dete Ausländer auf eine neue Rechtsgrundlage stellen.Das heißt im Klartext: Der Clever-Erlass mit dem Total-arbeitsverbot kommt weg.
Abschließend sage ich Ihnen: Die Arbeiten daran sindin der Tat längst im Gange und werden – allerdings mitder gebotenen Sorgfalt und Gründlichkeit – fortgesetztund zu einem Ergebnis geführt, das allen Menschen, diein unserem Lande leben, unabhängig von ihrer Herkunftoder ihrem Status gerecht wird. Das werden wir auchschaffen.Danke schön.
Herr Kollege Niebel
möchte, weil er sich persönlich angegriffen fühlt, eine
Kurzintervention machen. Frau Kollegin Onur, darauf
dürfen Sie antworten.
Herr Kollege Niebel, bitte.
Frau Präsidentin, ich danke Ih-
nen. Ich habe um diese Kurzintervention gebeten, weil
Frau Onur offenkundig nicht in der Lage ist, im Zu-
sammenhang korrekt zu zitieren.
Sie hat Bruchstücke der Antragsbegründung mit eigener
Meinung vermischt.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat den Antrag unter
anderem damit begründet, dass beispielhaft im Niedrig-
lohnsektor trotz 4,3 Millionen Arbeitslosen viele Ar-
beitsplätze nicht besetzt werden können, unter anderem
wegen geringer Bezahlung in diesem Bereich, aber auch,
weil es oftmals schmutzige Tätigkeiten sind, ebenso,
weil es oftmals keinen attraktiven Anreiz für die deut-
schen oder bevorrechtigten Arbeitslosen auf dem Ar-
beitsmarkt gibt, diese Tätigkeiten anzunehmen. Das ist
eine beispielhafte Aufzählung.
Sie wissen ganz genau, Frau Onur, dass sich die
Möglichkeit der Beschäftigung von Nicht-EU-
Ausländern über das gesamte Spektrum des Arbeits-
marktes bewegt. Das zeigt übrigens auch die vom Herrn
Bundeskanzler angestoßene Debatte zur so genannten
grünen Karte.
Allerdings wissen Sie ebenso genau wie jeder andere
hier im Haus, dass es viele Bereiche gibt, in denen ins-
besondere Ausländer eine Chance haben, in den Ar-
beitsmarkt zu kommen, weil Deutsche diese Tätigkeiten
nicht ausüben. Das ist kein Ausschließungsgrund; es ist
nicht so, wie Sie es dargestellt haben. Des Weiteren ha-
ben Sie behauptet, die F.D.P. würde mit diesem Antrag
Schwarzarbeit und Lohndumping unterstützen wollen.
Das ist falsch.
Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitsplatz zu besetzen
hat und einen Arbeitnehmer findet, der diese Tätigkeit
ausüben möchte, und beide können aufgrund rechtlicher
Bedingungen nicht zusammenkommen und sind in die-
sem langwierigen Verfahren, das ich in der ersten Le-
sung beschrieben habe, sozusagen gefangen, dann fin-
den sie womöglich andere Wege, um ins Geschäft zu
kommen.
Das wäre dann Schwarzarbeit.
Das bedeutet, dass wir sowohl den Arbeitgebern als
auch den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben möch-
ten, miteinander ins Geschäft zu kommen, und zwar auf
legale Art und Weise. In dem Antrag steht nirgendwo,
so wie Sie behauptet haben, dass wir tarifvertragliche
Regelungen außer Kraft setzen wollten, im Gegenteil.
Herr Kollege, ichdarf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.Leyla Onur
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8646 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Das ist der letzte Satz. – Gegen
Lohndumping kann sich nur derjenige wehren, der sich
in einem legalen Beschäftigungsverhältnis befindet, weil
der Illegale, so er gegen das Lohndumping kämpfen
würde, als Illegaler erkannt und damit seiner Existenz
beraubt werden würde.
Ich bitte darum,
meine Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese Inter-
vention zulassen. Jetzt hat Frau Kollegin Onur das Wort,
um darauf zu antworten. Bitte sehr.
Herr Kollege Niebel, ich habe ja
Verständnis dafür, dass Sie noch einmal versuchen, auf
diese Weise zusätzliche Redezeit herauszuschlagen,
aber wir haben alle Argumente ausgetauscht. Ich sage
Ihnen noch einmal: Durch die Wiederholung werden Ih-
re Argumente nicht besser.
Nur zur Klarstellung: Sie sollten einmal genauer hin-
hören. Ich kann Ihnen versichern: Ich weiß immer ganz
genau, was ich sage.
Erstens. Ich habe beispielsweise nicht gesagt, Sie hät-
ten in der Begründung Ihres Antrages geschrieben, alle
Arbeitslosen in diesem Lande seien unmotiviert, unqua-
lifiziert und zu körperlicher Arbeit nicht bereit. Ich habe
gesagt, Arbeitslose in diesem Lande. Das ist ein Unter-
schied, den ich Ihnen gern bei Gelegenheit ausführlich
erkläre. Das habe ich nämlich einmal als Beruf gelernt.
Zweitens bin ich auch aufgrund dieser beruflichen Aus-
bildung in der Lage, korrekt zu zitieren, allerdings auch,
zwischen Interpretation eines Textes und dem Zitieren
eines Textteils zu unterscheiden. Wenn Sie genau zuge-
hört hätten, dann wüssten Sie jetzt, was das eine und
was das andere ist.
Ansonsten sprechen Ihr Antrag und insbesondere sei-
ne Begründung für sich. Die Wiederholung der dort auf-
geführten Argumente macht ihn weder besser noch ak-
zeptabler.
Nun hat das Wort
der Kollege Franz Romer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Meine Damen! Meine Herren! Die F.D.P.-Fraktion möchte die Arbeitserlaubnispflicht für Nicht-EU-Ausländer abschaffen. Damit soll das Recht aufge-hoben werden, das – wie es das Bundessozialgerichtformuliert – der Sicherung des Vorrangs deutscher undihnen gleich gestellter Arbeitskräfte auf dem inländi-schen Arbeitsmarkt dient. Da die Lage auf unserem Ar-beitsmarkt nach wie vor sehr angespannt ist, frage ich,welche Gründe für die Aufhebung dieses Schutzes spre-chen.
Die F.D.P. möchte mit ihrem Antrag die Schwarzar-beit verringern, offene Arbeitsplätze besetzen und Büro-kratie abbauen. Diese Ziele werden sicherlich partei-übergreifend als wünschenswert angesehen. Aber dabeiist zu berücksichtigen, dass eine Umsetzung des Antragsder F.D.P.-Fraktion einen zusätzlichen Anreiz für Aus-länder bedeuten würde, den Weg in die BundesrepublikDeutschland zu suchen. Asylbewerber und Flüchtlinge,die wohl die Hauptbegünstigten einer Neuregelung wä-ren, würden sich noch mehr als bisher auf Deutschlandkonzentrieren; denn in anderen EU-Ländern benötigenAusländer in der Regel eine Arbeitserlaubnis. Warumsollte die Bundesrepublik im Alleingang mit einer Neu-regelung vorpreschen?Wir haben unser Asylrecht bekanntermaßen schonsehr großzügig geregelt. Wenn Asylbewerber währendihres häufig sehr lange dauernden Asylverfahrens vonBeginn an arbeiten dürften, dann wäre dies eine zusätz-liche Einladung, auf jeden Fall in der BundesrepublikDeutschland einen Asylantrag zu stellen.
Ich schlage vor, einen EU-weiten Konsens zu suchen.Die Europäische Union hat den Mitgliedstaaten bereitsEmpfehlungen zur Regelung des Arbeitsrechts für Dritt-staatler zukommen lassen.
Es ist vorgesehen, noch in diesem Jahr eine Harmonisie-rung innerhalb der Europäischen Union herbeizuführen.Ein entsprechender Bericht der Kommission befindetsich in der Vorbereitung. Schon im Hinblick auf die be-vorstehenden Regelungen auf EU-Ebene macht es kei-nen Sinn, unser Arbeitserlaubnisrecht jetzt zu ändern.Im Zusammenhang mit dem Thema Asylbewerbermöchte ich auf das Problem der Residenzpflicht hin-weisen. Während des Asylverfahrens ist der Aufenthalträumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde be-schränkt, in dem sich der Ausländer aufhält bzw. in demdie Aufnahmeeinrichtung liegt. Nur durch diese Begren-zung der Freizügigkeit kann die ordnungsgemäßeDurchführung des Asylverfahrens gewährleistet werden.Ich möchte jetzt auf eine andere Gruppe Ausländer zusprechen kommen, nämlich auf die, die im Rahmen desFamiliennachzugs nach Deutschland kommen. DieseGruppe von Ausländern darf nach § 17 des Ausländer-gesetzes nur dann einreisen, wenn ihr Lebensunterhaltgesichert ist. Es muss ausreichender Wohnraum zur Ver-fügung stehen. Das Einkommen der Familie darf rein
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8647
rechnerisch schon gar nicht unter der Sozialhilfegrenzeliegen. Hier ist ein Missbrauch der Sozialleistungen, dendie F.D.P. angesprochen hat, von vornherein ausge-schlossen. Diese Gruppe von Ausländern würde nachdem Willen der F.D.P. ebenso wie Asylbewerber undFlüchtlinge direkt bei Feststellung ihres rechtmäßigenAufenthalts das Recht auf Arbeit bedingungslos erhal-ten. Bisher ist dafür nach § 286 des Sozialgesetzbu-ches III ein sechsjähriger ununterbrochener Aufenthaltin Deutschland Voraussetzung.Dass Ausländer, die schon viele Jahre in Deutschlandleben, eine Arbeit aufnehmen, ist nicht zuletzt auch un-ter Integrationsaspekten zu befürworten. Ist dagegenbeispielsweise ein Asylverfahren schon negativ abge-schlossen worden und wird der Asylbewerber nur nochgeduldet, so würde eine Abschiebung bei Vorliegen ei-nes Arbeitsplatzes für alle Beteiligten, den betroffenenAusländer, den Arbeitgeber und nicht zuletzt die Behör-den, unglaublich erschwert. Die von der F.D.P. aufgelisteten Arbeitsplätze, dienur schwer von inländischen Arbeitskräften besetzt wer-den können, liegen nicht in unbegrenzter Zahl vor. Frü-her oder später wäre der Arbeitsmarkt gesättigt, für den überwiegend ausländische Arbeitnehmer gewonnenwerden können. Bereits im Jahre 1998 waren über500 000 Ausländer in Deutschland arbeitslos. Dies ent-spricht einem Fünftel der abhängig Erwerbstätigen. Es sollten andere Lösungswege vorgezogen werden.In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen,dass im Niedriglohnbereich Wege gefunden werdenmüssen, den Abstand von Löhnen und Sozialleistungenin dem Maße zu wahren, dass Arbeitslose zur Ar-beitsaufnahme motiviert werden können.
Die F.D.P.-Fraktion weist darauf hin, dass Arbeits-plätze in die Schwarzarbeit verlagert werden, wenn ei-ne Arbeitserlaubnis nicht oder nicht rechtzeitig erteiltwird. Es hilft uns nicht weiter, meine Damen und Herrenvon der F.D.P., einen derart weit reichenden Gesetzesan-trag mit dem illegalen Verhalten einiger Arbeitgeber zubegründen. Wie wir alle wissen, beruht die Schwarzar-beit nicht allein auf einer Arbeitserlaubnispflicht für aus-ländische Arbeitnehmer. Kann für einen Arbeitsplatz kein deutscher Arbeit-nehmer gefunden werden, liegt dies möglicherweiseauch daran, dass die Arbeitsbedingungen unzureichendsind. Den Arbeitgebern durch eine Befreiung von derArbeitserlaubnispflicht ausländische Arbeitskräfte zurVerfügung zu stellen, kann keinesfalls im Sinne unsererausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sein.
Jährlich wird immerhin in über 1 Million Fällen eineArbeitserlaubnis erteilt. Dies bedeutet zwar nicht, dassjährlich 1 Million Ausländer neu auf dem Arbeitsmarktzugelassen werden, da ein Ausländer im Laufe einesJahres auch mehrfach eine Arbeitserlaubnis erhaltenkann. Die deutschen Arbeitgeber können schon nach derheutigen Rechtslage auf eine große Zahl ausländischerArbeitskräfte zurückgreifen. Ernst zu nehmen ist das Argument der Verfahrens-dauer. Eine Verzögerung der Arbeitsplatzbesetzung ummehrere Wochen ist für die deutsche Wirtschaft überaushinderlich und ruft tatsächlich nach einer Veränderung.Dazu ist aber eine Abschaffung der Arbeitserlaubnis-pflicht gemäß § 284 SGB III nicht notwendig. Verbesse-rungen ließen sich durch eine Änderung des für die Er-teilung einer Arbeitserlaubnis einschlägigen § 285SGB III erzielen. Die CDU/CSU-Fraktion befürwortet einen Abbau derBürokratie und eine Beschleunigung des Verfahrens. Siekann aber angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosenin Deutschland den Antrag der F.D.P. nicht unterstützen.Dies wäre gegenüber den inländischen Arbeitssuchen-den unverantwortlich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die große Anzahlvon ABM-Beschäftigten nicht in der Arbeitslosenstatis-tik auftaucht. Für diese, wie auch für alle, die sich inUmschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen befinden,soll langfristig ein Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt ge-funden werden. Mit Blick auf diese Zahlen darf mannicht, wie die F.D.P. in ihrer Antragsbegründung, lapi-dar darauf hinweisen, inländische Arbeitskräfte seien zuwenig motiviert, zu wenig qualifiziert, die Arbeit stellezu geringe intellektuelle Ansprüche oder bringe körper-liche Belastungen mit sich. Hier muss bei der Motivati-on und Flexibilität der Arbeitslosen angesetzt und nichtein Ersatz durch die Beschäftigung ausländischer Ar-beitskräfte gesucht werden. Wenn die inländischen Ar-beitnehmer zu wenig qualifiziert sind, müssen sie wei-tergebildet werden. Es muss möglich sein, dass die deut-schen Arbeitgeber bei dem großen vorhandenen Poten-zial geeignete Arbeitskräfte finden.Wir dürfen nicht vergessen, dass jährlich über 70 000Anträge auf eine Arbeitserlaubnis abgelehnt werden. Diedamit zusammenhängenden 70 000 Arbeitsplätze wür-den den deutschen und den ihnen gleichgestellten Ar-beitsuchenden, zu denen viele Ausländer gehören, zuUnrecht vorenthalten. Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hattegedacht, wir könnten hier eine sachliche Debatte überden Inhalt des Antrages der F.D.P. führen. Wenn esnämlich wirklich die Intention des Antrages ist, Flücht-lingen mit langer Aufenthaltsperspektive eine Arbeitser-laubnis zu gewähren, müssen wir darüber ruhig undsachlich diskutieren, weil diese Intention vernünftig ist.
Franz Romer
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8648 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Der Beitrag von Herrn Niebel hat uns eben aber gezeigt,mit was für einer scheinheiligen Profilierungssucht hierargumentiert wird.
Frau Beck hat Ihnen, Herr Niebel, eben schon gesagt,dass Ihre Fraktion, die F.D.P., verantwortlich für denClever-Erlass ist, der ein eindeutiges Arbeitsverbot bei-spielsweise für Flüchtlinge mit sich gebracht hat. Siesind dafür verantwortlich. Wir machen uns daran, diesenErlass abzuräumen und überflüssig zu machen. Noch etwas anderes kommt dazu, an das Sie wohlauch nicht denken. Sie haben im Jahre 1997 hier einenEntwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt und zurDiskussion gestellt, aus dem deutlich zu entnehmen war,dass Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen hierherkommen, bei Ihnen auch unter eine Quotierung fallensollen, die beispielsweise ökonomisch begründet wird.
– Das ist richtig; das können Sie nachlesen. – Wenn die-ses der Hintergrund für Ihr Konzept ist, dann, meineDamen und Herren, ist es umso richtiger, Ihren Antragabzulehnen, weil wir diese Art von Politik nicht wollen.
Es mag sein, Frau Lenke, dass bei Ihnen ein Umden-kungsprozess stattgefunden hat. Die Äußerungen vonHerrn Gerhardt in den letzten Tagen deuten jedenfallsdarauf hin. Das würden wir begrüßen. Vor dem Hinter-grund des Clever-Erlasses, den Sie zu verantworten ha-ben, und Ihrer Zuwanderungsvorstellungen können wirIhren Vorschlägen aber nicht folgen.
Richtig ist, dass wir eine Reform des Arbeitsge-nehmigungsrechtes brauchen. Auch die Koalition ar-beitet genau an dieser Sache. Zielsetzung dabei musssein, die Integration von Migranten zu fördern und zubeleben. Voraussetzung hierfür ist, die Akzeptanz dafürbei der inländischen Bevölkerung zu steigern. Wir kön-nen nämlich darüber nicht einfach hinwegschauen oderdavor die Augen verschließen, dass die Debatte um dasArbeitserlaubnisrecht im Spannungsfeld zwischen Integ-rationspolitik und Arbeitsmarktpolitik geführt wird. Eswird – das wissen Sie alle aus Ihren Wahlkreisen – indem Zusammenhang immer wieder die Frage nach denarbeitsmarktpolitischen Effekten gestellt. Bei der im Zusammenhang mit der Green Card auf-gelebten Debatte wurde sozusagen vieles noch einmalmiteinander vermischt. Wir müssen da sehr vorsichtigsein.
Hier reden wir nämlich über eine ganz andere Personen-gruppe.
Es geht nicht um eine Personengruppe, die aus ökono-mischen Gründen hereingeholt werden soll, um Qualifi-kationslücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen, wasja sinnvoll ist, sondern es geht hier um eine Gruppe vonMenschen, die hier lebt und ganz unabhängig vom aus-länderrechtlichen Status eine langfristige Aufenthalts-perspektive hat. Diese Menschen können nicht zurückund bleiben deswegen hier. Es handelt sich auch umMenschen, die nachgezogen sind, und beispielsweisedeswegen nicht in ihre Heimatländer zurückkönnen,weil ihre Angehörigen nicht zurückkönnen.
Um dieser Situation gerecht zu werden, meine Damenund Herren, brauchen wir aus humanitären Gründen ge-rade für Flüchtlinge eine Gesamtrevision des Arbeitsge-nehmigungsrechtes. Auch daran arbeiten wir.
Es ist auch notwendig, meine Damen und Herren,weil der Arbeitsmarktzugang von einem ungeheurenWirrwarr von Maßnahmen und Regelungen bestimmtist. Die „FAZ“ – ich weiß nicht, ob Sie sie gestern gele-sen haben – hat eine ganze Seite gebraucht, um das einwenig aufzuschlüsseln. Auch da ist deutlich geworden,dass nur Intellektuelle, die sich lange damit beschäfti-gen, die Chance haben, eine Idee von dem Wirrwarr die-ser Rechtsmaterie zu bekommen. Wir müssen hier Klar-stellungen vornehmen und entbürokratisieren, weildurch das Arbeitszugangsrecht viele Ungerechtigkeitenentstehen.
– Wir arbeiten ja daran. Sie haben das Arbeitsverboteingeführt.
Wir sind – auch im Sinne der Integration und unter Ab-wägung arbeitsmarktspolitischer Gesichtspunkte – da-bei, das zu korrigieren, was Sie, Herr Niebel, oder IhrePartei in den Sand gesetzt haben.Dr. Thea Dückert
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8649
Wir wollen die Integration in den Arbeitsmarkt, weilwir die Argumentation zum Beispiel der Kirchen undder NGOs richtig finden, dass der Arbeitsmarktzugangauch ein Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit ist.
Meine Damen und Herren, der Clever-Erlass ist nichtnur politisch umstritten; er ist auch rechtlich umstritten.
Es ist völlig eindeutig, dass er weg muss. Wir brauchenneue rechtliche Regeln. Aber wir brauchen auch dasGleichgewicht und die Auseinandersetzung mit den ar-beitsmarktpolitischen Argumenten. Darauf möchte ichnoch in aller Kürze eingehen.Für einen Arbeitsmarktzugang kommt hier ein Perso-nenkreis von etwa 100 000 Asylbewerberinnen und Asylbewerbern sowie Geduldeten in Betracht. Grund-sätzlich gilt, dass diese Personengruppe aus integrati-onspolitischen Gründen über den Zugang zum Arbeits-markt das Recht und die Chance haben muss den eige-nen Lebensunterhalt zu sichern. Die arbeitsmarktpoliti-schen Gesichtspunkte und Ängste, die hier vor dem Hin-tergrund von 4 Millionen Arbeitslosen immer wiedervorgetragen werden, haben keine Substanz. Das, waswir durchsetzen wollen, stellt keine Gefahr für den Ar-beitsmarkt dar. Das stellt der DGB zu Recht fest undverweist in diesem Zusammenhang auf die Vorrangprü-fung.
– Herr Niebel, Sie haben hier schon zwei oder drei Malgeredet. Akzeptieren Sie bitte, dass auch andere von die-sem Pult aus Ausführungen machen.
Wir reden hier über etwas, was Sie eingeführt haben. Eswar ungerecht und arbeitsmarktpolitisch unsinnig.
Die rot-grüne Koalition macht sich nun daran, denSchrott wegzuräumen, den Sie hinterlassen haben, mei-ne Damen und Herren.
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Ich denke an die Redezeit.
Das Problem ist vielfältig. Es ist ein integrationspoli-
tisches und ein arbeitsmarktpolitisches Problem.
Wir müssen schrittweise vorgehen. Der erste Schritt ist –
das habe ich schon gesagt – die Abschaffung des Clever-
Erlasses. Weitere Schritte werden im Zusammenhang
mit der Reform des SGB III folgen, weil wir substan-
zielle Verbesserungen im Hinblick auf die Arbeits-
marktzugangsregelung benötigen. Ferner brauchen wir
eine Entbürokratisierung und eine Verbesserung der In-
tegration.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist weit überzogen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Wir müssen vielerlei thematisieren: beispielsweise
die Vorrangprüfung bei der Verlängerung von Arbeitser-
laubnissen und den Zugang zum Arbeitsmarkt für Stu-
dentinnen und Studenten sowie Hochschulabsolventen;
Letzeres steht in engem Zusammenhang mit der Green
Card.
Wir machen uns auf den Weg. Sie dagegen haben uns
etwas hinterlassen, was nicht weiter bestehen bleiben
darf.
Jetzt hat der Kollege
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Kolle-ginnen und Kollegen! Mir kommt die Diskussion wieder Tragödie zweiter Teil vor. Der erste Teil ist vor Jah-ren abgespult worden, als die rechte Seite des Hausesdieses Gesetz einführte und die linke Seite des Hausessich dagegen verwahrte. Damals war man in anderenPositionen als heute. Wenn die rechte Seite des Hausesnun ein neues Gesetz einbringt, kann man ihr nicht vor-werfen, dass sie vielleicht lernfähig ist.
Dass nun aber die linke Seite des Hauses – aus welchenGründen auch immer – vergisst, dass sie vor Jahren ge-gen die Einführung dieses Gesetzes war, das geht zulas-ten der Betroffenen.
Es gibt noch einen dritten Teil der Tragödie. Diesewird durch jenen eigenartigen Widerspruch eingeleitet,Dr. Thea Dückert
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8650 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
dass Deutschland auf der einen Seite das Brain Drainneu belebt, indem der deutsche Bundeskanzler ausländi-sche Informatiker für deutsche Konzerne und Unter-nehmen anwirbt, und dass die Arbeitgeberverbändegleich die Messer wetzen und Werber aussenden wollen,um auch für andere Berufe Arbeitskräfte anzuwerben.Auf der anderen Seite verweigert oder erschwert manaber den in Deutschland lebenden ausländischen Mit-bürgerinnen und Mitbürgern das Recht, den Lebensun-terhalt durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Wasdie Green Card auf der einen Seite ist, ist auf der ande-ren Seite die Red Card für Migrantinnen und Migranten.Das ist nicht hinnehmbar.
Es ist auch nicht hinnehmbar, Frau Onur, dass bei derGreen Card schnell und kurzfristig gehandelt wird, dassman sich aber bei der Red Card fast ein Jahr lang – solange liegt das auf dem Tisch – Zeit lässt.
Sie können doch schneller handeln, wenn Sie wollen. Indiesem Fall könnten Sie das auch tun.
Ob das mit Ihren sozialdemokratischen und grünenWertvorstellungen zu vereinbaren ist, müssen Sie selberentscheiden. Die entwürdigenden Bedingungen, etwa diebegrenzte Aufenthaltserlaubnis, unter denen die Einkäu-fe auf dem internationalen Arbeitsmarkt stattfinden,kennzeichnen erneut die immer größer werdende Ent-fernung der jetzigen Bundesregierung von sozialen, hu-manistischen und demokratischen Überzeugungen. Werbei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit dieObjektivität und die Unausweichlichkeit der Globalisie-rung beschwört, kann doch nicht ernsthaft annehmen,dass er diesen Prozess auf dem Arbeitsmarkt und im so-zialen Bereich überlisten kann.Das Recht auf Arbeit ist ein Grundrecht. Es stehtauch jetzt bei der Diskussion um eine Charta der Grund-rechte in der Europäischen Union an vorderster Stelleder sozialen Grundrechte. Grundrechte gelten für alleMenschen – gleich, ob sie Bürger der EU sind odernicht. Arbeit ist die Grundlage für die Sicherung dermenschlichen Existenz. Niemand hat das Recht, das In-dividuum seiner Möglichkeit zu berauben, mit seiner ei-genen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestrei-ten.
Genau das aber tut der Zwang, eine Erlaubnis zur Ar-beit bei einer Behörde beantragen zu müssen. Wer diePraxis von Ausländerbehörde und Arbeitsamt kennt, derweiß, wie demütigend und erniedrigend die Behandlungfür ausländische Mitbürger ist, wenn sie – sich meist er-folglos – in die Schlange einreihen müssen. Was sich ineiner Millionenstadt wie Berlin tagtäglich vor der ein-zigen Ausländerbehörde abspielt, die noch dazu sehr be-grenzte Öffnungszeiten hat, ist ein Beispiel für men-schenunwürdige Behandlung.
Die Fraktion der PDS unterstützt den vorliegendenAntrag der F.D.P. Teile der Begründung sind absurd;lassen wir es dabei. Wichtig ist, dass den Menschen eineZukunft gegeben wird. Es ist aber notwendig, dass wiruns von Relikten der Vergangenheit lösen. Tun Sie dieskonsequent! Sie haben es versprochen. Lassen Sie sichnicht so viel Zeit!Dass auch Ämter und Behörden, auch Strafverfol-gungsbehörden, entlastet würden, mag nur am Randeerwähnt werden. Die Abschaffung der Arbeitserlaub-nispflicht wäre ein erster Schritt in die richtige Rich-tung: die Neugestaltung eines gleichberechtigten undselbst gestalteten Lebens von Menschen unterschied-licher Herkunft in einem Land. Andere Schritte müssenfolgen. Wenn Sie aber zu viel Zeit brauchen, werden dieanderen Schritte wahrscheinlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt.
Das Wort hat nun
der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
G
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antragder F.D.P. ist in allen Ausschüssen zu Recht abgelehntworden.
Wer sich die Inhalte und die Begründung dieses Antra-ges anschaut, der wird feststellen, dass die in ihm enthal-tene Behauptung, das Arbeitsgenehmigungsrecht habesich in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Rechtder Verhinderung von Arbeit entwickelt, absurd ist.Selbst die Zahlen, die in der Begründung stehen, ma-chen diese Absurdität deutlich.Ich würde sehr empfehlen, darauf zu achten, wie sichmit ganz unterschiedlichen Begründungen die beidenjeweils äußeren Seiten dieses Hauses zu dem Antragverhalten. Die linke Seite verhält sich wahrscheinlich so,weil sie immer und überall die Gutmenschen spielenwill, ohne sich die Inhalte genauer anzuschauen. Dierechte Seite kommt im Gewande der Liberalität daher,so wie sie es schon mit vielen anderen Dingen getan hat;es geht ihr aber eigentlich um nichts anderes als um einegnadenlose Deregulierung.
Ich finde das, was Herr Niebel sagt, sehr amüsant:Diejenigen, die er sonst in den Debatten als Gewerk-schaftsfunktionäre verunglimpft, zitiert er, wenn es ihmpasst. Ich würde ihn an dieser Stelle auch nicht so ernstnehmen.
Worum geht es eigentlich, meine sehr verehrten Da-men und Herren? Wer sich das Arbeitsgenehmigungs-recht ansieht, wird feststellen – Vorredner haben dasDr. Klaus Grehn
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8651
bereits deutlich gemacht –, dass wir darin ganz unter-schiedliche Tatbestände vorfinden. Da geht es um Werk-vertragarbeitnehmer, da geht es um Saisonarbeitnehmer,da geht es um Fragen der Genehmigung derer, die aufdem deutschen Arbeitsmarkt nach Arbeit suchen. Hierzu will ich Ihnen eine Grundposition sagen, vonder ich sehr überzeugt bin. Ich finde, dass Menschen,deren Aufenthalt hier auf Dauer angelegt ist, durch ihrereigener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienensollen. Das ist zunächst eine Grundposition. Dann mussman aber untersuchen, welche Funktion dieses Arbeits-genehmigungsrecht hat. Es hat eine doppelte. Es hat dieFunktion, einerseits den deutschen und den europäischenArbeitsmarkt entsprechend zu schützen, andererseits aber so viel Flexibilität zu entwickeln, dass ein notwen-diger Arbeitskräftebedarf gedeckt wird oder notwendigezusätzliche Genehmigungen für bestimmte Personen-gruppen ermöglicht werden. Dies tut das Arbeitserlaub-nisrecht in ganz unterschiedlichem Ausmaß.Ich will überhaupt nicht verhehlen – das ist hierschon genannt worden –, dass wir in der Bundesregie-rung und mit den Koalitionsfraktionen daran arbeiten,bestimmte Regelungen des Arbeitserlaubnisrechtes zureformieren. Aber, Herr Niebel, wir kommen nicht aufdie Idee – da können Sie so viel herumschreien, wie Siewollen –, das Arbeitserlaubnisrecht abzuschaffen. Wirkommen auch nicht auf die Idee, einen Tatbestand, denSie benannt haben, die so genannte Vorrangprüfung, ab-zuschaffen. Warum sollten wir das? Wir sind schon derMeinung, dass man bei bestimmten Fragen genauer hin-schauen muss, wie diese Vorrangregelung wirkt. Wirwerden aber behutsam und in einer vernünftigen Art undWeise abzuwägen haben, wenn wir in diesem Land ge-genwärtig noch mehr als 4 Millionen registrierte Ar-beitslose haben und auf der anderen Seite über Arbeits-genehmigungen bestimmte Entwicklungen zulassen, dieauch dazu führen können, dass der Zuzug in die Bundes-republik Deutschland zunimmt.Das hat gar nichts damit zu tun – das will ich meinemVorredner noch einmal sagen –, dass es nicht auch mög-lich ist, bei dem bestehenden Arbeitserlaubnisrecht sehrflexibel zu reagieren. Wer sich die Anwerbestoppaus-nahmeverordnung ansieht, wird feststellen, dass großeFirmen, dass Wissenschaftler, dass Universitäten undInstitutionen auch bisher keine Probleme hatten und dasses ohne weiteres möglich ist, dass entsprechend qualifi-zierte Fachkräfte in die Bundesrepublik kommen. Ein Beweis dafür, dass unser Arbeitsgenehmigungs-recht vernünftig ist und mit kleineren Anpassungen gutgenutzt werden kann, ist das Sofortprogramm für dieDeckung des Arbeitskräftebedarfs im Bereich der IT-Industrie. Das kann nur nicht nach der Melodie erfol-gen – das will ich noch einmal ausdrücklich sagen –, dieSie vorschlagen, nämlich alles abzuschaffen, sondernhier muss in einem vernünftigen Rahmen, mit vernünfti-gen Verhältnissen ein Bedarf nachgewiesen werden. Esmuss auch durch den entsprechenden Wirtschaftsbereichdeutlich gemacht werden, dass man selbst etwas tut, uminländische junge Menschen zu qualifizieren, um Fach-kräfte, die arbeitslos sind, zu qualifizieren.
Wenn dieses miteinander einhergeht, dann ist es auchmöglich, über Arbeitsgenehmigungen – Herr Niebel,wenn Sie bitte einmal zuhören würden –
zu ermöglichen, dass der notwendige Fachkräftebedarfin der Bundesrepublik Deutschland für eine solcheBranche gedeckt wird.
– Ich bitte Sie noch einmal zuzuhören. Über Ihrem An-trag steht die Überschrift „Abschaffung der Arbeitser-laubnispflicht“. Das ist doch Unsinn. Wir beschließenim Deutschen Bundestag keinen Antrag, der Unsinn ist,damit Sie das wissen.
Damit halte ich für die Bundesregierung fest, dass wirin den nächsten Monaten im vernünftigen Ausmaß das,was im Arbeitsgenehmigungsrecht reformiert werdenmuss, verändern. Das können wir auch über entspre-chende Verordnungen und Regelungen tun. Wir werdenaber nicht auf die Idee kommen, dieses Arbeitserlaub-nisrecht insgesamt abzuschaffen, weil wir davon über-zeugt sind, dass vor dem Hintergrund der Arbeitsmarkt-probleme auf der einen Seite mit den Arbeitsgenehmi-gungen auf der anderen Seite in einem vernünftigenVerhältnis umgegangen werden muss.Das bedeutet insbesondere auch, dass man hier Ar-beitskräfte zulässt, deren Beschäftigung zusätzliche Ar-beitsplatzeffekte in der Bundesrepublik Deutschland er-zielt. Das bedeutet zum anderen – ich will es wiederho-len –, dass auch Menschen, deren Aufenthalt in dieserRepublik auf Dauer angelegt ist, die Möglichkeit habenmüssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sieihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften können.Vor diesem Hintergrund halte ich es nur für logisch,dass dieser unsinnige F.D.P.-Antrag abgelehnt wird. Ichkann Ihnen vorhersagen, trotz all Ihrer Schreiereien,Herr Niebel: Weder die Bundesregierung noch die Koa-lition werden sich in irgendeiner Weise beirren lassen:Wir werden in den nächsten Wochen mit entsprechen-den Regelungen auch hier im deutschen Parlament auf-treten und diejenigen Veränderungen vornehmen, diewir für richtig halten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der KollegeHeinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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8652 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion kann diesem Antrag nicht zustimmen. Ichwill das begründen: Die Lage auf dem Arbeitsmarktist nach wie vor dramatisch; da beißt keine Maus denFaden ab. Nach wie vor sind immerhin über 4,2 Mil-lionen Arbeitslose registriert. In den Ausnahmefällen –der Staatssekretär hat schon auf die entsprechenden Fel-der hingewiesen – sind es immerhin 1,2 Millionen Men-schen, die in der Saisonarbeit,
in der Zeitarbeit oder über Werkverträge beschäftigtsind,
Herr Niebel. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden,dann würden wir ein zusätzliches Ventil öffnen.
Wir würden Menschen aus dem Ausland hereinholen,obwohl der Druck auf dem Arbeitsmarkt nach wie vorsehr stark ist.
Der Staatssekretär hat angekündigt, dass das SGB IIImöglicherweise demnächst zur Diskussion steht. Wirkönnen über die Verkürzung der Fristen bei freiwerden-den und bei neu eingerichteten Stellen – ich denke andie Wartezeit – reden. Ich sage hier aber ausdrücklich:Nicht die Arbeitslosenzahlen, sondern die Beschäfti-gungszahlen sind der eigentliche Gradmesser für die La-ge auf dem Arbeitsmarkt. Bei den Beschäftigungszahlensieht es noch viel schlechter aus.Wir haben nach wie vor einen großen Aderlass anversicherungspflichtig Beschäftigten. Das war vor allenDingen im vergangenen Jahr in starkem Maße der Fall.Auch wenn sich die Lage etwas gebessert hat, so ist trotzder positiven Konjunkturdaten und trotz des eigentlichmilden Winters ein großes Defizit in der Beschäfti-gungspolitik festzustellen. Wir wissen, dass das auchdramatische Folgen für unsere Generationenverträge hat.Nur wenn wir das berücksichtigen, können wir den sozi-alen Rechtsstaat für künftige Generationen so bewahren,wie wir ihn auch für uns reklamieren.Die Lage ist deshalb dramatisch, weil die rot-grüneBundesregierung in der Steuergesetzgebung genau dasFalsche tut.
Sie vernachlässigt einerseits den Mittelstand, das Hand-werk und den Handel – wo in den kleinen, überschauba-ren Bereichen Arbeitsplätze entstehen. Andererseits be-vorzugt diese Bundesregierung die Großkonzerne durchdie Steuerfreiheit der Ausgliederung. Die Ausgliederungrichtet sich eindeutig gegen die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer. Das haben Sie vor Ort von den Betriebs-räten und von denen, mit denen Sie in den Gewerkschaf-ten zu tun haben, gehört. Wenigstens ich habe das erfah-ren. Damit können wir den Rückgang der Arbeitslosig-keit nicht vorantreiben.Im Übrigen: Wenn dann noch der Herr Bundeskanz-ler den gigantischen Fusionsbeschluss der DeutschenBank und der Dresdner Bank befürwortet und damiterkennbar in Kauf nimmt, dass 16 000 Arbeitsplätze ver-loren gehen – im Inland sind es 14 000 –, dann bedeutetdas für die Arbeitsplätze der Beschäftigten nichts Positi-ves.
– Auch ich kann die Fusion nicht aufhalten. Aber dieReihenfolge der Äußerungen und die dahinter stehende„Denke“ des Bundeskanzlers sind verräterisch.
Er begrüßt die Fusion. Ich behaupte, dass die Reihenfol-ge umgekehrt sein muss – erst Arbeitsplätze, dann Fusi-on. Die Einstellung zu diesem Thema ist das Entschei-dende.
Für die arbeitslosen Menschen – gerade für die, die ausdem Dienstleistungsbereich kommen – ist das keine er-klärbare Politik; denn im Dienstleistungsbereich sollenja Arbeitsplätze entstehen.
Die Kurzatmigkeit des Handelns wird noch deutli-cher, wenn der Herr Bundeskanzler Schröder Compu-terfachleute aus Asien, aus dem weit entfernten Ost-asien hereinholen will, obwohl wir 30 000 Informations-technologiespezialisten in der Arbeitslosigkeit haben.Wir müssten sie vermitteln. Wenn diese Ankündigungdes Bundeskanzlers dann noch bei einem Messebesuchin lockerer Art geschieht, dann ist das eine sehr frag-würdige Sache. Ich sage das deshalb, weil wir auf deranderen Seite mit vielen Milliarden – das ist eben auchaus den Ausführungen des Staatssekretärs deutlich ge-worden – an Beitragsmitteln völlig zu Recht über dasArbeitsförderungsreformgesetz Menschen gerade in die-sen computertechnischen Bereichen qualifizieren. Wenndas einen Sinn machen soll, muss ich für diese Men-schen auf der anderen Seite auch die Arbeitsplätze be-reithalten.Damit das hier klar ist und noch einmal deutlich wird:Es geht nicht um diejenigen, die von Ferne kommen, dieunter Verfolgung oder unter Ausbeutung leiden; es gehtwirklich um diejenigen, die in der Tat die Stars sind.Wir nehmen diesen Ländern – das ist im Übrigen einNebeneffekt – die Stars, die dort, in den Schwellenlän-dern und den Entwicklungsländern, gebraucht werden,
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8653
um eine vernünftige Infrastruktur aufzubauen. Ich sagedas in allem Ernst.
Wenn dies noch in einer Zeit geschieht, in der dieBundesregierung für das EU-Gipfeltreffen in Lissabondie „Beschäftigungspolitische Aktion 2000“ mit be-schlossen hat – das ist ja auch bei der Berichterstattungam gestrigen Tage deutlich geworden –, die eindeutigsagt, dass im europäischen Raum nationale Initiativenergriffen werden sollen – und wir wissen, dass es im eu-ropäischen Raum weitere arbeitslose Computertechnikergibt –, dann bedeutet das, dass wir erst einmal die Arbeitvor der europäischen Tür leisten sollten. Das ist ent-scheidend.
Dafür habe ich einen guten Zeugen; den möchte ichdann auch zitieren. Er nimmt mir das sicherlich nichtübel. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär Andresim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Erhat am 28. Januar dieses Jahres erklärt – ich zitiere –:Gegenwärtig ist die Bundesregierung nicht der Auf-fassung, dass die Erteilung von Arbeitsgenehmi-gungen an ausländische Spezialisten erleichtertwerden soll.
Wie auch in den anderen Branchen muss auch imBereich Datenverarbeitung das Problem der ausrei-chenden Gewinnung von Fachkräften durch Maß-nahmen am inländischen Markt gelöst werden.
Die Zulassung von Arbeitnehmern aus dem Aus-land würde die Ursachen des Mangels nicht behe-ben, sondern allenfalls kurzfristig verdecken.
Recht hat der Mann!
Ich kann nur sagen: Recht hat der Mann! – Ja, die Freu-de ist groß, wenn ich mich mit der F.D.P. auseinandersetze. Aber haben Sie bitte Verständnis: Wir haben jetztja endlich auch einmal die Gelegenheit, wieder als Op-position so aufzutreten, wie es sich gehört.
Mit dieser Arbeitsmarktpolitik, wie sie augenblicklichauf diesen beiden Feldern, die ich nannte und die klas-sisch sind, betrieben wird – Fusionen und bei Aus-gliederung von ganzen Produktionsbereichen dann auchnoch die Einführung von Steuererleichterungen, um da-mit das Ganze noch zu beschleunigen, sowie auf der an-deren Seite sozusagen die Sterne am Himmel hereinzu-holen und damit einen Verdrängungsprozess durchzu-führen –, ist eine Antwort auf die Frage nach der Bewäl-tigung der Arbeitslosigkeit sicherlich nicht zu formulie-ren.Der Kanzler wollte sich ja daran messen lassen, wieer die Arbeitslosigkeit abbaut. Dies ist sicherlich einIrrweg. In diesem Sinne werden wir auch in Zukunft –das sage ich Ihnen noch einmal – den Finger in dieWunde legen.Allerdings muss ich ebenso ausdrücklich sagen: DerAntrag der F.D.P.-Fraktion ist nun auch nicht das All-heilmittel; deshalb können wir ihm nicht zustimmen.
Schönen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Ab-
schaffung der Arbeitserlaubnispflicht, Drucksache
14/2840. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1335 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P. ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der
PDS
Zur Entwicklung und zur Situation in Ost-
deutschland
– Drucksachen 14/860, 14/2622 –
Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der PDS vor. Über den Entschlie-
ßungsantrag der PDS werden wir nachher namentlich
abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die PDS acht Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gysi, PDS-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Wir haben, wie ich finde, zu einemrechten Zeitpunkt – nicht zu früh, nicht gleich zu Beginnder Legislaturperiode, sondern nachdem eine gewisseZeit neuer Regierungspolitik über das Land gegangen ist– eine Große Anfrage zur Situation in Ostdeutschlandgestellt, um zwei Dinge zu erfahren. Uns hat erstens eineBestandsaufnahme interessiert, inwieweit die Bundesre-gierung über Informationen in Bezug auf Ostdeutsch-land verfügt. Zweitens hat uns interessiert, wie das Kon-zept der Bundesregierung aussieht, die Entwicklung inHeinz Schemken
Metadaten/Kopzeile:
8654 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Ostdeutschland voranzubringen, immerhin ein Gebiet,das im Wahlkampf und auch noch nach dem Wahlkampfvom Bundeskanzlers zur Chefsache erklärt worden ist.Ich sage Ihnen: Das Beste an dieser Großen Anfragesind immer noch die Fragen, nicht die Antworten,
und zwar aus folgendem Grunde: Zunächst einmal – aber da könnten wir uns ja möglicherweise verstän-digen – fällt die Bestandsaufnahme ausgesprochen un-genau aus. Wenn Sie die Antworten lesen, werden Siefeststellen, wie oft die Bundesregierung mitteilen muss,dass sie diesbezüglich keine Informationen hat, dass eskeine Statistik gibt, dass sie nicht auskunftsfähig ist.Ich finde – deshalb spielt das in unserem Entschlie-ßungsantrag eine Rolle –, wir sollten uns wenigstensdarauf verständigen, die statistischen Erhebungen überOstdeutschland in Zukunft sehr viel genauer vorzuneh-men, weil sie eine Grundlage dafür sind, Fehlentwick-lungen zu erkennen und andere Entwicklungen über-haupt einleiten zu können. Wenn wir die Situation nichtkennen, können wir auch nicht darauf reagieren. Dannbegeben wir uns in das Gebiet der Spekulation.
Aber ich hoffe, dass es da nicht so viel Widerspruchgibt; denn das ist ja zum Teil übernommen.Das Zweite ist – danach frage ich Sie ernsthaft –: Wiesieht eigentlich Ihr Konzept zur Herstellung der innerenEinheit Deutschlands, zur Angleichung der Lebens-verhältnisse in Ost und West und zur Organisierung ei-nes wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundes-ländern aus? Ich muss Ihnen sagen: Nachdem Sie daserst zur Chefsache erklärt haben, finde ich, dass sich ausden Antworten ergibt, dass Sie das inzwischen zu einerNebenrolle degradiert haben. So kann die deutsche Ein-heit nicht hergestellt werden.
Ich will versuchen, Ihnen das nachzuweisen. Wir ha-ben noch immer die Situation, dass die Arbeitslosigkeitin den neuen Bundesländern doppelt so hoch ist wie inden alten Bundesländern. Es geht mir heute nicht umUrsachen. Darüber werden wir uns zum Teil nicht ver-ständigen können; zum Teil wäre dies wahrscheinlichsogar möglich. Auf jeden Fall ist die Situation, wie sieist. Nun ergibt sich aus den Antworten auf die GroßeAnfrage überhaupt kein Konzept der Bundesregierung,das spezifisch für den Osten gelten würde, wie man ge-rade dort die Arbeitsmarktprobleme lösen will. Einsolches Konzept ist nicht erkennbar. Sie hoffen nur aufallgemeine Entwicklungen in der ganzen Bundesrepu-blik Deutschland und gehen davon aus, dass sich dieseirgendwann und irgendwie auch zugunsten des Ostensauswirken werden. Diesen Aberglauben haben wir aberinzwischen eindeutig verloren.Wir brauchen spezifische Maßnahmen für eine regio-nale und strukturelle Entwicklung im Osten, für eineReindustrialisierung, für die Schaffung von industriellenKernbereichen, um die Arbeitsplatzfrage lösen zu kön-nen.
Dabei sind wir uns durchaus darüber im Klaren, dass wiruns im Übergang in eine Dienstleistungsgesellschaft be-finden. Aber auch auf diesem Gebiete passiert doch we-nig. Natürlich haben wir einzelne Oasen in den neuenBundesländern, in denen auch einmal ein hochprodukti-ves Unternehmen entsteht. Aber drum herum entwickeltsich viel zu wenig.Lassen Sie mich dazu zwei, drei Bemerkungen ma-chen, die ich für ganz wichtig halte. Das Erste ist: Wirmüssen neu über Ausschreibungen nachdenken, undzwar auch – da spreche ich die Grünen an – aus ökologi-schen Gründen. Es gibt ein europäisches Recht und einBundesrecht, das jede Kommune zwingt, bei jedem grö-ßeren Auftrag entweder bundesweit oder sogar eu-ropaweit auszuschreiben. Die Folge davon ist, dass eineKommune in Brandenburg dann, wenn ein Angebot ausSüdfrankreich oder Norditalien oder aus Bayern kommt,das um 20 000 DM günstiger ist als das Angebot aus dereigenen Region, den Auftrag aus marktwirtschaftlichenGründen nach den geltenden Gesetzen zwingend nachBayern oder in andere Länder vergeben muss.Das Problem ist zunächst einmal ein ökologisches.Auf diese Art und Weise werden sinnlos Millionen Ki-lometer quer durch ganz Europa verfahren.
Statt den Benzinpreis zu erhöhen, sollten Sie an diesemAusschreibungsverfahren etwas ändern. Dann könntenSie die Gütertransporte zu einem großen Teil von derStraße drängen. Zugleich hätten die Kommunen dieChance, wieder eine regionale Wirtschaftspolitik zubetreiben. Ein weiterer Aspekt ist von Bedeutung: Früher, unterder alten Regierung – es tut mir Leid, Sie an dieser Stel-le einmal würdigen zu müssen –, gab es zunächst einevernünftige Maßnahme: Ich meine die Investitionspau-schale für die Kommunen. Diese ist ausgelaufen. Ichsage Ihnen: Die müssen wir wieder auflegen; andernfallshaben die Kommunen keine Chance, ein eigener Wirt-schaftsfaktor zu werden, der Arbeitsplätze schaffenkann.
Ich beziehe das im Übrigen nicht nur auf die neuenBundesländer. Vielmehr werden Sie auch in den struk-turschwachen Regionen Westdeutschlands eine Investi-tionspauschale für die Kommunen benötigen, damit a) eine Kommunalwahl Sinn macht und b) in den struk-turschwachen Gegenden auf dem Arbeitsmarkt endlichwieder eine bessere Situation herrscht.
Natürlich kommen viele andere Dinge hinzu. Wannendlich fördern wir wirklich die Existenzgründerinnenund Existenzgründer gerade in den neuen Bundeslän-dern? Es wird viel von kleinen und mittelständischenUnternehmen gesprochen. Schauen Sie sich einmal de-ren Schicksal in den neuen Bundesländern an: Die ZahlDr. Gregor Gysi
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der Pleiten erhöht sich von Jahr zu Jahr, natürlich auchdie Zahl neuer Versuche. Machen wir doch daraus end-lich einmal erfolgreiche Versuche, indem wir kleine undmittelständische Unternehmen direkt fördern, damit siedann auch wirklich wirtschaften können und Arbeits-plätze gesichert werden bzw. neu entstehen.
Mit dem Gerede muss endlich Schluss sein; es mussnun gehandelt werden. Angesichts dessen, dass ange-kündigt worden ist, dass die Entwicklung in Ostdeutsch-land Chefsache ist, wundere ich mich natürlich, dass dieBundesregierung bei einer Sache, die sie mit Prioritätversehen wollte, bei dieser Debatte so gut wie überhauptnicht vertreten ist. Davon ist offensichtlich jetzt keineRede mehr.
Natürlich geht es auch um soziale Fragen. In diesemZusammenhang gibt es ja immer zwei Komponenten.Die eine Komponente ist: Je schwächer die Kaufkraft inOstdeutschland ist, desto verhaltener ist die Wirtschafts-entwicklung. Die andere Komponente ist: Es handeltsich dabei um eine Gerechtigkeitsfrage. Die Lösung dersozialen Fragen kann man nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Herr Riester will dieRenten ungefähr im Jahre 2030 angleichen. Ganze Ge-nerationen von Rentnerinnen und Rentnern sind verstor-ben, bevor das zur Wahrheit wird. Abgesehen davon könnte man sich über niedrigereRenten, Löhne, Gehälter und Sozialleistungen doch nurunter einer Bedingung verständigen, nämlich unter derBedingung, dass auch die Preise niedriger sind. Sie kön-nen doch nicht zulassen, dass das Preisniveau in Ost-deutschland 100 bis 110 Prozent desjenigen im Westenbeträgt, wenn Sie die Löhne, Gehälter, Sozialleistungenund Renten auf einem wesentlich niedrigeren Niveau be-lassen. Das ist einfach nicht hinnehmbar und nicht mehrnachvollziehbar.
Die Bundesregierung könnte hier vorangehen, indemsie bei den Beamten endlich einmal eine gleiche Entloh-nung vornimmt. Dann könnte man im gesamten öffentli-chen Dienst eine Angleichung durchsetzen. Das würdesich dann schrittweise auf die Privatwirtschaft auswir-ken. Im industriellen Gewerbe liegen die Löhne in Ost-deutschland im Vergleich zu den Löhnen in West-deutschland bei 65 Prozent. Sie müssen wissen, dassselbst der Haustarif in den neuen Bundesländern eineAusnahme ist. Das heißt, die westdeutsche Tarifver-tragsstruktur gilt in den neuen Bundesländern nochnicht. Das ist, wie ich finde, nicht länger hinnehmbar. Ich erwarte nicht – um das hier ganz deutlich zu sa-gen – eine Überforderung dergestalt, dass die Bundesre-gierung sagt, ab 1. Mai dieses Jahres – das wäre natür-lich ein besonders geeigneter Tag – wird eine Anglei-chung durchgeführt.
– Nein, ich habe extra den 1. Mai genannt. Sie habenandere Daten als ich im Kopf. Sie sollten einmal darübernachdenken, woher das kommt. Ich spreche darüber aus einem ganz bestimmtenGrund, und zwar deswegen, weil wir einen Fahrplan er-warten. Sie müssen den Menschen wenigstens sagen, inwelchen Schritten und in welchen Fristen eine An-gleichung erfolgen soll, damit sie eine Perspektive ha-ben. Sie dürfen die Antwort auf diese Frage nicht per-manent verweigern, wie das in den letzten Jahren derFall war und auch gegenwärtig der Fall ist.
Auch zum Aufbau von Wissenschaft, Bildung undKultur ließe sich eine Menge sagen. Denn solange die-ser Bereich in Ostdeutschland mit Nachteilen versehenist, ist auch eine Perspektive nicht gesichert. Ich möchte,dass das Abitur in den neuen Bundesländern endlich dengleichen Wert hat wie das Abitur in den alten Bundes-ländern. Ich möchte, dass wir das vorhandene Wissen-schafts- und Forschungspotenzial anders nutzen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine andereGruppe zu sprechen kommen: Es gibt in Ostdeutschlandtatsächlich Verlierer. Das sind die Frauen. Die Arbeits-losigkeit ist bei ihnen am höchsten. Ihr Entgelt ist amgeringsten. Sie sind zu einem großen Teil aus dem Er-werbsleben und damit aus dem gesellschaftlichen Leben,wie es sich heute darstellt, verdrängt worden. Keine Ih-rer Antworten bietet eine Aussicht darauf, wie Sie diesespezifische Problematik angehen wollen.Ich sage Ihnen: Ohne einen öffentlich gefördertenBeschäftigungssektor, –
Herr Kollege Gysi,
denken Sie an Ihre Redezeit!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
– ohne Arbeitszeitverkür-
zungen und ohne spezifische Programme für Frauen
werden Sie dieses Problem nicht lösen können. Das ist
mit Ihre Aufgabe, aber auch eine Aufgabe für uns alle,
wenn wir denn die deutsche Einheit wieder herstellen
wollen.
Die Antworten waren sehr dürftig. Ich hoffe, dass wir
hier im Laufe der Beratung noch deutlich weiterkom-
men.
Ich erteile dem Kol-
legen Dr. Mathias Schubert, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Zwischen der Veröffentli-chung zweier Bilanzen zum Aufbauwerk in Ost-deutschland mit Daten, Fakten und Perspektiven – einer-seits der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, an-dererseits der Gegenstand dieser Debatte, nämlich dieAntwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage derPDS – liegen gerade einmal vier Monate und erneutkönnte die Interpretation ihrer Inhalte und der daraus re-sultierenden Forderungen und Appelle an die Bundes-Dr. Gregor Gysi
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8656 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
regierung kaum unterschiedlicher ausfallen. Das habenwir auch nicht anders erwartet.Die vorliegenden Entschließungsanträge von PDSund Unionsfraktion sind leider nachhaltiger Beleg dafür,wie sehr der Blick durch die parteipolitische Brille oderein erstaunliches, offenbar ideologisch motiviertes Roll-back zur selektiven Wahrnehmung beitragen.
Da wird unter Berufung auf soziologische, ökonomischeoder haushaltstechnische Daten die Lebenswirklichkeitnicht erkannt, der erreichte Stand beim Aufbau Ost ent-weder verharmlosend schöngeredet oder dramatisch ne-gativ verzerrt. Da werden uneingestandene eigene Fehlerund Versäumnisse nach fast einem Jahrzehnt verant-wortlichen Regierungshandelns für den Osten der neuenBundesregierung untergeschoben, mit scheinbar plakati-ven Forderungen an die rot-grüne Koalition, die im Üb-rigen längst Bestandteil unserer Politik sind. Nur ist un-sere Politik einfach sinnvoller, effizienter und erfolgs-orientierter angelegt.
– Da haben Sie Recht.Es war schon eine respektable PR-Leistung, liebeKolleginnen und Kollegen der Union, wie Sie jahrelangmit schöngefärbten Illusionen verführten und in Ost undWest erfolgreich Politik verkaufen konnten – nach demMotto: Es werden weder Opfer, geschweige denn Steu-ererhöhungen nötig sein; allein durch die wundersamenKräfte des Marktes entstünden die blühenden Land-schaften. Dass sich Menschen nicht auf Dauer durchvollmundige Versprechungen narren lassen, haben Siedann im September 1998 zu spüren bekommen. Auch heute haben Sie wieder scheinbar griffige Er-klärungen parat, mit denen zugleich die Schuldigen fürmanche Defizite in den ostdeutschen Ländern ausge-macht werden: natürlich die neue Bundesregierung –wer auch sonst? –, die dieses und jenes womöglich nichteinfach aus der Westentasche bezahlen kann und auchnicht will. Begreifen Sie endlich: Ein Staat kann mittel-fristig nicht ständig mehr ausgeben, als er einnimmt!Noch eine Bemerkung zu dem Entschließungsantragder CDU/CSU: Wenn man die erste Seite liest, hatman – insbesondere bei dem zweiten Absatz – den Ein-druck, dass sich die Erfolgsmeldungen bezogen auf denAufbau Ost bis 1998 nur so gehäuft haben. Das führtden Leser zu der Vermutung, beim Aufbau Ost seien nurnoch Restarbeiten zu erledigen. Liest man aber auf derzweiten Seite weiter, so stößt man auf fundamentale po-litische Forderungen, woraufhin sich der Leser natürlichfragen muss: Was ist denn nun richtig? Gab es einen sogroßen Erfolg, dass nur noch Restarbeiten zu erledigensind? Oder gab es keinen Erfolg, sodass weiterhin fun-damentale politische Forderungen gestellt werden müs-sen? Mit diesem Widerspruch führen Sie im Grunde sichselbst ad absurdum. Sie können nur politisch konstruktivwerden, nachdem Sie entschieden haben, wie Sie IhrePolitik nach Ihrer Niederlage im Jahr 1998 konsistentweiterführen können, ohne dass das, was Sie damals ge-tan haben, unglaubhaft wird.
Nun ist das aber noch nicht alles. Die PDS hat nochabenteuerlichere Einsichten, die sie zum Besten gibt,wie sich in der nüchternen Bilanz der Antwort der Bun-desregierung auf ihre Große Anfrage zeigt. „Back to theroots“ heißt die Botschaft dieser antikapitalistischen Epistel in ihrem Entschließungsantrag – und das ist ehernoch zurückhaltend formuliert.
Die Architektur Ihrer utopischen postsozialistischenTraumschlösser einschließlich der Wiedereinführungvon längst vergessen geglaubten Zehnjahresplänen samtPlanwirtschaft
– deshalb, lieber Herr Kollege Gysi, habe ich vorhinvom 7. Oktober und nicht vom 1. Mai gesprochen – istein Rückschritt, den ich von Ihnen – wenn ich das so sa-gen darf – nicht mehr erwartet hätte. Das hat sicherlichauch mit Ihrer innerparteilichen Identitätskrise und demnahenden Parteitag zu tun. Da macht es sich natürlichgut, wenn die „Zurückdrängung von Kapitaldominanz“– wie Sie es ausdrücken – und die sichtbare inhaltlicheAnnäherung an Positionen Ihrer marxistischen Plattformdie Reihen zu schließen versuchen.
Aber hinsichtlich der ostdeutschen Belange outen Siesich als das konservativste politische Element undüberholen damit die rechte Seite dieses Hauses.
Sie sind – wenn Sie das nicht lernen, kommen Sie zu-nehmend mehr in große Schwierigkeiten – nicht die ein-zige und schon gar nicht die genuine Partei oder Frakti-on, die Ostinteressen vertritt. Sie sind nur die einzigePartei, die von Ost-West-Gegensätzen, tatsächlichen oder scheinbaren, lebt und die Ostdeutschen gern invormundschaftliche sozialistische Staatlichkeit zurück-führen will.
Aber wenn natürlich die Chance, in der Bundesrepu-blik beim Wort genommen zu werden, gleich Null ist,fällt – was ich auch verstehe – ungenierter Populismusrelativ leicht. Diese Bundesrepublik ist eben keine In-karnation des bösen Kapitalismus. Sie ist bei allen unbe-strittenen Problemen, die es natürlich gibt, ein gelunge-ner Mix aus rechtsstaatlich demokratischer Grundord-nung, sozialer Marktwirtschaft und einem breit ge-fächerten System sozialer Sicherheit. SolangeSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesemLand regieren – das wird noch einen Augenblick dauern,liebe Genossinnen und Genossen –, wird dieseMischung auch Bestand haben.Dr. Mathias Schubert
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Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8657
Meine Damen und Herren, schon bei der Debatte zumStand der deutschen Einheit im November vergangenenJahres haben die sozialdemokratische Bundestagsfrakti-on und mit ihr natürlich der Koalitionspartner der Bun-desregierung für die realistische Bestandsaufnahme ge-dankt. Dies gilt uneingeschränkt auch für die sorgfältigerarbeitete, durch nüchterne Fakten unterlegte Antwortauf die Große Anfrage der PDS. Der Dank ist insbeson-dere an Sie, Herr Staatsminister Schwanitz, gerichtet.Negative Aspekte der ostdeutschen Realität werden da-bei nicht ausgeblendet. Natürlich – das wissen wir alle –steht Erfolg neben Misserfolg, lässt sich kein einheitli-ches Urteil über die ostdeutschen Transformationspro-zesse aus dieser Momentaufnahme der Antwort auf dieGroße Anfrage herausfiltern. Denn in den letzten zehnJahren ist aus industriellen Ruinen eine ökonomischeLandschaft voller Kontraste entstanden, eine Landschaftaus Wachstumszentren und Problemregionen, alles in al-lem eine bunt gescheckte Landschaft.Der Osten ist weder generell rückständig noch hat erden Westen generell überholt. Insofern war es Zeit füreine realistische Bestandsaufnahme als objektiveGrundlage für zukünftiges politisches Handeln. Das giltfür die Arbeitsmarkt- und Forschungspolitik, für dasNachdenken über zukünftige Förderinstrumente, insbesondere in der Wirtschaft, und für den Weiterbau derInfrastruktur einem richtigen und erfolgsorientierten Weg Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte überdie Große Anfrage der PDS zur Entwicklung und zur Si-tuation in Ostdeutschland gilt sicher als Vorspeise aufdie morgige Sonderveranstaltung des Deutschen Bun-destages zum 10. Jahrestag der ersten freien Wahlenzur Volkskammer in der DDR. Diese Vorspeise lassenwir uns als Unionsfraktion von den Mitgliedern derPDS-Fraktion sicherlich nicht versalzen.
Am heutigen Tag muss nicht nur an die zehn Jahre derEntwicklung in Deutschland seit dem Fall der Todes-grenze gedacht werden, sondern auch den Frauen undMännern der ersten frei gewählten Volkskammer ge-dankt werden, die mit ihrem Engagement die Einheit un-seres Vaterlandes vorangetrieben haben. Durch ihrenEinsatz wurde möglich, was viele nicht mehr für mög-lich gehalten hätten. Wenn man hier in Berlin ostdeutsche Schülerklassensieht, die ganz unbefangen und wie selbstverständlichdurch das Brandenburger Tor gehen, dann wird mir im-mer wieder deutlich, dass die ältere Generation der Ost-deutschen die Aufgabe hat, die Erinnerung daran wachzu halten, wie es in der ehemaligen DDR wirklich war.Man muss sich immer wieder die Frage stellen: Waswäre aus dem Land, der Umwelt, den Betrieben, der In-frastruktur, den Städten, Krankenhäusern, Kirchen undMenschen geworden, wenn die deutsche Einheit nichtgekommen wäre?
Die Gestaltung der deutschen Einheit war und ist unteil-bar mit der Regierungskoalition unter der weitsichtigenFührung von Bundeskanzler Helmut Kohl verbunden,dem auch heute noch mein Dank für seine politische Le-bensleistung gilt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der ersteSatz der Großen Anfrage der PDS sticht sofort ins Auge: Mit Blick auf den bereits am Horizont sichtbarenzehnten Jahrestag der staatlichen VereinigungDeutschlands ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dem kann man nur zustimmen. Allerdings dürfen wirbei der Bilanz zum Stand der deutschen Einheit nicht diekatastrophale Abschlussbilanz für die Zeit von 1949 bis1989 aus dem Auge verlieren.
Denn nur dann gelingt es, eine ehrliche und faire Be-handlung aller im Zusammenhang stehenden Sachver-halte der Innen- und Außenpolitik vorzunehmen.Die PDS selektiert in ihrer Anfrage nur die politi-schen Bereiche, die ihre ideologische Ausrichtung unter-stützen. Es wäre doch sehr interessant, darüber zu disku-tieren, welche Auswirkungen 40 Jahre SED-Diktatur aufdas Land und die Menschen gehabt haben. Warum lauten Ihre Fragen nicht: Wie viele Menschenwurde auf dem Weg in die Freiheit erschossen oder inZuchthäusern der SED-Diktatur diszipliniert?
Wie viele Betriebe sind verstaatlicht worden, ihre Eigen-tümer womöglich des Landes vertrieben? Wie vieleMenschen wurden im Namen des Sozialismus um dieFrüchte ihrer ehrlichen Arbeit gebracht und um dieTräume und Sehnsüchte ihrer Lebensplanung betrogen?Welche Wirkung haben die Zerschlagung des freien Un-ternehmertums sowie das Verbot, privates Vermögenaufzubauen, und die damit verbundene Eigenkapital-schwäche, die für die Bemühungen der Privatisierung anostdeutsche Bürger nach 1989 entscheidend war?
Wie waren die Lebenserwartung der Bevölkerung undder Zustand des Gesundheitswesens? Wie groß war dieökologische Vergewaltigung der Flüsse, Wälder, derLuft und des Bodens von Rügen bis zum Fichtelberg?
Dr. Mathias Schubert
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8658 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Ich glaube, bei einer ernsthaften und ehrlichen Bilanzkämen schnell 1000 wirklich sinnhafte Fragen zustande. Am Beispiel der Sanierung des Wismut-Bergbausin Thüringen und Sachsen lässt sich diese positive Ent-wicklung der letzten zehn Jahre eindrucksvoll nachvoll-ziehen. Mehrere Milliarden DM wurden in den vergan-genen Jahren investiert. Allein in meinem Wahlkreis beiKönigstein wurden seit 1991 rund 1 Milliarde DM fürdie Sanierung bereitgestellt. Von der Wirkung diesesGeldes sieht man allerdings nicht viel, denn es wurdeunter Tage für die Verbesserung und Absicherung desGrundwasserhaushaltes für den oberelbischen Raumeingesetzt.Ich frage Sie: Was hätten wir mit diesen Steuergel-dern alles an anderer Stelle ausrichten können, zum Bei-spiel im Schulwesen, in Kindergärten und Jugendein-richtungen, bei der Städtebausanierung, zugunsten vonKläranlagen, Sportplätzen und Kultur? Das Geld konntedoch nur einmal eingesetzt werden, und in den erstenJahren musste es eben schwerpunktmäßig in die Altlas-tensanierung der SED-Diktatur investiert werden.
Nein, meine Damen und Herren, eine solche Politik,wie sie in der Großen Anfrage der PDS und Ihrem Ent-schließungsantrag deutlich wird, dürfen wir hier imDeutschen Bundestag nicht durchgehen lassen. Sie istgeprägt von Miesmacherei, Verklärung, Verbreitung vonHalbwahrheiten und Verdrängung der eigenen Verant-wortung für die SED-Hinterlassenschaft. Sie ist eineHypothek, die es auch in den nächsten Jahren in Bund,Ländern und Gemeinden abzutragen gilt.Kurt Biedenkopf sprach schon 1991 davon, dass derAufholprozess etwa 20 Jahre dauern, große finanzielleAnstrengungen unserem gesamten Volk abverlangenund der Bevölkerung der mitteldeutschen Länder großeBelastungen und Opferbereitschaft auferlegen würde.Genau diesen Prozess gilt es seitens der Politik zu be-gleiten. Es gilt, den Menschen, die in Verantwortungstehen, Mut zu machen, und zu helfen, wo persönlicheBetroffenheit und krisenhafte Situationen entstandensind.Meine Damen und Herren, der Weg ist richtig und al-ternativlos. Wir haben noch eine gute Strecke vor uns;denn eine 40- bis 50-jährige unterschiedliche Entwick-lung lässt sich nicht in zehn Jahren auf allen Gebietenausgleichen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass sichbeim Einigungsprozess auch Fehlentwicklungen ergebenhaben. Diese sind bereits erkannt und werden dort, woes möglich ist, korrigiert.In Ost und West ist es gerade jetzt notwendig, für ge-genseitiges Verständnis und Vertrauen zu werben.Vor einiger Zeit las ich in einer Emnid-Umfrage, dassschon etwa 93 Prozent der Ostdeutschen zumindest ein-mal dienstlich, privat oder touristisch in den westlichenBundesländern waren. Umgekehrt liegt die Zahl erst et-wa bei circa 50 Prozent. Fast 30 Millionen unserer west-deutschen Mitbürger haben sich also bisher wenig bzw.gar nicht persönlich mit dieser nationalen Aufgabe ver-traut gemacht. Ihre Informationen beziehen sie aus denMedien, die leider häufig selektiv und oberflächlich be-richten. Einmal gesehen ist besser als hundertmal gehört. Gerade die touristische Entwicklung in den neuenBundesländern ist eine einzigartige Erfolgsstory, dieauch in Zukunft noch über große Potenziale verfügt. Fürdie Entwicklung der ländlichen Räume und die Zurück-führung der Frauenarbeitslosigkeit bergen der Touris-mus und der Dienstleistungsbereich in den neuen Bun-desländern enorme Reserven.
Zur Verkehrsinfrastruktur ist festzustellen, dass wir1991 ein Infrastrukturnetz vorgefunden haben, das inden letzten 50 Jahren nur sehr dürftig instand gehaltenwurde. Dass dieser Bereich nicht über Nacht in Ordnunggebracht werden kann, dürfte sogar Ihnen von der PDSeinleuchten.
Dennoch sind seit 1990 mehr als 76 Milliarden DM inSicherheit, Modernisierung, Erweiterung und den Neu-bau der Verkehrsinfrastruktur geflossen. Im Entschließungsantrag fordert die PDS mehr Inves-titionen im Verkehrsbereich. Gleichzeitig lehnen ihreAbgeordneten aber wichtige Verkehrsprojekte ab, wiebeispielsweise den Bau der A 17 in Sachsen oder dasZukunftsprojekt Transrapid zwischen Berlin und Ham-burg.
Auch hier zeigt sich die verlogene Politik der PDS. Ei-nen konstruktiven und ganzheitlichen Politikansatz kannman bei der PDS auch zehn Jahre nach der deutschenEinheit weiterhin nicht erkennen. Dennoch möchte ich einen Appell an die rot-grüneBundesregierung richten: Kommen Sie ohne Wenn undAber auf den Pfad der Investitionen zurück. Beenden SieIhre Sparpolitik im Verkehrsbereich der mitteldeutschenLänder! Diese eignen sich nicht zum Sparschwein derNation.
Die schnelle Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur istwirkliche Zukunftspolitik für Ostdeutschland, Deutsch-land und Europa. Zur weiteren Bilanz der letzten zehn Jahre gehörtauch der Bereich des Gesundheitswesens. Kureinrich-tungen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Behinder-ten- und Sozialstationen sind durch gewaltige Investitio-nen in kurzer Zeit auf den Stand gebracht worden, dermanchmal sogar über den westlichen Standards liegt.Den PDS-Antragstellern rate ich: Besuchen Sie dieseEinrichtungen. Setzen Sie die Brille der Ideologie undPropaganda ab und die Brille der Realität auf! Dann sindwir bereit, mit Ihnen ernsthaft über diese Themen zudiskutieren. Der vorliegende Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion ist ein nachhaltiger und konstruktiverKlaus Brähmig
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Beitrag, den Aufbau Ost voranzutreiben. Dieser musswie bis September 1998 wieder ernsthaft zur Chefsachegemacht werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Werner
Schulz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sei-
nen Redebeitrag zu Protokoll gegeben.*) Damit erteile
ich dem Kollegen Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begehenmorgen den zehnten Jahrestag der ersten freien Wahlenzur Volkskammer der DDR. Ich meine schon, dass diesein guter Anlass ist, einmal eine Generalinventur zu ma-chen und natürlich auch den Blick nach vorn zu richten.Wie weit sind wir beim Aufbau Ost gekommen? Woliegen die Erfolge? Wo liegen noch die Defizite? Die PDS hat dazu eine Große – vor allen Dingen aberauch eine lange – Anfrage gestellt. Die Konsequenzen,die sie daraus ableitend in ihrem Entschließungsantragfordert, können wir allerdings nicht nachvollziehen. DieF.D.P. lehnt den Antrag deshalb ab – nicht weil er vonder PDS kommt, sondern weil wir nicht zur Planwirt-schaft zurückkehren wollen. Dieser Feldversuch ist be-kanntlich gescheitert.
Die klagende PDS-Feststellung, die SPD setze auf diebereits unter der Kohl-Regierung gescheiterte Politik,über den Marktmechanismus zum Erfolg kommen zuwollen, ist falsch. Wenn die Bundesregierung doch nurauf den Mechanismus des Marktes setzen würde, dannhätte sie nämlich längst strukturelle Veränderungen vo-ranbringen und die entsprechenden Rahmenbedingungenfür mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen müs-sen, wie das zum Beispiel Holland und Schweden er-folgreich getan haben. Die F.D.P. jedenfalls will zurück zu einer wirklichkonsequenten sozialen Marktwirtschaft, denn wir habenschon eine halbe Planwirtschaft. Das ist so.Was heißt soziale Marktwirtschaft? – Das bedeutet fai-ren Wettbewerb. Dazu gehören auch gleiche Startchan-cen. Wenn jemand wie die neuen Bundesländer eineschlechte Ausgangsbasis hat, ist es nur fair, dass manihm einen vollen Ausgleich gewährt und nicht bei derHälfte aufhört.
Aber statt eine Nettoentlastung zu gewähren, die schonzu unserer Zeit überfällig war – das muss man fairerwei-se sagen –, hat die rot-grüne Regierung das Handwerk ______*) Anlage 5und den Mittelstand mit dem so genannten Steuerentlas-tungsgesetz zusätzlich belastet.
Natürlich tut das den ostdeutschen Betrieben, die nurüber geringes Eigenkapital verfügen, besonders weh.Das so genannte Ökosteuergesetz hat eine ähnlicheWirkung. Höhere Spritpreise sollen dafür sorgen, dassweniger gefahren wird. Das ist völlig realitätsfremd. Diemeisten Autofahrer sind auf ihr Auto angewiesen, umzur Arbeit zu kommen oder um Kunden zu besuchen.Das gilt in verstärktem Maße für die neuen Bundeslän-der mit ihren zahlreichen leider noch notwendigenWestpendlern. Auch die Transportunternehmen sind inGefahr. Die Nachteile, die sie gegenüber ihren ausländi-schen Konkurrenten haben, verschärfen sich durch dieÖkosteuer deutlich.
Wenn der Gewinn gegen null geht und man wie die ost-deutschen Spediteure über wenig Kapital verfügt, kannman beim besten Willen nicht mehr in eine umwelt-freundliche Fahrzeugtechnik investieren. Sie haben si-cherlich auch die Briefe erhalten; das ist nachgerechnetworden.Die geplante Unternehmensteuerreform ist eben-falls für den noch nicht stabilisierten Mittelstand in Ost-deutschland eine besondere Härte. Statt die kleinen undmittleren Betriebe, also diejenigen, die die Arbeitsplätzebringen, zuerst zu entlasten, können ausgerechnet diegroßen ab 2001 mit einer Senkung der Körperschafts-teuer auf 37 Prozent rechnen. Der Spitzensteuersatz derEinkommensteuer für Personengesellschaften, also diekleinen und mittleren Unternehmen, soll nur auf45 Prozent sinken, und das erst ab 2005. Wir brauchenjetzt Arbeitsplätze.
Das Argument, man könne für die Körperschaftsteuer„optieren“ – was das schon für ein Wort ist! –, könnenSie vergessen. Heißer Tipp: Nehmen Sie unser Steuer-gesetz! Oskar passt ja nicht mehr auf, Oskar Lafontaineist ja weg.
Weil wir gerade bei F.D.P.-Modellen und Hilfe fürBenachteiligte sind: Damit der Aufbau Ost den neuennotwendigen Schub erhält, prüfen Sie doch einmal unse-ren alten, trotzdem noch richtigen Vorschlag einer Nied-rigsteuer für benachteiligte Regionen, wenn Sie sieschon nicht in ganz Deutschland einführen.
Um bei den strukturschwachen Regionen zu bleiben,was unser gemeinsames Hauptproblem ist: Der Inno-Regio-Wettbewerb war eine gute Idee von Ihnen. Das istso. Hier möchte ich nur dringend darum bitten, dassauch diejenigen, die nicht zu den Wettbewerbssiegerngehört haben, noch eine Chance bekommen.Klaus Brähmig
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8660 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000
Da wir bei neuen Wegen sind, komme ich zumBündnis für Arbeit: Warum baut man hier von vorn-herein unsinnige Tabus auf? Es ist doch ganz klar, dasshierbei die Lohnentwicklung und die Lehrlingsentgeltenicht ausgeblendet werden können, denn wichtig ist,dass diese Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze entste-hen. Warum, Herr Staatsminister Schwanitz, sprechenSie nicht in der Arbeitsgruppe Aufbau Ost über Öff-nungsklauseln in Tarifverträgen? Wir brauchen eindeu-tig Betriebsvereinbarungen, um Arbeitsplätze zu schaf-fen und zu erhalten.
Noch etwas muss ich fragen: Wo bleibt das Stabilisie-rungskonzept für den ostdeutschen Braunkohleverstro-mer Veag? – Ist der Wirtschaftsminister da? – Nein. DieBundesregierung hat die Moderatorenrolle übernommen.Jetzt kann sie den Prozess nicht einfach so laufen lassen.Das wäre der sichere Tod der Veag, die an sich guteChancen hat, ein guter Wettbewerber zu werden, wennsie denn die Durststrecke von fünf Jahren übersteht.Es muss beim Ausbau Ost endlich gehandelt werden.Das heißt, die Bundesregierung braucht nur ihre Ver-sprechungen einzuhalten und wahr zu machen.Vielen Dank.
Ich erteile Kollegen
Dr. Peter Eckardt, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Schwanitz muss janicht zu allem reden.Die Große Anfrage der PDS wird von manchen miss-braucht, um auf die Sächsische Schweiz hinzuweisenoder über die Ökosteuer zu meckern. Ich versuche michauf die Große Anfrage zu konzentrieren. Ich habe Verständnis, dass die PDS-Kolleginnen und-Kollegen versuchen, sich als alleinige Vertreterinnenund Vertreter Ostdeutschlands zu definieren
und sich über die Vertretung vermuteter Interessen derBürgerinnen und Bürger der neuen Länder öffentlichdarzustellen. Der Text der Großen Anfrage zeigt aber: Es geht derPDS offensichtlich ausschließlich um die eigene Profi-lierung und nicht um den ernsthaften Versuch, die in derTat vorhandenen Probleme der neuen Länder zu bewäl-tigen.
Zu den 133 Fragen der Großen Anfrage „Zur Entwick-lung und zur Situation in Ostdeutschland“ hat die PDSschon die Antworten bereit, noch ehe sie von der Regie-rung überhaupt beantwortet wurden. Die Einschätzung der Fragesteller der Großen Anfra-ge scheint klar zu sein: Die ehemalige DDR sei ein Landmit hoher sozialer Sicherheit gewesen.
– An dieser Stelle habe ich eigentlich Beifall von derPDS erwartet. Ihren Bürgern seien ab 1990 altbundes-deutsche Strukturen übergestülpt worden. Danach sei esim Osten wesentlich schlechter geworden. PersönlicheFreiheiten, ein reichhaltiges Warenangebot und Reise-möglichkeiten gebe es zwar jetzt, dafür sei aber eine ei-genständige wirtschaftliche und soziale ErneuerungOstdeutschlands verhindert worden. Mein Gedächtnistäuscht mich nicht: Gerade diese Entwicklung hat dieMehrheit der Bevölkerung in der ehemaligen DDR Endeder 80er-Jahre im Gegensatz zur PDS gewollt. Dort wardamals weder eine wirtschaftliche und soziale Basisnoch eine Mehrheit für die von der PDS in der Anfragegewünschten Experimente zu finden.Auch mit Zehnjahresprogrammen zur Förderung vonArbeit und Ausbildung lässt sich das Tempo der Verän-derungen im Jahr 2000 nicht mehr erreichen. Sie würdezwar Unverbesserlichen Sicherheit vorgaukeln, aberkeine konkreten Erfolge erzielen. Dazu passt natürlichauch die Ideologie dieser Großen Anfrage, wenn diePDS die Politik der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung von1990 bis 1998 mit den ehrlichen Bemühungen der neuenRegierung, in der Entwicklung der neuen Länder Illusi-onen und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, poli-tisch gleichsetzt. Wer die Bemühungen von Rolf Schwanitz seit 1998verfolgt hat, muss feststellen: Im Kanzleramt wird jetztendlich weniger Public Relations und mehr konkreteArbeit
– da kann man nur lachen? – mithilfe besserer Analysenund wirkungsvollerer Programme gemacht.
Diese politischen Aktivitäten werden den weiteren wirt-schaftlichen Aufbau stabilisieren und den weiteren Er-folg sicherstellen. Die Entwicklung in Ostdeutschland ist noch nicht amZiel angekommen; denn die neuen Länder sind nichthomogen entwickelt, wenn man zum Beispiel dieGrenzgebiete zu Polen und Tschechien mit den ehemali-gen Grenzgebieten zur alten Bundesrepublik vergleicht.Es gibt auch keine homogene wirtschaftliche Entwick-lung in den neuen Ländern und keine einheitliche Ge-sellschaft. Sie hat es auch vor 1990 nicht gegeben. Aberdie Hierarchien haben sich im Gegensatz zur PDS-Meinung nach 1990 eher abgeflacht und gleichen immermehr der westdeutschen Struktur. Ich habe als Abgeordneter von 1990 bis 1994, dersein ganzes bisheriges Leben nahe an der innerdeutschenGrenze gewohnt hat, als Bürger von 1994 bis 1998 undjetzt wieder als Abgeordneter die Entwicklung in denJürgen Türk
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neuen Ländern zwar nicht von innen, aber aus der Nähegut beobachten können. Die Nähe zur ehemaligen Gren-ze ist für einen Westdeutschen ein guter Seismographfür die Beurteilung der deutschen Befindlichkeit aufbeiden Seiten. Als ich am 22. November 1989 zum ersten Mal imheutigen Sachsen-Anhalt war, sah ich mit bloßem Auge:In der ehemaligen DDR gab es nicht nur einige Fehl-entwicklungen oder Verwerfungen; vielmehr war ihrFundament brüchig. Fast alles war zerstört und morsch.Es mussten eben nicht nur Fenster ausgewechselt undeine neue Heizungsanlagen installiert werden. In Qued-linburg gab es 1989 mehr Trümmer als zerstörte Häuserim Jahre 1945 in anderen Kleinstädten. Die Zustände inden Kasernen der NVA und der Westtruppen, in denFeierabendheimen und in den Häusern zur Unterbrin-gung von Behinderten waren für mich ein Schock mitbleibender Wirkung.Trotz berechtigter Kritik an Fehlern und Fehlentwick-lungen in Ostdeutschland kann man aber 1999 feststel-len: Wenn ich heute über die ehemalige Grenze nachSachsen-Anhalt fahre, kann ich von dem Zerrbild, dashinter den Fragen der Großen Anfrage steht, fast nichtsmehr sehen. Fortschritte halten sich mit Mängeln, dieausschließlich vor der Wende – nicht nach der Wende –entstanden sind, die Waage. 1990 gab es nach meiner festen Überzeugung keineBasis für eine experimentelle gesellschaftliche Umorien-tierung, von der Westdeutschland hätte lernen können.Die Feststellung der PDS, man müsse heute von einemneoliberalen Offenbarungseid der westdeutschen Politiksprechen, geht an den Erfolgen dieser Politik, die eszweifellos gegeben hat, haarscharf vorbei.
Herr Kollege, ich
darf Sie einen Augenblick unterbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns hat
einmal kurz vor einer namentlichen Abstimmung gere-
det. Das ist für den Redner sehr schwierig. Ich bitte um
ein bisschen Fairness. Hören Sie dem Redner zu! Er hat
etwas Interessantes oder – aus anderer Sicht – nicht Inte-
ressantes zu berichten. Ich bin der Auffassung, wir soll-
ten zuhören, auch im Hinblick darauf, dass noch eine
weitere Kollegin sprechen wird. Ich bitte Sie herzlich
um ein bisschen Freundschaft gegenüber demjenigen,
der redet.
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Danke schön. Ich bitte,
das vor allem auf meine Kollegin Katherina Reiche, die
nach mir sprechen wird, auszudehnen.
– Ja, natürlich. Ich denke, eine Solidarität mit Personen
muss erlaubt sein. Diese kommt auch aus Überzeugung.
Lediglich fünf Fragen beschäftigen sich mit Bildung
und Wissenschaft als einem wichtigen Thema für die
neuen Länder. Im Gegensatz zu dem, was die Große An-
frage unterstellt, ist Tatsache: Die Dichte an Forschung
und Entwicklung ist in Ost und West gleich geworden,
die Wissenschaftler-Eingliederungs-Programme haben
bei den Leistungsbereiten ihren Zweck erfüllt, innovati-
ve Forschungsprojekte sind finanziell gut ausgestattet
und gerade diese Bundesregierung versucht, Frauen
stärker in Berufsausbildung und Wissenschaft ein-
zubeziehen.
Fakt ist aber auch: Die Qualifizierung und Aufstiegs-
chancen von Frauen sind landesweit leider unbefriedi-
gend, nicht nur in Ostdeutschland. Ich vermisse jeden
Hinweis auf die erfolgreiche Arbeit von wissenschaftli-
chen Gesellschaften und anderen wissenschaftlichen In-
stitutionen in Ostdeutschland. Ich vermisse auch einen
positiven Hinweis auf das Programm gegen Jugendar-
beitslosigkeit. Natürlich wären betriebliche Ausbil-
dungsplätze besser, aber als Alternative bliebe nur der
Weg in die Arbeitslosigkeit.
Zusammengefasst: Eine eigenständige wirtschaftli-
che, soziale und politische Erneuerung Ostdeutschlands
wird es nur zusammen mit den alten Bundesländern ge-
ben. Und sie wird stattfinden, langsam und mit Geduld.
Wir werden daran arbeiten.
Danke schön.
Zum Abschluss der
Aussprache erteile ich der Kollegin Katherina Reiche
das Wort und wiederhole meine Bitte, ihr doch zuzuhö-
ren.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Anlass der heutigen Debattezur Situation in den neuen Ländern ist eine Große An-frage der Fraktion der PDS. Der überwiegende Teil derDebatte beschäftigt sich mit der Antwort der Bundesre-gierung. Diese Antwort ist überwiegend zutreffend, abereine emotionslose Beschreibung der Situation. Es ent-steht der Eindruck, dass der Erfolg des Aufbau Ost inMetern verlegter Telefonleitungen zu messen sei. Bei aller notwendigen Diskussion über die Antwortder Bundesregierung – wir haben dazu auch einen Ent-schließungsantrag eingebracht – dürfen die Fragen derPDS, ihre Formulierungen und die darin enthaltenenTendenzen heute nicht unerwähnt bleiben. Die PDS hatversucht, die Große Anfrage auf fast alle Lebensberei-che der neuen Länder auszurichten. Die PDS hat in derTat eine große Detailfreude an den Tag gelegt. Mir fal-len aber auch die bewussten Auslassungen und Verkür-zungen auf. Dr. Peter Eckardt
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Welche Fragen hat die PDS nicht gestellt? MeineDamen und Herren von der PDS: Wo ist Ihre Frage nachdem Zustand der historisch wertvollen Stadtteile vonPotsdam oder Görlitz, die dem Verfall preisgegeben wa-ren?
Wo ist Ihre Frage nach der Lebenssituation der älterenGeneration und nach deren so erheblich verbesserterwirtschaftlicher Lage? Wo ist die Frage nach der heuti-gen Situation der Kriegsopfer und Kriegswitwen, für diees im DDR-Rentensystem nicht einmal Platz gab?
Ich vermisse Ihre Fragen zum Quantensprung in den so-zialen Standards und in der Gesundheitsversorgung. Siehätten einmal nach der Anzahl der Dialyseautomatenoder der medizinisch-technischer Geräte fragen sollen.Warum haben Sie nicht nach der Entwicklung einesökologischen Bewusstseins in den neuen Ländern ge-fragt, da Umweltschutz in der DDR doch ein Tabuthemawar?
Meine Damen und Herren von der PDS, ich will Ih-nen nicht unterstellen, dass Sie diese Fragen aus Ver-gesslichkeit nicht gestellt haben. Sie wollten sie nichtstellen! Sie wollten die letzten zehn Jahre des Trans-formationsprozesses als einen großen Misserfolg dar-stellen, gepaart mit einem gebetsmühlenartig aufgebau-ten Mythos der Enteignung des ostdeutschen Volksei-gentums. Dabei kann man ohne Übertreibung von einemTransformationswunder sprechen. Sie wollen zehn JahreAusbau und Aufbau der neuen Länder schlechter ausse-hen lassen, als sie es verdient haben. Warum machen Siedas? Erstens, weil dieses Schüren von Unzufriedenheit undZukunftsängsten ihr politisches Überleben sichert.
Zweitens, weil Ihren Chefideologen bis auf den heutigenTag der Systemwechsel vom Staatssozialismus zur sozi-alen Marktwirtschaft ein Dorn im Auge ist. Sie habendadurch nämlich Ihre Allmacht verloren.
Was erhoffen Sie sich davon? Sie fördern damit eineSurvival-Mentalität gemäß dem Motto: Wir haben denSozialismusversuch überstanden, jetzt werden wir auchden Kapitalismus überleben. So schaffen Sie gezielt Dis-tanz zur Demokratie, wo Engagement und Partizipationfür eine bürgerliche Gesellschaft gefordert wären. Umsoverlogener finde ich deshalb die Krokodilstränen derPDS, die sie in ihrer Anfrage über die mangelnde Ak-zeptanz der parlamentarischen Demokratie in den neuenLändern vergießt. Sie schürt diese Attitüde und lebt vonihr; das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
Ich hatte heute Morgen Besuch von einer Gruppeamerikanischer Studenten, die kurz davor auch mit Ver-tretern der PDS zusammengekommen waren. Die PDS-Vertreter hatten sich den Studenten als „Partei des Os-tens“ vorgestellt. Meine Damen und Herren von derPDS, das sind Sie nicht.
Wenn dem so wäre, würden Sie nicht krampfhaft versu-chen, durch das Aufsammeln versprengter K-Grupplerund verschreckter Fundigrünen im Westen Fuß zu fas-sen.
Ihnen geht es darum, durch Ihr großes, aber schrump-fendes Potenzial im Osten Einfluss auf die Bundespoli-tik zu gewinnen. Gelänge Ihnen dies, bekämen wir, wasman in Ihrem heutigen Entschließungsantrag lesen kann:eine Rückkehr zur Planwirtschaft, diesmal basierend aufZehnjahresplänen. Die Anknüpfung an sozialistischeZeiten wird dort sogar noch deutlicher als bei der immerwieder vom stellvertretenden Ministerpräsidenten vonMecklenburg-Vorpommern, Herrn Holter, geforderten„Systemopposition“.Wenn ich die Qualität der Fragen und Antwortender Großen Anfrage vergleiche, wird für mich offen-sichtlich, wer sich, wenn auch ungenügend, um denAufbau Ost bemüht und wer nur sein ideologischesSpielchen treibt. Meine Damen und Herren von derSPD, es ist mir deswegen unerklärlich, dass Sie in zweiostdeutschen Ländern mit der PDS kooperieren. Diesbleibt für mich ein unerträglicher Zustand. Das habendie Menschen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern nicht verdient.
Diese Zusammenarbeit belegt Ihre Unfähigkeit zu einergrundsätzlichen Auseinandersetzung mit der PDS. Sieist verwandtschaftlicher Anpassung gewichen.Sicherlich ist bei der Betrachtung der wirtschaftlichenSituation in den neuen Ländern ein Vergleich mit denalten Ländern statthaft und konstruktiv. Das Bild vonder sich öffnenden Schere bei der wirtschaftlichen Ent-wicklung mahnt zum Handeln. Sorgen bereitet mir na-türlich die dünne Kapitaldecke der meisten ostdeutschenUnternehmen, die ein Reagieren bei kritischen Situatio-Katherina Reiche
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nen schwierig macht. Ich finde es auch unverständlich,dass es zehn Jahre nach der Wende Produkte aus denneuen Ländern immer noch schwer haben, auf die Listenwestdeutscher Handelsketten zu gelangen, obwohl siebezüglich Qualität und Preis der westdeutschen Konkur-renz nicht nachstehen. Ich weigere mich jedoch, den Er-folg der letzten zehn Jahre nur an westdeutschen Datenzu messen. Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wie dieMenschen vor zehn Jahren in Ostdeutschland gelebt ha-ben. Die Produktivität lag bei einem Drittel des Westni-veaus, heute liegt sie bei rund 60 Prozent. Der Maschi-nenpark der Industrie war verschlissen, heute ist er mo-derner als im Westen. Über Telekommunikation undVerkehrswege wurde bereits gesprochen. Ermutigend istauch der Vergleich mit den Staaten Osteuropas. Kurz gesagt: Gemessen an der Ausgangslage ist derAufbauprozess in den neuen Ländern eine Erfolgsge-schichte ohne Beispiel. Außerdem bin ich davon über-zeugt, dass der immense wirtschaftliche, gesellschaftli-che und soziale Umbruch, den die Menschen in denneuen Ländern in den vergangenen Jahren erlebt undauch gestaltet haben, ihnen bei den anstehenden Trans-formationsprozessen im Zusammenhang mit der Globa-lisierung durchaus hilfreich sein werden. Dies wird sichin Zukunft als ein „Vorteil Ost“ erweisen.Wir sind uns allen im Klaren, dass die Erfolgsge-schichte Aufbau Ost nicht ohne Probleme abgelaufen ist.Es gab Fehlentwicklungen, Sackgassen und Umwege.Eine orientalische Weisheit besagt: Der Weg entstehtbeim Gehen. Der Aufbau Ost wird auch in Zukunft nochüberraschende Entwicklungen parat haben. Die Politikfährt deshalb am besten, wenn sie bestimmte Gesetzmä-ßigkeiten der Ökonomie respektiert. Die Bundesregie-rung glaubt oft, diese aushebeln oder ungestraft ignorie-ren zu können. Der vergebliche Versuch, dies zu tun unddabei letztlich immer wieder auf den Staat als ökonomi-schen Gestalter zurückzugreifen, hat die alte Bundesre-publik schon in den 70-er Jahren zurückgeworfen.Wir fordern die Bundesregierung auf, sich in derWirtschaftspolitik auf die Verbesserung der Rahmenbe-dingungen zu beschränken. Dazu gehört eine Steuerre-form, die diesen Namen verdient und im Osten für neueImpulse auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Der Siebenpunkte-plan unseres Antrages weist dafür den Weg. StimmenSie für Ihn!
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa-
che 14/2930. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-
che 14/2921. Die Fraktion der PDS verlangt namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich habe das von den Schriftführern und Schriftführe-
rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den Entschließungsantrag der PDS zur Gro-
ßen Anfrage zur Entwicklung und zur Situation in Ost-
deutschland auf Drucksache 14/2921 bekannt zu geben.
Abgegebene Stimmen 549. Mit Ja haben gestimmt 30,
mit Nein haben gestimmt 519, Enthaltungen keine.*) Die
Abstimmungsliste lag bei Redaktionsschluss noch nicht
vor. Sie wird als Ablage zum Stenographischen Bericht
der 94. Sitzung abgedruckt. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 22. März 2000, 13 Uhr ein.
Morgen findet, wie Sie wissen, um 9 Uhr die Sonder-
veranstaltung des Deutschen Bundestages aus Anlass
des 10. Jahrestages der freien Wahlen zur Volkskammer
der DDR statt.
Die Sitzung ist geschlossen.