Protokoll:
14093

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 93

  • date_rangeDatum: 16. März 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:01 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/93 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 93. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 I n h a l t : Begrüßung des Präsidenten der Saeima der Republik Lettland, Herrn Jãnis Straume, und seiner Delegation ..................................... 8553 A Dank an die Mitarbeiter des Bundesgrenz- schutzes und der Bundeswehr für die Arbeit in Mosambik ....................................................... 8553 C Gedenken an die Toten der Hochwasserkata- strophe in Mosambik ........................................ 8553 C Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Rainer Jork, Albrecht Feibel, Horst Schmidbauer (Nürnberg), Heinz Schemken und Dr. Heiner Geißler ............... 8553 D Wahl des Abgeordneten Reinhold Strobl (Amberg) zum Schriftführer .................... ...... 8553 D Erweiterung der Tagesordnung ....................... 8554 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen ........ 8554 D Tagesordnungspunkt 4: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Aktionsplan der Bundesregie- rung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (Drucksache 14/2812) .. 8555 C b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hanna Wolf (München), Lilo Friedrich (Mettmann), weiteren Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Auslän- dergesetzes (Drucksachen 14/2368, 14/2902) ........ 8555 C Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ .......................................................... 8555 D Ilse Falk CDU/CSU ......................................... 8557 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN......................................................... 8560 B Ina Lenke F.D.P. ............................................. 8562 B Petra Bläss PDS ............................................... 8563 C Ulla Schmidt (Aachen) SPD ........................... 8564 D Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ........................ 8566 C Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 8569 B Hanna Wolf (München) SPD .......................... 8570 B Erwin Marschewski CDU/CSU ................... 8571 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 8571 D Dr. Max Stadler F.D.P. .................................... 8572 B Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ ................................................................. 8573 A Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski (Reckling- hausen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Modernes europä- isches Asyl- und Ausländerrecht (Drucksache 14/2695) ................................ 8575 B Wolfgang Bosbach CDU/CSU ........................ 8575 C Rüdiger Veit SPD ............................................ 8579 B Erwin Marschewski CDU/CSU ................... 8580 C Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU .................... 8581 A II Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. ........................ 8581 D Dieter Wiefelspütz SPD .............................. 8583 A Rüdiger Veit SPD ....................................... 8584 A Sebastian Edathy SPD ................................ 8584 C Erwin Marschewski CDU/CSU .................. 8585 C Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 8586 B Ulla Jelpke PDS .............................................. 8588 A Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staats- sekretärin BMI ................................................ 8589 D Erwin Marschewski CDU/CSU .................. 8590 C Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU ....................................................... 8591 C Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ................... 8591 D Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU (zur GO) .......................................................... 8592 C Dr. Angelica Schwall-Düren SPD (zur GO) .......................................................... 8592 D Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU ..................... 8593 A Meinrad Belle CDU/CSU ........................... 8594 A Dieter Wiefelspütz SPD .............................. 8594 D Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 8595 C Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ....................... 8597 A Sebastian Edathy SPD .................................... 8598 B Erwin Marschewski CDU/CSU .................. 8598 D Tagesordnungspunkt 12: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes (Drucksache 14/2636) ......................... 8601 A b) Antrag der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Strukturelle Erneuerung der Aus- bildungsförderung (Drucksache 14/2789) ......................... 8601 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 12) a) Erste Beratung des von der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Umsetzung einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung (Drucksache 14/2903) . 8601 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion PDS: Be- steuerung der Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit (Drucksache 14/2912) .......................... 8601 C c) Erste Beratung des von der Fraktion CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknapp- schaft und See-Krankenkasse (Drucksache 14/2904) .......................... 8601 C d) Antrag der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer (Karlsru- he), weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Frakti- on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Modernisierung der Ausbil- dungsförderung für Studierende (Drucksache 14/2905) .......................... 8601 C Tagesordnungspunkt 13: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Geltungsdau- er des Internationalen Kaffee-Über- einkommens von 1994 (Drucksachen 14/2125,14/2744) .......... 8601 D b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Kör- perschaftsteuer- und Gewerbesteu- ergesetzes (Drucksachen 14/1520, 14/2780) ......... 8602 A c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des In- vestitionszulagengesetzes 1999 (Drucksache 14/2270, 14/2818) ........... 8602 A d) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses : Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 14/2779) .......................... 8602 B Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 III Zusatztagesordnungspunkt 3: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 13) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzes aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Ände- rung der Handwerksordnung und ande- rer handwerksrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 14/2809, 14/2922) .............. 8602 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Kritische Bewer- tung der Umweltpolitik der Bundes- regierung durch den Umwelt- Sachverständigenrat ............................... 8602 D Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ........................... 8602 D Ulrike Mehl SPD ............................................ 8603 D Birgit Homburger F.D.P. ................................ 8604 D Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 8606 A Eva Bulling-Schröter PDS .............................. 8607 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ............. 8608 B Dr. Christian Ruck CDU/CSU ........................ 8610 B Marion Caspers-Merk SPD ............................. 8611 C Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ......................... 8613 A Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ................................................................ 8614 C Vera Lengsfeld CDU/CSU ............................. 8616 A Monika Ganseforth SPD ................................. 8617 D Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ........................... 8618 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD .................. 8620 A Tagesordnungspunkt 6: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- schließungsantrag der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum bevorste- henden Europäischen Rat in Helsin- ki am 10./11. Dezember 1999 (Drucksachen 14/2279, 14/2757) .......... 8621 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- schließungsantrag der Fraktion PDS zu der Regierungserklärung des Bun- deskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 (Drucksachen 14/2289, 14/2756) .......... 8621 B Rudolf Bindig SPD ......................................... 8621 C Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU ............ 8623 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ................................................................ 8624 B Ulrich Irmer F.D.P. ......................................... 8625 B Wolfgang Gehrcke PDS .................................. 8626 D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ............. 8627 D Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD ................ 8629 A Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ..................... 8630 C Joseph Fischer, Bundesminister AA ............... 8631 C Absetzung der Tagesordnungspunkte 8 und 10 ........................................................... 8633 A Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Norbert Otto (Erfurt), Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Weiterbau des Verkehrsprojektes Deut- sche Einheit (VDE) Nr. 8 – Schienen- neubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/ Leipzig–Berlin (Drucksache 14/2692) ................................ 8633 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Angelika Mer- tens, Hans-Günter Bruckmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt (Hitzho- fen) Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN. Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/ Nordbayern im Rahmen des Verkehrs- projektes Deutsche Einheit (VDE) Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg–Er- furt–Halle/Leipzig–Berlin (Drucksache 14/2906) ................................ 8633 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion F.D.P.: Ja zur Schienenneubaustrecke Nürnberg–Er- furt–Halle/ Leipzig–Berlin (Drucksache 14/2914) ................................ 8633 C in Verbindung mit IV Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion PDS: Flächen- hafter Ausbau der Schienenwege im Be- reich Nordbayern, Hessen, Thüringen und Sachsen (Drucksache 14/2525) ............................... 8633 C Norbert Otto (Erfurt) CDU/CSU .................... 8633 D Wieland Sorge SPD ........................................ 8634 C Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ................................................ 8635 D Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. ................... 8637 A Dr. Winfried Wolf PDS .................................. 8637 D Renate Blank CDU/CSU ................................ 8638 C Reinhard Klimmt, Bundesminister BMVBW . 8640 A Tagesordnungspunkt 8: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates über die freiwillige Beteili- gung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Um- weltmanagement und die Umweltbe- triebsprüfung (Drucksachen 14/488 Nr. 2.58, 14/1131) ............................... 8641 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Erhöhung der Attraktivität des freiwilligen Umweltaudits durch Deregulierung (Drucksachen 14/570, 14/2030) ........... 8641 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umweltcontrol- ling und Umweltmanagement in Bun- desbehörden und Liegenschaften (Drucksache 14/2907) ............................... 8641 B Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion F.D.P.: Abschaffung der Arbeitserlaubnis- pflicht (Drucksachen 14/1335, 14/2840) ... 8641 B Dirk Niebel F.D.P. .......................................... 8641 C Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 8643 B Dirk Niebel F.D.P. .......................................... 8643 C Leyla Onur SPD .............................................. 8643 D Dirk Niebel F.D.P. .......................................... 8645 B Leyla Onur SPD .............................................. 8646 A Franz Romer CDU/CSU .................................. 8646 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ................................................................ 8647 D Dr. Klaus Grehn PDS ...................................... 8649 D Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMA .......... 8650 C Heinz Schemken CDU/CSU ........................... 8652 A Tagesordnungspunkt 11: Große Anfrage der Fraktion PDS: Zur Entwicklung und zur Situation in Ost- deutschland (Drucksachen 14/860, 14/2622) ................. 8653 D Dr. Gregor Gysi PDS ...................................... 8653 D Dr. Mathias Schubert SPD .............................. 8655 D Klaus Brähmig CDU/CSU .............................. 8657 B Jürgen Türk F.D.P. .......................................... 8659 A Dr. Peter Eckardt SPD ..................................... 8660 B Katherina Reiche CDU/CSU ........................... 8661 D Namentliche Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der PDS-Fraktion ............... 8663 C Ergebnis .......................................................... 8663 C Nächste Sitzung ............................................... 8663 D Berichtigung .................................................... 8664 A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten ........... 8665 A Anlage 2 Rentenüberweisungen auf die persönlichen Konten der Versicherten statt über die Post- bank Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 V MdlAnfr 38, 39 Heinz Schemken CDU/CSU Antw PStSekr Gerd Andres BMA .................. 8665 D Anlage 3 Mehrausgaben für die Arbeitslosenversiche- rung durch das Bundesverfassungsgerichtsur- teil zum Arbeitslosengeldanspruch von Grenz- gängern MdlAnfr 40 Thomas Strobl CDU/CSU Antw PStSekr Gerd Andres BMA ................... 8666 B Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Jelpke (PDS) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes – Drucksache 14/2368 (Tagesordnungspunkt 4 b) ............................... 8666 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Großen Anfrage „Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland“ (Tagesordnungs- punkt 11) Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ......................................................... 8667 C Anlage 6 Amtliche Mitteilungen .................................... 8669 A Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8553 (A) (B) (C) (D) 93. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 Beginn: 9.00 Uhr
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    __________ *) Die Abstimmungsliste lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Sie wird als Anlage zum Stenographischen Bericht der 94. Sitzung abgedruckt. Katherina Reiche 8664 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 (A) (B) (C) (D) Berichtigung 92. Sitzung. Seite 8546 B: Zwischen der Zei- le 7 und 8 ist „Kröning, Volker SPD 15.03.2000*“ einfügen. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8665 (A) (B) (C) (D) Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Beer, Angelika BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Bohl, Friedrich CDU/CSU 16.03.2000 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 16.03.2000 Carstensen (Nordstrand), Peter H. CDU/CSU 16.03.2000 Dreßler, Rudolf SPD 16.03.2000 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 16.03.2000 Freitag, Dagmar SPD 16.03.2000 Frick, Gisela F.D.P. 16.03.2000 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 16.03.2000 Gebhardt, Fred PDS 16.03.2000 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 16.03.2000 Goldmann, Hans-Michael F.D.P. 16.03.2000 Hermenau, Antje BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Hinsken, Ernst CDU/CSU 16.03.2000 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Ibrügger, Lothar SPD 16.03.2000 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 16.03.2000 Mascher, Ulrike SPD 16.03.2000 Matschie, Christoph SPD 16.03.2000 Dr. Meyer (Ulm), Jürgen SPD 16.03.2000 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 16.03.2000 Müller (Berlin), Manfred PDS 16.03.2000 Müller (Kiel), Klaus Wolfgang BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Ohl, Eckhard SPD 16.03.2000 Probst, Simone BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.03.2000 Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Röspel, René SPD 16.03.2000 Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 16.03.2000 Dr. Scheer, Hermann SPD 16.03.2000 Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 16.03.2000 Schlee, Dietmar CDU/CSU 16.03.2000 Schmitz (Baesweiler), Hans Peter CDU/CSU 16.03.2000 Schösser, Fritz SPD 16.03.2000 Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 16.03.2000 Schultz (Everswinkel), Reinhard SPD 16.03.2000 Steen, Antje-Marie SPD 16.03.2000 Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 16.03.2000 Thönnes, Franz SPD 16.03.2000 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 16.03.2000 Dr. Westerwelle, Guido F.D.P. 16.03.2000 Wieczorek (Duisburg), Helmut SPD 16.03.2000 Willner, Gert CDU/CSU 16.03.2000 Wissmann, Matthias CDU/CSU 16.03.2000 Wolf, Aribert CDU/CSU 16.03.2000 Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Fragen des Abgeordneten Heinz Schemken (CDU/CSU) (Druck- sache 14/2877, Fragen 38 und 39): Warum überweisen die Rentenversicherungsträger die Ren-ten an die Versicherten über die Postbank? Sehen die Rentenversicherungsträger durch eine unmittelba-re Überweisung der Renten auf das jeweilige Konto des einzel-nen Versicherten die Möglichkeit von Zinseinsparungen und damit einer Reduzierung der Verwaltungsaufgaben? Zu Frage 38: Die Auszahlung der Renten ist kraft Gesetzes Aufga- be der Deutschen Post AG. Die Deutsche Post AG han- delt insoweit im Rahmen eines gesetzlichen Auftrags für die Träger der Rentenversicherung. Die Deutsche Post- bank AG ist eine Tochter der Deutschen Post AG und nimmt für diese die Funktion einer „Hausbank“ wahr. Die Deutsche Postbank AG übernimmt dabei die Bünde- lung der Zahlströme sowohl bei den Überweisungen als auch bei den Rückflüssen (z.B. bei Kontenwechsel oder 8666 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 (A) (B) (C) (D) Überzahlungen wegen Todes). So kann ein Massenzahl- verfahren von monatlich mehr als 23 Millionen Über- weisungen – auch unter EDV-Gesichtspunkten – effi- zient und kostengünstig abgewickelt werden. Die Deut- sche Post AG stellt dabei auch die Zahlung an Empfän- ger ohne Bankverbindung durch spezielle Zahlverfahren (Zahlungsanweisungen) sicher. Zu Frage 39: Die Deutsche Postbank AG reicht die ihr von den Rentenversicherungsträgern zur Verfügung gestellte Va- luta für die Rentenzahlungen stets taggleich, – und zwar innerhalb von Stunden – an die Empfängerbanken wei- ter. Dies gilt in der weit überwiegenden Zahl der Fälle im Übrigen auch für die Weiterbuchung der Valuta durch die Empfängerbanken auf den Konten der Rent- ner, etwas anderes gilt lediglich für kleinere Banken, die nur in mehreren Zwischenstationen erreicht werden können. Eine unmittelbare Überweisung der Renten durch die Träger der Rentenversicherung wäre daher in- soweit weder für die Träger noch für die Rentner mit Zinsgewinnen verbunden. Bei den Verwaltungskosten ist zu berücksichtigen, dass die erforderlichen Synergie- Effekte nur dann erzielt werden können, wenn die Aus- zahlung der Renten trägerübergreifend erfolgt. Im Rah- men der Diskussion um die Organisationsreform in der Rentenversicherung steht auch die Durchführung des Rentenzahlverfahrens auf dem Prüfstand. In diesem Zu- sammenhang wird die Bundesregierung insbesondere prüfen, ob durch eine Änderung des Rentenzahlverfah- rens Zinsgewinne oder eine Reduzierung der Verwal- tungsaufgaben erreicht werden können. Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Frage des Abgeordneten Thomas Strobl (CDU/CSU) (Drucksa- che 14/2877, Frage 40): In welcher Höhe rechnet die Bundesregierung mit Mehraus-gaben für die Arbeitslosenversicherung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 809/95) zum Arbeitslosen-geldanspruch von Grenzgängern? Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Dezember 1999 – BvR 809/95 – ist einem im grenznahen Ausland wohnenden Grenzgänger Arbeits- losengeld dann zu bewilligen, wenn dieser der deutschen Arbeitsvermittlung in gleicher Weise zur Verfügung steht wie ein im Inland lebender Arbeitsuchender und auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Diese Rechtslage begünstigt vor allem in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer, die in den östlichen Anrai- nerstaaten Polen und Tschechien wohnen. Inwieweit sie Regelungen der Verordnung (EWG) 1408/71 über die Anwendung der Sozialen Sicherungssysteme auf Wan- derarbeitnehmer überlagert und deshalb auch an den westlichen Grenzen wirkt, wird derzeit noch geprüft. Erst nach Abschluss dieser Prüfung kann beurteilt wer- den, welche Mehrausgaben der Bundesanstalt für Arbeit durch die genannte Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichts entstehen. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ulla Jelpke (PDS) zur Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes – Drucksache 14/2368 (Tagesordnungspunkt 4 b) Ulla Jelpke (PDS): Der Gesetzentwurf bleibt hinter den Maximalforderungen zurück, ist insgesamt – auch nach Einschätzungen von Frauenorganisationen – aber begrüßenswert. Ich stimme der Gesetzesänderung zu, dennoch muss Kritik geübt werden an folgenden Punk- ten: Erstens, Ehebestandszeiten. Die Reduzierung der Ehebestandszeit von vier auf zwei Jahre ist zwar besser als nichts, aber nicht ausreichend und mithin willkürlich. Warum zwei Jahre – warum nicht 16 Monate, ein Jahr oder weniger? Familienpolitisch zählt ein Mensch direkt nach der Heirat als vollwertiges Mitglied dieser Gesell- schaft, mit sämtlichen damit einhergehenden Rechten und Pflichten. Anzustreben wäre ein sofortiges uneinge- schränktes eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehefrau- en und -männer. Hierzu muss allerdings angemerkt werden, dass auch wir in einem Änderungsantrag – Drucksache 14/991 – zum Staatsangehörigkeitsrecht die Reduzierung von vier auf zwei Jahre gefordert haben. Entweder es merkt keine und keiner oder wir müssen das mit pragmatischen Überlegungen der Durchsetzbarkeit begründen. Die Ehe muss im Inland zwei Jahre bestehen. Warum zählt nicht die Bestandszeit im Ausland? Häufig beste- hen Ehen schon längere Zeit im Ausland und gehen in Deutschland in die Brüche. Es ist nicht einzusehen, wa- rum diese Zeiten nicht berücksichtigt werden. Die Ehe muss ununterbrochen im Inland bestehen. Längere dazwischen liegende Aufenthaltszeiten im Aus- land unterbrechen die Zählung ebenso wie eine Tren- nung vom Ehepartner, zum Beispiel aus Gründen der Bedrohung oder der Gewalt. Das heißt, dass eine Frau – seltener ein Mann – die aus Gründen der physischen oder psychischen Bedrohung oder Misshandlung in ihrer Ehe eine Trennung herbeiführt und ein eigenständiges Aufenthaltsrecht beantragt, dieses aber verwehrt be- kommt, entweder ausreisen muss oder zu ihrem Mann bzw. seiner Frau zurückkehren muss. Dann beginnt die Zählung der zwei Jahre wieder von vorne! Zweitens, Sozialhilfebezug. Jetzt ist es so, dass Aus- länderbehörden in Härtefällen, in denen die Frauen auf Sozialhilfe angewiesen sind, die Verlängerung der Auf- enthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt werden kann. Da- nach kann eine Aufenthaltsverlängerung nach § 7 Abs. 2 AuslG versagt und die Frau nach § 46 Abs. 6 ausgewie- sen werden. Bezieht sich beides auf den Bezug von So- zialhilfe. Im Begründungstext des Gesetzentwurfes heißt Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8667 (A) (B) (C) (D) es nun, dass dies nicht zutreffen soll, wenn Kinder der Grund für den Sozialhilfebezug sind. Der Sozialhilfebe- zug darf aber auch in anderen Fällen kein Ausweisungs- grund sein! Drittens, Härtefälle. Die Reduzierung von der „au- ßergewöhnlichen“ zur „besonderen“ Härte ist wichtig, besser wäre aber die Streichung dieses qualifizierten Zu- satzes und lediglich die Anforderung, dass ein Verbleib der betreffenden Person in der Ehe unzumutbar ist, wenn eine „Härte“ vorliegt. Auch die „besondere Härte“ kann noch zu Definitionen führen, die einer schwierigen Be- weislast insbesondere bei psychischer Gewalt führen – wie zum Beispiel den Entzug von Geld oder das Ein- sperren einer Frau. Länderspezifische Ungleichheiten kann es auch hier noch hinsichtlich der Beweisführung geben. Es gibt Länder, in denen Ausländerämter allein die Tatsache, dass eine Frau ins Frauenhaus geht, schon als Beweis akzeptieren, dass sie bedroht oder misshandelt wurde. In anderen Ländern muss eine Anzeige bei der Polizei oder ein ärztliches Gutachten vorliegen. Wichtig wäre hier eine Klarstellung, dass auch den Aussagen von Berate- rinnen und Beratern aus Frauenhäusern und Unterstüt- zungsgruppen Beweiskraft zugestanden wird. Viertens. In der Begründung zu Nr. 2 findet sich auch noch eine kritikwürdige Formulierung. Diese Bestim- mung knüpft die Aufenthaltsberechtigung an den Um- stand, dass „der Ehegatte durch die Rückkehr ins Her- kunftsland ungleich härter getroffen wird als andere Ausländer, die nach kurzen Aufenthaltszeiten Deutsch- land verlassen müssen.“ Was soll das heißen? Auch ab- gelehnte Asylbewerber werden im Herkunftsland unter Umständen äußerst hart von den dortigen Zuständen be- troffen. Warum sollen Eheleute noch härter getroffen werden müssen? Trotzdem ist es wichtig, dass wenigstens dieser Ge- setzentwurf durchkommt. Das ist auch die Meinung der Frauenorganisations-Frauen. Wichtig daran sind die Kürzung der Frist der Ehebestandszeit sowie eine um- fassendere Anerkennung der Härtefallsituation im In- land. Bei Letzterem ist insbesondere die Reduzierung der Anforderung von „außergewöhnlicher” auf „beson- dere“ Härte wichtig. Der Begriff „außergewöhnlich“, der eine schwere Körperverletzung zur Folge haben musste, wie zum Beispiel einen bleibenden Schaden, ein verlorenes Glied oder ähnliche Schrecklichkeiten, war so hoch angesetzt, dass er – je nach Auslegung der Be- hörden – in einigen Bundesländern fast nie zur Anwen- dung kam. Ferner von Bedeutung sind auch die Auswei- tung der Härte auf psychische Misshandlungen und die Berücksichtigung der Kinder. Das Wohl der Kinder in einer Ehe wird berücksichtigt. Wenn sie unter einer Ge- waltsituation leiden, muss das auch berücksichtigt wer- den. Das neue Kinderschaftsrecht sieht aber auch das Recht der Kinder auf den Umgang mit beiden Eltern vor. Sind die Kinder also Deutsche oder werden dem ei- nen Ehegatten bzw. der Ehegattin zugesprochen, kann die andere Person ein Aufenthaltsrecht bekommen, um diesen Umgang zu ermöglichen. Der Bezug von Sozial- hilfe soll dann kein Ausweisungsgrund sein, wenn dies aufgrund der Betreuungsbedürftigkeit von Kindern nötig ist. Dennoch stimme ich der Gesetzesänderung zu, weil sie ein Schritt in die richtige Richtung ist. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Großen Anfrage „Zur Ent- wicklung und zur Situation in Ostdeutschland“ (Tagesordnungspunkt 11) Werner Schulz (Leipzig) (Bündnis 90/Die Grü- nen): Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass wir heute Abend über diese Große Anfrage der PDS debattieren müssen. Wir hätten uns gewünscht, zu einem günstige- ren Zeitpunkt und in einem größeren Zusammenhang die Entwicklung in den neuen Bundesländern zu erörtern. Die PDS jedoch hat es aus durchsichtigen Motiven – damit sie auch etwas zum zehnten Jahrestag der freien Volkskammerwahl beitragen kann – vorgezogen, ge- schäftsordnungsmäßig auf dieser Debatte zu bestehen. Das ist legitim. Gleichwohl ist es kleinkariert und setzt parteitaktische Manöver über die Probleme in unserem Lande. Trotz dieser Differenzen möchte ich der PDS aus- drücklich danken. Wohlgemerkt, nicht für diesen un- glücklichen Debattenzeitpunkt. Vielmehr für die große Fleißarbeit, die hinter dieser Anfrage steckt. Mein Dank rührt unter anderem daher, dass die PDS damit der rot- grünen Regierung noch einmal die Möglichkeit gegeben hat, knapp zehn Jahre Vereinigung Revue passieren zu lassen. Vieles, was in den Antworten der Bundesregie- rung zu lesen ist, findet sich folgerichtig bereits im letz- ten Bericht zum Stand der deutschen Einheit bzw. im Jahreswirtschaftsbericht. Dabei wird aus unserer Sicht dreierlei deutlich: Erstens. In den knapp zehn Jahren seit der Vereini- gung ist vieles erreicht worden, weniger zwar, als die Zweckoptimisten versprochen haben, mehr allerdings als die schlimmsten Pessimisten befürchtet hatten. Dafür gebührt der Dank auch der alten Regierung, die bei aller Kritik in einzelnen Bereichen ihr Möglichstes getan hat. Und ich betone ausdrücklich: Angesichts der historisch einmaligen Umstände dieses Prozesses hätte auch eine rot-grüne Regierung nicht fehlerfrei agieren können. Zweitens. Unbestreitbar hat die Regierung Kohl vor allem ein Kardinalproblem nicht nur nicht gelöst, son- dern aufgrund ihres ideologisch motivierten Glaubens an die Allmacht der Marktwirtschaft teilweise erst herbei- geführt, nämlich die hohe Zahl der Arbeitslosen in den neuen Ländern. Deindustrialisierung und der wirtschaft- liche Strukturwandel in Ostdeutschland waren ange- sichts der sozialistischen Misswirtschaft unvermeidlich. Der Strukturwandel verbessert für die neuen Länder auf mittlere Sicht erheblich die Konkurrenzfähigkeit gegen- über den alten Ländern. Ostdeutschland hat vom Grund- 8668 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 (A) (B) (C) (D) satz her die moderneren Strukturen und damit relativ günstige Zukunftsaussichten. Dies alles kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kohl-Regierung die Entwicklung der Beschäf- tigungsmöglichkeiten massiv überschätzt hat. Anders ausgedrückt: Die so genannte Freisetzung von Arbeits- kräften wurde nicht hinreichend abgefedert bzw. aufge- fangen. Dabei geht es einerseits um die unmittelbaren sozialen bzw. materiellen Probleme der Erwerbslosen, andererseits geht es um gesellschaftliche und kulturelle Fragen (Menschen zweiter Klasse, benachteiligte Ossis etc.), es geht um Dinge wie Selbstwertgefühle, wie Bio- graphien und Ähnliches. Wir erleben daher auch eine zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West, die kulturellen Unterschiede werden nicht weniger, im Ge- genteil erlebt manches eine Wiederbelebung, während gleichzeitig die DDR-Vergangenheit verklärt wird. Drittens. Die neue Bundesregierung hat – sicher auch vor dem Hintergrund der geleerten Kassen – neue kon- zeptionelle Überlegungen angestellt. Im Gegensatz zum ehemaligen Bundeskanzler Kohl, der bei allen Proble- men offenbar ausschließlich auf die Allmacht des „Bim- bes“ vertraut hat und – wie wir vergangene Woche ge- sehen haben – noch immer vertraut, legt die neue Bun- desregierung großen Wert auf ein Gesamtkonzept der ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Entwicklung in den neuen Bundesländern, aber auch für eine gemeinsames Deutschland, in dem der Ost-West- Gegensatz sich zurückentwickelt, in dem schließlich die Differenzen zwischen Sachsen und Westfalen besten- falls vergleichbar sind mit den unterschiedlichen Menta- litäten von Nordlichtern und Bayern. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen verfolgen ein Gesamtkonzept, das sich aus mehreren Bausteinen zusammensetzt: Die Priorität liegt dabei auf der Schaffung und Erhal- tung von Arbeitsplätzen. Wir werden unser Möglichstes tun, um die wirtschaftliche Entwicklung auf gesunde Füße zu stellen. Hoffnung geben die wirtschaftlichen Eckdaten; die Konjunkturaussichten haben sich nach übereinstimmender Auffassung aller Experten deutlich verbessert. Dies gibt Anlass zu gesamtdeutschem Opti- mismus, wenngleich sich die Entwicklung in den neuen Ländern erst mittelfristig verbessern dürfte. Angesichts der Tatsache, dass die wirtschaftlichen Eckdaten (z.B. Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner im Osten nur ca. 60 Prozent des Westens, weniger als 5 Prozent der ge- samtdeutschen Exporte stammen aus den neuen Ländern etc.) in Ostdeutschland noch immer weit schlechter als im Westen, benötigen wir ein rasantes Wachstum, um den Aufholprozess spürbar voran zu bringen. Die Einzelheiten sind im Zukunftsprogramm 2000 niedergelegt; aus Zeitgründen kann und möchte ich an dieser Stelle die Details nicht wiederholen; sie sind Ih- nen bekannt. Wir werden die Rahmenbedingungen für ganz Deutschland wachstums- und beschäftigungsorien- tiert gestalten. Davon werden die neuen Länder profitie- ren. Die Sanierung der Staatsfinanzen, auch eine der Hin- terlassenschaften der Kohl-Regierung, ist für uns eine unabdingbare Voraussetzung für eine dauerhafte finan- zielle Unterstützung Ostdeutschlands auf hohem Niveau. Ein wesentlicher Bestandteil unserer Strategie ist die Erarbeitung einer Nachfolgeregelung für das Föderale Konsolidierungsprogramm. Dies ist eine wichtige Her- ausforderung, die wir bestehen müssen. Dabei ist auch die Opposition aufgefordert, konstruktiv mitzuwirken. Wir alle wissen, dass es dabei in erster Linie um die Fortsetzung der Ostförderung und die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf den Finanzausgleich geht. Aus meiner Sicht sollten wir bei den Beratungen, die im Laufe dieses Jahres stattfinden werden, darauf ach- ten, das wir eine dauerhafte Lösung finden, die auch den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen stand- hält. Ich kann das hier und heute nicht vertiefen, nur so viel: Angesichts der Globalisierung, aber auch ange- sichts der Konkurrenz der Regionen in der Europäischen Union braucht auch Deutschland starke Regionen, um in diesem Wettbewerb bestehen zu können. Für mich ist es mehr als fraglich, ob die bisherigen föderalen Strukturen – die sich in den letzten Jahrzehnten durchaus bewährt haben – für die Zukunft ausreichen werden. Aus bündnisgrüner Sicht positiv hervorheben möchte ich noch einmal den Inno-Regio-Ansatz. Insgesamt 444 regionale Initiativen haben sich am Wettbewerb betei- ligt. Ziel dabei ist der Aufbau und Ausbau selbsttragen- der Initiativen und Strukturen. Damit werden regionale Netzwerke gefördert; dies führt zu einer Stärkung von Innovationsfähigkeit. Wir haben die Forschungsmittel im Haushalt 2000 noch einmal erhöht. Bis 2005 sollen dafür insgesamt 500 Millionen DM bereitgestellt wer- den. Noch immer ist die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern von hohen gesamtstaatlichen Transfers abhängig. Künftig geht es aber nicht mehr um eine Pauschalförderung für die neuen Länder. Es gilt, nach und nach die stärker entwickelten Teile der ost- deutschen Wirtschaft dem Markttest auszusetzen. Gleichzeitig müssen die Anstrengungen in den kriti- schen Bereichen intensiviert und konzentriert werden. Wir sind noch unterwegs. Noch gibt es keinen Grund, beim Aufbau Ost einen Gang zurückzuschalten. Die Bundesregierung wird deshalb stetig und verlässlich an der Förderung Ostdeutschlands auf hohem Niveau fest- halten. Die rot-grüne Koalition setzt zudem neue Akzen- te. Lassen Sie mich zum Ende noch einmal auf meine Einleitung zurückkommen. Sosehr ich dort die Fleißar- beit der PDS in Form des Fragenstellens begrüßt habe, sosehr vermisse ich bis heute realitätstaugliche Antwor- ten aus dieser Ecke. Also, die Koalition ist auf dem rich- tigen Wege; darüber kann alles kleinliche Nörgeln der Oppositionsfraktionen nicht hinwegtäuschen. Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 8669 (A) (B) (C) (D) Anlage 6 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Finanzausschuss Drucksache 14/2414 Nr. 2.3 Drucksache 14/2414 Nr. 2.6 Drucksache 14/2414 Nr. 2.7 Drucksache 14/2414 Nr. 2.8 Drucksache 14/2554 Nr. 2.18 Drucksache 14/2609 Nr. 1.8 Drucksache 14/2609 Nr. 2.19 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 14/1188 Nr. 2.14 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/2554 Nr. 2.13 Drucksache 14/2554 Nr. 2.16 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 14/2104 Nr. 2.25 Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/1276 Nr. 1.11 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit Drucksache 14/431 Nr. 2.1 Drucksache 14/1276 Nr. 1.9 Drucksache 14/2414 Nr. 1.2 Drucksache 14/2554 Nr. 2.17 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 14/1936 Nr. 1.25 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 14/272 Nr. 2.12 Der Bundesrat hat in seiner 748. Sitzung am 25. Feb- ruar 2000 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zu- zustimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen: – Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens (Arbeitsgerichts- beschleunigungsgesetz) – Gesetz zur Umsetzung von Richtlinien der Euro- päischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Be- rufsrechts der Rechtsanwälte – Gesetz zum Rahmenabkommen vom 28. Okto- ber 1996 über den Handel und die Zusammenar- beit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits – Gesetz zu dem Abkommen vom 10. Septem- ber 1996 zwischen der Regierung der Bundesre- publik Deutschland und der mazedonischen Re- gierung über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Gesetz zu dem Vertrag vom 21. März 1997 zwi- schen der Bundesregierung Deutschland und der Republik Kroatien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Gesetz zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan über die Förderung und den gegen- seitigen Schutz von Kapitalanlagen – Gesetz zu dem Vertrag vom 11. Dezember 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik El Salvador über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen – Drittes Gesetz zur Änderung des Betäubungsmit- telgesetzes (Drittes BtMG-Änderungsgesetz – 3. BtMG-ÄndG) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Par- lamentarischen Versammlung des Europarates über die Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 25. bis 29. Januar 1999 in Straß- burg – Drucksachen 14/2057, 14/2206 Nr. 1.1 – Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 22 – Eisenbahnen des Bundes – Titel 639 01 – Erstattungen von Verwaltungsausgaben des Bundeseisenbahnver- mögens – – Drucksachen 14/2333, 14/2555 Nr. 1.4 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 22 – Eisen- bahnen des Bundes – Titel 656 01 – Zuschuss des Bun- des an die Bahnversicherungsanstalt für Rentenleis- tungen an ehemalige Mitarbeiter der Deutschen Bun- desbahn – – Drucksachen 14/2456, 14/2607 Nr. 3 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 44 – Unterstützung friedenserhaltender Maß- nahmen – – Drucksachen 14/2425, 14/2555 Nr. 1.6 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung 8670 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 93. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. März 2000 (A) (C) Haushaltsführung 1999 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 686 44 – Unterstützung friedenserhaltender Maß- nahmen – – Drucksachen 14/2455, 14/2607 Nr. 2 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr 1998 – Drucksachen 14/2358, 14/2555 Nr. 1.2 – Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409300000
Die Sitzung ist er-
öffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-
büne haben der Präsident der Saeima der Republik
Lettland, Herr Jãnis Straume, und seine Delegation
Platz genommen. Ich begrüße Sie und die begleitenden
Mitglieder auch von diesem Platz aus noch einmal sehr
herzlich im Namen des Deutschen Bundestages.


(Beifall)

Herr Präsident, es ist uns eine große Freude, Sie und

Ihre Begleitung zu einem offiziellen Besuch zu Gast zu
haben. Der Deutsche Bundestag misst der zukunftsträch-
tigen Zusammenarbeit unserer Parlamente insbesondere
bei der Gestaltung eines gemeinsamen Europa große
Bedeutung zu. Wir verfolgen mit Aufmerksamkeit die
Entwicklung in Ihrem Lande auf dem Wege zu demo-
kratischer Souveränität, wirtschaftlicher Stabilität und
finanzpolitischer Eigenständigkeit. Umso mehr freut uns
die Aufnahme Lettlands in den engen Kreis der EU-
Beitrittskandidaten. Seien Sie versichert, dass wir alle
Bemühungen um die EU-Beitrittsfähigkeit Ihres Landes
und dessen Annäherung an die NATO mit freundschaft-
licher Anteilnahme begleiten und weiterhin nach besten
Kräften unterstützen werden. Fühlen Sie sich herzlich
willkommen.


(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun-

destag und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesre-
publik Deutschland sind bestürzt über die Hochwasser-
katastrophe, die Mosambik in den letzten Wochen
heimgesucht hat.


(Die Anwesenden erheben sich)

Nach bislang vorliegenden Angaben wurden 80 000

Familien obdachlos. Noch ist unbekannt, wie vielen
Menschen dieses Unglück ihr Leben gekostet hat. Un-
vorstellbar ist das Ausmaß der Katastrophe, allenfalls
biblische Darstellungen vermögen uns einen Eindruck
zu vermitteln von der gigantischen Zerstörung, die die

gerade erst herangereiften Hoffnungen eines der ärmsten
Länder der Welt zunichte zu machen droht.

Wir alle sind aufgerufen, über die dringend notwen-
dige Soforthilfe hinaus diesen Menschen, die alles verlo-
ren haben, über den Tag hinaus zu helfen, auch wenn die
Bilder dieser Tragödie nicht mehr auf den Bildschirmen
erscheinen. Den Frauen und Männern des Bundesgrenz-
schutzes und der Bundeswehr, die vermutlich noch län-
ger als ursprünglich geplant in Mosambik Hilfe leisten
werden, danke ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich für
ihre aufopfernde und gefahrvolle Arbeit.

Wir gedenken mit Anteilnahme der Toten in Mosam-
bik. –
Ich danke Ihnen.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
einer Reihe von Kollegen zu einem runden Geburtstag
gratulieren:

Heute, am 16. März 2000, feiert der Kollege
Dr. Rainer Jork seinen 60. Geburtstag. Herzlichen
Glückwunsch!


(Beifall)

Nachträglich gratuliere ich den Kollegen Albrecht

Feibel und Horst Schmidbauer (Nürnberg) ebenfalls
zum 60. Geburtstag, dem Kollegen Heinz Schemken
zum 65. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Heiner
Geißler zu seinem 70. Geburtstag.


(Beifall)

Im Namen des ganzen Hauses spreche ich Ihnen un-

sere herzlichen Glückwünsche aus.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege

Frank Hofmann sein Amt als Schriftführer niedergelegt
hat. Als Nachfolger wird der Kollege Reinhold Strobl

(Amberg) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-

den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kol-
lege Strobl als Schriftführer gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der
folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt:






(A)



(B)



(C)



(D)


1. Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD: Bundespolitische Aus-

wirkung der neuerlichen Parteispendensammelaktion

(siehe 92. Sitzung)


2. Weitere Überweisungen im Vereinfachten Verfahren

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409300100

a) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung
– Drucksache 14/2903 –

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara

Höll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS: Besteuerung der
Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit – Druck-
sache 14/2912 –

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung
des Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und
See-Krankenkasse – Drucksache 14/2904 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan

Hilsberg, Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Klaus Barthel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Modernisie-
rung der Ausbildungsförderung für Studierende
– Drucksache 14/2905 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-

schätzung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 13.)

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD,

CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Über-
gangsgesetzes aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung der Handwerksordnung und anderer handwerks-

(Erste Beratung 91. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie – Drucksache 14/2922 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange (Backnang)

4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:

Kritische Bewertung der Umweltpolitik der Bundesregie-
rung durch den Umwelt-Sachverständigenrat

5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens,
Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Albert Schmidt (Hitzhofen), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Verkehrs-
infrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des
Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ (VDE) Nr. 8

Schienenneubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–
Berlin – Drucksache 14/2906 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich,

Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P: Ja zur
Schienenneubaustrecke Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–
Berlin – Drucksache 14/2914 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,

Christine Ostrowski, Eva-Maria Bulling-Schröter, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Flächenhafter Aus-
bau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen,
Thüringen und Sachsen – Drucksache 14/2525 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
8. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN: Umweltcontrolling und Umweltmanage-
ment in Bundesbehörden und Liegenschaften – Drucksa-
che 14/2907 –

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so-
weit erforderlich – abgewichen werden.

Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschuss-
überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit

Homburger, Hildebrecht Braun (Augsburg), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Nordseeküste schützen, Küstenwache einrich-
ten, international besser zusammenarbeiten
– Drucksache 14/548 –

überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und
dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Eine Steu-

erreform für mehr Wachstum und Beschäfti-
gung – Drucksache 14/2688 –

Präsident Wolfgang Thierse






(A)



(B)



(C)



(D)


überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen wer-
den.
Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜND-

NIS 90/DIE GRÜNEN zur Senkung der Steu-
ersätze und zur Reform der Unternehmensbe-
steuerung (Steuersenkungsgesetz – StSenkG)

– Drucksache 14/2683 –

überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Der in der 90. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur
Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-

rung von Vorschriften über die Tätigkeit der
Steuerberater (7. StBÄndG) – Drucksache
14/2667 –

überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Die in der 91. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen zu-
sätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Eva Bulling-

Schröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS zur Si-
cherung und zum Ausbau der gekoppelten
Strom- und Wärmeerzeugung (KWK-Gesetz)

– Drucksache 14/2693 –

überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS

90/DIE GRÜNEN zum Schutz der Stromer-

(KWKVorschaltgesetz)


überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und
4 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun-

desregierung
Aktionsplan der Bundesregierung zur Be-

kämpfung von Gewalt gegen Frauen
– Drucksache 14/2812 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Zweite und dritte Beratung des von den Ab-

geordneten Hanna Wolf (München), Lilo
Friedrich (Mettmann), Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten
Irmgard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck

(Bremen), Claudia Roth (Augsburg), weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Ausländergesetztes

– Drucksache 14/2368 –

(Erste Beratung 84. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-

ausschusses

(4. Ausschuss)

– Drucksache 14/2902 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Erwin Marschewski (Recklinghausen)

Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion der F.D.P. vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bun-
desministerin Christine Bergmann.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Gewalt gehört für viele Frauen in Deutschland leider
noch immer zum Alltag. Mehr als 50 000 Frauen flüch-
ten jährlich mit ihren Kindern ins Frauenhaus. Nach
Schätzungen ist jede dritte Frau in Deutschland von
häuslicher Gewalt betroffen und jede siebte Frau ist be-
reits einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung
oder sexueller Nötigung geworden.

Ein weiteres großes Problem in Deutschland ist der
Frauenhandel. 1998 registrierte die Polizei etwa 1 300
weibliche Opfer des Menschenhandels. Wie wir wissen,
liegt die Dunkelziffer aber weitaus höher.

Präsident Wolfgang Thierse






(A)



(B)



(C)



(D)


Gewalt verletzt die Integrität, die Würde von Frauen
und ihr Recht auf Selbstbestimmung in eklatanter Wei-
se. Dieser Gewalt vorzubeugen und von Gewalt betrof-
fenen Frauen Schutz und Hilfe zu bieten sind Aufgaben,
die der Staat besser als bisher wahrzunehmen hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Über lange Jahre war Gewalt gegen Frauen ein The-
ma, das weitgehend tabuisiert und als Privatsache be-
handelt wurde. Das hieß natürlich auch, dass Täter nicht
konsequent zur Rechenschaft gezogen und Opfer nicht
ausreichend geschützt wurden. Damit muss endlich
Schluss sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Deshalb hat diese Bundesregierung den Aktionsplan
zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschlos-
sen.

Damit liegt erstmals ein umfassendes und ressort-
übergreifendes Programm vor, ein Gesamtkonzept, eine
langfristige Strategie. Daran sind viele beteiligt. Die Re-
gierung hat damit klargestellt: Die Bekämpfung von
Gewalt, insbesondere von Gewalt gegen Frauen, ist für
sie ein vordringliches politisches Ziel. Ich denke, das ist
eine gute und ganz wichtige Botschaft an die vielen
Frauen im Lande, die von Gewalt betroffen sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist eine wichtige Botschaft auch an die vielen
Frauen und Männer, die versuchen, von Gewalt betrof-
fenen Frauen und Kindern zu helfen. Die Arbeit dieser
Frauen und Männer ist nicht immer ganz einfach. Aber
es ist auch eine gute und wichtige Botschaft an die Ge-
sellschaft insgesamt, dass es eine Regierung gibt, die
angetreten ist, Gewalt in der Gesellschaft wirklich auf
allen Ebenen wirksam zu bekämpfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen mit diesem Aktionsplan strukturelle Ver-
änderungen erreichen, und zwar in allen Bereichen, von
der Prävention über die Täterarbeit und die bessere Ver-
netzung von Hilfsangeboten bis hin zu rechtlichen Maß-
nahmen und einer stärkeren Sensibilisierung der Öffent-
lichkeit.

Ich sage ganz klar: Gewalt gegen Frauen ist kein
Frauenproblem. Es ist ein Problem patriarchalischer
Strukturen, ein Problem von Männern; es ist ein Pro-
blem unserer gesamten Gesellschaft und unseres Rechts-
staats.

Wir wollen mit diesem Aktionsplan einen Paradig-
menwechsel in der Antigewaltarbeit in Deutschland her-
beiführen. Das ist dringend nötig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht eben nicht mehr ausschließlich um die natürlich
wichtigen und unverzichtbaren Anlaufstellen für betrof-
fene Frauen. Es geht nicht nur darum, betroffenen Frau-
en in dieser schwierigen Situation eine Anlaufstelle, ei-
nen Platz, wo sie hingehen können, zu bieten; vielmehr
geht es um eine gesamtgesellschaftliche Ächtung und
Verfolgung von Gewalt gegen Frauen. Gewalt im häus-
lichen Bereich ist keine Privatsache und danach muss
gehandelt werden. Der Rechtsstaat hat dafür zu sorgen,
dass seine Bürgerinnen und Bürger so gut wie möglich
vor Gewalt geschützt werden.

Am häufigsten erfahren Frauen Gewalt in sozialem
Nahraum, durch Bekannte und Verwandte. Und was ge-
schieht? Die Täter werden häufig nicht angezeigt, weil
die betroffenen Frauen auf ein staatliches Eingreifen zu
ihren Gunsten nicht vertrauen. Sie haben zum Teil wirk-
lich sehr negative Erfahrungen gemacht. Alle, die sich in
diesem Bereich einmal umgesehen haben, kennen die
unsäglichen Leidensgeschichten vieler Frauen und die
mangelnde Hilfe, die Frauen in dieser Situation erfahren
haben.

Das heißt dann in der Folge eben auch: Viele Täter
bleiben ohne Strafe und die von Gewalt betroffenen
Frauen müssen mit ihren Kindern – häufig, nachdem sie
dieser Gewalt über Monate oder Jahre ausgesetzt wa-
ren – aus dem vertrauten Umfeld in ein Frauenhaus
oder zu Bekannten flüchten. Das kann von einem
Rechtsstaat nicht hingenommen werden. Es muss das
Ziel sein, die gegen die Frau gerichtete Gewalt zu been-
den und ihr Sicherheit zu gewähren. Ich denke, dass wir
dazu nachher von der Bundesjustizministerin noch sehr
viel ausführlicher etwas hören werden.

Meine Damen und Herren, ein solches umfassendes
Gesamtkonzept, wie wir es mit dem Aktionsplan zur
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verfolgen, um-
fasst natürlich auch Zuständigkeitsbereiche der Länder
und Kommunen. Das betrifft neben den Bereichen, über
die die Justizministerin sprechen wird, vor allen Dingen
auch den Erhalt eines möglichst flächendeckenden Net-
zes an Hilfsangeboten, seien es Frauenhäuser, Frauen-
beratungsstellen, Notrufe, spezielle Therapieeinrichtun-
gen oder Interventionsstellen.

Mit einer engen Kooperation vor Ort zwischen den
beteiligten Institutionen und Beratungsstellen haben wir
bisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Deswegen för-
dern wir solche Kooperationen auch. Es gibt ja schon
zwei Interventionsprojekte – wir haben darüber bereits
gesprochen – in Berlin und in Schleswig-Holstein. Die
positiven Erfahrungen, die hier gemacht worden sind,
sind übertragbar; deswegen werden die Ergebnisse aus
diesen Interventionsprojekten auch allen anderen Län-
dern und Kommunen zur Verfügung gestellt.

Und natürlich geht es bei der Vernetzung von Hilfs-
einrichtungen auch darum, diese Vernetzung zu fördern.
Das tun wir. Wir fördern finanziell die Vernetzung der
Frauenhäuser, der Notrufe, der Beratungsstellen gegen
Frauenhandel, weil wir nur über diese Vernetzung eine
zielgenaue effektive Arbeit zugunsten der betroffenen
Frauen erreichen können.

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann






(A)



(B)



(C)



(D)


Meine Damen und Herren, ich sagte schon, dass die
Umsetzung des Gesamtkonzepts eine sehr enge Koope-
ration zwischen Bund und Ländern erfordert. Wir
werden deshalb neben der bereits bestehenden Arbeits-
gruppe zur Bekämpfung von Frauenhandel eine Bund-
Länder-Arbeitsgruppe einrichten, die den gesamten Um-
setzungsprozess begleitet und in der natürlich auch die
Frauenprojekte mit vertreten sind. Dadurch versprechen
wir uns eine sehr gute Kooperation.

Wenn wir aber Gewalt gegen Frauen wirksam be-
kämpfen wollen, meine Damen und Herren, dann brau-
chen wir auch einen anderen Umgang mit den Tätern.
Dazu gehört neben einer konsequenten – auch strafrecht-
lichen – Verfolgung ein Prozess, der zur Änderung des
gewalttätigen Verhaltens dieser Täter gewissermaßen
auffordert oder diese Änderung bewirkt. Wir haben des-
halb in unserem Gesamtkonzept auch täterorientierte
Maßnahmen vorgesehen, die diese Verhaltensänderun-
gen bei Tätern initiieren müssen. In diesem Bereich ha-
ben wir in Deutschland noch sehr wenig eigene Erfah-
rungen; es gibt Konzepte, aber noch nicht viele Erfah-
rungen. Wir werden in der nächsten Zeit verstärkt auf
die europäischen Erfahrungen, die es in dem einen oder
anderen Fall schon gibt, zurückgreifen und auf dem Weg
über eine Konferenz die Kooperation mit anderen Län-
dern ausbauen.

Aber, meine Damen und Herren, nicht nur deutsche
Frauen sind von Gewalt betroffen, wie wir wissen – wir
reden ja heute auch über die Änderung des § 19 des
Ausländergesetzes –; für viele ausländische Frauen ist
die Situation dramatisch, wenn sie – aufgrund der Tatsa-
che, dass sie sich und ihre Kinder vor ihrem prügelnden
Ehemann in Sicherheit bringen wollen – nicht vor einer
Beendigung des Aufenthaltsrechtes geschützt sind, wenn
also nicht die Täter bestraft werden, sondern die Opfer.
Daher ist die Novellierung des § 19 Ausländergesetz so
wichtig.

Um diese Reform ist ja lange gerungen worden. Ich
habe das auf unterschiedlichen Ebenen mit unterstützt
und denke, das ist heute wirklich eine gute Botschaft an
viele in diesem Land. Viele Frauen – über die Partei-
grenzen hinweg – in Organisationen, Verbänden und
Kirchen haben dieses Thema zu ihrer eigenen Sache
gemacht. Hier muss man den vielen danken, die immer
mitgezogen haben


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– nicht zuletzt natürlich auch dem Innenministerium –,
die wirklich in vorbildlicher Weise versucht haben, die-
se Rechtsänderung zu erreichen. Das ist ein Beitrag zur
Stärkung der Menschenrechte von Frauen und es ist
auch ein Beitrag zum Abbau von Gewalt.

Meine Damen und Herren, Gewalt gegen Frauen zu
bekämpfen ist eine Aufgabe, die über nationalstaatliche
Grenzen hinausgeht und internationale Kooperation
erfordert. Wir haben unter der deutschen EU-Ratsprä-
sidentschaft auf unserem Kongress in Köln schon die
EU-Kampagne zur Bekämpfung von häuslicher Ge-
walt initiiert. Wir stehen hier in einer sehr engen Koope-
ration. Es ist sehr wichtig, dass die EU-Staaten und auch

die assoziierten Staaten, die in diesem Bereich mitar-
beiten, hier nicht locker lassen und dass sie kooperieren.

Wir haben übrigens auch festgelegt, in den jeweiligen
Mitgliedstaaten Aktionspläne umzusetzen. Dadurch ist
es uns in unserer Ratspräsidentschaft auch gelungen, das
DAPHNE-Programm, das seit dem 1. Januar 2000
läuft, im Rat durchzusetzen, was nicht ganz einfach war.
Damit haben wir die Chance, insbesondere die Nichtre-
gierungsorganisationen bei der präventiven Arbeit und
der Arbeit der Beratungsstellen zu unterstützen, dort
neue Möglichkeiten zu schaffen.

Wir wissen alle, dass bei der Bekämpfung von Ge-
walt gegen Frauen nur ein gemeinsames und konsequen-
tes Vorgehen langfristig Erfolg verspricht. Wir haben
diesen Weg mit der Verabschiedung des Aktionspro-
grammes im Dezember ganz konsequent beschritten. Ich
sage noch einmal: Das ist ein Programm der gesamten
Bundesregierung; alle stehen hinter diesem Programm.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten bei mei-
nen Besuchen in Frauenhäusern und Beratungsstellen er-
lebt, dass die Frauen, die dort arbeiten, sehr froh sind,
dass sie endlich die notwendige Unterstützung und Hilfe
bekommen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Ich höre
auch von Bürgerinnen und Bürgern, dass sie froh sind,
dass diese Regierung endlich an vielen Stellen Ernst
damit macht, die Gewalt in der Gesellschaft ganz konse-
quent zu bekämpfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es muss klar sein – das sollen auch die betroffenen
misshandelten Frauen wissen –, dass die Bekämpfung
der Gewalt, dass der Schutz dieser Frauen ein vordring-
liches Anliegen dieser Bundesregierung ist.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409300200
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion.


Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1409300300
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Von all den Themen, die uns je-
des Jahr anlässlich des Internationalen Frauentages
näher gebracht werden, ist eines der wichtigsten die
Gewalt gegen Frauen. Es ist auch eines der bedrü-
ckendsten Themen. Wir können uns nicht hinter der Tat-
sache verstecken und darauf verweisen, dass im Wesent-
lichen Frauen in anderen Ländern davon betroffen sind
und wie schrecklich jene Frauen dran sind, sondern es
geht wirklich um Gewalt an Frauen in unserem eigenen
Land. Es geht um körperliche, seelische und sexuelle
Gewalt gegen die, die in der Regel von ihren Misshand-
lern abhängig und kräftemäßig die Unterlegenen sind.

Wir haben von der Ministerin Zahlen gehört, die er-
schrecken und zugleich deutlich machen, dass wir, wie
wir es heute tun, öffentlich darüber reden müssen und
dass wir die Öffentlichkeit für das sensibilisieren müs-
sen, was nebenan geschieht. Denn überwiegend finden

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann






(A)



(B)



(C)



(D)


diese Gewalttaten gegen Frauen und Kinder in der eige-
nen Nachbarschaft, im eigenen Umfeld, meist zu Hause
statt, an dem Ort, an dem sich Frauen und Kinder am si-
chersten fühlen sollten.

Es ist also eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da-
für zu sorgen, dass sich diese Hoffnung nicht in immer
mehr Fällen als trügerisch erweist. Daher begrüßen wir
es, dass die Bundesregierung die von unserer Regierung
bereits begonnenen Maßnahmen jetzt weiterentwickelt
und mit dem Aktionsplan ein dickes Bündel sinnvoller
Handlungsvorschläge vorlegt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will daran erinnern, dass der Weg dieses Themas
ein langer Weg ist. Als man vor gut 20 Jahren daran-
ging, häusliche Gewalt zu enttabuisieren, konnte man
dies zunächst nur in kleinen Schritten tun, denn kaum
jemand konnte sich vorstellen, was da mit Frauen und
Kindern passierte. Sexueller Missbrauch und Vergewal-
tigung waren unaussprechbar. Genauso haben wir erst
seit wenigen Jahren Gewalt gegen Behinderte und gegen
alte Menschen realisiert. Auch hier geht es um Tabus,
die wir aufbrechen müssen, um den Betroffenen wir-
kungsvoll zu helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Weil im Laufe der Jahre aus kleinen Schritten größere
und mutigere geworden sind, können wir heute auf lang-
jährige und vielfältige Erfahrungen in Frauenhäusern
und Beratungsstellen zurückblicken. Wir können uns
diese Erfahrungen politisch nutzbar machen, notwendige
Gesetze auf den Weg bringen und die bundesweite Ver-
netzung dieser Einrichtungen vorantreiben.

Aber eines will ich hier ganz deutlich sagen: Nicht
die jetzige Bundesregierung hat sich das Thema „Gewalt
gegen Frauen“ auf die Fahnen geschrieben und vorange-
bracht. Das ist schon vor Einsetzung der jetzigen Bun-
desregierung geschehen. Wir als Frauen haben das
schon früher thematisiert. Zusammen mit vielen Män-
nern haben wir zahlreiche Anliegen auf den Weg ge-
bracht.


(Hanna Wolf [München] [SPD]: Thematisiert schon, aber keine Gesetze auf den Weg gebracht!)


An einigen Beispielen aus den letzten beiden Legisla-
turperioden, aus der Zeit von 1990 bis 1998, will ich
zeigen, dass wir uns intensiv damit befasst haben und
welche Schwerpunkte wir gesetzt haben. Im Zeitraum
von 1993 bis 1996 gab es unter unserer Regierung die
Aufklärungskampagne „Gewalt gegen Frauen hat viele
Gesichter“ und im Jahre 1996 einen entsprechenden Ak-
tionsplan. Wir haben in diesem Bereich auch eine Reihe
wichtiger Gesetzesänderungen verabschiedet: im Jahre
1992 die Novellierung der Strafvorschriften gegen den
Menschenhandel, im Jahre 1994 das Beschäftigungsge-
setz, das vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz
schützen soll, die Verschärfung der Strafandrohung für

pornographische Darstellungen mit Kindern im Jahre
1993 und im Jahre 1997 die Novellierung des § 177 des
Strafgesetzbuches, der die Vergewaltigung in der Ehe
unter Strafe stellt.

Frau Kollegin Wolf, Sie lachen. Diese Maßnahmen
sind natürlich von den meisten Frauen in diesem Parla-
ment sehr unterstützt worden, auch von vielen Frauen
aus meiner Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ebenfalls 1997 haben wir § 19 des Ausländergesetzes

dahin gehend geändert, dass ausländische Ehegatten im
Falle außergewöhnlicher Härte bei Ehescheidungen ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten, und zwar un-
abhängig von der Ehedauer; darauf komme ich nachher
noch zu sprechen.

Auch hat bereits die alte Bundesregierung auf eine
bessere Vernetzung aller auf diesem Feld tätigen Institu-
tionen und Organisationen und ebenso auf eine effektive
Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden
hingearbeitet. Die damalige Familienministerin Claudia
Nolte brachte 1996 auf dem Fachkongress für Polizei
und Justiz zur Gewalt gegen Frauen in Ehe und
Partnerschaft Vertreterinnen und Vertreter von Polizei,
Justiz und Politik mit den Frauen und Männern zusam-
men, die vor Ort in Antigewaltprojekten arbeiteten. Sie
diskutierten über Möglichkeiten, wie man die Zusam-
menarbeit von staatlichen und nicht staatlichen Stellen
verbessern, den Schutz für die Opfer ausbauen und die
Täter noch stärker zur Verantwortung ziehen kann.
Schon damals war uns das In-die-Verantwortung-
Nehmen der Täter wichtig, zum Beispiel durch soziale
Trainingskurse, die darauf abzielen, das Verhalten der
Männer zu ändern.

Denkbare Präventivmaßnahmen waren der Jugend-
wettbewerb „Wo hört der Spaß auf? – bei Anmache, Be-
ziehungen, Freundschaften“ und das Aktionsprogramm
gegen Aggression und Gewalt.

Das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche
Gewalt, BIG, das durch gemeinsame Förderung von
Bund und Stadt Berlin auf den Weg gebracht wurde,
kann heute in der Tat als Vorbild für alle Projekte die-
nen, die eine Vernetzung der im Gewaltbereich tätigen
Institutionen und Organisationen anstreben. BIG führte
über die reinen Anlaufstellen für betroffene Frauen hi-
naus zu einer gesamtgesellschaftlichen Befassung und
Ächtung von Gewalt gegen Frauen.

Auch auf europäischer Ebene sind wir nicht untätig
gewesen. Ich erinnere zum Beispiel an den diesbezügli-
chen Aktionsplan des Europarates.

Nun zu einzelnen Punkten, zunächst zum Stichwort
Prävention: Wir stimmen Ihnen zu, dass natürlich bei
der Bekämpfung von Gewalt präventive Maßnahmen
von höchster Priorität sind. Eltern, Erzieherinnen und
Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer müssen hier zu-
sammenwirken. Da wissenschaftlich erwiesen ist, dass
Kinder, die Gewalt erlebt haben, mit hoher Wahrschein-
lichkeit später selber Gewalt anwenden, muss diese Spi-
rale – je früher, desto besser – unterbrochen werden.

Ilse Falk






(A)



(B)



(C)



(D)


Was mir aber an Ihrem Katalog fehlt, ist die konkrete
Benennung der Kernursachen dieses Problems. Sie drü-
cken sich darum herum, die Wertevermittlung in Familie
und Schule sowie die Stärkung der Erziehungsfähigkeit
der Eltern aufzulisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein ganz großes Problem ist doch das mangelnde Un-

rechtsbewusstsein bei Anwendung von Gewalt. Es ist
notwendig, dies schon sehr früh in der Familie zu entwi-
ckeln. Viele Eltern sind heute selbst nicht mehr in der
Lage, Alltagskonflikte zu lösen. Wie sollen ihre Kinder
lernen, auf welche Weise angemessen mit Konflikten
umgegangen werden kann? Viele Eltern vermitteln – oft
aus Unvermögen, oft aus Bequemlichkeit – ihren Kin-
dern keine Spielregeln hinsichtlich des Zusammenle-
bens, sondern erwarten, dass dies an anderer Stelle ge-
leistet wird, zum Beispiel in der Schule. Die Fähigkeit
zu reden und zuzuhören, Argumente gegeneinander ab-
zuwägen, geht langsam verloren. Viele Jugendliche
werden schweigend groß, nämlich vor dem Fernseher,
über den sie Probleme vorgeführt bekommen; sie reden
nicht mehr darüber. Sie lernen einfach nicht, sich zu ar-
tikulieren, und lösen Konflikte lieber mit dem Ellenbo-
gen, so wie sie es vielleicht auch von ihren Eltern ken-
nen.

Folglich sind viele Kinder fast ausschließlich ichbe-
zogen orientiert. Sie glauben, ihre Umwelt stets nach ih-
rem Willen gestalten zu können, sei es auch mit Gewalt,
akzeptieren keine Grenzsetzungen für ihr eigenes Han-
deln und können mit Verboten und Misserfolgen nicht
mehr umgehen. Ich will es ganz deutlich sagen: Grenz-
ziehungen und richtig verstandene Autorität sind doch
keine Unterdrückungsinstrumente.

Ein Weiteres fehlt mir im Aktionsplan, nämlich ein
Wort zur Rolle der Medien. Auch Presse, Funk, Fernse-
hen und Videoverleiher sind aufgefordert, sich immer
wieder ihren Einfluss und ihre negative Vorbildwirkung
auf die Entstehung von Gewalt gegen Frauen bewusst zu
machen. Wir sollten mit Nachdruck fordern, dass die
Verantwortlichen der freiwilligen Selbstkontrolle zu
mehr Wirksamkeit verhelfen und darüber hinaus über
Inhalte ihren Einfluss positiv geltend machen und Kam-
pagnen gegen Gewalt fördern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein ganz wichtiges Kapitel des Aktionsplans befasst
sich mit der Rechtsetzung des Bundes. Dabei geht es
nicht nur um neue Gesetze, sondern immer wieder auch
um die Überprüfung bestehender Gesetze auf ihre Wirk-
samkeit hin und gegebenenfalls um Verbesserungsmög-
lichkeiten. Vielleicht ist es gerade in diesem sensiblen
Bereich wichtig, uns der kritischen Auseinandersetzung
zu stellen und die Frage zu beantworten, ob die Gesetze
tatsächlich die an sie gestellten Erwartungen erfüllen.

Da ist zum einen das Gesetz zur gewaltfreien Erzie-
hung, das von Ihnen sehr stark in den Vordergrund ge-
stellt wird. Hier propagieren Sie das Recht des Kindes
auf eine gewaltfreie Erziehung. Dass die Anwendung
von körperlicher und psychischer Gewalt nicht mehr zu

den zulässigen Mitteln angemessener Erziehung gehört,
ist völlig unstrittig. Wir meinen allerdings, dass ein sol-
cher Rechtsanspruch des Kindes in der Praxis weder
einklagbar noch justiziabel ist. Deshalb halten wir die
Bundesratsformulierung für besser, die da lautet: Kinder
sind gewaltfrei zu erziehen. Aber dieser Gesetzentwurf
befindet sich zurzeit in der parlamentarischen Beratung.
Wir werden noch Gelegenheit haben, die Argumente
auszutauschen.

Mit dem vom Bundesjustizministerium lange ange-
kündigten Gesetzentwurf zum Schutz vor Gewalt sollen
künftig nach österreichischem Vorbild über die verein-
fachte Zuweisung der Ehewohnung gewalttätige Ehe-
gatten gezwungen werden, die gemeinsame Wohnung zu
verlassen. Daneben soll ein Kontakt-, Belästigungs- und
Näherungsverbot die Frau umfassend vor dem ge-
walttätigen Ehemann schützen; ohne dies wäre die Bei-
behaltung der Wohnung auch gar nicht sinnvoll. Aber
damit dieser Schutz überhaupt gewährleistet werden
kann, bedarf es der Absprache mit den Innenministern
und den Polizeibehörden der Bundesländer. Das ist na-
türlich nicht ganz einfach.


(Hanna Wolf [München] [SPD]: Darauf können Sie ja Einfluss nehmen!)


– Ach!
Aber Sie haben diesen Gesetzentwurf in Ihren Koali-

tionsvereinbarungen in Aussicht gestellt und sich zuge-
traut, diese Abstimmung ganz schnell – sowieso viel
schneller als wir – zu vollziehen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Es ist immer richtig, dass wir schneller sind!)


Immer wieder wurde der Gesetzentwurf angekündigt.
Bei der Vorstellung des Aktionsplans im Dezember hieß
es, er werde in Kürze vorliegen. In der letzten Woche
haben Sie, Frau Justizministerin, aus Anlass des Interna-
tionalen Frauentages in einer Presseerklärung erneut ge-
sagt, dass der neue Gesetzentwurf zum Schutz vor Ge-
walt zügig in das Gesetzgebungsverfahren gebracht
wird.


(Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin: Heute stelle ich ihn vor!)


– Wunderbar! Wir fordern Sie also auf, diese Abstim-
mung zu vollziehen. Dann erübrigt sich das Weitere.

Zum Thema Täter-Opfer-Ausgleich kennen Sie un-
sere Auffassung. Grundsätzlich ist das eine gute Sache.
Doch so, wie Sie ihn handhaben wollen, geht es nicht.
Das bloße Bemühen des Täters soll zukünftig zur Been-
digung des Strafverfahrens ausreichen. Doch gerade
wenn es um die Interessen des Opfers von Gewalttaten
geht, muss die Wiedergutmachung auch von diesem ab-
hängig gemacht werden. Ansonsten stehen nicht die In-
teressen des Opfers, sondern die des Täters im Mittel-
punkt. Und das kann nicht sein.
Zur geplanten Änderung des § 19 des Ausländergesetzes
wird der Kollege Uhl ausführlich Stellung nehmen.
Deshalb will ich mich hier auf eine Bemerkung be-
schränken: Ich bedaure sehr – das habe ich auch im

Ilse Falk






(A)



(B)



(C)



(D)


Ausschuss gesagt –, dass dieser Gesetzentwurf so
durchgepaukt wird, denn ich hätte gern mit Ihnen zu-
sammen geprüft, ob die Beispiele für das Vorliegen ei-
ner besonderen Härte nicht besser im Gesetz statt in der
Begründung stehen sollten, wo sie sich ganz offensicht-
lich nicht bewährt haben, weil sie von den Ländern un-
terschiedlich ausgelegt werden. Aber gut, Sie meinen, in
der Vergangenheit sei darüber ausführlich diskutiert
worden, und gehen nun Ihren eigenen Weg.

Ich hoffe sehr, dass diese Erleichterungen wirklich
die richtigen Frauen treffen und damit das gemeinsame
Ziel des besseren Schutzes von ausländischen Ehefrauen
vor ihren misshandelnden Ehemännern tatsächlich er-
reicht wird.

Es wären noch viele Punkte zu nennen, die eine nähe-
re Betrachtung verdienen. Dabei denke ich an das
schwierige Thema der geschlechtsspezifischen Verfol-
gung, der Genitalverstümmelung, an Menschenhandel
und an das Zeugenschutzgesetz. Das sind alles Bereiche,
für die in besonderem Maße die Forderung nach kompe-
tenten, sensibilisierten Mitarbeitern in Verwaltungen,
Gerichten, bei Polizeibehörden usw. gilt. Leider reicht
für eine Behandlung meine Redezeit nicht. Aber ich bin
sicher, dass im Laufe der Umsetzung der vielen Vorha-
ben des Aktionsplans noch Gelegenheit sein wird, sich
dazu zu äußern. Ich hoffe, dass er tatsächlich in allen
Punkten umgesetzt wird. Es gibt eine Fülle von Ankün-
digungen, von Maßnahmen, die in Aussicht gestellt
werden, von Prüfvermerken und Ähnlichem, sodass wir
nur hoffen können, dass aus dem „Plan“ wirklich „Akti-
on“ wird.

So möchte ich mich zum Schluss noch mit einer Bitte
an Sie alle wenden, nämlich dass Sie zu Hause in Ihren
Wahlkreisen Ihre Möglichkeiten nutzen, dieses wichtige
Thema noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, so-
fern Sie das nicht ohnehin bereits tun. Sensibilisieren Sie
die Menschen, stellen Sie Modellprojekte vor und helfen
Sie mit, diese auf örtlicher Ebene wirklich umzusetzen!

Aufgrund meiner sehr guten Erfahrungen aus meinem
Heimatkreis Wesel mit dem runden Tisch gegen Gewalt
an Frauen weiß ich, dass vor Ort oft die Vernetzung
zwischen all denjenigen fehlt, die Gewalt bekämpfen
wollen. Sie haben unsere Unterstützung für ihre wichti-
ge Aufgabe verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409300400
Ich erteile der Kolle-
gin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Es war die
Frauenbewegung, die mit dem Slogan „Das Private ist
politisch“ bereits vor 25 Jahren das Thema häusliche
Gewalt gegen Frauen aus der Tabuzone herausgeholt
und den Schutz des Staates eingefordert hat. Einzelne

Punkte wie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der
Ehe wurden in der letzten Legislaturperiode – Frau Falk
hat es gerade gesagt – mithilfe der damaligen Oppositi-
on umgesetzt. Aber ein umfassendes Aktionsprogramm
mit einem Gesamtkonzept liegt erst heute, ein Viertel-
jahrhundert später, vor.

Gewalt hat viele Gesichter und trifft bestimmte Frau-
engruppen wie Migrantinnen oder Behinderte zusätz-
lich in einer besonderen Art. Mit einer frauenverachten-
den Praxis wird heute Schluss gemacht: Misshandelte
ausländische Ehefrauen müssen sich nicht mehr dazwi-
schen entscheiden, entweder vier Jahre lang bei ihrem
gewalttätigen Ehemann auszuharren oder in ihr Heimat-
land ausgewiesen zu werden, wo sie häufig Ausgren-
zungen oder lebensbedrohenden Handlungen ausgesetzt
sind. Diese Frauen erhalten ein eigenständiges Aufent-
haltsrecht und damit den Schutz des Staates, den sie ver-
dienen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])


Auch das Kindeswohl wird endlich als schutzwürdig
berücksichtigt. Eine inhumane Abschiebepraxis, wie sie
insbesondere in Bayern stattfand, wird beendet. Ich dan-
ke an dieser Stelle ganz besonders den – zum Teil auch
hier anwesenden – Frauen- und Migrantinneninitiativen,
die nicht locker gelassen und die unzumutbare Situation
immer wieder zum Thema gemacht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich freue mich, dass auch die F.D.P. das Gesetz nicht
ablehnen wird und es somit eine breite Unterstützung im
Parlament findet. Dies ist die erste konkrete Umsetzung
eines Vorhabens aus dem gesamten Aktionsplan, bei
dem der Paradigmenwechsel deutlich wird: Es werden
nicht mehr die Täter, sondern die Opfer geschützt. Dies
wird auch bei den Maßnahmen zur Bekämpfung einer
besonderen Form der modernen Sklaverei, des Frauen-
handels, deutlich. Frauen – zumeist aus Osteuropa –
werden mit falschen Versprechen und einem Reisevisum
nach Deutschland gebracht und nach der Wegnahme ih-
rer Pässe zur Prostitution gezwungen. Nach EU-
Angaben sind das allein eine halbe Million in West-
europa. Wenn diese Frauen entdeckt wurden, galten sie
bisher als Täterinnen, weil sie keine Aufenthaltsberech-
tigung besaßen. Sie wurden meist mit dem nächsten
Flugzeug in ihr Heimatland zurückgeschickt. Das ge-
schah häufig ohne anwaltliche Unterstützung.

Erst in letzter Zeit werden diese Frauen nicht mehr
als Täterinnen, sondern als Opfer des Menschenhan-
dels betrachtet. Erst seit kurzem haben Polizei und Justiz
erkannt: Die Rechtlosigkeit dieser Opfer ist der beste
Täterschutz. Wenn die Frauen nicht wenigstens so lange
hier bleiben können, bis sie in einem Prozess aussagen,
werden die Täter nie ermittelt. Nirgendwo ist die Auf-
klärungsquote so gering wie hier. Das Geschäft ist lukra-
tiv: 1,8 Milliarden DM werden auf diese Weise in
Deutschland „verdient“ – mehr als im Drogenhandel.

Ilse Falk






(A)



(B)



(C)



(D)


Einen wirksamen bundeseinheitlichen Abschiebe-
schutz, Zeuginnenschutzprogramme, sichere Unterkünf-
te und ein Bleiberecht stärken die Opfer und tragen auch
dazu bei, die Täter zu finden und zu bestrafen. Eine Be-
schlagnahme der Gewinne aus dem Frauenhandel würde
zudem die Menschenhändler empfindlich treffen. Wo es
um organisierte Kriminalität geht, ist eine internationale
Zusammenarbeit unabdingbar.

Die Opfer schützen und die Täter bestrafen – dieses
Prinzip zieht sich auch durch das nächste Thema: Ge-
walt im sozialen Nahbereich. „My home is my cast-
le“ – mein Zuhause ist mein Königreich –: Wer wünscht
sich das nicht? Dieser Satz drückt den Wunsch nach Si-
cherheit und Geborgenheit im eigenen Zuhause aus.
Aber dieser Wunsch geht für viele Frauen, für viel zu
viele Frauen, nicht in Erfüllung. So unglaublich es
klingt: Die eigenen vier Wände sind der unsicherste Ort
für Frauen, und zwar nicht nur, weil die meisten Unfälle
im Hause passieren, sondern auch, weil sie der Gewalt
durch ihren Partner ausgeliefert sind.

Die Zahlen sprechen für sich: In den Jahren 1987 bis
1991 wurden 350 000 Frauen Opfer einer Vergewalti-
gung durch ihren Ehemann. Die Dunkelziffer ist um ein
Vielfaches höher. Jährlich suchen Zehntausende von
Frauen mit ihren Kindern Schutz in Frauenhäusern. Die
gesellschaftlichen Folgekosten für diese Gewalttaten
sind enorm: Sie belaufen sich nach einer Aussage der
Bundesregierung auf jährlich 29 Milliarden DM. Das
wäre doch für Herrn Eichel ein wunderbares Sparpoten-
zial.

Rechtliche Konsequenzen für diese Straftaten sind je-
doch immer noch sehr selten. In der akuten Gefähr-
dungssituation ist aber für die Frauen eine strafrechtliche
Verfolgung der Täter manchmal zweitrangig. An erster
Stelle steht für sie der gegenwärtige und zukünftige
Schutz vor der Gewalt des Partners. Diesem Bedürf-
nis nach effektivem Schutz müssen wir nachkommen.
Opfer von Gewalt müssen sich mit Aussicht auf Erfolg
wehren können. Die bisherige Rechtslage und die An-
wendung des Rechts in Deutschland lassen einen ausrei-
chenden Schutz vor häuslicher Gewalt immer noch ver-
missen. Viel zu lange haben Justiz und Polizei Gewalt
im sozialen Nahraum als Privatangelegenheit zwischen
den Beteiligen angesehen, in die sich der Staat nicht
einzumischen habe.

Erst allmählich wird hier ein Bewusstseinswandel
deutlich. Dies ist unter anderem auf die erfolgreiche Ar-
beit von Interventionsprojekten wie zum Beispiel der
Berliner Initiative „ Gewalt gegen Frauen“ sowie von
Frauenhäusern, Notrufen und Beratungsstellen zurück-
zuführen. Bis heute müssen geschlagene und vergewal-
tigte Ehefrauen ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen.
Die gewalttätigen Ehemänner hingegen verbleiben in
der ehelichen Wohnung. Deshalb brauchen wir ein Ge-
setz, mit dem der gewalttätige Ehemann und Partner des
Hauses verwiesen werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Nun ist unser Nachbarland Österreich in den letzten
Monaten nicht gerade positiv in den Schlagzeilen gewe-
sen. Dort wurde aber in der letzten Legislaturperiode ein
Wegweisungs-Recht verabschiedet, das seit Jahren er-
folgreich ist. Nach dem dort seit 1997 geltenden Sicher-
heitspolizeigesetz steht der Polizei die Befugnis zu, ei-
nen Gewalttäter von einer Wohnung fern zu halten, in
der sich eine gefährdete Person aufhält. Kurz gesagt:
Das Opfer kann bleiben, der Täter muss gehen. Dies gilt
für zunächst sieben Tage.

Es kommen dann gleich die Fragen: Wo bleiben denn
nun die Männer? Müssen wir nicht besondere Häuser für
die Männer schaffen? In Österreich ist die Obdachlosig-
keit nicht signifikant gestiegen. Die Frage, wo die Män-
ner bleiben, lässt sich so beantworten: die meisten bei
ihren Müttern oder ihren Freundinnen. Ich denke, das
können wir auch den deutschen Männern zumuten.


(Heiterkeit – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Da können sie dann weiter schlafen!)


Noch bevor über eine erleichterte Wohnungszuwei-
sung entschieden wird, wird so den betroffenen Frauen
in der akuten Gefährdung geholfen.

Daneben brauchen wir auch Kontakt, Belästigungs-
und Näherungsverbote sowie gesetzliche Regelungen für
den Erlass von Schutzanordnungen. Eine enge Zusam-
menarbeit mit den Ländern ist notwendig – dies dau-
ert, Frau Kollegin Falk, natürlich lange und Sie unter-
stützen uns ja auch jetzt darin – , und zwar nicht nur bei
der polizeilichen und juristischen Aus- und Fortbildung,
sondern auch bei einer Änderung der Polizeigesetze der
Länder. Das ist ein Problem. Das geben wir zu. Aber
auch das werden wir lösen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Justizministerin Däubler-Gmelin hat zum Internatio-
nalen Frauentag angekündigt, dass ein neues Gewalt-
schutzgesetz zügig in das Gesetzgebungsverfahren ein-
gebracht wird. Die Grünen haben Eckpunkte dazu ent-
wickelt. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir endlich
die Persönlichkeitsrechte der Frauen besser schützen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss auf die Situation widerstandsunfähiger – in
den meisten Fällen behinderter – Frauen zurückkom-
men. Sie brauchen einen besonderen Schutz vor sexuel-
lem Missbrauch. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass
die Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung dieser Per-
sonen mit einer niedrigeren Strafe geahndet werden
kann als bei so genannten widerstandsfähigen Opfern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Wir hatten bei der Verabschiedung des § 177 StGB ver-
einbart, die Rechtsprechung zu § 179 bis zum Mai 2000
zu beobachten. Danach müssen wir sehr schnell ent-
scheiden, ob wir entweder diesen Paragraphen ganz aus
dem Gesetz streichen oder das Strafmaß an das des
§ 177 anpassen.

Irmingard Schewe-Gerigk






(A)



(B)



(C)



(D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt gegen
Frauen ist die schwerste Form der Benachteiligung von
Frauen in unserer Gesellschaft. Sie stellt einen Angriff
auf die körperliche und seelische Unversehrtheit dar und
ist eine Verletzung der Menschenwürde. Dies muss ganz
deutlich gesagt werden: Das ist kein Kavaliersdelikt,
sondern eine Verletzung der Menschenwürde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es ist höchste Zeit, dass wir in den verschiedenen Berei-
chen entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen,
damit wir der Gewalt, die tagtäglich gegen Frauen aus-
geübt wird, Einhalt gebieten können.

Heute machen wir einen ersten großen Schritt. Es wä-
re schön, wenn auch einige CDU-Kolleginnen der Ände-
rung des Ausländergesetzes zustimmen würden. Frau
Falk, aus Ihrer Rede kann ich eigentlich nur schließen,
dass Sie ihr zustimmen werden. Es gibt auch noch einige
andere Kolleginnen in Ihrer Fraktion, von denen ich
weiß, dass sie inhaltlich mit diesem Gesetzesvorschlag
übereinstimmen. Es wäre schön, wenn auch sie diesem
Gesetz zustimmen, damit wir hier im Parlament eine
breite Mehrheit dafür haben. Das würde uns auch in der
Bevölkerung stärken.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409300500
Ich erteile das Wort
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1409300600
Der innere Frieden einer Gesell-
schaft beruht auf der Freiheitlichkeit ihrer Rechtsord-
nung, auf dem Schutz von Eigentum und auf dem
Schutz von Leib und Leben.

Meine Damen und Herren, wenn wir in unserer Ge-
sellschaft von Gewalt reden, dann sind Frauen häufig
Opfer. Sie sind überproportional von Gewalt betroffen.
Ich war kürzlich in der niedersächsischen Justizvoll-
zugsanstalt Vechta. Dort sind Frauen in Haft. Sind sie
alle Täterinnen? Dort wurde mir gesagt, dass nur
4 Prozent der Täterinnen und Täter Frauen sind. Das
heißt, hier ist nicht Gewalt im Spiel, sondern Drogende-
likte und andere Straftaten, die wenig mit Gewalt zu tun
haben.

Wir wissen das ist schmerzlich –, dass Gewalt sich
nicht nur außerhalb der Familie, sondern auch innerhalb
der Familie abspielt. Bei der Bekämpfung hat auch in
der Vergangenheit die F.D.P.-Bundestagsfraktion ihren
Part im Parlament dieser Gewalt gespielt. Sie hat durch
unsere Kollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger auch
die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.
Das ist jetzt Allgemeingut des gesamten Bundestages.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf Anregung der Opposition!)


– Ich war in der letzten Legislaturperiode noch nicht
Mitglied dieses Hohen Hauses. Aber ich denke, dass alle
dieses Gesetz unterstützt haben bis auf die Hardliner; die
wird es auch gegeben haben, nicht in unserer Fraktion,
aber sicher in anderen.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei haben wir den ersten Schritt getan. Es wird weite-
re Schritte geben, die wir natürlich auch unterstützen
werden.

Wir haben jetzt den Schutz von Frauen und Kin-
dern in der eigenen Wohnung in der politischen Dis-
kussion. Das entsprechende Gesetz werden auch wir un-
terstützen. Wir werden sehen, ob wir dazu eine eigene
Initiative in den Bundestag einbringen. Ich und meine
Fraktion finden es richtig, dass der, der jemand anderem
Gewalt antut, aus der Wohnung verschwinden muss


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


und die Opfer – das sind meist Frauen mit ihren Kin-
dern – ihr Lebensumfeld behalten. Dafür müssen wir uns
alle hier im Parlament einsetzen. Ich denke, das gilt
nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


In dem Aktionsplan gegen Gewalt sind die Präven-
tion und die Hilfsangebote sehr hoch angesiedelt. Alle,
die auch auf der kommunalen Ebene oder auf der Lan-
desebene arbeiten, wissen, dass hier doch ein Wand-
lungsprozess stattgefunden hat.

Es gibt allerorten, auch im Landkreis Verden, aus
dem ich komme, Präventionsräte, die sich zusammen-
setzen und diese Art der Strategie fahren. Gerade auf der
örtlichen Ebene kann direkt geholfen werden. Das kön-
nen wir natürlich von Berlin aus nicht tun. Von hier aus
können wir nur Gesetze ändern. Da ist jeder Einzelne
von uns gefragt, auch die Kommunalpolitiker und alle,
die vor Ort tätig sind. Das sind wir ja auch, denn wir ha-
ben unsere Wahlkreise und da sollten wir auch etwas
machen.

Weiter wird im Aktionsplan ausgeführt, dass die Ver-
netzung von Hilfsangeboten stattfinden soll. Ich muss
sagen: Auf Landesebene und auf kommunaler Ebene hat
das längst stattgefunden. Für die Bundesebene kann ich
das nicht beurteilen. Wir werden uns als Fraktion sicher
mit Ihnen auch im zuständigen Ausschuss ins Benehmen
setzen. Wenn das effektiver gestaltet werden kann, kann
das nur hilfreich sein. Das wollen wir natürlich auch un-
terstützen.

In dieser Diskussion heute haben wir auch über § 19
des Ausländergesetzes zu beraten. Die F.D.P. hat durch
einen Änderungsantrag maßgeblich und sehr gut – ich
hoffe, Frau Schewe-Gerigk, auch in Ihrem Sinne – dazu
beigetragen, dass ausländische Frauen, die mit Deut-
schen verheiratet sind und hier in Deutschland leben,
auch dann die Möglichkeit haben, ein eigenständiges

Irmingard Schewe-Gerigk






(A)



(B)



(C)



(D)


Aufenthaltsrecht zu bekommen, wenn sie Gewalt in der
Ehe und anderes erfahren müssen und die Ehe vor Ab-
lauf einer bestimmten Dauer geschieden wird.

Wir haben gesehen, dass das Gesetz mit der Härte-
fallregelung in der letzten Legislaturperiode nicht ge-
griffen hat, gerade nicht in Bayern und vielleicht auch
nicht in anderen Bundesländern.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist halt manchmal so. Man muss das überprüfen und
dann auch zu neuen Ergebnissen kommen.

Ich denke, dass dieses Gesetz durch unsere konstruk-
tive Mitarbeit daran verbessert worden ist. Ich werde
diesem Gesetz heute zustimmen,


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


weil ich es für richtig halte, dass hier etwas gemacht
wird. Ich hoffe deshalb auch, Sie werden das nicht par-
teipolitisch ausschlachten, meine Damen und Herren.


(Heiterkeit und Zustimmung bei Abgeordneten der SPD – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das tun wir nie, Frau Lenke!)


Ein besonderes Anliegen ist die Bekämpfung des
Frauenhandels. In dieses Gebiet muss ich mich als
neue Abgeordnete erst noch einarbeiten. Ich werde das
aber mit Frau Schwaetzer und Frau Leutheusser-
Schnarrenberger und anderen Frauen in meiner Fraktion
tun. Wir werden – natürlich auch zusammen mit unseren
Kollegen – versuchen, diesbezüglich initiativ zu werden.
Ich denke, da ist jede Bundestagsfraktion gefragt, nicht
nur die Fraktionen, die die Regierung unterstützen.

Ich finde es in Ordnung, dass wir uns zum Beispiel
für eine Frist von vier Wochen als Abschiebungshinder-
nis für Frauen, die Zeuginnen gegen potenzielle Täter
sein sollen, einsetzen. Ob diese Frist vier Wochen oder
einen anderen Zeitraum betragen soll, das werden wir zu
prüfen haben. Diese Prüfung wird dann auch in den par-
lamentarischen Beratungen stattfinden.

Es ist wichtig, dass wir uns um all diese Dinge küm-
mern. Zum Schluss möchte ich sagen: Die Debatte zeigt,
dass immer wieder und immer noch politischer Hand-
lungsbedarf besteht, Frauen vor Gewalt zu schützen. Die
F.D.P. wird sich wie in der Vergangenheit konstruktiv
an diesen Initiativen beteiligen. Wir wollen das zum
Wohl der Frauen und zum Wohl der Gesellschaft tun.
Wir wollen uns sehr intensiv daran beteiligen. Das Par-
lament, auch die Bürgerinnen und Bürger in der Bundes-
republik Deutschland haben unsere Unterstützung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409300700
Das Wort hat nun
Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409300800
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die Bundesrepublik gehört zu den
reichsten Ländern der Erde. Umso erstaunlicher ist es,
immer noch darauf verweisen zu müssen, dass Frauen-
rechte Menschenrechte sind.

Die Bundesregierung musste sich vor kurzem bei den
Vereinten Nationen bescheinigen lassen, dass es hierzu-
lande eklatante Defizite bei der Umsetzung dieses An-
spruches gibt. Der Ausschuss, der die Einhaltung des
UNO-Übereinkommens zur Beseitigung aller Formen
der Diskriminierung von Frauen – übrigens das einzige
diesbezüglich völkerrechtlich verbindliche Dokument –
kontrolliert, hat der Bundesregierung vorgeworfen, zu
wenig für die Gleichstellung von Frauen zu tun. Das
CEDAW-Komitee begrüßt zwar ausdrücklich den vor-
liegenden Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt ge-
gen Frauen, aber es ist

… besorgt über die bleibenden Lücken beim Schutz
von Frauen gegen Gewalt in der Familie und in der
Gesellschaft.

Das gelte besonders für ausländische Frauen. Die Regie-
rung soll deshalb dafür sorgen, dass Gewalt gegen
Frauen gesellschaftlich und moralisch nicht akzeptiert
wird.

Viele Frauen leben in Gewaltverhältnissen. Jede drit-
te Frau in der Welt hat mindestens einmal im Leben
Gewalt erfahren, sei es als sexualisierter Missbrauch,
Vergewaltigung, seien es Schläge oder sonstige Miss-
handlungen. Gewalt an Frauen findet in der Familie, im
Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis statt. Diese
Gewalt muss aus der privaten Sphäre herausgezogen, öf-
fentlich und zum gesellschaftlichen Problem gemacht
werden, ohne die Täter dadurch zu entlasten. Nach mei-
nem Eindruck zeigt die heutige Debatte, dass es hier ei-
nen parteiübergreifenden Konsens gibt. Die konkreten
Maßnahmen, die die Bundesregierung vorschlägt, zielen
in die richtige Richtung. Aber sie sind nicht konsequent
genug.

Die Bundesregierung will Polizei, Justiz, Sozial- und
Ausländerbehörden sowie Beratungsstellen und Notrufe
an einen Tisch holen und mit ihnen gemeinsame Kon-
zepte erarbeiten. Das ist richtig und hört sich gut an.
Doch die Polizei zum Beispiel steht dabei vor einem
Glaubwürdigkeitsproblem; denn in ihren eigenen Reihen
erfahren Polizistinnen massiv sexuelle Belästigung und
Nötigung. Im Übrigen hat der in dieser Woche veröf-
fentlichte Bericht der Wehrbeauftragten bestätigt, dass
auch die Frauen in der Bundeswehr damit konfrontiert
sind.

Obwohl das Sexualstrafrecht in der letzten Legisla-
turperiode verschärft wurde, gelten sexueller Miss-
brauch und Vergewaltigung von Frauen bei Gerichten
noch immer als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine rich-
tige Fortbildungskampagne für die Polizei und die Jus-
tiz. Die Bundesregierung fördert seit Ende des Jahres die
bundesweite Vernetzung der Notrufe im Rahmen eines
Modellprojektes für drei Jahre. Das begrüßen wir, das ist
gut so. Aber was geschieht nach diesen drei Jahren? Wer
kontinuierlich mit Nichtregierungsorganisationen zu-
sammenarbeiten will, muss deren Arbeit institutionell

Ina Lenke






(A)



(B)



(C)



(D)


absichern. Wir müssen in diesem Bereich von der blo-
ßen Projekt- und Modellförderung wegkommen.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])

Ein anderes Beispiel dafür, dass der Aktionsplan noch

nicht weit genug geht: Die Bundesregierung hat ange-
kündigt, sie wolle Opfer von Frauenhandel besser stel-
len. Die betroffenen Frauen sollen eine Abschiebefrist
von mindestens vier Wochen erhalten. Der Deutsche
Frauenrat hat in seiner Stellungnahme zum Aktionsplan
eindringlich darauf hingewiesen, dass diese Regelung
höchstens 1 bis 2 Prozent der betroffenen Frauen zugute
kommt. Es genügt auch nicht, den Frauen eine vierwö-
chige Abschiebefrist zu gewähren und den wenigen
Fachberatungsstellen die Betreuung zu überlassen.

Wir brauchen wirksamere Maßnahmen zur Bekämp-
fung des Frauenhandels. Das setzt zuerst einen exakte-
ren Begriff von Frauen- und Menschenhandel voraus. Es
geht nicht an, dass als Opfer von Menschenhandel nur
gilt, wer in die Zwangsprostitution verkauft wurde.
Auch Frauen, die zu Sklavinnen gemacht werden oder
auf dem Heiratsmarkt feilgeboten werden, müssen als
Menschenhandelsopfer gelten.


(Beifall bei der PDS)

Wir müssen den Frauen, die sich zur Aussage entschei-
den, Möglichkeiten bieten, in Zeuginnenschutzpro-
gramme aufgenommen zu werden. Ferner müssen sie
einen dauerhaften Abschiebeschutz bekommen; denn sie
werden immer wieder durch Racheakte gefährdet sein.

Wir müssen ein dichtes Netz von Beratungsstellen
für die Opfer von Frauenhandel, aber auch für Migran-
tinnen allgemein ausbauen und fördern. Die Beraterin-
nen und Berater müssen dringend ein Zeugnisverweige-
rungsrecht bekommen, damit sie in der Lage sind, zu ih-
ren Klientinnen tatsächlich ein Vertrauensverhältnis
aufbauen zu können.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist richtig!)

Sie können sich vielleicht vorstellen, dass es für

Beratungsstellen, die durchaus mit der Polizei koope-
rieren, ohnehin problematisch ist, den Frauen, die zu ih-
nen kommen, Vertrauen einzuflößen. Aber wenn die be-
troffenen Frauen dann erfahren, dass die Beraterinnen
möglicherweise gezwungen werden, ihre Informationen
den Ermittlungsbehörden preiszugeben, wird es noch
schwieriger.

Zu Recht hat der UNO-Ausschuss die Bundesregie-
rung gemahnt, die Situation ausländischer Frauen
dringend zu verbessern; denn sie sind besonders von
Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt betroffen.
Die Änderung des § 19 Ausländergesetz , die wir heute
beschließen wollen, geht zweifellos in die richtige Rich-
tung und wir werden ihr zustimmen. Dennoch werden
wir weiter darum kämpfen, dass Frauen bereits mit der
Eheschließung hier ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
bekommen.

Völlig unzureichend ist indessen das Vorhaben der
Bundesregierung, bei der Anerkennung geschlechtsspe-
zifischer Verfolgung lediglich die Verwaltungsvor-

schriften zum Ausländergesetz ein bisschen zu ändern.
Wir brauchen stattdessen klare Regelungen im
Asylverfahrensgesetz und im Ausländergesetz.


(Beifall bei der PDS)

Die Beamtinnen und Beamten im Bundesamt für die

Anerkennung ausländischer Flüchtlinge müssen genauso
Rechtssicherheit haben wie die betroffenen Frauen, dass
geschlechtsspezifische Verfolgung hier künftig als
Asylgrund gilt, und zwar unabhängig davon, ob es sich
um staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung handelt.


(Beifall bei der PDS)

Das ist menschenrechtlich orientierte Frauenpolitik. Die
brauchen wir.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in anderen Be-
reichen der Frauenpolitik geht der CEDAW-Ausschuss
der UNO mit der Bundesregierung hart ins Gericht. Ich
denke, das geschieht zu Recht, wobei man immer wieder
darauf hinweisen muss, dass die Hauptverantwortung
bei der abgewählten Bundesregierung liegt. Das betrifft
insbesondere die anhaltende Lohndiskriminierung von
Frauen, die Defizite bei der Vereinbarkeit von Berufstä-
tigkeit und Elternschaft, die nach wie vor zögerliche Po-
litik bei der Gleichstellung von Frauen in der Privatwirt-
schaft und die besondere Benachteiligung ostdeutscher
Frauen.

Ich garantiere Ihnen: Solange all diese Formen ge-
schlechtsspezifischer Diskriminierung existieren, wird
es keine Ruhe geben, weder bei den Betroffenen noch
bei denen, die ihre Interessen vertreten und sich konse-
quent auf die Forderung „Frauenrechte sind Menschen-
rechte“ berufen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409300900
Ich erteile das Wort
nun der Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1409301000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ganz beson-
ders, dass wir heute im Deutschen Bundestag ein Gesetz
in zweiter und dritter Lesung verabschieden, das den
hier lebenden Migrantinnen einen besseren Schutz vor
gewalttätigen Ehemännern verschafft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich freue mich, weil dieses in sehr engem Zusam-
menhang zur Nachfolgekonferenz der Weltfrauenkon-
ferenz von Peking geschieht, die im Juni in New York
stattfindet. Dort wird überprüft, was die einzelnen Län-
der zur Umsetzung der Plattform getan haben. Ich freue
mich auch, dass dies in zeitlicher Nähe zum Internatio-
nalen Frauentag geschieht, weil es eine wiederholte For-
derung der Frauenbewegung und der Frauen am Inter-

Petra Bläss






(A)



(B)



(C)



(D)


nationalen Frauentag gewesen ist, dass endlich der § 19
des Ausländergesetzes mit Blick auf die ausländischen
Frauen geändert wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Es ist noch nicht einmal drei Jahre her, dass ich im
Deutschen Bundestag zur Novellierung des § 19 geredet
habe. Es ging damals um einen mühsam gefundenen
Kompromiss, den die SPD-geführten Bundesländer über
den Bundestag im Vermittlungsausschuss durchgesetzt
hatten. Das war vor drei Jahren ein Erfolg, weil erstmals
Ehegatten – hier ging es insbesondere um Ehefrauen –
unabhängig von der Aufenthaltsdauer und der Ehe-
bestandszeit ein eigenständiges Aufenthaltsrecht im Fal-
le außergewöhnlicher Härte in Aussicht gestellt wurde.
Es ist uns leider nicht gelungen, das, was außergewöhn-
liche Härte ist, im Gesetz zu definieren. Es war eben ein
Kompromiss. Die Entscheidung ist uns nicht leicht ge-
fallen. Wir – die damalige Opposition, aber auch viele in
den Fraktionen der damaligen Regierungsparteien – wa-
ren bereit, einen Weg mit zu gehen in der Hoffnung,
mehr Schutz für Migrantinnen zu schaffen.

Auch die Frauen- und Menschenrechtsorganisationen,
die uns beraten haben, waren skeptisch. Es war ein
Kompromiss. Es ging um eine Güterabwägung zwischen
dem, was wir erreichen wollten, und dem, was unter den
damaligen Mehrheitsverhältnissen möglich war.

Wir in der SPD haben nie einen Zweifel daran gelas-
sen: Wenn wir endlich die Mehrheit haben, dann werden
wir Gesetze verabschieden, die den Frauen in unserem
Lande einen besseren Schutz gewährleisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem jetzt zur zweiten und dritten Lesung anstehen-
den Gesetzentwurf lösen wir dieses Versprechen ein.

Ich sage hier einmal ganz deutlich: Der Schutz vor
Menschenrechtsverletzungen darf nicht durch Angst
eingeschränkt werden. Es kann nicht sein, dass die im
Grundgesetz verankerten Werte wie die Würde des
Menschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit,
Gleichheit vor dem Gesetz und das Selbstbestimmungs-
recht nicht für alle unabhängig von ihrer Nationalität,
von ihrem Geschlecht oder von ihrer religiösen Zugehö-
rigkeit gelten sollen. Deshalb müssen wir in unserem
Lande auch Migrantinnen, so gut es geht, vor ihren ge-
walttätigen Ehemännern schützen und ihnen ein hohes
Maß an Rechtssicherheit gewähren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich bestreite nicht, dass sich auch mit dem im Vermitt-
lungsausschuss gefundenen Kompromiss die Bedingun-
gen für Migrantinnen in einer Reihe von Fällen verbes-
sert haben. Es gab aber in der Praxis nicht in jedem Fall
eine Verbesserung. Für uns ist jeder einzelne Fall, für
den keine Verbesserung erreicht wurde, ein Fall zu viel.

Ich erinnere hier an den tragischen Fall einer miss-
handelten Kurdin aus Kempten in Bayern. Sie verlor ihr
Aufenthaltsrecht und wurde zusammen mit ihren zwei
Kindern abgeschoben, weil sie sich von ihrem Peiniger
hatte scheiden lassen. Nach gerichtlichen Aussagen war
die Frau regelmäßig massiv geschlagen, an den Haaren
gezogen sowie mit Fußtritten und Faustschlägen malträ-
tiert worden. Der Mann habe sie mit vorgehaltenem
Messer gezwungen, die Sozialhilfe herauszurücken. In
der leeren Wohnung sei sie mit ihren Kindern ohne Es-
sen zurückgelassen worden. Es hat uns schon alle er-
schüttert, dass dies dem bayerischen Innenstaatssekretär
Hermann Regensburger nicht genug war, um diese Situ-
ation als Härtefall anzuerkennen. Er hat gesagt: Eine
sehr unglückliche Ehe alleine begründet keine besondere
Härte.

Wenn wir dann hören, dass die Eingriffe in die Inte-
grität der Betroffenen durch ihren Ehemann in ihrer In-
tensität nicht das entsprechende Ausmaß erreicht hätten,
fällt es schon schwer, hier jetzt auszusprechen, wie die
Bayern besondere Härte definierten: Ein schwerer Fall
oder eine schwere Körperverletzung läge im Sinne des
Strafgesetzes nur „bei Verlust eines wichtigen Gliedes,
bei Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrank-
heit oder auch bei dauernder Entstellung“ vor. Ich glau-
be, Kolleginnen und Kollegen, dies alleine reicht, um zu
sagen: Damit muss endlich Schluss sein. So darf Härte
nicht definiert werden. Das wollen wir den Frauen nicht
zumuten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Hilfsorganisationen, Beraterinnen, Mitarbeiterinnen
aus den Frauenhäusern und auch wir mussten viel zu oft
hilflos zusehen, wie Migrantinnen trotz der Neuregelung
aus der Bundesrepublik ausgewiesen wurden. Brutal
misshandelte Migrantinnen lebten nicht nur weiterhin in
Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann, sondern auch
in Angst vor dem Staat, der sie je nach Auslegung des
Härtefallbegriffs und je nach Bundesland auch noch in
ein Heimatland abschob, in dem ihnen erneut Verfol-
gung und auch körperliche Misshandlungen drohten.

Genau in diesem letzten Bereich, in dem, was der
Staat tun kann, muss gehandelt werden. Wir können
nicht jede Frau vor ihrem gewalttätigen Ehemann schüt-
zen. Wir können aber Rahmenbedingungen schaffen,
damit die Frauen in diesem Lande wissen, dass sie,
wenn sie Gewalt ausgesetzt wurden, hier uneinge-
schränkten Schutz finden und wir ihren Schutz höher
ansetzen als eventuelle Furcht vor Missbrauch eines Ge-
setzes. Ich glaube, da sind wir uns alle einig.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir beraten heute die Neuregelung des § 19 des Aus-
ländergesetzes, damit endlich bundeseinheitlich geregelt
wird, wann ein Härtefall gegeben ist, sodass Frauen im
ganzen Bundesgebiet vor Gewalt geschützt werden und
willkürliche Entscheidungen der Vergangenheit angehö-
ren. Trotz der früheren Neuregelung wurde von Land zu

Ulla Schmidt (Aachen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Land unterschiedliches Recht gesprochen. Eine Umfrage
in den Frauenhäusern aus dem Jahre 1997 ergab, dass
von 67 Anträgen auf Anerkennung eines Härtefalls le-
diglich 16 Anträge positiv entschieden wurden, davon
entfielen allein 12 auf Nordrhein-Westfalen, das von
Anfang an durch eine Verwaltungsvorschrift außerge-
wöhnliche Härte im Interesse der betroffenen Frauen so
bestimmt hat, wie wir es damals – ich sehe gerade den
Kollegen Marschewski – im Deutschen Bundestag in-
tendiert hatten. Es war unser Wille, dafür zu sorgen,
dass die Definition, die wir in der Begründung des Ge-
setzes hatten, auch eine bundeseinheitliche Auslegung
möglich macht. Leider hat es die alte Bundesregierung
versäumt, dafür zu sorgen, dass die Definition des Här-
tefalls in einer Verwaltungsvorschrift überall gültig ist.
Das holen wir heute mit der neuen gesetzlichen Rege-
lung nach.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Umfrage, die ich eben genannt habe, ist aber
auch ein Beispiel dafür, wie engagierte Frauenorganisa-
tionen, Initiativen, Verbände, Beratungsstellen und
Frauenhäuser die Auswirkungen des § 19 Abs. 1 Aus-
ländergesetz verfolgten. Deshalb freue ich mich ganz
besonders, dass viele dieser engagierten Frauen heute
auf der Besuchertribüne der zweiten und dritten Lesung
der Novellierung des § 19 Ausländergesetz folgen. Ich
kann ihnen von dieser Stelle aus sagen: Wir sind Ihnen
für Ihr Engagement dankbar, das uns Frauen im Parla-
ment jahrelang begleitet und den Rücken gestärkt hat.
Auch das hat uns geholfen, dass wir heute im Deutschen
Bundestag zu der Verabschiedung der Novelle kommen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Zukünftig erhalten Migrantinnen ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht bereits nach zwei Ehejahren. In Fällen
besonderer – nicht mehr außergewöhnlicher – Härte
müssen sie nicht mehr in einer unzumutbaren ehelichen
Gemeinschaft ausharren. Wenn sie die Rückkehr in ihr
Herkunftsland härter als andere mit einer vergleichbar
kurzen Dauer des Aufenthalts in Deutschland trifft, dann
bekommen sie hier ein Aufenthaltsrecht. Besonders
wichtig ist uns, dass auch der Bezug von Sozialhilfe in
Fällen, in denen Frauen mit ihren Kindern in ein Frau-
enhaus gehen müssen und keiner Erwerbstätigkeit nach-
gehen können, einer Aufenthaltsgenehmigung nicht ent-
gegensteht. Die Frauen dürfen dann hier bleiben, wenn
sie die Umstände nicht selbst zu verantworten haben.


(Beifall bei der SPD)

Gewalt gegen Frauen und Kinder müssen wir be-

kämpfen. Wir alle wissen, dass Gewalt immer individu-
elle und gesellschaftliche Ursachen hat. Wir als Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten haben uns zum
Ziel gesetzt, ein Klima zu schaffen, in dem Gewalt ge-
gen Frauen und Kinder geächtet wird. Uns ist damit
ernst. Das sehen Sie an dem heute vorgelegten Aktions-
plan und auch nicht zuletzt an dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zur Änderung des § 19 Ausländergesetz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-
Fraktion, ich wünsche mir, dass Sie mit derselben Ernst-
haftigkeit, wie es auch schon die Kollegin Lenke für die
F.D.P. vorgetragen hat, an dieses Thema herangehen
und mit uns gemeinsam den Gesetzentwurf verabschie-
den. Wir alle sollten den hier lebenden Migrantinnen ein
Stück mehr Sicherheit und Schutz in Deutschland geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409301100
Ich erteile dem Kol-
legen Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1409301200
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen! Ich bitte um Nachsicht,
dass ich als Mann zu diesem Thema heute spreche.


(Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt nicht darauf an, wer spricht, sondern was er sagt, Herr Uhl!)


Ich habe aber gehört, dass ich von der F.D.P. Verstär-
kung bekomme: Herr Stadler beabsichtigt, als zweiter
Mann zu diesem Thema zu sprechen. Gleichwohl werde
ich mich bemühen, mit der gehörigen Sensibilität mit
dem Thema umzugehen.

Sie haben heute einen Aktionsplan zur Bekämpfung
der Gewalt gegen Frauen präsentiert. Das ist ein gutes
Ziel, in dem wir uns alle einig sein könnten. Denn: Be-
nachteiligt sind bestimmte Gruppen von Frauen, insbe-
sondere ausländische Frauen, die zum Teil auf schändli-
che Weise behandelt werden, die gedemütigt, geschla-
gen und vergewaltigt werden. Denen muss geholfen
werden. Das ist auch unser Anliegen. Deswegen waren
wir in der Union, insbesondere die Frauen in der Union,
sehr bemüht, einen Kompromiss zu finden. Leider kam
es zu diesem Kompromiss nicht. Ich werde erläutern,
warum.

Es kam nicht zum Kompromiss, weil Sie das Ziel, das
richtig ist, mit den falschen Mitteln angehen. Sie haben
sich nämlich § 19 des Ausländergesetzes herausge-
sucht. Ein flüchtiger Blick in das Gesetz hätte Sie ei-
gentlich schon belehren müssen. In § 19 wird von einem
eigenständigen Aufenthaltsrecht für ausländische Ehe-
gatten – geschlechtsneutral formuliert – gesprochen,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es gibt auch den einen oder anderen Mann!)


für Männer und Frauen, für gewalttätige Männer und für
nicht gewalttätige Männer aus dem Ausland, für Gute
und für Schlechte. Das ist der Gegenstand des § 19.
Aufgrund ihrer Undifferenziertheit ist diese Vorschrift
für das angestrebte Ziel untauglich.

Ulla Schmidt (Aachen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Mit Ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen verbessern Sie unweigerlich, ob Sie es
wollen oder nicht, auch den Aufenthaltsstatus des aus-
ländischen Ehegatten, der ein gewalttätiger Schläger ist.
Ob Sie es wollen oder nicht, verbessern Sie auch den
Aufenthaltsstatus des Strolches, der eine Ehe er-
schleicht. Sie verbessern auch den Aufenthaltsstatus des
Betrügers, der Scheinehen eingeht. Das wollen Sie zwar
nicht, aber Sie tun es.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie verbessern also unfreiwillig auch die Rechte von

ausländischen kriminellen Männern. Sie machen sie
mächtiger und geben ihnen die Möglichkeit, leichter als
zuvor ein eigenständiges Aufenthaltsrecht durch Instru-
mentalisierung von Frauen zu erlangen. Das nennen Sie,
Frau Sonntag-Wolgast, pathetisch einen „Aktionsplan
der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt ge-
gen Frauen“.

Es gibt zwei Regelungen, zum einen eine Härtefall-
regelung und zum anderen eine Fristenregelung. Ge-
gen die Härtefallregelung hätten wir nichts ein-
zuwenden. In diesem Punkt könnten wir uns rasch eini-
gen – kein Problem. Wir haben immer ganz offen im In-
nenausschuss darüber diskutiert, an welcher Stelle diese
Regelung verbesserungsfähig und verbesserungswürdig
ist. Aber die Verkürzung der Ehezeit von vier auf zwei
Jahre ist der Punkt, an dem wir aus Gründen, die ich Ih-
nen jetzt nennen werde, nicht mitmachen können und
wollen.

Diese Regelung öffnet nämlich dem Missbrauch Tür
und Tor, weil bei einer Verkürzung auf zwei Jahre eine
Einzelfallprüfung bekanntlich nicht mehr stattfinden
kann und nicht mehr stattfinden darf. Ich muss Sie aus
meiner Praxis und aus meiner Erfahrung im Gesetzes-
vollzug leider mit konkreten Einzelfällen belästigen. Ich
weiß, Sie wollen nicht hören, dass in der Praxis auch
diese Fälle vorkommen. Aber ich muss es tun.

Ein ausreisepflichtiges bosnisches Ehepaar hat ge-
sagt: Wir wandern weiter in die USA. Daraufhin hat die
Ausländerbehörde den Aufenthalt hier für mehrere Jahre
geduldet. Plötzlich lässt sich das Ehepaar scheiden. Die
Bosnierin überlässt die Kinder dem bosnischen Mann
und heiratet einen Deutschen. Sie kann also hier bleiben,
muss nicht mehr weiterwandern und auch nicht mehr zu-
rück nach Bosnien.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo die Liebe hinfällt! Da kann man nichts machen!)


Die Ausländerbehörde erkundigt sich, ob der Bosnier
mit den Kindern nach Bosnien zurückgekehrt ist oder ob
er in die USA weitergewandert ist. Siehe da, sie stellt
fest, dass auch der bosnische Ehemann eine Deutsche
geheiratet hat. Jetzt haben wir also zwei Verheiratungen
mit Deutschen, keine Weiterwanderung und keine
Rückkehr nach Bosnien.


(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist ja „furchtbar“! – Ina Lenke [F.D.P.]: Ja und?)


– Fragen Sie einmal Ihre Praktiker in der Fraktion; sie
wissen, wie es zugeht. Der Herr Landrat Veit aus Gießen
weiß, was in seiner Praxis alles vorgekommen ist.


(Zuruf von der SPD: Er hat aber eine andere Politik gemacht als Sie!)


Die Ausländerbehörde muss jetzt innerhalb von zwei
Jahren prüfen – das ist Ihr Gesetzesvorschlag –, ob hier
zwei Scheinehen vorliegen. Ich sage Ihnen: Das gelingt
der Ausländerbehörde nicht.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wenn es Liebesheiraten waren, sind es keine Scheinehen, Herr Kollege!)


Man kann in zwei Jahren in aller Regel diese Prüfung
nicht gerichtsfest abschließen. Scheinehen wird man im
Falle einer Zwei-Jahre-Frist nur noch aufdecken können,
wenn es zur Selbstanzeige eines Partners kommt, weil
der andere seiner Unterhaltspflicht nicht mehr genügt.
Das ist die Wirklichkeit in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte Sie auf einen weiteren Umstand hinwei-

sen. Wir alle wissen, dass es immer mehr Schleuser gibt,
die ausländische Frauen nach Deutschland einschleusen,
sie pro forma verheiraten, sie zur Prostitution zwingen
und sie – nach Ihrer Zwei-Jahre-Regelung – nach zwei
Jahren legalisieren. Die Schleuser können dann neue
Frauen hereinschleusen, um sie auch auf diese Weise zu
legalisieren.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Keine Frau ist illegal! Man kann Frauen nicht legalisieren!)


Insofern ermöglichen und begünstigen Sie kriminellen
Menschenhandel, ohne es zu wollen.

Ein dritter Gedanke. Vielleicht kennen Sie die Ent-
schließung des EU-Rates – sie stammt vom 4. Dezember
1997 – über Maßnahmen zur Bekämpfung von Schein-
ehen. Dort wird genau aufgezählt, welche Faktoren bei
Scheinehen typischerweise vorliegen. Die EU verpflich-
tet alle Mitgliedstaaten, dagegen vorzugehen. Das heißt,
die Behörden müssen diesen Verdachtsmomenten nach-
gehen. Die EU verpflichtet uns, die nationalen Gesetz-
geber, dafür zu sorgen, dass die Entschließung des EU-
Rates zur Bekämpfung von Scheinehen in nationales
Recht umgesetzt wird. Sie machen heute genau das Ge-
genteil. Mit der Änderung der Fristenregelung von vier
auf zwei Jahre sorgen Sie dafür, dass die Behörden in
Deutschland Scheinehen nicht mehr aufdecken können,
das heißt, dass Scheinehen nicht bekämpft, sondern er-
leichtert werden. Das verstößt gegen europäisches
Recht.

Wenn Sie schon die Härtefallregelung erleichtert ha-
ben, wofür wir Sympathie haben und dem wir zustim-
men könnten, dann sollten Sie zugleich nicht die Ver-
kürzung auf zwei Jahre vornehmen, weil Sie mit dem
Automatismus von zwei Jahren jedem Ausländer – ob
gut oder böse, ob Mann oder Frau – ein Aufenthaltsrecht
geben.

Dr. Hans-Peter Uhl






(A)



(B)



(C)



(D)



(Detlev von Larcher [SPD]: Nach vier Jahren ist das anders?)


Das wollen wir nicht, weil auch Fälle begünstigt wer-
den, die nicht begünstigt gehören. Wenn sich ein
Mensch nach einer zweijährigen Ehe scheiden lässt und
auf diese Weise lebenslang zu einem Sozialfall wird, ist
dies eine Belastung des deutschen Steuerzahlers, die wir
nicht einsehen. Dies führt zu einem Wohlstandsgefälle
zwischen Deutschland und Entwicklungsländern, zu ei-
nem Anreiz, auf diese Weise nach Deutschland zu
kommen.

Jedes Jahr kommen Hunderttausende Armutsflücht-
linge, Ausländer im Wege des Familiennachzugs oder
gleich illegal nach Deutschland. Sie wollen heute mit
dieser Zwei-Jahre-Frist einen zusätzlichen, neuen Ein-
wanderungstatbestand durch Scheineheschließung errei-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte Ihnen noch einmal zwei Beispiele aus

der Praxis nennen, damit Sie wissen, was Sie heute tun.
Ich hatte in meiner Zeit einmal einen gewalttätigen Tu-
nesier, der aus Deutschland wegen seiner Kriminalität
zu Recht ausgewiesen wurde. Wir waren froh, dass er
weg war. In Tunis heiratete er eine Deutsche. Er durfte
also wieder nach München einreisen. Aus der Ehe gin-
gen zwei Kinder hervor. Unvorhersehbar hat er diese
Kinder und die deutsche Ehefrau fortlaufend belästigt,
im betrunkenen Zustand geschlagen und vergewaltigt.
Die Strafverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr,
Diebstahls und sexueller Nötigung reihten sich aneinan-
der. Aber er war ja deutsch verheiratet. Die Ehefrau hat
jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Die gepeinigte
Frau hat die Scheidung eingereicht – was sonst? Jetzt hat
sie natürlich nur ein Ziel: Sie möchte vor diesem Men-
schen geschützt werden. Wissen Sie, was Sie machen?
Sie belohnen ihn, indem Sie ihm nach zwei Jahren Ehe –
die Scheidung war danach – ein eigenständiges Aufent-
haltsrecht geben, sodass er sie weiter peinigen, belästi-
gen und vergewaltigen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr! – Detlev von Larcher [SPD]: Das ist wirklich ungeheuerlich!)


Sie müssen sich damit anfreunden, meine Damen und
Herren. Sie können sich den Menschen nicht so schnit-
zen, wie Sie ihn haben wollen. Sie schaffen Gesetze.
Gesetze wirken abstrakt und generell: für Gute, für Bö-
se, für Deutsche, für Ausländer, für Männer, für Frauen.
Deswegen muss ich Sie mit der rauen Wirklichkeit kon-
frontieren, damit Sie darüber noch einmal nachdenken.

Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Fall, vielleicht
wachen Sie dann auf. Ein Nigerianer wurde als Asylbe-
werber abgelehnt und deswegen abgeschoben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409301300
Kollege Uhl, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1409301400
Ich möchte diese
Fälle vortragen. Im Anschluss gerne.

Ein Jahr nach dieser Abschiebung kam er doch zu
seiner Aufenthaltserlaubnis; er hat nämlich eine deut-
sche Touristin in Nigeria, im Standesamt in Lagos, ge-
heiratet. Gleich nach seiner Wiedereinreise nach
Deutschland erinnerte er sich: Ich habe hier ja noch eine
Freundin aus der Heimat Nigeria; sie ist Asylbewerberin
und ist noch nicht abgeschoben. Er hat darauf bestanden,
dass seine nigerianische Freundin in die Wohnung, die
er mit seiner deutschen Ehefrau teilte, mit einzieht; also
lebten sie zu dritt.

Die deutsche Ehefrau hat diesen Zustand natürlich
abgelehnt – ich hoffe, Sie würden sich auch als Beschüt-
zerin dieser Frau bewähren –; aber sie war erfolglos. Der
Mann war der Stärkere. Am Schluss ging die Deutsche
zur Polizei und reichte die Scheidung ein, nachdem sie
mehrmals geschlagen worden war. Das Ergebnis: Nach
zweijähriger Ehe bekäme dieser Nigerianer ein eigen-
ständiges unbefristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland.
Das hätten Sie mit Ihrem Gesetz erreicht. Herzlichen
Glückwunsch!

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Noch einmal:
Sie haben hier einen Aktionsplan vorgelegt und wollen
Frauen helfen. Das wollen auch wir. Aber mit diesem
Gesetzentwurf helfen Sie eben nicht nur Frauen, sondern
auch den männlichen ausländischen Peinigern. Um die-
sen Punkt geht es mir.

Ich habe aufmerksam dem zugehört, was die Staats-
sekretärin Sonntag-Wolgast zur Begründung der Frist-
verkürzung auf zwei Jahre gesagt hat.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die hat noch gar nicht gesprochen!)


– In der Innenausschusssitzung. – Sie, Frau Sonntag-
Wolgast, sagten, es sei bedeutsam, dass auch bei einer
intakten Ehe die Begründung der Eigenständigkeit einer
Seite erfolgen soll.

Meine verehrte Frau Staatssekretärin, sicherlich ist es
bedeutsam, dass man eine Eigenständigkeit bekommt.
Aber, wie gesagt, das geschieht für beide: Auch der pei-
nigende ausländische Ehemann bekommt eine Eigen-
ständigkeit. Wollen Sie das wirklich? Haben Sie das zu
Ende gedacht? Was Sie hier machen, das ist doch grober
Unfug.

Ihr Vorschlag ist keine Reform; stattdessen öffnen
Sie dem Missbrauch Tür und Tor. Sie verletzen europä-
isches Recht. Sie betreiben eine verkappte Einwande-
rungserleichterung. Von ihren ausländischen Ehemän-
nern gepeinigte deutsche Frauen lassen Sie gänzlich im
Stich.


(Zuruf von der SPD: Das ist eine Unverschämtheit!)


Anscheinend gehören diese Frauen nicht zum Kreis
ihrer Interessensgruppen, weswegen Sie sie außer Acht
lassen. Denken Sie daran: Es gibt deutsche Frauen, die
von ausländischen Ehemännern gepeinigt werden kön-
nen. Haben Sie davon schon einmal gehört?

Dr. Hans-Peter Uhl






(A)



(B)



(C)



(D)



(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Deutsche Männer schlagen deutsche Frauen! Haben Sie davon schon einmal etwas gehört? – Susanne Kastner [SPD]: Jetzt werden Sie arrogant!)


Die Welt ist leider nicht so, dass es nur böse deutsche
Männer und gute ausländische Frauen gibt. Ich habe
schon von anderen Fällen gehört.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich hoffe, auch Sie. Wir machen hier Gesetze für alle:
für die Guten und für die Bösen, für die Frauen und für
die Männer, für die Deutschen und für die Ausländer.
Denken Sie an den Ausgang und verharren Sie nicht bei
einer einseitigen Fallgestaltung. Wir wollen in echten
Härtefällen helfen. Wo Frauen gepeinigt werden, da sind
wir dabei zu helfen. Aber so, wie Sie vorgehen, geht es
leider nicht.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Herr Kollege, wie denn? Wo ist Ihre Alternative?)


– Indem wir die Härtefallregelung, so wie sie jetzt vor-
geschlagen wurde, übernehmen, es aber bei der Frist von
vier Jahren belassen. Das ist die Antwort auf Ihren Zwi-
schenruf.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ina Lenke [F.D.P.]: Auf drei Jahre?)


– Auf vier Jahre. Härtefallregelung plus vier Jahre, das
ist die beste Lösung. Das ist unser Kompromissangebot.


(Hanna Wolf [München] [SPD]: Es liegt aber kein entsprechender Antrag vor!)


Ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass das Recht
angewandte Macht ist. Sie wenden heute – wir können
Sie davon nicht abhalten – Ihre Mehrheitsmacht an, weil
Sie ausländischen Frauen mehr Rechte geben wollen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Als deutschen Männern!)


In Wirklichkeit geben Sie aber auch kriminellen auslän-
dischen Männern mehr Macht über Frauen. Das wollen
wir nicht; deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf
ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409301500
Ich erteile nun der
Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Ihre Rede, Herr Dr. Uhl, hat
uns einen sehr tiefen Einblick in das finstere Denken
und in den Hintergrund gegeben, mit dem Sie an die
Frage des Verhältnisses von Ausländern und Deutschen
herangehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Sehr deutlich wurde das genau an den Fällen, die Sie
geschildert haben. Hier lebt eine bosnische Flüchtlings-

familie – oft seit vielen Jahren; wir wissen, dass der
Krieg schon vor zehn Jahren begonnen hat –, die Men-
schen trennen sich und es passiert das Normalste von der
Welt: Es finden sich neue Partner und sie finden sich –
weil diese Menschen nun einmal in diesem Land leben –
mit Deutschen. Es werden neue Ehen geschlossen – das
Normalste von der Welt.

Dieser Sachverhalt wird nun von Ihnen von vornhe-
rein zu einer Scheinehen-Tatsache umdefiniert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Zuruf von der SPD: Unglaublich!)


Das bedeutet, dass Sie gegenüber Migrantinnen und
Migranten schon vom Grundsatz her mit einer Ver-
dachtshaltung auftreten. Genau in diesem Punkte tren-
nen wir uns wirklich voneinander. Wir gehen davon
aus – die Kollegin Schmidt hat das sehr schön ausge-
drückt –, dass die Menschenrechte und die Würde des
Menschen für alle Menschen – unabhängig von der Na-
tionalität – von Anfang an angenommen werden müssen
und sich auch in unserer Rechtsordnung niederschlagen
müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Deswegen ist es sehr gut, wenn wir heute im Zusam-
menhang mit einem nationalen Aktionsplan zur Be-
kämpfung von Gewalt gegen Frauen auch darüber re-
den, welche neuen Rechte Migrantinnen und Migranten
zugestanden werden müssen, denn eines wissen wir:
Gewalt wird vornehmlich gegen Abhängige ausgeübt
und unser Ausländerrecht führt so, wie es jetzt aussieht,
immer auch dazu, dass sich Frauen – und Migrantinnen
dann auch noch doppelt – in Abhängigkeiten befinden.
Diese Abhängigkeiten so weit wie möglich zu lockern
ist das Ziel und der Inhalt des § 19 des Ausländergeset-
zes in der Form, wie er jetzt in der zweiten und dritten
Lesung debattiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie denken in Kategorien von Scheinehen. Wir wis-
sen, dass die Realität im Wesentlichen anders ist. Mich
beunruhigen die Katalogehen, die es hier gibt – darüber
haben Sie nichts gesagt, Herr Kollege Uhl –, also die
Fälle, in denen Männer Frauen missbrauchen. Ich habe
noch nicht gehört, dass es Kataloge gibt, in denen Män-
ner als Ehemänner angeboten werden. Ich meine also die
Katalogehen, bei denen Männer ausländische Frauen
missbrauchen und bei denen diesen Männern mit dem
bisherigen § 19 die Knute in die Hand gegeben wird, die
Ehe aufrechtzuerhalten, der Frau zu sagen: Wenn du
nicht aushältst, was ich dir antue, dann kann ich dich
wegschicken!


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Umtauschen!)

Das ist die Knute, die ich in der Hand habe. – Da wir in
Kategorien der Gleichheit von Männern und Frauen
denken, da wir auch Frauen Rechte geben wollen, wol-
len wir den Männern diese Knute aus der Hand nehmen

Dr. Hans-Peter Uhl






(A)



(B)



(C)



(D)


und deswegen wird die Bestandszeit dieser Ehen von
vier auf zwei Jahre verkürzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Wir gehen davon aus, dass Partnerschaften und Ehen
gleichberechtigt sein müssen, und zwar egal, welche Na-
tionalitäten zusammenkommen. Es geht um die Gleich-
heit von Mann und Frau. Das heißt, dass Ehen auf der
Basis von Freiheit aufrechterhalten werden müssen; erst
dann kann eine Partnerschaft gleichberechtigt werden.
Zu der Freiheit gehört auch das Recht zu gehen, Herr
Dr. Uhl. Ich weiß sehr gut, warum bei den Männern
immer diese Nervosität aufkommt, wenn es um das
Recht von Frauen geht zu gehen.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Deswegen sind Sie so starr gegen eine Reform des § 19:
Es geht Ihnen nicht wirklich um den Schutz der Frauen,
sondern es trifft viele Männer ins Mark, wenn sie aner-
kennen müssen, dass das Recht auch für die Frauen so
gestrickt ist, dass sie Freiheiten bekommen, dass sie
Entscheidungsfreiheiten bekommen, dass sie in der Ehe
nicht alles aushalten müssen, weder eine physische noch
eine psychische Misshandlung. Das ist der Inhalt dieses
neuen § 19: die Freiheit zu bleiben, aber auch die Frei-
heit zu gehen, wenn eine Ehe unerträglich wird – nicht
nur für deutsche Frauen, sondern auch für Migrantinnen
in diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409301600
Ich erteile das Wort
der Kollegin Hanna Wolf, SPD-Fraktion.


Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1409301700
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Uhl, nur
einen Satz zu Ihnen: Es stört nicht, wenn Männer in die-
ser Debatte das Wort ergreifen. Unerträglich ist nur, was
Sie gesagt haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich finde es sehr schlimm, dass die CDU/CSU-Fraktion
Sie heute hier hat reden lassen.


(Zuruf von der SPD: Und dann auch noch klatscht! – Zuruf von der CDU/CSU: Gibt es jetzt schon Redeverbot?)


Mit dem Aktionsprogramm zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen haben die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen ein Zeichen gesetzt. Damit
will die Bundesregierung in dieser Republik zum Aus-
druck bringen, dass – es stimmt, Frau Falk, dass wir die-
se Themen immer sehr engagiert zusammen beraten ha-
ben – sie endlich etwas auf den Weg bringt und Gesetze
macht. Deshalb möchte ich meinen Dank an die Betei-
ligten zum Ausdruck bringen: an die Frauenministerin
Christine Bergmann, die Justizministerin Herta Däubler-
Gmelin, den Innenminister Otto Schily, die Bildungsmi-
nisterin Edelgard Bulmahn, die Entwicklungsministerin

Heidemarie Wieczorek-Zeul und auch den Arbeitsminis-
ter Walter Riester. Alle haben ihren Beitrag zu diesem
Aktionsprogramm geleistet und Gesetzesvorschläge
unterbreitet. Deswegen mein herzlicher Dank, dass
dieser Aktionsplan heute so einmütig von dieser
Bundesregierung getragen wird!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es ist für mich eine besondere Freude, dass wir mit
großer Mehrheit in diesem Haus § 19 des Ausländerge-
setzes in der neuen Form verabschieden. Ich freue mich
auch sehr, dass die F.D.P. dies nach einer intensiven
Diskussion – ich gebe zu, dass sie eine Verdeutlichung
in das Gesetz hineingebracht hat – ebenfalls mitträgt.

Frau Falk, es tut mir ein bisschen weh, dass Sie heute
nicht mitstimmen,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hanna, das weißt du doch noch gar nicht! Die stimmt doch noch zu!)


obwohl wir in vielen Punkten, wenn auch nicht in allen,
übereinstimmen. Aber wenn Herr Uhl hier eine solche
Rede halten darf, gibt es, glaube ich, keine Chance für
Frauen aus Ihrer Fraktion, heute mit uns zu stimmen.
Das finde ich schlimm!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Dann haben Sie es überhaupt nicht richtig verstanden!)


Frau Falk, ich kann Ihnen leider nicht ersparen, dass
ich hier einmal der Wahrheit die Ehre gebe. Herr Merz
ist leider gegangen. Trotzdem muss ich sagen: Ja, es gab
eine sehr dramatische, aber doch eindrucksvolle Debatte
im Deutschen Bundestag, bevor wir für die Bestrafung
der Vergewaltigung in der Ehe ein Gesetz verabschie-
den konnten, wie es auch für die Bestrafung der Verge-
waltigung außerhalb der Ehe eines gibt. Viele von Ihnen
haben sehr mutig mitgestimmt, gerade viele Frauen. Ich
sehe einige, die dabei waren. Ich nenne einmal Frau
Karwatzki, die das Gesetz mit vorangebracht hat. Aber
Ihr neuer Hoffnungsträger und jetzt Fraktionsvorsitzen-
der, Herr Friedrich Merz,


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein guter Mann!)

hat bei der Abstimmung über die Sanktionierung der
Vergewaltigung von Ehefrauen mit Nein gestimmt. Das
finde ich ziemlich schlimm. Dass er nun auch noch Ihr
Fraktionsvorsitzender ist, lässt befürchten, dass von die-
sem Thema bei Ihnen noch nichts angekommen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Eigentlich sollte er seine Meinung korrigieren und sich
entschuldigen.

Wir bringen heute Gesetze auf den Weg, einschließ-
lich der Reform des § 19. Praktisch kurz vor dem

Marieluise Beck (Bremen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Abschluss steht das Recht von Kindern auf ge-
waltfreie Erziehung. Es ist für uns sehr wichtig, dass es
wirklich als Recht von Kindern auf gewaltfreie Erzie-
hung bezeichnet wird. Ich hoffe, dass wir da noch einen
Kompromiss finden werden. Die häusliche Gewalt soll
endlich sanktioniert werden. Sie ist nämlich nicht eine
Privatsache, sondern eine gesellschaftliche Angelegen-
heit. Unsere Justizministerin wird sicherlich noch etwas
dazu sagen.

Frau Ministerin Bergmann hat klar und eindeutig da-
rauf aufmerksam gemacht, dass Prävention, also Verhü-
tung von Gewalt, eine große Aufgabe für uns alle in
dieser Gesellschaft ist: in den Schulen, um die alten Rol-
lenklischees zu überwinden, in den Jugendzentren; über-
all muss thematisiert werden, dass Gewalt geächtet ge-
hört.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben auch angesprochen, dass wir endlich etwas

gegen den Frauenhandel unternehmen wollen. Dieses
Thema wird auch von der Reform des § 19 des Auslän-
dergesetzes mit erfasst. Wir brauchen das Zeugen-
schutzprogramm und deswegen eine Abschiebefrist von
mindestens vier Wochen. Aber wir brauchen ebenso Hil-
fen für die Frauen, die man nach Deutschland gelockt
und dann in die Prostitution gezwungen hat. Ihnen muss
auch in ihrem Heimatland geholfen werden. Es gibt ja
die Zusammenarbeit zwischen den nicht staatlichen Or-
ganisationen. Diese müssen wir stärken.


(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Wir brauchen – auch da waren wir in diesem Parla-
ment einig – eine Gesetzgebung, die auch das Asylrecht
dahin gehend präzisiert, dass Genitalverstümmelung als
Grund für das Recht auf Asyl anerkannt wird. Wir hof-
fen, dass dies durch die europäische Gesetzgebung und
die Novellierung des Asylrechts ermöglicht wird. Ich
denke, dass wir uns darin einig sind.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409301800
Frau Kollegin Wolf,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?


(Zuruf von der SPD: Um Gottes willen!)



Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1409301900
Ja.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409302000

Frau Kollegin, ich möchte folgende Frage stellen: Wie
können Sie durch die Neuformulierung des § 19 des
Ausländergesetzes Frauenhandel verhindern? Diese Fra-
ge würde ich gerne von Ihnen beantwortet haben. Öffnet
nicht vielmehr Ihre neue Formulierung dem Missbrauch
Tür und Tor, und ist es nicht richtig, dass mit der derzei-
tigen Regelung des § 19 alle schwierigen Fälle – es mag
Fälle geben, die verwaltungsmäßig problematisch ent-
schieden worden sind – gelöst werden?


Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1409302100
Alle Fälle werden
sicherlich nicht gelöst. Marieluise Beck hat ja darauf
hingewiesen, dass dieser Kataloghandel, also das Recht,
Frauen umzutauschen, oft deswegen ermöglicht wird,
weil die betroffenen Frauen kein eigenständiges Aufent-
haltsrecht haben. Das heißt, die Ehemänner kündigen
einfach die Ehe auf, wenn ihnen die Ehe nicht passt.
Damit erledigt sich für den Mann das Problem, und die
Frau wird ausgewiesen. Halten Sie das für richtig? Ich
denke, die Neuformulierung des § 19 des Ausländerge-
setzes ist ein Schritt, um ein solches Vorgehen zu be-
kämpfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409302200

Sind Sie denn nicht wie ich der Auffassung, dass gerade
dieser Fall des Frauenhandels durch den bestehenden
§ 19 des Ausländergesetzes voll und ganz geregelt wird,
und zwar zur Zufriedenheit der misshandelten Frau?
Frau Kollegin, es ist wirklich so. Deswegen ist der § 19
in der neuen Form überflüssig. Das wird Ihnen jeder
Fachmann, jeder Jurist sagen.

Daher frage ich Sie: Sind Sie nicht der Meinung, dass
die bestehende Regelung gerade im Hinblick auf die
Verhinderung des Frauenhandels voll und ganz aus-
reicht? Ich bitte darum, diese Frage ganz konkret zu be-
antworten.


Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1409302300
Wir gehen davon
aus, dass sie nicht ausreicht. Wenn Sie meinen, sie rei-
che aus, dann sehen Sie das eben anders; aber auch dann
schadet die Neuregelung nicht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409302400
Kollegin Wolf, ge-
statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Beck?


Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1409302500
Ja.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409302600

Frau Kollegin, sind Sie mit mir der Auffassung, dass im
Gegensatz zu den Missbrauchsbefürchtungen von Herrn
Marschewski der eigentliche Missbrauch dann besteht,
wenn Männer mit ihren ausländischen Frauen, die sie
sich in einem Katalog ausgesucht haben, zum Notar ge-
hen, die jeweilige Frau notariell auf alle Unterhalts-
rechte verzichtet, der Mann mit der Ehe faktisch keine
Verpflichtung eingeht und die betroffene Frau finanziell,
aber auch ausländerrechtlich völlig schutzlos gestellt ist,
wenn ihr Mann seine Machtstellung in der Ehe auslebt?
Sollten wir nicht noch einmal darüber nachdenken, ob
damit die Ehe sittenwidrigerweise ausgehöhlt wird und
ob in diesem Zusammenhang nicht eine Missbrauchs-
regelung notwendig ist, die vielleicht auch von der
CDU/CSU im Sinne eines Schutzes der Ehe bzw. in die-
sen Fällen der Ehefrauen unterstützt wird?

Hanna Wolf (München)







(A)



(B)



(C)



(D)



Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1409302700
Herr Kollege Beck,
ich stimme voll mit Ihnen überein. Es wäre wirklich
angemessen – damit möchte ich auf den Vorwurf von
Herrn Uhl an sich selber dahin gehend, dass er hier als
Mann spricht, eingehen –, wenn sich angesichts dieses
Themas mehr Männer engagieren würden.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber ein bisschen Sachkenntnis müssten die dann haben!)


Letztendlich geht nämlich die Gewalt von den Männern
aus. Wer könnte Männern besser klarmachen, dass Ge-
walt geächtet werden muss? Männer können Männern
sehr viel besser sagen, dass es sich nicht gehört, so mit
Frauen umzugehen.


(Zustimmung beim BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN)


Das wäre eine große Hilfe. Folgenden Appell möchte
ich an das gesamte Parlament, an die Öffentlichkeit und
auch an alle Männer richten: Helft mit, dass Männer
Frauen nicht mehr mit Gewalt begegnen! Das wäre heu-
te ein gutes Signal, das wir nach außen geben können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich möchte mit folgendem Hinweis schließen: Mit
der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bekämpfen
wir Gewalt als solche auch in unserer Gesellschaft. Ich
glaube, das bringt dieses Parlament heute mit dieser De-
batte zum Ausdruck.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409302800
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1409302900
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst
daran erinnern, dass die geltende Fassung des § 19 des
Ausländergesetzes in der letzten Legislaturperiode vom
Vermittlungsausschuss gestaltet worden ist, also faktisch
von einer großen Koalition. Entsprechend sah das Er-
gebnis aus: ein Zwitter, ein Formelkompromiss. SPD
und Grüne konnten Verbesserungen des eigenständigen
Aufenthaltsrechts von geschiedenen Ehegatten für sich
reklamieren, aber die Union, insbesondere die CSU,
konnte mit gleichem Recht gegenüber ihrer Wähler-
klientel behaupten, dass ausländische Ehegatten nach ei-
ner Scheidung weiterhin ausgewiesen und abgeschoben
werden. Kurzum: Dies war eine in sich widersprüchliche
Regelung mit unklarem Inhalt, die in den Ländern zu ei-
ner unterschiedlichen Verwaltungspraxis geführt hat.
Das kann so nicht bleiben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt daher die
vorliegende Novelle des Ausländergesetzes insofern, als

die so genannten Härtefälle, bei denen ein eigenständi-
ges Aufenthaltsrecht unabhängig von Fristen zuerkannt
wird, nunmehr präziser definiert sind. Fälle, wie in
Kempten geschehen – dieser Fall ist heute schon ange-
sprochen worden –, sind künftig nicht mehr möglich.
Dies ist gegenüber der Gesetzeslage von 1996 eindeutig
ein Fortschritt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Koalitionsentwurf in seiner ursprünglichen Fas-
sung hatte aber eine Widersprüchlichkeit der alten Rege-
lung beibehalten wollen. Auf Betreiben Bayerns war
1996 im Vermittlungsausschuss festgelegt worden, dass
trotz Vorliegens eines Härtefalls geschiedene ausländi-
sche Ehegatten ausgewiesen und abgeschoben werden
können, wenn sie sozialhilfeberechtigt sind. Graf
Lambsdorff hat dies damals als kleinlich und menschlich
schäbig kritisiert. Wir schließen an seine Kritik an.
Deswegen hat die F.D.P. im jetzigen Gesetzgebungsver-
fahren darauf hingewirkt, dass diese Sozialhilfeklausel
nur noch gilt, wenn der oder die Betroffene die Sozial-
hilfebedürftigkeit selbst zu vertreten hat, also etwa bei
grundloser Verweigerung der Annahme angebotener
Arbeit.

Dieser Änderungsantrag der F.D.P. war notwendig,
weil man den Frauen – um diese geht es im Wesentli-
chen – ansonsten Steine statt Brot gegeben hätte. Dann
nämlich wäre es zwar zu einer auf dem Papier großzügi-
geren Härtefallregelung gekommen, was aber durch
Beibehaltung der alten Sozialhilfeklausel sofort wieder
konterkariert worden wäre; denn in den kritischen Fällen
liegt meistens unverschuldete Sozialhilfebedürftigkeit
vor. Den betroffenen Frauen hätte daher weiterhin Aus-
weisung und Abschiebung gedroht.

Wir stellen mit Befriedigung fest, dass unser Ände-
rungsantrag in den Ausschüssen von allen Fraktionen
mit Ausnahme der CDU/CSU unterstützt worden ist und
dieser Gesetzentwurf somit gegenüber der Fassung aus
der ersten Lesung im Interesse der Frauen in einem
Punkt entscheidend verbessert worden ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Von einer Zustimmung zur gesamten Neuregelung
trennt uns aber die Frage, wie einem denkbaren Miss-
brauch des eigenständigen Aufenthaltsrechts entge-
gengewirkt werden kann. Die Koalition ist der Meinung,
dass man einem solchen, immerhin denkbaren Miss-
brauch in Normalfällen, nicht also in Härtefällen, mit ei-
ner Fristsetzung von zwei Jahren Bestandsdauer der Ehe
in Deutschland entgegenwirken muss. Die F.D.P.-
Fraktion meint, diese Frist sei zu kurz bemessen und
sollte auf drei Jahre ausgeweitet werden.

Dieser Teil unseres Änderungsantrages ist in den
Ausschüssen abgelehnt worden. Wir wiederholen ihn
daher im Plenum in zweiter Lesung. Die F.D.P.-Fraktion
macht ihr Gesamtvotum vom Ausgang der Abstimmung
über diesen Änderungsantrag abhängig.






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409303000
Nun erteile ich der
Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist gut, wenn wir an einem Tag wie heute, in
einer Debatte, in der es insbesondere um die Bekämp-
fung von Gewalt gegen Frauen geht, gemeinsam und öf-
fentlich drei Feststellungen treffen. Erste Feststellung:
Wir lehnen Gewalt ab, Gewalt ist unzulässig. Wir gehen
alle gemeinsam entschlossen gegen sie vor.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir wissen genau, dass dies nicht nur eine Frage der
Moral ist. Das betrifft vielmehr den Kern unseres
Selbstverständnisses in unserem Rechtsstaat und auch
unsere Rechtskultur.

Zweite Feststellung: Der Staat hat zentral die Aufga-
be, Schwächere zu schützen, ihnen gegen Gewalt zu hel-
fen und damit dazu beizutragen, dass Gewalt allgemein
zurückgedrängt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die dritte Feststellung, die wir alle gemeinsam treffen
sollten, ist, dass Opfern von Gewalt und Schwächeren
geholfen werden muss, dass das viel zu häufig Frauen,
Kinder und in zunehmendem Maße auch Ältere sind und
dass Gewalt viel zu häufig auch heute noch bzw. heute
wieder in Familien stattfindet.

Meine Damen und Herren, der Aktionsplan der Bun-
desregierung macht sehr gut deutlich, dass wir Gewalt,
gerade auch Gewalt in der Familie, mit unterschiedli-
chen Instrumenten, mit unterschiedlichen Mitteln und
auf unterschiedlichen Wegen bekämpfen müssen, wenn
wir erfolgreich sein wollen. Diese rot-grüne Bundesre-
gierung hat sich zum Ziel gesetzt, erfolgreich zu sein.
Das sind wir den Schwächeren und den Opfern schuldig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich habe mich über das,
was die Kollegin Falk zur Gewalt in der Familie gesagt
hat, sehr gefreut. Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz.
Darauf sollten wir unsere gemeinsame Politik über die
Parteigrenzen hinweg aufbauen. Aber lassen Sie mich
eines hinzufügen: Gewalt in den Familien ist aus mehre-
ren Gründen besonders problematisch. Sie ist über das
Leiden der Opfer hinaus problematisch. Warum ist sie
das? Sie ist es, weil wir ganz genau wissen, dass Gewalt
dort gelernt und weitergegeben wird. Frau Falk, Kinder
werden nicht gewalttätig oder als Schläger geboren,
sondern sie werden durch eigene leidvolle Erfahrungen
und schlechte Vorbilder zu Gewalt gebracht, sie werden
durch Gewalttätige und Schläger zu Gewalt und auf die
schiefe Ebene gezogen. Genau deshalb müssen wir hier
eingreifen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen auf verschiedenen Ebenen aber auch da-
durch eingreifen, dass wir Gewalt in der Erziehung,
Gewalt als Erziehungsmittel durch Gesetz ächten. Wir
müssen dies allen Menschen, die dies noch nicht wissen
und uns zuhören, klarmachen und mit ihnen besprechen.
Wir zielen damit auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit,
wir zielen auf den guten Willen der Eltern, zu erkennen,
dass man mit Gewalt nichts erreicht, außer Menschen
gewaltgeneigter zu machen. Erziehung findet dadurch
nicht statt. Es ist richtig, die Fähigkeit zur Erziehung zu
stärken. Auch das ist Teil der Politik dieser Bundesre-
gierung. Dazu brauchen wir natürlich auch die Eltern.
Wir brauchen aber auch die Jugendämter, wir brauchen
alle, die guten Willens sind. Aber Erziehung und Erzie-
hungsfähigkeit zu stärken ist das eine, deutlich zu ma-
chen, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört, ist das
andere. Das können wir als Bundesgesetzgeber sehr
deutlich machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen auch deutlich machen, dass Erziehung
Fördern und Fordern bedeutet, dass Erziehung bedeutet
Vorbild zu sein, dass Erziehung bedeutet, das Selbstbe-
wusstsein von Kindern zu stärken, und dass Erziehung
hin zu Solidarität, zu Menschlichkeit, aber auch zu
Selbstbewusstsein und demokratischem Verhalten füh-
ren muss. Gerade darauf, meine Damen und Herren von
der Opposition, müssen Kinder ein Recht haben, wenn
es wirksam sein soll.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Deshalb werben wir auch bei Ihnen für das Gesetz zur
Ächtung von Gewalt in der Erziehung.

Wir müssen auch auf anderen Wegen gegen Gewalt
vorgehen. Wir müssen den Opfern helfen. Deshalb ha-
ben wir das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich ge-
macht. Deswegen haben die Justizministerinnen und
Justizminister auf europäischer Ebene endlich Maßnah-
men zur Verhinderung und Bekämpfung des Frauen-
handels eingeleitet. Natürlich dauert das lange. Natür-
lich ist das kompliziert. Aber wir haben einen Anfang
gemacht, und mit der Unterstützung des gesamten Hau-
ses, des gesamten Parlaments, werden wir ein Stück
weiter kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Nächste ist deshalb der Gesetzentwurf, den ich
heute hier vorstelle und der jetzt in das parlamentarische
Gesetzgebungsverfahren kommt. Frau Falk, ich dachte
übrigens, dass heute der richtige Zeitpunkt und der
Deutsche Bundestag der richtige Ort ist, um das zu tun.
Gerade deswegen haben wir unser Gewaltschutzgesetz
vorgelegt und wollen es als Teil des Aktionsplans, der
von der Kollegin Bergmann vorgestellt wurde, gegen
Gewalt einsetzen.

Dr. Max Stadler






(A)



(B)



(C)



(D)


Was erreichen wir damit? Wir verstärken den zivil-
rechtlichen Schutz für gequälte und geschlagene Frau-
en. Wir haben im Zivilrecht heute schon einige Mög-
lichkeiten. Ansprüche auf Unterlassung, auf Schadener-
satz, auf Schmerzensgeld und bisweilen auch – bei Vor-
liegen der Voraussetzungen – auf Zuweisung der ge-
meinsamen Wohnung. Aber wir wissen genau, dass die
Durchsetzung dieser Ansprüche im täglichen Leben
bisweilen zu viel Mühe erfordert. Die Durchsetzung der
Ansprüche müssen wir erleichtern und ergänzen und das
versuchen wir.
Wie machen wir das? Unser Gesetzentwurf sieht zwei
wesentliche Dinge vor: einmal die Erleichterung der
Wohnungszuweisung – –


(Im Plenarsaal ist deutlich eine Lautsprecherdurchsage zu vernehmen, die über den momentan behandelten Tagesordnungspunkt informiert)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409303100
Liebe Kollegen und
Kolleginnen, wir werden offensichtlich darüber infor-
miert, was wir gerade behandeln. Ein herzliches Danke-
schön!


(Heiterkeit und Beifall)


Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Lassen Sie mich noch einmal da beginnen, wo
wir von der Stimme aus dem Hintergrund unterbrochen
wurden. Wie machen wir das? Wir tun das durch zwei
wesentliche Neuerungen. Einmal erleichtern wir die
Wohnungszuweisung. Das ist gut und richtig. Bisher –
seit in den siebziger Jahren; und es war schwer, das da-
mals durchzusetzen, – hatten geschlagene Frauen und
deren Kinder letztlich nur noch die Möglichkeit, ins
Frauenhaus zu gehen. Es ist ein Glück, dass es die gibt.
Frauenhäuser sind dringend nötig und jeder, der seinen
Beitrag dazu leisten kann, sie zu unterstützen, muss dies
tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber eigentlich empört sich da doch unser Rechtsbe-
wusstsein. Ich bin ganz sicher, dass auch das über die
Fraktionen und Parteien dieses Hauses hinweg so ist. Es
empört unser Rechtsbewusstsein, wenn das Opfer, die
geschlagene Frau, ins Frauenhaus flüchten muss, wäh-
rend der Täter, der Schläger, der prügelnde Mann, der
den Mietvertrag unterschrieben hat, die Wohnung behal-
ten darf.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das ist ungeheuerlich!)


Weil uns das empört und weil es nicht richtig ist und der
Aufgabe des Staates, Schwächeren zu helfen, geradezu
ins Gesicht schlägt, sagen wir: Wir drehen das um und
verpflichten den Schläger zu gehen, während die Ge-
schlagene bleibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])


Das ist das Ziel. Dazu brauchen wir die Möglichkeit der
Erleichterung der Wohnungszuweisung.

Als Zweites schaffen wir die Möglichkeit für neue
gerichtliche Anordnungen, Menschen, insbesondere
prügelnden Männern, vorzuschreiben, wie sie sich in
Zukunft nicht mehr verhalten dürfen. Wir schaffen die
Möglichkeit, durch Anordnung Hausverbote und Beläs-
tigungsverbote sowie Verbote, sich geschlagenen Ehe-
frauen oder den Kindern zu nähern, auszusprechen. Wir
sanktionieren das bei Nichteinhaltung der Anordnung
mit Ordnungsgeld und unter Umständen Ordnungshaft.

Ich sage hier ganz offen: Es steht noch nicht fest, ob
wir nicht später, wenn die Praxis das verlangt, mit Buß-
geld – oder Strafvorschriften nachlegen müssen. Das al-
les wird noch zu diskutieren sein. Eines ist aber auf je-
den Fall wichtig: Solche Anordnungen werden nicht nur
dann ergehen, wenn bereits geschlagen wurde bzw. –
wie die Juristen es nennen – die Verletzung bereits er-
folgt ist. Wir setzen die Bedrohung mit der Verletzung
gleich. Deswegen soll es auch vorbeugend Anordnungen
treffen. Ich glaube, dass ist genau das, was wir brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss [PDS])


Wir wissen genau: Die Österreicher haben damit gute
Erfahrungen gemacht. Sie haben auch deshalb gute Er-
fahrungen gemacht, weil sie nicht nur Gesetze geändert
haben, sondern weil es ihnen gelungen ist, mit der Öf-
fentlichkeit und auch mit gutwilligen Männern – also
genau auf die Weise, die die Kolleginnen Schmidt und
Wolf hier vorgetragen haben – in das Bewusstsein der
Menschen und der Männer hinein zu wirken und Ände-
rungen zu erreichen. Das haben auch wir vor.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt ei-
nen Teil vermissen, den Frau Falk angesprochen hat.
Auch ich will dazu etwas sagen. In Österreich sind Jus-
tiz und Polizei Aufgaben der zentralen Regierung. Dort
können vorläufige polizeiliche Wegweisungsrechte auf
Bundesebene geregelt werden. Wir können das nicht.
Wir haben den Ländern schon vor mehr als einem hal-
ben Jahr geschrieben und sie gebeten, zu überprüfen, ob
und gegebenenfalls wie polizeiliche Wegweisungsrechte
rechtsstaatlich verwirklicht werden können. Ich schließe
mich Ihrem Appell an die Länder, so wie ich ihn ver-
standen habe, an, sehr schnell in die Prüfung einzutreten.
Selbstverständlich helfen wir gern dabei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen
sind, wie gesagt, gut. Wir möchten, dass dieser Aktions-
plan über den heutigen Tag hinaus ernst genommen
wird, dass darüber beraten wird und dass wir mit einer
möglichst breiten Unterstützung des Deutschen Bundes-
tages in der Öffentlichkeit sagen können: Wir schützen
Schwächere und wir sind gegen Gewalt. Das ist das Sig-
nal für die Öffentlichkeit, das wir brauchen.

Herzlichen Dank.

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1409303200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Änderung des Ausländergesetzes.

Zur Abstimmung hat die Kollegin Jelpke eine schrift-
liche Erklärung abgegeben.*)

Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/2917 vor, über den wir zuerst ab-
stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der
F.D.P.-Fraktion? – Wer stimmt dagegen? – Stimment-
haltungen? – Damit ist der Änderungsantrag mit den
Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der
Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und einige
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.

Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der PDS-Fraktion sowie einigen Stim-
men aus der F.D.P.-Fraktion und einer Stimme aus der
CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der Mehrheit
der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimmenthaltungen
aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, von
Bündnis 90/Die Grünen, der PDS-Fraktion, einigen
Stimmen aus der F.D.P.-Fraktion und zwei Stimmen aus
der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der großen
Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimment-
haltungen aus der F.D.P.-Fraktion angenommen worden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2812 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.


(Recklinghausen)

und der Fraktion der CDU/CSU

Modernes europäisches Asyl- und Ausländer-
recht

*) Anlage 4

– Drucksache 14/2695 –
Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-

lung
Ausschuss für die Angelegenheit der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeord-
neten Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1409303300
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund einer Initia-
tive der CDU/CSU-Bundestagsfraktion debattieren wir
heute über die Frage, was die Bundesrepublik Deutsch-
land gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäi-
schen Union unternehmen muss, um die dringend not-
wendige Harmonisierung des Asyl- und Ausländer-
rechts zügig voranzutreiben.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Die Erörterung unseres Antrages kann jedoch nicht iso-
liert von anderen ausländer- und asylrechtlichen Fragen
erfolgen, die uns hier im Parlament, aber auch und vor
allem die Menschen im Lande intensiv beschäftigen.

Wir haben uns in den vergangenen Jahren viel zu
lange mit der Erörterung der Frage beschäftigt, ob
Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder
nicht. Ob man die Bundesrepublik als Einwanderungs-
land bezeichnet oder nicht, ist ausschließlich eine Frage
der Definition, ohne dass mit der Beantwortung der Fra-
ge mit Ja oder Nein irgendein Erkenntnisfortschritt oder
gar eine sachliche Problemlösung verbunden wäre. Im
Gegenteil: Wer sich ständig nur mit dieser Frage be-
schäftigt und sie je nach politischer Interessenlage mit Ja
oder Nein beantwortet, gerät leicht in die Gefahr, die
wirklich wichtigen Fragen des deutschen Asyl- und Aus-
länderrechts sowie einer europäischen Harmonisierung
auf diesem Gebiet zu vernachlässigen.

Man kann diese Frage deskriptiv oder normativ be-
antworten. Wer die Ansicht vertritt, dass jedes Land ein
Einwanderungsland ist, in das Angehörige ausländischer
Staaten einreisen, um sich dort auf Dauer niederzulas-
sen, der wird bei einer Zahl von über 7 Millionen Aus-
ländern selbstverständlich behaupten, dass Deutschland
ein Einwanderungsland ist. Wer mit guten Argumenten
die Auffassung vertritt, dass man richtigerweise nur sol-
che Länder als Einwanderungsländer bezeichnen könne,
die sich gezielt und nachhaltig um Einwanderung bemü-
hen, der kann die Bundesrepublik selbstverständlich
nicht als Einwanderungsland bezeichnen,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


da wir spätestens seit dem Anwerbestopp aus dem Jahre
1973 aus guten innerstaatlichen Gründen nicht mehr um
Zuwanderung werben.

Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin






(A)



(B)



(C)



(D)


Angesichts des Umstandes, dass wir uns durch die
Erörterung dieser Frage seit langer Zeit rhetorisch im-
mer wieder im Kreise drehen, plädiere ich mit Nach-
druck dafür, dass wir uns alle gemeinsam von Schlag-
worten und Überschriften lösen


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


und uns stattdessen mit Inhalten, also mit den Problemen
und Chancen unseres Landes beschäftigen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es denn so wäre, wäre es ja gut!)


Eine ähnlich skurrile Debatte führen wir derzeit zu
dem Thema Videoüberwachung von öffentlichen Räu-
men. Niemand in der Union denkt daran, die Republik
einer flächendeckenden Videoüberwachung zu unterzie-
hen. Es geht nur um die Frage, ob Videoeinsatz an eini-
gen ausgewählten Kriminalitätsbrennpunkten sinnvoll
sein könnte – und wenn ja, wie man datenschutzrecht-
lichen Bedenken Rechnung tragen kann. Um alles ande-
re geht es bei dieser Frage nicht. Ich bin der festen Über-
zeugung: Die Menschen in der Republik sind es leid,
dass wir uns nicht selten um des Streites willen streiten;
sie verlangen stattdessen von uns, dass wir Probleme
nicht nur analysieren, sondern auch lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Was wir gerade auf dem ebenso wichtigen wie sen-

siblen Gebiet des Ausländer- und Asylrechts benötigen,
ist eine von jeder Ideologie befreite Erörterung der Fra-
ge: Was ist gut und notwendig für die Zukunft unseres
Landes und die Menschen, die hier leben? Ich bin sehr
dafür, dass wir Debatten zur Ausländerpolitik zwar nicht
emotionslos, aber dass wir sie ruhig und sachlich führen.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja!)


Aber es kann nicht sein, dass bestimmte Sachverhalte
nur von Sozialdemokraten, aber nicht von den Mitglie-
dern der Union erwähnt werden dürfen, weil es dann so-
fort eine straff organisierte Empörung der politisch Kor-
rekten gibt.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ja!)

Der Bundesinnenminister hat vor einigen Monaten

völlig zutreffend festgestellt – ich zitiere –:
Die Grenze der Belastbarkeit der Bundesrepublik
durch Zuwanderung ist überschritten.

Rustikal formuliert: Das Boot ist nicht nur voll, sondern
überfüllt.

Meine Damen und Herren, was wäre eigentlich pas-
siert, wenn sich ein Innenminister von CDU oder CSU
derart geäußert hätte? – Mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit wäre eine Welle der Empörung
durch unser Land gegangen, vorneweg die Sozialdemo-
kraten, und vermutlich wäre Ausländerfeindlichkeit der
allermildeste Vorwurf gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Richtig!)


Doch wenn der Kollege Jürgen Rüttgers nur zutref-
fend darauf hinweist, dass es wesentlich sinnvoller ist, in
die Ausbildung unserer Kinder und die Qualifizierung
von Erwerbslosen zu investieren, statt in den Ent-
wicklungs- und Schwellenländern dringend benötigte
Fachkräfte abzuwerben, muss er sich den Vorwurf gefal-
len lassen, dies sei – so Müntefering wörtlich – „Hetze
gegen Minderheiten“.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Er hat es doch anders formuliert, Herr Bosbach!)


Auf diesem Niveau kann man auf SPD-Parteitagen Er-
regungszustände organisieren, aber man löst kein einzi-
ges Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist für uns immer von Interesse, was ein Innenmi-

nister öffentlich äußert. Aber uns und die deutsche Öf-
fentlichkeit interessiert viel mehr, was er eigentlich un-
ternimmt, um unser Land von der von ihm persönlich
diagnostizierten Überbelastung zu entlasten. All das,
was wir an konkreter Politik erleben oder an Planungen
erfahren, deutet nicht auf Begrenzung, sondern auf einen
stärkeren Zuzug hin.

Beispielhaft erwähnen möchte ich die so genannte li-
beralere Visapolitik. Sie soll eine Abkehr von der Poli-
tik der Union sein, unter deren Regierung – so Ihr Vor-
wurf – das Verhindern illegaler Einreise sehr stark im
Vordergrund gestanden habe. Jawohl, wir wollten nicht,
dass Besuchsvisa für einen illegalen Daueraufenthalt
missbraucht werden. Das soll jetzt geändert werden. Im
Klartext: Der Innenminister stellt fest, dass die Grenze
der Belastbarkeit überschritten ist. Der Kollege Außen-
minister organisiert gleichzeitig eine Abkehr von dem
Ziel, die illegale Einwanderung durch Visamissbrauch
so weit wie eben möglich zu unterbinden.

Zum Themenkomplex „Straffälligkeit von Auslän-
dern und deren Konsequenzen“ steuerte unser heutiger
Bundeskanzler als damaliger Ministerpräsident von Nie-
dersachsen mit der ihm eigenen Präzision und Sensibili-
tät unter anderem Folgendes bei:

Beim organisierten Autodiebstahl sind die Polen
nun einmal besonders aktiv. Das Geschäft mit der
Prostitution wird beherrscht von der Russenmafia.
Wer das Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur
eins: Raus, und zwar schnell.

Bleiben Sie ruhig. Er ist Ihr Kanzler.
Man darf gar nicht daran denken, was in unserem

Land geschehen wäre, wenn sich ein Politiker der Union
so geäußert hätte. Wie hat sich der Bundeskanzler tat-
sächlich verhalten? Unsere Vorschläge für ein strengeres
Recht zur Ausweisung von ausländischen Straftätern
wurde auch von ihm im Parlament abgelehnt. Wir brau-
chen eine ruhige, ideologiefreie Istanalyse, mit dem
Ziel, Ursachen von Fehlentwicklungen zu vermeiden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Durch die seit Jahrzehnten andauernde starke Zu-

wanderung, insbesondere von Asyl begehrenden

Wolfgang Bosbach






(A)



(B)



(C)



(D)


Ausländern und Bürgerkriegsflüchtlingen, trägt unser
Land eine Last, die es auf Dauer nicht tragen kann. Frau
Kollegin Beck, Sie können ganz entspannt bleiben. Ich
kenne die Zahlen und weiß, dass der Fortzug von Aus-
ländern in den beiden letzten Jahren sogar stärker war
als der Zuzug. Ich möchte keine falschen Sachverhalte
vortäuschen. Aber unter den – im Saldo – 90 000 Aus-
wanderern waren 89 000 bosnische Bürgerkriegsflücht-
linge, die man nur einmal in ihr Heimatland zurückfüh-
ren kann. In den letzten zehn Jahren betrug der durch-
schnittliche Nettozuzug 200 000. Das macht nach Adam
Riese einen Nettozuzug von 2 Millionen innerhalb eines
Zeitraumes von zehn Jahren. Das muss man sagen dür-
fen. Das hat mit latentem Rassismus überhaupt nichts zu
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Großteil politisch gewollt!)


Dies ist insbesondere nachteilig für die Menschen, die
zu uns kommen und von denen die meisten auf Dauer
mit uns gemeinsam leben werden. Ein starker Zuzug ist
in aller Regel nicht integrationsfördernd, sondern inte-
grationshemmend. Wenn für die Zukunft unseres Landes
irgendetwas von überragender Bedeutung ist, dann ist es
eine gelungene Integration aller Migranten, die dauer-
haft und rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland
leben möchten. Deshalb wollen wir den Zuzug von
Nicht-EU-Ausländern weiter begrenzen.

Wir wollen innerhalb der EU eine gerechtere Vertei-
lung derjenigen Belastungen, die mit der Aufnahme ei-
ner großen Zahl von Asyl begehrenden Ausländern und
Bürgerkriegsflüchtlingen zwangsläufig verbunden sind.
Wir wollen und müssen auf allen staatlichen Ebenen die
Bemühungen um eine bessere und schnellere Integration
der hier rechtmäßig und dauerhaft lebenden Ausländern
verstärken. Dazu haben wir im vergangenen Jahr ein
schlüssiges und kluges Konzept vorgelegt. Es wurde oh-
ne inhaltliche Auseinandersetzung oder fundierte Sach-
kritik von Rot-Grün niedergestimmt. Von Alternativen
fehlt derzeit jede Spur.

Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, unsere Sorgen hinsichtlich einer Überbelas-
tung der Aufnahme- und Integrationskapazität unseres
Landes nicht teilen, so darf ich an ein Zitat von Willy
Brandt erinnern:

Es ist notwendig geworden, dass wir uns sorgsam
überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Ge-
sellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und
Verantwortung Halt gebieten.

Dieses Zitat stammt aus dem Jahre 1973, als der Aus-
länderanteil in der Bundesrepublik Deutschland um ein
Drittel geringer war als heute.

Natürlich muss und wird ein reiches Land wie die
Bundesrepublik Deutschland auch zukünftig aus huma-
nitären Gründen politisch Verfolgten oder von Krieg
und anderen Katastrophen Heimgesuchten Zuflucht bie-
ten. Das ist gar keine Frage. Es geht doch nur um die
Größenordnung und darum, dass wir nicht alleine und
auf Dauer eine Last tragen können, die die meisten eu-

ropäischen Länder nicht tragen können oder nicht tragen
wollen. Wir können nicht alle Probleme dieser Welt auf
dem Boden der Bundesrepublik lösen, ohne unser Land
und die hier lebenden Menschen zu überfordern.

Deshalb sagen wir in unserem Antrag: Es muss vor-
rangiges Ziel der EU-Politik sein, die Fluchtursachen
vorbeugend in den Herkunftsländern, in den Krisen-
regionen zu bekämpfen. Das hilft den betroffenen Men-
schen und es vermeidet unkontrollierte Wanderungsbe-
wegungen.

Es wird höchste Zeit, dass wir uns nicht heute mit je-
ner und morgen mit einer ganz anderen ausländerrechtli-
chen Frage beschäftigen. Vielmehr müssen wir uns ein-
mal ideologiefrei mit der Beantwortung der Frage befas-
sen: Welche Ausländer- und Zuwanderungspolitik ist im
Interesse der Bundesrepublik Deutschland und der Men-
schen, die hier leben? Ich füge hinzu: Es ist ganz gleich,
welche Staatsangehörigkeit sie haben.

In diesem Zusammenhang muss auch die Frage er-
laubt sein, ob wir uns auf Dauer unser derzeitiges welt-
weit einzigartiges Asylrecht erlauben können, obwohl
wir genau wissen, dass die Anerkennungsquote bei nur
circa drei Prozent liegt und dass die Rückführung der
rechtmäßig abgelehnten Asylbewerber oft mit großen
Problemen verbunden oder ganz und gar unmöglich ist –
von den Vorkommnissen in Bremen, über die sich die
Menschen zu Recht empören, ganz zu schweigen.

Niemand in der Union will das Asylrecht abschaffen.
Aber wer es auf Dauer für die wirklich politisch Ver-
folgten erhalten will, muss bereit sein, es so zu reformie-
ren, dass ein ganz überwiegender Missbrauch von
97 Prozent so weit wie eben möglich verhindert werden
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, das ist doch Stimmungsmache! Das wissen Sie doch ganz genau!)


Deshalb sollten wir einmal in aller Ruhe ohne gegen-
seitige Schuldzuweisungen darüber nachdenken, ob es
aus vielfältigen Gründen nicht wirklich notwendig wäre,
das derzeitige individuelle Asylgrundrecht in eine insti-
tutionelle Garantie abzuändern. Ich halte es für möglich,
dass wir dann, wenn wir die gerade geschilderten Pro-
bleme einer Lösung zuführen, neue Spielräume für Zu-
wanderung aus einem wohlverstandenen eigenen natio-
nalen Interesse gewinnen: zur Behebung eines Fachkräf-
temangels für Investoren und Wachstumschancen für
Forschung und Lehre.

Aber wir können nicht gleichzeitig – das ist unser
Punkt – einen ungesteuerten und unsteuerbaren Zuzug
beibehalten, im europäischen Vergleich überproportio-
nale Lasten tragen, durch Verwaltungsvollzug Einreise-
anreize schaffen und darüber hinaus weltweit 10 000
oder mehr Arbeitnehmer anwerben.

Wir wollen auch vorurteilsfrei die Absicht – unter der
Überschrift Green Card – diskutieren, eine neue Zu-
wanderung von Fachkräften im Interesse der deutschen
Wirtschaft zu organisieren, wohl wissend, dass diese
Idee nichts mit der US-amerikanischen Green Card zu

Wolfgang Bosbach






(A)



(B)



(C)



(D)


tun hat. Der Kanzler hat sich das wohl so vorgestellt,
dass EDV-Spezialisten aus Osteuropa oder dem indi-
schen Subkontinent für fünf Jahre in die Bundesrepublik
einreisen – ob mit oder ohne Familie, schauen wir mal.
Während dieser Zeit legt sich die Wirtschaft mächtig ins
Zeug und bildet aus. Wenn dann die Aus- und Fortge-
bildeten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, gehen
die Angeworbenen am nächsten Tag wieder nach Osteu-
ropa oder Indien zurück.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier
nicht über seelenlose Roboter, sondern über Menschen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Das sagt die CDU oder was?)


Die Erfahrungen der Vergangenheit lehren uns, dass
nicht alle, aber sehr viele Arbeitsmigranten bei Frist-
ablauf nur einen einzigen Wunsch haben, nämlich den,
auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben zu können. Der
Wunsch ist menschlich verständlich. Er kollidiert aber
mit der richtigen Feststellung des Innenministers, dass
die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung über-
schritten sind.

Will die Bundesregierung, dass sich die Menschen
und die Familien bei uns integrieren? Wenn ja, wie kann
man sie dann nach Fristablauf – nach dem Motto: Der
Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann ge-
hen – wieder nach Hause schicken? Wenn nein, kann ei-
ne Desintegration in unserem Interesse sein? Wir sind
nicht aus Prinzip oder Ideologie gegen die Initiative.
Aber wir haben viele Fragen und wir erwarten, dass sie
hier im Parlament erörtert und entschieden werden, be-
vor die Bundesregierung Fakten schafft, die nicht mehr
zu ändern sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Welche Institution hat wann und auf welche Art und

Weise präzise ermittelt, welche Computerspezialisten
genau und wie viele Fachkräfte in der Branche fehlen,
die auf absehbare Zeit weder in der Bundesrepublik
noch in der EU für die Besetzung freier Arbeitsplätze
gewonnen oder ausgebildet werden können?

Welche geradezu revolutionäre Entwicklung hat es
eigentlich in den vergangenen sechs Wochen – sechs
Wochen, nicht sechs Jahren! – auf dem deutschen Ar-
beitsmarkt gegeben? Die Frage stellt sich deshalb, weil
der Kollege Johannes Singhammer Anfang des Jahres
die Bundesregierung gefragt hat, ob sie daran denke, ir-
gendwelche Änderungen bei der Zulassungsbeschrän-
kung für ausländische Arbeitskräfte vorzunehmen.
Anfang Februar 2000 hat die Bundesregierung diese
Frage verneint: Es sei gegenwärtig nicht daran gedacht,
irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, die den Zugang
zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern können. Ich
frage also: Was hat sich in den letzten sechs Wochen
Revolutionäres ereignet?


(Zuruf von der CDU/CSU: Die CEBIT!)

Die „Rheinpfalz“ hat in der Ausgabe vom 10. März

gemeldet, dass in Rheinland-Pfalz 500 offenen Stellen in
der informationsverarbeitenden Wirtschaft 1 100 ar-
beitssuchende Datenverarbeitungsfachleute gegenüber-

stünden. Warum ist die Arbeitsmarktlage in Rheinland-
Pfalz auf diesem Sektor eine völlig andere als im Rest
der Republik?

Welche Argumente gibt es dafür, dass die Beschäfti-
gung von ausländischen Arbeitnehmern nur einer einzi-
gen Branche gestattet werden soll, nicht jedoch gleich-
zeitig anderen Branchen, die ebenfalls über Fachkräfte-
mangel klagen? Anders formuliert: Warum soll ein Zu-
zug für die Pflege von EDV-Programmen möglich sein,
nicht aber ein Zuzug zur Pflege von alten und kranken
Menschen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

An einem einzigen Tag konnte man in drei verschie-

denen Zeitungen drei verschiedene Zahlen über den
Fachkräftemangel auf dem Computersektor lesen. An
diesem Tag waren beispielsweise 60 000, 70 000 bzw.
100 000 im Angebot. Nach Lage der Dinge ist davon
auszugehen, dass die Zahl der fehlenden Fachkräfte mit
der Dauer der Debatte steigt.

Angenommen, die Zahl 60 000 ist richtig: Wenn aber,
wie angekündigt, zunächst nur 10 000 Einwanderungser-
laubnisse erteilt werden sollen, wer bzw. welche Behör-
de entscheidet dann nach welchen Kriterien, welcher
Betrieb wie viele Zuwanderungs- und Arbeitserlaubnisse
erhalten soll? Wer garantiert, dass kleine und mittelstän-
dische Unternehmen im Wettlauf um die Spezialisten
die gleichen Chancen haben wie IBM?

Angenommen, dass nach Fristablauf viele Arbeits-
migranten auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben wol-
len, aber nicht mehr benötigt werden: Wer soll dann die
Rückführung organisieren? Machen das die Betriebe
oder handelt auch hier der Bundeskanzler höchstpersön-
lich? Wieso kann das Bildungssystem Osteuropas oder
Indiens etwas leisten, was angeblich weder das deutsche
noch die Bildungssysteme in allen anderen EU-Ländern
leisten können?


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie sich fragen lassen! Dieses Argument fällt auf Sie zurück! – Sebastian Edathy [SPD]: Fragen Sie einmal Herrn Kohl!)


Kann es im Interesse der Entwicklungs- oder Schwel-
lenländer sein, wenn eine reiche Industrienation wie
Deutschland dort die besten Fachkräfte abwirbt?


(Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Zu welchem Antrag reden Sie eigentlich?)


Meine Damen und Herren, im Jahre 1973 betrug die
Zahl der Arbeitslosen im Durchschnitt 274 000. Diese
Zahl war so hoch, dass sich die sozialliberale Bundesre-
gierung veranlasst sah, einen Anwerbestopp zu erlassen.
Heute registrieren wir 4 Millionen Arbeitslose, darunter
32 000 Computerfachkräfte. Wir wollen gar nicht ver-
hehlen, dass es auch gute Argumente für die Aktion ge-
ben kann. Es gibt aber auch berechtigte Zweifel an der
Sinnhaftigkeit. Von daher sollte dieses Thema im Deut-
schen Bundestag und nicht im Verwaltungsvollzug ent-
schieden werden. Es mag zulässig sein, die gewünschte
Novellierung der so genannten Anwerbestoppausnah-

Wolfgang Bosbach






(A)



(B)



(C)



(D)


nahmeverordnung am Parlament vorbei zu organisieren.
Das entspräche jedoch nicht der Intention des Gesetz-
gebers und auch nicht dem Sinn und Zweck dieser Ver-
ordnung.

Der Kollege Wiefelspütz hat in der Zeitung „Die
Welt“ auf die zukunftsweisende Bedeutung der Initiative
hingewiesen; er wird in diesem Zusammenhang wie
folgt zitiert:

Sie macht klar, dass Ausländer für die deutsche Ge-
sellschaft sehr nützlich sein können.

Dann zieht er folgenden Vergleich:
Im Fußball haben wir das schon lange begriffen.

Lieber Herr Wiefelspütz, ich greife Ihren Vergleich ger-
ne auf. Wir beide sind begeisterte Fußballfans, wir freu-
en uns beide, wenn Giovane Elber oder Zé Roberto am
Ball sind. Ihre sportlichen Leistungen haben dazu beige-
tragen, dass Bayern München und Bayer Leverkusen die
Tabelle anführen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber, Herr Wiefelspütz, der Vergleich hinkt. Sie können
nicht ernsthaft behaupten, dass die hohe Zahl ausländi-
scher Fußballspieler in der Bundesliga dazu beigetragen
hat, dass auch unsere Nationalmannschaft stärker ge-
worden ist.
Das Gegenteil ist der Fall. Aber auch unsere National-
mannschaft müsste Ihnen am Herzen liegen.

Deswegen dürfen wir die Diskussion nicht auf die
Frage verkürzen, was in einer bestimmten Situation für
ein bestimmtes Wirtschaftsunternehmen oder, um bei Ih-
rem Beispiel zu bleiben, für einen Fussballklub vorteil-
haft sein kann, sondern wir müssen immer auch die Fra-
ge stellen, welches Interesse unser Land und die hier le-
benden Menschen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy [SPD]: Die Weltmeisterschaft zu gewinnen, Herr Bosbach!)


In diesem Sinne bieten wir der Bundesregierung und
den Koalitionsfraktionen eine offene und ehrliche De-
batte und eine konstruktive Zusammenarbeit über alle
Fragen an, die für die Zukunft unseres Landes wichtig
sind.

Danke fürs Zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409303400
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Rüdiger Veit.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409303500
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Auch wenn dieses Angebot noch so
freundlich gemeint und formuliert wurde, können wir
nicht darauf zurückkommen; ich bitte dafür um Nach-
sicht. Die von der CDU/CSU für die Harmonisierung
des Asyl- und Ausländerrechts auf europäischer Ebene
genannten Gesichtspunkte offenbaren nicht nur einige
knackige Widersprüche in sich und untereinander, son-

dern sie beinhalten auch eine Reihe von auffällig unauf-
fälligen Selbstverständlichkeiten, etwa Regelungen, die
entweder schon im geltenden deutschen Recht vorhan-
den sind oder aber sich in vielen europäischen Doku-
menten wiederfinden, seien es nun Beschlüsse des Eu-
ropäischen Parlaments, des Rates, der Kommission oder
seien es Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages
vom 2. Oktober 1997 oder die Schlussfolgerungen von
Tampere aus dem Oktober 1999.

Was also ist das politische Ziel und mithin die wahre
Absicht dieser, wie ich finde, etwas zweifelhaften par-
lamentarischen Initiative der CDU/CSU? Es deutet sich
in der Begründung des Antrags an, aber auch in den
Ausführungen des Kollegen Bosbach, soweit er sich
nicht mit dem aktuellen Thema Green Card oder mit
Fußball befasst hat. Von der neu gewählten Fraktions-
spitze, von den Herren Merz und Bosbach, ist Ihre Inten-
tion laut „Tagesspiegel“ von gestern ausdrücklich ange-
sprochen worden. Das gilt auch für die Äußerungen Ih-
res innenpolitischen Sprechers Marschewski von ges-
tern.

Es geht der CDU/CSU nicht um etwas wirklich „Mo-
dernes“, wie es in dem Antrag steht, auch nicht um eine
echte „Harmonisierung“ im positiven Sinne und offen-
bar schon gar nicht um die wirksame Verwirklichung
von Flüchtlings- und Menschenrechten nach europä-
ischen Maßstäben oder denjenigen des Grundgesetzes.
Ganz offensichtlich geht es der CDU/CSU um die Ab-
schaffung des individuellen, subjektiven und damit auch
einklagbaren Grundrechtes auf Gewährung von politi-
schem Asyl, um eine radikale Abschottung gegenüber
Flüchtlingen und Zuwanderern und um ein Abdrücken
eines Teils unserer historisch bedingten Verantwortung
für Verfolgte in aller Welt in andere Staaten der Europä-
ischen Union. Das ist inakzeptabel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wird unsere Billigung nicht finden, sondern ebenso
abgelehnt, wie andere Initiativen im letzten Jahr abge-
lehnt worden sind, die Sie, Herr Bosbach, angesprochen
haben. Das haben wir nicht getan, weil wir parlamenta-
rische Macht ausüben wollten, sondern weil wir Inhalte
zurückweisen mussten, die Sie für richtig halten.

Offenbar will nach dem Vorbild des einzigen Lügners
unter den derzeit amtierenden deutschen Minister-
präsidenten, den man in voller Legitimität so bezeichnen
kann und muss, also des Herrn Koch, der mithilfe einer
an Ausländerfeindlichkeit appellierenden Unterschrif-
tenaktion zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft an die
Macht gekommen ist, nunmehr Herr Rüttgers, der als
erster den Antrag unterschrieben hat – er hat auch das
Stichwort „Kinder statt Inder“ gegeben, das wir bean-
standet haben –, den Wolf der ausländerfeindlichen Ge-
sinnung unter dem Schafspelz der Europafreundlichkeit
verbergen. Aber man kann den Wolf noch erkennen.
Man merkt die Absicht und man ist verstimmt, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wolfgang Bosbach






(A)



(B)



(C)



(D)


Ja, es ist wahr: Deutschland hat im europäischen
Vergleich bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem
früheren Jugoslawien Beispielhaftes geleistet, sehr viel
mehr als viele andere europäischen Staaten getan. Das
war gut und richtig.


(Zuruf von der SPD: Und christlich!)

Insgesamt muss man natürlich im europäischen Konzert
irgendwann einmal zu vernünftigen Lastenverteilungen
kommen.

Genauso wahr ist aber auch – das sage ich an die
Adresse von Herrn Dr. Uhl, der in der Debatte vorhin
von Hunderttausenden gesprochen hat, die zu uns ge-
kommen sind –, dass zwar in den Jahren 1991, 1992 und
1993 300 000 bis 400 000 Asylsuchende zu uns ge-
kommen sind, dass aber diese Zahlen in der Zeit danach
drastisch und ständig rückläufig waren und bis zum heu-
tigen Tage sind. In 1998 und 1999 lag die Zahl, Herr Dr.
Uhl, unter 100 000. Sie betrug im Jahr 1999 93 000.

Und auch dieser Punkt muss richtig gestellt werden:
3 bis 4 Prozent wurden in diesen Jahren als Asylberech-
tigte durch das Bundesamt anerkannt. Alle Erfahrung
lehrt, dass ungefähr noch einmal die gleiche Zahl vor
deutschen Gerichten anerkannt wird. Darüber hinaus
wird gerne verschwiegen, dass der Abschiebeschutz
nach den §§ 51 und 53 des Ausländergesetzes etwa
6 Prozent der Menschen zugesprochen wird. Dieser An-
teil erhöht sich noch einmal im Laufe der gerichtlichen
Verfahren.

Wenn man dann noch die Zuwanderungen berück-
sichtigt, die mit Genehmigungen nach dem Ausländer-
gesetz oder die im Rahmen der Freizügigkeit aus EU-
Staaten erfolgen, dann verstehe ich nicht, lieber Herr
Marschewski, wie Sie in der „Berliner Zeitung“ von ges-
tern behaupten können, dass 95 Prozent – so war Ihre
Aussage – aller Ausländer illegal nach Deutschland kä-
men. Wie Sie auf diese Zahl kommen, bleibt Ihr Ge-
heimnis.

Wann werden Sie in der CDU/CSU-Fraktion endlich
einmal erkennen – der erste Ansatz ist eben von Herrn
Bosbach gemacht worden –, dass wir einen so genannten
Negativsaldo in der Wanderungsbilanz haben, und zwar
dergestalt, dass in den beiden zurückliegenden Jahren
einige Zigtausende Menschen mit ausländischem Pass
mehr Deutschland verlassen haben, als zu uns gekom-
men sind? Wie wollen Sie denn mit Ihren Abschottungs-
tendenzen diesem Umstand Rechnung tragen?

Sie sind, wie ich eingangs sagte, dabei auch noch in
sich widersprüchlich. Sie verlangen zwar in Ihrem An-
trag – ich finde, zu Recht – die Definition des Flücht-
lingsbegriffes nach Maßgabe der Genfer Flüchtlings-
konvention, aber dabei ist vermutlich Ihrer Aufmerk-
samkeit entgangen, dass zwar das europäische Regel-
werk keinen individuell einklagbaren Rechtsanspruch
auf Asyl enthält, dass aber der Flüchtlingsbegriff nach
der Genfer Flüchtlingskonvention sehr wohl erheblich
weiter geht als geltendes deutsches Recht. Dies gilt im
Hinblick auf die Frage, ob subjektive Verfolgungsfurcht
als Asylgrund ausreichen kann, wenn sie objektiv be-

gründbar ist, und ob nicht staatliche und geschlechtsspe-
zifische Verfolgung als Grund anerkannt werden.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409303600
Herr Kollege Veit,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409303700
Ja, bitte sehr.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409303800

Herr Kollege, Sie sprechen von Widersprüchen bei der
CDU/CSU-Fraktion. Was sagen Sie aber zu den Äu-
ßerungen unseres verehrten Herrn Bundesinnenminis-
ters, der gesagt hat – Kollege Bosbach hat zu Recht dar-
auf hingewiesen –, erstens sei die Grenze der Belastbar-
keit überschritten und zweitens müsse das subjektive
Asylrecht geändert werden? Was sagen Sie zu dieser
Äußerung? Welche Auffassung hat die SPD-Fraktion zu
dieser Äußerung des Herrn Bundesinnenministers?


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409303900
Ich halte diese Äußerung des
Bundesinnenministers nicht für zutreffend und teile sie
nicht. Mit Ihrer Erlaubnis wende ich mich wieder Ihren
Widersprüchen zu. Unsere Widersprüche lassen Sie un-
sere Sorge sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409304000
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409304100
Ja.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409304200

Wollen Sie damit sagen, dass die Äußerung von Herrn
Schily falsch ist und dass Sie diese Äußerung verurtei-
len? Ist auch die SPD-Fraktion dieser Meinung? Welche
Konsequenzen wird die SPD-Fraktion aus der Diskre-
panz zwischen den Auffassungen von Schily und von
Ihnen ziehen?


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409304300
Ich sage dazu hier und auch an
anderer Stelle meine Meinung und werde auch nicht
müde, diese Meinung zu wiederholen. Ich respektiere
auch andere Auffassungen; auch mit Ihrer Auffassung
muss ich mich ja auseinander setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409304400
Herr Kollege Veit, es
gibt vom Kollegen Uhl den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409304500
Ja, bitte. Aber das ist die letzte
Frage, die ich zulasse.

Rüdiger Veit






(A)



(B)



(C)



(D)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1409304600
Herr Kollege Veit,
Sie sind ja ein Mann der Praxis. Sie waren 13 Jahre
Landrat im Landkreis Gießen. Dort hatten Sie mit Aus-
länderrecht im Vollzug zu tun.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409304700
So ist es.


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1409304800
Innenminister
Schily hat gesagt, das Problem liege im Asylverfahren,
in der subjektiven Einklagbarkeit des Grundrechts auf
Asyl, in der Möglichkeit, das Verfahren zu verschlep-
pen, Folgeanträge zu stellen und damit das Verfahren
über Jahre hinauszuziehen.
Wenn Sie die Meinung des Innenministers Schily nicht
teilen, frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass Ihre
hier vertretene abweichende Position die Meinung Ihrer
früheren Mitarbeiter im Landratsamt Gießen ist?


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409304900
Ich darf Ihnen sagen, dass es
von Seiten der SPD einen eindeutigen Beschluss des
Bundesparteitages in Berlin gibt, der besagt: Wir halten
an dem individuell einklagbaren Rechtsanspruch auf
Gewährung von politischem Asyl in Deutschland fest.
Das ist gut so. Das ist richtig so. Das sieht die SPD-
Fraktion insgesamt auch so. Von daher bin ich der
Überzeugung, dass auch meine früheren Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter das genauso sehen, die sich im Üb-
rigen im Landratsamt und in der zentralen Abschiebebe-
hörde auch mit anderen Fluchtgründen und Flüchtlingen
haben auseinander setzen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Alles Sozialdemokraten!)


– Sie waren nicht alle Sozialdemokraten, aber unter
meiner Führung wurden es ständig mehr, wenn Sie das
beruhigt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)


– Ich warte noch auf das Ende Ihrer Zurufe, weil es viel-
leicht noch etwas Lustiges zu erwidern gibt.

Ich komme auf den zweiten Widerspruch zurück, von
dem ich meine, ihn in Ihrem Antrag zu erkennen, und
über den der Kollege Bosbach wenig geredet hat. Ich
nehme aber an, dass wir das im Ausschuss tun werden.

Der zweite Widerspruch liegt darin, dass Sie Flücht-
linge möglichst bereits außerhalb der Grenzen der EU
zurückhalten wollen, sie dort Asylanträge stellen sollen,
womöglich dann abgelehnt werden und gar nicht mehr
in das Gebiet der EU einreisen dürfen. Ist Ihnen dabei
entgangen, dass Art. 33 der Genfer Flüchtlingskon-
vention das so genannte Refoulmentverbot enthält, also
das Zurückweisungsverbot, um es auch für die Zuhörer
einzudeutschen? Das beinhaltet den Rechtsanspruch
auch eines hier Asyl suchenden Flüchtlings, in Europa
einzureisen und seinen Anspruch geltend zu machen,
und zwar egal woher er kommt.

Außerdem – das möchte ich Ihnen auch vorhalten –
sprechen Sie in der Begründung von der Menschen-
rechtskonvention. Haben Sie übersehen, dass der Euro-
päische Gerichtshof gerade in der jüngsten Zeit – das
halte ich für sehr beachtlich und für sehr wichtig – den
einklagbaren Abschiebeschutz für Flüchtlinge unter Be-
rufung auf die Art. 3 und 8 der Menschenrechtskonven-
tion eindeutig ausgeweitet hat?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich muss ich Sie noch daran erinnern, dass
der Amsterdamer Vertrag – den hat bekanntlich der
frühere Bundeskanzler und nicht Gerhard Schröder un-
terschrieben – ausdrücklich festlegt: Wir brauchen auf
europäischer Ebene Mindestnormen für die Aufnahme
von Asylbewerbern.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409305000
Herr Kollege Veit,
Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409305100
Danke sehr. Ich komme sofort
zum Ende. – Wir brauchen Mindestnormen für die An-
erkennung als Flüchtling, Mindestnormen für das Asyl-
verfahren, Mindestnormen für den vorübergehenden
Schutz. Das ist unsere Aufgabe, nicht etwa der Abbruch
weiter gehender nationaler Rechte. Diesen Bemühungen
erteilen wir jedenfalls eine klare Absage.

Ich muss zum Schluss kommen: Wir werden daher
Ihren Antrag ablehnen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Überweisen!)


Wir werden uns darum bemühen, dass auch auf euro-
päischer Ebene, wo es das nicht gibt, das individuelle,
subjektive Recht eines Einzelnen, Asyl zu gewähren,
verankert werden kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist doch naiv!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409305200
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409305300
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir führen in diesem Hause
seit Jahren Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungsdebat-
ten. Der Bundesinnenminister hat ein Vokabular ge-
braucht, das der Herr Kollege Bosbach vorhin zu Recht
mit der kritischen Bemerkung belegt hat: Hätte sich je-
mand aus dem konservativen Spektrum der Bundesre-
publik dieser Wortwahl bedient, wäre er öffentlich an-
geklagt worden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)







(A)



(B)



(C)



(D)


Der Bundeskanzler hat dem Bundesinnenminister zu-
weilen assistiert. Seine Politik schwankt eigentlich zwi-
schen grüner und roter Karte, je nach Belieben.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was haben Sie gegen Farben?)


Die Grünen haben das Scheunentor Bundesrepublik
Deutschland immer offen gehalten und wissen genauso
wie wir, dass die Probleme aller Welt nicht auf dem Bo-
den der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden
können.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Scheunentor“, was ist das für ein schrecklicher Begriff?)


Die Kollegen der CDU/CSU haben aus meiner Sicht
in den letzten Jahren eine Debatte geführt, die überflüs-
sig war. Herr Bosbach hat das heute Morgen zum ersten
Mal zugegeben. Wir brauchen nicht darüber zu diskutie-
ren, ob wir ein Einwanderungsland sind. Die Debatte
ist gänzlich überflüssig. Die Menschen kommen zu uns.
Deshalb ist das Vokabular nicht die Streitfrage.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir diskutieren – das hat der Kollege Veit wieder ge-
tan – seit Jahren das Thema: Wie gestalten wir das
Grundrecht auf Asyl aus, wenn es manche gibt, die es
anders denn als Individualrecht ausgeprägt sehen wol-
len?

Jeder hier weiß: Asylverfahren in Deutschland dauern
lange. Die Unerträglichkeit des Bewerberverfahrens ist
jedem klar vor Augen geführt worden. Wir halten uns
mit Flughafenregelungen und mit Widersprüchen auf.
Unser Rechtsmittelstaat ist bis zum Ende ausgefeilt.
Manchmal bescheiden wir einem Menschen, dass er hier
kein Asyl genießt, obwohl er schon so lange bei uns ist,
dass es fast menschenunwürdig ist, dies zu tun.

Es herrscht überhaupt keine Klarheit. Die letzte Akti-
on des Bundeskanzlers mit der Green Card zeigt das im
Übrigen. Er hat wohl in Hannover gestanden und für die
informationstechnologische Branche etwas zugesagt,
über dessen bildungspolitische, zahlenmäßige und
menschliche Konsequenzen er sich gar nicht im Klaren
gewesen sein kann, als er die Zusage gegeben hat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir haben 1998 und danach diesem Hohen Hause ei-

nen Gesetzentwurf über eine Zuwanderungsbegren-
zung vorgelegt, den Sie alle im Innenausschuss abge-
lehnt haben, obwohl Sie genauso wie ich wissen: Wir
brauchen ein Einwanderungsgesetz.


(Rüdiger Veit [SPD]: Aber kein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz!)


– Es ist völlig egal, wie Sie das nennen. Nennen Sie es
„Einwanderungssteuerungsgesetz“! Die Bundesrepublik
Deutschland braucht eine gesetzliche Grundlage, um
nicht in solchen Mechanismen wie der Green Card zu
landen. Diejenigen Menschen, die zu uns kommen wol-
len, müssen wissen, woran sie sind.


(Beifall bei der F.D.P.)

Herr Veit, das heißt, dieses Land braucht eine Ein-

wanderungspolitik, egal ob wir es als Einwanderungs-
land bezeichnen oder nicht.


(Sebastian Edathy [SPD]: Haben Sie die letzten 16 Jahre auch nicht gemacht!)


– Ich habe nie behauptet, dass die letzte Regierung trotz
unserer Anstrengungen eine glückliche Einwanderungs-
politik gemacht hätte. Aber Ihnen darf ich vorhalten: Sie
machen überhaupt keine!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb sollten wir ganz vorurteilsfrei diskutieren kön-
nen, meine Damen und Herren von der parlamentari-
schen Linken.

Sie wissen genauso wie ich: Es gibt in Deutschland
eine begrenzte Anzahl von Wohnungen; es gibt eine be-
grenzte Aufnahmekapazität von Schulen in Deutschland
und es gibt einen begrenzten Arbeitsmarkt in Deutsch-
land. Wer das nicht beachtet, der legt sozialen Spreng-
stoff. Wir haben das an verschiedenen Orten schon ge-
spürt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daher ist es doch gut, wenn wir einmal Trennendes
beiseite legen und jetzt den Versuch unternehmen, uns
auf eine gesetzgeberische Beratung zu konzentrieren, die
nicht immer beim Asylrecht, bei der grünen Karte oder
bei Segmenten endet, sondern parteiübergreifend eine
Regelung für die Einwanderung nach Deutschland auf
den Weg bringt, in die die Arbeitsmarktlage plus die
Asylbewerberzahl eingebettet ist. Anders kann man
nicht verfahren.

Da unser Gesetzentwurf noch im Ausschuss liegt,
können wir ihn jederzeit wieder hervorholen. Wenn er
auf Bedenken stößt, dann gehen wir darauf ein. Die Zeit
ist reif für ein solches Gesetz. Ich sage das auch, weil
wir im letzten Jahr unter großen Anstrengungen die ge-
sellschaftlich wichtige Frage einer modernen Staatsan-
gehörigkeit gesetzlich geregelt haben. Lassen Sie uns in
diesem Jahr die gesellschaftlich wichtige Frage der
Wanderungsbewegung nach Deutschland unter eine kla-
re gesetzliche Norm stellen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es wäre gut, wenn wir das täten, weil es im legitimen In-
teresse unseres Landes liegt, zu bestimmen, wie viele zu
uns kommen können und wer zu uns kommen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch jede andere große Demokratie dieser Welt behan-
delt das so.

Dieses Vorgehen beinhaltet im Übrigen den größten
Respekt vor den Zukunftschancen derer, die zu uns
kommen. Sie kommen nicht nur mit der Green Card für
ein paar Jährchen, und dann als isolierte Arbeitnehmer;
vielmehr stehen deren Familien im Hintergrund, sie

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A)



(B)



(C)



(D)


entwickeln gesellschaftliche Bezüge und sie können nur
kommen, wenn die Integrationsfähigkeit unserer Gesell-
schaft in der Schule, beim Wohnen und auf dem Ar-
beitsmarkt kräftig genug ist, um ihnen eine Integration
anzubieten.

Deshalb ist die isolierte Diskussion – heute über das
Individualrecht auf Asyl, morgen über die Green Card,
überhaupt über alles, aber bei Gott und der Welt nicht
über das Wichtigste, nämlich über eine gesetzliche Ein-
wanderungssteuerungsregelung – so kurzatmig und so
falsch.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich biete allen Fraktionen namens der Freien Demokra-
ten an, dass wir uns jetzt auf eine Einwanderungsrege-
lung verständigen. Sie liegt ja auch vor.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409305400
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409305500
Ja, klar.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1409305600
Herr Gerhardt, erkennen
Sie nicht an, dass wir die Chance der Initiative des
Kanzlers – bei einem Thema, das in Deutschland sehr
polarisierend debattiert wird, das verständlicherweise
und vielleicht auch, leider Gottes, angstbesetzt ist – zu
einer rationalen Debatte auf diesem Sektor nutzen soll-
ten?

Herr Gerhardt, ich anerkenne, dass Sie aus der Oppo-
sition heute auf eine rationale Ausländerpolitik ganz of-
fenbar mehr Einfluss haben, als Sie in der Regierung
hatten. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren Beitrag
zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie haben
aus der Opposition einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie
könnten dies auch jetzt tun. Aber bitte: Nicht die Sache
zerreden! Die Initiative des Kanzlers hat, wie ich finde,
ein Denkverbot aufgebrochen, das sich viele auferlegt
haben, vielleicht auch der eine oder andere von uns.

Es ist die Chance, rational darüber zu reden: Was
bringt dieses Land weiter? Was nutzt diesem Land? Das
dürfen wir genau so tun, wie andere Gesellschaften es
auch tun, aber bitte nicht im Zusammenhang mit Asyl
und sonstigen Fragen. Und bitte – Sie sind ein erfahre-
ner Politiker, Herr Gerhardt – überfrachten Sie nicht die
Debatte, –


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409305700
Kollege Wiefelspütz,
würden Sie bitte Ihre Frage formulieren?


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1409305800
– damit sie nicht vor die
Wand gefahren wird.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409305900
Ja, ich bin gegen
alle diese Vermutungen, die Sie mir gegenüber äußern,
wirklich gefeit, Herr Kollege Wiefelspütz. Ich überfor-
dere die Debatte nicht; ich will sie nur auf den Kern

bringen. Ich nehme auch gern die Green-Card-Initiative
des Bundeskanzlers mit Ihrem Hinweis auf, er habe eine
Art Denkverbot durchbrochen, und bemühe mich, weiter
zu denken als der Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der F.D.P. – Zurufe von der SPD)

Deshalb führt mich das Ende der Debatte eben nicht zu
einer isolierten Green-Card-Regelung. Wir gehen ja fair
miteinander um; Sie können ruhig wieder Platz nehmen.

Ich möchte die Gelegenheit Ihrer Frage auch nutzen,
um zu sagen, was mich zu meiner Wortmeldung heute
Morgen veranlasst hat. Es geht mir darum, die Debatte
nicht allein den Fachsprechern der Fraktionen zu über-
lassen, die sich immer mit Asylfragen beschäftigen,


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig! Das begrüße ich!)


sie nicht allein den Arbeitsmarktpolitikern zu überlas-
sen, die nur den Arbeitsmarkt betrachten. Dieses Haus
muss jetzt mit einer politischen Debatte über die Ein-
wanderung nach Deutschland reagieren und muss dann
über ein Gesetz reden. Das ist unser Angebot. Darauf
will ich hinaus.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deshalb möchte ich Ihnen in dieser Debatte aber noch

einmal erläutern, dass einige Argumente, die bisher vor-
gebracht worden sind, nicht stimmen. Sie haben in den
Ausschussberatungen gesagt – das hat mich bei Rotgrün
gewundert; diese kleine Polemik gestatten Sie mir
wohl –, das Gesetz bringe zu viel Bürokratie mit sich.
Wer die Scheinselbstständigkeitsgesetzgebung und die
630-DM-Gesetze gemacht hat, bei dem wundert mich
dieses Argument doch.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aber sei es, wie es ist. Wir machen es natürlich gern
schlanker und erwarten Anregungen.

Sie sagen, für die Zuwanderung empfehle es sich
nicht, jetzt eine nationale Regelung zu treffen; man müs-
se ohnehin nach dem Amsterdamer Vertrag auch mit
vielen anderen Mechanismen auf europäischer Ebene
rechnen. Das ist ja auch richtig, nur: Ich warte schon
lange auf europäische Regelungen, und die Menschen
kümmern sich nicht darum, ob es europäische Regelun-
gen gibt. Sie kommen vorzugsweise nach Deutschland.
Deshalb sollten wir doch das eine tun und das andere
nicht lassen. Lassen Sie uns doch über eine nationale
Regelung reden, die Kontingente umfasst und die im
Grunde genommen auch die Arbeitszuwanderung klärt!
Ich möchte nicht dauernd Verschiebebahnhöfe. Ich freue
mich, wenn das in Europa gelingt, aber ich bin skep-
tisch, ob es in einem Zeitraum gelingt, in dem wir Deut-
schen dauernd mit diesen Problemen beschäftigt sind


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da haben Sie Recht!)


und in dem wir innenpolitische Probleme bekommen
und beobachten, wie sich die politische Landschaft ent-
wickelt. Ich möchte einfach – wenn wir parteiübergrei-
fend reden –, dass Sozialdemokraten wie Grüne, wie

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A)



(B)



(C)



(D)


auch Christdemokraten und meine Fraktion den Men-
schen in Deutschland eindeutig und klar sagen, wo es
auch Grenzen der Zuwanderung gibt, und dass wir nicht
jeweils in der Auseinandersetzung meinen, der eine sei
der bessere Menschenfreund und der andere nicht. Sie
wissen nämlich als Sozialdemokratische Partei eben-
falls – Sie haben auch Elternvertreter in Ihren Reihen –,
dass Sie an der Grenze der Zumutbarkeit angekommen
sind, wenn Sie Ihre Kinder in Klassen schicken, die ei-
nen überwiegenden Ausländeranteil haben, ohne dass
deren Familien die Integrationsbemühungen annehmen
und auf richtige Kenntnisse der deutschen Sprache Wert
legen. Das sind Wahrheiten, die man gesellschaftlich zur
Kenntnis nehmen muss.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409306000
Herr Kollege Ger-
hardt, es gibt eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Veit.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1409306100
Herr Kollege Gerhardt, Sie
sprachen eben davon, dass die meisten Zuwanderer in
Europa nach Deutschland kämen. Wären Sie bereit zur
Kenntnis zu nehmen, dass nach den offiziellen Zahlen
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge bezogen auf die Zahl der Bevölkerung –
immer bezogen auf die Zahl der Bevölkerung – die
Schweiz mit 5,68 Prozent an der Spitze liegt, gefolgt
von den Niederlanden mit 2,86 Prozent sowie Belgien,
Norwegen, Österreich, Schweden und Irland, und dass
Deutschland mit 1,2 Prozent Asyl-Erstanträgen im euro-
päischen Vergleich erst auf Platz acht steht?


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409306200
Wenn Sie die ge-
samte Wanderungsbewegung betrachten, Herr Kollege
Veit, wissen Sie so gut wie ich – wenn Sie einmal die
Kontingente derjenigen abgrenzen, die aus spezifischen
Erwägungen in die Schweiz und in andere Länder ge-
hen –, dass der größte Wanderungsdruck auf Deutsch-
land gerichtet ist, wegen des Erwartungshorizonts und
der Kraft seiner Volkswirtschaft. Das gilt insbesondere
auch in den Bereichen derjenigen Menschen, die zu uns
kommen, ohne dass wir die Chance hätten, die Zuwan-
derung zu regeln, und die dann am Ende in unserem so-
zialen Sicherungssystem landen. Das ist eine ganz ande-
re Situation, als sie die Schweiz hat, als sie Belgien hat
und als sie die Niederlande haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

An unserem Gesetz ist kritisiert worden, dass große

Gruppen, wie die Asylbewerber, davon nicht erfasst
würden. Dazu muss ich Ihnen sagen: Das Argument ist
völlig falsch. Die Asylbewerber stehen bei uns wegen
der humanitären Erfordernisse völlig außen vor. Sie
werden nur zugerechnet, weil sie nur dann in einer Be-
lastungsgrenze einbezogen werden können. Gerade das
bietet eher die Chance, das individuelle Grundrecht auf
Asyl zu halten. Denn der Hauptvorwurf bei diesem
Grundrecht war immer die fehlende Praktikabilität.
Wenn ich aber jemandem sage, er könne nur einen Weg

nach Deutschland wählen, entweder als Zuwanderer
zum Arbeitsmarkt oder als Asylbewerber, dann kann ich
zu Recht den Asylbewerbern, die bisher über Asyl zum
Arbeitsmarkt zugewandert sind, sagen, dass das nicht
geht und dass sie sich im Herkunftsland entscheiden
müssen, welches Argument sie im Schilde führen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben etwas anderes zu tun, als etwas im Schilde zu führen!)


Dann können sie sich von der deutschen Botschaft als
Zuwanderer eintragen lassen. Umgekehrt wird ein Schuh
daraus. Dieses Gesetz hält auseinander und gliedert wie-
der die Sachverhalte.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409306300
Herr Kollege
Gerhardt, bevor Sie darauf kommen, möchte ich Sie
darauf aufmerksam machen, dass es eine weitere Zwi-
schenfrage gibt, und zwar des Kollegen Edathy.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409306400
Gerne.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409306500
Herr Kollege Gerhardt,
können Sie mir bestätigen, dass Sie seit Wochen die
Aufsetzung Ihres so genannten Zuwanderungsbegren-
zungsgesetzes auf die Tagesordnung des Deutschen
Bundestages aufschieben, obwohl Sie dazu die Mög-
lichkeit gehabt hätten? Können Sie mir ferner zustim-
men, dass wir hier über einen Antrag der CDU/CSU
sprechen, über den bisher allerdings weder die
CDU/CSU noch Sie gesprochen haben? Und können Sie
mir drittens vielleicht bestätigen, dass es wenig Sinn
macht, einerseits Erwartungen und andererseits Befürch-
tungen aufgrund eines Zuwanderungsgesetzes zu we-
cken, wenn Sie hier selber einräumen, dass vor dem
Hintergrund von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutsch-
land eine grundsätzliche Regelung letztlich keinen Ef-
fekt haben würde, weil wir angesichts dessen zusätzliche
Zuwanderung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme auf
breiter Basis gar nicht werden realisieren können?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409306600
Zu Ihrer ersten
Frage, warum wir den Gesetzentwurf bisher nicht aufge-
setzt haben: Die heutige Debatte zeigt, dass das sogar
klug war. Denn wenn Sie weitere Erkenntnisse gewin-
nen wollen, können wir auf der Grundlage unseres Ge-
setzentwurfs erneut in die Ausschussberatung eintreten.
Wenn Sie darauf bestehen, dass unser Entwurf hier auf-
gesetzt wird, damit Sie ihn ablehnen können, tue ich Ih-
nen auch diesen Gefallen. Aber dann müssen Sie mir,
angesichts der Debatte, die Ihre Partei führt, begründen,
warum Sie ihn ablehnen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast hat erklärt,

dass eine zuwanderungsgesetzliche Regelung notwendig
wäre. Ich kann Ihnen Bundesinnenminister Schily in
seiner früheren Eigenschaft mit Zwischenrufen zitieren,
um deutlich zu machen, dass auch er sie für notwendig

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A)



(B)



(C)



(D)


hält. Aus Ihrer Fraktion gibt es dieselben Äußerungen.
Ebenso hat die Fraktion der CDU/CSU erkennen lassen,
dass sie solche Erwägungen hat. Das heißt, wenn die
Chance besteht, hier etwas zustande zu bringen, war es
doch nicht weniger als nützlich, dass wir hier etwas ge-
wartet haben.

Zum zweiten Punkt Ihrer Fragestellung, warum ich
nicht über den Vorschlag und die Initiative der
CDU/CSU diskutiere. Das ist bei mir eingebettet. Ich
sehe keinen Sinn, dass wir uns jetzt wieder dauernd mit
Asyldebatten und europäischen Regelungen beschäfti-
gen, die wir bereits in der Vergangenheit hin und her
debattiert haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD])


Wir müssen das jetzt in einen Gesamtkontext bringen.
Die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen auf dem deut-
schen Arbeitsmarkt erscheint mir differenzierter als
manchem Sozialdemokraten. Darunter befinden sich
solche, die dringlichst Arbeit suchen, aber keine Chance
haben. Darunter befinden sich ebenso solche, die nicht
dringlichst Arbeit suchen und sehr auskömmlich von der
Kombination aus sozialen Stützmaßnahmen und
Schwarzarbeit leben.


(Sebastian Edathy [SPD]: Die müssen doch erst vermittelt werden!)


– Aber wenn Sie sie nicht vermitteln können und die
Branchen trotz dreimaliger Aufforderung jemanden
nicht bewegen können, von Bruchsal nach Karlsruhe
umzuziehen, aber jemanden dazu bewegen können, von
Kalkutta nach Karlsruhe umzuziehen, den wir als Ar-
beitskraft im gesamtwirtschaftlichen Interesse brauchen,
dann bin ich, wie auch der Bundeskanzler, bereit, diesen
Menschen hier eine Lebensperspektive zu geben, die
beiden Seiten nutzt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist das mit dem Arbeitsmarkt so einfach nicht.
Ich lese doch in Ihren Programmen, dass Sie jetzt

über Zuwanderungssteuerung offener reden, als das
früher der Fall war. Bei der CDU/CSU höre ich das
Gleiche. Bei den Grünen höre ich es noch nicht.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann sollten Sie einmal Zeitung lesen!)


Ich kann nur die Ausländerbeauftragte bitten: Ihre Vor-
gängerin im Amt hat den Gesetzentwurf mit bearbeitet;
ich glaube, Sie könnten ihn mittragen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn es noch Bedenken gibt, dann sind wir gesprächs-
bereit, um einiges zu ändern.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409306700
Herr Kollege
Gerhardt, es gibt noch eine Zwischenfrage, und zwar des
Kollegen Marschewski.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409306800
Ja.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409306900

Herr Gerhardt, Sie werden mir sicherlich bestätigen,
dass die Schaffung eines Zuwanderungsbegrenzungs-
gesetzes auch uraltes Gedankengut der CDU/CSU ist.
Sie werden mir aber sicherlich auch bestätigen, dass Ihr
Gesetzentwurf deswegen Probleme aufweist, weil Sie
nur Erfolg haben könnten, wenn Sie Art. 16 a des
Grundgesetzes, das Asylrecht, verändern und wenn Sie
über Art. 6, Familiennachzug, und über Art. 116 nach-
denken. Nur so können Sie legal eine Begrenzung ein-
führen. Alles andere würde – auch das können Sie mir
sicherlich bestätigen –, wenn Ihr Gesetzentwurf Wirk-
lichkeit würde, zu einer Quote null führen. Das ist bei
Ihrem Gesetzentwurf – das können Sie mir sicherlich
nochmals bestätigen – das Problem. Deswegen meine
ich: Ihr Versuch ist in Ordnung; aber Sie müssten auch
zu der Auffassung kommen, das Grundgesetz zu ändern
und zu einer Änderung dieser wichtigen Bestimmungen
Ja zu sagen.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1409307000
Herr Marschews-
ki, ich schlage Ihnen Folgendes vor: Lassen wir doch
unsere unterschiedliche persönliche Auffassung hin-
sichtlich des Grundrechts auf Asyl bestehen. Das ist
nicht der Knoten, der jetzt durchschlagen werden muss.
Ich würde ihn auch nicht vor einer europäischen Rege-
lung angehen, wenn wir denn dereinst wirklich eine sol-
che bekämen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir angesichts der jetzigen Chance bzw. der Be-
merkungen, die Sie ansonsten zu unserem Gesetzent-
wurf machen – darauf reagieren wir gerne –, arbeits-
technisch überhaupt weiterkommen und eine gesetzliche
Einwanderungsregelung beschließen wollen und wenn
wir die weiteren europäischen Verhandlungen hinsicht-
lich des Themas Asyl abwarten, wäre das ein Gewinn
für die Bundesrepublik Deutschland und würde zu einer
Kalkulierbarkeit der Wanderungsbewegungen nach
Deutschland führen.

Ich habe nicht vor, jemandem vorzuhalten, dass er
sich in seiner Meinung, es gebe keine Chance zur Eini-
gung, getäuscht hat. Ich begrüße die Entwicklung bei
der Christlich Demokratischen Union, zu einer gesetzli-
chen Grundlage hinsichtlich der Zuwanderung zu kom-
men. Hätten wir diese in der letzten Legislaturperiode
schon gehabt, hätten wir gemeinsam ein Gesetz ver-
abschieden können; diese Bemerkung darf ich mir ge-
statten.


(Beifall bei der F.D.P. – Dieter Wiefelspütz [SPD]: Die Chance kommt nicht wieder, Herr Gerhardt!)


– Ich spreche heute sehr bewusst zu diesem Tagesord-
nungspunkt. Der vorliegende Antrag gibt Gelegenheit,
jetzt noch einmal über eine solche Gesetzgebungschance
nachzudenken. Ich werde zusammen mit meinen Kolle-
ginnen und Kollegen der F.D.P.-Fraktion im Hinblick
auf unseren Gesetzentwurf so verfahren, dass diese
Chance nicht zunichte gemacht, sondern neu eröffnet
wird.

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb gehen wir am besten wieder zu den entspre-
chenden Ausschussberatungen über und machen uns
daran, Ihre Einwände gegenüber unserem Gesetzentwurf
zu bearbeiten.

Denn es macht am Ende keinen Sinn – damit will ich
abschließen –, zum einen, wie es der Bundesinnenminis-
ter tut, über die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands
im Hinblick auf Zuwanderung zu sprechen, zum anderen
aber, wie es der Bundeskanzler tut, die Zuwanderung
von Arbeitskräften im Rahmen einer so genannten
Green Card zu ermöglichen und über den Individual-
grundsatz des Grundrechts auf Asyl zu diskutieren, ohne
eine Einwanderungssteuerung vorzunehmen.

Erkenntnis in allen Fraktionen muss jetzt sein: Mit
den bisherigen Debatten kommen wir nicht mehr weiter.
In der nächsten Woche eine Debatte über die Green
Card, in dieser Woche eine Asyldebatte, das hilft uns
jetzt nicht weiter. Ich glaube, dass die Öffentlichkeit er-
wartet, dass wir jetzt darlegen, wie wir uns künftig in
Deutschland eine Regelung der Zuwanderung vorstellen.

Ich schlage Ihnen deshalb ernsthaft vor, parteiüber-
greifend – denn dies ist eine wichtige gesellschaftliche
Frage; daher sollte man Verwerfungen zwischen den
Parteien vermeiden und in der Wortwahl abwägen – die-
se Gelegenheit zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr ein
modernes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen; wir
sollten in diesem Jahr ein modernes Einwanderungs-
gesetz schaffen.

Wir sollten uns dann bemühen – denn dies ist ein
massives Interesse von uns –, eine europäische Rege-
lung der Asylpolitik zu erzielen. Wenn es eine solche
gibt, ist bei uns die Diskussion über das Grundrecht auf
Asyl vielleicht viel einfacher und klarer zu führen, ohne
dass man wesentliche humanitäre Grundsätze verletzt.
Denn wir sind ja von anderen großen Demokratien um-
geben, die für uns beispielhaft sind. Dann könnte unser
Land endlich einmal diese gesellschaftspolitische Frage
lösen, ohne sie nur dem parteipolitischen Schlagab-
tausch zu überlassen.

Dazu ist die Fraktion der Freien Demokraten bereit.
Wir werden mit unserem Gesetzentwurf so verfahren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307100
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin
Marieluise Beck.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-
ren! Herr Kollege Bosbach, es ist gut, dass Sie hier das
Angebot einer sachlichen Diskussion machen. Das kann
ich nur begrüßen. Denn gerade die Schlacht um den
Doppel-Pass im vergangenen Jahr hat im Lande eine
Stimmung hervorgerufen, die sehr bedenklich war. Ich

bin froh, wenn wir uns auf einen gewissen Grundkon-
sens einigen können.

Die Diskussion über alle Fragen, die mit Migration zu
tun haben, also Migration sowohl aufgrund von Flucht
und Asyl als auch aufgrund einer anderen Art der Zu-
wanderung, darf nicht mit der Grundhaltung der Abwehr
geführt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Als Sie heute Morgen über § 19 des Ausländergesetzes
gesprochen haben, so muss ich feststellen, war dies kein
guter Einstand von Ihnen im Hinblick darauf, dass Sie
von einer modernen CDU/CSU sprechen wollen.

Es kann in Zeiten, in denen wir alle wissen, dass es
zu Migration, ob wir sie wollen oder nicht, kommt, nicht
um die Perspektive der Abwehr gehen. Jeder, der zur
Europäischen Union und auch zu deren Erweiterung Ja
sagt, sagt damit Ja zum Hin- und Herwandern von Men-
schen, zu Mobilität. Demnächst wird Europa aus 27
Ländern bestehen. Das wird Wanderungsbewegungen
nach sich ziehen und damit die Notwendigkeit, diese
Zuwanderung zu gestalten und integrationspolitisch zu
begleiten, sowohl innerhalb der Europäischen Union als
auch darüber hinausgreifend.

Wir alle sprechen von der Globalisierung der Öko-
nomie, davon, dass sich Ökonomien vernetzen, und
merken, dass wir diesen Fragestellungen mit dem natio-
nalstaatlichen Denken des vergangenen Jahrhunderts
nicht mehr gewachsen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was wir aber übernommen haben, Herr Kollege
Bosbach, ist ein absolutes Chaos in integrationspoliti-
schen Fragen, weil in den vergangenen 20 Jahren an
dem Diktum festgehalten worden ist, Deutschland sei
kein Einwanderungsland, und zwar wider besseres Wis-
sen, wie meine Kollegin Schmalz-Jacobsen immer be-
tont hat. Es gibt keine wirklich gestaltete Sprachförde-
rung auf Bundesebene. Die Zugänge sind zwar gesetz-
lich geregelt, aber verstreut in unterschiedlichen Geset-
zeswerken. Es gibt also sehr viel Aufräumarbeit zu leis-
ten; das kann ich Ihnen versichern.

Wenn Sie jetzt den pragmatischen Schritt „Green
Card“, der vorgeschlagen worden ist, um einen Ar-
beitskräftemangel zu heilen, angreifen, dann doch auch,
weil Sie überdecken müssen, was Sie in den vergange-
nen Jahren versäumt haben. Der so genannte Zukunfts-
minister hat es eben nicht geschafft, die Universitäten in
die Lage zu versetzen, so auszubilden, dass uns diese
Arbeitskräfte hier zur Verfügung stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Bildung ist Ländersache!)


Das gilt für Bildung und Ausbildung genauso wie für
Qualifikation. Nehmen Sie sich also bitte zurück! Sie
übertünchen nur die Versäumnisse der vergangenen Jah-
re.

Dr. Wolfgang Gerhardt






(A)



(B)



(C)



(D)


Allerdings sagen auch wir, dass die Debatte um die
Green Card dazu genutzt werden muss, um eine ver-
nünftige, sachliche Debatte über die Gestaltung – nicht
die Begrenzung, Herr Kollege Gerhardt; das ist der Un-
terton, der bei Ihnen mitschwingt – der Zuwanderung


(Walter Hirche [F.D.P.]: Beides, Frau Beck!)

in diesem Hause zu führen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Dazu bin ich bereit!)


Denn angesichts der Vorschläge, die gemacht worden
sind, gibt es viele Fragen, zum Beispiel in Bezug auf die
Verfestigung des Aufenthalts, die Regelung zum
Familiennachzug und die Integrationsperspektive, die
auch das Green-Card-Modell beinhalten muss.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Und ein Arbeitsrecht!)

Wir werden die Zuwanderung also auf eine neue ge-

setzliche Grundlage stellen müssen, wobei ich daran
erinnern möchte, dass wir jetzt keinen ungeregelten Zu-
zug haben. Dazu gibt es Gesetze: das Recht auf Schutz,
abgesichert durch das Grundgesetz und das Völkerrecht,
das Recht auf Familiennachzug und die EU-
Freizügigkeit. Es gibt politisch gewollte Zuwanderer wie
die Spätaussiedler und die jüdischen Kontingentzuwan-
derer. Das alles ist ein Strauß gesetzlich normierten Zu-
zugs. Insofern geht es um eine Erweiterung der Zu-
wanderung, und zwar aus humanen Gründen und aus
Gründen der Arbeitsmigration, wie es jetzt mit der
Green Card kurzfristig noch einmal organisiert werden
soll.

Es geht aber nicht an – genau das ist das Infame, was
die Union versucht –, diese neu aufgebrochene Zuwan-
derungsdebatte mit der Abwehr von Asyl und Schutz zu
verknüpfen. Sie wollen unter dem Deckmantel einer Zu-
wanderungsdebatte das Grundrecht auf Asyl schleifen
und damit den Schutz für politisch Verfolgte aufheben.
Das geht nicht, wenn man sich auf dem Boden europäi-
scher Gemeinsamkeit bewegen möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte noch einmal festhalten, dass der Europäi-
sche Rat die Bedeutung bekräftigt hat, die der unbe-
dingten Achtung des Rechts auf Asyl zukommt. Er hat
gesagt, es sei auf „ein gemeinsames europäisches Asyl-
system hinzuwirken, das sich auf die uneinge-schränkte
und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlings-
konvention stützt“.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Das bedeutet: Wir haben eine gemeinsame Grundlage.
Die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäische
Menschenrechtskonvention geben Deutschland eher ei-
nen Nachbesserungsbedarf auf,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


zum Beispiel bei der Anerkennung innerstaatlicher Ver-
folgung, also nicht staatlicher Verfolgung.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Ohne deutsches Verfahren!)


Hier stehen wir vor großen nationalen Problemen.
Es ist auch so, dass Deutschland nicht mehr auf

Platz 1, sondern auf Platz 8 der aufnehmenden Staaten
steht. Es ist ein Mythos, mit dem hier gearbeitet wird.
Wichtig ist, zu erkennen, dass wir in Teilen unseres
Schutzsystems gerade wegen der Nichtanerkennung der
nicht staatlichen Verfolgung unter den europäischen
Standard gesunken sind.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das kann man im Gesetz regeln!)


Es ist bedenklich, wenn im Vereinigten Königreich
der Court of Appeal in seiner Entscheidung vom 23. Juli
1999 darauf hingewiesen hat, dass die Bundesrepublik
kein sicheres Drittland sei, weil es für die Ausgrenzung
nicht staatlicher Verfolgung aus dem Flüchtlingsbegriff
keine Rechtfertigung gebe. Deswegen hat das Gericht
die Rücküberstellung nach der Dubliner Konvention un-
tersagt. Das ist eine große Herausforderung auf dem
Weg der Harmonisierung des europäischen Rechts.

Die Genfer Flüchtlingskonvention begründet das
Recht auf Schutz und auf Nachprüfbarkeit von Schutz.
Damit sind wir bei Art. 19 Abs. 4 unseres Grundgeset-
zes, nach dem Verwaltungsakte über das Gerichtswesen
nachprüfbar sein müssen. Insofern bewegen wir uns mit
Art. 16 a des Grundgesetzes und § 51 des Ausländer-
gesetzes sehr wohl auf dem Boden der Genfer Flücht-
lingskonvention. Der Eindruck, der immer wieder er-
weckt wird, dass uns die europäische Harmonisierung
dazu bringen würde, diese deutsche Gesetzgebung bei-
seite zu schieben, ist falsch. Im Gegenteil: Sowohl
Art. 16 a des Grundgesetzes als auch § 51 des Auslän-
dergesetzes sind faktisch die Umsetzung der Genfer
Flüchtlingskonvention. Wer jetzt wie Sie von der Uni-
on – wieder unter dem Deckmantel der Zuwanderungs-
debatte –


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Sprechen Sie einmal dazu, was Herr Schily gesagt hat!)


von einer Institutsgarantie spricht, der muss auch deut-
lich sagen, dass er sich damit von der europäischen Ver-
einbarung, die Genfer Flüchtlinskonvention zur Grund-
lage der europäischen Harmonisierung zu machen, ver-
abschiedet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Die Institutsgarantie passt nicht zur Genfer Flüchtlings-
konvention.

Wir haben durch die Beschlüsse von Tampere eine
gute Grundlage für die europäische Harmonisierung. Es
gibt Herausforderungen für Deutschland. Wir alle wis-
sen, dass die historische Idee für unser Schutzrecht, vor
allem für Art. 16 des Grundgesetzes, die gewesen ist,
dass Menschen vor staatlicher Verfolgung geschützt
werden müssen. Das war die Lehre, die aus dem deut-
schen Faschismus gezogen worden ist.

Marieluise Beck (Bremen)







(A)



(B)



(C)



(D)


Aber die Verfolgungsbedingungen in anderen Län-
dern haben sich geändert. Dass wir den Bosniern selbst
dann, wenn wir wussten, dass sie aus Konzentrationsla-
gern kamen, hier kein Asylrecht zuerkennen konnten,
weil sie nicht von einem Staat verfolgt wurden, ent-
spricht – dessen bin ich sicher – nicht der Idee der Väter
des Grundgesetzes, die eigentlich mit der Gewährung
von Schutz und der Festschreibung dieses Schutzes im
Grundgesetz als Grundrecht eine ganz hohe Hürde und
damit auch einen hohen Schutz aufbauen wollten. Ich
bin mir sicher, dass dies nicht mehr der eigentlichen
Idee des Grundgesetzes entspricht.

Deswegen haben wir mit der Schaffung eines mo-
dernen Schutzrechtes eine Aufgabe vor uns, der wir
uns – ohne immer nur den Abwehrgedanken im Hinter-
kopf zu haben – in diesem Parlament gemeinsam sorg-
sam widmen sollten. Wir müssen Regelungen finden,
die der Würde und den Schutzbedürfnissen der Men-
schen angemessen Rechnung tragen.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307200
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409307300
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU
hat meiner Meinung nach in einem Punkt ihres Antrages
tatsächlich Recht: Die Vorstellungen der Bundesregie-
rung zum Asyl- und Ausländerrecht in der EU liegen
uns bisher in der Tat nicht vor. Ich meine, Kollege Veit,
dass man hier auch die eigene Politik mit zur Diskussion
stellen sollte, wenn ein solcher Antrag vorliegt.

Doch zu Beginn lassen Sie mich einige Bemerkungen
zur Green Card machen: Eine Politik, die eine ver-
meintliche Elite aus anderen Ländern zum Wohle der
deutschen Wirtschaft anheuert, die weiterhin arme Men-
schen, Menschen in Not feuert, ist inhuman und kann
meines Erachtens von uns nicht mitgetragen werden,


(Beifall bei der PDS)

zumal Sie in diesem konkreten Fall genau wissen, dass
Sie die 20 000 Menschen, die Sie mithilfe der Green
Cards hierher holen wollen, wahrscheinlich dann, wenn
sie älter als 40 Jahre alt geworden sind, unter unmensch-
lichsten Bedingungen wieder zurückschicken werden,
weil sie hier keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.

Ich finde eine solche Politik abstoßend, mit der in der
öffentlichen Diskussion eine neue Hierarchie von Men-
schen produziert wird. Auf einmal sollen zehntausend
junge Leute aus dem Ausland die Zukunft der deutschen
Wirtschaft sichern, während auf der anderen Seite
Flüchtlinge nach wie vor dem Arbeitsverbot unterliegen.
Ich möchte hier jetzt nicht auf die weiteren sozialen
Probleme von Jugendlichen und gerade auch älteren
Menschen eingehen, die im Computerbereich arbeiten.

Jahrelang – darauf ist heute schon hingewiesen wor-
den – haben wir die Sprüche von der Union gehört: Das
Boot ist voll!


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Schröder!)


Was ist jetzt? Jetzt wackelt die CDU/CSU, wie wir heu-
te hier gesehen haben, weil die IT-Branche nach jungen
Leuten zu Dumpinglöhnen ruft. Die SPD wackelt gleich
mit. Der Innenminister, der uns noch vor kurzem erzähl-
te, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht, weiß
wahrscheinlich selbst nicht mehr, wie voll bzw. leer sein
Boot ist.

Wir dagegen bleiben dabei: Dieses Land ist ein Ein-
wanderungsland und es soll und wird auch in Zukunft
ein Einwanderungsland bleiben.


(Beifall bei der PDS)

Nötig ist – das fordern wir von der PDS schon lange –
eine Asyl- und Migrationspolitik, die den Menschen
hilft und ihre Menschenrechte stärkt. Nicht die Wirt-
schaft, sondern die Menschen müssen im Zentrum der
Politik stehen.


(Beifall bei der PDS)

Das sollte auch für die Harmonisierung der Asyl- und
Ausländerpolitik der EU die Richtschnur sein.

Jetzt zum Antrag der CDU/CSU: Herr Bosbach, ich
habe in Ihren Ausführungen sehr wohl Ihre Bemühun-
gen um Differenzierung beim Thema Einwanderungs-
land erkannt. Ich meine aber, dass sowohl angesichts
der Debatte zu § 19 des Ausländergesetzes heute Mor-
gen als auch bei genauerer Betrachtung Ihres Antrags
der Begriff „Modernisierung“ fehl am Platze ist. Im
Grunde genommen sind Sie im Wesentlichen bei Ihrer
alten Politik geblieben. Es wird Abschottung gefordert
und vor allen Dingen eine regressive Politik bei der
Flüchtlingsverfolgung. Was mich immer wieder stört, ist
die Tatsache, dass Sie versuchen, die Flüchtlinge per se
als Risiko darzustellen.

Ein einziger Punkt in Ihrem Antrag hat mir ein biss-
chen Hoffnung gegeben, nämlich der Punkt 1. Dort heißt
es, dass der Flüchtlingsbegriff unter Berücksichtigung
der Genfer Flüchtlingskonvention einheitlich zu defi-
nieren sei. Das hört sich in der Tat gut an. Aber was
meinen Sie praktisch damit? Meine Kollegin Beck hat es
eben schon angesprochen. Heißt das tatsächlich, dass Sie
die Genfer Flüchtlingskonvention endlich umsetzen wol-
len? Das würde bedeuten, nicht staatliche Verfolgung
und frauenspezifische Fluchtgründe anzuerkennen. Es
wäre ein echter Fortschritt, wenn die rot-grüne Regie-
rung diesen Antrag umsetzen würde.

Der UN-Flüchtlingskommissar sagt, dass die Bundes-
republik im Umgang mit Flüchtlingen, die vor nicht
staatlicher Verfolgung fliehen, gegenwärtig das restrik-
tivste Land in ganz Europa sei. Das oberste Gericht in
Großbritannien – auch das ist hier schon erwähnt wor-
den – hat die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr
als sicheres Drittland eingestuft. Ich vermisse

Marieluise Beck (Bremen)







(A)



(B)



(C)



(D)


tatsächlich, vor allem von der Regierung, ein entsprechen-
des Verhalten.

In Ihrem Antrag begrüßen Sie zum Beispiel Eurodac.
Eurodac soll ein System werden, das dazu berechtigt,
jedem Flüchtling Fingerabdrücke abzunehmen. Das be-
deutet, dass Sie – unter anderem mit den repressiven
Forderungen in Ihrem Antrag – beispielsweise vierzehn
Jahre alte Jugendliche ganz pauschal verdächtigen und
unter Umständen in Abschiebehaft stecken wollen. Ihre
Warndatei haben wir hier schon ausführlich diskutiert
und abgelehnt. Auch hier haben Sie eine Datenerfassung
vor, die per se einer Kriminalisierung von Ausländerin-
nen und Ausländern gleicht.

Es wird mehr als deutlich, dass Ihre Ausländer- und
Asylpolitik nur eine Bezeichnung verdient: Sie ist Men-
schen verachtend und inhuman. Das muss ich ganz deut-
lich sagen. Herr Bosbach hat heute die Zahlen richtig
dargestellt. Wir haben in der Tat mehr Abwanderung
als Zuwanderung. Im gleichen Atemzug behaupten
Sie – Herr Merz und Herr Schäuble haben es heute wie-
der getan –, dass 700 000 Ausländer im letzten Jahr er-
neut ins Land gekommen sind. Ich meine, wer von Zu-
wanderung redet, sollte die Auswanderung nicht ver-
schweigen. Sie picken sich immer die Zahlen heraus, die
Sie gerade brauchen, um Ihre Politik zu begründen. Ich
erspare mir hier Ihre Zahlen im Einzelnen zu nennen,
bin aber bereit, sie jedem Kollegen zur Verfügung zu
stellen.

Leider ist – auch das muss man hier diskutieren – die
Politik der alten Regierung auch die Politik der rot-
grünen Regierung. Herr Schily ist in vielen Punkten mit
Ihnen einig. Dass er dabei nicht nur die Grünen vor den
Kopf stößt, sondern auch die Beschlüsse der SPD-
Parteitage missachtet, interessiert diesen Minister über-
haupt nicht. Ich erinnere an die Ausführungen von Herrn
Schily, das Asylrecht lasse sich in der EU nicht halten.
Ich erinnere an seinen Plan, den Rechtsweg für Flücht-
linge zu verkürzen. Ich erinnere daran, dass sich Herr
Schily trotz Bundestagsbeschlusses weiter weigert, die
UN-Kinderrechtskonvention ohne Vorbehalt anzuwen-
den. Jugendliche werden deshalb weiter in Abschiebe-
haft gesperrt. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Kin-
derrechtskonvention.

Auch das Bild, das diese Regierung und die Union
von der deutschen Asyl- und Ausländerpolitik im Ver-
gleich zu anderen EU-Staaten verbreiten, stimmt hinten
und vorne nicht. Sie sagen zum Beispiel, Deutschland
nehme die meisten Flüchtlinge auf. Das ist seit langer
Zeit schlicht falsch. Tatsache ist, dass Länder wie die
Niederlande, Großbritannien, die Schweiz und Belgien
einen immer größeren Teil der Flüchtlinge aufnehmen.
Diese Länder, deren Einwohnerzahl etwa der Deutsch-
lands entspricht, nehmen im Moment mehr als die Hälfte
der Flüchtlinge in Europa auf. Auch in der Hinsicht
muss man die Wahrheit sagen. So sieht es nämlich wirk-
lich aus.

Bei anderen Fragen tritt Innenminister Schily eben-
falls auf die Bremse, wenn es um die Harmonisierung
der europäischen Asyl- und Migrationspolitik geht.

Auch in Sachen Staatsbürgerschaftsrecht, das hier
immer wieder so hoch gelobt wird und mit Sicherheit
auch einige fortschrittliche Punkte enthält, tritt diese
Regierung europaweit auf die Bremse. Seit 1997 gibt es
eine Konvention des Europarates zum Staatsbürger-
schaftsrecht, die einheitliche Regelungen zum Beispiel
für die doppelte Staatsbürgerschaft aufstellt. Diese Kon-
vention wurde von Innenminister Schily bis heute nicht
unterzeichnet. Und warum nicht? Ganz einfach deshalb,
weil diese Konvention ihm verbieten würde, Men-
schen – beispielsweise Jugendlichen, die sich mit
23 Jahren nicht für eine Staatsbürgerschaft entschieden
haben –, wie es mit dieser Staatsbürgerschaftsreform
geplant ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Das ist nach dieser Konvention einfach nicht erlaubt.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307400
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409307500
Ja, ich komme gleich zum
Schluss. – Sie werden sich auch damit auseinander set-
zen müssen, dass immerhin 41 Staaten diese Konvention
unterzeichnet haben.

Es ist wohl klar: Der Antrag der CDU/CSU hat mit
Modernisierung nichts zu tun. Deswegen werden wir ihn
ablehnen. Aber wir werden mit Sicherheit weiter eine
Debatte um die Modernisierung des Asylrechts in der
EU führen und hier unsere Initiativen einbringen.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307600
Das Wort für die
Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekre-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307700
Frau Präsidentin!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Jelpke, um bei
Ihnen anzufangen: Gedulden Sie sich etwas! Dann wer-
den Sie sehen, wie die Bundesregierung mit der Frage
der Unterzeichnung der Konvention umgeht.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Wo ist denn der Innenminister?)


Meine Damen und Herren, der Antrag, den wir heute
in erster Lesung beraten, hat drei Kennzeichen:

Erstens. In einigen Teilen – etwa bei den Mindest-
standards und dem einheitlichen Flüchtlingsbegriff –
rennt er offene Scheunentore ein.

Zweitens. In anderen Teilen entfernt er sich von in-
ternationalen Vereinbarungen zum Menschen- und
Flüchtlingsrecht und wird im zusammenwachsenden Eu-
ropa ganz gewiss nicht als Basis für eine einheitliche
Asylpolitik dienen können.

Drittens. Modern ist er auch nicht.
Deshalb stelle ich die Frage: Was soll das?

Ulla Jelpke






(A)



(B)



(C)



(D)


Da sich der Kollege Bosbach mehr in allgemeinen
migrationspolitischen Fragen ergangen hat, möchte ich
erst einmal näher auf Ihren Antrag eingehen.

Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, die
Harmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts voran-
zutreiben, illegale Einwanderung einzudämmen, die
Zahl unberechtigter Asylanträge zu verringern, eine ge-
rechte Lastenteilung unter den Mitgliedstaaten zu errei-
chen und die Bekämpfung der Fluchtursachen zum Ziel
der EU-Politik zu machen.

Meine Damen und Herren, haben Sie eigentlich über
all die Monate, angefangen von der EU-Ratspräsident-
schaft der Bundesrepublik bis hin zum heutigen Tage,
nicht gemerkt – oder vielleicht nicht bemerken wollen –
dass diese Bundesregierung in allen von Ihnen genann-
ten Punkten, und zwar sehr umfassend, längst tätig ist


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ohne Erfolg!)

und weiter vorangeschritten ist, als Sie es wahrhaben
wollen?

Ich weiß ja, dass Sie in den zurückliegenden Wochen
andere Probleme zu behandeln hatten, intern und auch
nach außen. Aber selbst einem abgelenkten, zerstreuten
und verunsicherten Unionspolitiker können doch nicht
die wesentlichen Etappen der vergangenen 15 Monate
auf dem Gebiet der europäischen Migrations- und
Flüchtlingspolitik verborgen geblieben sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich darf die wichtigsten Stufen einmal nennen: Rat

und Kommission haben im Dezember 1998 einen Akti-
onsplan mit Schwerpunkten für die Arbeit und mit zeit-
lichen Vorgaben verabschiedet. Am 1. Mai 1999 ging
mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages die Aus-
länder- und Asylpolitik in die Kompetenz der Gemein-
schaft über.

Seit ihrer Amtsübernahme hat sich die Bundesregie-
rung konsequent für eine Angleichung in diesem Poli-
tikbereich stark gemacht. Auf dem Europäischen Rat in
Tampere im letzten Oktober hat die Bundesregierung die
Initiative ergriffen – begleitet von sehr skeptischen
Prognosen, was den Ausgang dieser Veranstaltung be-
traf –, gemeinsam mit ihren französischen und britischen
Freunden die wesentlichen Prinzipien formuliert und –
allen Unkenrufen zum Trotz – auch durchgesetzt. Als
Beispiele nenne ich die Partnerschaft mit den Herkunfts-
ländern der Flüchtlinge, ein gemeinsames europäisches
Asylsystem, die gerechte Behandlung von Drittstaatsan-
gehörigen, die Steuerung von Wanderungsbewegungen
und last not least die Bestätigung der Genfer Flücht-
lingskonvention als gemeinsame Basis der Asylpolitik.
Das war ein echter Erfolg und ist eine tragfähige
Startrampe für die weiteren Bemühungen.


(Beifall bei der SPD)

Weiter verlangen Sie einheitliche Standards für

Asylverfahren. Diese Forderung ist überflüssig, denn
schon der EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer
Vertrages erteilt dazu den Auftrag.

Mindestgarantien im Asylverfahren sind ebenfalls
längst in der Diskussion. Mit einem Vorschlag für den

EG-Rechtsakt können wir noch in diesem Jahr rechnen.
Auch Rückübernahmevereinbarungen mit Dritt- und
Transitstaaten sind längst konkrete Politik der Bundes-
regierung.

Ich könnte diese Revue der Selbstverständlichkeiten
fortsetzen, aber das ist nicht nötig. Nötig sind vielmehr
einige Bemerkungen zu Forderungen, die – jedenfalls
bis auf weiteres – in der Europäischen Union nicht
mehrheitsfähig sind oder nicht den menschenrechtlichen
Normen der Gemeinschaft entsprechen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307800
Frau Kollegin, Herr
Kollege Marschewski möchte eine Zwischenfrage stel-
len.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409307900
Bitte.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409308000

Frau Staatssekretärin, Sie machen hier sehr interessante
Ausführungen zum Kernbereich deutscher Innenpolitik.
Gestatten Sie mir die Frage: Warum ist der Bundesin-
nenminister heute bei diesem wichtigen Punkt nicht
anwesend? Befürchtet er vielleicht, dass die Diskrepanz
zwischen ihm und seiner Fraktion und zwischen ihm
und den Grünen heute offenkundig wird? Ist er deswe-
gen zu Hause geblieben?


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308100
Herr Kollege
Marschewski, Sie wissen sehr genau – auch aufgrund
der langjährigen Regierungszeit der CDU/CSU –, dass
Minister neben der Pflicht zur Anwesenheit im Parla-
ment sehr viele andere dringende Verpflichtungen ha-
ben. Sie können sich darauf verlassen, dass das, was ich
hier vortrage, den Ansichten und den Überzeugungen
des Bundesinnenministers entspricht. Sie sind also bei
mir gut aufgehoben, zumal Sie mir ja schon zugebilligt
haben, dass ich hier interessante Ausführungen zu Kern-
bereichen der deutschen Innenpolitik mache. Ich möchte
damit gern fortfahren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie fordern die in der Diskussion der vergangenen
Zeit sehr wichtige so genannte quotenmäßige Vertei-
lung der Bürgerkriegsflüchtlinge und der Asylbe-
werber innerhalb Europas, also das viel beschworene
Burdensharing. Wenn sich jemand darum bemüht hat,
dann dieser Bundesminister des Innern. Das wissen Sie
doch auch, zum Beispiel aus der Zeit, als wir die Koso-
vo-Albaner hier aufgenommen haben. Ein starres Ver-
teilungssystem mit festgelegten Quoten war nicht er-
reichbar. Stattdessen schlug die Bundesregierung seiner-
zeit das so genannte Pledging-Verfahren vor, mit dem
sich die jeweiligen Staaten freiwillig bereit erklärten, ei-
ne bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen.
Die Flüchtlinge ihrerseits erklärten sich bereit, ihre Zu-
flucht dort zu suchen.

Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast






(A)



(B)



(C)



(D)


Dieses Prinzip der doppelten Freiwilligkeit hat inner-
halb der EU eine viel positivere Resonanz gefunden als
das alte Modell der früheren Bundesregierung mit festen
Aufnahmequoten, die Sie jetzt wieder in Ihrem Antrag
aufwärmen. Die Bundesregierung sieht sich jedenfalls
durch den Erfolg bei der Aufnahme der geflüchteten
Kosovaren vor einem Jahr in ihren Bemühungen um ei-
ne faire Aufgaben- und Lastenteilung innerhalb der EU
bestätigt. Sie möchte in ihren Bemühungen nicht nach-
lassen und wird das Konzept des vorübergehenden
Schutzes von Menschen aus Bürgerkriegsregionen wei-
terverfolgen.

Schlicht und einfach zu leicht machen Sie es sich mit
der Forderung, Flüchtlinge mit offensichtlich unbe-
gründeten Asylanträgen generell sofort abzuschieben.
Das ist wahrscheinlich populistisch, aber mindestens
ebenso verantwortungslos; denn die Abschiebung kann
nur erfolgen, wenn sie im Einklang mit der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention und der Genfer
Flüchtlingskonvention steht. Darüber setzen Sie sich of-
fenbar hinweg.

Jetzt möchte ich auf den letzten Punkt Ihres Forde-
rungskatalogs eingehen, der in den letzten Tagen zu
neuer Aktualität gelangt ist, nämlich auf die von Ihnen
verlangten einheitlichen Regelungen für legale Ein-
wanderung.


(Unruhe)

Sie erwähnen Wissenschaft, Kunst, Sport und Kapi-
talinvestoren.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308200
Frau Kollegin, es
gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage.


(Anhaltende Unruhe)


Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308300
In Ihren Reihen –
ich merke es an der Unruhe, die im Moment bei Ihnen
und auch bei den Kollegen von der F.D.P. herrscht – hat
die begrüßenswerte Initiative des Bundeskanzlers, für
einen begrenzten Zeitraum ausländische Computerspe-
zialisten ins Land zu holen, offenbar beträchtliche Ver-
wirrung erzeugt. Das ist kein Wunder, wenn man auf ei-
gene frühere Versäumnisse in der langen Regierungszeit
hingewiesen, ja gestoßen wird. Jetzt geht bei Ihnen alles
durcheinander.

Die CSU fühlte sich zunächst einmal bemüßigt, vor
neuer und kontinuierlicher Einwanderung warnend den
Finger zu erheben. Danach klang es schon ein bisschen
positiver. Kollegen aus der CDU – zum Beispiel der
Kollege Merz und heute der Kollege Wolfgang
Bosbach – brachen aus der alten Allianz der Gegner jeg-
licher Einwanderungsgesetze aus und wandelten sich zu
Befürwortern.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308400
Frau Kollegin, es
gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308500
Gut.


Hannelore Rönsch (CDU):
Rede ID: ID1409308600
Frau
Staatssekretärin, die Unruhe bei uns ist entstanden, als
Sie gesagt haben, der Innenminister sei bei einer
bedeutenden Veranstaltung. Bei uns geht das Gerücht
um, er sei bei einem Starkbierfest. Trifft das zu?

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308700
Ich habe gesagt,
dass ein Innenminister wie alle Minister der Regierung
neben der Pflicht, im Parlament anwesend zu sein, auch
noch andere Pflichten hat.


(Zurufe von der CDU: Wo ist er denn?)

– Ich glaube, die Antwort war erschöpfend genug.


(Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Nein, überhaupt nicht!)


– Ich bitte Sie um Ruhe. Sie können noch heute den In-
nenminister treffen. Er kommt noch ins Haus. Ich habe
Ihnen bereits gesagt, dass das, was ich hier vortrage, die
Position meines Hauses ist und mit dem Innenminister
abgestimmt ist. Wenn er kommt, dann werden Sie selber
feststellen, dass er damit einverstanden ist.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308800
Herr Kollege Uhl hat
eine Zwischenfrage.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409308900
Er darf sie stellen.


Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1409309000
In meiner Eigen-
schaft als Stadtrat in München hatte ich 20 Jahre lang
die Ehre, beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg
dabei zu sein. Heute ist es das erste Mal, dass ich hier
sitzen muss und nicht dabei sein kann. Ich sehe es mit
etwas Neid, dass der Herr Innenminister – das ist wohl
wahr – seit 11.30 Uhr – zu diesem Zeitpunkt ist immer
der Starkbieranstich – auf dem Nockherberg in München
weilt. Stimmt das oder nicht? Nach meiner Meinung hat
er wie wir alle die Pflicht, bei der jetzigen Diskussion
anwesend zu sein und den Termin in München dieses
Jahr sausen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409309100
Herr Kollege Uhl,
es tut mir Leid, dass Sie das offenbar mit Bedauern zur
Kenntnis nehmen.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Doch, er bedauert es; es tut ihm Leid.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie haben ein unglaubliches Parlamentsverständnis!)


Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast






(A)



(B)



(C)



(D)


– Herr Kollege Uhl hat gesagt, er nehme mit Bedauern
wahr, dass er heute erstmalig an einem bestimmten Er-
eignis, bei dem er schon sehr oft war, nicht teilnehmen
könne. Ich würde jetzt gern zu dem hier zu diskutieren-
den ernsten Thema zurückkehren.

Herr Kollege Gerhardt, darf ich um Ihre Aufmerk-
samkeit bitten. Auch Sie haben sich für ein Zuwande-
rungsgesetz stark gemacht und sehr wortreich für dieses
geworben. Ich muss sagen: Das, was die Freien Demo-
kraten uns vorgelegt haben, begrenzt praktisch die Mi-
gration, ja greift sogar in Rechtsansprüche ein, etwa in
den auf Familiennachzug von Ausländern, und eröffnet
keinerlei neue Perspektiven. Deswegen kann dieser An-
satz, Herr Kollege Gerhardt, unsere Billigung nicht fin-
den.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wann legen Sie denn ein Gesetz vor?)


– Ich komme noch darauf.
Am peinlichsten, meine Damen und Herren, gebärdet

sich der ehemalige Zukunftsminister, der in der Vergan-
genheit die Chance zu einer Offensive zur Aus- und
Fortbildung einheimischer Hightech-Experten verpasst
hat und jetzt mit dem törichten Spruch „Kinder statt In-
der“ Feindseligkeiten schürt. Lothar Späth, nachweislich
kein Parteigänger der rot-grünen Koalition, fand dafür
ein treffendes Wort: Schwachsinn. Dem ist nichts hinzu-
zufügen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wirbt
auswärtige Spezialisten an, weil es dafür einen akuten
Bedarf gibt; sie tut das befristet. Gleichzeitig unter-
nimmt sie verstärkt Anstrengungen, um hier im Lande
junge, aber auch ältere Kräfte in der Informations-
technologie zu schulen. Was das mit Unmenschlichkeit,
Frau Jelpke, zu tun haben soll, das müssten Sie mir
schon erklären.

Davon sorgfältig zu trennen ist die Diskussion um das
Für und Wider eines Einwanderungsgesetzes etwa mit
jährlichen Aufnahmequoten. Ein solches Gesetz steht in
der Tat kurzfristig nicht auf der Tagesordnung. Dazu
brauchen wir Zeit und möglichst die Einbettung in den
europäischen Rahmen.

Fazit: Wir setzen den Schwerpunkt darauf, die Inte-
gration unserer nichtdeutschen Mitbürger zu verstärken.
Wir haben die Einbürgerung deutlich erleichtert und
hoffen, dass diese gesetzliche Regelung positiv gewür-
digt wird. Wir treiben die Harmonisierung des Asyl-
rechts in Europa voran. Wir verbessern das Ausländer-
gesetz da, wo es notwendig ist, zum Beispiel bei den
Verwaltungsvorschriften, damit etwa die geschlechts-
spezifische Verfolgung im Asylverfahren besser und
sensibler beachtet wird.

Bei § 19 des Ausländergesetzes haben wir heute
wirklich einen Schritt nach vorne gemacht. Ich kann nur
noch einmal sehr lebhaft meiner Freude darüber Aus-
druck verleihen, dass wir die Frist für die Erlangung des
eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehe-
partner deutlich verkürzt und damit vor allen Dingen
etwas für die Verbesserung der Lage der Frauen getan
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit alledem, meine Damen und Herren, sind wir auf
gutem Weg. Ich bin sicher, dass wir auf diesem Wege
gut vorankommen können. Einer sachlichen Debatte –
ich betone das – über all die Fragen, die heute angeklun-
gen sind, stehen wir offen gegenüber.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409309200
Das Wort zur Ge-
schäftsordnung hat die Kollegin Birgit Schnieber-
Jastram.


Birgit Schnieber-Jastram (CDU):
Rede ID: ID1409309300
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir sind
uns einig, dass das, was hier eben an Frage und Antwort
stattgefunden hat mit der Bedeutung dieses Parlaments
nicht gerecht wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

Deswegen möchte ich Ihnen sagen, dass die CDU/CSU-
Fraktion beantragt, gemäß § 42 unserer Geschäftsord-
nung die Herbeirufung des Ministers zu beschließen.
Ich glaube, die Selbstachtung des Parlamentes gebietet
dies. Es gibt keinen anderen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409309400
Das Wort zur Ge-
schäftsordnung hat die Kollegin Angelica Schwall-
Düren.


Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1409309500
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau
Staatssekretärin hat ausgeführt, dass ein Minister auch
anderweitig wichtige Veranstaltungen zu besuchen hat.


(Zurufe von der CDU/CSU: Wo denn? – Gegenruf des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Dort, wo der Glos auch ist!)


Wir beantragen jetzt eine einstündige Sitzungsunter-
brechung; um eine Sondersitzung unserer Fraktion
durchzuführen, in der wir über die Vorfälle, die hier
stattgefunden haben, beraten werden


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409309600
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn eine Fraktion für eine Fraktionssit-
zung Sitzungsunterbrechung beantragt, ist es in diesem
Haus üblich, dass diesem Antrag stattgegeben wird.

Deshalb unterbreche ich die Sitzung des Deutschen
Bundestages für circa eine Stunde. Sie werden rechtzei-
tig informiert, wann die Plenarsitzung fortgesetzt wird.


(Unterbrechung von 12.30 bis 13.31 Uhr)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409309700
Die unterbro-
chene Sitzung ist wieder eröffnet.

Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast






(A)



(B)



(C)



(D)


Wir haben, wie geplant, zunächst noch über den von
der CDU/CSU-Fraktion gestellten Antrag auf Herbeiru-
fung des Bundesministers des Innern abzustimmen. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Antrag ist abgelehnt


(Zuruf von der CDU/CSU: Nein! Zweifeln wir an!)


mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P., während die PDS
sich enthalten hat.

Damit können wir nun mit der Aussprache zum An-
trag der CDU/CSU-Fraktion zum Asyl- und Ausländer-
recht fortfahren. Als nächstem Redner in der Debatte er-
teile ich das Wort dem Abgeordneten Wolfgang
Zeitlmann.


Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1409309800
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es könnte
jetzt durchaus jemand den Vorwurf erheben, wir hätten
irgendeine Werbevereinbarung mit der Paulaner-Brau-
erei, die jenes Starkbierfest veranstaltet, an dem der In-
nenminister teilnimmt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Übrigens auch sehr viele Oppositionsabgeordnete!)


Ich habe heute den ganzen Vormittag an den Debat-
ten einschließlich der zur Änderung des § 19 des Aus-
ländergesetzes teilgenommen und mich hier informiert.
Eines möchte ich vor diesem Hintergrund sagen: Es ist
schon ein besonderes Zeichen parlamentarischer Diskus-
sionskultur, dass niemand von uns, obwohl die Medien
in den letzten Tagen vom Thema Green Card, Zuwande-
rungsbegrenzungsgesetz und anderen Dingen voll wa-
ren, dieses zum Gegenstand parlamentarischer Debatten
machte. Mir muss einmal einer erklären, wie wir im An-
sehen in der öffentlichen Meinung steigen sollen, wenn
wir so inaktuell über Themen debattieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich glaube deshalb, dass der Zeitpunkt für die Bera-

tung des Antrages der CDU/CSU für ein modernes
Asylrecht genau richtig war und dabei von den Kollegen
mit guten Gründen auf die eigentlichen Themen, die
jetzt draußen debattiert werden, eingegangen wurde.

Der Kollege Bosbach hat völlig zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass es eine Riesenkluft zwischen dem gibt,
was die Regierung erklärt, und dem, was sie tatsächlich
macht.

Die Äußerungen Schilys über die Belastbarkeit dieser
Republik in Bezug auf die Zuwanderung wurden schon
erwähnt. Es gibt ja noch weitere Äußerungen, die er in
der Vergangenheit von sich gegeben hat, die bei seinen
eigenen Regierungsgenossen meistens auf heftige Kritik
gestoßen sind.

So hat er zum Beispiel im Oktober 1999 in der „Zeit“
erklärt, dass nicht jede Wohltat, die wir den Menschen
gewähren, einklagbar sein müsse. Damit sind wir genau
beim Kern der Debatte. Ich fand es sehr gut, dass wir

hier einmal breiter darüber diskutiert haben und von der
engen Sicht der Begrenzung von Zuwanderung wegge-
kommen sind. Heute Vormittag wurde von einem Teil
der Abgeordneten hier ganz deutlich gesagt –das ist un-
bestreitbar – das ist im Protokoll auch nachlesbar –, dass
ein Teil dieses Hauses ein Mehr an Zuwanderung will.
Sie haben gesagt, dass das Ausländerrecht in frauenspe-
zifischen Belangen und in anderen Bereichen geöffnet
werden solle. Jetzt kommt in diese Debatte der Vor-
schlag einer Green Card hinein.

Heute Vormittag ist auch gesagt worden, die Regie-
rung bereite Rechtsänderungen vor. Ich weiß nicht, ob
der Auswärtige Ausschuss Detailinformationen darüber
hat, wie die Visaerteilung erleichtert wird. In einer Mit-
teilung des Auswärtigen Amtes im Internet wird bedau-
ernd darauf hingewiesen, dass die Zahl der Visaerteilun-
gen zurückgegangen sei, weshalb es hier Erleichterun-
gen geben müsse. Dann steht dort noch folgender schö-
ner Satz: Im Zweifel sollte man sich immer für die Ein-
reise aussprechen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Im Februar dieses Jahres haben Sie den Bundesrats-
vorschlag zur Begrenzung asylbewerberleistungsgesetz-
licher Regelungen abgelehnt, gleichzeitig wollen Sie die
Arbeitserlaubnis für Asylbewerber erleichtern. Daraus
wird schon ein gewisses Konzert: Man will in Zukunft
ein Mehr an Zuwanderung; eine Verringerung der jetzi-
gen Probleme der Kommunen ist nicht in Sicht.

Wir können jederzeit parteienübergreifend eine De-
batte beginnen, sofern es von keiner Seite irgendwelche
heiligen Kühe gibt. Herr Gerhardt, bei Ihnen gab es im-
mer eine solche heilige Kuh, nämlich das Asylgrund-
recht. In der letzten Wahlperiode hat Ihre Ausländerbe-
auftragte stets gesagt, man wolle ein Zuwanderungsbe-
grenzungsgesetz, sei aber nicht bereit, die derzeitige
Zuwanderung in Frage zu stellen. Das hat auch Ihr Ex-
kollege Hirsch viele Jahre lang gesagt. Daher sage ich:
Wir können über alles debattieren, sofern keine Vorbe-
dingungen gestellt werden.


(Zuruf von der SPD)

Eine Vorbedingung, die ich von der linken Seite höre,
ist, dass das Grundrecht auf Asyl als heilige Kuh ange-
sehen wird.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Grundrecht, Herr Zeitlmann!)


– Sie können doch nicht so tun, als sei ohne ein solches
subjektives Grundrecht Asyl nicht denkbar. Anderen-
falls müssten Sie doch einem Teil der europäischen
Staaten den Vorwurf machen, dass sie zutiefst undemo-
kratisch seien. Das tun Sie aber nicht. Sie wissen genau,
dass es verschiedene Formen gibt – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409309900
Herr Kollege
Zeitlmann, darf ich Sie einmal unterbrechen? Es besteht
bei Ihrem Kollegen Belle der Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)



Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1409310000
Dem Kollegen
Belle gestatte ich sie immer.


Meinrad Belle (CDU):
Rede ID: ID1409310100
Herr Kollege
Zeitlmann, wie beurteilen Sie das großzügige und um-
fassende Gesprächsangebot des Herrn Kollegen
Gerhardt von der F.D.P., der das individuelle Asyl-
grundrecht beibehalten will, unter dem Gesichtspunkt,
dass die beiden F.D.P.-Minister Döring und Goll aus
Baden-Württem-berg ganz intensiv die Abschaffung des
subjektiven Asylgrundrechts fordern?


(Sebastian Edathy [SPD]: Die sind sich eben nicht besonders einig bei der F.D.P.)



Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1409310200
Herr Kollege
Belle, als ich auf den Kollegen Hirsch einging, wollte
ich schon Herrn Gerhardt sagen, er müsse sich von
Hirsch freischwimmen und auf Dörings Position zube-
wegen. Dann können wir ganz offen über dieses Thema
diskutieren. Der linken Seite des Hauses sage ich, sie
soll sich von den linken Träumern freischwimmen,


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Zeitlmann, wir sitzen hier in der Mitte!)


die der deutschen Bevölkerung ein Mehr an Zuwande-
rung zumuten wollen. Dann können wir miteinander
ringen, Herr Wiefelspütz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Frau Staatssekretärin

sprach hier davon, es müsse in Europa Mindeststan-
dards geben. Das ist ein bisschen gefährlich, da dieser
Begriff bedeuten könnte, dass Länder im Rahmen der
EU auch über diese Mindeststandards hinausgehen. Ich
halte es für sinnvoller, dass man sich für einheitliche
Standards einsetzt. Es soll gleiches Recht für alle in al-
len Bereichen Europas gelten.

Eine Debatte macht nur Sinn, wenn wir uns nicht ge-
genseitig sozusagen an den Pranger stellen und so tun,
als wenn jeweils der andere Unrecht habe. Herr Veit, Sie
haben es gemacht, indem Sie gesagt haben, wir würden
uns abschotten. Wer in die Republik schaut, der weiß
genau, dass sich unser Land nicht abschottet. Es macht
auch keinen Sinn, Frau Kollegin Beer, wenn Sie hier so
tun, als ob die Flüchtlingskonvention ein Einreiserecht
gibt. Sie schützt vor Abschiebung und Zurückweisung,
aber sie gibt kein Einreiserecht. Ich sage das, damit die
Sachverhalte nicht verwischt werden.

Frau Kollegin Beer, auch Sie sagten, die Union habe
eine Abwehrgrundhaltung. Dies ist in einer Gesellschaft
legitim. Wiefelspütz schreibt, dass in den letzten Jahren
700 000 bis 900 000 Menschen zu uns gekommen sind


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Und gehen!)

– ich wollte diesen Punkt gerade erwähnen – und derzeit
in etwa gleicher Zahl gehen.


(Zuruf von der SPD: Aha!)

Aber jeder weiß, dass dieser Prozess des Gehens damit
zusammenhängt, dass der Staat mit großer Kraftanstren-

gung abschiebt. Wenn es diese Abschiebungen nicht
gäbe, hätten wir eine hohe Zuwanderung.

Angesichts der Tatsache, dass diese Zuwanderung
Probleme im kommunalen Bereich erzeugt, etwa in
Schulen und bezüglich der Einteilung der Schulbus-
linien, und dass die Integration in manchen Städten
wirklich nicht funktioniert, kann man doch unsere Posi-
tion nicht verunglimpfen und so tun, als ob eine Ab-
wehrhaltung etwas Negatives sei. Es ist legitim, dass
sich eine Gesellschaft vor zu viel Zuwanderung schützt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es hilft auch nichts, wenn wir den Eindruck erwe-

cken, als seien die, die sich vor zu viel Zuwanderung
schützen wollen, leicht asoziale Elemente, die für die
Nöte der Welt kein Herz haben. In diesem Zusammen-
hang ist diese Meinung unfair, denn unser Land tut sehr
viel im Rahmen der Zuwanderung. Denken Sie nur an
die Lasten der letzten acht Jahre, die Deutschland im
Fall der Hilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge erbracht hat!
Das ist bemerkenswert und rechtfertigt solche Vorwürfe
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich halte es auch für bemerkenswert, dass wir heute

erstmalig im Parlament dieses Thema diskutieren, nach-
dem der Bundeskanzler mit der Green Card sozusagen
einen Versuchsballon gestartet hat. Ohne den Antrag der
CDU/CSU hätte es die Mehrheit dieses Hauses anschei-
nend nicht für notwendig gehalten, das Parlament mit
diesem Thema zu befassen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Genau so ist es!)

Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-
sen.

Sie können die Probleme der Republik nicht auf diese
Weise abhandeln und andererseits den Vorwurf erheben,
die Union schneide Themen an, die mit ihrem eigenen
Antrag nichts zu tun haben.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist doch so! – Sebastian Edathy [SPD]: Sie geben es sogar zu!)


– Ich gebe gern zu, dass es nicht unbedingt mit dem
Wortlaut übereinstimmt. In Anbetracht Ihrer relativ un-
parlamentarischen Haltung erscheint es mir aber voll ge-
rechtfertigt, Ihren Kanzler sozusagen sausen zu lassen,
weil Sie das Parlament nicht einmal darüber diskutieren
lassen wollen.


(Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Kollege Wiefelspütz, bitte schön.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1409310300
Herr Zeitlmann, es gibt
doch so etwas wie bayerischen Liberalismus. Warum
sind Sie kein toleranter, liberaler bayerischer Mensch?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ist er doch! Ihre Frage ist falsch!)







(A)



(B)



(C)



(D)


Die zweite Frage: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen,
dass das gesamte Haus auch in Zukunft immer wieder
die wichtigen Fragen dieses Landes erörtern wird? Dazu
gehört beispielsweise selbstverständlich auch die wich-
tige Frage hinsichtlich der Zuwanderung, Migration,
Asyl und alles, was – wie die Green Cards – damit zu-
sammenhängt. Sie sind bereit anzuerkennen, dass der
heutige Tag selbstverständlich nicht der letzte Tag ist, an
dem eine Debatte auf diesem Felde geführt wird?


Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1409310400
Herr Kollege
Wiefelspütz, wer mich kennt, zweifelt nicht an einer
gewissen Liberalität.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD)


Herr Kollege Wiefelspütz, es kommt natürlich immer
auf den Standpunkt an. Sie haben wahrscheinlich relativ
wenig Detailkenntnis von bayerischer Liberalität. Das
muss man Ihnen nicht vorwerfen. Ich bleibe dabei: Es ist
bemerkenswert, dass die Mehrheitsfraktionen ihren
Kanzler etwas sagen lassen und es in der Woche darauf
nicht zum Gegenstand einer Debatte machen. Entweder
kennen Sie sich selber noch nicht aus, was damit ge-
meint ist, oder Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil
Sie kalt erwischt wurden. Das mag alles sein. Aber das
wird man doch feststellen dürfen, ohne dass man von
Ihnen Kritik erfährt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich würde es begrüßen,

wenn die heutige Diskussion zu dem Ergebnis käme,
dass sich die Parteien zu einem neuen Diskurs zusam-
menfinden, um das Thema Zuwanderung wirklich ein-
mal aufzuarbeiten.


(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Gut! Einverstanden! Ohne Vorurteile!)


Es ist doch festzustellen, dass wir derzeit eine zu ho-
he Zuwanderung haben, die ungesteuert ist – es ist zig-
mal über die Anerkennungsquoten und dergleichen mehr
gesprochen worden –, und dass es in der Republik viele
gibt, die gerne Ausländer beschäftigen würden. Ich be-
haupte, nicht nur die IT-Industrie, sondern auch viele
Unternehmen würden Ausländer beschäftigen. Jeder von
Ihnen hat die Fälle in seiner Praxis, dass Kosovo-
Albaner, Bosnier zurückgeschoben werden sollen und
irgendjemand erklärt, wie wichtig, notwendig und sinn-
voll sie sind. Das Arbeitsamt erklärt fünfmal, dass sie
keine deutsche Arbeitskraft für diesen Bereich haben,
und trotzdem schieben wir ab.

Diskutieren wir doch einmal ganz unvoreingenom-
men, wie wir zu einer Steuerung kommen. Dann dürfen
Sie aber keine Vorbehalte geltend machen und sagen:
Im Ergebnis muss eine größere Zahl der Zuwanderung
herauskommen. Dieses höre ich immer wieder bei Ihnen
– nicht bei Ihnen, Herr Wiefelspütz; ich habe Sie nicht
persönlich gemeint, sondern die Gesamtheit der Stim-
men, die aus dem Regierungslager kommen. Auch die
Kritik, die Sie an dem Innenminister Schily üben, macht
es deutlich. Ich sage Ihnen: Offene Debatte ja, aber zur
rechten Zeit. Dann könnte vielleicht einmal etwas Sinn-

volles herauskommen. Eines müssen Sie auch akzeptie-
ren: Wenn wir unsere Hausaufgaben in Deutschland
nicht machen, wird eine europäische Lösung wahr-
scheinlich nicht möglich sein.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Was hat denn der Zeitlmann jetzt zur Sache gesagt?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409310500
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist mir ein Vergnügen, nach dem baye-
rischen Abgeordneten Zeitlmann zu sprechen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dem Fast-Liberalen!)


weil auch ich aus Bayern bin und es hoffentlich klar
wird, dass es ein anderes Bayern gibt, dass Bayern zu-
mindest sehr pluralistisch ist. Manchmal gibt es Vorur-
teile, gegen die ich mich wenden möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das habe ich schon immer vermutet!)


Der Antrag, über den wir heute debattieren – das wird
in der Debatte manchmal vergessen –, trägt den Titel
„Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“.

Wenn modern heißt: Ausbau und Schutz von Grund-
und Menschenrechten, wenn modern heißt: Europäisie-
rung auf dem höchsten Niveau im Sinne derer, die Hilfe
und Zuflucht suchen, wenn modern heißt: liberale Inter-
pretation der einschlägigen Konventionen, dann ist das,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, was
Sie vorschlagen, nicht modern, sondern entsetzlich alt-
modisch, überholt, mit sehr entdemokratisierenden Zü-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU] verlässt den Plenarsaal)


– Herr Merz, ich bitte, dass Sie hier bleiben.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich komme gleich wieder!)

Ich wollte Sie als alten Europäer ansprechen. Ich erzähle
es Ihnen später.

Sie treiben in alter, wohl bekannter Manier Schindlu-
der mit Europa, wenn Sie die europäische Harmonisie-
rung als Vehikel zum Abbau nationaler Standards und
rechtsstaatlicher Errungenschaften missbrauchen wollen.

Modernität ist für mich der Ausbau und Schutz von
Grundrechten, zum Beispiel im Rahmen der
Grundrechtecharta der Europäischen Union. Ein mo-
dernes europäisches Asylrecht setzt auch bei uns

Dieter Wiefelspütz






(A)



(B)



(C)



(D)


Veränderungen voraus – das stimmt. Meine Kollegin Frau
Beck hat darauf hingewiesen, dass eine Veränderung bei
uns zum Beispiel heißt: eine weitergehende Interpretati-
on der Genfer Flüchtlingskonvention im Sinne des
UNHCR, also die Anerkennung geschlechtsspezifischer
und nicht staatlicher Verfolgung. Wir wollen auf keinen
Fall einen europäischen Wettlauf der Schäbigkeit, die
Harmonisierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nen-
ner. Wir wollen vielmehr die Sicherheit von Standards
auf einem sehr hohen Niveau.

In meiner Interpretation ist Modernität nicht die Fort-
setzung dessen, was in 16 Jahren Kohl-Regierung prak-
tiziert wurde. In dieser Zeit wurde das Grundgesetz
Stück für Stück demontiert und es ist zu einem regel-
rechten Steinbruch verkommen.

Mit Ihrem Antrag verfolgen Sie wirklich nichts ande-
res als die Demontage eines rechtsstaatlichen Asylver-
fahrens. Wer fordert, dass Asylanträge bereits an der
Grenze beschieden werden, der schlägt ein Prüfungsver-
fahren vor, das kein Verfahren, sondern ein juristisch
kaschierter Fußtritt ist. Wer Rechtsschutz suchende
Flüchtlinge ins Ausland abschieben will, der entzieht ih-
nen die Möglichkeit, effektiv Rechtsmittel einzulegen.
Er verweigert damit die Rechtsweggarantie. Wer das
Beweisantragsrecht in Asylverfahren, das Grundrecht
auf freie Meinungsäußerung, auf Vereinigungsfreiheit,
auf Versammlungsfreiheit für Asyl Suchende einschrän-
ken will, der entrechtet systematisch das Recht.

Lieber Herr Kollege Zeitlmann, ganz nebenbei ge-
sagt: Das hat auch mit christlichen Werten, so wie ich
sie verstehe, nicht mehr viel zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In der aktuellen Debatte – wir haben es in den Medien
gehört, wir haben es gelesen, wir haben es aber auch
heute im Plenum gehört – gehen Ihre Vorstellungen weit
über das hinaus, was im Antrag vorgeschlagen wird. Es
geht tatsächlich darum – das haben Sie gesagt, Herr
Zeitlmann –, das individuelle Grundrecht auf Asyl ab-
zuschaffen. Auch Herr Merz hat sich im „Spiegel“ dazu
geäußert. Er hat erklärt, das Asylrecht zugunsten einer
Zuwanderungsregelung ablösen zu wollen, die sich – ich
zitiere – „ausschließlich an den Interessen des Staates“
orientieren solle.

Die Nöte derjenigen Menschen, die vor Todesgefahr,
vor Folter, vor Misshandlung fliehen wollen, sollen also
volks- und betriebswirtschaftlichen Erwägungen unter-
geordnet werden. Mit Verlaub, liebe Kollegen: Das ist
der untaugliche Versuch der Entsorgung unserer histori-
schen Verantwortung, wie sie als Konsequenz des Nazi-
terrors in Art. 16 des Grundgesetzes formuliert wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Das Grundrecht auf Asyl ist ein subjektives Recht
und eben kein Gnadenrecht des Staates. So ist es und so
muss es bleiben, ganz im Sinne der Genfer Flüchtlings-
konvention, auch auf europäischer Ebene. Herr

Zeitlmann, seien Sie sicher: Das wird von uns auch eu-
ropäisch so eingefordert.

Ich möchte gerne noch auf Punkt 10 Ihres Antrags
eingehen, in dem Sie eine so genannte Lastenverteilung
fordern, die in erster Linie nach Quoten erfolgen soll.
Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag vorge-
legt, der von mir in den Grundzügen voll geteilt wird.
Ich begrüße sehr, dass der geplante Aufbau von Asylsys-
temen in Ländern, die in diesem Bereich noch einen
Nachholbedarf haben, stattfinden soll. Ich finde es lo-
benswert, dass diejenigen Flüchtlinge, die nur einen so
genannten subsidiären Schutz genießen, in staatliche In-
tegrationsprogramme aufgenommen werden sollen.

Außerdem – darum geht es in dem Streit über Quote
und Flüchtlingsfonds – begrüße ich das sehr, dass die
Kommission vorschlägt, dass in Massenfluchtsituationen
diejenigen EU-Länder einen finanziellen Ausgleich er-
halten sollen, die mehr Flüchtlinge als andere aufge-
nommen haben. Also: Bitte keine Blockaden!

Ich wollte Herrn Merz – leider ist er hinausgegangen
– viel Glück und Kraft in seinem neuen Amt wünschen.
Das kann er sicherlich gebrauchen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Man muss es aber nicht übertreiben!)


Ich wollte ihn an seine Ankündigung erinnern, Europa-
politik zu einem Schwerpunkt der politischen Auseinan-
dersetzung zu machen. Das halte ich für eine gute und
positive Ankündigung.

Nur, die Tonlage, mit der von Unionsvertretern die
Themen „Asyl“ und „Türkei“ angestimmt werden,
macht mich sehr skeptisch, weil ich nicht glaube, Herr
Bosbach – auch er ist nicht mehr da –, dass es wirklich
eine verantwortungsvolle Debatte ist; vielmehr geht es
um eine rechtspopulistische Stimmungsmache. Ich glau-
be, dass billige Polemik und neue Kampagnen, die
Flüchtlinge kriminalisieren und sie zur Bedrohung erklä-
ren, sehr gefährlich sind. Wie brandgefährlich das ist,
haben wir – im wahrsten Sinne des Wortes – in der Ära
Kanther erlebt. Also: Bitte keine Stammtisch- und
Starkbierparolen, sondern eine wirklich verantwortungs-
volle Diskussion.

Zum Schluss: Ich glaube, dass wir die allerbesten Eu-
ropäer sind, wenn wir dafür kämpfen, dass die europä-
ische Harmonisierung am besten auf der Basis des un-
veräußerlichen Schutzes und Respektes gegenüber
Grundrechten geschieht, weil die Grundrechte das Al-
lermodernste sind, was wir haben und was Europa hat.
Ohne Grundrechte, ohne das individuelle Grundrecht auf
Asyl wäre dieses Europa sehr viel ärmer.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Und dies, Herr Zeitlmann, sagt eine Dame aus Bay-
ern!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ob das eine typische Bayerin ist, weiß ich nicht!)


Claudia Roth (Augsburg)







(A)



(B)



(C)



(D)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409310600
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Barthel.


Eckhardt Barthel (SPD):
Rede ID: ID1409310700
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich habe es ein bisschen be-
dauert, dass durch dieses – ich nenne es einmal so –
Zwischenspiel eine Debatte, die teilweise Aussagen her-
vorgebracht hat, über die man reden sollte, unterbrochen
wurde. Es fielen in der Tat einige Bemerkungen – ich
denke besonders an die von Herrn Gerhardt –, von de-
nen man sagen kann, dass man darüber weiter reden
müsste.

Ich habe mir auch von Herrn Bosbach einen Satz auf-
geschrieben, der mich doch tief beeindruckt hat. Der
Satz lautet:

Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondern
über Menschen.

Herr Bosbach, dieser Satz wird bestimmt auch im Zu-
sammenhang mit Ihrem Namen häufig zitiert werden
und ich kann Ihnen auch sagen: Er wird nicht nur zitiert
werden, sondern daran wird sich auch vieles messen las-
sen müssen, was Sie in der konkreten Politik in diesen
Bereichen, über die wir heute reden, tun.

Es ist ein wichtiger Satz – manche behaupten, es sei
ein Bischofswort –, aber er steht völlig im luftleeren
Raum im Verhältnis zu allem, was wir bisher ansonsten
hierzu gehört haben.

Mich wundert auch, dass alle Debatten, die bei Ihnen
geführt werden, offensichtlich immer mit der Aussage
enden: Wir müssen das individuelle Asylgrundrecht
abschaffen. – Komisch, immer läuft das darauf hinaus,
angefangen mit der Green Card bis zu allem Möglichen;
es läuft immer auf diesen Punkt hinaus. Wie hieß es aber
noch? Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondern
über Menschen.

Meine Damen und Herren, was mich ebenfalls ge-
wundert hat, ist Folgendes. Der Antrag lautet „Modernes
europäisches Asyl- und Ausländerrecht“ und Sie wollen
damit die Bundesregierung auffordern, die Harmonisie-
rung voranzutreiben. Gesagt haben Sie zu Ihrem eigenen
Antrag nichts. Nun könnte man das damit abtun, dass
man sagt: Jeder Schüler hat es schon einmal erlebt, dass
unter einem Aufsatz stand „Thema verfehlt“. Aber ich
denke, hier liegt der Grund ein bisschen tiefer.

Warum bringen Sie einen solchen Antrag ein, reden
aber nicht über das eigentliche Ziel des Antrages, näm-
lich die europäische Ebene, die hiermit doch gemeint
ist? Dafür gibt es eine Erklärung: Sie nehmen den An-
trag selbst nicht ernst, weil Sie meinen, das Thema liege
bei der jetzigen Bundesregierung schon in guten Hän-
den. Die Staatssekretärin hat vorhin ja auch vorgetragen,
was alles in diesem Bereich bereits getan wurde. Ich
gehe davon aus, dass Sie das auch wissen. Also müsste
es dafür einen anderen Grund geben.

Ich werde Ihnen anhand eines kleinen Beispiels aus
Ihrem eigenen Antrag zu begründen versuchen, weshalb
das nach meiner Ansicht stimmt. Ich habe das Gefühl,
dass es Ihnen gar nicht um die Harmonisierung auf eu-

ropäischer Ebene geht, sondern dass für Sie das Ziel
„Harmonisierung“ eigentlich nur ein Instrument ist, um
die Standards, die wir in der Bundesrepublik haben, ab-
zubauen. Nach meinem Eindruck ist also Ihr Interesse
gar nicht auf das gerichtet, was wir eigentlich alle wol-
len und was wichtig ist, nämlich in der Tat zu einer
Harmonisierung des Ausländer- und Asylrechts auf eu-
ropäischer Ebene zu kommen, sondern auf eine Senkung
der Standards, die wir heute in Deutschland haben. Da-
bei ist es meines Erachtens doch so wichtig, dass wir uns
auch einmal mit den Problemen beschäftigen, die vor
der Harmonisierung stehen und die wir zu lösen haben.

Jeder versteht unter Harmonisierung eigentlich ein
bisschen etwas anderes. Wer versteht aber was darunter?
Welche Positionen sollen überhaupt harmonisiert wer-
den? Gibt es nicht auch Unterschiede, die weiterhin als
Unterschiede behandelt werden müssen? Nach dem
Gleichheitsgrundsatz, den wir einmal gelernt haben, war
ja nicht alles gleich zu machen, sondern unterschiedliche
Tatbestände waren entsprechend ungleich zu behandeln.

Alle diese Fragen bleiben aus und für mich ist die
wichtigste Frage: Was ist am Ende? Werden wir ein li-
berales, ein liberaleres europäisches Asyl- und Auslän-
derrecht haben oder wird der Vorwurf, der immer zu hö-
ren ist, vom „Ausbau der Festung Europa“ bestätigt?

Meine Damen und Herren, wie wichtig die Einheit-
lichkeit in bestimmten Bereichen und auch die Harmoni-
sierung ist, geht aus dem Punkt 10 Ihres Antrags, den
ich einmal als Beispiel herausgreife, hervor, nämlich aus
dem, was Sie als „Lastenverteilung“ bezeichnet haben.
Man könnte auch von „gemeinsamer Verantwortung für
Flüchtlinge“ reden, aber der Begriff „Lastenverteilung“
hat sich in diesem Zusammenhang wohl eingebürgert.
Es kann in der Tat nicht sein, dass die Partner humanitä-
re Hilfen aus purem Eigeninteresse anderen Ländern
überlassen. Das kann nicht so bleiben. Ich glaube, wir
sollten versuchen – hier liegen wohl die größten Pro-
bleme –, zu einer Harmonisierung zu kommen, damit
ein „Lastenausgleich“ zustande kommt.

Lassen Sie mich ein Problem benennen: Wir werden
in dieser Frage auf europäischer Ebene erst dann
glaubwürdig sein, wenn wir das auch innerhalb Deutsch-
lands geregelt haben. Wir haben doch innerhalb
Deutschlands zwischen den Bundesländern ebenfalls das
Problem, dass wir diesen Ausgleich nicht schaffen. Ich
nenne das Stichwort: Bosnien-Flüchtlinge. Es gab Län-
der, in denen eine große Anzahl von Flüchtlingen war,
und es gab Länder, in denen nur wenige Flüchtlinge wa-
ren. Bevor wir auf europäischer Ebene einen Ausgleich
fordern, müssen wir es erst schaffen, den Ausgleich zwi-
schen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland
hinzubekommen.

Es war eine Leistung – jedenfalls bewerte ich das
sehr hoch –, dass es die jetzige Bundesregierung ge-
schafft hat, bei den Kosovo-Flüchtlingen diesen Aus-
gleich in der Bundesrepublik Deutschland endlich zu-
stande zu bringen. Ein Kompliment; das ist gut. Mit die-
ser Position haben wir auf europäischer Ebene si-
cher größere Chancen, dieses sinnvolle Ziel des






(A)



(B)



(C)



(D)


Lastenausgleichs hinzubekommen und in diesem
Bereich eine Harmonisierung zu erreichen.

Im Kern geht es bei der Harmonisierung darum, einen
gemeinsamen Nenner zu finden. Hier ist nun die Frage:
Will man den kleinsten gemeinsamen Nenner oder will
man einen größeren Nenner auf humanitärer Basis? Der
kleinste gemeinsame Nenner darf es wohl nicht sein. Ich
vermute, dass dies das Ziel der CDU/CSU ist: Sie wol-
len nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner auf eu-
ropäischer Ebene, sondern es sollen auch die Möglich-
keiten gedeckelt werden, dass einzelne Ländern in dieser
Frage einen größeren Spielraum haben.

Wir haben vor einiger Zeit in diesem Hause über ei-
nen Antrag der CDU/CSU gesprochen, und zwar über
die so genannte Warndatei. Er ist von allen Fraktionen,
außer der der CDU/CSU – ich erinnere mich noch an Ih-
re Rede –, abgelehnt worden, auch von der F.D.P. Das
hat mich gewundert. Hier sieht man nun eine gewisse
Methode. In Punkt 12 Ihres heutigen Antrages zur Har-
monisierung des Ausländer- und Asylrechts taucht ge-
nau dieser Punkt als Forderung wieder auf. Mit anderen
Worten: Das, was Sie hier nicht erreichen, wollen Sie
jetzt auf europäischer Ebene durchsetzen, damit es auch
in Deutschland gültig wird. Das ist nicht unser Ansatz
für eine notwendige Harmonisierung des europäischen
Ausländer- und Asylrechts.


(Beifall bei der SPD)

Die Bereiche, die bereits von der Bundesregierung

genannt worden sind, möchte ich jetzt nicht wiederho-
len. Ich möchte nur abschließend eines sagen: Ich bin
nach den Vorläufen, den Diskussionen, Anträgen und
Entscheidungen seitens der CDU/CSU-Opposition, die
wir in diesem Bereich bisher hatten, eigentlich froh, dass
die Verhandlungen über die notwendige Harmonisierung
auf europäischer Ebene nicht weiter von Ihnen geführt
werden, sondern von der jetzigen Bundesregierung.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Von Herrn Schily, das ist wahr!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409310800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409310900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gegenstand dieser Debatte ist ein
Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel – man muss
das vielleicht sagen, weil heute über den Antrag selber
wenig gesprochen worden ist –: „Modernes europäi-
sches Asyl- und Ausländerrecht“. Ich habe allerdings als
jemand, der die Debatte, die ja doch ein bisschen länger
geworden ist als geplant, verfolgt hat, seitens der Uni-
onsfraktion von Modernisierung wenig gehört. Ich habe
mich daran erinnert, dass ich vor einigen Wochen Herrn
Bosbach nach seiner Wahl zum stellvertretenden
Unionsfraktionsvorsitzenden – Nachfolger von Herrn

Rüttgers – zuständig für den Bereich Inneres und Recht,
ausdrücklich gratuliert habe, weil ich ihn im Vergleich
zu Herrn Rüttgers als sehr sachlich auftretenden Kolle-
gen, gerade im Innenausschuss dieses Hauses, erlebt ha-
be. Aber es scheint wirklich so zu sein, dass unter den
Blinden der Einäugige König ist und dass auch der Ein-
äugige, wenn er hier ans Rednerpult tritt, offenbar dem
Rechnung tragen muss, was bei Ihnen Methode zu sein
scheint, nämlich Ausländerpolitik so zu gestalten, dass
man erst einmal schaut, wie man sie parteipolitisch in-
strumentalisieren und nutzen kann. Das wird dem An-
spruch, den wir als Parlamentarier haben sollten, nicht
gerecht.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben nicht zugehört!)


Wer zudem in diesen Tagen die Nachrichten auf-
merksam verfolgt, der kann eigentlich nur zu der
Schlussfolgerung gelangen, dass wieder einmal das
Thema Ausländer dafür herhalten soll, zum Zwecke par-
teipolitischen Vorteils unberechtigte Ängste in der Be-
völkerung zu wecken. Wenn man etwa die Äußerungen
des Kollegen Marschewski in diversen Interviews nach-
liest, dann kann man fast den Eindruck gewinnen, dass
wir das bestehende Recht am besten durch die Abschaf-
fung des Rechtes modernisieren, in diesem Falle also
das Asylrecht am besten dadurch modernisieren, dass
wir das Grundrecht auf Asyl abschaffen, von dem der
Generalsekretär der CSU, Herr Goppel, gesagt hat, es
dürfe keine heilige Kuh darstellen. Dies macht ein biss-
chen verständlicher, warum Herr Rüttgers etwas gegen
Hindus hat. Denn die haben ja bekanntlich Respekt vor
heiligen Kühen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wie meinen Sie das?)


– Das stünde Ihnen auch gut an.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wie meinen Sie das? Sie haben keine Meinung?)

– Herr Ramsauer, wollen Sie eine Zwischenfrage stel-
len?


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409311000
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409311100
Ja, in diesem Falle tue ich
das gerne.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409311200

Herzlichen Dank, Herr Kollege Edathy. Ich habe einen
schönen Namen: Ich heiße Erwin Marschewski und
nicht Otto Schily. Wer hat denn jetzt gesagt, die Grenze
der Belastbarkeit sei überschritten? Ich frage das nun
zum wiederholten Male. Wer hat denn gesagt, wir müss-
ten das subjektive Asylgrundrecht abschaffen? Doch
nicht primär ich, sondern der Kollege Schily!

Eckhardt Barthel (Berlin)







(A)



(B)



(C)



(D)



(Zuruf von der PDS: Dadurch wird es nicht besser!)


Herr Kollege Edathy, geben Sie mir da Recht?
Was sagt denn Ihre Fraktion zu dieser Äußerung des

Herrn Bundesinnenministers? Fordert sie ihn endlich
zum Rücktritt auf? Wir würden dies gerne tun; denn er
sagt und verspricht viel, verwirklicht aber nichts. Ange-
sichts dessen, dass seine Haltung im Widerspruch zu Ih-
rer politischen Meinung und auch zu der Ihres verehrten
Vorredners steht, müssten Sie ihn doch konsequenter-
weise auffordern – ich erinnere an seine Äußerungen
hinsichtlich der Abschaffung des Asylrechts und der
Grenze der Belastbarkeit –, nun endlich zurückzutreten.
Warum tun Sie das nicht, Herr Kollege?


(Beifall bei der CDU/CSU)



Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409311300
Herr Kollege
Marschewski, ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis,
dass Sie offenkundig in jede Debatte mit dem Vorsatz
gehen, ein und dieselbe Zwischenfrage mindestens
fünfmal zu stellen. Die mir soeben gestellte Frage haben
Sie – wahrscheinlich in der Hoffnung, dass es inzwi-
schen vergessen worden ist – bereits an den Kollegen
Veit gerichtet. Ich kann Ihnen hier nur sagen: Ich trete
an dieses Rednerpult als Parlamentarier, als direkt ge-
wählter Vertreter des deutschen Volkes und ich erlaube
mir als Parlamentarier, darauf hinzuweisen – da befinde
ich mich in großer Übereinstimmung mit der SPD-
Fraktion –, dass für uns die Verfassung nicht zur Dispo-
sition steht,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


sondern dass wir ganz im Gegenteil stolz darauf sind,
Herr Marschewski, ein Land zu sein, das aus seiner leid-
vollen Geschichte gelernt hat und das dementsprechend
verfolgten und bedrängten Menschen Zuflucht gewährt.


(Beifall bei der SPD – Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Keine Antwort!)


– Das war eine eindeutige Antwort, so denke ich.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409311400
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?


(Zuruf von der SPD: Jetzt ist aber Schluss, Herr Marschewski!)


Es steht Ihnen frei.

(Ute Kumpf [SPD]:Also Wiederholungstäter!)



Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409311500
Wenn es der Erkenntnis-
gewinnung des Herrn Marschewski dient, dann darf er
gerne noch eine weitere Frage stellen.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1409311600

Ich möchte das Gleiche noch einmal fragen; denn ich
habe erneut keine Antwort bekommen. Meine Frage lau-
tet: Warum halten Sie diese politische Ansicht – wenn

Sie eine andere Meinung vertreten, akzeptiere ich das –
ununterbrochen mir vor und nicht dem Bundesinnenmi-
nister?


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1409311700
Herr Marschewski, ich
will jetzt nicht vertieft in Debatten einsteigen, die wir
unter anderem im letzten Herbst miteinander geführt ha-
ben. Aber ich will Sie doch darauf hinweisen, dass der
Bundesinnenminister über mögliche Änderungen des
Asylrechtes stets nur perspektivisch in Bezug auf die
Weiterentwicklung des europäischen Rechtes gespro-
chen hat. Sie versuchen jetzt im Grunde genommen, ei-
ne aktuelle Debatte, nämlich die hinsichtlich der Com-
puterspezialisten, zu missbrauchen, die mit dem Thema
Zuwanderung grundsätzlich nicht viel zu tun hat.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Ich komme darauf noch zu sprechen. Ich bin sehr dank-
bar, dass ich meine Redezeit ein bisschen erweitern
kann, weil Herr Marschewski so kluge Fragen an mich
stellt.

Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als bestehe
im Asylrecht ein kurzfristiger Handlungsbedarf. Ich
kann nur feststellen: Das deutsche Asylrecht ist in Ord-
nung. In den letzten Jahren haben, wenn man sich die
entsprechenden Zahlen ansieht, in Deutschland jährlich
etwa 100 000 Menschen Asyl beantragt. Die Zahl der
Antragsteller lag 1992 bei 400 000 und 1993 bei
300 000. Jetzt aufgrund dieses Datenmaterials zu be-
haupten, es gebe einen kurzfristigen Handlungsbedarf,
das halte ich vor allen Dingen für eines – Herr
Marschewski, das will ich Ihnen so deutlich sagen –,
nämlich für völlig unverantwortlich. Denn Sie wecken
in der Bevölkerung Ängste, obwohl es gar keinen Grund
für diese Ängste gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich habe vorhin mit Freude gehört, dass Sie in Bezug auf
die Bereiche Ausländerpolitik und Migrationspolitik ein
Gesprächsangebot gemacht haben. Ich will aber noch
einmal deutlich machen, was ich schon in meiner Ant-
wort auf die Frage von Herr Marschewski kurz betont
habe: Für uns kann es, wenn Herr Zeitlmann davon
spricht, man dürfe keine Vorbedingungen stellen, nicht
heißen, dass wir als deutsche Parlamentarier auf die
Vorbedingung verzichten, die Verfassung zur Grundlage
unseres Handelns zu machen. Die Verfassung zur Dis-
position bzw. infrage zu stellen ist für uns keine Vorbe-
dingung, die wir erfüllen könnten. Vielleicht sollten Sie
noch einmal über Ihr Selbstverständnis als Bundespoli-
tiker, als Mitglieder dieses Hauses nachdenken, wenn
Sie hier solche abenteuerlichen Forderungen stellen.


(Beifall bei der SPD)

Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicherlich da-

rin übereinstimmen, dass das europäische Recht weiter-
entwickelt werden muss, nicht zuletzt dahin gehend, zu-
nehmend gemeinsame Regelungen für die Asyl- und
Migrationspolitik zu schaffen. Der im Mai 1999 in


(Recklinghausen Kraft getretene Vertrag von Amsterdam und die Ratstagung in Tampere – die Staatssekretärin hat das gerade hinreichend erläutert – zielen genau in diese Richtung. Sie fordern in Ihrem Antrag zum großen Teil Leistungen, die von der Regierung bzw. der Parlamentsmehrheit längst erbracht worden sind. Umso dringender ist mein Appell an Sie, der Versuchung zu widerstehen, die Ausländerpolitik, die Frage des Umgangs mit denen, die hierher kommen, erneut – wie bei der Debatte über das Staatsbürgerschaftsrecht – parteipolitisch zu missbrauchen. Wenn man sich den aktuellen Bericht der Ausländerbeauftragten über Zuund Abwanderung nach und aus Deutschland ansieht – darauf ist bereits hingewiesen worden; ich möchte es aber wiederholen, weil mir dies sehr wichtig erscheint –, stellt man fest, dass 1997 und 1998 die Zahl der Ausländer, die dieses Land verlassen haben, höher war als die Zahl der Ausländer, die zu uns gekommen sind. Es gehört zu einer sachlichen und nüchternen Politik, auch dieses Stück Realität zur Kenntnis zu nehmen. Wir tun in jeder Hinsicht gut daran, gerade den sensiblen und behutsam zu behandelnden Bereich der Ausländerpolitik mit Vernunft und ideologiefrei anzugehen. Gerade weil die Europäisierung des Rechtes fortschreiten wird, ist ein Konsens über die Grundzüge der Ausländerpolitik in Deutschland aus drei Gründen wichtig: erstens für den inneren Frieden in unserem Land, zweitens, weil wir in Europa gewiss besser fahren, wenn wir eine einheitliche Position entwickeln, und drittens, weil wir uns bei der Gestaltung der Zuwanderung mittelund langfristig die Hypothek einer irrationalen Haltung überhaupt nicht leisten können. (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])





(A)


(B)


(C)


(D)


Im Antrag der Union wird unter Punkt 14 ein „ein-
heitliches Regelungssystem hinsichtlich legaler sonsti-
ger Einwanderung“ gefordert. Diese Forderung besteht
völlig zu Recht. Dann aber habe ich an Sie, Kolleginnen
und Kollegen von der Union, die Bitte, auch konsequent
zu sein und damit aufzuhören, die Zuwanderung ständig
als Bedrohung darzustellen. Mit Schwarz-Weiß-Malerei,
mit Ideologie kommen wir nicht weiter; denn Zuwande-
rer sind weder die besseren Deutschen, noch stellen sie
die Lebensgrundlagen der Einheimischen infrage. Des-
halb meine Bitte an Sie: Kommen Sie weg von dem Ge-
danken der Abwehr und hin zu dem Gedanken der Ge-
staltung von Zuwanderung! Wir sind darauf angewiesen,
die damit verbundenen Chancen zu nutzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich war ausgesprochen überrascht – ich bin es nach
der heutigen Debatte umso mehr –, als wir Ende letzten
Jahres im Innenausschuss einen Entschließungsantrag
der Union vorgelegt bekamen, in dem folgender Satz
abgedruckt war:

Die demographische Überalterung unserer Gesell-
schaft erfordert eine Zuwanderung jüngerer Men-
schen.

Ich weiß nicht, ob Herr Rüttgers diesen Entschließungs-
antrag kennt.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wer ist denn Herr Rüttgers?)


Herr Zeitlmann jedenfalls scheint ihn nicht zu kennen.
Sonst hätte er nicht so gesprochen, wie er es heute getan
hat.

Meine Damen und Herren, das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung veröffentlichte erst vor wenigen
Monaten eine Studie zur Bevölkerungsentwicklung mit
dem Fazit, dass angesichts rückläufiger Bevölkerungs-
zahlen und steigender Lebenserwartung Zuwanderer
mittel- und langfristig dringend benötigt werden, um
Arbeitsplätze in Deutschland nicht verwaisen zu lassen
und den Sozialstaat auch in Zukunft finanzieren zu kön-
nen. Insofern sind wir gut beraten, eine sachliche Debat-
te zu führen. Gerade weil wir perspektivisch auf Zu-
wanderung angewiesen sein werden, brauchen wir eine
parteiübergreifende Verständigung über ihre Gestaltung.
Zu dieser Verständigung gehört meines Erachtens auch,
dass wir uns neben der stattfindenden Zuwanderung ba-
sierend auf gesetzlichen Verpflichtungen und humanitä-
ren Gründen auch Gedanken darüber machen, welche
Gruppen wir langfristig mit Blick auf den Arbeitsmarkt
in Deutschland benötigen.

Hierzu ein klares Wort an Herrn Gerhardt, der vorhin
für die F.D.P. gesprochen hat: Angesichts von
4 Millionen Arbeitslosen ist die Frage eines Zu-
wanderungsgesetzes nicht Gegenstand einer tagesaktuel-
len Debatte. Dies unterscheidet sie meines Erachtens
ganz deutlich vom Staatsbürgerschaftsrecht, das wir
dringend reformieren mussten, weil Handlungsbedarf
gegeben war. Wir haben die Zeit, das Vorhaben eines
Einwanderungsgesetzes in aller Ruhe, vielleicht in der
nächsten Wahlperiode unter Beteiligung möglichst vie-
ler Kolleginnen und Kollegen sowie unter Beteiligung
vieler Wissenschaftler, in Angriff zu nehmen. Das soll-
ten wir auch machen.

Ein Letztes will ich noch zu dem Herrn Kollegen
Rüttgers sagen, der nun leider nicht hier ist. Er hat mei-
nes Erachtens billige und ausländerfeindliche Sprüche
geklopft, als er darauf hinwies, man bräuchte Kinder
und nicht Inder an den Computern. Dazu will ich Ihnen
einmal ausdrücklich etwas als jemand sagen, der Kind
eines gebürtigen Inders ist, der schon Anfang der 60er-
Jahre nach Deutschland gekommen ist: Ich hoffe, Herr
Rüttgers hat es nicht nötig, bald einmal ins Krankenhaus
zu gehen. Aber wenn er dies machen würde, könnte er
sich dort ein Bild davon machen, was für eine gute Ar-
beit schon seit langer Zeit gerade indisches Personal als
Ärzte, Krankenschwestern oder Pfleger in deutschen
Krankenhäusern leistet.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Der Erfolg dieses Landes, meine Damen und Herren,
beruht auch auf der Arbeit von Menschen, die vor ge-
raumer Zeit hierher gekommen sind. Die Bedeutung des
Engagements solcher Menschen, die zu uns gekommen

Sebastian Edathy






(A)



(B)



(C)



(D)


sind, um mit uns für den Erfolg dieses Landes zu arbei-
ten, wird noch zunehmen.

Ich wünsche mir eine ideologiefreie Debatte über die-
se Fragen. Schaufensterreden, wie wir sie heute vielfach
von der Opposition gehört haben, sollten wir uns schen-
ken. Die Sache, um die es geht, ist viel zu wichtig, um
sie hier billigen tagespolitischen Effekten zu opfern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409311800
Ich schließe
damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlage auf Drucksache 14/2695 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zusätz-
lich an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung vorgeschlagen. Sind Sie einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-
wie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
12. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset-
zes zur Änderung des Futtermittelgesetzes

– Drucksache 14/2636 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f)

Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja
Seifert und der Fraktion der PDS

Strukurelle Erneuerung der Ausbildungs-
förderung

– Drucksache 14/2789 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-

schätzung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Erste Beratung des von der Fraktion der

CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Umsetzung einer Steuerreform
für Wachstum und Beschäftigung

– Drucksache 14/2903 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie
Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Frakti-
on der PDS

Besteuerung der Unternehmen nach deren
Leistungsfähigkeit

– Drucksache 14/2912 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Fraktion der

CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Stabilisierung des Mitglieder-
kreises von Bundesknappenschaft und See-
Krankenkasse

– Drucksache 14/2904 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten


(Karlsruhe)

und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell,
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Modernisierung der Ausbildungs-
förderung für Studierende

– Drucksache 14/2905 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-

schätzung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zu einigen Beschlussfassungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verlängerung der Gel-
tungsdauer des Internationalen Kaffee-Über-
einkommens von 1994

– Drucksache 14/2125 –

(Erste Beratung 76. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2744 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk

Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksa-
che 14/2744, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen,
sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koaliti-

Sebastian Edathy






(A)



(B)



(C)



(D)


onsfraktionen und der CDU gegen die F.D.P. bei Enthal-
tung der PDS angenommen worden.

Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 13 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Körperschaftsteuer- und Gewer-
besteuergesetzes

– Drucksache 14/1520 –

(Erste Beratung 58. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-

ausschusses
– Drucksache 14/2780 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Nicolette Kressl

Norbert Barthle
Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf

Drucksache 14/1520 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Ge-
genstimmen oder Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 c:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Investitionszulagengesetzes 1999

Drucksache 14/2270 –

(Erste Beratung 79. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-

ausschusses
– Drucksache 14/2818 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Hans Seiffert
Heidemarie Ehlert

Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/2270 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen worden.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-

ausschusses
Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundes-

tag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundes-
verfassungsgericht
– Drucksache 14/2779 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/2779? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.

Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 3:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-

nen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-

NEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzes
aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung der Handwerksordnung und anderer
handwerksrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 14/2809 –

(Erste Beratung 91. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

ses für Wirtschaft und Technologie
– Drucksache 14/2922 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange (Backnang)


Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt auf Drucksache 14/2922, den Gesetzentwurf un-
verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch dieser Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen worden.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung.
Ich bitten Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetz-

entwurf zustimmen wollen. – Sollte jemand dagegen
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.

Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
ZP 4 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Kritische Bewertung der Umweltpolitik der

Bundesregierung durch den Umwelt-Sach-
verständigenrat

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Grill.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1409311900
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sachver-
ständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung hat
in seiner jüngsten Bilanz eine vernichtende Kritik an der
Umweltpolitik der jetzigen Bundesregierung ausgespro-
chen. Man könnte diese Kritik auch damit überschrei-
ben, dass man sagt: Stell dir vor, ein Grüner wird Um-
weltminister und keiner merkt was.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist so, dass der Sachverständigenrat in seiner Bi-

lanz deutlich macht, dass das, was sozusagen als Mar-
kenzeichen der Grünen in den Wahlkämpfen wie eine
Monstranz vorweggetragen worden ist, gar nicht wahr-
genommen wird. Sie sind schlicht und einfach dabei, auf
dem klassischen, Ihnen im Parteienspektrum zugewiese-
nen Kompetenzfeld zu versagen. Umweltpolitik ist in
dieser Bundesregierung, in dieser Koalition eher ein

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(A)



(B)



(C)



(D)


fünftes Rad am Wagen und sie ist kein zentraler, inte-
grativer Bestandteil der Politik.

Sie haben sich das sehr einfach gemacht, indem Sie
gesagt haben: Ökosteuern rauf, raus aus der Kernener-
gie. Das war die Bilanz der letzten Monate. Das wird der
Komplexität von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpoli-
tik in keiner Weise gerecht. Ihre Politik ist mehr an Pres-
tigeobjekten orientiert als an der Frage, wie komplexe
Sachverhalte Lösungen zugeführt und Interessen mitein-
ander versöhnt werden können.

Ganz nebenbei haben Sie die internationale Kompe-
tenz der Bundesrepublik aufs Spiel gesetzt und zum Teil
sogar zerstört, weil Sie sowohl im europäischen als auch
im globalen Geleitzug nicht mehr als Lokomotive vorne
sind. Sie hängen vielmehr hintendran und halten das
Ganze eher auf. Ich nenne nur die Blamage, die Sie in
Sachen Altautoverordnung der Bundesrepublik Deutsch-
land – sozusagen von Wolfsburg aus über das Bundes-
kanzleramt – in der europäischen Umweltpolitik zuge-
fügt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hinzu kommt, dass Sie in einem der Felder, in dem

Sie massivste Kritik an der alten Koalition geübt haben
– im Bereich des Naturschutzes –, bis heute den Beweis
einer besseren, anderen Politik schuldig geblieben sind.
Es herrscht Funkstille statt Aufbruch im Naturschutz
und in der Klimapolitik. Herr Loske hat vor wenigen
Monaten in der „Zeit“ ganz richtig festgestellt, es beste-
he die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre
Leitbildfunktion verliere. Es besteht nicht nur die Ge-
fahr, Herr Loske, sondern es ist Realität, dass die Bun-
desregierung in Sachen Klimapolitik die Leitbildfunkti-
on verloren hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Sachverständigenrat stellt zu Recht fest – damit

entlarvt er die Ökosteuer als das, was sie ist –, dass die
Ökosteuer kein ökologisches Instrument, sondern ein
Beitrag zur Finanzierung der Sozialpolitik ohne ökologi-
sche Wirkung ist. Wenn wenigstens eine ökologische
Wirkung festzustellen wäre, könnten wir das andere
noch besser akzeptieren. Aber dass sie nur ein fiskali-
sches Instrument sein soll, das kann es wohl nicht sein:
Belastungen statt Fortschritt.

Das Ozongesetz ist eher das Vehikel, das schon im-
mer zentrale Thema der Grünen in der Verkehrspolitik –
alle Autos fahren nur noch 30 km/h – durchzusetzen, als
dass es zur Lösung der Ozonproblematik dient.

Wenn man einmal fragt, wo das klimapolitische Kon-
zept dieser Bundesregierung ist, dann können Sie eigent-
lich nichts vorweisen. Das sieht man auch an der Ant-
wort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik. Sowohl
die Klimakonferenz in Bonn als auch viele andere Er-
eignisse machen deutlich, dass weder der Bundeskanzler
noch der Umweltminister in der globalen und europäi-
schen Politik eine Meinungsführerschaft haben. Das ist
eine fundamentale Veränderung. Denn wenn wir heute
Verpflichtungen haben – Rio plus 10, Agenda 21 und
Ähnliches –, dann sind sie der globalen Politik von
Helmut Kohl, Klaus Töpfer und Angela Merkel zu ver-

danken, aber nicht Ihrer Politik, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben keine Konzepte und verschärfen das CO2-Problem. Was Sie in den letzten Wochen hier vorgelegt

haben, ist keine Energiewende, sondern Stückwerk. Das
wird daran deutlich, dass der Bundeskanzler in einem
seiner entscheidenden Beiträge zur Umweltpolitik ge-
sagt hat: Kernenergie raus, Kohlekraftwerke rein. Dies
ist eine Antiklimapolitik und kein Beitrag zur
Klimapolitik. Das gilt auch für die UVP und Ähnliches.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, auch ich hätte selber for-

muliert: Umweltpolitik ist eine Sache von Herz und
Verstand. Ich hätte das aber gar nicht so gut ausdrücken
können wie Sie es, Herr Loske, jüngst auf die Frage, was
grüne Umweltpolitik sei, gesagt haben.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409312000
Herr Kollege,
nur fünf Minuten!


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1409312100
Sie haben gesagt: Es
fehlt das grüne Herz. Bei vielen unserer Spitzenleute
spielt das Thema Umweltpolitik keine große Rolle oder
ist zumindest keine Herzensangelegenheit. – Dann sagen
Sie: Der enge Zuschnitt des Umweltministeriums ist völ-
lig falsch, er garantiert die immanente Impotenz. Hier
muss sich in der nächsten Legislaturperiode ... etwas än-
dern. – Ich rufe Ihnen zu: Herr Loske, ändern Sie jetzt
die Tatsache, dass dieser Umweltminister und Ihre Koa-
lition nach Ihrer eigenen Aussage eine impotente Um-
weltveranstaltung sind. Das ist die Bilanz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409312200
Das Wort hat
die Abgeordnete Ulrike Mehl.


Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1409312300
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Dieses Spielchen kennen wir: wie
man solche Gelegenheiten nutzt, um irgendjemanden
vorzuführen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Wahrheit muss gesagt werden!)


Da machen Sie es sich ein wenig einfach. Denn Sie zie-
hen einiges heran, was im Sachverständigengutachten
steht, nämlich das, was Ihnen passt. Aber das, was Ihnen
nicht passt, übergehen Sie natürlich: dass die Sachver-
ständigen den Ausstieg aus der Atomenergie befürwor-
ten und darin keinen Widerspruch zum Klimaschutz se-
hen. Deswegen hoffe ich sehr, dass mit dieser Aktuellen
Stunde das Sachverständigengutachten für Sie nicht er-
ledigt ist, sondern dass Sie sich damit zukünftig noch ein
bisschen intensiver auseinander setzen.

Hätten Sie das schon getan, dann wäre Ihnen sicher-
lich aufgefallen, dass das, was in der Presse über das
Gutachten verbreitet worden ist, nicht dem entspricht,

Kurt-Dieter Grill






(A)



(B)



(C)



(D)


was im Gutachten steht. Es ist im Übrigen ein Werk von
fast 1 000 Seiten. Es lohnt sich, hier und da etwas ge-
nauer hinzusehen.

Grundsätzlich ist der Sachverständigenrat natürlich
berechtigt, Kritik zu üben. Das ist sicherlich ein Teil
seiner Aufgabe. Das heißt aber nicht, dass wir alle Vor-
schläge, die er macht, befürworten müssen. Ich darf Sie
daran erinnern, dass Ihre Seite genau dies in den letzten
Legislaturperioden, wo das Spielchen andersherum ge-
laufen ist, gesagt hat, übrigens auch die damalige Um-
weltministerin.

Davon abgesehen kann man dem Umweltgutachten
2000 entnehmen, dass die meisten Probleme, die dort
angesprochen sind, nicht erst in der Zeit der rot-grünen
Regierung entstanden sind, sondern wesentlich früher.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dort werden eine ganze Reihe von Problemen angespro-
chen, die man nicht, wie Herr Grill es eben dargestellt
hat, damit in Verbindung bringen kann, dass vorher die
Welt in Ordnung war. Vielmehr werden dort viele alte
Positionen des Sachverständigenrates wiederholt, die er
auch heute noch vertritt; aber er hat diese Positionen,
weil Sie nichts gemacht haben.

Jetzt wird erwartet, dass innerhalb von anderthalb
oder zwei Jahren die Welt umgekrempelt wird; aber ich
glaube, dass dabei ein kleines bisschen auch das
schlechte Gewissen bei Ihnen eine Rolle spielt. Sie ha-
ben sich nämlich bisher eines öffentlichen Kommentars
enthalten.

Ich bin davon überzeugt: Wir wären in vielen Punk-
ten sehr viel weiter, wenn Sie wirklich eine Umweltpoli-
tik umgesetzt hätten und nicht nur Projekte angekündigt
und auf Papieren zusammengetragen hätten, wenn also
die Regierung Kohl das getan hätte, was sie immer an-
gekündigt hat; aber das hat sie nicht getan. Wenn sie nur
halb so viel Umweltpolitik realisiert hätte, wie wir in der
kurzen Zeit bisher angefangen haben, wären wir ein
ganzes Stück weiter.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Na, na, na! – Jetzt übertreiben Sie aber!)


Natürlich kann man als Umweltpolitiker ungeduldig
werden. Das werde ich und viele meiner Kollegen wer-
den es auch. Wir hätten es gern, wenn das eine oder an-
dere sehr viel schneller umgesetzt werden würde; aber
wir können ja nicht so tun, als wären die Probleme, die
Sie 16 Jahre lang auflaufen ließen, in zwei Jahren zu lö-
sen. In diesem Punkt hätte ich mir auch etwas mehr Rea-
litätssinn beim Sachverständigenrat gewünscht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

Vielleicht könnte sich der Sachverständigenrat ja

auch einmal damit beschäftigen, warum in den Medien
ganz bestimmte Themen die Überschriften dominieren,
andere Themen aber nicht. Das hat nämlich häufig damit
zu tun, dass es um Auflagen und nicht um die Vermitt-

lung besonders wichtiger Inhalte geht. Das hat der Sach-
verständigenrat in diesem Falle für sich genutzt, um dis-
kutiert zu werden. Wie gesagt, wir bleiben hoffentlich
nicht bei dieser Diskussion in der Aktuellen Stunde ste-
hen.

Einiges, was in diesen Ausführungen steht, sind Posi-
tionen, die wir teilen. Es sind aber auch Positionen ent-
halten, die wir nicht teilen. Ich habe mich zum Beispiel
darüber gewundert, dass es eine uneingeschränkt positi-
ve Bewertung von handelbaren Emissionslizenzen oder
handelbaren Flächenverbrauchsregelungen gibt. Als ich
mir ansah, was dort vorgeschlagen wird, habe ich mir
erst einmal die Augen gerieben. Vielleicht muss man
darüber noch einmal intensiver diskutieren. Natürlich
muss die Flächenversiegelung zurückgeführt werden –
da brennt es in der Tat –, aber das, was dort vorgeschla-
gen ist, fand ich nicht sehr überzeugend.

Im Übrigen halten die Sachverständigen weiter an ei-
ner emissionsbezogenen Energiesteuer fest, die wir aus
vielen Gründen ablehnen. Diese Steuer lehnen nicht nur
wir ab, sondern auch die meisten Wissenschaftler und
die Umweltverbände lehnen sie ab. Das ist politisch ad
acta gelegt. Deswegen wundere ich mich, dass so etwas
überhaupt noch darin steht.


(Monika Ganseforth [SPD]: Rückwärts gewandt!)


Immerhin hat der Sachverständigenrat die Ökosteuer
nicht so niedergemacht, wie Herr Grill das sagte, son-
dern – im Gegenteil – dessen Mitglieder haben sie vom
Grundsatz her für richtig gehalten. Die Sachverständigen
sagen, es muss eine im Voraus angekündigte schrittwei-
se Energieverteuerung geben, sodass sich alle Bürgerin-
nen und Bürger, Gewerbe, Industrie usw. darauf einstel-
len können; und genau das haben wir gemacht.

In einer ganzen Reihe von Schlussfolgerungen
kommt der Sachverständigenrat zu Ergebnissen, die wir
unterstützen. Deshalb ist es durchaus nicht nur eine
Floskel, wenn wir sagen: Wir fühlen uns bei einer gan-
zen Reihe von Positionen, die der Sachverständigenrat
in dem Gutachten vertreten hat, unterstützt. Über dieje-
nigen, die wir nicht teilen, müssen wir uns noch einmal
auseinander setzen. Wir werden uns sicherlich im Aus-
schuss mit diesem Gutachten befassen, aber bitte erst
dann, wenn es gewissenhaft studiert worden ist und wir
auch in der Lage sind, darüber eingehend zu sprechen.
Wir sollten uns nicht nach ganz kurzem Studium des
Sachverständigenratsgutachtens in Pressemitteilungen
verbreiten. Ich bitte dann doch wirklich um eine inhaltli-
che Auseinandersetzung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409312400
Das Wort hat
jetzt Kollegin Homburger.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1409312500
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gestern im Umweltaus-
schuss hat der Staatssekretär im Umweltministerium die

Ulrike Mehl






(A)



(B)



(C)



(D)


Sache auf den Punkt gebracht. Ich zitiere Herrn Baake,
er sagte:

Es ist Aufgabe der Räte, zu beraten – Aufgabe der
Regierung ist es, zu regieren.

Eine kluge Erkenntnis! Ich frage: Warum handeln Sie
eigentlich nicht danach?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich zitiere aus dem Erlass über die Einrichtung des

Sachverständigenrats für Umweltfragen: Seine Gutach-
ten legt er vor, um bei allen verantwortlichen Instanzen
die umweltpolitische Urteilsbildung zu erleichtern. –
Nun also legt dieses Gremium sein neues Gutachten vor.
Das Urteil der Experten ist absolut einhellig: Die Um-
weltpolitik des Ministers Trittin ist ein Debakel. Hohe
Erwartungen wurden enttäuscht; mangelhaft ist die Um-
setzung wichtiger Maßnahmen; einseitig und ideolo-
gisch ist die Fixierung auf Ökosteuer und Atomausstieg.
Selbst im Energiebereich gab es eine Blamage: Sämtli-
che Maßnahmen, so die Experten, seien ergänzungsbe-
dürftig. Schlimmer noch: Alles, was bisher angekündigt
und eingeleitet wurde, verlangt nach Korrektur, und
zwar in mehrfacher Hinsicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Monika Ganseforth [SPD]: Da haben Sie selektiv gelesen!)


Liebe Frau Mehl, Sie haben gerade davon gespro-
chen, dass man das Spielchen kenne. In Kenntnis der
Umweltgutachten der letzten Jahre, die ich alle begleitet,
mitdiskutiert und gelesen habe, kann ich nur eines sa-
gen: Das jetzt vorliegende Umweltgutachten ist ein Ar-
mutszeugnis, wie man es selten liest.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wie reagiert der Bundesumweltminister? Er begegnet

allen Ernstes der Kritik mit der Bemerkung, er freue
sich, nicht nur gelobt, sondern auch kritisch unter die
Lupe genommen zu werden. Einen fachlichen K.-o.-
Schlag so zu kommentieren ist schon Arroganz, Herr
Minister Trittin.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich frage Sie, Herr Minister: Wo bleibt die ökologi-

sche Modernisierung? Dem Wähler wurde vorgegaukelt,
nach dem Regierungswechsel würde Rot-Grün schon
bald Konzepte für eine tragfähige, umfassende und kon-
sistente Umweltpolitik vorlegen. Nichts ist passiert!


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

Der Sachverständigenrat sagt eindeutig, er habe das
Gutachten auch unter Berücksichtigung dessen, was Sie
versprochen haben, erarbeitet. An dem, was Sie verspro-
chen haben, müssen Sie sich nun einmal messen lassen.
Jetzt ist Ihnen die Enttäuschung schriftlich bestätigt
worden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Kollegin Mehl, Sie können nicht immer wieder
alles auf die alte Regierung schieben. Was haben Sie

denn gemacht? Sie haben eine Ökosteuer ohne Wirkung
eingeführt, wie Sie festgestellt haben. Über den Ausstieg
aus der Kernenergie streiten Sie nach wie vor. Beim
UGB ist nichts passiert,


(Ulrike Mehl [SPD]: Warum?)

ebenso wenig wie beim Bodenschutz- und Naturschutz-
gesetz. Den Nachhaltigkeitsrat, dessen Einsetzung Sie
innerhalb eines Jahres versprochen hatten, haben Sie
immer noch nicht auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie müssen sich zuerst
das vor Augen führen, was Sie vorher angekündigt ha-
ben und dann das, was Sie erreicht haben. Wenn Sie das
tun, dann werden Sie uns zustimmen müssen und dann
können wir weiterdiskutieren.

Durch Ihre einseitige Beschränkung auf Atomaus-
stieg und Ökosteuer – wir von der F.D.P. haben das im-
mer gesagt; dies hat uns jetzt der Sachverständigenrat
bestätigt – haben Sie die Umweltpolitik verstümmelt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie erreichen damit – das liegt auf der Hand – die geisti-
ge Verödung der politischen Ideenlandschaft. Geistige
Verarmung als Leitmotiv! Der Umweltschutz verliert
den letzten Rest seiner Glaubwürdigkeit, den er besaß.
Umweltpolitik à la Trittin ist die ständige Wiederholung
des immer Gleichen. Umweltschutz wird kaum noch
ernst genommen. Die schlimmste der traurigen Folgen
Ihrer Umweltpolitik ist, dass die Bürger das Interesse an
ihr verlieren.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Schon Ihre so genannte ökologische Steuerreform

hatte nichts mit Umweltschutz zu tun. Die Bürger haben
längst gemerkt, dass Herr Trittin sie nur auf den Arm
nimmt. Es geht um das Abkassieren und das Eintreiben
zusätzlicher Steuern. Gerade erst gestern konnte man le-
sen, was das für die Kasse bringt. Der politische Ver-
trauensschaden ist ungeheuer.

Ein weiteres deprimierendes Beispiel, das Sie sich
vorhalten lassen müssen, ist der Klimaschutz. Die Bun-
desregierung hat nichts Konkretes geleistet, um das Kio-
to-Protokoll in Deutschland rechtzeitig in Kraft treten zu
lassen. Der Sachverständigenrat stellt jetzt fest, dass das
Klimaschutzziel aller Voraussicht nach verfehlt wird.
Den Bundesumweltminister kümmert es offensichtlich
nicht. Wo bleibt eigentlich der seit langem angekündigte
Entwurf einer umfassenden nationalen Strategie zur
Minderung der Treibhausgase?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Statt einen solchen Entwurf vorzulegen, führt die Bun-
desregierung eine ideologische Debatte über den Aus-
stieg aus der Kernkraft. Aber es fehlt ein schlüssiges
Energiekonzept. Die Antwort auf die Frage, wie Sie un-
ter solchen Bedingungen auf den verstärkten Einsatz
klimaschädlicher fossiler Brennstoffe verzichten wollen,
sind Sie nach wie vor schuldig geblieben.

Birgit Homburger






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Deutsche Bundestag nimmt im Gegensatz zu Ih-
nen, Herr Minister, das Sachverständigengutachten
ernst. Die F.D.P. fordert das ein, was der Sachverständi-
genrat verlangt: Entwickeln Sie endlich ein klares und
verlässliches Handlungsprofil in der Umweltpolitik! Ge-
ben Sie dem Umweltschutz die Ernsthaftigkeit, die Seri-
osität und den politischen Rang zurück, die ihm gebüh-
ren! Fragen Sie einfach einmal Ihren Staatssekretär: Re-
gieren ist Aufgabe der Regierung. Das, Herr Minister,
hat mit Verantwortung zu tun.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409312600
Jetzt hat das
Wort der Abgeordnete Reinhard Loske.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Potenzwettbewerb mit Herrn Grill eintreten. Ich glaube,
da hätte ich gute Aussichten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Den können Sie nicht gewinnen!)

Ich habe mit diesem Punkt etwas sehr Wichtiges an-

gesprochen: Wir brauchen institutionelle Reformen.
Wenn man Umweltpolitik betreiben will, muss das sei-
nen Niederschlag im Zuschnitt der Häuser finden; denn
Umweltpolitik ist eine Aufgabe der Gesamtregierung.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Aber damit warten wir doch nicht bis zur nächsten Legislaturperiode!)


Jetzt aber zum Umweltgutachten 2000. Ich glaube –
das kann ich für meine ganze Fraktion sagen –, dass die-
ses Gutachten ein wichtiger Beitrag zur umweltpoliti-
schen Diskussion ist. Wir begrüßen ihn und nehmen ihn
als Ansporn, um besser zu werden. Das muss man sa-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist natürlich völlig klar, dass ein Sachverständi-

genrat dazu da ist, die große Perspektive einzunehmen
und nicht gleich die politischen Restriktionen, also bei-
spielsweise Leute wie Sie, im Kopf zu haben. Wir müs-
sen schauen, was nötig ist und nicht, was geht. Denn mit
Ihnen geht gar nichts. Das wissen wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn ich mir das Gutachten anschaue – manche auf
der rechten Seite des Hauses haben es offenbar gar nicht
gelesen –, dann kann ich sagen: Es ist eine Mischung
aus Unterstützung, der Aufforderung, mutiger zu sein,
und auch partieller Kritik. Wenn wir uns jetzt den bei-
den Themen ökologische Steuerreform und Atomaus-
stieg zuwenden, dann muss man erstens zur ökologi-
schen Steuerreform festhalten – ich zitiere wörtlich –:

Sie ist ein wichtiges Signal, um die Kosten der
Umweltinanspruchnahme verursachungsgerecht an-
zulasten.

Zweitens:
Sie muss über das Jahr 2003 hinaus fortgesetzt
werden.

Mal schauen, wo Herr Grill und die anderen Umwelt-
Helden der CDU sind, wenn es 2003 um die Weiterent-
wicklung geht. Ich glaube, Sie werden nicht da sein.

Zum Atomausstieg – jetzt bitte zuhören – zitiere ich
den Umweltrat:

Der Umweltrat hält eine weitere Nutzung der
Atomenergie für nicht verantwortbar.

Herr Grill, das sollten Sie sich hinter die Ohren schrei-
ben; Platz genug ist ja da.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Warum werden Sie immer so ausfallend?)


Jetzt zur ökologischen Steuerreform. Es heißt in dem
Gutachten in der Tat: Die ökologische Lenkungswir-
kung soll erhöht werden. Wir teilen das. Es gibt noch
Dinge nachzuarbeiten; das ist völlig klar. Wir müssen
bei der Behandlung der Wirtschaft, des produzierenden
Gewerbes bis 2002 eine Lösung vorlegen, die zielfüh-
render ist. Daran arbeiten wir. Wir müssen uns auch be-
mühen, so schnell wie möglich die erneuerbaren Ener-
gien hiervon auszunehmen, um diese offene Flanke zu
schließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Punkt möchte ich dem Sachverständigen-
rat aufgrund eigener langjähriger Forschungstätigkeit
durchaus widersprechen. Genauso viele Gründe, die es
für einer CO2-Steuer gibt, gibt es für eine allgemeine Energiesteuer; denn Energieverbrauch ist nicht nur
ein Klimaproblem, sondern er verursacht verschiedene
Probleme, von Bergbaufolgeschäden über klimaverän-
dernde Spurengase, Säure bildende Schadstoffe usw., bis
hin zu Endlagern. Das heißt, wir wähnen uns auf der
richtigen Seite und sind im internationalen Geleitzug.
Da möchte ich dem Rat widersprechen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Vielleicht ein Punkt zur Aktualität der Kritik. Wenn
der Rat diese Kritik im Oktober 1999 geäußert hätte,
hätte ich gesagt: Okay, sie ist zu einem guten Teil be-
rechtigt. Aber wenn man sich anschaut, was seitdem ge-
schehen ist, so kann man sagen: Manches hat der Rat
leider übersehen. Wir haben das Erneuerbare-Energien-
Gesetz durch den Bundestag gebracht. Wir werden sehr
bald eine dauerhafte Regelung für die Kraft-Wärme-
Kopplung durch den Bundestag bringen. Wir haben ei-
nen klaren Fahrplan – Frau Homburger, offensichtlich
hören Sie nicht zu – zur Entwicklung einer nationalen

Birgit Homburger






(A)



(B)



(C)



(D)


Klimaschutzstrategie vereinbart. Sie soll im Juli im Ka-
binett verabschiedet werden. Das wissen Sie ganz genau.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Sie müssen schon ziemlich von sich überzeugt sein, Herr Loske! – Marita Sehn [F.D.P.]: Seien Sie nicht so arrogant! – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Lassen Sie doch mal diese persönlichen Bemerkungen!)


Wir haben eine Nachhaltigkeitsstrategie verabschie-
det. Den Zukunftsrat wird der Bundeskanzler in wenigen
Wochen selber einsetzen. Das sind die Fakten. Bitte,
wenden Sie sich den Fakten zu und reden Sie nicht nur
so wirr daher.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was die berechtigte Kritik betrifft, glaube ich, bei der
Bundesnaturschutzgesetznovelle müssen wir jetzt in der
Tat handeln. Es wird zu Recht moniert, dass da etwas
geschieht. Wir haben die Ziele im Koalitionsvertrag klar
formuliert. Wichtig ist eben auch, dass wir mit den Län-
dern gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Ich glaube, Mitte dieses Jahres ist die Zeit dafür reif.

Auch bei der Abfallpolitik müssen wir handeln. Das
haben wir gerade heute wieder vom Umweltministerium
erfahren. Wir müssen den Trend zur Wegwerfgesell-
schaft, zur Ex-und-hopp-Gesellschaft stoppen. Die Quo-
te wurde mittlerweile zweimal unterschritten.

Wir müssen bei der Verpackungsverordnung jetzt ei-
ne Lösung finden, die aktuelle Aspekte und neue Öko-
bilanzen einbezieht. Wir müssen die Scheidelinie zwi-
schen Gut und Böse neu ziehen und eine klare Wachs-
tumsperspektive für umweltverträgliche Verpackungs-
systeme aufzeigen.

Jetzt zum letzten Punkt – meine Redezeit ist gleich
um –: Die einzige Kritik, die man am Rat üben kann, ist,
dass man sich das politische Erwachen der älteren Her-
ren ein wenig früher gewünscht hätte.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Während der Amtszeit von Frau Merkel haben sie ganz
brav auf ihrem Schoß gesessen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Jetzt liegen Sie im Stil voll daneben!)


Es ist manchmal nicht wirklich mutig, erst dann Mut zu
zeigen, wenn man sich zurückzieht. Trotzdem wären die
Sachverständigen mit ihren Ansichten bei den Grünen
bestens aufgehoben.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409312700
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1409312800
Frau Präsidentin! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Ein „miserables Zeugnis
für die Umweltpolitik der Regierung Schröder“ hat es
Jochen Flasbarth vom NABU genannt; „es hat also nicht
so geklappt mit der ökologischen Wende“, umschreibt
es das Herzblatt der Grünen, die „taz“. Das Gutachten
des Umweltrates wird in der Schärfe abgestuft, in der
Richtung aber einmütig kommentiert: Der umweltpoliti-
sche Aufbruch der Koalition ist in weiten Teilen zum
Stillstand gekommen, wenn er denn je stattgefunden hat.

Rot-Grün wurde das erste Mal wissenschaftlich und
umfänglich evaluiert. Es drängt sich im Ergebnis das
Bild auf, dass im Schatten der alles überragenden Debat-
ten um Ökosteuer und Atomausstieg einiges im klassi-
schen Umwelt- und Naturschutz sowie bei der Ausarbei-
tung und Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie an
die Seite gedrängt wurde: beispielsweise die Weiterent-
wicklung des stellenweise durchaus respektablen Ent-
wurfs eines umweltpolitischen Schwerpunktprogrammes
von 1998, die seit bald 20 Jahren überfällige Novel-
lierung des Bundesnaturschutzgesetzes, die umwelt- und
entwicklungspolitische Neuausrichtung der Hermeskre-
dite, der gesetzliche Stopp der Privatisierung ostdeut-
scher Naturschutzflächen oder das Aus des ökologisch
wahnwitzigen Ausbaus von Havel und Elbe. Das alles
gibt es aber nicht. Das Kleinkochen dieser Aufgaben hat
sich noch nicht einmal gelohnt, denn die vermeintlichen
Schwerpunkte Ökosteuer und Atomausstieg sind ja kräf-
tig vergeigt worden!

Letzte Woche bestätigte beispielsweise eine Expertise
des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts Köln
für das Bundesumweltministerium alle wesentlichen Ar-
gumente der PDS gegen die irrwitzige Konstruktion der
ökologischen Steuerreform unter Rot-Grün. Der um-
weltpolitische Lenkungseffekt sei unterentwickelt und
die Beschäftigungseffekte seien zu vernachlässigen, ana-
lysiert das Institut in seinem vernichtenden Gutachten.
Die Reform trage kaum zur Minderung des Treibhausef-
fektes bei. Der Anreizeffekt für den ökologischen Um-
bau tendiere gegen Null. Auch der Umweltrat kritisiert
die zahlreichen Sonderregelungen, die die Wirtschaft
von den Steuern entlasten, und Sozialverbände weisen
nach, dass Familien umso stärker belastet werden, je
ärmer sie sind.

Zum Thema Atom durften wir gerade erst vorgestern
in der Zeitung lesen, dass der Ausstieg jetzt erst einmal
mit einem Einstieg beginnt, nämlich durch die Hermes-
absicherung von Siemens-Technik für ein neues Atom-
kraftwerk in China. Ich bin einmal gespannt, wie dieses
Thema am Wochenende auf Ihrem Parteitag diskutiert
wird.

Zurück zum Gutachten. Besonders pikant wird die
Tatsache dadurch, dass die Professoren des Umweltrates
erstmalig feststellten, das Entsorgungsproblem sei ob-
jektiv nicht zu lösen, weil irgendwann radioaktive Gase
auch durch die besten Behälter diffundieren und in die
Atmosphäre eindringen werden. Während für die Anti-
atomfront ungeahnte Rückendeckung vom bekann-
termaßen mehrheitlich konservativen Umweltrat kommt,
schießt sich die Koalition selber ins Knie. Manchmal tut
es wirklich weh zu sehen, wie Sie bestimmte Dinge in

Dr. Reinhard Loske






(A)



(B)



(C)



(D)


den Sand setzen. Wie es mit der Berücksichtigung von
Menschenrechten und Umweltschutz bei der Vergabe
von Hermeskrediten aussieht, zeigt auch Ihr Ja zum
Drei-Schluchten-Staudamm und zu anderen Vorhaben in
China.

Beim Klimaschutz befinde sich Deutschland nicht auf
einem CO2-Reduktionspfad, der die nationale Zielerrei-chung bis 2005 ermöglichen würde, steht im Gutachten
geschrieben; einschneidende Maßnahmen seien notwen-
dig. Doch das Antistauprogramm von Herrn Klimmt ist
nichts anderes als ein Klimakillerprogramm. Jeder, der
verkehrspolitisch die Pubertät hinter sich gelassen hat,
weiß das. Allein mit der Förderung erneuerbarer Ener-
gien ist bei der CO2-Reduktion kein Blumentopf zu ge-winnen, zumal nicht, wenn die Strompreise durch die
überstürzte Liberalisierung sinken, was Rot-Grün ja be-
grüßt, der Stromverbrauch also nach allen Regeln der
Marktwirtschaft steigen wird.

Noch ein Wort zum Naturschutz: Darauf, dass die
FFH-Ausweisungen in Deutschland um den Faktor 5 un-
ter dem Durchschnitt der anderen EU-Länder liegen, hat
der Rat hingewiesen. Zum Thema Schutzgebiete möchte
ich hinzufügen, dass es eine Schande ist, mit welcher
Penetranz sich das Bundesfinanzministerium gegen eine
kostenlose Übergabe von Naturschutzflächen an die
Länder und Naturschutzverbände wendet. Eines seiner
Hauptargumente war der so genannte Vorbehalt der EU-
Kommission. Diesen Vorbehalt gibt es aber gar nicht,
schreibt die „Financial Times Deutschland“. Eine Erfin-
dung des Berliner Finanzministeriums sei das, zitiert das
Blatt die Kommission.

Hier wurde von Potenz gesprochen. Ich wünsche Ih-
nen, Herr Loske, ein gutes Frühlingserwachen.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409312900
Heute scheint
der Frühling ja häufiger in die Debatte hineinzuspielen.

Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Jürgen
Trittin.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! So eine nette Opposition wie die
von links wünscht sich natürlich jede Regierung. Vielen
Dank, Frau Bulling-Schröter.


(Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Davon wollen wir noch mehr hören!)


Da ich gerade beim Danken bin, möchte ich nun dem
Sachverständigenrat für Umweltfragen für sein Gutach-
ten danken. Dieses Gutachten fordert die Umsetzung
ökologisch anspruchsvoller Ziele konsequent ein und
steht auch zu den dafür notwendigen, teilweise sehr un-
bequemen Maßnahmen. Obwohl der Rat – das ist seine
Aufgabe, dafür haben wir ihn – mit Kritik in Einzelfäl-
len nicht sparsam umgeht, bestätigt er den Weg, den die
Bundesregierung in der Umweltpolitik eingeschlagen
hat.

Selbst in den Punkten, in denen er uns kritisiert, muss
ich ihm Recht geben. Der Rat hat Recht, wenn er darauf
hinweist, dass die Auseinandersetzung um Ökosteuer
und Atomausstieg die Regierung viel Kraft kostet. Aber
sind dies nicht zentrale Voraussetzungen für eine mo-
derne Energieversorgung, für eine ökologische Moder-
nisierung von Wirtschaft und Gesellschaft? Sind dies
nicht genau die Forderungen, die der SRU bereits in sei-
nen Gutachten 1994, 1995, 1996, 1998 immer wieder
erhoben hat? Wir haben das, was in diesem Gutachten
gefordert worden ist, mit dem Einstieg in die ökologi-
sche Steuerreform, mit dem Erneuerbare-Energien-
Gesetz, mit dem 100 000-Dächer-Programm und mit
dem Markteinführungsprogramm für erneuerbare Ener-
gien vorangebracht und damit tatsächlich etwas für den
Klimaschutz getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Bulling-Schröter, erlauben Sie mir folgende
Anmerkung: Dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz
heute noch im Bundesrat hängt, liegt daran, dass die von
Ihnen mitgetragene Regierung in Mecklenburg-Vor-
pommern noch nicht Ja sagt. Das erklären Sie einmal
den Photovoltaikbetreibern und den Windenergieleuten!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: So was kommt von so was! – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Hat das nicht etwas mit Fehlern in der Gesetzesarbeit zu tun?)


Wir haben das umgesetzt, was Sie auf der rechten
Seite des Hauses sich über Jahre hinweg haben abhan-
deln lassen. Deswegen, Herr Grill, haben Sie auch ein
Problem: Die Kostümierung als Ökologe steht Ihnen
nicht. Sie ist selbst für Sie zu klein. Unter dem grünen
Wams guckt überall der schwarze CDUler hervor.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Muss ja auch!)


Das merkt man spätestens, wenn es um die konkreten
Forderungen der Gutachter geht. Dann stehen Sie näm-
lich ziemlich nackt da. Uns hält der SRU nicht vor, die
Bundesregierung solle umkehren, sondern er verlangt,
dass wir den von uns eingeschlagenen Weg schneller
gehen sollen. Das ist eine Mahnung für uns, aber eine
Ohrfeige für Sie, denen die ganze Richtung nicht passt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie sich auf dieses Gutachten berufen, dann ist
das ungefähr so glaubwürdig, als würde sich der Beelze-
bub als heiliger Samariter ausgeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will das an ein paar Beispielen verdeutlichen. Ich
zitiere das Gutachten:

Angesichts der Dringlichkeit ... und der richtungs-
weisenden Wirkung des deutschen Klimaschutz-
ziels bei den internationalen Klimaverhandlungen

Eva Bulling-Schröter






(A)



(B)



(C)



(D)


begrüßt der Umweltrat das Festhalten der Bundes-
regierung am 25-Prozent-Ziel.

(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das war es aber auch schon!)

Wir haben die Emissionen im vergangenen Jahr um

3 Prozent, klimabereinigt um 1,8 Prozent gesenkt. Wir
wissen auch, dass wir das Ziel von 25 Prozent noch
nicht erreicht haben. Mit den heutigen Maßnahmen wer-
den wir ungefähr 18 Prozent im Jahre 2005 erreichen.
Das ist der Grund, weswegen wir erklärt haben, dass wir
zusätzlich zu den eingeleiteten Maßnahmen, die ich ge-
nannt habe, eine neue Klimaschutzstrategie vorlegen.

Neben den erneuerbaren Energien wird der Schwer-
punkt auf der Steigerung der Energieeffizienz liegen. Es
geht beispielsweise um die Frage, wie der Anteil der
Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung bis zum
Jahre 2010 verdoppelt werden kann. Übrigens werden
wir auch in dieser Frage von den Gutachtern unterstützt,
die „eine zeitlich befristete staatliche Förderung um-
weltfreundlicher Energieerzeugungsformen ... für erfor-
derlich ...“ halten. Sie aber versuchen, den Menschen im
Land weiszumachen, dass die Frage von Energie aus-
schließlich eine Frage von Preisen und Preissteigerung
ist.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Ich habe in diesem Zusammenhang noch Herrn

Lippold vor Augen, der voller Empörung sagte, die
Bundesregierung wollte über das Jahr 2003 hinaus die
ökologische Steuerreform fortschreiben. Was schreiben
die Gutachter? Sie schreiben über die Notwendigkeit ei-
nes „stufenweisen Anstiegs der Steuersätze über das
Jahr 2003 hinaus, und zwar so lange, bis das Klima-
schutzziel erreicht ist“ und über „den Abbau ökologisch
schädlicher Subventionen“. Das betrachte ich nicht als
Kritik an dieser Bundesregierung, sondern als Aufforde-
rung, den eingeschlagenen Weg nachdrücklich und ziel-
genau weiterzugehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Birgit Homburger [F.D.P.])


Ein anderes Beispiel, gnädige Frau: Bodenschutz. Die
Gutachter schreiben:

Dem Schutz von Böden ist in der Vergangenheit zu
wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden.

In diesem Punkt kritisiere ich die Gutachter. Es han-
delt sich nämlich um eine verharmlosende Darstellung.


(Birgit Homburger [F.D.P.]): Was haben Sie

denn gemacht?)

Wer ist denn dafür verantwortlich, dass jedes Jahr in
diesem Land bis zu 100 Hektar pro Tag versiegelt wer-
den? Werden diese Flächen vom Bundesumweltminister
ausgewiesen? Nein. Wer ist denn verantwortlich für das
Überangebot an Gewerbeflächen in West- und Ost-
deutschland? Sie haben im Zuge der deutschen Einheit
das blinde Ausweisen von Gewerbeflächen durch Steu-
ersubventionen begünstigt. Sie sind verantwortlich für

diese Form der Bodenversiegelung. Sie sind verantwort-
lich für dieses Überangebot.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – KurtDieter Grill [CDU/CSU]: Wer?)


Sie sind verantwortlich dafür, dass ostdeutsche Städte
heute Probleme haben, ihre Innenstädte zu beleben.


(Birgit Homburger [F.D.P.]): Wer ist „Sie“?

Lächerlich!)

Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Wir gehen da-
ran, in Europa solchen Entwicklungen künftig vorzu-
beugen, indem schon bei der Aufstellung solcher Pläne
Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unfähig!)

Was machen CDU/CSU und F.D.P.? Sie laufen Sturm
selbst gegen ein so vorbeugendes Instrument wie die
Plan-UVP. Erzählen Sie mir doch nichts vom Boden-
schutz! Sie machen doch das glatte Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zum Naturschutz. Die Gutachter fordern, dass Natur-
schutz auf 10 bis 15 Prozent der Fläche „absoluten Vor-
rang“ genießt. Wir haben einen Anteil von 10 Prozent
genannt. Da gibt es eine Differenz. Aber diese Differenz
ist doch lächerlich, wenn man sich einmal Ihre Praxis
ansieht. Ich habe mir einmal den Anteil an FFH-
Gebieten in den von Ihnen lange regierten Ländern her-
ausgesucht: Bayern 1,7 Prozent und Baden-Württem-
berg 1,5 Prozent. Nur 0,67 Prozent der Landesfläche
sind in Baden-Württemberg, im Schwarzwald und in der
Schwäbischen Alb, als Vogelschutzgebiet ausgewiesen.
Das müssen Sie sich sagen lassen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Sie aber sagen, Deutschland war einmal Spitzenreiter

in Europa. Deutschland und besonders die von Ihnen re-
gierten Länder sind aber das absolute Schlusslicht in
Bezug auf Naturschutzgebiete. Der europäische Durch-
schnitt liegt nämlich bei 12,3 Prozent. Das ist die Reali-
tät.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kurt-Dieter Grill [CDU/ CSU]: Nicht schreien! Mehr Sachlichkeit!)


Meine Damen und Herren, während Sie den Natur-
schutz klein machen, betreiben Sie eine riesige Kam-
pagne gegen die weitere Ausweisung von FFH-
Gebieten.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Schauspieler!)

Dazu kann ich nur sagen: Der Bock versucht sich als
Gärtner. So geht es nicht.


(Beifall bei der SPD)

Letzter Punkt. In einem hat der SRU die Bundesre-

gierung besonders nachdrücklich unterstützt, offensicht-
lich zu Ihrem besonderen Ärger. Er hat nicht nur darauf
verwiesen, dass die Nutzung der Atomenergie aufgrund

Bundesminister Jürgen Trittin






(A)



(B)



(C)



(D)


der Entsorgungsprobleme unverantwortlich ist. Er hat
auch nachdrücklich gesagt:

Der Umweltrat befürwortet wegen der bestehenden
rechtlichen Unsicherheit die Strategie der Bundes-
regierung, die Möglichkeiten einer entschädigungs-
freien Beendigung der Nutzung der Atomenergie
...zu suchen .... Nach Auffassung des Umweltrates
dürfte den berechtigten Belangen der Betreiber von
Atomkraftwerken durch eine Gesamtlaufzeit von
25 bis 30 Jahren hinreichend Rechnung getragen
worden sein.

(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Hermesbürgschaf ten für China!)

Meine Damen und Herren, lieber Herr Koppelin, diesen
Ausführungen des Sachverständigenrates habe ich nichts
hinzuzufügen.


(Jürgen Koppelin Hermesbürgschaften!)


Sie sprechen für sich. Aus diesem Grunde fällt es mir
auch leicht, zum Abschluss dem Herrn Rehbinder, der
zum letzten Mal diesem Gremium vorgesessen hat, des-
sen Amtszeit ausgelaufen ist, für sein Gutachten, für
seine Arbeit zu danken und ihm zu bescheinigen, dass
diese Arbeit wegweisend für die kommenden Gutachten
und für den neu zu berufenden Rat ist. Vielen Dank,
Herr Rehbinder!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409313000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Ruck.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1409313100
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie
mir, nach den Nebelkerzen und den rhetorischen Kunst-
stücken des Herrn Trittin wieder zur Realität zurückzu-
kommen. Die Realität ist, dass Sie, Herr Minister, und
niemand anders die Ohrfeige des Umweltgutachtens be-
kommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die „Berliner Zeitung“ hat das am Freitag ironisch

auf den Punkt gebracht – ich zitiere –:
Jürgen Trittin neigt nicht zur Selbstkritik, doch
wenn er in diesem Bereich noch über einen Rest-
Reflex verfügen sollte, dann muss der grüne Um-
weltminister nach der Lektüre des Sachverständi-
gen-Gutachtens für Umweltfragen rot anlaufen.


(Zuruf von der SPD: Rot-grün!)

So ist es.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir bleiben grün!)


Die Versäumnisse Ihrer Politik werden von den Gut-
achtern bis ins Detail dargestellt. Hier noch einige Kost-
proben für die, die behaupten, wir hätten es vielleicht
oberflächlich gelesen.

Die neue Bundesregierung
– so haben Sie versprochen, meine Damen und Herren
von Rot-Grün –

wird eine Nachhaltigkeitsstrategie mit konkreten
Zielen erarbeiten.

Dazu die Einschätzung der Sachverständigen:
Deutschland gehört bei der Entwicklung einer
Nachhaltigkeitsstrategie inzwischen zu den
Nachzüglern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja inzwischen!)


Weiterhin haben Sie versprochen:
Das zersplitterte Umweltrecht wird in einem Um-
weltgesetzbuch zusammengeführt.

Die Einschätzung der Sachverständigen ist: Bereits
die Umsetzung der IVU- und der UVP-Richtlinie ist
1999 endgültig gescheitert.
Sie haben versprochen:

Im Bodenschutz muss der Vorsorgegedanke ein
stärkeres Gewicht erhalten. Was, Herr Trittin, sa-
gen die Sachverständigen dazu? Man höre und
staune: Nach den besonders intensiven Sanierungs-
anstrengungen im Altlastenbereich zu Beginn der
90er-Jahre ist inzwischen ein, „Sanierungsminima-
lismus“ eingetreten. Das ist das, was dort steht.

Sie haben natürlich auch versprochen, die Artenviel-
falt zu schützen. Der Sachverständigenrat urteilt, dass
der Zustand von Natur und Landschaft unverändert Be-
sorgniserregend ist.


(Vorsitz: Vizepräsident Rudolf Seiters)

Meine Damen und Herren, Frau Mehl, man muss

auch in diesem Bereich bei der Wahrheit bleiben. Sie
sind doch auch so stolz auf die Existenz unseres Pro-
gramms für die gesamtstaatlichen Gebiete. Es war die
letzte Bundesregierung, die dieses Programm mit
40 Millionen DM eingebracht hat. Sie haben eines ge-
tan: Sie haben es gekürzt.

Herr Trittin, es ist auch nicht wahr, dass Bayern bei
1,7 Prozent landet. Bayern wird in allen Tranchen zu-
sammengenommen bei mindestens 7 Prozent landen,
Thüringen bei 9 Prozent.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Gegensatz zu Rot-Grün allerdings sprechen wir die
Ausweisung mit der Bevölkerung ab und machen sie
nicht gegen die Bauern und nicht gegen die Landwirt-
schaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine Energiesparverordnung haben Sie versprochen.

Wort gebrochen! Sie kommt erst im Jahr 2001 – viel-
leicht.

Ich möchte bei all der billigen Rhetorik, die jetzt wie-
der gegen die letzte Bundesregierung aufgetaucht ist,
noch einmal sagen, was die letzte Bundesregierung
wirklich geleistet hat. Herr Loske, Sie tun doch immer

Bundesminister Jürgen Trittin






(A)



(B)



(C)



(D)


so, als würden Sie das Thema seriös angehen. Wir haben
große konkrete Erfolge bei der Luftreinhaltung erzielt,
siehe zum Beispiel Schwefeldioxid.
Wir haben große Erfolge bei der Gewässerreinhaltung
erzielt. Sogar Herr Töpfer konnte wieder aus dem Rhein
trinken.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht trinken! Schwimmen! Wir wollen nicht übertreiben!)


– Getrunken hat er auch. – Ohne Helmut Kohl – das
möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen – wäre
der Rio-Prozess gar nicht erst in Gang gekommen und er
wäre spätestens bei Rio de Janeiro, Frau Ganseforth, ge-
platzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es bleibt dabei: Dort, wo dringender Handlungsbe-

darf besteht, haben Sie wenig bis gar nichts zustande
gebracht. Stattdessen haben Sie vieles getan, was Sie
besser gelassen hätten, zum Beispiel die Entwicklungs-
hilfe zum Steinbruch zu machen und die Umweltmittel
im Entwicklungshaushalt zusammenzustreichen.

Bei der Förderung der regenerativen Energien geben
Sie das Geld der Bürger mit vollen Händen aus und er-
reichen ein Maximum an Umverteilung, aber nur ein
Minimum an ökologischer Wirkung. Bei den anstehen-
den Gesetzesberatungen zur Kraft-Wärme-Kopplung
machen Sie einseitig Klientelpolitik für die öffentliche
KWK und lassen die hocheffizienten Anlagen der In-
dustrie außen vor. Das Maß an Flickschusterei und Un-
vernunft wird nur noch durch Ihre Ökosteuer übertrof-
fen. Auch das steht übrigens im Umweltgutachten, weil
Sie wahllos CO2-intensive und nicht CO2-intensive Tat-bestände treffen.

Besonders gefährlich ist Ihr Versagen beim Klima-
schutz. Auch das steht übrigens in dem Umweltgutach-
ten. Deutschland befindet sich nicht mehr auf einem Re-
duktionspfad. Nicht zuletzt die Beendigung der Nutzung
der Atomenergie – auch das steht in dem Gutachten –
setzt dabei zunehmend enger werdende Grenzen.

Die von Ihnen betriebene Ausstiegspolitik wird jeden
Tag unsinniger.


(Zuruf von der SPD: Das steht aber nicht im Gutachten!)


Sie, Herr Trittin, haben bei uns im Ausschuss behauptet,
die Atomkraft sei für die Entwicklungsländer kein The-
ma. Bundeswirtschaftsminister Müller hat noch am
Sonntag im Fernsehen, also öffentlich, bekräftigt, es
werde keine Bürgschaften für ausländische Kernkraft-
werke geben. Zwei Tage später bewilligt die Bundesre-
gierung Hermes-Bürgschaften über 300 Millionen DM
für den Neubau von Atomkraftwerken in China und für
die Nachrüstung in Argentinien.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: So ist es!)

Wie wollen Sie den Bürgern eigentlich erklären, dass

Sie bei uns die Atomenergie verteufeln, während Sie sie
in anderen Ländern finanzieren? Oder wie wollen Sie

den Bürgern erklären, dass bei uns Castorbehälter als
Transporter gefährlich, aber als Zwischenlager harmlos
sind? Das ist doch keine Politik mehr, das ist realpoliti-
sche Satire. Auch das steht in dem Umweltgutachten.

Herr Trittin, Sie haben etwas von Weismachen ge-
sagt. Sie wollten den Menschen weismachen, dass Sie
für Umweltschutz angetreten sind und dass die Men-
schen Sie für den Umweltschutz gewählt haben. In
Wirklichkeit ist Ihre bisherige Arbeit ein Einbruch und
kein Aufbruch. Es ist ein Raubbau und kein Umbau. Es
ist ein Ausstieg aus der Vernunft. Herr Trittin, für uns
und für die Umwelt wäre es am besten, wenn Sie end-
gültig aussteigen würden, und zwar mit Ihrer gesamten
Crew.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409313200
Ich gebe der Kolle-
gin Marion Caspers-Merk von der sozialdemokratischen
Fraktion das Wort.


Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1409313300
Herr Präsident! Herr
Kollege Ruck, ich muss mich etwas wundern, weil Sie
uns einige Schlagzeilen vorgelesen haben, aus denen Sie
eine Fundamentalkritik des Sachverständigenrats an der
rot-grünen Bundesregierung abgeleitet haben. Dies ha-
ben Sie mit einigen Zitaten garniert. Genau dasselbe
kann man natürlich in umgekehrter Weise tun und man
kommt dann zu ganz anderen Ergebnissen.

Auch ich darf Ihnen einige Schlagzeilen vorlesen:
„Umwelt-Sachverständige legen Gutachten vor – War-
nung vor Selbstverpflichtungen“, „Sachverständige be-
klagen Reformstau in der Umweltpolitik“, „Um-
welt-Weise rügen Reformstau“, „Merkel Reformstau
vorgehalten“. Sie sehen: Es sind Überschriften aus der
öffentlichen Würdigung des Sachverständigengutachtens
1998.

Es ist ganz richtig, dass Sachverständige dazu da
sind, uns kritisch den Spiegel vorzuhalten. Dass einiges,
was schon 1998 gerügt wurde, bis jetzt noch nicht um-
gesetzt wurde, hängt auch damit zusammen, dass viele
Dinge Altlasten sind, die wir nach und nach abarbeiten.
Aber Sie sollten ein Stück weit reeller und ehrlicher in
der Wertung sein.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Da fangen Sie einmal bei sich an, Frau Caspers-Merk!)


Ich lese Ihnen auch noch etwas anderes vor, was im
Gutachten des Jahres 1998 steht. Dort wurde schon da-
mals gerügt, dass zum Beispiel die Neufassung des
Bundesnaturschutzgesetzes auf sich warten lasse. Wer
war damals an der Regierung? Sie waren es! Ebenso
wurde beklagt, dass Ausführungsbestimmungen zum
Kreislaufwirtschaftsgesetz fehlen. Außerdem wurde ein
modernes Abfallwirtschaftsrecht ausdrücklich eingefor-
dert.

Wenn man sich das alles ansieht und die öffentliche
Aufgeregtheit etwas beiseite lässt, muss man sagen: Das
Umweltgutachten ist eine kritische Würdigung der Poli-
tik. Das war es aber auch schon immer; der Sach-

Dr. Christian Ruck






(A)



(B)



(C)



(D)


verständigenrat hat schon immer kritische Schlagzeilen
gemacht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ihr seid doch die Heilsbringer!)


Damals haben wir den Sachverständigenrat als Kron-
zeugen gegen die damalige Regierung verwendet, jetzt
ist die Situation in Teilen umgekehrt. Aber auch hierbei
sollten wir mit größerer Gelassenheit reagieren, einfach
einmal in das Gutachten einsteigen und uns damit aus-
einander setzen, denn es lohnt die Auseinandersetzung.

Diesmal ist zu Recht das Thema „Nachhaltigkeit“ ein
Stück weit aufgearbeitet worden. Dabei kommt der
Sachverständigenrat zu folgenden Ergebnissen. Er sagt,
dass er seit 1994 eine Nachhaltigkeitsstrategie der Bun-
desregierung einfordert. Ich erinnere daran: 1994 war
nun wirklich noch nicht Herr Trittin in der Bundesregie-
rung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)

Wenn aber Ihre Wertung, die Sie vorhin zitiert haben,

richtig ist, dass wir auf diesem Sektor international nicht
zu den Vorreitern gehören, dann sind doch Sie es, die
das zu verantworten haben, weil Sie dieses Thema jahre-
lang überhaupt nicht besetzt haben. Erst nachdem wir
Ihnen das in der Enquete-Kommission vorgehalten ha-
ben, sind überhaupt zögerlich erste Schritte getan wor-
den.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


– Das ist doch die Wahrheit, Herr Kollege Grill und
Herr Kollege Ruck!


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das ist aber eine sehr gespaltene Wahrnehmung, Frau Caspers-Merk!)


Das muss auch einmal gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

In dem Gutachten ist zum Thema der Nachhaltigkeit

und zu dem, was wir dazu fordern, Folgendes zu lesen:
Insgesamt ist das Konzept einer ökologischen Mo-
dernisierung im Sinne einer innovativen und be-
schäftigungsorientierten Strategie grundsätzlich zu
begrüßen.

Es ist also nicht so, dass alles nur Schatten ist, son-
dern der eingeschlagene Weg wird ausdrücklich begrüßt.
Wenn man sich dann ansieht, welche Vorschläge zum
Thema „Nachhaltigkeitsstrategie“ gemacht werden,
stellt man fest, dass wir uns doch auf einem guten Weg
befinden. So soll das Sachverständigengutachten doch
auch gewertet werden, nämlich dass es uns Hinweise
gibt, wie wir künftig damit umzugehen haben.

Es wird die Politikintegration gefordert – jawohl, da
sind wir uns einig –, es wird gefordert, dass wir moder-
nes Umweltmanagement betreiben, indem wir weniger
unklare Ziele setzen und genaue Instrumente vorschrei-
ben, sondern umgekehrt klare Umwelthandlungsziele

festlegen und Flexibilität bei den Instrumenten zulassen.
Genau dies tun wir im Übrigen durch einen Antrag der
beiden Regierungsfraktionen zum Thema Umweltcon-
trolling in Bundesbehörden. Wir fordern das Öko-Audit
nicht nur von Betrieben ein, sondern fordern es jetzt für
die gesamte Bundesregierung ein.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht wahr!)


Das sind doch moderne Politikkonzepte, in denen Sie
uns weit unterstützen sollten, wobei Sie erkennen müs-
sen, dass genau dies in dem Sachverständigengutachten
eingefordert wird, wenn Sie die Seiten, die zum Thema
EMAS darin stehen, richtig würdigen.


(Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Haben wir Sie denn behindert?)


Wenn ich mir die einzelnen Punkte genauer ansehe,
möchte ich auch zum Thema „Abfallpolitik“ noch eini-
ges sagen. Dazu hätte ich mehr erwartet, denn das, was
das Sachverständigengutachten hier tut, ist im Wesentli-
chen eine Wiederholung der kritischen Punkte, die die
Sachverständigen schon in mehreren Gutachten immer
aufgelistet haben, ohne dass – nach meinem Empfin-
den – neuere Entwicklungen in der Abfallwirtschaft aus-
reichend berücksichtigt worden sind.

So wird in diesem Gutachten zum Beispiel mehr
Marktwirtschaft in der Abfallwirtschaft eingefordert,
und es wird – wie ich finde, sehr naiv – gefragt, ob ei-
gentlich Mehrwegsysteme heute noch geschützt werden
müssen. Wir erleben doch gerade mit dem Unterschrei-
ten der Quote und mit den Konsequenzen daraus, dass
Mehrwegsysteme sehr wohl geschützt werden müssen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Der Sachverständigenrat sagt aber etwas anderes!)


– Ja, doch, dann müssen Sie einmal genau hineingucken,
nicht nur in die Pressemitteilungen, Frau Kollegin Hom-
burger.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Wann haben Sie denn den Bericht gehabt?)


Wenn man dort einmal hineinguckt, liest man, dass eini-
ge Punkte im Bereich der Abfallwirtschaft kritisch be-
wertet worden sind – zum Beispiel auch von uns damals
noch aus der Opposition heraus, weil wir meinen, dass
nicht die Forderung nach mehr Marktwirtschaft in der
Abfallwirtschaft der entscheidende Punkt ist. Wir haben
es doch heute mit der Situation zu tun: Der Abfall sucht
sich den billigsten Weg –, und zwar ohne ökologische
Standards.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Genau diese Dinge, für die es keine ökologischen Stan-
dards gibt, die vielen Billig-Deponien, die werden ver-
füllt.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das war vor zehn Jahren!)


Wir haben nicht mehr einen Müllnotstand, sondern wir
erleben das Leerlaufen der hohen ökologischen Stan-
dards, die wir bei einigen Verbrennungsanlagen oder

Marion Caspers-Merk






(A)



(B)



(C)



(D)


Deponien vorfinden. Das ist heute unser Problem. Viel-
leicht ist dies beim Sachverständigenrat für Umweltfra-
gen noch nicht ausreichend angekommen.

Für die kritischen Anmerkungen danke ich dem
Sachverständigenrat ausdrücklich. Ich weiß, dass es
nicht immer einfach ist, ein solches Gutachten zu erstel-
len. Mit den Punkten, zu denen Ideen und Wegweisun-
gen gegeben werden, werden wir uns – seriöser, als es in
einer Aktuellen Stunde möglich ist – im Ausschuss und
natürlich auch in den Fraktionen auseinander setzen.
Für uns ist dieses Gutachten Auftrag und Wegweisung
zugleich. Ich finde, wir sollten Ihre Polemik nicht zum
Anlass nehmen, das Gutachten wegzulegen, sondern wir
werden es studieren


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Und Zitate raussuchen!)


und es dort, wo wir die richtige Richtung sehen, Stück
für Stück umsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409313400
Das Wort hat der
Kollege Dr. Peter Paziorek für die Fraktion der
CDU/CSU.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1409313500
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Nach Einschätzung des
Sachverständigenrates für Umweltfragen ist die Um-
weltpolitik der rot-grünen Bundesregierung bislang als
völlig unzureichend anzusehen. So erklärte der Sachver-
ständigenrat, dass durch die Konzentration auf den
Atomausstieg und die Ökosteuer leider andere wichtige
Themen in der Umweltpolitik zurückgedrängt worden
seien.

Am 12. Dezember 1996 sagte die damalige umwelt-
politische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Frau
Hustedt:


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist denn Frau Hustedt?)


Es ist abgrundtief falsch, sich nur auf die Lösung
eines Problemfeldes oder auch zweier zu konzen-
trieren, so wie es zur Zeit die Bundesregierung tut,
die anderen dabei aber zu vernachlässigen.

Damals war die Aussage von Frau Hustedt sicherlich
falsch. Aber sie hatte wohl nicht vorhergesehen, dass sie
damit ganz treffend die Problemlage der heutigen rot-
grünen Umweltpolitik beschrieben hat. Für ihre hellse-
herischen Fähigkeiten kann man ihr nur ein Kompliment
aussprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Anders ausgedrückt: Von den vielen Versprechungen
aus der Oppositionszeit ist bei der rot-grünen Umwelt-
politik nicht viel übrig geblieben.

Was haben Sie in den damaligen Legislaturperioden
nicht alles angemahnt? So hat zum Beispiel Frau
Hustedt am 29. Mai 1998, ebenfalls im Plenum, erklärt,
um nur einige Beispiele zu nennen:

Wir wollen ein Altbausanierungsprogramm für die
Umwelt und für die Bauwirtschaft. Wir wollen eine
Sommersmogverordnung ... Wir wollen einen nati-
onalen Umweltplan ...

Nichts ist bis jetzt daraus geworden. Sie haben vieles
angekündigt, aber Sie haben tatsächlich kaum etwas
angepackt, kaum etwas auf den Weg gebracht und kaum
etwas in der Umweltpolitik einer Lösung näher ge-
bracht.

Wenn Sie, Herr Minister Trittin, sich nur hier hinstel-
len und sagen, was die jetzige Bundesregierung bisher
im Bodenschutz getan hat, kann ich nur darauf verwei-
sen – ich habe die Diskussion hier im Bundestag ja, im
Gegensatz zu Ihnen, seit 1990 verfolgt –: Das erste Bo-
denschutzgesetz ist von der CDU/CSU/ – F.D.P. – Re-
gierung, auch unter Mitwirkung von Frau Homburger,
auf den Weg gebracht worden.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Leider!)

Die ganze Diskussion in Sachen Ausgleichsregelung

bei neuen Bauvorhaben in Bauplangebieten haben wir
von der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung auf den Weg ge-
bracht, gegen den massiven Widerstand zum Beispiel
von sozialdemokratisch bestimmten kommunalen Spit-
zenverbänden, die diese Regelung nicht wollten.

Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und fragen, was
wir in den Ländern, in denen wir das Sagen haben, hin-
sichtlich FFH auf den Weg gebracht haben, muss ich
entgegnen: Die FFH-Richtlinie in Europa ist deshalb zu-
stande gekommen, weil der damalige Bundesumweltmi-
nister Töpfer maßgeblich mit dafür gesorgt hat, dass es
auf europäischer Ebene überhaupt eine FFH-Richtlinie
gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie versagen jetzt bei der Umsetzung dessen, was die
damalige Regierung auf den Weg gebracht hat.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

– Sie lachen gerade. Nehmen wir als Beispiel das Um-
weltgesetzbuch. Das Umweltgesetzbuch war im Refe-
rentenentwurf praktisch fast fertig.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Leider falsch!)


Dann haben Sie festgestellt, dass das Umweltgesetzbuch
aufgrund einer wasserrechtlichen Problematik nach der
Rahmengesetzgebung des Grundgesetzes doch nicht Re-
alität werden kann. Ich kann nur eines sagen: Sie haben
gar nicht genügend Mühe und Kraft darauf verwandt,
diese rechtliche Problematik zu diskutieren und daran-
zugehen, sondern Sie haben dies als Vorwand benutzt,
das Umweltgesetzbuch erst einmal in die Schublade zu
legen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Marion Caspers-Merk






(A)



(B)



(C)



(D)


Warum wird Umweltpolitik bei dieser Regierung
nicht erfolgreich betrieben? Die Antwort ist ziemlich
klar: Sie wird deshalb nicht erfolgreich betrieben, weil
niemand von den Spitzenleuten, egal ob es Herr Fischer
oder Herr Trittin von den Grünen oder der parteilose
Wirtschaftsminister Müller ist, ernsthaft und konsequent
Umweltpolitik betreiben will.

Der umweltpolitische Sprecher der Grünen, Herr
Loske, hat Recht, wenn er sagt: Für unsere Spitzenleute
ist die Umweltpolitik leider keine Herzensangelegenheit
mehr. – Das ist der wahre Grund, warum es in der Um-
weltpolitik so nicht weitergeht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dann haben Sie, Herr Trittin, bei Ihren Ausführungen

gerade gesagt: Der Umweltrat warnt davor, zu dem zu-
rückzukehren, was vorher in der Umweltpolitik gelaufen
ist. – Ich weiß gar nicht, wie Sie zu dieser Aussage
kommen. Schauen Sie sich nur einmal Seite 5 der Kurz-
fassung dieses Gutachtens an.


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Aha, aus der Kurzfassung!)


– Diese Stelle liegt mir gerade vor. Ob Sie sie gehabt
hätten, ist fraglich, Frau Caspers-Merk.

Ich zitiere:
Insgesamt sollte – auch um weitere Zeitverzöge-
rungen zu vermeiden – an den Schritteprozess der
bisherigen Bundesregierung angeknüpft und die
hier angelegte Möglichkeit der Entwicklung einer
parteiübergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie aus-
gelotet werden.

Der Sachverständigenrat fordert Sie also ausdrücklich
dazu auf, zur entsprechenden Methodik der früheren
Bundesregierung zurückzukehren. Sie aber stellen sich
hier hin und warnen geradezu davor, Instrumente der al-
ten Bundesregierung aufzugreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu einer weiteren in diesem Bericht gemachten Äu-

ßerung: Das Umweltindikatorsystem, das von Frau
Merkel entwickelt worden ist, ist ausdrücklich gelobt
worden. Man hat die Empfehlung ausgesprochen, darauf
zurückzugreifen. Frau Mehl aber erklärt, es gebe deshalb
eine Beunruhigung an der Umweltfront, weil vieles vor-
her unerledigt geblieben ist. Liebe Frau Mehl, der Sach-
verständigenrat sieht das genauso wie wir. Die Umwelt-
politik hat heute einen aus unserer Sicht leider – so muss
man feststellen – nicht sehr hohen Stellenwert, weil in
vielen dramatischen Bereichen Entwarnungen – dieses
Wort gebraucht der Umweltrat – ausgesprochen worden
sind. Denn viele Probleme in der Umweltpolitik sind ge-
löst worden. Wodurch denn? Durch die Aktivitäten der
von CDU/CSU und F.D.P. geführten Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Ha, ha, ha!)


Der Umweltrat hat Recht. Denn er erklärt, dass vie-
les, was in der Umweltpolitik zu einer Effektivitätsstei-
gerung führen kann, von der jetzigen Regierung bisher

nicht aufgegriffen worden ist. Sie haben zu diesen Fra-
gen kein Konzept vorgelegt. Sie haben keine realistische
Prioritätensetzung vorgenommen. Sie haben in vielen
konzeptionellen langfristigen Umweltfragen eindeutig
versagt. Die kritische Bewertung ist zu Recht erfolgt.
Machen Sie endlich eine gute und damit in sich schlüs-
sige Umweltpolitik!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Die machen wir immer, Herr Paziorek!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409313600
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Win-
fried Hermann.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hermann Bürgschaften!)



Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409313700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Da-
men und Herren von der Opposition, nach dieser Debat-
te bin auch ich versucht, polemisch noch eins draufzu-
setzen. Das sage ich Ihnen ganz offen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Wir sind Kummer gewöhnt!)


Ich glaube aber nicht, dass wir auf dieses Gutachten und
die damit zusammenhängende Problematik angemessen
reagieren, wenn wir weiter polemisieren.

Ich möchte einen Punkt von Herrn Paziorek aufgrei-
fen. Er hat kritisiert, dass meine Fraktion und auch die
Spitzen der Grünen heute nicht in genügender Zahl ver-
treten sind. Sie haben vollkommen Recht. Auch mich
ärgert das.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich würde aber auch gerne den Fraktionsvorsitzenden
der SPD, den Fraktionsvorsitzenden der PDS und den
Hoffnungsträger der CDU, Herrn Merz,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist er auch! Manfred Grund [CDU/CSU]: Sind wir alle!)


Frau Merkel, die ehemalige Umweltministerin, und an-
dere begrüßen.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Was ist mit Herrn Gerhardt?)


– Natürlich auch Herrn Gerhardt.
Warum sage ich das so deutlich, dass Sie lachen müs-

sen? Wir haben in der Umweltpolitik ein gemeinsames
Problem, nämlich das Problem, dass wir zwar unterein-
ander sozusagen streiten und jeder von uns noch bessere
ökologische Vorschläge hat, dass aber bereits jeweils in
unseren Fraktionen die Probleme und Schwierigkeiten
beginnen, sich durchzusetzen. Das gilt übrigens sowohl
für die vergangene als auch für die jetzige Regierungs-
politik.


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Das ist falsch!)


Dr. Peter Paziorek






(A)



(B)



(C)



(D)


Insofern haben wir keinen Grund, Kritik nicht ernst zu
nehmen, und niemand hat einen Grund, sich hier selbst-
gerecht hinzustellen, wie Sie das getan haben.

Wenn man das Umweltgutachten richtig liest, und
nicht nur die Überschriften und das Vorwort, dann muss
man feststellen, dass es eine sehr differenzierte Be-
schreibung der Umweltsituation in der Bundesrepublik
Deutschland und in Europa ist. Es ist eine differenzierte
Beschreibung der Probleme sowohl auf Bundes- als
auch auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Es
ist kein Gutachten, das sich nur an die Bundesregierung
richtet nach dem Motto: Wir kritisieren einmal die Bun-
desregierung. Es ist vielmehr eine ausgesprochen kriti-
sche Auseinandersetzung mit der Umweltsituation und
der Umweltpolitik auf allen Ebenen Deutschlands und
Europas. Insofern sind wir alle Adressaten dieser kriti-
schen Auseinandersetzung.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, die Regierung!)


Ich möchte Ihre Kritik und auch die des Gutachtens
an einigen Punkten aufgreifen; man kann dies ja nur in
aller Kürze tun. Hinsichtlich der Nachhaltig-
keitsstrategie gebe ich Ihnen Recht. In dem Gutachten
steht, wir seien inzwischen von einem Vorläuferland in
den 70er-Jahren – so ist dort übrigens zu lesen – in den
frühen 90er-Jahren zu Nachzüglern geworden. Ich sage
Ihnen ganz offen: Ich selber wäre heute gerne weiter.
Aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen,
dass Sie etwas geleistet haben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Doch! Wir haben eine Menge geleistet! Ich habe es doch gesagt!)


Denn das Schritteprogramm von Umweltministerin
Merkel ist rechtzeitig in der Schublade versenkt worden.
Sie haben nicht den Mut gehabt, daraus eine Strategie zu
entwickeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr! Wir haben immer zum Dialog eingeladen!)


Das ist doch der Punkt: Immer dann, wenn es konkret
werden sollte, hatten auch Sie Ihre Schwierigkeiten.

Übrigens wird ausdrücklich erwähnt, wie man sich
die nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorzustellen hat.
Wenn Sie sich einmal unseren Antrag anschauen – dem
haben Sie übrigens zugestimmt –, dann werden Sie fest-
stellen, dass auch wir das in vielen Punkten tun: Zielori-
entierung, Konzentration, Angabe klarer Schritte. Ich
habe in der Debatte deutlich gemacht, dass wir das
Schriftkonzept von Ihnen und Angela Merkel mit auf-
nehmen werden; denn wir fangen nicht bei Null an. Also
bitte, wir haben bereits kritische Punkte aufgenommen.

Zum nationalen Nachhaltigkeitsrat: Hier wird eine
plurale Zusammensetzung aus den Kräften der Gesell-
schaft vorgeschlagen. Genau das ist es, was wir vor-
schlagen und in den nächsten Wochen durch Berufungen
auch klarstellen werden.

Nächster Punkt: Umweltgesetzbuch. Sie haben es an-
gesprochen, Herr Paziorek. Auch hier finde ich keinen
Grund zur Selbstgerechtigkeit. Natürlich ärgert es mich
ungeheuer, dass wir dieses Projekt, das wir als großes
Modernisierungsprojekt angesehen haben, nicht voran-
gebracht haben. Aber dasselbe Problem hatten Sie als
Umweltpolitiker. Frau Merkel hatte einen Entwurf, der
wieder um rechtzeitig in der Schublade, in der Versen-
kung verschwand, der nicht an die Öffentlichkeit kam.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Die Wahlen kamen dazwischen!)


Wir haben erneut einen Entwurf erarbeitet. Er geriet
in die Kritik; es gab verfassungsrechtliche Bedenken
und Bedenken seitens der Länder. Ich habe mit Herrn
Grill – er ist jetzt nicht da – ganz offen darüber geredet:
Wenn man in Deutschland kein Umweltgesetzbuch er-
arbeiten kann, weil Länderkompetenzen berührt werden
und die Länder mit einer verfassungsmäßigen Ein-
schränkung ihrer Kompetenzen nicht einverstanden sind
und deshalb drohen,


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Das ist einfach nicht wahr! Es stimmt nicht, dass man das nicht machen kann! Das ist nicht so!)


dann muss es eine Allparteienkoalition geben, dann
müssen Bund und Länder gemeinsam dieses große Mo-
dernisierungsvorhaben durchsetzen. Das ist uns nicht ge-
lungen. Übrigens hat mir Herr Grill ganz deutlich ge-
sagt: Unsere Leute in den Ländern sind dagegen. Es ist
auch nicht so, als seien bei uns alle von der Idee eines
Umweltgesetzbuches begeistert.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, das ist das Problem!)


Also auch hier haben wir das Problem, mit den Mitteln,
die wir haben, komplexe Gesetzgebungsprozesse wie
etwa ein Umweltgesetzbuch nur sehr schlecht umsetzen
zu können.

Es gibt noch einige andere Punkte, wo die kritischen
Anmerkungen der Gutachter, wie ich glaube, wirklich
angemessen sind. Aber im Grunde genommen treffen sie
alle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen. Alle
sollten sich aufgefordert fühlen, daraus mehr und Besse-
res zu machen.

Ich sage Ihnen zum Schluss eines: Für mich ist eine
solche kritische Schrift eine Ermutigung, hart und ge-
duldig weiterzukämpfen und dort, wo wir gemeinsam
etwas machen müssten, weiter nach einem Konsens zu
suchen, Ihnen aber auch zu sagen, dass Sie nicht viel da-
zu beitragen, in diesem Bereich voranzukommen. Sie
haben heute nur Ihre alten Platten aufgelegt, die Sie
schon seit einem Jahr spielen. Sie haben sich aber nicht
mit diesem Gutachten auseinander gesetzt. Ich hoffe,
dass wir darüber im Ausschuss eine kritische Debatte
führen können, und danke den Gutachtern für diesen kri-
tischen Anstoß.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Winfried Hermann






(A)



(B)



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(D)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409313800
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Vera Lengsfeld.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409313900
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin,
Sie hatten anderthalb Jahre Zeit, zu beweisen, dass Sie
Umweltpolitik besser machen können als die von Ihnen
viel geschmähte Kohl-Regierung. Worin Sie allerdings
am erfolgreichsten waren, war, den Eindruck zu erwe-
cken, als würden die Grünen in ihrem krampfhaften Ver-
such, ihrer Ein-Punkt-Kompetenz zu entkommen, die
Zwischenbilanz ihrer Umweltpolitik am liebsten verste-
cken, weil sie ihnen peinlich ist. Hauptsächlich ging es
der Koalition um die Frage – damit hat sie sich medien-
wirksam gequält –, ob die Atomkraftwerke nun früher
oder später abgeschaltet werden – als ob das der ganze
Inhalt der Umweltpolitik wäre. In der Schule hieße es:
Thema verfehlt – fünf!


(Zuruf von der CDU/CSU: Sechs!)

Ähnlich ist es beim Gutachten des Umweltsachver-

ständigenrates. Herr Kollege Loske, Sie haben vorhin
gesagt, wir hätten dieses Gutachten nicht gelesen. Sie
können ganz sicher sein, dass wir lesen können und das
Gutachten auch gelesen haben.


(Lachen bei der SPD und der PDS – Zuruf von der SPD: Das ist aber eine Neuigkeit!)


Wenn ich allerdings die Redner der Koalition so höre,
dann frage ich mich manchmal, ob wir eigentlich das
gleiche Gutachten gelesen haben.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jeder sucht für sich den Honig heraus! Das ist doch ganz klar!)


Ich lese aus diesem Gutachten etwas ganz anderes
heraus. Nehmen wir einmal das Thema Ökosteuer. In
dem Gutachten steht – das hat der Umweltrat so for-
muliert –: Welche Beanspruchung der Umwelt durch das
Gesetz in erster Linie vermieden werden soll, ist völlig
unklar. Zur Reduktion von Treibhausemissionen, insbe-
sondere CO2-Emissionen, wären der Ökosteuer andere Optionen vorzuziehen. Der Umweltrat hat zwei Optio-
nen aufgeführt: die CO2-Lizenzen und die emissionsbe-zogene Energiesteuer.


(Monika Ganseforth [SPD]: Die sind aber falsch!)


Er hat dann eine verheerende Bilanz gezogen: Die
Stromsteuer der Bundesregierung belastet die Wirtschaft
und die Haushalte unnötig und sorgt für zusätzliche
Kosten durch die Notwendigkeit kompensierender För-
derprogramme für erneuerbare Energien und Kraft-
Wärme-Koppelung. Dies heißt: Die Ökosteuer ist keine
Ökosteuer.

Auch sonst haben Sie es natürlich schwer, denn die
umweltpolitische Bilanz der Regierung Kohl war her-
vorragend. Wir haben vorhin schon über die Luft- und
Wasserreinheitswerte geredet.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Lengsfeld!)


– Herr Loske, das muss ich Ihnen doch nun wirklich
nicht sagen. Unsere Oberflächengewässer sind inzwi-
schen schon so sauber,


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren es CDU-OberflächenGewässer? dass es zu einem Schwund der Arten kommt, die auf eine gewisse Trübung und einen gewissen Nährstoffreichtum angewiesen sind. Das sind Tatsachen. Wir haben auch die höchste Reaktorsicherheit der Welt. Die Regierung weiß, dass sie auf diesen Gebieten nichts verbessern kann und will deshalb aussteigen. Also bleiben an Themen für die Umweltpolitik eigentlich nur die Artenerhaltung, der Naturschutz sowie das große Problem der Landwirtschaft und des Verkehrs als Verursacher der größten Beeinträchtigung der Umwelt. Hierzu allerdings ist die Bilanz Ihrer Regierungstätigkeit, Herr Minister Trittin, sehr mager. Sie haben bisher nicht einmal im Ansatz erkennen lassen, dass Sie sich der politischen Dimension des Artenschutzes auch nur annähernd bewusst sind. Ein Atomkraftwerk hört irgendwann auf zu strahlen, aber eine Art, die ausgestorben ist, ist samt ihrem genetischen Potenzial für immer verloren. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein schräges Argument!)


Stattdessen üben Sie sich lieber in überholten Glau-
bensbekenntnissen: Erstens. Gentechnik ist des Teufels,
obwohl die Neukombination von Erbgut eines der Er-
folgsrezepte der Natur ist. Zweitens. Atomkraft – nein
danke. Wir lassen uns auch nicht davon verwirren, dass
es inzwischen revolutionäre wissenschaftliche Erkennt-
nisse über neue Endlagermöglichkeiten gibt.


(Monika Ganseforth [SPD]: Was für ein Gutachten haben Sie denn gelesen?)


Drittens – Frau Caspers-Merk hat es vorhin wieder be-
stätigt – sagen Sie sogar: Einweggut ist schädlich, Mehr-
weggut ist umweltfreundlich, obwohl inzwischen sogar
der NABU einräumt, dass dies so nicht stimmt. Aber Sie
wollen an Ihrem Glauben festhalten und Quoten
einführen, statt der Realität Rechnung zu tragen.


(Ulrike Mehl [SPD]: Das hat der Töpfer eingeführt!)


Der Mensch wird immer noch als Störfaktor für die
Natur angesehen. Deshalb hat die Naturschutzpolitik der
Regierung vor allen Dingen etwas mit gelben Verbots-
schildern zu tun. Dass die Menschen dann Schutzgebiete
nicht attraktiv finden, ist eine bedauerliche Folge dieser
Politik.

Meine Damen und Herren, die Regierung hat die
positive wirtschaftliche Dimension der Umweltpolitik
überhaupt nicht erkannt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie versucht, den Markt zu knebeln, statt ihn seine Kräf-
te zum Wohle der Umwelt entfalten zu lassen. Der deut-
sche Umweltrat ist da viel weiter. Er hat die Chancen






(A)



(B)



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(D)


der Privatisierung für die Verbesserung der Umwelt er-
kannt. Er fordert zum Beispiel eine Privatisierung der
Wasser- und Abwasserversorgung und sagt: Das könnte
dazu führen, dass überfällige Investitionen in die Infra-
struktur getätigt und dass deutsche Anbieter wettbe-
werbsfähig werden. Auch an die private Betreuung von
Schutzgebieten sollte gedacht werden. Vorbild ist hier
die USA, wo „wildlife-related activities“ längst ein
Wirtschaftsfaktor und Nationalparks Katalysatoren für
die Entwicklung ganzer Regionen geworden sind.

Aber die Bundesregierung hat nicht einmal ansatz-
weise versucht, entsprechende Strategien zu entwickeln.
Stattdessen gibt es eine ganze Menge umweltschädigen-
der Subventionen; auch unter Ihnen als Umweltminister.
Uneffektive kommunale Trink- und Abwasserverbände
werden alimentiert. Der Umweltrat empfiehlt, das abzu-
schaffen. Der Preis für Fischfilets beruht zu einem Drit-
tel auf Steuern.
Mit staatlichen Subventionen werden tierquälerische
Produktionsfirmen in der Landwirtschaft am Laufen ge-
halten und unsere Umwelt mit Herbiziden und Pestizi-
den belastet.

Allen vollmundigen Ankündigungen in den langen
Oppositionsjahren zum Trotz hat die rot-grüne Regie-
rung nicht erkennen lassen, dass sie einen Ausweg aus
dieser umweltpolitischen Sackgasse sucht.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409314000
Frau Kollegin,
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409314100
Wer die Umwelt
nachhaltig schützen will, kommt um den Abbau von
umweltschädigenden Subventionen nicht herum. Was
hat denn Ihr Herr Funke kürzlich gemacht? Das Gegen-
teil davon. Jeder Grüne wusste, als er noch nicht in Re-
gierungsverantwortung war, was „perverse subsidies“
sind. Heute muss der Umweltrat Sie auffordern, umwelt-
schädigende Subventionen abzubauen. Ich frage mich,
ob das nicht ein Zeichen von „reverse politics“ ist.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409314200
Frau Kollegin
Lengsfeld, ich muss Sie jetzt doch bitten.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409314300
Ja, gleich, sofort. Ich
bin sofort fertig.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409314400
Nein, Sie haben
lange genug gesprochen. Ich muss Sie jetzt doch bitten,
zum Schluss zu kommen.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409314500
Ich möchte noch einen
Punkt zum Schluss anbringen. Ein Blick über die Grenze
würde ab und zu gut tun. Ich meine in diesem Falle den
Blick nach Österreich. Österreich hat die höchste Bio-
bauerndichte Europas. Da könnte es nicht schaden, ein-
mal hinzufahren und nachzufragen, wie Österreich dazu
gekommen ist. Dass man dabei einen FPÖ-Land-

wirtschaftsminister fragen muss, sollte einen extremis-
muserfahrenen Umweltminister nicht abschrecken;


(Widerspruch und Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn er hat ja genügend Erfahrungen auf der Seite der
Linken.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409314600
Frau Kollegin
Lengsfeld, ich muss Sie wirklich bitten. Kommen Sie
jetzt bitte zum Schluss! Ich kann Ihnen jetzt keine weite-
re Redezeit geben.


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409314700
Okay, ich bin beim
letzten Satz.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409314800
Nein, bitte!


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1409314900
Tut mir Leid. Der
letzte Satz wäre der beste.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409315000
Ich will an alle
Fraktionen sagen, dass bisher alle Redner in der Aktuel-
len Stunde überzogen haben. Wir haben das großzügi-
gerweise auch zugelassen. Aber irgendwo ist die Gren-
ze. Deswegen bitte ich um Verständnis, dass man ir-
gendwann eingreifen muss. Wir haben eine Aktuelle
Stunde und noch drei Redner. Diese sollen nicht darun-
ter leiden, dass ich jetzt eingegriffen habe. Aber im We-
sentlichen möge man sich an die Redezeiten halten!

Frau Kollegin Monika Ganseforth spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.


Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1409315100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächste Jahr-
tausend“ heißt das Gutachten des Sachverständigenrates,
über das wir heute debattieren. Die Empfehlungen rich-
ten sich eindeutig an Regierung und Parlament. Deswe-
gen ist es richtig, dass wir uns damit befassen, und zwar
gründlich.

Die Tatsache, dass die CDU/CSU eine Aktuelle
Stunde dazu beantragt hat, scheint mir aber aus anderen
Gründen zu resultieren. Es geschieht nicht, weil sie sich
damit gründlich befassen will oder weil wir das diskutie-
ren wollen. Das Gutachten ist noch nicht einmal eine
Woche alt. Ich habe es nur geschafft, die Kurzfassung zu
lesen, und diese ist schon 150 Seiten stark. Ich habe den
Eindruck, dass viele von Ihnen nur die Presseerklärung
gelesen haben, und die noch nicht einmal richtig.


(Beifall bei der SPD)

Für eine gründliche Befassung mit einem so umfang-

reichen Werk braucht man ein bisschen mehr Zeit als ei-
ne halbe Woche. Ich hoffe, wir werden noch dazu kom-
men. Aber Sie haben vielleicht gute Gründe, sich hinter

Vera Lengsfeld






(A)



(B)



(C)



(D)


einem solchen Gutachten zu verstecken, anstatt sich mit
Ihren eigenen Konzepten – die es immer noch nicht
gibt – auseinander zu setzen.

Ich möchte etwas zu einem Schwerpunktthema des
Gutachtens sagen, nämlich zu den energiewirtschaftli-
chen Fragen. Diese nehmen einen großen Raum ein.
Deswegen möchte ich mich sehr wohl mit den Empfeh-
lungen auseinander setzen, aber nicht mehr mit der Öko-
steuer. Das hieße nur, Schlachten von gestern zu schla-
gen. Wir erwarten von den Sachverständigen, dass sie –
wie heißt es so schön – „Schritte ins nächste Jahrtau-
send“ weisen und nicht die verlorenen Schlachten von
gestern schlagen. Die Argumente dazu sind widerlegt
worden; das muss nicht wiederholt werden.

Der Sachverständigenrat spricht sich wie eh und je –
ich finde, manchmal etwas zu euphorisch – für die Li-
beralisierung der Strom- und Gasmärkte aus. Das ist ja
Ihr Erbe. Er weist auf das „ungelöste Problem einer aus-
reichenden umweltpolitischen Flankierung der liberali-
sierungsbedingt sinkenden Preise“ hin. Er spricht also
davon, dass die sinkenden Preise insofern ein ungelöstes
Problem sind, als sie sich auf die erneuerbaren Energien
und die Kraft-Wärme-Kopplung negativ auswirken. Er
sagt, die im Energiewirtschaftsrecht vorhandenen Mög-
lichkeiten zum Schutz und zur Förderung dieser Ener-
gieformen seien „kein taugliches Instrument“.

Ich finde, hier wird sehr deutlich, dass man vorher
hätte überlegen müssen, ehe man so ein gravierendes In-
strument etwas leichtfertig – ohne die Folgen zu beden-
ken – auf den Markt bringt. Der Sachverständigenrat
sagt ganz eindeutig, dass wir hier noch ganz am Anfang
stehen. Wir schlagen uns jetzt mit diesen Altlasten he-
rum. Sie wissen, dass wir in fast jeder Woche damit zu
tun haben, wie man diese schädlichen Nebenwirkungen
in den Griff bekommen kann, die wir von Ihnen, vor al-
len Dingen der F.D.P., aber auch der CDU/CSU, und Ih-
rer Gesetzgebung, geerbt haben.

Der Umweltrat ist mit uns der Ansicht, dass die
Kraft-Wärme-Kopplung bei der rationellen Energienut-
zung eine besondere Rolle spielen muss. Er kritisiert,
dass die Kraft-Wärme-Kopplung bisher diskriminiert
worden ist – das bezieht sich auf Ihre Regierungszeit –,
sodass sich nicht eine kleinräumige flächendeckende
Versorgungsstruktur auf der Basis von BHKWs, also
von Blockheizkraftwerken, aufbauen konnte. Wir wer-
den das ändern und wir haben schon damit begonnen.
Wir haben die Blockheizkraftwerke von der Ökosteuer
ausgenommen. Das hat inzwischen Wirkung. Dies zeigt,
dass flankierende Maßnahmen getroffen werden können.
Das hätte früher passieren müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind in der Kraft-Wärme-Kopplung beim Vor-

schaltgesetz. Das wissen Sie. Im Übrigen teilen wir die
Ansicht des Umweltrates, dass durch Quoten der Markt-
zugang für die Kraft-Wärme-Kopplung geöffnet und de-
ren Nutzung so ausgebaut werden muss. Dass der Um-
weltrat klipp und klar ausführt, dass eine Atomenergie-
nutzung nicht verantwortbar ist und dass die Bundesre-
gierung mit ihrem Konzept auf dem richtigen Wege ist,
ist hier schon gesagt worden.

Zu einem der Instrumente, die in Ihrer Regierungszeit
im Zusammenhang mit dem Klimaschutz das Heil sein
sollten, nämlich die Selbstverpflichtung, hätte das Urteil
nicht vernichtender ausfallen können. Aber auch hier ist
es so: Wir werden nicht die Schlachten der Vergangen-
heit schlagen, sondern auf dem Vorhandenen aufbauen.
Aber das Instrument der Selbstverpflichtung ist unge-
eignet – darauf weist der Umweltrat hin –, vor allen
Dingen weil Sie nur spezifische und keine absoluten
Reduktionsziele eingegangen sind.

Was der Sachverständigenrat zur Energieeinsparver-
ordnung sagt, ist nur richtig. Er ist gegen das vereinfach-
te Verfahren für kleine Wohngebäude. Er spricht sich
mit Recht gegen die Bevorzugung elektrischer Wärme-
bereitstellung aus, weil sie hinsichtlich der Primärener-
gie und ökologisch unsinnig ist. Und er fordert, dass für
den Gebäudebestand Instrumente wie Energiebedarfs-
ausweis und Heizkostenspiegel eingeführt werden. Auch
das sind alles Altlasten, mit denen wir uns herumzu-
schlagen haben.

Zu den erneuerbaren Energien führt der Sachverstän-
digenrat interessanterweise aus, dass es nicht richtig ist,
immer nur die Nachteile zu diskutieren, zum Beispiel
bei der Windenergie die Auswirkungen auf die angebli-
che Störung des Landschaftsbildes, den Düngemittelein-
satz bei Biogas oder den Abfall bei der Photovoltaik.
Vielmehr seien bei den anderen Energieformen die
Auswirkungen wesentlich gravierender und spielten in
der öffentlichen Diskussion, aber auch in der Politik eine
viel zu geringe Rolle.

Was die erneuerbaren Energien anbelangt, haben wir
das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das 100 000-Dächer-
Photovoltaik-Programm und das Markteinführungspro-
gramm auf den Weg gebracht. Hier sind wir also auf
dem Weg, der vom Umweltrat vorgeschlagen wird.

Hier blinkt die Lampe, die das Ende meiner Redezeit
signalisiert. Ich will nicht das nachmachen, was meine
Vorgängerin gemacht hat. Deswegen werde ich zum
Schluss kommen. Ich hoffe, dass wir noch eine gründli-
che Diskussion der umfangreichen Empfehlungen füh-
ren werden, die ein bisschen mehr Substanz als das hat,
was heute nach der kurzen Zeit besprochen werden
konnte.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409315200
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Kurt-Dieter Grill.


Kurt-Dieter Grill (CDU):
Rede ID: ID1409315300
Herr Präsident! Mei-
ne Damen und Herren! Ich will noch einmal auf Folgen-
des hinweisen, verehrte Frau Caspers-Merk: Die Tatsa-
che, dass wir die Kritik des Sachverständigenrates auf-
greifen und sie auch in der Öffentlichkeit so diskutiert
und dargestellt worden ist, wie Sie es hier beklagt haben,
hängt nicht damit zusammen, dass der Sachverständi-
genrat für Umweltfragen einen Vergleich zwischen der

Monika Ganseforth






(A)



(B)



(C)



(D)


alten und der neuen Regierung vorgenommen hat. Ich
nehme vielmehr das auf, was Christian Ruck gesagt hat:
Die Differenz zwischen dem Anspruch, den Sie vor dem
Regierungswechsel auf dem Feld der Umweltpolitik ge-
stellt haben, und der Wirklichkeit einer rot-grünen Um-
weltpolitik beschreibt das Versagen. Das heißt, Sie sind
an Ihren eigenen Ansprüchen gescheitert.

Weil es in der Umweltpolitik nicht nur um Geld oder
um technische oder um sonstige Lösungen geht, kann
ich Ihnen nur raten: Sie sollten auch immer einkalkulie-
ren – das kann man an den 16 Jahren der CDU/CSU-
F.D.P.-Koalition hervorragend beweisen –, dass der
Faktor Zeit für den Wandel eine unabdingbare Voraus-
setzung ist. Das würden wir Ihnen ja sogar zugestehen,
wenn Sie nicht so täten, als könne man das alles in ei-
nem Jahr verändern.

Insofern ist es immer auch eine Frage, unter welchen
zeitlichen Perspektiven wir diskutieren. Wenn heute ver-
schiedene Redner der Koalition meinten, sie müssten
noch einmal behaupten, dass in 16 Jahren nichts passiert
ist, dann will ich Ihnen nur sagen: Ein Stück der Exis-
tenz der Grünen hängt auch damit zusammen, dass es
bis zu Beginn der 80er-Jahre und bis zum Regierungs-
wechsel am Ende der sozialliberalen Koalition – die
F.D.P. könnte da vielleicht beredter als die CDU/CSU
Zeugnis ablegen – eine Blockade von Sozialdemokraten
und DGB gab, nach dem Motto: Umweltpolitik vernich-
tet Arbeitsplätze.

Am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl waren
wir Weltmeister im Export von Umwelttechnologien.
Das ist doch nicht ein Ergebnis, das die Wirtschaft sel-
ber produziert hat, sondern das ist eine Folge der He-
rausforderungen von Umweltpolitik an die Wirtschaft,
die sie dann an den Stellen, an denen technische Lösun-
gen erforderlich waren, auf diese Weise gemeistert hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nur so konnte die global akzeptierte Leistung der Füh-
rerschaft – der einzigen übrigens – im Bereich der Um-
welttechniken entstehen.

Ich brauche ja nur einmal in Ihre Papiere zu schauen;
dann weiß ich, dass Sie das Problem viel differenzierter
angehen, als Sie das hier am Podium darstellen. Ich
nehme einmal Bezug auf den Kollegen Loske, der ja
selber gesagt hat, dass akute Umweltprobleme wie die
Luft- und Wasserverschmutzung nicht mehr so gravie-
rend sind.

Ja, meine Damen und Herren, das lag an der Tatsa-
che, dass 1983 nach dem Regierungswechsel kein ande-
rer als Herr Zimmermann, der nun wirklich nicht origi-
när vom Stamme der Umweltpolitiker war, innerhalb
von wenigen Monaten die TA Luft, den Katalysator und
viele andere Dinge mehr umgesetzt hat.

Herr Loske, es kann doch wohl nicht wahr sein, dass
Sie sich hier hinstellen und sagen, im Oktober 1999 war
die Kritik des Sachverständigenrates noch richtig, und
im März 2000 ist das alles erledigt.


(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich doch gar nicht gesagt!)


Im Übrigen, Herr Loske, würde ich Ihnen dringend et-
was mehr Bescheidenheit empfehlen. Es fällt mir auf,
dass Sie in jeder Debatte in einer geradezu banalen, aber
auch nicht mehr akzeptablen Art Wissenschaftler kriti-
sieren, die anderer Meinung sind als Sie. Das unter-
scheidet den Umweltminister, wenn er es vielleicht auch
nur aus taktischen Gründen gesagt hat, sehr deutlich von
Ihnen.

Sie sollten sich etwas mehr Bescheidenheit angewöh-
nen, denn die alten Herren, die Sie hier am Schluss so
polemisch kritisieren zu müssen glaubten, gehören zu
der Garde der Leute, die für die Umweltpolitik in der
Bundesrepublik Deutschland und ihre Entwicklung,
auch wenn man nicht alle ihre Wünsche erfüllt hat, ei-
nen unschätzbaren Dienst geleistet haben.


(Birgit Homburger [F.D.P.]: Einen größeren Dienst als die Grünen! Deswegen ist das vollkommen unangemessen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Und ein Letztes, Herr Trittin, da Sie heute hier sozu-

sagen die Wettbewerbsphilosophie der Union kritisiert
haben: Ich muss doch davon ausgehen, dass Sie als
Bundesumweltminister es waren, der im Kabinett in der
Antwort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik dar-
gestellt hat: Die Bundesregierung ist für einen Wettbe-
werb in der Energie, sie ist für Staatsferne und sie ist für
subventionsfreie Energie.
Unsere Kritik setzt doch da an, dass Sie die Spielräume,
die wir mit der Energiepolitik, mit der Liberalisierung,
mit den Standortvorteilen geschaffen haben, durch
Stromsteuer und zusätzliche Subventionen „verfrühstü-
cken“ und sich für Ihre Politik zunutze machen, anstatt
sie bei den Verbrauchern zu lassen. Das ist auch genau
die Kritik, die der Sachverständigenrat übt.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)


Sie müssen versuchen, einen Teil Ihrer Glaubwürdigkeit
zurückzugewinnen. Ich kann nur sagen: Wer in Deutsch-
land so über den Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert
und gleichzeitig in China neue Kernkraftwerke baut, der
sollte sich an diesem Pult etwas bescheidener gerieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn Sie der Meinung sind, dass ich ein Ökologe

sei, bei dem das Schwarze durchschimmere, dann sage
ich Ihnen, Herr Trittin: Die Konservativen sind der Ur-
sprung der Umweltpolitik.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist doch nicht zu fassen!)


Leute wie Sie, die vom linken und sozialistischen Flügel
stammen, haben die Umweltpolitik eher als Vehikel zur
Macht denn aus Überzeugung eingesetzt. Das ist der
zentrale Punkt, warum Sie als Umweltpolitiker scheitern
werden:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kurt-Dieter Grill






(A)



(B)



(C)



(D)


nicht deshalb, weil mir das Schwarze nicht gut zu Ge-
sichte steht, sondern deshalb, weil Ihnen das Grüne der
Umweltpolitik so schlecht zu Gesichte steht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Uwe Küster [SPD]: Lautes Pfeifen im Walde!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409315400
Als letzter Redner
in der Aktuellen Stunde spricht nun für die SPD-
Fraktion der Kollege Michael Müller.


Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1409315500
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es ist nicht das erste Mal,
dass wir im Plenum über Jahresberichte des Sachver-
ständigenrates diskutieren. Ich kann mich an keinen Be-
richt erinnern, in dem nicht die Bundesregierung kriti-
siert worden ist. Ich halte es für legitim und sogar not-
wendig, dass ein solches Gremium Anstöße gibt und
Kritik übt. Es ist auch legitim, diese Kritik zu bewerten
und aufzugreifen. Aber das bedeutet noch lange nicht,
dass diejenigen, die diese Kritik aufnehmen, auch die
Meinung des Sachverständigenrats vertreten. Das ist der
eigentlich entscheidende Punkt. Ich möchte das an drei
Punkten deutlich machen:

Herr Ewers, der Mitglied des Sachverständigenrates
ist, vertritt beispielsweise die Auffassung, dass sich der
Preis pro Liter Mineralöl auf 4,50 DM bis 5 DM durch
eine entsprechende Besteuerung einpendeln soll. Mir ist
nicht bekannt, dass irgendjemand von der heutigen Op-
position je eine solche Forderung erhoben hat – oder et-
wa doch? –, im Gegenteil! Das ist der entscheidende
Punkt. Herr Ewers, der das entsprechende Kapitel der
ökologischen Steuerreform nachdrücklich geprägt hat,
hat in der Vergangenheit im Rahmen der Diskussion
über die Ökosteuer immer wieder einen solchen Preis
für Mineralöl verlangt. Ich bitte Sie darum, ehrlich zu
sein.

Ein weiteres Beispiel. Der Sachverständigenrat plä-
diert in seinem Gutachten für höhere Strompreise. Herr
Grill hat soeben genau das Gegenteil vertreten. Er hat
gefordert, man müsse die Strompreissenkungen nutzen,
die sich durch die Liberalisierung ergeben haben. Aber
wofür sollen sie genutzt werden? Sollen sie etwa beibe-
halten werden? Wir haben diese Senkungen zum Teil
genutzt, um die Ökosteuer durchzusetzen. Aber man
kann nicht eine Kritik aufgreifen, gleichzeitig hinter der
Kritik zurückbleiben und behaupten, das sei die Kritik
an der Bundesregierung. Das passt doch überhaupt nicht
zusammen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte es für völlig legitim, die Kritik des Sachver-
ständigenrates zu übernehmen. Aber zur Ehrlichkeit ge-
hört auch dazu, dass man sich mit dieser Kritik ausei-
nander setzt und eine eigene Position bestimmt. Das ist
hier nicht erfolgt.

Aus meiner Sicht ist ein Teil der Kritik des Gutach-
tens berechtigt. Zum großen Teil werden in ihm aller-
dings lange beklagte Altlasten im Umweltbereich aufge-

führt, die zu unserem Bedauern nicht schneller abgear-
beitet werden können. Zum Teil sind sie auch umstrit-
ten. Manches ist auch falsch.

Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen,
über das der Bundestag diskutiert hat, nämlich am Bei-
spiel der emissionsbezogenen Besteuerung. Wir haben
über sie in diesem Haus sehr intensiv im Zusammen-
hang mit Maßnahmen zum Klimaschutz diskutiert. Es
war damals übereinstimmende Meinung – einschließlich
der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion –, dass eine emissi-
onsbezogene Besteuerung des Energieverbrauchs nicht
sinnvoll sei. Im Gegenteil: Wir alle haben damals über-
einstimmend die These vertreten, es gehe vor allem um
die Senkung des gesamten Energieverbrauchs und des-
halb müsse der gesamte Energieverbrauch besteuert
werden. Das war die übereinstimmende Position.


(Monika Ganseforth [SPD]: Das ist auch richtig!)


Ich halte das nach wie vor für eine richtige Position.
Ich möchte dies an einem weiteren Punkt illustrieren:
Nach meiner Meinung macht es keinen Sinn, ein So-
larenergiehaus zu bauen, das schlecht gedämmt ist. Das
würde nichts bringen. Man kann für emissionsbezogene
Kriterien eintreten. Aber die Logik, die Besteuerung auf
die Senkung des Energieverbrauchs auszurichten, ist
auch legitim und vielleicht sogar die richtigere Strategie.
Insofern sollten wir hier keine falschen Fronten aufbau-
en.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hierüber gab es immer Streit. Zumindest damals – viel-
leicht ist dies heute nicht mehr der Fall – hat sich der
Bundestag einmütig für eine andere Linie ausgespro-
chen.

Sie können natürlich sagen: Der Sachverständigenrat
kritisiert, dass die ökologische Steuerreform nicht den
Lenkungseffekt hat, den sich vielleicht die einzelnen
Mitglieder dieses Sachverständigenrates gewünscht hät-
ten. Ich will jedoch darauf hinweisen, dass sich bei der
Präsentation des Berichtes die Sachverständigen, die das
vorgetragen haben, in ihren Aussagen zum Teil ganz
schön widersprochen haben. So eindeutig ist deren Linie
auch nicht. Aber auch bei diesem Ausgangspunkt muss
man sagen:

Die Opposition hat bei der Ökosteuer überhaupt
nichts zuwege gebracht. Auf welcher Basis kritisieren
Sie uns eigentlich? Soll uns das eine Hilfe sein? Wollen
Sie, dass wir bei der nächsten Stufe der Ökosteuer noch
sehr viel mutiger sind, und wollen Sie das Ganze unter-
stützen? Heißt das, Sie machen keine Kampagne mehr
gegen die Ökosteuer? Dazu müssten Sie sich einmal äu-
ßern. Das ist doch völlig unklar, wenn man ehrlich ist.

Was wir an Kritikpunkten deutlich sehen und wo wir
nachbessern müssen, sind die Fragen betreffend Boden-
schutz, Abfallpolitik, Altlasten, Naturschutz. Nur weise
ich darauf hin: In der Vergangenheit hat die damalige
Opposition immer die Bereitschaft geäußert, hier im
Bundestag sehr viel weitergehende Positionen durchzu-
setzen. Sie waren es, die blockiert haben. Sie können

Kurt-Dieter Grill






(A)



(B)



(C)



(D)


sich jetzt nicht hier hinstellen und dies auch noch kriti-
sieren. Das passt nicht zusammen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieses
Dokument eher der Nachläufer eines verlorenen Jahr-
zehnts ist. Eine in der Substanz schon die neue Regie-
rung treffende Kritik sehe ich nicht. Ich sehe das aber
sehr wohl als einen Hinweis und Ansatzpunkt dafür,
dass wir unsere Anstrengungen verstärken. Ich glaube,
das sollte unser aller Anliegen sein. Unter den Bedin-
gungen der Globalisierung und, der Veränderung der
Wirtschaftsstrukturen darf die Umwelt- und Natur-
schutzpolitik nicht auf ein Nebengleis gestellt werden.
Wenn der Sachverständigenrat dazu einen Beitrag ge-
leistet hat, dieses wieder stärker ins Zentrum zu rücken,
dann danken wir ihm sehr dafür.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409315600
Damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf.
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des

Berichts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuss) zu dem Entschließungsantrag

der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und F.D.P.

zu der Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers zum bevorstehenden Europäi-
schen Rat in Helsinki am 10./11. Dezem-
ber 1999

– Drucksachen 14/2279, 14/2757 –
Berichterstattung:

Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Karl Lamers
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuss) zu dem Entschließungsantrag

der Fraktion der PDS

zu der Regierungserklärung des Bundes-
kanzlers zum bevorstehenden Europäi-
schen Rat in Helsinki am 10./11. Dezem-
ber 1999

– Drucksachen 14/2289, 14/2756 –
Berichterstattung:

Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Karl Lamers
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem
Kollegen Rudolf Bindig für die Fraktion der SPD das
Wort.


Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1409315700
Herr Präsident! Verehrte Da-
men und Herren! Im Zentrum dieser Debatte steht der
Tschetschenienkonflikt. Ich möchte mich vor allem mit
der humanitären Situation und der menschenrechtlichen
Lage in der Krisenregion im Kaukasus und besonders in
Tschetschenien befassen sowie mit einigen politischen
Folgerungen, die daraus zu ziehen sind.

Durch die heftigen Kämpfe, die in Tschetschenien,
vor allem in Grosny, in einigen umliegenden Städten
und den Dörfern der Bergregionen des Kaukasus stattge-
funden haben und noch stattfinden, sind große Teile der
Zivilbevölkerung Tschetscheniens in Not und Elend ge-
kommen und als Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniens
und in die Nachbarrepubliken zerstreut worden.

Grosny ist total zerstört, die Stadt ist ein Trümmer-
feld. Als Mitglied einer Delegation der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates bin ich am vergan-
genen Wochenende an mehreren Stellen in Tschetsche-
nien und auch in der Innenstadt von Grosny gewesen.
Diese besteht nur noch aus Mauerresten, Ruinen,
Schuttbergen und Geschosskratern. Nur wenige Militär-
LKWs und Panzer fuhren durch diese Trümmerland-
schaft. Die Innenstadt ist weitgehend menschenleer.

Etwas außerhalb des Zentrums wurde aus Feldküchen
heißes Essen an ältere Leute, Frauen und Kinder verteilt,
die mit vielen Personen in den wenigen heil gebliebenen
Kellern und Räumen hausen. Sie dürfen ihr jeweiliges
Stadtviertel nicht verlassen. Etwa 12 000 bis 14 000
Menschen sollen sich unter diesen Bedingungen noch in
Grosny aufhalten.

Sammelpunkte für Flüchtlinge innerhalb Tschetsche-
niens gibt es in Sernovodsk, Argun und Gudermes. Es
soll sich um etwa 100 000 Flüchtlinge handeln. Die
Verantwortung für diese geschundene Bevölkerung fällt
in den Aufgabenbereich des russischen Ministeriums für
Notlagen, das sich um den Transport der vertriebenen
Personen und die Versorgung der Flüchtlinge in den La-
gern kümmern muss. Die Versorgung mit Nahrung, Un-
terkunft und medizinischer Hilfe für die innerhalb
Tschetscheniens Vertriebenen ist extrem prekär. Hier
muss der dringende Appell an die staatlichen russischen
Organe gerichtet werden, ihre humanitäre Hilfe zu ver-
stärken und internationale humanitäre Hilfe der dafür
zuständigen UN-Organisationen und von erfahrenen
Nichtregierungsorganisationen zuzulassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In einem von mir besuchten Krankenhaus in Argun wa-
ren Medikamente nur für absolute Notbehandlungen
verfügbar. Jede weitere Medizin muss von den Kranken
mitgebracht, das heißt zuvor auf lokalen Märkten ge-
kauft werden, wozu die meisten Patienten nicht in der
Lage sind. Da es grundsätzlich ein international verfüg-
bares medizinisches Hilfspotenzial gibt, kommt es
hauptsächlich auf die Erlaubnis durch die russischen

Michael Müller (Düsseldorf)







(A)



(B)



(C)



(D)


Behörden und natürlich auf die Sicherheitslage an, um
auch vor Ort Hilfe für die Patienten erbringen zu kön-
nen.

Der Großteil der Flüchtlinge ist allerdings aus Tsche-
tschenien in die Nachbarrepubliken Dagestan, Nordos-
setien und vor allem nach Inguschetien geflohen. Ingu-
schetien unterhält traditionell vielfältige und gute Kon-
takte nach Tschetschenien. Der inguschetische Präsi-
dent Aushev nannte uns die Zahl von 210 000 Flüchtlin-
gen, von denen circa 80 Prozent bei Verwandten oder
Bekannten untergekommen sind. Die verbleibenden cir-
ca 42 000 leben in drei Flüchtlingslagern. Dort sind sie
teils in Zelten, teils in Eisenbahnwaggons untergebracht.
Mit Unterstützung internationaler humanitärer Hilfsor-
ganisationen ist für registrierte Flüchtlinge die Grund-
versorgung mit Nahrung und Wasser sowie mit Unter-
kunft und Hygiene einigermaßen gesichert. Unter
schwierigsten Bedingungen leben allerdings nicht regist-
rierte Flüchtlinge. Auch für die von der lokalen Bevöl-
kerung aufgenommenen Flüchtlinge gibt es keine oder
nur unzureichende Unterstützung.

Am bedrückendsten ist die Perspektivlosigkeit der
Flüchtlinge, weil wegen der Zerstörungen eine Rückkehr
nach Grosny auch mittelfristig unmöglich sein wird.
Auch ist nicht erkennbar, dass die russischen Regie-
rungsstellen Vorstellungen darüber haben, wie es mit
den Flüchtlingen einmal weitergehen soll. Hier ist der
dringende Appell an die russischen Regierungsstellen zu
richten, in Zusammenarbeit mit den internationalen hu-
manitären Hilfsorganisationen Konzepte nicht nur für
eine kurzfristige Notversorgung zu erarbeiten, sondern
auch eine mittelfristige Perspektive für den Verbleib und
die Versorgung der Flüchtlinge und ihre gesicherte
Rückkehr nach Tschetschenien aufzuzeigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Internationale Unterstützung kann und muss es ge-
ben. Die Hauptverantwortung aber liegt bei der Russi-
schen Föderation, welche durch ihr gewaltsames Vor-
gehen in Tschetschenien, also gegen die eigene Bevöl-
kerung, Verursacher der humanitären Katastrophe gewe-
sen ist. Außer Frage steht allerdings auch, dass es nicht
akzeptable Akte der Gewalt auch durch die tsche-
tschenischen Kämpfer gegeben hat, zum Beispiel bei der
Anwendung des Scharia-Rechtes, durch Geiselnahmen
und durch den Einsatz von Zivilisten als menschliche
Schutzschilder.

Eng verknüpft mit der humanitären Notlage ist die
menschenrechtliche Situation in der Krisenregion in
und um Tschetschenien. Durch den unterschiedslosen
und unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt leidet in
besonderem Maße die Zivilbevölkerung. Das russische
Militär hat dabei das humanitäre Kriegsvölkerrecht, wie
es in den Zusatzprotokollen zum Genfer Rot-Kreuz-Ab-
kommen niedergelegt ist, und die UN-Resolutionen zum
Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten
aufs Schwerste missachtet. Berichte über Gewalttaten an
Zivilisten durch russisches Militär sind vor allem von
Human Rights Watch dokumentiert worden. Russische
Soldaten sollen Zivilisten willkürlich hingerichtet haben:

38 Menschen im grosnischen Stadtteil Staropro-
myslovski und 17 Menschen in der Nähe des Ortes Alk-
han-Yurt. Die internationale Gemeinschaft muss von
den staatlichen Organen Russlands verlangen, dass diese
von Zeugen gut dokumentierten Kriegsverbrechen un-
tersucht und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen
werden.


(Beifall im ganzen Hause)

Zu Menschenrechtsverletzungen kommt es insbeson-

dere immer dort, wo Menschen gefangen gehalten wer-
den. In der Region gibt es unter der Verantwortung des
russischen Justiz-, Innen- oder Verteidigungsmi-
nisteriums bzw. der Sicherheitsdienste wahrscheinlich
Einrichtungen, in denen Menschen inhaftiert sind.

Über das Schicksal der Menschen in diesen Gefäng-
nissen ist wenig bekannt. Ich hatte mit der Europaratsde-
legation in Tschetschenien Gelegenheit, das Gefängnis
in Tschernokosowo und in der örtlichen Polizeistation in
Naurskaya zu besuchen. Dort berichteten die Gefange-
nen, dass sie „angemessen“ behandelt würden. Sie be-
klagten lediglich, dass sie keinen Zugang zu Rechtsan-
wälten hätten. Hier muss allerdings bedacht werden,
dass diese Haftanstalten bereits vom Europäischen
Kommissar für Menschenrechte, von der Europäischen
Antifolterkommission und von Journalisten besucht
worden sind, sodass es sich um Vorzeigegefängnisse
nach potemkinschen Muster handeln könnte.

Nicht zuletzt wegen der starken internationalen Kritik
an den schweren Menschenrechtsverletzungen in der
Kaukasusregion ist vom amtierenden Präsidenten das
Amt eines speziellen Beauftragten für Menschenrech-
te und Freiheiten in Tschetschenien eingerichtet und
mit dem durchaus einflussreichen russischen Politiker
Wladimir Kalamanov besetzt worden ist. Dieser hat
nach eigenen Angaben bereits alle staatlichen Organe in
Russland aufgefordert, ihn über Zahl, Haftdauer und er-
hobene Anschuldigungen gegen alle in ihrem Bereich
inhaftierten Personen zu informieren. Er kündigte an,
dass er auch den von Nichtregierungsorganisationen
vorgetragenen Fällen von Menschenrechtsverletzungen
nachgehen wolle. Ob diese Aufgabe ernsthaft wahrge-
nommen wird, und ob die Schuldigen auch bestraft wer-
den, kann sich nicht durch Worte, Absichtserklärungen
und Planungen, sondern nur durch Taten erweisen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])


Der Europarat bemüht sich intensiv darum, einige
Experten als Beobachter im Büro des Menschenrechts-
beauftragten mitwirken zu lassen. Über das Mandat der
internationalen Beobachter wird allerdings noch verhan-
delt, da noch ungeklärt ist, ob und wie sie nicht nur dem
russischen Beauftragten, sondern auch selbstständig der
internationalen Öffentlichkeit berichten können. Auf
keinen Fall dürfen diese Leute in eine Strategie der Rus-
sischen Föderation eingebunden werden.

Viel politische Bemühung sollte darauf verwendet
werden, jene politischen Kräfte in der Duma und in der
Zivilgesellschaft der Russischen Föderation zu stärken,

Rudolf Bindig






(A)



(B)



(C)



(D)


die für die Beachtung der Menschenrechte in Russland
eintreten. In der Duma könnte und sollte ein besonderer
Ausschuss eingesetzt werden, der sich mit der humanitä-
ren und menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien
befasst. Wichtige Beiträge zur Aufklärung können auch
die vorhandenen Menschenrechtsorganisationen wie
Memorial und die Soldatenmütter erbringen. Gerade für
die Nichtregierungsorganisationen müssten allerdings
die Bedingungen geschaffen werden, in der Region
selbst tätig sein zu können.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Von einigen Parlamentariern des Europarates ist auch
der Vorschlag in die Diskussion gebracht worden, in
Russland ein nationales Komitee nach dem Vorbild der
Wahrheitskommission in Südafrika und entsprechenden
Kommissionen in einigen Ländern Zentral- und Süd-
amerikas einzusetzen. Dieser Vorschlag birgt jedoch ein
großes Problem in sich, weil bei einer solchen Kommis-
sion das Aufklärungsinteresse, also das Interesse an
Wahrheit, mit Vorstellungen von Versöhnung, Amnestie
und Straflosigkeit verbunden wird. Dazu bedarf es einer
zeitlichen Distanz zum Geschehen. In Tschetschenien
muss jedoch Aufklärung und zugleich eine Bestrafung
der Schuldigen gefordert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist dieses Modell wohl noch zu durchdenken.
Damit habe ich einige menschenrechtliche und hu-

manitäre Aspekte des Konfliktes dargestellt. Der Kolle-
ge Weisskirchen wird die übergreifenden außenpoliti-
schen Aspekte darstellen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409315800
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff.


Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1409315900
Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns
hier im Plenum des Deutschen Bundestages schon wie-
derholt mit dem Krieg in Tschetschenien beschäftigt, der
von russischer Seite mit großer Brutalität und ganz ge-
zielt gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Die Bun-
desregierung hat praktisch keine Möglichkeit gehabt,
politisch in den Konflikt einzugreifen oder auf die russi-
sche Kriegsführung Einfluss zu nehmen. Sie hat den rus-
sischen Machthabern wiederholt Gelegenheit geboten,
das auch öffentlich zu dokumentieren. Herr Außen-
minister, man kann geteilter Meinung sein, ob Ihre
Aufwartung in Moskau auf dem Höhepunkt der Kampf-
handlungen in Tschetschenien angemessen und hilfreich
war. Der Kreml hat diesen Krieg gezielt eskaliert und zu
Wahlkampfzwecken in den russischen Medien insze-
niert. Natürlich wurde auch Ihr Besuch für dieses Pro-
pagandaspektakel benutzt; Sie haben das in Kauf ge-

nommen. Der amtierende russische Präsident hat de-
monstrativ zur Schau gestellt, dass er sich in seiner
Tschetschenienpolitik überhaupt nicht beeinflussen lässt.

Sie haben nichts erreicht, Herr Außenminister. Wir
konnten das bei realistischer Betrachtung auch nicht an-
ders erwarten. Deshalb machen wir Ihnen auch keinen
Vorwurf. Das Problem der Bundesregierung ist vielmehr
der krasse Gegensatz zwischen ihrer öffentlichen Zu-
rückhaltung im Kaukasuskonflikt und ihren emotionali-
sierenden Auftritten im Balkankonflikt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie sind in Tschetschenien von Ihrer überzogenen
und martialischen Kosovorhetorik eingeholt worden. Im
Kosovokonflikt hatte der Außenminister Fischer wie-
derholt auf Auschwitz angespielt, ein unangemessener
Vergleich, der sich uns Deutschen verbietet. Im Koso-
vokonflikt hatte Minister Scharping in großer Erregung
Bilder von Gräueltaten an Zivilisten präsentiert – Bilder,
die es auch aus Tschetschenien gegeben hätte –, um sei-
ne moralische Betroffenheit und die Grausamkeit des
Krieges zu dokumentieren. Wir waren damals genauso
moralisch betroffen wie die Bundesregierung. Wir sind
in Grosny genauso moralisch betroffen wie in Sarajevo
und Pristina.

Herr Kollege Bindig, Ihr Augenzeugenbericht spricht
wahrlich eine deutliche und beeindruckende Sprache.
Aber – darin unterscheiden wir uns von manchen Kolle-
gen auf der linken Seite des Hauses – Betroffenheit
reicht eben nicht aus, um eine Außenpolitik zu gestalten,
die unseren Interessen und unserer Verantwortung ge-
recht wird.

Es war richtig und notwendig, im Kosovokonflikt
einzugreifen, auch militärisch, weil dieser Konflikt die
Stabilität Deutschlands beeinträchtigt hat: von den un-
mittelbaren Auswirkungen auf unsere Bündnispartner
und Nachbarn bis zu der Bedrohung unserer eigenen in-
neren Stabilität und dem Zustrom von Flüchtlingen nach
Deutschland.

In Tschetschenien war ein direktes Eingreifen der
deutschen Politik nicht nur nicht möglich, sondern auch
nicht zu verantworten, weil eine offene Konfrontation
mit Russland die Stabilität unseres Kontinents und
insbesondere die Stabilität Deutschlands beeinträchtigen
würde. Die Einbindung Russlands in die künftige euro-
päische Sicherheitsordnung ist ein vorrangiges strategi-
sches Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Un-
sere Russlandpolitik ist um so wirkungsvoller, je weni-
ger wir Dissonanzen und Interessenkonflikte öffentlich
inszenieren, erst recht, wenn es aus innenpolitischen
Motiven geschieht.

Tschetschenien ist ein Musterbeispiel dafür, dass die
Unterscheidung zwischen wertorientierter Außenpolitik
und interessenorientierter Außenpolitik einer politischen
Ideologie entspricht, aber nicht der politischen Wirk-
lichkeit. Zu unseren Interessen gegenüber Russland ge-
hört das klare Bekenntnis zu den Prinzipien von Demo-
kratie, Freiheit und Menschenrechten, selbstverständlich
auch in Tschetschenien.

Rudolf Bindig






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zu unseren Interessen gehören die diplomatische

Einbindung Russlands und der kontinuierliche Dialog
mit diesem schwierigen Nachbarn. Umgekehrt müssen
wir auch dem Interesse Russlands an einer Verankerung
in Europa und in internationalen Sicherheitsstrukturen
Rechnung tragen. Ausgrenzung und Isolierung sind kein
dauerhafter Beitrag zur Stabilität in Europa und in der
Welt, wie die jüngsten Beispiele zeigen.

Der Deutsche Bundestag muss noch intensiver als
bisher den Dialog mit der neuen Staatsduma suchen und
unseren Kollegen verdeutlichen, dass die Russische Fö-
deration Gefahr läuft, sich selbst außerhalb des europäi-
schen Fundamentes zu stellen und international zu iso-
lieren. Mit öffentlichen Appellen ist es nicht getan.

Die strategische Diskussion über die künftigen Be-
ziehungen zwischen der NATO und Russland, zwischen
der Europäischen Union und Russland hat für die deut-
sche Außenpolitik erste Priorität. Herr Außenminister,
zu dieser Diskussion hat die Bundesregierung bisher so
gut wie keinen Beitrag geleistet. Wir fordern Sie auf,
diese wichtige Debatte gemeinsam mit unseren Partnern
zu intensivieren und dazu eigene Vorschläge einzubrin-
gen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich an dieser Debat-
te konstruktiv beteiligen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409316000
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gebe ich nunmehr das Wort
dem Kollegen Lippelt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409316100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag,
den wir nach langem Zögern heute endlich verabschie-
den, kommt fast schon zu spät. Er ist fast ein Nachruf
auf die furchtbare Tragödie, die Herr Bindig eben ge-
schildert hat; eine Tragödie, für die neue Worte aus dem
„Wörterbuch des Unmenschen“ entstanden sind, wie
beispielsweise „Filtrationslager“, und wo wir auch auf
eigene Wörter zurückgreifen können, wenn wir Auf-
nahmen davon sehen oder vorgeführt bekommen, die
dann „potemkinsche Dörfer“ heißen, weil sie zwischen-
durch wieder umgemodelt wurden.

Wir müssen uns hier mit Tschetschenien auseinander
setzen, nicht weil wir gegen, sondern weil wir für ein
europäisches Russland sind, weil wir mit Russland das
europäische Haus bauen wollen, allerdings mit einem
Russland, das die Menschenrechte achtet, selbst wenn es
zur Wahrung seiner Integrität meint, gegen Separatisten
vorgehen zu müssen, und doch die Normen des humani-
tären Kriegsvölkerrechts achtet. All das geschieht nicht.

Vor vier Wochen – Sie haben Recht, Herr Schocken-
hoff – haben wir hierüber schon einmal diskutiert, frak-
tionsübergreifend. Ich habe dann festgestellt, dass Sie
auch da von der Kritik an der Rhetorik zur Zustimmung
in der Sache zurückkamen. Fraktionsübergreifend haben
wir die Reise des Außenministers für richtig gehalten.

Fraktionsübergreifend haben wir gefunden, dass er sie
richtig und gut durchgeführt hat. Trotzdem müssen wir
darüber intensiver und länger nachdenken, denn schon
die Folge der europäischen Reise, die von Moskau aus
gesehen – hier war erst der Anfang – fast den Eindruck
eines Wettlaufs zum Hofe von Herrn Putin machte, ist
mehr oder weniger eine massive Wahlkampfhilfe für ei-
nen Kandidaten geworden. Das muss man sehen. Da
muss man sich fragen: Ist das der Kandidat wirklich
wert? Da muss man dann ein bisschen genauer hinsehen.

Eines fällt inzwischen auf und wird immer deutlicher:
Der amtierende Präsident sagt zu allen das, was sie hö-
ren wollen. Er ist darin sehr geschickt. Er sagt sehr ge-
nau abgestimmt den Europäern das, was sie hören wol-
len, nach innen aber sagt er etwas ganz anderes. Das ist
der Unterschied zwischen Worten und Taten. Das bedarf
einer Analyse. Schon in den Worten tauchen solche Wi-
dersprüche auf, wie in dem Brief an die Wähler, in dem
er von der Notwendigkeit, die „Diktatur des Rechts“
durchsetzen zu müssen, schreibt. Wir alle fragen uns:
Dürfen wir uns nun die Hoffnungen auf die Entwicklung
eines russischen Rechtsstaates machen oder müssen wir
vor der Diktatur Angst haben?

Deshalb werden an Tschetschenien nicht nur die Tra-
gödie und die Zerstörung eines Volkes deutlich, es wird
auch sehr deutlich, dass es geradezu ein Lackmustest ist
für die Entwicklung russischer Innenpolitik und die Fra-
ge, wohin Russland geht. Das hat schon mit der Presse-
freiheit zu tun.

Am Dienstag voriger Woche hat auf einer Pressekon-
ferenz der beste russische Tschetschenienkenner, der
Journalist Babitzky, unter dem Schutz des PEN-Clubs
erzählt, wieso und wo er drei Monate verschütt gegan-
gen ist. Zuerst – das wussten wir ja – ist er von den Ge-
nerälen festgenommen worden, weil er zu viel über die
Kriegsführung wusste. Dann ist er aber in einer dramati-
schen Aktion an tschetschenische Freunde ausgeliefert
worden. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass
es keine tschetschenischen Freunde waren, sondern dass
es der FSB war, der mit tschetschenischen Kollaborateu-
ren kooperierte. Die konnten ihn allerdings so unterbrin-
gen, dass er für eine ganze Zeit von der Bildfläche ver-
schwunden war.
Das heißt, wenn wir über Tschetschenien sprechen, dann
müssen wir über einen Raum sprechen, in dem früher
schreckliche Dinge geschehen sind. Ich muss das nicht
wiederholen. Über all das Negative der Tschetschenen –
Scharia, Geiselhandel und anderes – haben wir viel ge-
sprochen.

Wir müssen jetzt in der nachträglichen Betrachtung
intensiver über Russland reden. Wir müssen uns natür-
lich damit beschäftigen, dass es noch nie eine so massi-
ve Informationsblockade wie in diesem zweiten Tsche-
tschenienkrieg gegeben hat, dass diese Informationsblo-
ckade durchbrochen werden muss, wie es der Europarat
jetzt tut.

Ich hoffe allerdings, dass die beiden Personen, die un-
ter dem Schutz von Kalamanov dorthin können, vor al-
lem dem Europarat berichten werden. Ich hoffe, dass sie
nicht etwa nur auf dem Weg über Kalamanov infor-

Dr. Andreas Schockenhoff






(A)



(B)



(C)



(D)


mieren. Wenn das so wäre, dann sollten wir sie nicht
hinschicken. Die Klärung dieser Fragen steht dringend
an.

Ich sage etwas zum Gespräch mit den Duma-
Abgeordneten. Ich habe vor kurzem eine ganze Woche
lang mit Duma-Abgeordneten gesprochen. Es gab wel-
che, die in Tschernokosovo, in diesem schrecklichen
„Filtrationslager“, waren. Sie haben mir diesen Ort wie
ein Sanatorium geschildert. Wenn einem das widerfah-
ren ist, dann kommt man dahinter, dass ein tapferer, mu-
tiger russischer Journalist herausgefunden hat, dass die
Gefolterten und Gebrochenen in Tschernokosovo in ei-
nen Güterzug gepackt worden sind, der auf dem Ab-
stellgleis bei Piatigorsk steht.

Die Informationsblockade in diesem Fall ist massiv,
sodass selbst Duma-Abgeordnete einem ganz glaubwür-
dig erzählen, wie schön die Verhältnisse und wie weiß
die Kittel der Ärzte sind. Vom FSB ist ein potemkin-
sches Dorf gebaut worden, und unsere Gesprächspartner
fallen darauf herein. Das ist alles gar nicht so einfach.

Wir haben erfahren, dass eine der in Russland be-
kanntesten Eliteeinheiten, die Fallschirmjäger von
Pskor, beim Eindringen in das Argun-Tal erleben muss-
te, dass von 90 nur sechs Fallschirmjäger übrig ge-
blieben sind. Es war wiederum Babitzky, der die Nach-
richt als Erster überbrachte; deshalb ließ es sich nicht
länger verheimlichen. Das heißt, wir erleben im Moment
den Übergang in einen Guerillakrieg. Gleichzeitig haben
wir erlebt, dass es auch innerhalb des so genannten be-
friedeten Tschetscheniens Guerilla-Aktionen gegeben
hat. Wir stehen also an einem ganz wichtigen Wende-
punkt in diesem Krieg, der nicht so bald zu Ende geht.

Umso wichtiger wird es sein, dass Russland von der
falschen Vorstellung, eine Großmacht dürfe auf ihrem
Territorium keinen Einblick von außen nehmen lassen,
abgeht. Russland muss begreifen, dass das Eingeständ-
nis von Schwierigkeiten keine Schande ist, sondern dass
es geradezu ein Merkmal europäischer Politik ist. Russ-
land, das uns bei der Beendigung des Kosovokrieges ge-
holfen hat, muss lernen, dass ihm genauso durch Ver-
mittlung europäisch geholfen werden könnte und sollte.

Wenn das aber geschieht, dann muss dieser ganze
graue Schleier, der vom FSB und vom Militär über
Tschetschenien ausgebreitet wird, wirklich zerstört wer-
den. Es gilt für Russland, sich darüber im Europarat und
auch mit der OSZE zu einigen. Es geht darum, Russland
zu sagen, dass es zum Kriterium europäischen Verhal-
tens gehört, Hilfe von Freunden auch anzunehmen, so-
dass wir bei der Beendigung des Krieges mithelfen kön-
nen und wenigstens noch ein paar Menschen gerettet
werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409316200
Ich gebe dem Kol-
legen Ulrich Irmer für die F.D.P.-Fraktion das Wort.


Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1409316300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Kollege Lippelt hat die Meinung ver-

treten, bei dem Antrag, über den wir heute beschließen,
handele es sich wegen des Zeitablaufs fast schon um ei-
nen Nachruf auf eine Tragödie. Ich fürchte, er hat Un-
recht; denn wenn ich es richtig einschätze, dann werden
sich die Kämpfe, und sei es als Guerillakrieg, über
Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Das Thema
Tschetschenien wird uns in den Gremien der westlichen
Länder weiterhin beschäftigen, auch wenn es vielleicht
nicht die Schlagzeilen beherrschen wird. Ich fürchte, es
wird so sein. Ich fürchte weiter, dass Tschetschenien
möglicherweise – wenn wir die Russische Föderation
betrachten – nur die Spitze eines Eisbergs sein könnte,
denn wir haben es bei der Russischen Föderation ja mit
einem Vielvölkerstaat zu tun, in dem es brodelt und gärt
und in dem sich viele Völker durch die russische Vor-
herrschaft bevormundet fühlen. Es wäre also gut, wenn
man sich rechtzeitig darauf einstellte, dass es in diesem
Riesenreich auch an anderen Stellen zu Schwierigkeiten,
zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte.

Wir sind uns alle darüber einig, dass wir Russland
nicht isolieren dürfen – wir sind auf Russland angewie-
sen, aber genauso ist Russland auf uns angewiesen –,
und zwar im Interesse eines gesamteuropäischen Frie-
dens und gesamteuropäischer Sicherheitsperspektiven.

Russland ist ja nicht nur Atommacht, es ist nicht nur
nach wie vor eine Großmacht, sondern es ist auch – wir
haben immer wieder gemerkt, wie wichtig das ist – eines
der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Ver-
einten Nationen. Wir haben im Falle Kosovo schmerz-
lich erfahren, wie lähmend sich dies auf die internationa-
le Handlungsfähigkeit auswirken kann, wir haben zum
Schluss aber auch erfahren, wie konstruktiv Russland
dann handeln kann, wenn man es einzubinden versucht
und an seine Verantwortung appelliert.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Insgesamt ist es außerordentlich schwierig, mit einem
Land wie Russland angemessen umzugehen. Wie be-
handelt man ein solches Land? Auch ich bin der Mei-
nung, Herr Bundesaußenminister, dass es richtig war,
dass Sie zu Putin gereist sind. Ebenso bin ich mit Ihnen
der Meinung, dass es relativ wenig Sinn machen würde,
an das Verhängen von Wirtschaftssanktionen gegen
Russland zu denken. Ich halte es aber für falsch, dass
Sie in öffentlichen Erklärungen von vornherein gesagt
haben, Sanktionen kämen nicht in Frage.


(Beifall bei der F.D.P.)

Man begibt sich damit einer möglichen Waffe. Sanktio-
nen sind immer nur so lange wirksam, wie man mit ih-
nen drohen kann. In dem Moment, in dem man sie an-
wendet, verlieren sie ihre Wirkung. Deshalb ist es
falsch, diese Waffe aus der Hand zu geben und von
vornherein zu erklären, Sanktionen kämen nicht in Fra-
ge.


(Beifall bei der F.D.P.)

Außerdem möchte ich Sie an dieser Stelle noch ein-

mal auf das eigentlich Schlimme hinweisen, das mir
immer wieder auffällt. Das ist dieser himmelweite Ab-

Dr. Helmut Lippelt






(A)



(B)



(C)



(D)


Abgrund, der sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit
auftut. Ich will gar nicht so hämisch sein, Ihnen hier Zi-
tate aus der Zeit des ersten Tschetschenienkriegs vorzu-
halten, als Sie von dem entsprechenden Rednerpult in
Bonn aus die damalige Bundesregierung attackiert ha-
ben. Da war die Wendung „Wandel durch Anbiederung“
noch eine der vornehmeren Formulierungen; man hat
damals auch viel Härteres gehört. Ich bin ja froh, Herr
Fischer, dass Sie jetzt der harten Realität ausgesetzt sind
und endlich einmal als Politiker, der verantwortlich han-
deln muss, sehen, wie schwierig und unausweichlich so
etwas in manchen Fällen ist.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie merken eben jetzt plötzlich, dass es mit verbalen
Bekundungen nicht mehr getan ist.

In Ihrer Partei, die ja insgesamt das Organigramm der
Gutmenschen bildet, ist ja die Sparte der Fernethiker
ganz besonders stark ausgeprägt.


(Heiterkeit bei der F.D.P. – Rudolf Bindig [SPD]: Lassen Sie das doch!)


Sie werden es auf Ihrem Parteitag am kommenden Wo-
chenende wieder erleben, dass Sie Prügel für Dinge be-
ziehen werden, die Sie wahrscheinlich gar nicht anders
tun konnten. Aber ich sage es noch einmal: Diese Dis-
krepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist er-
schreckend. Davon müssen Sie herunter kommen.

Wir stehen auf Ihrer Seite, wenn Sie uns erklären,
dass man aus Gründen des Pragmatismus und um Russ-
land nicht zu isolieren bestimmte Dinge eben einfach
nicht tun kann. Dann soll man sich aber bitte auch der
hochtrabenden Rhetorik enthalten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die beiden Anträge beziehen sich auf den Gipfel von
Helsinki. Die Bundesregierung sollte aufgefordert wer-
den, dafür zu sorgen, dass Russland verurteilt würde,
dass auf Russland Einfluss genommen würde. Dazu ist
von dem Gipfel auch eine harte Erklärung herausgege-
ben worden. Aber geschehen ist nachher nichts!

Wenn man seine eigene Machtlosigkeit noch in aller
Öffentlichkeit dokumentieren will, dann tut man das na-
türlich auf die Weise, dass man erst große Worte findet
und nachher einräumt: Ja, ja, weil das mit Russland alles
so schwierig ist, konnten wir leider nichts tun.

Was Sie aber jetzt tun können und wozu ich Sie auf-
fordere, ist, dass Sie, zusammen mit den anderen Euro-
päern und mit Herrn Solana, den Versuch unternehmen,
eine gemeinsame Aktion der Europäischen Union in
die Wege zu leiten, wie man auf Russland zugeht und
mit Russland zusammen versucht, das, was es in Tschet-
schenien an Problemen gibt, zu lösen, und wie man viel-
leicht mit Russland gemeinsam Konflikt verhütende
Strategien entwickelt und überlegt, wie sich Europa ver-
halten soll, wenn in anderen Gegenden der Russischen
Föderation Auseinandersetzungen aufbrechen sollten.

Ich erwarte von der Bundesregierung auch, dass sie
jetzt massiv darauf drängt, dass die Zusagen eingehalten
werden, die Russland, die Präsident Putin zum Beispiel
gegenüber dem Europarat gemacht hat, dass er nämlich
eine ständige Beobachtermission in Tschetschenien
zulässt. Meines Wissens ist das noch nicht geschehen.
Der Kollege Bindig hat ja im Übrigen in eindrucksvoller
Weise nicht nur die Lage geschildert, sondern auch ge-
sagt, was zur Bewältigung der schwierigsten Menschen-
rechtsprobleme jetzt dort geschehen müsste.


(Beifall bei der F.D.P . sowie des Abg. Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU])


Die Vorwürfe an die Bundesregierung hinsichtlich ih-
res Verhaltens in der Tschetschenienfrage halten sich –
auch Kollege Schockenhoff hat das gesagt – in Grenzen.
Wir sind hier moderat und zurückhaltend. Aber wir sa-
gen noch einmal: Wir erwarten, dass die Kluft zwischen
Anspruch und Wirklichkeit verkleinert wird. Bitte ver-
sprechen Sie in Zukunft nur noch das, was Sie auch
wirklich einhalten können.

Vielleicht hilft es ja, Herr Fischer, dass Sie sich jetzt
aus der inoffiziellen Führung Ihrer Partei etwas zurück-
ziehen wollen. Ich habe heute früh in der Zeitung gele-
sen, dass Sie mit der Partei eigentlich nichts mehr zu tun
haben wollen. Ich verstehe das ganz genau, ich fühle mit
Ihnen. Auch ich möchte mit dieser Partei nichts zu tun
haben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409316400
Für die Fraktion der
PDS spricht nun der Kollege Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409316500
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist und es bleibt bitter,
hier im Parlament und anderswo gegen Kriege zu reden
und sich zugleich der Grenzen der eigenen Einwirkung
bewusst zu sein. Trotzdem: Angesichts vernichteter
Städte und leidender Menschen, angesichts von Not,
Hunger und Flüchtlingselend ist Schweigen unmoralisch
und ein deutliches Nein dieses Parlamentes nötig und
letztlich auch nicht vergeblich.


(Beifall bei der PDS)

Ich werde mich nicht damit abfinden, dass Krieg

mittlerweile zur Ultima Ratio erklärt wird, weder wenn
dies die russische Regierung mit dem Hinweis auf Ter-
roristenbekämpfung tut noch wenn dies vonseiten der
NATO mit dem Wort „Menschenrechte“ begründet
wird. Krieg und Vernunft sind einander ausschließende
Begriffe.

Russland versucht nach eigenem Bekunden in einer
scheinbar alternativlosen Situation die Souveränität über
Tschetschenien mit massivem militärischen Einsatz ge-
gen Abtrennungsversuche zu erhalten. Ich halte, wenn
man darüber nachdenkt, das Ziel, einen drohenden Zer-
fall Russlands zu stoppen, für legitim. Die Mittel indes
lehne ich kategorisch ab. Sie sind völkerrechtswidrig.

Ulrich Irmer






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei der PDS)

Ich verstehe, dass Russland Sorge um seine Sicher-

heit hat, dass auch die Fragen aufzuwerfen sind, wer
denn die Rebellen in Tschetschenien finanziert und aus-
rüstet oder wessen und welche Interessen in der Region
aufeinander stoßen. All das darf nicht außer Acht gelas-
sen werden. Aber kein Argument rechtfertigt es, ein
Land zu verwüsten, es in die Steinzeit zurückzubomben,
Flüchtlingselend und Übergriffe der geschilderten Art
und Weise zuzulassen.


(Beifall bei der PDS)

Der entscheidende, tragische Punkt ist, dass auch die-

ser Krieg die Probleme Russlands nicht lösen wird. Die-
ser Krieg wird noch nicht einmal die Voraussetzungen
für die Lösung der Probleme schaffen. Die Ausgangssi-
tuation verschlechtert sich eher dramatisch, auch im
Vergleich zum ersten Krieg in Tschetschenien. Russland
zahlt einen hohen Preis für diesen Krieg: Innenpolitisch,
demokratisch, sozial und auch in der Außenpolitik.

Wir werden heute über zwei Anträge zu entscheiden
haben, über einen Antrag der PDS-Fraktion und einen
der Regierungskoalition plus F.D.P. Ich finde unseren
natürlich besser, ist er auch.


(Rudolf Bindig [SPD]: Nein! Sie gebrauchen starke Worte und machen weiche Vorschläge! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Wir bekommen ja, auch wenn wir in der Sache über-
einstimmen, aufgrund mancher bornierter Haltung noch
nicht einmal hin, auch nur die Uhrzeit gemeinsam zu un-
terschreiben. Das haben Sie mir ein paar Mal gesagt,
was ich immer bedaure.

Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Bundes-
regierung neben vielem Richtigen – deswegen kann man
ihm auch zustimmen – für ihr außenpolitisches Engage-
ment bei der Einflussnahme auf Russland gelobt. Ich
möchte die Frage aufwerfen, ob es wirklich Anlass für
ein solches Lob gibt. Ich hatte angesichts der breit ge-
tragenen gesellschaftlichen und parlamentarischen Zu-
stimmung in Russland zu Putins harter Haltung keine
übertriebenen Erwartungen an die Einwirkungsmöglich-
keiten deutscher Politik im Rahmen der Reise des Au-
ßenministers nach Moskau; ich habe das hier bereits
ausgeführt.

Aber ich halte es – das will ich hier betonen – für ei-
nen unglaublichen Vorgang, der die Glaubwürdigkeit
der Bundesregierung mehr als nur infrage stellt, wenn
der deutsche Verteidigungsminister Ende Februar dieses
Jahres in Moskau – kurz nach der Übertragung der
schrecklichen Bilder aus Grosny und aus den Flücht-
lingslagern – eine Zusammenarbeit zwischen der russi-
schen Armee und der Bundeswehr in 33 Projekten ver-
einbart, unter anderem auch bei der Ausbildung von
Soldaten. Der Presse war zu entnehmen, dass der russi-
sche Marschall Sergejew auf die Frage, ob Scharping
das Problem Tschetschenien angesprochen habe, betont
eindeutig antwortete, über „innere Angelegenheiten
Russlands“ sei nicht gesprochen worden. Wie nennt man
das – der Verteidigungsminister ist leider nicht anwe-
send –: unterlassene Hilfeleistung? Ermutigung? Weg-

schauen? Heuchelei? Oder welchen Begriff kann man
dafür verwenden? In einer Situation, in der Grosny so
zerstört wird, wie Sie es hier geschildert haben, verein-
bart der Verteidigungsminister eine Zusammenarbeit mit
der russischen Armee! Wie nennen Sie das? Das möchte
ich hier erklärt haben.


(Beifall bei der PDS)

Der Außenminister spricht von Menschenrechten und
der Verteidigungsminister von militärischer Zusammen-
arbeit – zur gleichen Zeit.

Ich habe mich hier in diesem Hause immer gegen die
Ausgrenzung Russlands gewandt. Ich verteidige die Zu-
sammenarbeit und den Dialog mit Russland; dafür
gibt es viele Felder. Aber muss es ausgerechnet der mili-
tärische Bereich sein, in dem diese Zusammenarbeit
konkret entwickelt wird? Ich kenne viele Felder, auf de-
nen dies dringender notwendig wäre.


(Beifall bei der PDS)

Krieg ist kein Mittel der Politik, auch kein letztrangi-

ges, und wird es auch nicht sein. Krieg ist immer ein
Versagen der Politik. Krieg – im Kaukasus und anders-
wo – ist aber immer auch Kampf um Macht und Macht-
anspruch und die Verteidigung von Ressourcen, geostra-
tegischen Interessen und Ansprüchen. Ob es Ihnen ge-
fällt oder nicht, ich will es auch hier aussprechen: Der
NATO-Krieg gegen Jugoslawien war der Freifahrtschein
für den zweiten Tschetschenienkrieg. Ich glaube, auch
das kann man mittlerweile beweisen.

Dem durch besonnene Politik vorzubeugen und ent-
gegenzuwirken müsste Aufgabe deutscher Politik sein.
Wir müssen das ernst zu nehmende Interesse verdeutli-
chen, dass wir Gleichgewicht und Stabilität für Russ-
land befürworten und dass uns an einer Zusammenarbeit
mit Russland viel liegt, dass wir sie für wichtig halten.
Das müssen wir dokumentieren; das muss eindeutig
sein. Deswegen müssen auch die Signale eindeutig sein.
Zu allem, was Russland in Richtung Demokratie und
Modernisierung führt, ist Ja zu sagen. Alles, was dazu
geeignet ist, zu glauben, man könne sich mit dem Tsche-
tschenienkrieg abfinden, muss von uns deutlich kritisiert
und abgelehnt werden. Ich möchte, dass Sie sich dazu
erklären, was der Verteidigungsminister in Moskau ver-
einbart hat.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409316600
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Christian Schmidt.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1409316700
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg
ist zu sagen: Wir stimmen der Beschlussempfehlung
zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. auf Drucksa-
che 14/2279 zu, aber nicht deswegen, Herr Kollege
Lippelt, weil das Verfahren, mit dem dieser Antrag da-
mals eingebracht worden ist, besonders glücklich gewe-
sen ist. Das sind zwar nur formale Aspekte; sie sind
aber, parlamentarisch gesehen, durchaus von Bedeutung.

Wolfgang Gehrcke






(A)



(B)



(C)



(D)


Darüber sollten wir uns noch einmal gesondert unterhal-
ten.

Inhaltlich müssen wir aber – gerade unter dem Ein-
druck des Berichts des Kollegen Bindig; das will ich
ausdrücklich unterstreichen – trotz mancher Punkte,
über die wir streiten könnten, feststellen: Dieses Haus ist
verpflichtet, gemeinsam eine klare Botschaft auszuspre-
chen, und zwar in dem Sinne, dass dieser Krieg, dieser
Konflikt weder in der Art und Weise, wie er geführt
worden ist und noch geführt wird, noch vom Anlass, von
der Ursache her ein akzeptabler Weg für ein Mitglied
des Europarates ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Russland ist Mitglied des Europarates und damit der eu-
ropäischen Völkergemeinschaft und hat sich deswegen –
das wissen wir und hören wir jeden Tag – einer ver-
schärften Beobachtung zu unterziehen.

Wir haben hier bereits in den vergangenen Wochen
darüber diskutiert, wie es mit diesem Krieg weitergehen
wird. Ich habe in der letzten Debatte gesagt, dass er
möglicherweise nicht auf Tschetschenien beschränkt
bleiben wird, sondern in die Russische Föderation hi-
neingetragen wird, was ich nicht hoffe, dorthin also, von
wo er aus Sicht mancher seinen Ausgang genommen
hat. Wenn nicht kluge politische Schritte unternommen
werden, um den Konflikt dort zu befrieden, wo er ge-
genwärtig schwelt, und zwar auf dramatische Weise,
dann ist dies nicht auszuschließen.

Wir sollten das als Anlass für einen sehr ernsten Dia-
log mit Russland nehmen. Es stimmt mich doch sorgen-
voll, dass wir uns so konturenlos gezeigt haben. Herr
Fischer, Sie kommen einfach nicht daran vorbei – ich
habe es schon wiederholt gesagt –: Realpolitik zu
betreiben ist das eine, zu deklamieren im Sinne von
Menschenrechten das andere. Es ist notwendig, Kontu-
ren auch in den Bereichen zu zeigen, in denen es um
Realpolitik geht. Realpolitik bedeutet nicht platte Poli-
tik, sondern heißt, Ziele verwirklichen zu wollen.

Um welche Ziele geht es? Welche Ziele haben wir?
Wir haben im Verhältnis zu Russland viele Interessen.
Wir müssen uns allerdings entscheiden, ob wir eine Ein-
dämmung russischer Politik oder eine Kooperation mit
russischer Politik wollen. Wenn wir eine Kooperation
mit russischer Politik wollen, dann bedarf es gewisser
Voraussetzungen auf russischer Seite – darüber ist ge-
sprochen worden –: Dazu gehört ein Verhalten, das ge-
rade in Tschetschenien nicht gezeigt worden ist. Dazu
gehört die Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung und
auch – allerdings nur in diesem Rahmen – die Aner-
kenntnis berechtigter sicherheitspolitischer Interessen.

Ich zucke immer etwas zusammen, wenn die Begrün-
dung für den Tschetschenienkrieg mit dem Satz beginnt,
man habe Verständnis für Terroristenbekämpfung. Ge-
rade aus manchen Mündern klingt das schal und hohl.
Ich glaube aber, dass hier die Dimensionen verschoben
werden. Um Sicherheitsinteressen jenseits der Terroris-
tenbekämpfung, über die geredet werden müsste, han-
delt es sich dann, wenn man den Blick auf die südliche

Peripherie Russlands lenkt, auf Zentralasien. Ich glaube
in der Tat, dass wir hier in der Lage wären, dortige Inte-
ressen mit unseren zu verknüpfen.

Herr Fischer, Sie haben auf der Mitgliederversamm-
lung der DGAP – ich glaube, das war im November letz-
ten Jahres – gesagt, erzwingen könne man gegenüber ei-
ner atomaren Großmacht nichts. Das ist richtig; dem
stimme ich zu. Aber man kann die eigene Interessenlage
einbringen, um ein Verhalten einzufordern und mögli-
cherweise durchzusetzen. Darüber hinaus kann man
vielleicht auch klarmachen, Herr Lippelt, dass vermeint-
lich interne Angelegenheiten in Form einer bewaffneten
Auseinandersetzung in der Föderation eben keine in-
ternen Angelegenheiten sind, wenn sie den Frieden de-
stabilisieren, Menschenrechte verletzen und deswegen
auch unsere Interessen betreffen.

Wenn man Russland eine Verantwortung für die eu-
ropäische Stabilität unterstellen will, dann müssen wir
gemeinsam mit Russland eine offene Sprache sprechen
und unseren Fundus an Interessen, Argumenten und An-
geboten gegenüber Russland formulieren und darlegen.
Ich bin mir nicht sicher, ob das stattgefunden hat.

Putin hat umgekehrt als eine seiner ersten Amtshand-
lungen ein neues Sicherheitskonzept in Kraft gesetzt.
Das hat uns aufhorchen lassen, zum Beispiel weil darin,
bezogen auf den Stellenwert der Nuklearkräfte, nicht nur
Unbedenkliches steht. Allerdings glaube ich, dass gera-
de das ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch mit
Putin sein kann. Die strategischen Fragen der Part-
nerschaft, die von den Europäern in ihrem eigenen Inte-
resse definiert werden müssen, sind, soweit ich es sehe,
nicht vorgetragen worden, weder bei den Wasserstunden
im Kreml noch bei den Teestunden in Sankt Petersburg.

Wenn wir über diese Fragen nur reden und gleichzei-
tig hören, dass unsere amerikanischen Partner bereits
fleißig über Fragen verhandeln – Herr Außenminister,
Sie können in diesem Hause anschließend noch einmal
darlegen, dass es anders ist, ich höre gerne zu, aber bis-
her habe ich keinerlei Informationen darüber, ganz im
Gegenteil –, die sich beispielsweise mit dem verknüp-
fen, was die strategische Sicherheit an der südlichen Pe-
ripherie Russlands betrifft, dann wird klar: Das ist offen-
sichtlich gegenwärtig wieder eine nahezu ausschließlich
russisch-amerikanische Angelegenheit. Das kann nicht
richtig sein. Hier gibt es eine Anforderung an die Euro-
päer zu definieren, welche Form der gemeinsamen Poli-
tik sie in dieser Frage führen wollen. Helsinki hat eine
Deklaration gebracht, aber die nachfolgende gemeinsa-
me politische Strategie gegenüber Russland vermisse
ich.

Im Rahmen der zukünftigen Kooperation – ich nenne
das Wort „Kooperation“ im Zusammenhang mit der Kri-
senbewältigung in den „hot spots“ Europas und Zentral-
asiens – können die Interessen legitim, vernünftig und
maßvoll miteinander verflochten werden. Das ist und
muss das Ziel unserer Politik sein.

Wir stimmen diesem Antrag nicht deswegen zu, weil
all dies darin enthalten ist, sondern weil, darauf aufbau-
end, die Perspektive dahin entwickelt werden muss. Es

Christian Schmidt (Fürth)







(A)



(B)



(C)



(D)


ist Ihre Aufgabe, das in der Europäischen Union in die
Realität umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409316800
Nun spricht der
Kollege Professor Gert Weisskirchen für die SPD-
Fraktion.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1409316900
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber
Kollege Christian Schmidt, ich glaube, dass wir uns in
einem Punkt vielleicht sogar noch „einiger“ sind, als Sie
das hier beschrieben haben.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Vorsicht!)


Kooperation mit Russland ja, aber sogar noch mehr.
Was wir wirklich wollen, ist, dass ein demokratisches
Russland in Europa einen festen, unverrückbaren Platz
findet. Das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam erfüllen
müssen.

In zehn Tagen – so hoffe ich jedenfalls – wird Herr
Putin wohl zum Präsidenten gewählt werden. Er hat
jetzt eine Duma zur Seite, die so zusammengesetzt ist,
dass er – anders als sein Vorgänger im Amt des Präsi-
denten, anders als Boris Jelzin – die Chance hat, das,
was er politisch will, auch gemeinsam mit der Duma
durchzusetzen. Zum ersten Mal also, seit es eine neue
Demokratie in Russland gibt, besteht die Chance, dass
Präsident und Parlament gemeinsam auf das gleiche Ziel
hinsteuern und dies auch in die gesellschaftliche Realität
umsetzen werden.

Wenn ich von gesellschaftlicher Realität spreche,
möchte ich hier heute jemanden begrüßen, Zoran
Djindjic, der dafür sorgen wird – so hoffen wir jeden-
falls –, dass die gesellschaftliche Realität an einer ande-
ren Stelle in Südosteuropa, in Jugoslawien, endlich so
verändert wird, dass Demokratie auch in jenem Teil Eu-
ropas den Platz findet, der Jugoslawien angemessen ist.
Ich hoffe, Zoran Djindjic, dass Sie die Gelegenheit ha-
ben, das, was Sie wollen, in Ihrem Land auch durchzu-
setzen. Wir wünschen Ihnen alles Gute dabei.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Boris Jelzin hat vor zehn Jahren gesagt:
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass einem Volk,
das über andere herrscht, kein Glück beschieden
sein kann.

Das hat er zu Beginn jener schrecklichen Auseinander-
setzungen, fünf Jahre später und jetzt wieder gesagt.
Was für ein Krieg findet in Tschetschenien statt? Ist es
ein Krieg gegen Verbrecher, die eine ganze Republik er-
obert haben, ein Subjekt der Russischen Föderation, wie
Wladimir Putin in seinem offenen Brief – er ist zitiert
worden – an die Wähler Russlands schreibt? Ist es ein
Krieg gegen ein ganzes Volk, wie die, die sich Frei-
heitskämpfer nennen, behaupten? Verteidigt Russland

Europa – wie manche uns in der Administration in
Moskau glauben machen wollen – gegen terroristischen
Islamismus? Ist der Krieg ein Zeichen des Zerfalls eines
Kolonialreiches, vergleichbar mit dem Algerienkrieg,
den Frankreich nicht mehr hat gewinnen können, weil
ein militärischer Sieg damals das Recht auf Selbstbe-
stimmung vernichtet hätte? Ist es ein Krieg Putins, wie
Sergej Kowaljow eben noch einmal geschrieben hat? Ist
er, der amtierende Präsident, ein Getriebener? Voll-
streckt er, was andere vor ihm geplant, wozu ihnen aber
selbst die Kraft ausgegangen war? Ist der zweite Tschet-
schenienkrieg im letzten Herbst allein Revanche für die
Schmach, unter der die Militärs seit dem Ende des ersten
Kriegs in den 90er-Jahren leiden?

Sieht nicht derjenige, der heute durch die Ruinen
Grosnys geht – Kollege Bindig hat es einfühlsam be-
schrieben –, in den Ruinen die stummen Zeugen all der
Demütigungen, durch die Russland, die einstige Super-
macht, seit dem inneren Sturz gegangen ist? Warum nur
ist Tschetschenien die Fläche, auf die sich alle Ängste,
zumal die, die von den Risiken der Transformation aus-
gehen, projizieren? Warum nur haben – auch das muss
gesagt werden – Tschetschenen Vorwände dafür gelie-
fert und Tatsachen geschaffen, leider durch Verbrechen?
Sie sind zu Projektionsflächen geworden, in denen sich
Ängste brechen. Sind nicht auch die, die dazu beigetra-
gen haben, Gefangene im kaukasischen Kreis der Ge-
walt?

Das alles sind Fragen, die wir gern unseren Kollegen
der Duma stellen würden. Wir wissen aber auch, wie die
Antworten lauten würden, die sie uns gäben. Sie weisen
diese Fragen alle zurück. Sie sind nicht bereit, Antwor-
ten auf diese Fragen zu geben, von denen wir erhoffen,
dass aus ihnen neue Logiken entstehen könnten, dass
endlich die Chance genutzt würde, sich aus der militäri-
schen Logik zu befreien, damit die zivile Logik endlich
wieder ihren Platz finden kann. Das ist die Situation, in
der sich Russland gegenwärtig befindet.

Meine Angst ist, dass Putin die Prägekraft, die er mit
seinem Sieg in zehn Tagen erzielen wird – die Duma
wird ihm zur Seite stehen –, nicht so nutzen kann, dass
die neue Zeit durch Zivilität geprägt sein wird, sondern
weiterhin Gewalt und Militär vorherrschen. Ich hatte
gehofft, dass wir uns von der Logik des vergangenen
Jahrhunderts befreit hätten. Ich wünsche mir sehr, dass
wir, soweit es für uns als Parlamentarier in unserer Mög-
lichkeit steht, mit dafür sorgen können – die Regierung
hat in diesem Punkt eine andere Aufgabe –, dass die
Kolleginnen und Kollegen in der Duma, dass also dieje-
nigen, die in ihrem eigenen Land die politische Verant-
wortung tragen, mit uns gemeinsam dazu beitragen, dass
Russland seinen Platz im gemeinsamen Europa, in dem
wir leben, finden kann. Ich hoffe, dass uns dies gelingen
wird. Keiner kann uns sagen, ob das möglich ist.

Werden diejenigen, die Zeugnis geben können –
Soldaten und Journalisten, Kämpfer und Zivilisten –,
stumm bleiben gegenüber einer Realität, in die der
Schmerz und das Leid eingebrannt sind? Ich nenne
Sergej Adamowitsch Kowaljow, der in seinem Artikel
sehr präzise beschrieben hat, wo Russland steht: Könnte
sich Russland nicht hin zu einem Polizeistaat ent-

Christian Schmidt (Fürth)







(A)



(B)



(C)



(D)


wickeln? Kann nicht das, was Kowaljow befürchtet, Re-
alität werden? Die russische Regierung befindet sich
jetzt auf einem gefährlichen Weg, weil sie glaubt, Kon-
flikte nur durch militärische Logik überwinden zu kön-
nen, und dadurch selbst Gefangener des eigenen Han-
delns wird. Somit kann sich die zivile Logik nicht
durchsetzen. Das ist eine Sorge, die wir ernst nehmen
müssen.

Ein anderes Beispiel ist Jelena Bonner, die uns auf-
gerufen hat, auf dass zu sehen, was in diesem Land ge-
schieht. Jelena Bonner ist eine Frau, die zusammen mit
ihrem Mann Beispiel dafür war, was Russland sein
kann: ein Land der Demokratie und der Menschenrech-
te. Auch Memorial zeigt ein anderes Russland.

Deshalb wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, das es uns gelingt, mit dem demokratischen Russ-
land, das es auch gibt, ein Zeichen der Hoffnung für eine
andere Zukunft dieses Landes zu setzen. Wir müssen
gemeinsam mit Russland versuchen, die Verknüpfungs-
linien aufzubauen, von denen Christian Schmidt soeben
sprach. Wir müssen versuchen, innerhalb der Gesell-
schaft zwischen den Städte- und Gemeindepartnerschaf-
ten, die existieren, und den Gewerkschaften, die mitein-
ander kooperieren, sowie den Künstlern Netzwerke auf-
zubauen und dafür zu sorgen, dass diese Netzwerke trag-
fähig gegenüber allen Gefährdungen sind – von welcher
Regierung sie auch immer ausgehen.

Wenn das ein Ziel werden kann, an dem wir gemein-
sam arbeiten, dann glaube ich, dass wir gemeinsam mit
ebenjenen Partnerinnen und Partnern mithelfen können,
dafür zu sorgen, dass Russland irgendwann einmal, wie
es in dem Artikel von Jelena Bonner heißt, ein sicheres
und stabiles Land wird: für die eigene Bevölkerung wie
auch für andere Länder und Völker.

Ich darf am Schluss hinzufügen, dass es mittlerweile
noch jemanden gibt, der sich in der praktischen Politik
zurückgemeldet hat: Michail Gorbatschow. Michail
Gorbatschow hat am letzten Sonntag auf einem Kon-
gress die unterschiedlichen – es sind ein bisschen viele,
nämlich 13 an der Zahl – sozialdemokratischen Parteien
und Strömungen Russlands zusammengeführt. Er ist der
Präsident ebenjener 13 unterschiedlichen Gruppierungen
geworden, die nun eine gemeinsame, vereinigte Sozial-
demokratie sind.


(Beifall bei der SPD)

Wir hoffen sehr, dass Michail Gorbatschow mit der So-
zialdemokratie versuchen kann, in diesem neuen demo-
kratischen Russland einen Akzent zu setzen.

Auf diesem Gründungskongress ist ein Beschluss zu
Tschetschenien gefasst worden. Die Übersetzung ist et-
was spröde, aber ich zitiere sie dennoch:

Die Sozialdemokratische Partei Russlands fordert,
das Problem Tschetschenien ausschließlich auf der
Grundlage der Gesetze und des Humanismus zu lö-
sen. Sie ist sich bewusst, dass die Lösung der gro-
ßen nationalen Probleme mit gewaltsamen Metho-
den nicht möglich ist, und hält Folgendes für not-
wendig: auf dem Territorium Tschetscheniens den
Notstand auszurufen und dadurch den Einsatz der

Armee legitim zu machen; die Ereignisse in Tsche-
tschenien für die Gesellschaft durchsichtiger zu
machen und sie dadurch unter öffentliche Kontrolle
zu stellen.

Hiermit ist das entscheidende Problem beschrieben.
In diesem Beschluss wird deutlich, dass die Sozialde-
mokratie in Russland das Vorgehen der Armee in Tsche-
tschenien für illegal hält, um es mit unseren Worten aus-
zudrücken. Das macht klar, dass es andere Kräfte in der
politischen Szenerie, in der zivilen Gesellschaft Russ-
lands gibt. Wir hoffen sehr, dass diese Kräfte, auch
Grigorij Jawlinskij und viele andere, die das andere
Russland repräsentieren, Russland künftig stärker prä-
gen werden als die militärische Logik, in der sich die
gegenwärtige Regierung in Russland immer noch ver-
fangen hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1409317000
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Dr. Friedbert Pflüger.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1409317100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle ha-
ben die Berichte gehört, auch den Bericht des Kollegen
Bindig, über Zerstörung und Gräueltaten, über Lager
und über Flucht. Wer wollte angesichts solcher Berichte
nicht aufschreien und fordern: Her mit Sanktionen! Kein
Geld mehr für Russland! Lasst uns jetzt endlich mora-
lisch deutlich werden und sagen: So nicht!

Wir tun das nicht. Wir verbleiben alle miteinander in
der Rhetorik. Das fällt uns allen miteinander schwer.
Warum tun wir es? Hat die Moral in der Außenpolitik
abgedankt? Haben sich realpolitische Interessen so weit
nach vorne geschoben, dass wir unsere Werte verges-
sen?

Ich glaube, bei näherem Hinsehen ergibt sich: Das ist
nicht der Grund. Der Grund, warum man Moral in der
Außenpolitik nicht hundertprozentig einsetzen kann, so
wie man sich das wünscht, liegt in zwei Dingen: erstens
darin, dass wir eine realistische Einsicht in unsere Mög-
lichkeiten haben. Moral in der Außenpolitik hat dort ihre
Grenze, wo wir de facto nicht in der Lage sind, Einfluss
zu nehmen, oder wo uns ein so gewaltiges und großes
Land gegenübersteht, dass wir keine Hebelwirkung ha-
ben. Es gehört in einer solchen Debatte zur Ehrlichkeit,
so etwas zuzugeben. Nicht Indifferenz und Gleichgül-
tigkeit gegenüber dem Leid in Tschetschenien führen
uns dazu, auf Sanktionen zu verzichten, sondern Ein-
sicht in die Grenzen unserer Macht.

Eine zweite Erwägung: Es gibt auch konkurrierende
moralische Ziele. Das eine ist die Not der Flüchtlinge
und das Elend in Tschetschenien. Aber würden wir
Russland mit Sanktionen überziehen und isolieren, wür-
den dann nicht andere moralische Ziele gefährdet, näm-
lich zum Beispiel das Ziel, Stabilität in Europa aufrecht-
zuerhalten, Bürgerkriege auf nuklear hochgerüstetem
Territorium zu verhindern oder einen Partner in der

Gert Weisskirchen (Wiesloch)







(A)



(B)



(C)



(D)


Abrüstung von Massenvernichtungswaffen oder bei der
Bekämpfung der Weiterverbreitung von Massenvernich-
tungswaffen nicht zu verlieren?

Mit anderen Worten: Es gibt auch konkurrierende
moralische Zielsetzungen, die in dieser Situation dazu
führen, dass es richtig ist, hier im Parlament der Empö-
rung Ausdruck zu geben und das zu sagen, was wir an-
gesichts der Gräueltaten in Tschetschenien denken, die
aber auch dazu führen, gegenüber Russland mit Maß zu
reagieren.

Ich glaube, dass es, anstatt Sanktionen zu beschlie-
ßen, viel besser ist, den Versuch zu unternehmen, mit
Putin, der am 26. März mit großer Wahrscheinlichkeit
gewählt werden wird, einen Dialog aufzubauen und zu
versuchen, Moskau wieder in die Strukturen von NATO
und EU einzubinden. Wir haben das EU-NATO-
Kooperationsabkommen. Das müssen wir mit neuem
Leben erfüllen: Wir müssen gemeinsam Patenschaften
aufbauen, das Sozial- und Gesundheitswesen re-
formieren, Umweltschutz und grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit realisieren. Da gibt es eine ganze Agenda,
und diese müssen wir wiederbeleben.

Das Gleiche gilt für den NATO-Russland-Rat. Herr
Robertson, der NATO-Generalsekretär, ist im Februar in
Moskau gewesen. Was würde eigentlich näher liegen,
als jetzt in diesen NATO-Russland-Rat Start II und
Start III hineinzubringen, also das Weiterarbeiten an der
nuklearen Abrüstung, das Thema nationale Raketenver-
teidigung, das die Amerikaner aufbauen und das die
Russen und uns Europäer bewegt, hier in aller Offenheit
zu besprechen und einen Weg zu finden, wie man ein
Paket schnüren kann, um Start II und Start III zu ratifi-
zieren, weitere nukleare Abrüstung und eine Raketen-
verteidigung, mit denen Russland und wir leben kön-
nen?

Ich finde es ganz wichtig, dass wir die Instrumente
der Sicherheitspolitik, die wir auf europäischer Ebene
haben, wiederbeleben und auf diese Weise versuchen,
die Regierung Putin dazu zu bringen, sich verantwortli-
cher zu verhalten.

Putin hat gegenüber Robertson erklärt, er wünsche
sich, dass sich in Russland die europäische Option
durchsetzt. Er blickt in erster Linie nach Westen, übri-
gens auch nach Deutschland. Er will, so hat er gesagt,
dass seine Kinder in einem Russland aufwachsen, das in
Europa integriert ist. Dieses Angebot des russischen
Präsidenten zur Zusammenarbeit mit uns, so schwam-
mig und diffus das auch noch sein mag, sosehr da noch
über andere Optionen nachgedacht wird, müssen wir
ernst nehmen, die Russen beim Wort nehmen und ihnen
sagen: Wenn ihr denn Integration mit Europa weiter
wollt, wenn ihr wirklich Partnerschaft wollt, dann müsst
ihr um Himmels willen diesen Krieg, diese Gräueltaten
beenden und dann müsst ihr zu einem zivilen Umgang
zurückkehren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409317200
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überzogen.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1409317300
Ich glaube, mei-
ne Damen und Herren, dass wir uns in einer sehr ernsten
Situation befinden. Die moralische Empörung ist wich-
tig, aber sie kann in einem solchen Fall nicht die Leit-
schnur und vor allem nicht die einzige Leitschnur
unserer politischen Arbeit sein.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so wie bei Abgeordneten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409317400
Nun spricht Herr
Bundesaußenminister Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409317500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in
dieser Debatte viel Richtiges gesagt worden, was sich
nicht nur bereits im Ausschuss auf breite Unterstützung
aller Fraktionen des Hauses gründen konnte, sondern
was auch die Haltung der Bundesregierung wiedergibt.

Zum Krieg im Kaukasus: Wer die Geschichte des
nördlichen Kaukasus und die dortigen Eroberungen in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennt und wer
sich die heutige Situation anschaut, der muss mit Er-
schrecken feststellen, wie sehr sich die Geschichte dort
wiederholt, wie oft es um Tschetschenien ging und wie
bisher weder das zaristische Russland noch die Sowjet-
union unter Stalin und auch nicht das heutige Russland,
das sich auf dem Weg zur Demokratie befindet, mit den
Mitteln der Gewalt in der Lage war, eine Lösung im
nördlichen Kaukasus herbeizuführen. Neben den huma-
nitären Erwägungen ist unsere Hauptsorge, dass der
Krieg im Kaukasus zu einer dauerhaften Destabilisie-
rung nicht nur der Region, sondern ganz Russlands bei-
tragen kann und dass der Demokratisierungsprozess als
solcher durch einen lang anhaltenden Krieg auf unter-
schiedlichster Ebene gefährdet wird.

Wir haben schon jetzt viel zu viele unschuldige Opfer
zu beklagen. Die Zerstörung einer Großstadt und der
Krieg gegen ein ganzes Volk können und dürfen niemals
legitime und verhältnismäßige Mittel im Kampf gegen
Terrorismus sein. Dies haben wir der russischen Seite in
direkten Gesprächen auf verschiedensten Ebenen immer
wieder klargemacht. Wir werden auch in Zukunft klar-
machen, dass wir dies nicht akzeptieren können, nicht
akzeptieren wollen und nicht akzeptieren dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte hier vor allen Dingen auf die außenpoliti-
schen Punkte und nicht auf den innenpolitischen Teil der
Debatte eingehen. Es ist legitim, dass die heutige Oppo-
sition darauf eingeht. An Ihrer Stelle würde ich vermut-
lich ähnlich handeln.


(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Da haben wir viel von Ihnen gelernt!)


– Richtig, aber Sie müssen noch mehr lernen, wenn Sie
unser Niveau erreichen wollen. Sie haben ja noch viele
Jahre vor sich, um das zu lernen. Ich bin durchaus hoff-
nungsfroh, dass Sie diese Zeit nutzen werden.

Dr. Friedbert Pflüger






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte zur Sache zurückkehren, denn die Sache

ist verflucht ernst. Es geht nicht nur um die Frage des
nördlichen Kaukasus. Hier macht die PDS einen großen
Fehler: Die Parallelität besteht nicht zum Kosovokrieg.
Russland bedurfte keiner weiteren Entfesselung oder
Enthemmung. Sie können schon an der Vorgehensweise
Russlands im ersten Tschetschenienkrieg sehen, dass es
hier keinen Zusammenhang gibt. Aber das heutige Pro-
blem hat eine ähnliche – um nicht zu sagen: dieselbe –
Ursache. Gerade Sie müssten aufgrund profunder Schu-
lungskenntnisse aus früheren Tagen noch wissen, dass
neben der Agrarfrage die Nationalitätenfrage die ent-
scheidende Frage war, die in vielen Schriften auch von
Wladimir Iljitsch Lenin erörtert wurde und die noch
immer ihrer Beantwortung harrt. In der Tat ist die Nati-
onalitätenfrage die entscheidende Frage für Russland, im
Kaukasus und auf dem Balkan.

Ich komme nun, Herr Schmidt, zu den entscheiden-
den Unterschieden. Wir haben die russische Seite immer
wieder gefragt: Wo sind eure politischen Antworten?
Wir haben das immer wieder gefragt, weil wir glauben,
dass eine militärische Lösung nur noch mehr unschuldi-
ge Opfer und eine weitere Destabilisierung bringt.

Auf unsere Frage haben wir nur die Antwort bekom-
men, dass man im Moment jede Autorität akzeptiere, die
in der Lage sei, das Gebiet zu kontrollieren und Tsche-
tschenien innerhalb der Grenzen Russlands zu halten.
Das ist entschieden zu wenig, um dieses Problem zu lö-
sen.

Deswegen ist der Stabilitätspakt nicht irgendeine
Kopfgeburt. Der Stabilitätspakt, den wir als präventive
Antwort auf die ungelöste Frage des Balkans entwickelt
haben, ist von entscheidender Bedeutung, um diese Re-
gion an das Europa der Integration heranzuführen und
eines fernen Tages – wenn es von den Beteiligten ge-
wünscht wird – in Europa hineinzuführen. Er ist die
Antwort, damit die Völker, wenn sie um dasselbe Terri-
torium oder um ihre Unabhängigkeit kämpfen, eben
nicht zu den Mitteln der Gewalt greifen und damit sie im
Rahmen eines integrativen und kooperativen Prozesses,
der Entwicklung, Wohlstand, Frieden und Sicherheit be-
deutet, eine Perspektive haben.

Auch Russland wird in diese Richtung Antworten ge-
ben und sich engagieren müssen. Wenn es das nicht tut,
glaube ich nicht an eine politische Lösung in dieser Re-
gion. Dann wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn man das Problem so sieht, dann sind aus mei-
ner Sicht nach dem Abschluss des Vertrages von 1996,
der bei allen Unzulänglichkeiten gar nicht so schlecht
war, entscheidende Fehler gemacht worden, nämlich in-
sofern, als sich die Russische Föderation zurückgezogen
hat und sie Tschetschenien sich selbst überlassen hat,
mit der Konsequenz, dass man in die Falle der Talibani-
sierung hineinlief, die mit dem Begriff des islamischen
Terrorismus beschrieben werden kann, und dass man
eine Entwicklung hat treiben lassen, deren negative Fol-

gen die Russische Föderation in eine Situation gebracht
haben, in der nur noch maßlose Gewalt anscheinend ei-
nen Ausweg zu bieten schien. Ich halte dieses nicht für
einen Ausweg.

Ich stimme aber auch jenen zu, die hier zu Recht be-
tonen, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russland
nicht allein an Tschetschenien festmachen kann. Ich
kann Sie beruhigen. Wir haben sehr stark daran gearbei-
tet, dass der NATO-Russland-Rat in die Gänge ge-
kommen ist. Er hat sich gestern getroffen. Von russi-
scher Seite wurde dort unter anderem über NMD ge-
sprochen und darüber diskutiert. Wir halten das für ei-
nen wichtigen Punkt und einen wichtigen Schritt nach
vorne.

Die strategischen Fragen, die Sie, Herr Abgeordneter
Schmidt, angesprochen haben, spielen in allen Gesprä-
chen mit der russischen Seite eine zentrale Rolle. Sie
können ganz beruhigt sein. Es ist nichts vergessen wor-
den. Es wäre auch töricht, die Gelegenheit nicht zu nut-
zen, um die russische Position kennen zu lernen und
gleichzeitig unsere Position entsprechend darzustellen.

Russland steht auch vor einem ganz entscheidenden
Schritt der inneren Demokratisierung und Zivilisierung.
Dies bedeutet eine Abkehr von der Geschichte der Ge-
walt, auch und gerade staatlicher Gewalt, die Russland
in den vergangenen Jahrhunderten geprägt hat. Dies be-
deutet auch ein Hinwenden zu einem Rechtsstaat, zur
Beachtung der Menschenrechte und zur Beachtung von
Minderheitenrechten, bei allen legitimen Interessen
Russlands an seinem Territorium. Auch wir haben ein
Interesse daran, dass Russland nicht zerfällt, sondern ein
stabiler und integrierter Faktor bleibt.

Aber das heißt auch, dass Russland unter der neuen
Regierung einen neuen Schritt in Richtung Westpolitik
machen muss. Ich denke, hier besteht eine große Chan-
ce, und wir sind bereit, einen solchen Schritt Russlands
nicht nur zu unterstützen, sondern mit einem Neuansatz
zu beantworten. Ich denke hier nicht nur an eine bilate-
rale Ostpolitik, sondern in der Tat an eine europäische
Ostpolitik, die nach dem In-Kraft-Treten des Vertrages
von Amsterdam eine der wichtigen Angebote Europas
an Russland ist.

Die erste Strategie, die die EU verabschiedet hat, war
die Russland-Strategie. Wir sind bereit, hier einen neuen
Weg einzuleiten und auch einen Schritt zu machen, um
eine neue Epoche unserer Beziehungen zu eröffnen.
Gleichzeitig dürfen wir aber in den Fragen der Men-
schenrechte und dieser humanitären Katastrophe nicht
nachlassen, hier mit klarer und eindeutiger Sprache –
auch wenn unsere Mittel sehr begrenzt sind – Russland
klarzumachen, dass dieser Weg ein Weg ist, der in den
Irrtum, zu unschuldigen Opfern und zu unhaltbaren Zu-
ständen führt und den wir auf keinen Fall akzeptieren
können. Die Bundesregierung hat es an dieser klaren
Sprache nicht fehlen lassen.

Auf der anderen Seite ist Russland ein entscheidendes
Element europäischer Sicherheit. Geopolitisch wird es
immer unser Nachbar sein. Wir Deutschen wissen, wie
wichtig ein gutes Verhältnis zu Russland für Europa ist.
Auch daran sollten wir arbeiten. Ich hoffe, hier die

Bundesminister Joseph Fischer






(A)



(B)



(C)



(D)


Unterstützung des ganzen Hauses auch für die Zukunft
zu haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409317600
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswär-
tigen Ausschusses, zu dem Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der
F.D.P., Drucksache 14/2757. Der Ausschuss empfiehlt,
den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2279 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für die-
se Beschlussfassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswär-
tigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2756. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Druck-
sache 14/2289 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimmenthaltun-
gen? – Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschluss-
empfehlung angenommen worden.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord-
nungspunkte 8 und 10 von der heutigen Tagesordnung
abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.

Die soeben abgesetzten Tagesordnungspunkte sollen
in der kommenden Sitzungswoche behandelt werden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zu-
satzpunkte 5 bis 7 auf.
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert

Otto (Erfurt), Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU

Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche
Einheit (VDE) Nr. 8 – Schienenneubaustrecke
Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin

– Drucksache 14/2692 –
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten

Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr.
Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt (Hitzhofen), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thü-
ringen/Nordbayern im Rahmen des
Verkehrsprojektes Deutsche Einheit (VDE)

Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg–Er-
furt–Halle/Leipzig–Berlin

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich, Hans-Michael Goldmann, Dr.
Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.

Ja zur Schienenneubaustrecke Nürnberg–
Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin

– Drucksache 14/2914 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.

Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Eva
Bulling-Schröder, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS

Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im
Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und
Sachsen

– Drucksache 14/2525 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Otto, CDU/CSU-Fraktion.


Norbert Otto (CDU):
Rede ID: ID1409317700
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die verschie-
denen Äußerungen der Bundesregierung zum Verkehrs-
projekt Deutsche Einheit Nr. 8, also zur ICE-Strecke
Nürnberg–Erfurt–Halle/Leipzig–Berlin, ähneln in ihrer
Sprunghaftigkeit dem Verlauf einer Achterbahn. Hielt
die Vorgängerregierung noch ihre klare Aussage für den
Bau der Trasse Nürnberg–Erfurt–Berlin ein, so änderte
Rot-Grün alle paar Monate die Meinung.

Nach anfänglichen Zusagen und einem knappen Jahr
Stillstand folgte im Juli 1999 die Talfahrt. Minister
Müntefering stieß den ICE in den freien Fall und be-
gründete dies mit Unwirtschaftlichkeit der Strecke. Seri-
öse Untersuchungen haben vorher das genaue Gegenteil
ausgewiesen.

Kaum sechs Monate später – sein Nachfolger, Herr
Klimmt, war gerade im Amt – zeigte sich die Regierung
wieder gesprächsbereit. Nach diversen Wahlniederlagen
in den Ländern hatte die SPD erkannt, dass Menschen
und Wirtschaft in Thüringen, Bayern und Berlin die
ICE-Verbindung als Lückenschluss im europäischen
Netz haben wollen und brauchen. Es gab also wieder
Hoffnung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bundesminister Joseph Fischer






(A)



(B)



(C)



(D)


Doch auf die ersten positiven Signale von Minister
Klimmt, die zahlreiche SPD-Kollegen sogleich mit
vollmundigen Zusagen für den Weiterbau der Trasse un-
terlegten, folgte die Rückrufaktion durch den Kollegen
Eichel. Eine eindeutige Aussage für den Weiterbau hat
die Regierung seitdem immer wieder geschickt vermie-
den.

Allerdings – und das nehmen wir auch gerne zur
Kenntnis – gehen die jüngsten Aussagen von Herrn
Klimmt und Bahnchef Mehdorn nun endlich wieder in
die richtige Richtung, in die Richtung, welche wir von
Anfang an vertreten haben. Auch die unsinnige Saale-
bahn-Umleitung, die keiner wollte, ist nunmehr zum
Glück vom Tisch.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition, weitgehende Passagen Ihres Antrages,
der heute hier beraten wird – das bitten wir genau zu be-
achten –, entsprechen auch unserer Intention und der seit
geraumer Zeit bekannten Vorlage, die wir ja heute auch
beraten. Wenn Sie jedoch die Regierung auffordern zu
prüfen, ob und wie die Nord-Süd-Trasse ausgebaut wer-
den kann, dann frage ich mich doch allen Ernstes, was
Sie eigentlich in den ersten anderthalb Jahren Ihrer Re-
gierungszeit gemacht haben.


(Wieland Sorge [SPD]: Mehr als Sie in 16 Jahren!)


Sie wollen das Ob und das Wie prüfen; das heißt, Sie
stellen das Projekt in Ihrem Antrag wiederum infrage.
Das muss hier deutlich gesagt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Weiß ich weder aus noch ein, so setz ich einen Ausschuss ein!)


Als Ergebnis kam ein Baustopp heraus. Ich hoffe, dass
dieser wieder aufgehoben wird. Jetzt wollen Sie aber
schon wieder prüfen lassen. Sie wollen wieder prüfen,
prüfen, prüfen.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie haben Luftschlösser gebaut! – Christian Schmidt [Fürth] [CDU/ CSU]: Es geht um Schienenwege, nicht um Schlösser!)


Vielleicht kommt dabei dann heraus, dass das Ergebnis
im Jahre 2002 oder später auf den Tisch des Hauses
kommt. Liebe Freunde, das alles ist reine Verzögerungs-
taktik.

Ich möchte Ihnen heute raten: Greifen Sie die Hand,
die Ihnen CDU/CSU, das Land Thüringen und der Frei-
staat Bayern in Form verschiedener Realisierungsvor-
schläge reichen. Nehmen Sie die positiven Signale auf,
die die Thüringer Landesregierung und Bahnchef Meh-
dorn bei ihrem letzten Gespräch am Montag ausgesandt
haben. Bewegen Sie die Bundesregierung dazu, das Pro-
jekt umgehend zu realisieren. Nur so lassen sich unter
anderem die Ausgaben in Höhe von 15 Millionen DM
an Steuergeldern, die pro Jahr durch diesen Baustopp
anfallen, vermeiden.

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möch-
te ich mich noch kurz an meine Thüringer SPD-
Kollegen wenden.


(Iris Gleicke [SPD]: Jetzt sind wir aber gespannt!)


Wir arbeiten hier ja eigentlich zusammen und haben
dasselbe Ziel; davon bin ich völlig überzeugt. Lassen Sie
bei der kommenden Abstimmung Ihren Worten endlich
Taten folgen, indem Sie sich unserem Antrag anschlie-
ßen und nicht wieder wie beim vergangenen Mal den
Saal vor der Abstimmung verlassen!


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Den Menschen in Thüringen würden Sie mit Ihrer Zu-
stimmung ein eindeutiges Zeichen geben. Damit könn-
ten Sie das Vertrauen, das Sie bei der letzten Wahl in
Thüringen verloren haben, wieder herstellen. Aus-
nahmsweise sind wir Ihnen dabei einmal behilflich.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Iris Gleicke [SPD]: Wir bauen doch gerade weiter! Dazu haben Sie kein Wort gesagt!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409317800
Das Wort hat nun
Herr Kollege Wieland Sorge, SPD-Fraktion.


Wieland Sorge (SPD):
Rede ID: ID1409317900
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Kollege Norbert Otto, wenn Sie
uns unterstellen, wir betrachteten das Verkehrsprojekt
Deutsche Einheit Nr. 8 als Achterbahn, dann ist das
schon ein tolles Stück. Wir haben uns mit diesem Thema
bereits im vergangenen Jahr beschäftigt; seinerzeit lagen
dazu Anträge aus allen Fraktionen vor. Damals ging es
darum, die Überprüfung durch die Bundesregierung zu
beenden und eine Aussage dahin gehend zu treffen, dass
weitergebaut wird. In einem zweiten Antrag wurde ge-
fordert, dass der Baustopp durch die Bundesregierung
beendet, die Strecke gebaut und der Bau von Erfurt aus
in Richtung Ilmenau und Nürnberg fortgesetzt wird.

Meine Damen und Herren, was haben wir eigentlich
an unterschiedlichen Positionen bisher gehabt? Wir So-
zialdemokraten hatten uns von Anfang an für diese Stre-
cke entschieden.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: Unruhe habt ihr gestiftet!)


– Moment, Moment! Was uns immer unterschied, ist,
dass wir aus der Verantwortung für dieses Land heraus
zu prüfen hatten, ob Einzelprojekte zu finanzieren sind.
Wir reden hier ja nicht über Peanuts; es geht immerhin
um 15 Milliarden DM. Ich bezweifle, ob wir diese
15 Milliarden DM so ohne Weiteres aufbringen können.
In keinem der Anträge steht, wie diese Summe aufzu-
bringen ist.


(Iris Gleicke [SPD]: So ist es! Die CDU ist immer daran interessiert, Luftschlösser zu bauen!)


Norbert Otto (Erfurt)







(A)



(B)



(C)



(D)


Nun stellt sich die Frage, warum wir uns am heutigen
Tage erneut mit vier Anträgen zu diesem Thema be-
schäftigen müssen. Hat sich die Situation in irgendeiner
Form geändert? Die Antwort lautet Ja. Die Bundesregie-
rung hat mit der Landesregierung von Thüringen den
Beschluss gefasst, auf die Querspange nach Saalfeld zu
verzichten und den Bau von Traßdorf in Richtung Ilme-
nau fortzusetzen, also genau auf der geplanten Strecke.
Damit setzt die Bundesregierung das Signal, dass sie
auch weiterhin an dieser Strecke interessiert ist.

Das Zweite, was sich geändert hat, ist, dass sich Herr
Mehdorn, der neue Vorstandsvorsitzende der Deutschen
Bahn AG, ebenfalls zu dieser Strecke bekannt hat. Er hat
aber, lieber Kollege Norbert Otto, in dem Gespräch mit
Ministerpräsident Vogel klipp und klar gesagt – Sie
können alle fragen, die bei diesem Gespräch dabei ge-
wesen sind –, für ihn habe das Netz 21 erste Priorität,
was in erster Linie bedeute, den Bestand zu sichern und
zu entwickeln.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist auch gut so!)

Er fügte hinzu, erst wenn wir zusätzliche Mittel aufbrin-
gen könnten, könne er sich für den Bau dieser Bahnstre-
cke aussprechen. Er hat nirgends gesagt, dass er diese
Strecke sofort bauen wolle.

Was hat sich noch geändert? Die beteiligten Landes-
regierungen haben sich noch einmal in aller Öffentlich-
keit dazu geäußert. Es sind im Wesentlichen die Regie-
rungen von Thüringen, Bayern, Sachsen und Sachsen-
Anhalt, die an dieser Bahnstrecke ein riesengroßes Inte-
resse haben. Wie sie die Strecke begründen, deckt sich
exakt mit unserer Auffassung: Es ist eine wichtige Nord-
Süd-Verbindung innerhalb Deutschlands. Wir haben na-
türlich ein Interesse daran, dass die europäischen Netze
vollendet werden. Das heißt: Die europäischen Infra-
strukturmaßnahmen müssen in dieses System eingebaut
werden. Von uns wird eine klare Aussage getroffen, die
in diese Richtung geht.

Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, der genau
diesem Ansinnen gerecht wird. Wir wollen diesen
Schritt in Richtung des Baus der Strecke Erfurt–Ilmenau
machen. Die Kritiker haben früher immer gesagt: Diese
Strecke ist nicht sinnvoll, weil der Verkehr erst möglich
ist, wenn die letzte Schiene gelegt ist. Wir wollen, dass
der Verkehr zwischen Erfurt und Ilmenau sofort aufge-
nommen wird, wenn der Bau der Strecke beendet wird.


(Iris Gleicke [SPD]: Jawohl!)

Wir haben im Rahmen unserer Investitionspolitik, die

wir im Investitionsprogramm begründet haben, ganz
deutlich gemacht, dass wir in erster Linie für die neuen
Bundesländer Sorge tragen


(Beifall bei der SPD)

und dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
immer an erster Stelle stehen. Wir haben in unserem An-
trag die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, wel-
che Möglichkeit wir haben, diese Strecke kostengünstig
zu bauen, und wie wir zusätzliche Mittel beschaffen
können, um so schnell wie möglich diesen Bau zu be-
ginnen und durchzuführen.


(Norbert Otto [Erfurt] [CDU/CSU]: Sie soll prüfen, ob sie überhaupt gebaut wird! Das steht in eurem Antrag auch drin!)


– Das, lieber Kollege Otto, steht für uns eigentlich fest.
Wir haben an keiner Stelle gesagt, dass wir uns von die-
ser Strecke verabschieden


(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)

und dass wir diese Strecke nicht bauen wollen. Wo steht
das?


(Zurufe von der CDU/CSU)

Es ist völlig falsch, was uns hier unterstellt wird.

Wir haben immer ganz klar zum Ausdruck gebracht,
wo das Problem liegt: Wir können unter den jetzigen
Bedingungen aufgrund der Haushaltssituation die
15 Milliarden DM nicht finanzieren. Diese Tatsache
müssen Sie endlich einmal einsehen. Deshalb müssen
wir jetzt gemeinsam versuchen, Möglichkeiten zu fin-
den, wie die Strecke von Bund, Ländern und Bahn fi-
nanziert und dann gebaut werden kann. Das sollten wir
gemeinsam tun.

Wenn Sie diese Strecke unbedingt wollen, dann be-
deutet das natürlich, meine Damen und Herren von der
rechten Seite, dass andere Vorhaben in anderen Ländern
zurückgestellt werden müssen und dass es möglicher-
weise zur Streichung von anderen Strecken kommt. Wir
können nicht mehr Geld ausgeben.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Den ICE zwischen Frankfurt und Köln zum Beispiel können Sie auch mal prüfen!)


– Das zu fordern ist Ihr gutes Recht.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409318000
Herr Kollege, ich
darf Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit abgelaufen
ist.


Wieland Sorge (SPD):
Rede ID: ID1409318100
Ich darf kurz zusammenfas-
sen: Liebe Kollegen, wenn Sie uns Wege aufzeigen, wie
wir die 15 Milliarden DM aufbringen können, dann sind
wir gerne bereit, diese Strecke zu bauen. Dabei bleiben
wir.


(Beifall bei der SPD – Dr. Bernd Protzner [CDU/CSU]: Ihr regiert doch!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409318200
Das Wort hat nun
der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das war das Wie! Jetzt kommt das Ob! – Iris Gleicke [SPD]: Ich frage mich, wer die ganzen Prestigeprojekte in den Verkehrswegeplan geschrieben hat!)


Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die Koalitionspartner haben von

Wieland Sorge






(A)



(B)



(C)



(D)


Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass bei allen
Fragen der weiteren Verkehrsplanung ein Grundsatz
gilt: Es wird und darf in diesem Land keine Investitions-
ruinen geben. Das steht im Koalitionsvertrag; das kön-
nen Sie nachlesen. Es ist nichts Neues. Dieser Grundsatz
gilt generell und auch an dieser Stelle.

Deshalb bin ich nachdrücklich dafür, dass die begon-
nenen Baumaßnahmen, die wir vorgefunden haben und
die heute zu besichtigen sind – ich kann Ihnen versi-
chern, ich habe sie mir mehrmals an Ort und Stelle ange-
schaut –, selbstverständlich einen Verkehrswert erhalten
müssen und dass sie nicht sozusagen als Stumpf in der
Landschaft ungenutzt täglich Kosten verursachen, ohne
einen verkehrlichen Wert zu entwickeln.

Von daher haben wir, Bündnis 90/Die Grünen, selbst
vorgeschlagen – Sie konnten dies auch öffentlich fest-
stellen –, den bisherigen Neubauabschnitt von Erfurt
Richtung Arnstadt weiterzuführen und die aufstrebende
Universitätsstadt Ilmenau mit einer Verbindungskurve
anzuschließen, sodass künftig auf der Strecke zwischen
der Landeshauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt
Ilmenau gegenüber einer Fahrtzeit von heute 60 Minuten
lediglich 20 Minuten Fahrzeit aufzuwenden sind. Dies
schließt ausdrücklich ein – das möchte ich deutlich sa-
gen –, dass die Altstrecke, die Bestandsstrecke, weiter-
hin bedient wird. Denn dies ist notwendig, damit die
Fahrgäste im Nahverkehr, die entlang der Altstrecke
wohnen, auch künftig ein angemessenes Angebot haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das hat die Landesregierung von Thüringen ausdrück-
lich versichert.

Durch den Anschluss von Ilmenau wird auch die
Landesregierung in die Lage versetzt, einen Nahverkehr
in der Größenordnung von 20, 25 Zugpaaren pro Tag
durchzuführen, sodass künftig eine attraktive Verbin-
dung hergestellt ist.

Diese Entscheidung, die in unserem gemeinsamen
Antrag noch einmal ausdrücklich begründet wird, be-
inhaltet aus meiner Sicht allerdings – das sage ich ge-
nauso deutlich – keine terminliche oder sonstige Festle-
gung hinsichtlich des weiteren Verfahrens.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist ja klar! Denn Ihr wollt doch die Strecke nicht!)


Die Finanzierung, die wir derzeit zusagen können,
erstreckt sich bis zum Horizont der Jahre 2003, 2004.
Bis dann muss der Anschluss an Ilmenau hergestellt
sein. Diese Zeit – das ist nach wie vor meine Auffas-
sung – sollten wir intensiv nutzen, um gemeinsam zu
prüfen – ich meine hier das Unternehmen Deutsche
Bahn AG, das prüfen muss, inwieweit es in deren Kon-
zepte passt; ich meine aber auch die Verkehrspolitik in
Bund und Ländern –, ob das Festhalten an der jetzigen
Planung südlich von Ilmenau die optimale Lösung dar-
stellt oder nicht.

Ich sage Ihnen mit allem Ernst – Sie konnten das in
den letzten Tagen in der Presse nachlesen –: Überall

dort, wo wir derzeit Großbaustellen im Bahnbau haben –
das gilt für Köln–Frankfurt, das gilt für den Knoten Ber-
lin und es gilt auch für die im Bau befindliche Neu-
baustrecke von Nürnberg nach Ingolstadt –, erleben wir
eine Kostenexplosion in einer Größenordnung, die sich
nach Milliarden und nicht nach Millionen bemisst. Dies
führt dazu, dass die Frage immer dringlicher wird – sie
wird immer schwerer zu beantworten sein – ob wir
überhaupt noch genug Geld haben, um das Bestandsnetz
zu sichern. Bei den Projekten VDE 8.1 und 8.2, also
Nürnberg–Erfurt und Halle–Leipzig, haben wir summa
summarum einen Kostenstand von 15 Milliarden DM.
Ich unterstelle, dass auch diese Projekte mit 40 Kilome-
tern Tunnel, bei denen die Sicherheitsauflagen viel
strenger sind als vor Jahren, mehr kosten werden.

Ich rate dringend dazu, gemeinsam zu überlegen, ob
dies wirklich eine Planung ist, die uns an das Ziel führt,
oder ob es nicht schädlich ist, dass wir an maximalen
Forderungen festhalten und dabei in Kauf nehmen, dass
wir diese immer weniger finanzieren können. Deswegen
rate ich nach wie vor dazu, die verschiedenen Möglich-
keiten für den weiteren Verlauf der schnellen Verbin-
dung Richtung Nürnberg, die wir gemeinsam wollen,
auszuloten und zu prüfen: in technischer Hinsicht, in
verkehrspolitischer Hinsicht, aber auch in fiskalischer
Hinsicht, liebe Frau Kollegin. Denn was Sie gemacht
haben, war keine Politik.

Sie haben uns diese miserablen Verträge hinterlassen
und haben uns garantiert, dass die Kosten der Neubau-
strecke zwischen Frankfurt und Köln 7,8 Milliarden DM
betragen. Dazu sage ich: Pfeifendeckel! Wir marschie-
ren in Richtung 10 Milliarden DM. Die verlogenen Zah-
len, die bei der Berlin-Planung zugrunde gelegt worden
sind, waren keine Politik. Sie haben uns falsche Zahlen
hinterlassen. Das Unternehmen muss es jetzt ausbaden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lothar Mark [SPD]: Bewusst falsche Zahlen!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409318300
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Herr Kollege.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsiden-
tin.

Ich kann deshalb nur dringend dazu raten, auch zu
prüfen, ob eine Kombination von Nutzung des vorhan-
denen Neubauabschnittes, Schließen von Lücken, was
zweifellos notwendig ist, und Ausbau von Bestandstras-
sen nicht zielführender, wirtschaftlicher und umweltver-
träglicher ist als das starre Beharren auf einer Maximal-
planung von gestern, die in absehbarer Zeit letztlich
nicht bezahlbar sein wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409318400
Jetzt hat der Kollege
Dr. Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Albert Schmidt (Hitzhofen)







(A)



(B)



(C)



(D)



Dr. Karlheinz Guttmacher (FDP):
Rede ID: ID1409318500
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vor-
handenen Straßen- und Schienenwege in den neuen
Bundesländern sind derzeit in keiner Weise im Hin-
blick auf Erschließung und Qualität mit denen in den al-
ten Bundesländern vergleichbar. Deswegen muss die
Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern als
Voraussetzung für eine dynamische Wirtschaftsentwick-
lung dringend verbessert werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Genau dies war der Grund dafür, dass die Bundesregie-
rung aus CDU/CSU und F.D.P. das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ Nr. 8 in den Bundesverkehrswege-
plan eingebracht hat.


(Iris Gleicke [SPD]: Aber nicht finanziert!)

Wegen der eminenten Bedeutung für den Aufbau der

neuen Bundesländer wurde für die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 unter Anwen-
dung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset-
zes in kürzester Zeit Baufreiheit geschaffen. Seit April
1996 wurde die Strecke Leipzig/Halle-Erfurt-Ebersfeld
gebaut. Nach mehr als drei Jahren stoppt die Bundesre-
gierung den begonnenen Bau.

Insgesamt wurden bisher 1,3 Milliarden DM in dieses
Projekt, in die Planung, in die Beschaffung von Grund
und Boden und in die Ausführung von Baumaßnahmen,
investiert. Sie müssen sich einmal am Erfurter Kreuz an-
schauen, welche Investruinen hinterlassen worden sind.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Baustopp für die ICE-Strecke bedeutet im Übri-
gen auch einen Verstoß gegen die gegenüber der EU und
dem Europäischen Rat übernommene Verpflichtung,
diesen Abschnitt der ICE-Trasse von München bis Ber-
lin als ein Segment der transeuropäischen Strecke
zwischen Barcelona und den skandinavischen Ländern
zu realisieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Wladiwostok! – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie meinen Verona, nicht Barcelona)

na ist links unten!)

Der Europäische Rat in Köln hat für dieses Vorhaben
die Bereitstellung von 4,6 Milliarden Euro beschlossen.
In dieser Pflicht stehen auch Sie. Erfreulich ist die Mit-
teilung von Herrn Mehdorn, dass er der Strecke Berlin –
München eine herausragende Bedeutung beimisst.

Das Vorhaben, von dem Sie, Herr Sorge, gerade ge-
sprochen haben, nämlich die Priorität auf die Mitte-
Deutschland-Bahn zu setzen, ist mit dem Vorhaben
hinsichtlich der Eisenbahnstrecke Nürnberg–Erfurt–
Leipzig/Halle nicht vergleichbar. Beide Projekte haben
eine unterschiedliche Linienführung; insofern können
wir diese beiden Linien nicht austauschen.

Es ist schon spektakulär, wenn von der Bundesregie-
rung der Ausbau der Mitte-Deutschland-Bahn als ein
Ergebnis des Stopps des Baus an der ICE-Trasse Mün-
chen – Berlin bezeichnet wird. Das muss man sich wirk-
lich auf der Zunge zergehen lassen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Aussage, dass das Investitionsvolumen für die
Mitte-Deutschland-Bahn im Ergebnis auf 665 Millio-
nen DM angehoben werden könnte, ist schlicht und ein-
fach falsch. Schon im Investitionsprogramm für den
Ausbau der Schienenwege des Bundes 1998 bis 2000
wurden diese 665 Millionen DM für den Ausbau der
Gesamtstrecke Paderborn – Chemnitz festgeschrieben.
Ich halte es für gerechtfertigt und für gut, dass dem Land
Thüringen 35 Millionen DM für den Ausbau der Mitte-
Deutschland-Bahn im Abschnitt zwischen Glauchau,
Gera und Weimar sofort zur Verfügung stehen.

Mit unserem Antrag möchten wir die Bundesregie-
rung auffordern, ihre Fehlentscheidung zu korrigieren,
den vorläufigen Baustopp für das Projekt aufzuheben
und die Neubaustrecke zügig zu realisieren. Außerdem
bitten wir darum, dem Deutschen Bundestag über die
Finanzierung und die Ausführungsplanung regelmäßig
zu berichten.

Ich danke.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409318600
Ich erteile dem Kol-
legen Winfried Wolf, PDS-Fraktion, das Wort.


Dr. Winfried Wolf (PDS):
Rede ID: ID1409318700
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es stimmt
schon: Es ist grotesk, dass zehn Jahre nach der Vereini-
gung keine Schienenschnellverbindung zwischen Berlin
und München existiert, dass der ICE München – Berlin
weiterhin zunächst über Braunschweig nach Osten fährt
und dass er 40 Prozent mehr als auf der Direktverbin-
dung zurücklegen muss. Er fährt also in der Form einer
Deutschlandrundreise.

Richtig ist schließlich: Die neue Bundesregierung hat
das Projekt einer Hochgeschwindigkeitsstrecke über
Erfurt bis 2002 weitgehend auf Eis gelegt. Dass jetzt
aber CDU, CSU und F.D.P. mit roter Schaffnermütze
„höchste Eisenbahn“ brüllen, ist höchst demagogisch.
Tatsächlich hatten Sie, werte Kolleginnen und Kollegen
von den alten Regierungsparteien, acht Jahre lang Zeit,
gewissermaßen Zug um Zug den Osten zu erschließen.


(Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Sie haben das erst einmal kaputtgemacht!)


Während im Deutschen Reich nach 1871 Jahr für Jahr
1 000 Kilometer neue Schienenwege gebaut wurden,
wurden in den acht Jahren in den neuen Ländern 1 000
Kilometer Schienenwege abgebaut. Es war doch Herr
Wissmann, der beim Bau der Verbindung München -
Berlin über Erfurt bereits im Bremserhäuschen saß.






(A)



(B)



(C)



(D)



(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)

Doch tragischerweise präsentieren sich jetzt SPD und

Grüne mit ihrem Antrag zu diesem Thema heute vor al-
lem als Pausenclowns auf leeren Bahnsteigen. Da wird
die „Entscheidung der Bundesregierung begrüßt...“,
nämlich die Entscheidung, nichts zu tun. Dieser Bundes-
regierung wird attestiert, sie praktiziere den „Vorrang
für den Aufbau Ost“. Das stimmt einfach nicht. Außer
Bremsen tut sie gar nichts.

Indirekt verfolgen Sie mit dem Prüfauftrag für einen
weiteren Ausbau der Nord-Süd-Schienenverbindung
genau dieselbe falsche Philosophie wie die alte Bundes-
regierung: Von München nach Berlin soll es möglichst
fix gehen.

Gerade das nützt aber den neuen Ländern wenig –
siehe die Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover – Ber-
lin, die bekanntlich als Interzonenbahn betrieben wird,
meist ohne Halt in den neuen Ländern.


(Beifall bei der PDS)

Die anvisierten 3,5 Stunden Fahrzeit für eine Verbin-

dung München-Berlin laufen auf das Folgende hinaus:
Erstens. Es wird extrem umweltzerstörend gebaut.
Zweitens. Die bevölkerungsdichtesten Regionen wer-

den nicht an einen modernen Schienenverkehr angebun-
den.

Drittens: Wichtige Städte bleiben abgehängt – siehe
als abschreckendes Beispiel die aktuelle Debatte da-
rüber, Frankfurt am Main und Stuttgart besser zu ver-
binden und dabei Mannheim abzuhängen.

Der PDS-Antrag fordert stattdessen, umgehend mit
dem Ausbau eines halben Dutzends konkret benannter
Strecken in der besagten Region zu beginnen. Damit
könnten mit denselben Summen Schienenwege von rund
dreimal größerer Länge auf den modernsten Stand ge-
bracht werden. Die Fahrzeit zwischen München und
Berlin würde von derzeit sechs Stunden auf rund
4,5 Stunden reduziert werden und es würden in erster
Linie bestehende Schienenwege ausgebaut, das heißt,
die Umwelt würde wenig belastet.

Vor allem: Es würden rund fünfmal mehr potenzielle
Fahrgäste an ein modernisiertes Schienennetz angebun-
den als bei dem bisher geplanten Projekt.

Wir gestehen – zum Schluss –: Die PDS ist hier ex-
trem konservativ. „Conservare“ heißt „erhalten“, den
Bestand erhalten; das heißt in diesem Falle: ausbauen.
Uns geht es nicht um Höchstgeschwindigkeit für weni-
ge, sondern uns geht es darum, für einen modernen
Schienenverkehr zu sorgen, das heißt für einen Schie-
nenverkehr für viele mit Komfort und mit Reisegenuss.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409318800
Jetzt hat die Kolle-
gin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1409318900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das ICE-Trassen-Verwirrspiel zeigt
die Unfähigkeit der Bundesregierung und der Koalition.


(Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der SPD: Du lieber Gott!)


Der Bundeskanzler sagt Ja zur Trasse und zur zügigen
Realisierung – natürlich insbesondere im Wahlkampf in
Thüringen – und jetzt ist er auf Tauchstation.


(Lothar Mark [SPD]: 16 Jahre lang Wirrnis! Finsternis!)


Der ehemalige Minister Müntefering wollte die Tras-
se, die Trasse wird gebaut, und dann haben SPD – Leute
vor Ort – ich nenne nur die Namen Verheugen, den Sie
nach Europa geschickt haben, die Kollegin Mattischeck
usw. – das Aus für die Strecke verkündet.

Der Minister Klimmt scheut klare Aussagen,

(Widerspruch bei der SPD)


obwohl die SPD vor Ort für den Bau dieser Trasse ist
und die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands in
Nürnberg auf einem Kongress den schnellen Weiterbau
der Trasse gefordert hat. Ich hoffe, dass der neue Staats-
sekretär vielleicht eher auf die Aussagen der Gewerk-
schaft hört, als es bisher der Fall war.

Mittlerweile hat man ja gemerkt – oder scheint ge-
merkt zu haben –, dass diese Trasse in den transeuro-
päischen Netzen enthalten ist. Kollege Schmidt von den
Grünen, man sollte die transeuropäischen Netze nicht
lächerlich machen, denn sie sind geschaffen worden, um
in Europa schnell von A nach B zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Richtig! So ist es!)


Man hat nun gemerkt, dass diese Trasse in den trans-
europäischen Netzen enthalten ist, und stellt sie jetzt in
das so genannte Investitionsprogramm ein – allerdings
nur 365 Millionen DM bis zum Jahre 2002; der Rest von
6,4 Milliarden DM kommt danach. Das tut man auch nur
deshalb, weil Gelder an die EU hätten zurückgezahlt
werden müssen, wenn der Stopp des Baus der Trasse
eingetreten wäre.

Jetzt hat Bahnchef Mehdorn vor dem Ausschuss aus-
drücklich darauf hingewiesen, dass er eine Schnelltras-
se München – Nürnberg – Erfurt – Berlin möchte. Dazu
gehört nun einmal der Ausbau, damit man von München
nach Berlin in dreieinhalb Stunden kommen kann. Dann
kann man auf der Strecke zwischen Nürnberg und Erfurt
nicht Blümchen pflücken; das ist nun einmal nicht
machbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Grünen reden dauernd davon, dass mehr Verkehr

auf die Schiene gebracht werden soll. Wenn aber eine
Schnelltrasse gebaut werden soll, wird sie von Ihnen und
Ihren Anhängern vehement bekämpft.

Kollege Schmidt, Sie spielen sich hier ein bisschen
auf,

Dr. Winfried Wolf






(A)



(B)



(C)



(D)



(Albert Schmidt DIE GRÜNEN]: Immer!)


als der heimliche Verkehrsminister oder auch als Bahn-
chef.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Als der heimliche Bundeskanzler, Papst und Faschingsprinz! – Heiterkeit)


Vielleicht denken Sie noch ein bisschen um.
Aber die größte Scheinheiligkeit ist der Antrag der

Koalitionsfraktionen. Denken Sie eigentlich, dass wir,
die Bürger oder die Verbände Ihre Verschleppungstaktik
nicht merken?


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Verschleppung haben Sie verursacht, indem Sie uns einen finanziellen Sauladen hinterlassen haben!)


Oder sollte plötzlich bei Ihnen Einsicht eingekehrt sein,
sodass Sie umdenken? Aber Ihre Halbherzigkeit, Ihre
Widersprüche und Ihre Täuschungen


(Lothar Mark [SPD]: Dass Sie nicht rot werden, wenn Sie so etwas sagen!)


bezeichnen Sie in Ihrem Antrag als „Politik der verläss-
lichen und verbindlichen Investitionen in die Verkehrs-
infrastruktur auf höchstmöglichem Niveau“. Diese Be-
merkung in Ihrem Antrag ist schon äußerst dreist.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie haben Spaten in die Erde gesteckt und wir bauen! Das ist der Unterschied!)


Denn Sie wollen ja nicht schnell bauen, sondern weiter
prüfen, prüfen und prüfen,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und prüfen! – Iris Gleicke [SPD]: Wir bauen gerade! Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!)


obwohl die Trasse für das Wachstum und die Beschäfti-
gung gerade in den neuen Ländern dringend erforderlich
ist.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie haben doch wirklich mehr Luftschlösser gebaut als Schienenwege!)


Zum Schluss möchte ich mich bei dem aus dem Amt
des Parlamentarischen Staatssekretärs geschiedenen
Kollegen Ibrügger ganz herzlich für die gute, sachliche
und kompetente Zusammenarbeit sowohl im Ausschuss
als auch in seiner Eigenschaft als Parlamentarischer
Staatssekretär bedanken.


(Beifall im ganzen Hause – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte ich nicht gedacht, dass ich Ihnen einmal zuklatschen darf!)


Wir wünschen ihm alles Gute und vor allen Dingen gute
Gesundheit.

Aber, Kolleginnen von der SPD – das kann ich mir
jetzt nicht verkneifen –: Ich erinnere mich an eine Dis-
kussion in Bonn, bei der eine Kollegin von der SPD ge-
sagt hat, es sei Zeit, dass endlich ein weibliches Wesen
Parlamentarische Staatssekretärin werde.


(Lothar Mark [SPD]: Eine Staatssekretärin ist immer weiblich! Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir doch!)


– Ich habe von einer Parlamentarischen Staatssekretärin,
nicht von einer beamteten gesprochen.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Haben wir auch! Aber nicht im Verkehrsministerium!)


Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass das gesagt
worden ist.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Frau Blank, ich werde Sie vorschlagen!)


Meine Damen, fühlen Sie sich seit der Neubesetzung
gestern eigentlich nicht ein bisschen übergangen oder
sogar abgemeiert bzw. nicht bevorzugt?


(Beifall bei der CDU/CSU Lothar Mark [SPD]: Eine gute Entscheidung!)


Ich würde mich an Ihrer Stelle schon ein bisschen är-
gern. Ich wundere mich, dass Sie keinen Aufschrei los-
lassen, nachdem Sie uns in Bonn kritisiert haben,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie oft sind Sie übergangen worden?)


dass wir keine Parlamentarische Staatssekretärin haben.

(Zuruf von der SPD: Sie haben vor allem nicht einmal eine stellvertretende Fraktionsvorsit zende!)

Nehmen Sie sich das einmal zu Herzen und denken Sie
darüber nach.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann können Sie es auch nicht mehr werden!)


– Sie können es nie werden, Sie wollen doch Minister
oder Bahnchef werden.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich bin ja keine Frau! – Lothar Mark [SPD]: Fasching ist vorüber!)


Dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ wird uns
sicherlich noch länger beschäftigen. Ich hoffe, dass in
diesem Zeitraum, zumindest bis zur Aus-
schussbehandlung, bei Ihnen noch der Prozess des
Nachdenkens einsetzt und dass Sie am Schluss vielleicht
einer schnellen Realisierung dieser Strecke zustimmen
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Blank






(A)



(B)



(C)



(D)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319000
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Reinhard Klimmt.


(Iris Gleicke [SPD]: Erkläre denen mal, dass wir gerade bauen!)


Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Blank, ich darf Ihnen mittei-
len, dass es bei uns in der Sozialdemokratie üblich ist,
dass es, wenn man überzeugende personelle und sachli-
che Lösungen findet, deswegen keinen Aufschrei und
keine Kritik gibt, sondern immer den geziemenden Bei-
fall, weil etwas auf die richtige, in diesem Fall personel-
le, Schiene gebracht worden ist. Dafür herzlichen Dank
an die mich unterstützende Fraktion!


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/CSU, zur SPD gewandt: Beifall!)


– Das muss jetzt nicht wiederholt werden, den Beifall
hat es vorher schon gegeben.

Es geht um die Strecke von Berlin nach München.
Wir haben in einem wichtigen Schritt entschieden, dass
wir die Schienenstrecke Nürnberg-Erfurt nicht ins Saale-
tal führen werden, sondern sie nach Ilmenau ausbauen.

Die Entscheidung, weiter nach Ilmenau zu bauen, ist
übrigens in Abstimmung mit den Abgeordneten vor Ort
und auch mit der thüringischen Landesregierung getrof-
fen worden, die von sich aus gesagt hat, sie wolle die an-
dere Streckenführung nicht. Es ist ein wichtiger Punkt –
er betont das Funktionieren des föderalen Systems –,
dass wir es geschafft haben, im Rahmen eines Gesprä-
ches eine optimale Lösung zu suchen und nach den Ge-
gebenheiten zu finden. Deswegen bin ich froh, dass wir
im Rahmen dieser Entscheidung erreicht haben, sowohl
die Interessen des Bundes als auch die des Landes Thü-
ringen in Einklang zu bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weiterhin wollen wir den Bahnhof Ilmenau-
Wolfsberg bauen, der in der zukünftigen Trassenführung
eine Rolle spielen wird, und, so wie im Raumord-
nungsverfahren vorgesehen, eine entsprechende Anbin-
dung an die Innenstadt von Ilmenau schaffen. Wenn dies
im Jahre 2004 oder 2005 fertig sein wird, werden wir ei-
ne sehr attraktive Verbindung zwischen der Landes-
hauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt Ilmenau ha-
ben. Ich hoffe, dass die Landesregierung – denn sie war
es, die sich eine entsprechende Lösung gewünscht hat –
die Kapazitäten im Regionalverkehr und im Nahverkehr
entsprechend erhöht, um so zu gewährleisten, dass diese
Investition einen Nutzen abwirft und diese Entscheidung
als richtig erkannt werden kann.

Der Weiterbau nach Süden in Richtung Coburg und
Nürnberg ist, wie hier schon ausgeführt worden ist, nur
auf Eis gelegt worden. Er ist nicht aufgehoben, sondern
nur aufgeschoben worden. Er ist nicht Bestandteil des
vorliegenden Investitionsprogramms. Das war eine Ent-

scheidung, die Franz Müntefering gefällt hat. Wir wer-
den jetzt im Zuge der Bewertung, die wir im Rahmen
der Neufassung des Bundesverkehrswegeplanes zu tref-
fen haben, festlegen, in welcher Schrittfolge der Weiter-
bau erfolgen wird und erfolgen soll.


(Beifall bei der SPD)

Dafür haben wir die notwendige Sicherung der bereits
gemachten Planfeststellungen eingeleitet. Das heißt, es
wird keinen Verfall der geplanten Investitionen, wie er
befürchtet worden ist, geben.

Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt hin-
weisen, und zwar auf das Verkehrsprojekt „Deutsche
Einheit“ Nr. 8. Davon ist dieses nur ein Teil, nämlich
der Teil 8.1. Wir haben den Teil 8.3, der die Strecke
zwischen Berlin und Halle/Leipzig betrifft, mit einem
Aufwand von etwa 3 Milliarden DM fast schon fertig
gebaut. Es gibt noch einige Ingenieurbauwerke, die fer-
tig gestellt werden müssen. Im Jahre 2002 kann bei die-
sem Investitionsvorhaben dann der Verkehr starten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Genau, auch das ist eine Leistung, die man einmal un-
terstreichen und betonen sollte.

Wir sind, was die Neubau- und Ausbaustrecke Leip-
zig/Halle–Erfurt angeht, ebenfalls dabei, Teilabschnitte
zu bauen. Auch dort geht die Arbeit weiter. Im Rahmen
des Abschnittes 8.1 wird weiter bis Ilmenau gebaut.

Ich freue mich, dass es auch vonseiten der Union Un-
terstützung für dieses Schienenprojekt gibt.


(Zuruf von der SPD: Das ist etwas ganz Neues!)


Denn ansonsten hat sie immer wieder in Richtung mei-
ner Arbeit Vorwürfe dahin gehend gemacht, dass wir
uns zu sehr auf die Schiene kaprizieren und die Straße
vernachlässigen. An dieser Stelle schönen Dank dafür,
dass Sie sagen, dass unsere Ausrichtung auf die Priorität
der Schiene von Ihnen – jedenfalls in diesem Fall – mit-
getragen und unterstützt wird.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass die Zu-

rückstellung von Investitionen, die wir haben vorneh-
men müssen, eine Konsequenz aus der bestehenden Fi-
nanzsituation ist


(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)

und nicht darauf beruht, dass man diese Strecke mögli-
cherweise nicht so sehr unterstützt wie andere. Diese
Konsequenz aus der Finanzsituation hat natürlich etwas
mit Ihrer Politik in der Vergangenheit zu tun.

Diese Entscheidung hat übrigens auch etwas mit den
Prioritäten der Bahn zu tun. Man muss darauf hinwei-
sen, dass es Herr Dürr und Herr Ludewig waren, die
hinsichtlich der Prioritätensetzung, wenn es also darum
ging, Schieneninvestitionen in eine bestimmte Reihen-
folge zu bringen, gesagt haben, man möge diese Strecke
bitte zurückstellen. Es sollte nicht vergessen werden,






(A)



(B)



(C)



(D)


dass wir alle unsere Investitionen in diesem Bereich in
Zusammenarbeit mit der Bahn vorantreiben.

Wenn Herr Mehdorn jetzt von seiner Seite aus gesagt
hat, dass er im Rahmen eines größeren Konzeptes auch
diese Strecke verwirklicht sehen möchte, dann steht er
nicht im Widerspruch zu uns. Selbstverständlich wollen
wir diese Strecke, wenn sie sich verantwortlich reali-
sieren lässt, verwirklichen. Wenn uns die Bahn sagt,
welche anderen Projekte sie nicht mehr weiterverfolgen
will, dann kann auch noch über eine Veränderung der
Prioritätensetzung geredet werden. Aber Herr Mehdorn
hat doch eindeutig erklärt, dass es zu dem, was wir in
der nächsten Zeit vorhaben, keine Alternativen gibt.
Dies wäre nur über eine zusätzliche Finanzierung mög-
lich. Eine zusätzliche Finanzierung scheitert nun einmal
an den Haushaltsgegebenheiten, mit denen wir zurecht-
kommen müssen – als Konsequenz Ihrer Politik in der
Zeit, in der Sie die Verantwortung getragen haben.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319100
Herr Minister, ich
darf Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Eine letzte Bemerkung sei
mir erlaubt: Wenn es darum geht, Investitionen in Ver-
kehrsprojekte zu tätigen, dann kann ich die Thüringer
beruhigen. Wenn man die Investitionen auf die Einwoh-
nerzahl umrechnet, wird man feststellen, dass es kein
Bundesland gibt, das so gut bedient wird wie Thüringen.


(Beifall bei der SPD – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Grund zu stänkern!)


Wir sind stolz, dass wir auch in ein neues Bundesland so
viel Geld sinnvoll investieren können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319200
Ich schließe die
Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2692, 14/2906, 14/2914 und
14/2525 zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Län-
der, den Ausschuss für Tourismus, den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union und den
Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es weitere Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 8 ist abgesetzt worden. Ich rufe
deswegen den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer,

Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.

Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht
– Drucksachen 14/1335, 14/2840 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1409319300
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir zu
dem Antrag zur Abschaffung der Arbeitserlaub-
nispflicht während der letzten neun Monate erleben
konnten – so lange hat es aufgrund der Verzögerungs-
taktik der Regierungskoalition gedauert, bis wir im Ple-
num wieder darüber beraten können –, hat sehr verwun-
dert. Von der Union hätte man es vielleicht noch erwar-
ten können, aber dass auch Rot und Grün in reaktionären
Denkmustern gefangen sind, hätte man nach den Äuße-
rungen im Wahlkampf, nach dem Wahlprogramm der
Grünen, aber auch nach den Bundesparteitagsbeschlüs-
sen der SPD in Berlin im Dezember letzten Jahres nicht
erwartet.

Die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht ist durch
den Vorstoß von Herrn Bundeskanzler Schröder noch
aktueller geworden. Natürlich gibt es schon Menschen
im Land, die arbeiten könnten und wollten, die es aber
nicht dürfen, die zwangsweise, aufgrund eines Arbeits-
verbotes, an den Tropf der Sozialkassen gehängt wer-
den, obwohl sie die Möglichkeit hätten, selbst für ihren
eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Mit unserem Antrag auf Abschaffung der Arbeitser-

laubnispflicht verfolgen wir fünf Ziele gleichzeitig: Wir
wollen Schwarzarbeit verringern, Bürokratie abbauen,
offene Arbeitsplätze schneller besetzen, die Verwaltung
vereinfachen und nicht zuletzt die Menschenwürde der
Betroffenen stärken. Es ist menschenunwürdig, wenn
man, obwohl man arbeiten könnte und wollte, wenn es
einen Arbeitgeber gibt, der einen einstellen würde, wenn
es einen Arbeitsplatz gibt, der nicht anderweitig besetzt
werden kann, trotzdem von staatlicher Seite verpflichtet
wird, nicht zu arbeiten und Sozialleistungen zu bezie-
hen. Die Argumente, die während dieser neun Monate
zu hören waren, waren teilweise grotesk, teilweise
spießbürgerlich und unredlich.

Der Gewerkschaftsvorsitzende Schulte hat im „Fo-
rum Migration“ des DGB im Februar 2000 geschrie-
ben – bei 243 Gewerkschaftsmitgliedern in der SPD-
Fraktion ist das vielleicht nicht ganz uninteressant –:

Grundsätzliche Arbeitsverbote für bestimmte Per-
sonengruppen ... sind überflüssig.

Er schreibt weiter:

Bundesminister Reinhard Klimmt






(A)



(B)



(C)



(D)


Befürchtungen, dass es bei einer Öffnung des Ar-
beitsmarktes für alle, die sich rechtmäßig in
Deutschland aufhalten, zu Verdrängungseffekten
kommen könnte, teilt der DGB nicht.

Sie seien – so Schulte –
„auch historisch unbegründet. So sank die allge-
meine Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zwi-
schen den Jahren 1985 und 1990 um 420 000 Men-
schen bei einem gleichzeitigen Anstieg der sozial-
versicherungspflichtigen Ausländer um ca.
260 000.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, kein Nicht-
deutscher in diesem Land nimmt einem Deutschen den
Arbeitsplatz weg. Alles andere ist ein Ammenmärchen.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Es gibt viele Arbeitsplätze, die aus vielerlei Gründen
nicht besetzt werden können, und zwar auf allen Quali-
fikationsniveaus, sowohl im Niedriglohnbereich als auch
im hoch qualifizierten Bereich. Es gibt Menschen, die
wollen für ihren Lebensunterhalt selbst arbeiten, und Sie
verhindern das.

Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung,
Frau Marieluise Beck, hat laut der „Berliner Zeitung“
vom 2. März 2000 gesagt:

Zudem plädiert Beck dafür, das Arbeitsverbot für
Asylbewerber und Flüchtlinge aufzuheben. „Unter
ihnen befinden sich auch viele Fachleute, bei-
spielsweise indische Software-Spezialisten“, betont
die Bundesausländerbeauftragte. Mit der Aufhe-
bung des Arbeitsverbots könnten die unter Fach-
kräfte-Mangel leidenden Branchen Mitarbeiter ge-
winnen.

Frau Beck, jawohl, Sie haben Recht. Aber dann ma-
chen Sie es, Sie regieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das Einzige, wozu Sie in der Lage sind, ist, einen Ar-
beitskreis zu gründen, nachdem sich die Kanzlerrunde
nicht geeinigt hat, wie sie mit diesem dringenden Pro-
blem der Bundesrepublik Deutschland umgeht.

Es gibt Menschen in diesem Land, die seit Jahren
zwangsweise aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen
werden, obwohl es Arbeitsplätze gibt, die nicht ander-
weitig besetzt werden können. Arbeitsverbote schaden
nicht nur den betroffenen Menschen, Arbeitsverbote
schaden der deutschen Wirtschaft, Arbeitsverbote erhö-
hen die Schwarzarbeit und belasten öffentliche Haushal-
te durch Mindereinnahmen und Mehrausgaben, Arbeits-
verbote führen nicht zuletzt dazu, dass Vorurteile in die-
sem Land gepflegt werden. Es gibt genügend Stammti-
sche, an denen behauptet wird: Ausländer in diesem
Land schaffen nichts. Aber dass diese nicht dürfen, wird
nicht gesagt. Das ist falsche Politik. Sie haben jetzt die
Möglichkeit, das, was Sie im Wahlkampf versprochen
haben, zu tun.


(Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319400
Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lasse keine
Zwischenfragen zu und sage auch, warum. Ich bitte da-
für um Verständnis. Wir stehen alle ein bisschen unter
Zeitdruck. Alle Fraktionen haben heute Abend noch
Verpflichtungen. Wir haben Gäste eingeladen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ausnahmsweise hat sie Recht, die Frau Präsidentin!)


Ich bitte sehr um Nachsicht dafür, dass ich keine Zwi-
schenfragen zulasse.

Herr Kollege, Sie haben weiter das Wort.

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da hat er aber Glück gehabt, der Niebel!)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1409319500
Ich hätte Glück gehabt, wenn
die Frau Präsidentin die Frage zugelassen hätte. Dann
hätte ich zeigen können, wie scheinheilig grüne Politik
ist, seit Sie, Frau Marieluise Beck, in der Regierung
sind.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das betrifft insbesondere die Ausländerpolitik dieser
bündnisgrünen Bundestagsfraktion. Sie haben nichts au-
ßer einem Staatsbürgerschaftsrecht zuwege gebracht,
das Sie von der F.D.P. vorgesetzt bekommen haben. Sie
haben überhaupt nichts geleistet: heiße Luft durch die
ganze Bank.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unglaublich! Als die F.D.P. regiert hat, ist der Clever-Erlass gekommen!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ar-
beitsverbot führt zu geradezu grotesken Notwendigkei-
ten. Ich zitiere noch einmal, und zwar aus der Unterrich-
tung durch den Bundesrechnungshof zur Haushalts-
und Wirtschaftsführung unter der Textziffer 84.3.1. Da-
rin – es geht um die Vorrangprüfung – stellt der Bundes-
rechnungshof formaljuristisch korrekt fest:

Es entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers,
wenn Arbeitsämter Fortsetzungserlaubnisse

– das sind die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse,
für die die Arbeitserlaubnis verlängert werden muss –

schon deshalb erteilen, um nicht in bestehende Be-
schäftigungsverhältnisse einzugreifen. Wird die
Arbeitserlaubnis ... versagt, muss ... gegebenenfalls
auch der Verlust des Arbeitsplatzes hingenommen
werden. Die Ausübung einer bisher erlaubten Tä-
tigkeit schafft insoweit keinen Vertrauenstatbe-
stand.

Das geltende Recht führt zu nichts anderem als zu ei-
nem Stellenbesetzungsmonopol durch eine öffentliche
Verwaltung. Hier wird durch Verwaltungsakt ein Ar-
beitsvertrag zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern
verhindert, die miteinander ins Geschäft gekommen
sind, die sich geeinigt haben, dass sie zusammen auch
zum Wohle dieses Volkes das Wirtschaftswachstum

Dirk Niebel






(A)



(B)



(C)



(D)


mehren wollen und die Menschen in ihren individuellen
Rechten stärken wollen. Dieses Stellenbesetzungsmono-
pol ist unerträglich und führt zu erheblichen Verwerfun-
gen am Arbeitsmarkt.

Wenn die Bundesregierung behauptet, dass sie sich
bemüht, Menschenrechte zu stärken, dass sie sich insbe-
sondere auch um Integrationsleistungen für Nichtdeut-
sche bemüht, die sich legal in diesem Land aufhalten
und deswegen auch einen Anspruch auf Leistungen ir-
gendeiner Sozialkasse haben, wenn sie sich bemüht, die-
se zu integrieren, muss man ihr vorhalten, dass sie in
diesem Punkt, nämlich die Menschen, die sich ohnehin
schon hier befinden und arbeiten können und wollen, zu
integrieren, kläglich versagt hat. Sie haben die Men-
schen vor der Wahl belogen und betrogen. Sie setzen
das fort in einem Arbeitskreis, der auch weiterhin nur
heiße Luft produzieren wird, weil Sie vor den Stammti-
schen Angst haben. Das ist keine zukunftsweisende
Politik. Ich persönlich bin sehr von Ihnen enttäuscht. Ich
weiß, dass viele Menschen in diesem Land, die mit Aus-
länderinnen und Ausländern zusammenarbeiten, von Ih-
nen ähnlich enttäuscht sind und Sie jedes Maß an
Glaubwürdigkeit bei diesen Personengruppen verloren
haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319600
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Kollegin Marieluise Beck fühlt sich
so angegriffen, dass sie jetzt um das Wort zu einer
Kurzintervention bittet. Ich muss sie zulassen, ich finde
sie auch in Ordnung. Kollege Niebel, Sie dürfen darauf
antworten. Mein Bemühen, zügig zu verfahren, darf
nicht dazu führen, dass wir die Inhalte verschleiern.

Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Lieber Kollege Niebel, Sie sind in dieser
Legislaturperiode neu ins Parlament gekommen, deswe-
gen sollte man vielleicht etwas nachsichtig sein. Sie ma-
chen aber nicht erst seit einem Jahr Politik, und deswe-
gen dürfte es Ihnen nicht entgangen sein, dass der Cle-
ver-Erlass, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge, gegen das
ich mich ausspreche, entstanden ist, als die F.D.P. zu-
sammen mit der Union regiert hat.


(Leyla Onur [SPD]: So ist das!)

Dass Sie sich vor diesem Hintergrund hier hinstellen
und die Backen aufblasen, finde ich äußerst verwunder-
lich.


(Beifall bei der SPD)

In diesem Punkt kann ich nur sagen: Denken Sie an die
Zeit, als Sie mitregiert haben und die Ausländerbeauf-
tragte von der F.D.P. den Clever-Erlass nicht verhindert
hat. Wir sind jetzt nach Kräften dabei, diesen Erlass bei-
seite zu räumen. Sie werden auch noch erleben, dass die-
ser Erlass fallen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319700
Herr Kollege Niebel.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1409319800
Sehr geehrte Frau Kollegin
Beck, Sie wissen, dass sich die ehemalige Ausländerbe-
auftragte massiv gegen den Clever-Erlass ausgesprochen
hat


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Warum hat sie sich nicht durchgesetzt?)


und dass wir das gleiche Problem hatten, das Sie nun al-
le naselang mit Ihrem großen Koalitionspartner haben.
Wir konnten uns nicht durchsetzen. Tun Sie jetzt nicht
so, als ob Sie ständig grüne Programmatik umsetzen
würden. Sie leisten überhaupt nichts.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist eine Unverschämtheit, Herr Niebel!)


Liebe Frau Kollegin Beck, ich darf auf eines hinwei-
sen: Die Ausländerbeauftragten des Bundes und der
Länder haben diesen Antrag auf ihrem Treffen bis zu
dem Moment außerordentlich wohlwollend zur Kenntnis
genommen, als der Ausländerbeauftragte des Landes
Mecklenburg-Vorpommern darauf hingewiesen hat, dass
dies ein Antrag der F.D.P. sei und man ihn daher nicht
unterstützen könne. Wenn Sie Ausländer so integrieren
wollen, sind Sie auf dem falschen Weg.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409319900
Nun hat das Wort
die Kollegin Leyla Onur, SPD-Fraktion.


Leyla Onur (SPD):
Rede ID: ID1409320000
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! An Scheinheiligkeit und
insbesondere Vergesslichkeit ist die F.D.P. überhaupt
nicht zu übertreffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie als neuer, aber nicht frischer Abgeordneter mögen
das vielleicht verdrängen.


(Parl. Staatssekretär Gerd Andres: Der ist schon altbacken!)


Eines sollten Sie aber nicht vergessen: Der F.D.P. ist es,
als sie mit an der Regierung war, wenn es ihr wirklich
ernst war, immer gelungen, den großen Koalitionspart-
ner so unter Druck zu setzen, dass er bestimmte Dinge
nicht umsetzen konnte. Ich kann Ihnen Beispiele aufzäh-
len, die sehr wichtig waren. Das galt zum Beispiel für
die Veränderung im Pflege-Versicherungsgesetz. Alles
war schon abgesprochen und abgestimmt, und Sie, die
Vertreter der F.D.P., haben die CDU so lange geknetet
und zurechtgestutzt, bis sie von dieser Vereinbarung zu-
rücktreten musste.

Stellen wir doch einfach ehrlich fest: Es war Ihnen
gar nicht ernst damit, das Arbeitsverbot für Asylbe-

Dirk Niebel






(A)



(B)



(C)



(D)


werber, für Flüchtlinge und geduldete Ausländer zu ver-
hindern. Es war Ihnen nicht ernst damit. Vergießen Sie
deshalb jetzt keine Krokodilstränen darüber, dass dieses
Arbeitsverbot – ich sage ausdrücklich: bedauerlicher-
weise – immer noch existiert.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie regieren doch!)

Alle Änderungen in Bezug auf die Arbeitserlaubnis-

pflicht sind in Ihrer Zeit unter Ihrer Verantwortung vor-
genommen worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie heute feststellen, das muss anders werden,
dann sagen Sie damit klar und deutlich – dabei gebe ich
Ihnen sogar zum Teil Recht –, dass Ihre Politik falsch
gewesen ist.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wir haben uns nicht durchgesetzt, das ist richtig!)


Dann haben Sie Recht. Sie haben nicht immer, nicht in
allen, aber in vielen Punkten Recht. Ihre Politik war
falsch. Wenn Sie das heute zugeben, könnte man viel-
leicht sagen: Sie sind auf dem Wege der Besserung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schauen wir uns aber den Antrag genauer an. Worum
geht es eigentlich? Geht es wirklich darum, den Men-
schen etwas Gutes zu tun, wie Sie den Eindruck zu er-
wecken versuchten? Nein, ganz im Gegenteil. Es geht
Ihnen um etwas ganz anderes. Aber der Reihe nach. Ich
werde mich nicht all diesen Argumenten zuwenden. So
wichtig sind sie nicht.

Fangen wir einmal bei der Schwarzarbeit an. Sie
wollen mit Ihrem Antrag, die Arbeitserlaubnispflicht ab-
zuschaffen, die Schwarzarbeit bekämpfen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Auch! Natürlich!)

Das klingt erst einmal sehr löblich; denn Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung sind in der Tat kriminelle
Machenschaften, die einen gesamtwirtschaftlichen
Schaden in Milliardenhöhe verursachen.


(Zuruf des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

– Schwatzen Sie nicht immer dazwischen. Wenn Sie re-
den wollen, dann nehmen Sie sich gefälligst Redezeit.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie können uns gern etwas abtreten!)


Sie behaupten, das sei nun ein wirksames Instrument,
um Schwarzarbeit zu bekämpfen. Das ist natürlich
falsch; denn es geht der F.D.P. um etwas anderes. Sie
schlagen nicht vor, gegen den massiven Betrug und die
Betrüger vorzugehen, also gegen die Arbeitgeber, die il-
legale Arbeitskräfte beschäftigen, sondern Sie wollen,
dass die Regeln, die illegale Beschäftigung und
Schwarzarbeit verbieten, abgeschafft werden. Das ken-
nen wir von Ihnen übrigens schon.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Es gehören doch immer zwei dazu! Wie soll sich ein illegal Beschäftigter gegen Lohndumping wehren?)


Wie war das neue Motto der F.D.P.? Wenn eine be-
stimmte Gruppe der Bevölkerung gegen ein geltendes
Gesetz verstößt, dann muss man sie nicht bestrafen,
sondern man muss das Gesetz abschaffen. Das ist die
neue F.D.P.-Philosophie.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist ja lächerlich!)

Demnächst bringen Sie den folgenden Antrag ein: Weil
einige Menschen in diesem Land gegen Verkehrsregeln
verstoßen, schaffen wir die Verkehrsregeln ab. Dann
fährt jeder so, wie er will.

Nennen wir einmal das Kind beim Namen. Sie wol-
len, dass endlich die Arbeitgeber ungehindert und un-
kontrollierbar willige und natürlich billige Arbeitskräfte
zum Heuern und Feuern zur Verfügung gestellt bekom-
men.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wo steht das?)

Das nennen Sie auch noch sozial gerecht. Das ist uner-
hört. Das ist deswegen mit uns natürlich nicht zu ma-
chen.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist skandalös, was Sie hier sagen!)


Wir wollen und wir werden, Herr Niebel, wie im Ko-
alitionsvertrag festgehalten, gegen illegale Beschäfti-
gung und Schwarzarbeit vorgehen, und zwar mit einem
Gesetz und nicht durch die Abschaffung notwendiger
und zum Teil auch richtiger Regeln.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie sollten sich mit Ihrer Argumentation schämen!)


Lesen wir in Ihrer tollen Begründung weiter. Ich zi-
tiere:

Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt und damit die
Bestreitung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft
gehören zu den Grundlagen eines menschenwürdi-
gen Lebens und individueller Freiheit.

Da haben Sie völlig Recht.

(Dirk Niebel [F.D.P.]: Richtig! Da stimmen Sie doch zu?)

Das klingt in der Tat in Ihrem Text edel, hilfreich und
gut. Aber Sie meinen etwas ganz anderes. Mit der Ab-
schaffung der Arbeitserlaubnispflicht soll Ausländern in
Not – das sollten wir nicht vergessen: in Not – die indi-
viduelle Freiheit gewährt werden, körperlich schwere
und schmutzige Arbeit mit geringen intellektuellen An-
sprüchen zu Niedrigstlöhnen anzunehmen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie können ja noch nicht einmal lesen!)


– Die Adjektive stammen aus Ihrem Antrag und aus Ih-
rer Begründung. Offensichtlich wissen Sie nicht, was in
Ihrer Begründung steht.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie müssen den Zusammenhang lesen!)


Das heißt, Asylbewerber, Flüchtlinge und geduldete
Ausländer sollen als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt
für Lohn- und Sozialdumping benutzt werden. Das

Leyla Onur






(A)



(B)



(C)



(D)


allein ist schon schändlich, aber es ist nicht alles. Wenn
sich diese Menschen trotz ihrer Notlage weigern sollten,
zu Niedrigstlöhnen, womöglich noch unter dem Sozial-
hilfesatz, Arbeit abzulehnen, dann endlich kann man Ih-
nen die Sozialhilfe kürzen. Steht das in Ihrer Begrün-
dung oder nicht? Das hat mit Menschenwürde und indi-
vidueller Freiheit gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil.
Es geht aber noch weiter.

Ganz nebenbei beleidigen Sie, meine Damen und
Herren von der F.D.P., soweit Sie noch hier sind, in Ih-
rer Begründung zu diesem Antrag die Menschen in un-
serem Lande, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung ste-
hen, also die Arbeitslosen in unserem Lande, indem Sie
sie als unmotiviert, zu gering qualifiziert und nicht bereit
zu körperlicher Arbeit abqualifizieren. Das ist eine sol-
che Ungeheuerlichkeit, dass Sie sich dafür schämen soll-
ten, Herr Niebel und meine Damen und Herren von der
F.D.P.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt sicherlich noch mehr zu diesem Antrag zu sa-
gen. Aber ich meine, er ist es nicht wert, dass man sich
mit ihm weiter befasst. Wir werden diesen unsäglichen
Antrag heute ablehnen. Aber wir sind nicht untätig und
werden es auch in Zukunft nicht sein. Wir werden den
Zielkonflikt zwischen hoher Arbeitslosigkeit und Er-
leichterung des Arbeitsmarktzugangs für Migranten und
Migrantinnen auflösen. Wir werden auch den Arbeits-
marktzugang für Flüchtlinge, Asylbewerber und gedul-
dete Ausländer auf eine neue Rechtsgrundlage stellen.
Das heißt im Klartext: Der Clever-Erlass mit dem Total-
arbeitsverbot kommt weg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Abschließend sage ich Ihnen: Die Arbeiten daran sind
in der Tat längst im Gange und werden – allerdings mit
der gebotenen Sorgfalt und Gründlichkeit – fortgesetzt
und zu einem Ergebnis geführt, das allen Menschen, die
in unserem Lande leben, unabhängig von ihrer Herkunft
oder ihrem Status gerecht wird. Das werden wir auch
schaffen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409320100
Herr Kollege Niebel
möchte, weil er sich persönlich angegriffen fühlt, eine
Kurzintervention machen. Frau Kollegin Onur, darauf
dürfen Sie antworten.

Herr Kollege Niebel, bitte.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der klaut sich immer Redezeit auf dieser Weise, in jeder Debatte!)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1409320200
Frau Präsidentin, ich danke Ih-
nen. Ich habe um diese Kurzintervention gebeten, weil

Frau Onur offenkundig nicht in der Lage ist, im Zu-
sammenhang korrekt zu zitieren.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oberlehrerhaft! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Na, na, na!)


Sie hat Bruchstücke der Antragsbegründung mit eigener
Meinung vermischt.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat den Antrag unter
anderem damit begründet, dass beispielhaft im Niedrig-
lohnsektor trotz 4,3 Millionen Arbeitslosen viele Ar-
beitsplätze nicht besetzt werden können, unter anderem
wegen geringer Bezahlung in diesem Bereich, aber auch,
weil es oftmals schmutzige Tätigkeiten sind, ebenso,
weil es oftmals keinen attraktiven Anreiz für die deut-
schen oder bevorrechtigten Arbeitslosen auf dem Ar-
beitsmarkt gibt, diese Tätigkeiten anzunehmen. Das ist
eine beispielhafte Aufzählung.

Sie wissen ganz genau, Frau Onur, dass sich die
Möglichkeit der Beschäftigung von Nicht-EU-
Ausländern über das gesamte Spektrum des Arbeits-
marktes bewegt. Das zeigt übrigens auch die vom Herrn
Bundeskanzler angestoßene Debatte zur so genannten
grünen Karte.


(Zuruf von der SPD: Wichtigtuer!)

Allerdings wissen Sie ebenso genau wie jeder andere
hier im Haus, dass es viele Bereiche gibt, in denen ins-
besondere Ausländer eine Chance haben, in den Ar-
beitsmarkt zu kommen, weil Deutsche diese Tätigkeiten
nicht ausüben. Das ist kein Ausschließungsgrund; es ist
nicht so, wie Sie es dargestellt haben. Des Weiteren ha-
ben Sie behauptet, die F.D.P. würde mit diesem Antrag
Schwarzarbeit und Lohndumping unterstützen wollen.
Das ist falsch.


(Konrad Gilges [SPD]: Schwätzer!)

Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitsplatz zu besetzen

hat und einen Arbeitnehmer findet, der diese Tätigkeit
ausüben möchte, und beide können aufgrund rechtlicher
Bedingungen nicht zusammenkommen und sind in die-
sem langwierigen Verfahren, das ich in der ersten Le-
sung beschrieben habe, sozusagen gefangen, dann fin-
den sie womöglich andere Wege, um ins Geschäft zu
kommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Könnten wir das vielleicht ein bisschen abkürzen, Frau Präsidentin?)


Das wäre dann Schwarzarbeit.
Das bedeutet, dass wir sowohl den Arbeitgebern als

auch den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben möch-
ten, miteinander ins Geschäft zu kommen, und zwar auf
legale Art und Weise. In dem Antrag steht nirgendwo,
so wie Sie behauptet haben, dass wir tarifvertragliche
Regelungen außer Kraft setzen wollten, im Gegenteil.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409320300
Herr Kollege, ich
darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Leyla Onur






(A)



(B)



(C)



(D)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1409320400
Das ist der letzte Satz. – Gegen
Lohndumping kann sich nur derjenige wehren, der sich
in einem legalen Beschäftigungsverhältnis befindet, weil
der Illegale, so er gegen das Lohndumping kämpfen
würde, als Illegaler erkannt und damit seiner Existenz
beraubt werden würde.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hören Sie auf! Das war der letzte Satz!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409320500
Ich bitte darum,
meine Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese Inter-
vention zulassen. Jetzt hat Frau Kollegin Onur das Wort,
um darauf zu antworten. Bitte sehr.


Leyla Onur (SPD):
Rede ID: ID1409320600
Herr Kollege Niebel, ich habe ja
Verständnis dafür, dass Sie noch einmal versuchen, auf
diese Weise zusätzliche Redezeit herauszuschlagen,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist doch lächerlich, wenn Sie mich hier beschimpfen!)


aber wir haben alle Argumente ausgetauscht. Ich sage
Ihnen noch einmal: Durch die Wiederholung werden Ih-
re Argumente nicht besser.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur zur Klarstellung: Sie sollten einmal genauer hin-
hören. Ich kann Ihnen versichern: Ich weiß immer ganz
genau, was ich sage.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das glaube ich nicht!)

Erstens. Ich habe beispielsweise nicht gesagt, Sie hät-

ten in der Begründung Ihres Antrages geschrieben, alle
Arbeitslosen in diesem Lande seien unmotiviert, unqua-
lifiziert und zu körperlicher Arbeit nicht bereit. Ich habe
gesagt, Arbeitslose in diesem Lande. Das ist ein Unter-
schied, den ich Ihnen gern bei Gelegenheit ausführlich
erkläre. Das habe ich nämlich einmal als Beruf gelernt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ja, Sie sind Lehrerin! Das merkt man!)


Zweitens bin ich auch aufgrund dieser beruflichen Aus-
bildung in der Lage, korrekt zu zitieren, allerdings auch,
zwischen Interpretation eines Textes und dem Zitieren
eines Textteils zu unterscheiden. Wenn Sie genau zuge-
hört hätten, dann wüssten Sie jetzt, was das eine und
was das andere ist.

Ansonsten sprechen Ihr Antrag und insbesondere sei-
ne Begründung für sich. Die Wiederholung der dort auf-
geführten Argumente macht ihn weder besser noch ak-
zeptabler.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409320700
Nun hat das Wort
der Kollege Franz Romer, CDU/CSU-Fraktion.


Franz Romer (CDU):
Rede ID: ID1409320800
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Meine Damen! Meine Herren! Die F.D.P.-

Fraktion möchte die Arbeitserlaubnispflicht für Nicht-
EU-Ausländer abschaffen. Damit soll das Recht aufge-
hoben werden, das – wie es das Bundessozialgericht
formuliert – der Sicherung des Vorrangs deutscher und
ihnen gleich gestellter Arbeitskräfte auf dem inländi-
schen Arbeitsmarkt dient. Da die Lage auf unserem Ar-
beitsmarkt nach wie vor sehr angespannt ist, frage ich,
welche Gründe für die Aufhebung dieses Schutzes spre-
chen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die F.D.P. möchte mit ihrem Antrag die Schwarzar-

beit verringern, offene Arbeitsplätze besetzen und Büro-
kratie abbauen. Diese Ziele werden sicherlich partei-
übergreifend als wünschenswert angesehen. Aber dabei
ist zu berücksichtigen, dass eine Umsetzung des Antrags
der F.D.P.-Fraktion einen zusätzlichen Anreiz für Aus-
länder bedeuten würde, den Weg in die Bundesrepublik
Deutschland zu suchen. Asylbewerber und Flüchtlinge,
die wohl die Hauptbegünstigten einer Neuregelung wä-
ren, würden sich noch mehr als bisher auf Deutschland
konzentrieren; denn in anderen EU-Ländern benötigen
Ausländer in der Regel eine Arbeitserlaubnis. Warum
sollte die Bundesrepublik im Alleingang mit einer Neu-
regelung vorpreschen?

Wir haben unser Asylrecht bekanntermaßen schon
sehr großzügig geregelt. Wenn Asylbewerber während
ihres häufig sehr lange dauernden Asylverfahrens von
Beginn an arbeiten dürften, dann wäre dies eine zusätz-
liche Einladung, auf jeden Fall in der Bundesrepublik
Deutschland einen Asylantrag zu stellen.


(Angela Marquardt [PDS]: Das wäre doch super!)


Ich schlage vor, einen EU-weiten Konsens zu suchen.
Die Europäische Union hat den Mitgliedstaaten bereits
Empfehlungen zur Regelung des Arbeitsrechts für Dritt-
staatler zukommen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist vorgesehen, noch in diesem Jahr eine Harmonisie-
rung innerhalb der Europäischen Union herbeizuführen.
Ein entsprechender Bericht der Kommission befindet
sich in der Vorbereitung. Schon im Hinblick auf die be-
vorstehenden Regelungen auf EU-Ebene macht es kei-
nen Sinn, unser Arbeitserlaubnisrecht jetzt zu ändern.

Im Zusammenhang mit dem Thema Asylbewerber
möchte ich auf das Problem der Residenzpflicht hin-
weisen. Während des Asylverfahrens ist der Aufenthalt
räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde be-
schränkt, in dem sich der Ausländer aufhält bzw. in dem
die Aufnahmeeinrichtung liegt. Nur durch diese Begren-
zung der Freizügigkeit kann die ordnungsgemäße
Durchführung des Asylverfahrens gewährleistet werden.

Ich möchte jetzt auf eine andere Gruppe Ausländer zu
sprechen kommen, nämlich auf die, die im Rahmen des
Familiennachzugs nach Deutschland kommen. Diese
Gruppe von Ausländern darf nach § 17 des Ausländer-
gesetzes nur dann einreisen, wenn ihr Lebensunterhalt
gesichert ist. Es muss ausreichender Wohnraum zur Ver-
fügung stehen. Das Einkommen der Familie darf rein






(A)



(B)



(C)



(D)


rechnerisch schon gar nicht unter der Sozialhilfegrenze
liegen. Hier ist ein Missbrauch der Sozialleistungen, den
die F.D.P. angesprochen hat, von vornherein ausge-
schlossen. Diese Gruppe von Ausländern würde nach
dem Willen der F.D.P. ebenso wie Asylbewerber und
Flüchtlinge direkt bei Feststellung ihres rechtmäßigen
Aufenthalts das Recht auf Arbeit bedingungslos erhal-
ten. Bisher ist dafür nach § 286 des Sozialgesetzbu-
ches III ein sechsjähriger ununterbrochener Aufenthalt
in Deutschland Voraussetzung.

Dass Ausländer, die schon viele Jahre in Deutschland
leben, eine Arbeit aufnehmen, ist nicht zuletzt auch un-
ter Integrationsaspekten zu befürworten. Ist dagegen
beispielsweise ein Asylverfahren schon negativ abge-
schlossen worden und wird der Asylbewerber nur noch
geduldet, so würde eine Abschiebung bei Vorliegen ei-
nes Arbeitsplatzes für alle Beteiligten, den betroffenen
Ausländer, den Arbeitgeber und nicht zuletzt die Behör-
den, unglaublich erschwert.

Die von der F.D.P. aufgelisteten Arbeitsplätze, die
nur schwer von inländischen Arbeitskräften besetzt wer-
den können, liegen nicht in unbegrenzter Zahl vor. Frü-
her oder später wäre der Arbeitsmarkt gesättigt, für
den überwiegend ausländische Arbeitnehmer gewonnen
werden können. Bereits im Jahre 1998 waren über
500 000 Ausländer in Deutschland arbeitslos. Dies ent-
spricht einem Fünftel der abhängig Erwerbstätigen.

Es sollten andere Lösungswege vorgezogen werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen,
dass im Niedriglohnbereich Wege gefunden werden
müssen, den Abstand von Löhnen und Sozialleistungen
in dem Maße zu wahren, dass Arbeitslose zur Ar-
beitsaufnahme motiviert werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die F.D.P.-Fraktion weist darauf hin, dass Arbeits-

plätze in die Schwarzarbeit verlagert werden, wenn ei-
ne Arbeitserlaubnis nicht oder nicht rechtzeitig erteilt
wird. Es hilft uns nicht weiter, meine Damen und Herren
von der F.D.P., einen derart weit reichenden Gesetzesan-
trag mit dem illegalen Verhalten einiger Arbeitgeber zu
begründen. Wie wir alle wissen, beruht die Schwarzar-
beit nicht allein auf einer Arbeitserlaubnispflicht für aus-
ländische Arbeitnehmer.

Kann für einen Arbeitsplatz kein deutscher Arbeit-
nehmer gefunden werden, liegt dies möglicherweise
auch daran, dass die Arbeitsbedingungen unzureichend
sind. Den Arbeitgebern durch eine Befreiung von der
Arbeitserlaubnispflicht ausländische Arbeitskräfte zur
Verfügung zu stellen, kann keinesfalls im Sinne unserer
ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sein.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie bitte?)


Jährlich wird immerhin in über 1 Million Fällen eine
Arbeitserlaubnis erteilt. Dies bedeutet zwar nicht, dass
jährlich 1 Million Ausländer neu auf dem Arbeitsmarkt
zugelassen werden, da ein Ausländer im Laufe eines
Jahres auch mehrfach eine Arbeitserlaubnis erhalten
kann. Die deutschen Arbeitgeber können schon nach der

heutigen Rechtslage auf eine große Zahl ausländischer
Arbeitskräfte zurückgreifen.

Ernst zu nehmen ist das Argument der Verfahrens-
dauer. Eine Verzögerung der Arbeitsplatzbesetzung um
mehrere Wochen ist für die deutsche Wirtschaft überaus
hinderlich und ruft tatsächlich nach einer Veränderung.
Dazu ist aber eine Abschaffung der Arbeitserlaubnis-
pflicht gemäß § 284 SGB III nicht notwendig. Verbesse-
rungen ließen sich durch eine Änderung des für die Er-
teilung einer Arbeitserlaubnis einschlägigen § 285
SGB III erzielen.

Die CDU/CSU-Fraktion befürwortet einen Abbau der
Bürokratie und eine Beschleunigung des Verfahrens. Sie
kann aber angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen
in Deutschland den Antrag der F.D.P. nicht unterstützen.
Dies wäre gegenüber den inländischen Arbeitssuchen-
den unverantwortlich.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die große Anzahl
von ABM-Beschäftigten nicht in der Arbeitslosenstatis-
tik auftaucht. Für diese, wie auch für alle, die sich in
Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen befinden,
soll langfristig ein Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt ge-
funden werden. Mit Blick auf diese Zahlen darf man
nicht, wie die F.D.P. in ihrer Antragsbegründung, lapi-
dar darauf hinweisen, inländische Arbeitskräfte seien zu
wenig motiviert, zu wenig qualifiziert, die Arbeit stelle
zu geringe intellektuelle Ansprüche oder bringe körper-
liche Belastungen mit sich. Hier muss bei der Motivati-
on und Flexibilität der Arbeitslosen angesetzt und nicht
ein Ersatz durch die Beschäftigung ausländischer Ar-
beitskräfte gesucht werden. Wenn die inländischen Ar-
beitnehmer zu wenig qualifiziert sind, müssen sie wei-
tergebildet werden. Es muss möglich sein, dass die deut-
schen Arbeitgeber bei dem großen vorhandenen Poten-
zial geeignete Arbeitskräfte finden.

Wir dürfen nicht vergessen, dass jährlich über 70 000
Anträge auf eine Arbeitserlaubnis abgelehnt werden. Die
damit zusammenhängenden 70 000 Arbeitsplätze wür-
den den deutschen und den ihnen gleichgestellten Ar-
beitsuchenden, zu denen viele Ausländer gehören, zu
Unrecht vorenthalten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409320900
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409321000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte
gedacht, wir könnten hier eine sachliche Debatte über
den Inhalt des Antrages der F.D.P. führen. Wenn es
nämlich wirklich die Intention des Antrages ist, Flücht-
lingen mit langer Aufenthaltsperspektive eine Arbeitser-
laubnis zu gewähren, müssen wir darüber ruhig und
sachlich diskutieren, weil diese Intention vernünftig ist.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das machen wir seit neun Monaten! Sie schieben es doch dauernd!)


Franz Romer






(A)



(B)



(C)



(D)


Der Beitrag von Herrn Niebel hat uns eben aber gezeigt,
mit was für einer scheinheiligen Profilierungssucht hier
argumentiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wenn sich jemand in der Ausländerpolitik profilieren muss, sind das die Grünen! Die Grünen sind die Einzigen, die kein Profil in der Ausländerpolitik haben!)


Frau Beck hat Ihnen, Herr Niebel, eben schon gesagt,
dass Ihre Fraktion, die F.D.P., verantwortlich für den
Clever-Erlass ist, der ein eindeutiges Arbeitsverbot bei-
spielsweise für Flüchtlinge mit sich gebracht hat. Sie
sind dafür verantwortlich. Wir machen uns daran, diesen
Erlass abzuräumen und überflüssig zu machen.

Noch etwas anderes kommt dazu, an das Sie wohl
auch nicht denken. Sie haben im Jahre 1997 hier einen
Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt und zur
Diskussion gestellt, aus dem deutlich zu entnehmen war,
dass Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen hierher
kommen, bei Ihnen auch unter eine Quotierung fallen
sollen, die beispielsweise ökonomisch begründet wird.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Stimmt doch überhaupt nicht! – Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist keine Quotierung! Das haben Sie falsch gelesen!)


– Das ist richtig; das können Sie nachlesen. – Wenn die-
ses der Hintergrund für Ihr Konzept ist, dann, meine
Damen und Herren, ist es umso richtiger, Ihren Antrag
abzulehnen, weil wir diese Art von Politik nicht wollen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist nicht wahr! Die Flüchtlinge werden nicht quotiert!)


Es mag sein, Frau Lenke, dass bei Ihnen ein Umden-
kungsprozess stattgefunden hat. Die Äußerungen von
Herrn Gerhardt in den letzten Tagen deuten jedenfalls
darauf hin. Das würden wir begrüßen. Vor dem Hinter-
grund des Clever-Erlasses, den Sie zu verantworten ha-
ben, und Ihrer Zuwanderungsvorstellungen können wir
Ihren Vorschlägen aber nicht folgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Richtig ist, dass wir eine Reform des Arbeitsge-
nehmigungsrechtes brauchen. Auch die Koalition ar-
beitet genau an dieser Sache. Zielsetzung dabei muss
sein, die Integration von Migranten zu fördern und zu
beleben. Voraussetzung hierfür ist, die Akzeptanz dafür
bei der inländischen Bevölkerung zu steigern. Wir kön-
nen nämlich darüber nicht einfach hinwegschauen oder
davor die Augen verschließen, dass die Debatte um das
Arbeitserlaubnisrecht im Spannungsfeld zwischen Integ-
rationspolitik und Arbeitsmarktpolitik geführt wird. Es
wird – das wissen Sie alle aus Ihren Wahlkreisen – in
dem Zusammenhang immer wieder die Frage nach den
arbeitsmarktpolitischen Effekten gestellt.

Bei der im Zusammenhang mit der Green Card auf-
gelebten Debatte wurde sozusagen vieles noch einmal

miteinander vermischt. Wir müssen da sehr vorsichtig
sein.


(Heinz Schemken [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen!)


Hier reden wir nämlich über eine ganz andere Personen-
gruppe.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das sind die, die schon hier sind!)


Es geht nicht um eine Personengruppe, die aus ökono-
mischen Gründen hereingeholt werden soll, um Qualifi-
kationslücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen, was
ja sinnvoll ist, sondern es geht hier um eine Gruppe von
Menschen, die hier lebt und ganz unabhängig vom aus-
länderrechtlichen Status eine langfristige Aufenthalts-
perspektive hat. Diese Menschen können nicht zurück
und bleiben deswegen hier. Es handelt sich auch um
Menschen, die nachgezogen sind, und beispielsweise
deswegen nicht in ihre Heimatländer zurückkönnen,
weil ihre Angehörigen nicht zurückkönnen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Um dieser Situation gerecht zu werden, meine Damen
und Herren, brauchen wir aus humanitären Gründen ge-
rade für Flüchtlinge eine Gesamtrevision des Arbeitsge-
nehmigungsrechtes. Auch daran arbeiten wir.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie können heute zustimmen! Dann haben wir es sofort!)


Es ist auch notwendig, meine Damen und Herren,
weil der Arbeitsmarktzugang von einem ungeheuren
Wirrwarr von Maßnahmen und Regelungen bestimmt
ist. Die „FAZ“ – ich weiß nicht, ob Sie sie gestern gele-
sen haben – hat eine ganze Seite gebraucht, um das ein
wenig aufzuschlüsseln. Auch da ist deutlich geworden,
dass nur Intellektuelle, die sich lange damit beschäfti-
gen, die Chance haben, eine Idee von dem Wirrwarr die-
ser Rechtsmaterie zu bekommen. Wir müssen hier Klar-
stellungen vornehmen und entbürokratisieren, weil
durch das Arbeitszugangsrecht viele Ungerechtigkeiten
entstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Heinz Schemken [CDU/CSU]: In allen Bereichen! Völlig richtig! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Ganz einfach: Stimmen Sie zu! Bravo!)


– Wir arbeiten ja daran. Sie haben das Arbeitsverbot
eingeführt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich habe das nicht eingeführt! Frau Schmalz-Jacobsen hat das auch nicht eingeführt! Sie hat sich noch um die Ausländer gekümmert!)


Wir sind – auch im Sinne der Integration und unter Ab-
wägung arbeitsmarktspolitischer Gesichtspunkte – da-
bei, das zu korrigieren, was Sie, Herr Niebel, oder Ihre
Partei in den Sand gesetzt haben.

Dr. Thea Dückert






(A)



(B)



(C)



(D)


Wir wollen die Integration in den Arbeitsmarkt, weil
wir die Argumentation zum Beispiel der Kirchen und
der NGOs richtig finden, dass der Arbeitsmarktzugang
auch ein Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit ist.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Richtig! Dann stimmen Sie doch zu!)


Meine Damen und Herren, der Clever-Erlass ist nicht
nur politisch umstritten; er ist auch rechtlich umstritten.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Noch ein Grund mehr zuzustimmen!)


Es ist völlig eindeutig, dass er weg muss. Wir brauchen
neue rechtliche Regeln. Aber wir brauchen auch das
Gleichgewicht und die Auseinandersetzung mit den ar-
beitsmarktpolitischen Argumenten. Darauf möchte ich
noch in aller Kürze eingehen.

Für einen Arbeitsmarktzugang kommt hier ein Perso-
nenkreis von etwa 100 000 Asylbewerberinnen und
Asylbewerbern sowie Geduldeten in Betracht. Grund-
sätzlich gilt, dass diese Personengruppe aus integrati-
onspolitischen Gründen über den Zugang zum Arbeits-
markt das Recht und die Chance haben muss den eige-
nen Lebensunterhalt zu sichern. Die arbeitsmarktpoliti-
schen Gesichtspunkte und Ängste, die hier vor dem Hin-
tergrund von 4 Millionen Arbeitslosen immer wieder
vorgetragen werden, haben keine Substanz. Das, was
wir durchsetzen wollen, stellt keine Gefahr für den Ar-
beitsmarkt dar. Das stellt der DGB zu Recht fest und
verweist in diesem Zusammenhang auf die Vorrangprü-
fung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie haben nur zwei Argumente! Das ist ja nicht wahr! Das einzige Argument, das Sie gegen uns haben, ist, dass wir uns nicht durchgesetzt haben und Sie nicht dürfen!)


– Herr Niebel, Sie haben hier schon zwei oder drei Mal
geredet. Akzeptieren Sie bitte, dass auch andere von die-
sem Pult aus Ausführungen machen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie stimmen ja nur zu!)

Wir reden hier über etwas, was Sie eingeführt haben. Es
war ungerecht und arbeitsmarktpolitisch unsinnig.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann stimmen Sie uns doch zu! Bitte!)


Die rot-grüne Koalition macht sich nun daran, den
Schrott wegzuräumen, den Sie hinterlassen haben, mei-
ne Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [F.D.P.]: Dann stimmen Sie doch zu! Mein Gott!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409321100
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409321200

Ich denke an die Redezeit.

Das Problem ist vielfältig. Es ist ein integrationspoli-
tisches und ein arbeitsmarktpolitisches Problem.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: So etwas Scheinheiliges ist mir noch nicht untergekommen!)


Wir müssen schrittweise vorgehen. Der erste Schritt ist –
das habe ich schon gesagt – die Abschaffung des Clever-
Erlasses. Weitere Schritte werden im Zusammenhang
mit der Reform des SGB III folgen, weil wir substan-
zielle Verbesserungen im Hinblick auf die Arbeits-
marktzugangsregelung benötigen. Ferner brauchen wir
eine Entbürokratisierung und eine Verbesserung der In-
tegration.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409321300
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist weit überzogen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1409321400

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Wir müssen vielerlei thematisieren: beispielsweise
die Vorrangprüfung bei der Verlängerung von Arbeitser-
laubnissen und den Zugang zum Arbeitsmarkt für Stu-
dentinnen und Studenten sowie Hochschulabsolventen;
Letzeres steht in engem Zusammenhang mit der Green
Card.

Wir machen uns auf den Weg. Sie dagegen haben uns
etwas hinterlassen, was nicht weiter bestehen bleiben
darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wir haben Ihnen die Möglichkeit gegeben, das abzuschaffen! Jetzt stimmen Sie zu!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409321500
Jetzt hat der Kollege
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1409321600
Frau Präsidentin! Kolle-
ginnen und Kollegen! Mir kommt die Diskussion wie
der Tragödie zweiter Teil vor. Der erste Teil ist vor Jah-
ren abgespult worden, als die rechte Seite des Hauses
dieses Gesetz einführte und die linke Seite des Hauses
sich dagegen verwahrte. Damals war man in anderen
Positionen als heute. Wenn die rechte Seite des Hauses
nun ein neues Gesetz einbringt, kann man ihr nicht vor-
werfen, dass sie vielleicht lernfähig ist.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der F.D.P.: Wir gehören nicht zur Rechten! Wir sind liberal!)


Dass nun aber die linke Seite des Hauses – aus welchen
Gründen auch immer – vergisst, dass sie vor Jahren ge-
gen die Einführung dieses Gesetzes war, das geht zulas-
ten der Betroffenen.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.] – Dirk Niebel [F.D.P.]: Da hat Herr Grehn absolut Recht!)


Es gibt noch einen dritten Teil der Tragödie. Diese
wird durch jenen eigenartigen Widerspruch eingeleitet,

Dr. Thea Dückert






(A)



(B)



(C)



(D)


dass Deutschland auf der einen Seite das Brain Drain
neu belebt, indem der deutsche Bundeskanzler ausländi-
sche Informatiker für deutsche Konzerne und Unter-
nehmen anwirbt, und dass die Arbeitgeberverbände
gleich die Messer wetzen und Werber aussenden wollen,
um auch für andere Berufe Arbeitskräfte anzuwerben.
Auf der anderen Seite verweigert oder erschwert man
aber den in Deutschland lebenden ausländischen Mit-
bürgerinnen und Mitbürgern das Recht, den Lebensun-
terhalt durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Was
die Green Card auf der einen Seite ist, ist auf der ande-
ren Seite die Red Card für Migrantinnen und Migranten.
Das ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der PDS)

Es ist auch nicht hinnehmbar, Frau Onur, dass bei der

Green Card schnell und kurzfristig gehandelt wird, dass
man sich aber bei der Red Card fast ein Jahr lang – so
lange liegt das auf dem Tisch – Zeit lässt.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Nur verschleppt!)

Sie können doch schneller handeln, wenn Sie wollen. In
diesem Fall könnten Sie das auch tun.


(Beifall bei der PDS)

Ob das mit Ihren sozialdemokratischen und grünen

Wertvorstellungen zu vereinbaren ist, müssen Sie selber
entscheiden. Die entwürdigenden Bedingungen, etwa die
begrenzte Aufenthaltserlaubnis, unter denen die Einkäu-
fe auf dem internationalen Arbeitsmarkt stattfinden,
kennzeichnen erneut die immer größer werdende Ent-
fernung der jetzigen Bundesregierung von sozialen, hu-
manistischen und demokratischen Überzeugungen. Wer
bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die
Objektivität und die Unausweichlichkeit der Globalisie-
rung beschwört, kann doch nicht ernsthaft annehmen,
dass er diesen Prozess auf dem Arbeitsmarkt und im so-
zialen Bereich überlisten kann.

Das Recht auf Arbeit ist ein Grundrecht. Es steht
auch jetzt bei der Diskussion um eine Charta der Grund-
rechte in der Europäischen Union an vorderster Stelle
der sozialen Grundrechte. Grundrechte gelten für alle
Menschen – gleich, ob sie Bürger der EU sind oder
nicht. Arbeit ist die Grundlage für die Sicherung der
menschlichen Existenz. Niemand hat das Recht, das In-
dividuum seiner Möglichkeit zu berauben, mit seiner ei-
genen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestrei-
ten.


(Beifall bei der PDS)

Genau das aber tut der Zwang, eine Erlaubnis zur Ar-

beit bei einer Behörde beantragen zu müssen. Wer die
Praxis von Ausländerbehörde und Arbeitsamt kennt, der
weiß, wie demütigend und erniedrigend die Behandlung
für ausländische Mitbürger ist, wenn sie – sich meist er-
folglos – in die Schlange einreihen müssen. Was sich in
einer Millionenstadt wie Berlin tagtäglich vor der ein-
zigen Ausländerbehörde abspielt, die noch dazu sehr be-
grenzte Öffnungszeiten hat, ist ein Beispiel für men-
schenunwürdige Behandlung.


(Beifall bei der PDS)


Die Fraktion der PDS unterstützt den vorliegenden
Antrag der F.D.P. Teile der Begründung sind absurd;
lassen wir es dabei. Wichtig ist, dass den Menschen eine
Zukunft gegeben wird. Es ist aber notwendig, dass wir
uns von Relikten der Vergangenheit lösen. Tun Sie dies
konsequent! Sie haben es versprochen. Lassen Sie sich
nicht so viel Zeit!

Dass auch Ämter und Behörden, auch Strafverfol-
gungsbehörden, entlastet würden, mag nur am Rande
erwähnt werden. Die Abschaffung der Arbeitserlaub-
nispflicht wäre ein erster Schritt in die richtige Rich-
tung: die Neugestaltung eines gleichberechtigten und
selbst gestalteten Lebens von Menschen unterschied-
licher Herkunft in einem Land. Andere Schritte müssen
folgen. Wenn Sie aber zu viel Zeit brauchen, werden die
anderen Schritte wahrscheinlich auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag vertagt.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409321700
Das Wort hat nun
der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1409321800
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag
der F.D.P. ist in allen Ausschüssen zu Recht abgelehnt
worden.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Zu Recht nicht!)

Wer sich die Inhalte und die Begründung dieses Antra-
ges anschaut, der wird feststellen, dass die in ihm enthal-
tene Behauptung, das Arbeitsgenehmigungsrecht habe
sich in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Recht
der Verhinderung von Arbeit entwickelt, absurd ist.
Selbst die Zahlen, die in der Begründung stehen, ma-
chen diese Absurdität deutlich.

Ich würde sehr empfehlen, darauf zu achten, wie sich
mit ganz unterschiedlichen Begründungen die beiden
jeweils äußeren Seiten dieses Hauses zu dem Antrag
verhalten. Die linke Seite verhält sich wahrscheinlich so,
weil sie immer und überall die Gutmenschen spielen
will, ohne sich die Inhalte genauer anzuschauen. Die
rechte Seite kommt im Gewande der Liberalität daher,
so wie sie es schon mit vielen anderen Dingen getan hat;
es geht ihr aber eigentlich um nichts anderes als um eine
gnadenlose Deregulierung.


(Beifall bei der SPD)

Ich finde das, was Herr Niebel sagt, sehr amüsant:

Diejenigen, die er sonst in den Debatten als Gewerk-
schaftsfunktionäre verunglimpft, zitiert er, wenn es ihm
passt. Ich würde ihn an dieser Stelle auch nicht so ernst
nehmen.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ich habe nie jemanden verunglimpft!)


Worum geht es eigentlich, meine sehr verehrten Da-
men und Herren? Wer sich das Arbeitsgenehmigungs-
recht ansieht, wird feststellen – Vorredner haben das

Dr. Klaus Grehn






(A)



(B)



(C)



(D)


bereits deutlich gemacht –, dass wir darin ganz unter-
schiedliche Tatbestände vorfinden. Da geht es um Werk-
vertragarbeitnehmer, da geht es um Saisonarbeitnehmer,
da geht es um Fragen der Genehmigung derer, die auf
dem deutschen Arbeitsmarkt nach Arbeit suchen.

Hierzu will ich Ihnen eine Grundposition sagen, von
der ich sehr überzeugt bin. Ich finde, dass Menschen,
deren Aufenthalt hier auf Dauer angelegt ist, durch ihrer
eigener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen
sollen. Das ist zunächst eine Grundposition. Dann muss
man aber untersuchen, welche Funktion dieses Arbeits-
genehmigungsrecht hat. Es hat eine doppelte. Es hat die
Funktion, einerseits den deutschen und den europäischen
Arbeitsmarkt entsprechend zu schützen, andererseits
aber so viel Flexibilität zu entwickeln, dass ein notwen-
diger Arbeitskräftebedarf gedeckt wird oder notwendige
zusätzliche Genehmigungen für bestimmte Personen-
gruppen ermöglicht werden. Dies tut das Arbeitserlaub-
nisrecht in ganz unterschiedlichem Ausmaß.

Ich will überhaupt nicht verhehlen – das ist hier
schon genannt worden –, dass wir in der Bundesregie-
rung und mit den Koalitionsfraktionen daran arbeiten,
bestimmte Regelungen des Arbeitserlaubnisrechtes zu
reformieren. Aber, Herr Niebel, wir kommen nicht auf
die Idee – da können Sie so viel herumschreien, wie Sie
wollen –, das Arbeitserlaubnisrecht abzuschaffen. Wir
kommen auch nicht auf die Idee, einen Tatbestand, den
Sie benannt haben, die so genannte Vorrangprüfung, ab-
zuschaffen. Warum sollten wir das? Wir sind schon der
Meinung, dass man bei bestimmten Fragen genauer hin-
schauen muss, wie diese Vorrangregelung wirkt. Wir
werden aber behutsam und in einer vernünftigen Art und
Weise abzuwägen haben, wenn wir in diesem Land ge-
genwärtig noch mehr als 4 Millionen registrierte Ar-
beitslose haben und auf der anderen Seite über Arbeits-
genehmigungen bestimmte Entwicklungen zulassen, die
auch dazu führen können, dass der Zuzug in die Bundes-
republik Deutschland zunimmt.

Das hat gar nichts damit zu tun – das will ich meinem
Vorredner noch einmal sagen –, dass es nicht auch mög-
lich ist, bei dem bestehenden Arbeitserlaubnisrecht sehr
flexibel zu reagieren. Wer sich die Anwerbestoppaus-
nahmeverordnung ansieht, wird feststellen, dass große
Firmen, dass Wissenschaftler, dass Universitäten und
Institutionen auch bisher keine Probleme hatten und dass
es ohne weiteres möglich ist, dass entsprechend qualifi-
zierte Fachkräfte in die Bundesrepublik kommen.

Ein Beweis dafür, dass unser Arbeitsgenehmigungs-
recht vernünftig ist und mit kleineren Anpassungen gut
genutzt werden kann, ist das Sofortprogramm für die
Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Bereich der IT-
Industrie. Das kann nur nicht nach der Melodie erfol-
gen – das will ich noch einmal ausdrücklich sagen –, die
Sie vorschlagen, nämlich alles abzuschaffen, sondern
hier muss in einem vernünftigen Rahmen, mit vernünfti-
gen Verhältnissen ein Bedarf nachgewiesen werden. Es
muss auch durch den entsprechenden Wirtschaftsbereich
deutlich gemacht werden, dass man selbst etwas tut, um
inländische junge Menschen zu qualifizieren, um Fach-
kräfte, die arbeitslos sind, zu qualifizieren.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Ein ganz anderes Thema!)


Wenn dieses miteinander einhergeht, dann ist es auch
möglich, über Arbeitsgenehmigungen – Herr Niebel,
wenn Sie bitte einmal zuhören würden –


(Zuruf von der SPD: Das konnte er noch nie!)

zu ermöglichen, dass der notwendige Fachkräftebedarf
in der Bundesrepublik Deutschland für eine solche
Branche gedeckt wird.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Darum geht es doch gar nicht!)


– Ich bitte Sie noch einmal zuzuhören. Über Ihrem An-
trag steht die Überschrift „Abschaffung der Arbeitser-
laubnispflicht“. Das ist doch Unsinn. Wir beschließen
im Deutschen Bundestag keinen Antrag, der Unsinn ist,
damit Sie das wissen.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das machen Sie die ganze Zeit!)


Damit halte ich für die Bundesregierung fest, dass wir
in den nächsten Monaten im vernünftigen Ausmaß das,
was im Arbeitsgenehmigungsrecht reformiert werden
muss, verändern. Das können wir auch über entspre-
chende Verordnungen und Regelungen tun. Wir werden
aber nicht auf die Idee kommen, dieses Arbeitserlaub-
nisrecht insgesamt abzuschaffen, weil wir davon über-
zeugt sind, dass vor dem Hintergrund der Arbeitsmarkt-
probleme auf der einen Seite mit den Arbeitsgenehmi-
gungen auf der anderen Seite in einem vernünftigen
Verhältnis umgegangen werden muss.

Das bedeutet insbesondere auch, dass man hier Ar-
beitskräfte zulässt, deren Beschäftigung zusätzliche Ar-
beitsplatzeffekte in der Bundesrepublik Deutschland er-
zielt. Das bedeutet zum anderen – ich will es wiederho-
len –, dass auch Menschen, deren Aufenthalt in dieser
Republik auf Dauer angelegt ist, die Möglichkeit haben
müssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie
ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften können.

Vor diesem Hintergrund halte ich es nur für logisch,
dass dieser unsinnige F.D.P.-Antrag abgelehnt wird. Ich
kann Ihnen vorhersagen, trotz all Ihrer Schreiereien,
Herr Niebel: Weder die Bundesregierung noch die Koa-
lition werden sich in irgendeiner Weise beirren lassen:
Wir werden in den nächsten Wochen mit entsprechen-
den Regelungen auch hier im deutschen Parlament auf-
treten und diejenigen Veränderungen vornehmen, die
wir für richtig halten.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie sind ein Stammtischstaatssekretär! Sie sind ein Stammtischplauderer! Sie sind ein Stammtischpolitiker!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409321900
Nun hat der Kollege
Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Parl. Staatssekretär Gerd Andres






(A)



(B)



(C)



(D)



Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1409322000
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/
CSU-Fraktion kann diesem Antrag nicht zustimmen. Ich
will das begründen: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt
ist nach wie vor dramatisch; da beißt keine Maus den
Faden ab. Nach wie vor sind immerhin über 4,2 Mil-
lionen Arbeitslose registriert. In den Ausnahmefällen –
der Staatssekretär hat schon auf die entsprechenden Fel-
der hingewiesen – sind es immerhin 1,2 Millionen Men-
schen, die in der Saisonarbeit,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Um die geht es gar nicht!)


in der Zeitarbeit oder über Werkverträge beschäftigt
sind,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Um die geht es auch nicht!)


Herr Niebel. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden,
dann würden wir ein zusätzliches Ventil öffnen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Niebel lässt niemanden ausreden!)


Wir würden Menschen aus dem Ausland hereinholen,
obwohl der Druck auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor
sehr stark ist.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Die Leute sind gar nicht betroffen!)


Der Staatssekretär hat angekündigt, dass das SGB III
möglicherweise demnächst zur Diskussion steht. Wir
können über die Verkürzung der Fristen bei freiwerden-
den und bei neu eingerichteten Stellen – ich denke an
die Wartezeit – reden. Ich sage hier aber ausdrücklich:
Nicht die Arbeitslosenzahlen, sondern die Beschäfti-
gungszahlen sind der eigentliche Gradmesser für die La-
ge auf dem Arbeitsmarkt. Bei den Beschäftigungszahlen
sieht es noch viel schlechter aus.

Wir haben nach wie vor einen großen Aderlass an
versicherungspflichtig Beschäftigten. Das war vor allen
Dingen im vergangenen Jahr in starkem Maße der Fall.
Auch wenn sich die Lage etwas gebessert hat, so ist trotz
der positiven Konjunkturdaten und trotz des eigentlich
milden Winters ein großes Defizit in der Beschäfti-
gungspolitik festzustellen. Wir wissen, dass das auch
dramatische Folgen für unsere Generationenverträge hat.
Nur wenn wir das berücksichtigen, können wir den sozi-
alen Rechtsstaat für künftige Generationen so bewahren,
wie wir ihn auch für uns reklamieren.

Die Lage ist deshalb dramatisch, weil die rot-grüne
Bundesregierung in der Steuergesetzgebung genau das
Falsche tut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Sie vernachlässigt einerseits den Mittelstand, das Hand-
werk und den Handel – wo in den kleinen, überschauba-
ren Bereichen Arbeitsplätze entstehen. Andererseits be-
vorzugt diese Bundesregierung die Großkonzerne durch
die Steuerfreiheit der Ausgliederung. Die Ausgliederung
richtet sich eindeutig gegen die Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer. Das haben Sie vor Ort von den Betriebs-
räten und von denen, mit denen Sie in den Gewerkschaf-
ten zu tun haben, gehört. Wenigstens ich habe das erfah-
ren. Damit können wir den Rückgang der Arbeitslosig-
keit nicht vorantreiben.

Im Übrigen: Wenn dann noch der Herr Bundeskanz-
ler den gigantischen Fusionsbeschluss der Deutschen
Bank und der Dresdner Bank befürwortet und damit
erkennbar in Kauf nimmt, dass 16 000 Arbeitsplätze ver-
loren gehen – im Inland sind es 14 000 –, dann bedeutet
das für die Arbeitsplätze der Beschäftigten nichts Positi-
ves.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Kannst du die Fusion aufhalten?)


– Auch ich kann die Fusion nicht aufhalten. Aber die
Reihenfolge der Äußerungen und die dahinter stehende
„Denke“ des Bundeskanzlers sind verräterisch.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Er begrüßt die Fusion. Ich behaupte, dass die Reihenfol-
ge umgekehrt sein muss – erst Arbeitsplätze, dann Fusi-
on. Die Einstellung zu diesem Thema ist das Entschei-
dende.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wo steht denn das in dem Antrag?)


Für die arbeitslosen Menschen – gerade für die, die aus
dem Dienstleistungsbereich kommen – ist das keine er-
klärbare Politik; denn im Dienstleistungsbereich sollen
ja Arbeitsplätze entstehen.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Guck mal nach BMW, was die machen! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Wo haben wir denn etwas zu Fusionen beantragt?)


Die Kurzatmigkeit des Handelns wird noch deutli-
cher, wenn der Herr Bundeskanzler Schröder Compu-
terfachleute aus Asien, aus dem weit entfernten Ost-
asien hereinholen will, obwohl wir 30 000 Informations-
technologiespezialisten in der Arbeitslosigkeit haben.
Wir müssten sie vermitteln. Wenn diese Ankündigung
des Bundeskanzlers dann noch bei einem Messebesuch
in lockerer Art geschieht, dann ist das eine sehr frag-
würdige Sache. Ich sage das deshalb, weil wir auf der
anderen Seite mit vielen Milliarden – das ist eben auch
aus den Ausführungen des Staatssekretärs deutlich ge-
worden – an Beitragsmitteln völlig zu Recht über das
Arbeitsförderungsreformgesetz Menschen gerade in die-
sen computertechnischen Bereichen qualifizieren. Wenn
das einen Sinn machen soll, muss ich für diese Men-
schen auf der anderen Seite auch die Arbeitsplätze be-
reithalten.

Damit das hier klar ist und noch einmal deutlich wird:
Es geht nicht um diejenigen, die von Ferne kommen, die
unter Verfolgung oder unter Ausbeutung leiden; es geht
wirklich um diejenigen, die in der Tat die Stars sind.
Wir nehmen diesen Ländern – das ist im Übrigen ein
Nebeneffekt – die Stars, die dort, in den Schwellenlän-
dern und den Entwicklungsländern, gebraucht werden,






(A)



(B)



(C)



(D)


um eine vernünftige Infrastruktur aufzubauen. Ich sage
das in allem Ernst.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: In dem Antrag geht es darum gar nicht!)


Wenn dies noch in einer Zeit geschieht, in der die
Bundesregierung für das EU-Gipfeltreffen in Lissabon
die „Beschäftigungspolitische Aktion 2000“ mit be-
schlossen hat – das ist ja auch bei der Berichterstattung
am gestrigen Tage deutlich geworden –, die eindeutig
sagt, dass im europäischen Raum nationale Initiativen
ergriffen werden sollen – und wir wissen, dass es im eu-
ropäischen Raum weitere arbeitslose Computertechniker
gibt –, dann bedeutet das, dass wir erst einmal die Arbeit
vor der europäischen Tür leisten sollten. Das ist ent-
scheidend.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dafür habe ich einen guten Zeugen; den möchte ich

dann auch zitieren. Er nimmt mir das sicherlich nicht
übel. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär Andres
im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Er
hat am 28. Januar dieses Jahres erklärt – ich zitiere –:

Gegenwärtig ist die Bundesregierung nicht der Auf-
fassung, dass die Erteilung von Arbeitsgenehmi-
gungen an ausländische Spezialisten erleichtert
werden soll.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Wie auch in den anderen Branchen muss auch im
Bereich Datenverarbeitung das Problem der ausrei-
chenden Gewinnung von Fachkräften durch Maß-
nahmen am inländischen Markt gelöst werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Die Zulassung von Arbeitnehmern aus dem Aus-
land würde die Ursachen des Mangels nicht behe-
ben, sondern allenfalls kurzfristig verdecken.


(Zuruf von der F.D.P.: Aha!)

Recht hat der Mann!


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Hat Herr Schröder das auch gewusst?)


Ich kann nur sagen: Recht hat der Mann! – Ja, die Freu-
de ist groß, wenn ich mich mit der F.D.P. auseinander
setze. Aber haben Sie bitte Verständnis: Wir haben jetzt
ja endlich auch einmal die Gelegenheit, wieder als Op-
position so aufzutreten, wie es sich gehört.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das steht doch gar nicht in unserem Antrag!)


Mit dieser Arbeitsmarktpolitik, wie sie augenblicklich
auf diesen beiden Feldern, die ich nannte und die klas-
sisch sind, betrieben wird – Fusionen und bei Aus-
gliederung von ganzen Produktionsbereichen dann auch
noch die Einführung von Steuererleichterungen, um da-
mit das Ganze noch zu beschleunigen, sowie auf der an-
deren Seite sozusagen die Sterne am Himmel hereinzu-
holen und damit einen Verdrängungsprozess durchzu-

führen –, ist eine Antwort auf die Frage nach der Bewäl-
tigung der Arbeitslosigkeit sicherlich nicht zu formulie-
ren.

Der Kanzler wollte sich ja daran messen lassen, wie
er die Arbeitslosigkeit abbaut. Dies ist sicherlich ein
Irrweg. In diesem Sinne werden wir auch in Zukunft –
das sage ich Ihnen noch einmal – den Finger in die
Wunde legen.

Allerdings muss ich ebenso ausdrücklich sagen: Der
Antrag der F.D.P.-Fraktion ist nun auch nicht das All-
heilmittel; deshalb können wir ihm nicht zustimmen.


(Dirk Niebel [F.D.P]: Jetzt haben Sie ihn aber wenigstens einmal erwähnt!)


Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409322100
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Ab-
schaffung der Arbeitserlaubnispflicht, Drucksache
14/2840. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1335 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P. ist die
Beschlussempfehlung angenommen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der

PDS
Zur Entwicklung und zur Situation in Ost-

deutschland
– Drucksachen 14/860, 14/2622 –

Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der PDS vor. Über den Entschlie-
ßungsantrag der PDS werden wir nachher namentlich
abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die PDS acht Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gysi, PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409322200
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir haben, wie ich finde, zu einem
rechten Zeitpunkt – nicht zu früh, nicht gleich zu Beginn
der Legislaturperiode, sondern nachdem eine gewisse
Zeit neuer Regierungspolitik über das Land gegangen ist
– eine Große Anfrage zur Situation in Ostdeutschland
gestellt, um zwei Dinge zu erfahren. Uns hat erstens eine
Bestandsaufnahme interessiert, inwieweit die Bundesre-
gierung über Informationen in Bezug auf Ostdeutsch-
land verfügt. Zweitens hat uns interessiert, wie das Kon-
zept der Bundesregierung aussieht, die Entwicklung in

Heinz Schemken






(A)



(B)



(C)



(D)


Ostdeutschland voranzubringen, immerhin ein Gebiet,
das im Wahlkampf und auch noch nach dem Wahlkampf
vom Bundeskanzlers zur Chefsache erklärt worden ist.

Ich sage Ihnen: Das Beste an dieser Großen Anfrage
sind immer noch die Fragen, nicht die Antworten,


(Beifall bei der PDS)

und zwar aus folgendem Grunde: Zunächst einmal –
aber da könnten wir uns ja möglicherweise verstän-
digen – fällt die Bestandsaufnahme ausgesprochen un-
genau aus. Wenn Sie die Antworten lesen, werden Sie
feststellen, wie oft die Bundesregierung mitteilen muss,
dass sie diesbezüglich keine Informationen hat, dass es
keine Statistik gibt, dass sie nicht auskunftsfähig ist.

Ich finde – deshalb spielt das in unserem Entschlie-
ßungsantrag eine Rolle –, wir sollten uns wenigstens
darauf verständigen, die statistischen Erhebungen über
Ostdeutschland in Zukunft sehr viel genauer vorzuneh-
men, weil sie eine Grundlage dafür sind, Fehlentwick-
lungen zu erkennen und andere Entwicklungen über-
haupt einleiten zu können. Wenn wir die Situation nicht
kennen, können wir auch nicht darauf reagieren. Dann
begeben wir uns in das Gebiet der Spekulation.


(Beifall bei der PDS)

Aber ich hoffe, dass es da nicht so viel Widerspruch
gibt; denn das ist ja zum Teil übernommen.

Das Zweite ist – danach frage ich Sie ernsthaft –: Wie
sieht eigentlich Ihr Konzept zur Herstellung der inneren
Einheit Deutschlands, zur Angleichung der Lebens-
verhältnisse in Ost und West und zur Organisierung ei-
nes wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundes-
ländern aus? Ich muss Ihnen sagen: Nachdem Sie das
erst zur Chefsache erklärt haben, finde ich, dass sich aus
den Antworten ergibt, dass Sie das inzwischen zu einer
Nebenrolle degradiert haben. So kann die deutsche Ein-
heit nicht hergestellt werden.


(Beifall bei der PDS)

Ich will versuchen, Ihnen das nachzuweisen. Wir ha-

ben noch immer die Situation, dass die Arbeitslosigkeit
in den neuen Bundesländern doppelt so hoch ist wie in
den alten Bundesländern. Es geht mir heute nicht um
Ursachen. Darüber werden wir uns zum Teil nicht ver-
ständigen können; zum Teil wäre dies wahrscheinlich
sogar möglich. Auf jeden Fall ist die Situation, wie sie
ist. Nun ergibt sich aus den Antworten auf die Große
Anfrage überhaupt kein Konzept der Bundesregierung,
das spezifisch für den Osten gelten würde, wie man ge-
rade dort die Arbeitsmarktprobleme lösen will. Ein
solches Konzept ist nicht erkennbar. Sie hoffen nur auf
allgemeine Entwicklungen in der ganzen Bundesrepu-
blik Deutschland und gehen davon aus, dass sich diese
irgendwann und irgendwie auch zugunsten des Ostens
auswirken werden. Diesen Aberglauben haben wir aber
inzwischen eindeutig verloren.

Wir brauchen spezifische Maßnahmen für eine regio-
nale und strukturelle Entwicklung im Osten, für eine
Reindustrialisierung, für die Schaffung von industriellen
Kernbereichen, um die Arbeitsplatzfrage lösen zu kön-
nen.


(Beifall bei der PDS)

Dabei sind wir uns durchaus darüber im Klaren, dass wir
uns im Übergang in eine Dienstleistungsgesellschaft be-
finden. Aber auch auf diesem Gebiete passiert doch we-
nig. Natürlich haben wir einzelne Oasen in den neuen
Bundesländern, in denen auch einmal ein hochprodukti-
ves Unternehmen entsteht. Aber drum herum entwickelt
sich viel zu wenig.

Lassen Sie mich dazu zwei, drei Bemerkungen ma-
chen, die ich für ganz wichtig halte. Das Erste ist: Wir
müssen neu über Ausschreibungen nachdenken, und
zwar auch – da spreche ich die Grünen an – aus ökologi-
schen Gründen. Es gibt ein europäisches Recht und ein
Bundesrecht, das jede Kommune zwingt, bei jedem grö-
ßeren Auftrag entweder bundesweit oder sogar eu-
ropaweit auszuschreiben. Die Folge davon ist, dass eine
Kommune in Brandenburg dann, wenn ein Angebot aus
Südfrankreich oder Norditalien oder aus Bayern kommt,
das um 20 000 DM günstiger ist als das Angebot aus der
eigenen Region, den Auftrag aus marktwirtschaftlichen
Gründen nach den geltenden Gesetzen zwingend nach
Bayern oder in andere Länder vergeben muss.

Das Problem ist zunächst einmal ein ökologisches.
Auf diese Art und Weise werden sinnlos Millionen Ki-
lometer quer durch ganz Europa verfahren.


(Beifall bei der PDS)

Statt den Benzinpreis zu erhöhen, sollten Sie an diesem
Ausschreibungsverfahren etwas ändern. Dann könnten
Sie die Gütertransporte zu einem großen Teil von der
Straße drängen. Zugleich hätten die Kommunen die
Chance, wieder eine regionale Wirtschaftspolitik zu
betreiben.

Ein weiterer Aspekt ist von Bedeutung: Früher, unter
der alten Regierung – es tut mir Leid, Sie an dieser Stel-
le einmal würdigen zu müssen –, gab es zunächst eine
vernünftige Maßnahme: Ich meine die Investitionspau-
schale für die Kommunen. Diese ist ausgelaufen. Ich
sage Ihnen: Die müssen wir wieder auflegen; andernfalls
haben die Kommunen keine Chance, ein eigener Wirt-
schaftsfaktor zu werden, der Arbeitsplätze schaffen
kann.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich beziehe das im Übrigen nicht nur auf die neuen
Bundesländer. Vielmehr werden Sie auch in den struk-
turschwachen Regionen Westdeutschlands eine Investi-
tionspauschale für die Kommunen benötigen, damit
a) eine Kommunalwahl Sinn macht und b) in den struk-
turschwachen Gegenden auf dem Arbeitsmarkt endlich
wieder eine bessere Situation herrscht.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich kommen viele andere Dinge hinzu. Wann

endlich fördern wir wirklich die Existenzgründerinnen
und Existenzgründer gerade in den neuen Bundeslän-
dern? Es wird viel von kleinen und mittelständischen
Unternehmen gesprochen. Schauen Sie sich einmal de-
ren Schicksal in den neuen Bundesländern an: Die Zahl

Dr. Gregor Gysi






(A)



(B)



(C)



(D)


der Pleiten erhöht sich von Jahr zu Jahr, natürlich auch
die Zahl neuer Versuche. Machen wir doch daraus end-
lich einmal erfolgreiche Versuche, indem wir kleine und
mittelständische Unternehmen direkt fördern, damit sie
dann auch wirklich wirtschaften können und Arbeits-
plätze gesichert werden bzw. neu entstehen.


(Beifall bei der PDS)

Mit dem Gerede muss endlich Schluss sein; es muss

nun gehandelt werden. Angesichts dessen, dass ange-
kündigt worden ist, dass die Entwicklung in Ostdeutsch-
land Chefsache ist, wundere ich mich natürlich, dass die
Bundesregierung bei einer Sache, die sie mit Priorität
versehen wollte, bei dieser Debatte so gut wie überhaupt
nicht vertreten ist. Davon ist offensichtlich jetzt keine
Rede mehr.


(Beifall bei der PDS)

Natürlich geht es auch um soziale Fragen. In diesem

Zusammenhang gibt es ja immer zwei Komponenten.
Die eine Komponente ist: Je schwächer die Kaufkraft in
Ostdeutschland ist, desto verhaltener ist die Wirtschafts-
entwicklung. Die andere Komponente ist: Es handelt
sich dabei um eine Gerechtigkeitsfrage. Die Lösung der
sozialen Fragen kann man nicht auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag verschieben. Herr Riester will die
Renten ungefähr im Jahre 2030 angleichen. Ganze Ge-
nerationen von Rentnerinnen und Rentnern sind verstor-
ben, bevor das zur Wahrheit wird.

Abgesehen davon könnte man sich über niedrigere
Renten, Löhne, Gehälter und Sozialleistungen doch nur
unter einer Bedingung verständigen, nämlich unter der
Bedingung, dass auch die Preise niedriger sind. Sie kön-
nen doch nicht zulassen, dass das Preisniveau in Ost-
deutschland 100 bis 110 Prozent desjenigen im Westen
beträgt, wenn Sie die Löhne, Gehälter, Sozialleistungen
und Renten auf einem wesentlich niedrigeren Niveau be-
lassen. Das ist einfach nicht hinnehmbar und nicht mehr
nachvollziehbar.


(Beifall bei der PDS)

Die Bundesregierung könnte hier vorangehen, indem

sie bei den Beamten endlich einmal eine gleiche Entloh-
nung vornimmt. Dann könnte man im gesamten öffentli-
chen Dienst eine Angleichung durchsetzen. Das würde
sich dann schrittweise auf die Privatwirtschaft auswir-
ken. Im industriellen Gewerbe liegen die Löhne in Ost-
deutschland im Vergleich zu den Löhnen in West-
deutschland bei 65 Prozent. Sie müssen wissen, dass
selbst der Haustarif in den neuen Bundesländern eine
Ausnahme ist. Das heißt, die westdeutsche Tarifver-
tragsstruktur gilt in den neuen Bundesländern noch
nicht. Das ist, wie ich finde, nicht länger hinnehmbar.

Ich erwarte nicht – um das hier ganz deutlich zu sa-
gen – eine Überforderung dergestalt, dass die Bundesre-
gierung sagt, ab 1. Mai dieses Jahres – das wäre natür-
lich ein besonders geeigneter Tag – wird eine Anglei-
chung durchgeführt.


(Zurufe von der SPD: 7. Oktober!)

– Nein, ich habe extra den 1. Mai genannt. Sie haben
andere Daten als ich im Kopf. Sie sollten einmal darüber
nachdenken, woher das kommt.

Ich spreche darüber aus einem ganz bestimmten
Grund, und zwar deswegen, weil wir einen Fahrplan er-
warten. Sie müssen den Menschen wenigstens sagen, in
welchen Schritten und in welchen Fristen eine An-
gleichung erfolgen soll, damit sie eine Perspektive ha-
ben. Sie dürfen die Antwort auf diese Frage nicht per-
manent verweigern, wie das in den letzten Jahren der
Fall war und auch gegenwärtig der Fall ist.


(Beifall bei der PDS)

Auch zum Aufbau von Wissenschaft, Bildung und

Kultur ließe sich eine Menge sagen. Denn solange die-
ser Bereich in Ostdeutschland mit Nachteilen versehen
ist, ist auch eine Perspektive nicht gesichert. Ich möchte,
dass das Abitur in den neuen Bundesländern endlich den
gleichen Wert hat wie das Abitur in den alten Bundes-
ländern. Ich möchte, dass wir das vorhandene Wissen-
schafts- und Forschungspotenzial anders nutzen.


(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine andere

Gruppe zu sprechen kommen: Es gibt in Ostdeutschland
tatsächlich Verlierer. Das sind die Frauen. Die Arbeits-
losigkeit ist bei ihnen am höchsten. Ihr Entgelt ist am
geringsten. Sie sind zu einem großen Teil aus dem Er-
werbsleben und damit aus dem gesellschaftlichen Leben,
wie es sich heute darstellt, verdrängt worden. Keine Ih-
rer Antworten bietet eine Aussicht darauf, wie Sie diese
spezifische Problematik angehen wollen.

Ich sage Ihnen: Ohne einen öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor, –


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409322300
Herr Kollege Gysi,
denken Sie an Ihre Redezeit!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1409322400
– ohne Arbeitszeitverkür-
zungen und ohne spezifische Programme für Frauen
werden Sie dieses Problem nicht lösen können. Das ist
mit Ihre Aufgabe, aber auch eine Aufgabe für uns alle,
wenn wir denn die deutsche Einheit wieder herstellen
wollen.

Die Antworten waren sehr dürftig. Ich hoffe, dass wir
hier im Laufe der Beratung noch deutlich weiterkom-
men.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409322500
Ich erteile dem Kol-
legen Dr. Mathias Schubert, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. Mathias Schubert (SPD):
Rede ID: ID1409322600
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zwischen der Veröffentli-
chung zweier Bilanzen zum Aufbauwerk in Ost-
deutschland mit Daten, Fakten und Perspektiven – einer-
seits der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, an-
dererseits der Gegenstand dieser Debatte, nämlich die
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
PDS – liegen gerade einmal vier Monate und erneut
könnte die Interpretation ihrer Inhalte und der daraus re-
sultierenden Forderungen und Appelle an die Bundes-

Dr. Gregor Gysi






(A)



(B)



(C)



(D)


regierung kaum unterschiedlicher ausfallen. Das haben
wir auch nicht anders erwartet.

Die vorliegenden Entschließungsanträge von PDS
und Unionsfraktion sind leider nachhaltiger Beleg dafür,
wie sehr der Blick durch die parteipolitische Brille oder
ein erstaunliches, offenbar ideologisch motiviertes Roll-
back zur selektiven Wahrnehmung beitragen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Da wird unter Berufung auf soziologische, ökonomische
oder haushaltstechnische Daten die Lebenswirklichkeit
nicht erkannt, der erreichte Stand beim Aufbau Ost ent-
weder verharmlosend schöngeredet oder dramatisch ne-
gativ verzerrt. Da werden uneingestandene eigene Fehler
und Versäumnisse nach fast einem Jahrzehnt verant-
wortlichen Regierungshandelns für den Osten der neuen
Bundesregierung untergeschoben, mit scheinbar plakati-
ven Forderungen an die rot-grüne Koalition, die im Üb-
rigen längst Bestandteil unserer Politik sind. Nur ist un-
sere Politik einfach sinnvoller, effizienter und erfolgs-
orientierter angelegt.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der PDS: Das wurde auch Zeit!)


– Da haben Sie Recht.
Es war schon eine respektable PR-Leistung, liebe

Kolleginnen und Kollegen der Union, wie Sie jahrelang
mit schöngefärbten Illusionen verführten und in Ost und
West erfolgreich Politik verkaufen konnten – nach dem
Motto: Es werden weder Opfer, geschweige denn Steu-
ererhöhungen nötig sein; allein durch die wundersamen
Kräfte des Marktes entstünden die blühenden Land-
schaften. Dass sich Menschen nicht auf Dauer durch
vollmundige Versprechungen narren lassen, haben Sie
dann im September 1998 zu spüren bekommen.

Auch heute haben Sie wieder scheinbar griffige Er-
klärungen parat, mit denen zugleich die Schuldigen für
manche Defizite in den ostdeutschen Ländern ausge-
macht werden: natürlich die neue Bundesregierung –
wer auch sonst? –, die dieses und jenes womöglich nicht
einfach aus der Westentasche bezahlen kann und auch
nicht will. Begreifen Sie endlich: Ein Staat kann mittel-
fristig nicht ständig mehr ausgeben, als er einnimmt!

Noch eine Bemerkung zu dem Entschließungsantrag
der CDU/CSU: Wenn man die erste Seite liest, hat
man – insbesondere bei dem zweiten Absatz – den Ein-
druck, dass sich die Erfolgsmeldungen bezogen auf den
Aufbau Ost bis 1998 nur so gehäuft haben. Das führt
den Leser zu der Vermutung, beim Aufbau Ost seien nur
noch Restarbeiten zu erledigen. Liest man aber auf der
zweiten Seite weiter, so stößt man auf fundamentale po-
litische Forderungen, woraufhin sich der Leser natürlich
fragen muss: Was ist denn nun richtig? Gab es einen so
großen Erfolg, dass nur noch Restarbeiten zu erledigen
sind? Oder gab es keinen Erfolg, sodass weiterhin fun-
damentale politische Forderungen gestellt werden müs-
sen? Mit diesem Widerspruch führen Sie im Grunde sich
selbst ad absurdum. Sie können nur politisch konstruktiv
werden, nachdem Sie entschieden haben, wie Sie Ihre
Politik nach Ihrer Niederlage im Jahr 1998 konsistent

weiterführen können, ohne dass das, was Sie damals ge-
tan haben, unglaubhaft wird.


(Beifall bei der SPD)

Nun ist das aber noch nicht alles. Die PDS hat noch

abenteuerlichere Einsichten, die sie zum Besten gibt,
wie sich in der nüchternen Bilanz der Antwort der Bun-
desregierung auf ihre Große Anfrage zeigt. „Back to the
roots“ heißt die Botschaft dieser antikapitalistischen
Epistel in ihrem Entschließungsantrag – und das ist eher
noch zurückhaltend formuliert.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die Architektur Ihrer utopischen postsozialistischen

Traumschlösser einschließlich der Wiedereinführung
von längst vergessen geglaubten Zehnjahresplänen samt
Planwirtschaft


(Beifall bei Abgeordneten der PDS – Dr. Gregor Gysi [PDS]: Sagen Sie das mal laut in meine Partei hinein!)


– deshalb, lieber Herr Kollege Gysi, habe ich vorhin
vom 7. Oktober und nicht vom 1. Mai gesprochen – ist
ein Rückschritt, den ich von Ihnen – wenn ich das so sa-
gen darf – nicht mehr erwartet hätte. Das hat sicherlich
auch mit Ihrer innerparteilichen Identitätskrise und dem
nahenden Parteitag zu tun. Da macht es sich natürlich
gut, wenn die „Zurückdrängung von Kapitaldominanz“
– wie Sie es ausdrücken – und die sichtbare inhaltliche
Annäherung an Positionen Ihrer marxistischen Plattform
die Reihen zu schließen versuchen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber hinsichtlich der ostdeutschen Belange outen Sie

sich als das konservativste politische Element und
überholen damit die rechte Seite dieses Hauses.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie sind – wenn Sie das nicht lernen, kommen Sie zu-
nehmend mehr in große Schwierigkeiten – nicht die ein-
zige und schon gar nicht die genuine Partei oder Frakti-
on, die Ostinteressen vertritt. Sie sind nur die einzige
Partei, die von Ost-West-Gegensätzen, tatsächlichen
oder scheinbaren, lebt und die Ostdeutschen gern in
vormundschaftliche sozialistische Staatlichkeit zurück-
führen will.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen und Beifall bei der PDS)


Aber wenn natürlich die Chance, in der Bundesrepu-
blik beim Wort genommen zu werden, gleich Null ist,
fällt – was ich auch verstehe – ungenierter Populismus
relativ leicht. Diese Bundesrepublik ist eben keine In-
karnation des bösen Kapitalismus. Sie ist bei allen unbe-
strittenen Problemen, die es natürlich gibt, ein gelunge-
ner Mix aus rechtsstaatlich demokratischer Grundord-
nung, sozialer Marktwirtschaft und einem breit ge-
fächerten System sozialer Sicherheit. Solange
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem
Land regieren – das wird noch einen Augenblick dauern,
liebe Genossinnen und Genossen –, wird diese
Mischung auch Bestand haben.

Dr. Mathias Schubert






(A)



(B)



(C)



(D)



(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, schon bei der Debatte zum

Stand der deutschen Einheit im November vergangenen
Jahres haben die sozialdemokratische Bundestagsfrakti-
on und mit ihr natürlich der Koalitionspartner der Bun-
desregierung für die realistische Bestandsaufnahme ge-
dankt. Dies gilt uneingeschränkt auch für die sorgfältig
erarbeitete, durch nüchterne Fakten unterlegte Antwort
auf die Große Anfrage der PDS. Der Dank ist insbeson-
dere an Sie, Herr Staatsminister Schwanitz, gerichtet.
Negative Aspekte der ostdeutschen Realität werden da-
bei nicht ausgeblendet. Natürlich – das wissen wir alle –
steht Erfolg neben Misserfolg, lässt sich kein einheitli-
ches Urteil über die ostdeutschen Transformationspro-
zesse aus dieser Momentaufnahme der Antwort auf die
Große Anfrage herausfiltern. Denn in den letzten zehn
Jahren ist aus industriellen Ruinen eine ökonomische
Landschaft voller Kontraste entstanden, eine Landschaft
aus Wachstumszentren und Problemregionen, alles in al-
lem eine bunt gescheckte Landschaft.

Der Osten ist weder generell rückständig noch hat er
den Westen generell überholt. Insofern war es Zeit für
eine realistische Bestandsaufnahme als objektive
Grundlage für zukünftiges politisches Handeln. Das gilt
für die Arbeitsmarkt- und Forschungspolitik, für das
Nachdenken über zukünftige Förderinstrumente, ins
besondere in der Wirtschaft, und für den Weiterbau der
Infrastruktur einem richtigen und erfolgsorientierten Weg
Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409322700
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1409322800
Frau Präsidentin! Lie-
be Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über
die Große Anfrage der PDS zur Entwicklung und zur Si-
tuation in Ostdeutschland gilt sicher als Vorspeise auf
die morgige Sonderveranstaltung des Deutschen Bun-
destages zum 10. Jahrestag der ersten freien Wahlen
zur Volkskammer in der DDR. Diese Vorspeise lassen
wir uns als Unionsfraktion von den Mitgliedern der
PDS-Fraktion sicherlich nicht versalzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Am heutigen Tag muss nicht nur an die zehn Jahre der
Entwicklung in Deutschland seit dem Fall der Todes-
grenze gedacht werden, sondern auch den Frauen und
Männern der ersten frei gewählten Volkskammer ge-
dankt werden, die mit ihrem Engagement die Einheit un-
seres Vaterlandes vorangetrieben haben. Durch ihren
Einsatz wurde möglich, was viele nicht mehr für mög-
lich gehalten hätten.

Wenn man hier in Berlin ostdeutsche Schülerklassen
sieht, die ganz unbefangen und wie selbstverständlich
durch das Brandenburger Tor gehen, dann wird mir im-
mer wieder deutlich, dass die ältere Generation der Ost-

deutschen die Aufgabe hat, die Erinnerung daran wach
zu halten, wie es in der ehemaligen DDR wirklich war.

Man muss sich immer wieder die Frage stellen: Was
wäre aus dem Land, der Umwelt, den Betrieben, der In-
frastruktur, den Städten, Krankenhäusern, Kirchen und
Menschen geworden, wenn die deutsche Einheit nicht
gekommen wäre?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Gestaltung der deutschen Einheit war und ist unteil-
bar mit der Regierungskoalition unter der weitsichtigen
Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl verbunden,
dem auch heute noch mein Dank für seine politische Le-
bensleistung gilt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der erste

Satz der Großen Anfrage der PDS sticht sofort ins Auge:
Mit Blick auf den bereits am Horizont sichtbaren
zehnten Jahrestag der staatlichen Vereinigung
Deutschlands ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.

Dem kann man nur zustimmen. Allerdings dürfen wir
bei der Bilanz zum Stand der deutschen Einheit nicht die
katastrophale Abschlussbilanz für die Zeit von 1949 bis
1989 aus dem Auge verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn nur dann gelingt es, eine ehrliche und faire Be-
handlung aller im Zusammenhang stehenden Sachver-
halte der Innen- und Außenpolitik vorzunehmen.

Die PDS selektiert in ihrer Anfrage nur die politi-
schen Bereiche, die ihre ideologische Ausrichtung unter-
stützen. Es wäre doch sehr interessant, darüber zu disku-
tieren, welche Auswirkungen 40 Jahre SED-Diktatur auf
das Land und die Menschen gehabt haben.

Warum lauten Ihre Fragen nicht: Wie viele Menschen
wurde auf dem Weg in die Freiheit erschossen oder in
Zuchthäusern der SED-Diktatur diszipliniert?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie viele Betriebe sind verstaatlicht worden, ihre Eigen-
tümer womöglich des Landes vertrieben? Wie viele
Menschen wurden im Namen des Sozialismus um die
Früchte ihrer ehrlichen Arbeit gebracht und um die
Träume und Sehnsüchte ihrer Lebensplanung betrogen?
Welche Wirkung haben die Zerschlagung des freien Un-
ternehmertums sowie das Verbot, privates Vermögen
aufzubauen, und die damit verbundene Eigenkapital-
schwäche, die für die Bemühungen der Privatisierung an
ostdeutsche Bürger nach 1989 entscheidend war?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wie waren die Lebenserwartung der Bevölkerung und
der Zustand des Gesundheitswesens? Wie groß war die
ökologische Vergewaltigung der Flüsse, Wälder, der
Luft und des Bodens von Rügen bis zum Fichtelberg?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dr. Mathias Schubert






(A)



(B)



(C)



(D)


Ich glaube, bei einer ernsthaften und ehrlichen Bilanz
kämen schnell 1000 wirklich sinnhafte Fragen zustande.

Am Beispiel der Sanierung des Wismut-Bergbaus
in Thüringen und Sachsen lässt sich diese positive Ent-
wicklung der letzten zehn Jahre eindrucksvoll nachvoll-
ziehen. Mehrere Milliarden DM wurden in den vergan-
genen Jahren investiert. Allein in meinem Wahlkreis bei
Königstein wurden seit 1991 rund 1 Milliarde DM für
die Sanierung bereitgestellt. Von der Wirkung dieses
Geldes sieht man allerdings nicht viel, denn es wurde
unter Tage für die Verbesserung und Absicherung des
Grundwasserhaushaltes für den oberelbischen Raum
eingesetzt.

Ich frage Sie: Was hätten wir mit diesen Steuergel-
dern alles an anderer Stelle ausrichten können, zum Bei-
spiel im Schulwesen, in Kindergärten und Jugendein-
richtungen, bei der Städtebausanierung, zugunsten von
Kläranlagen, Sportplätzen und Kultur? Das Geld konnte
doch nur einmal eingesetzt werden, und in den ersten
Jahren musste es eben schwerpunktmäßig in die Altlas-
tensanierung der SED-Diktatur investiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nein, meine Damen und Herren, eine solche Politik,

wie sie in der Großen Anfrage der PDS und Ihrem Ent-
schließungsantrag deutlich wird, dürfen wir hier im
Deutschen Bundestag nicht durchgehen lassen. Sie ist
geprägt von Miesmacherei, Verklärung, Verbreitung von
Halbwahrheiten und Verdrängung der eigenen Verant-
wortung für die SED-Hinterlassenschaft. Sie ist eine
Hypothek, die es auch in den nächsten Jahren in Bund,
Ländern und Gemeinden abzutragen gilt.

Kurt Biedenkopf sprach schon 1991 davon, dass der
Aufholprozess etwa 20 Jahre dauern, große finanzielle
Anstrengungen unserem gesamten Volk abverlangen
und der Bevölkerung der mitteldeutschen Länder große
Belastungen und Opferbereitschaft auferlegen würde.
Genau diesen Prozess gilt es seitens der Politik zu be-
gleiten. Es gilt, den Menschen, die in Verantwortung
stehen, Mut zu machen, und zu helfen, wo persönliche
Betroffenheit und krisenhafte Situationen entstanden
sind.

Meine Damen und Herren, der Weg ist richtig und al-
ternativlos. Wir haben noch eine gute Strecke vor uns;
denn eine 40- bis 50-jährige unterschiedliche Entwick-
lung lässt sich nicht in zehn Jahren auf allen Gebieten
ausgleichen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass sich
beim Einigungsprozess auch Fehlentwicklungen ergeben
haben. Diese sind bereits erkannt und werden dort, wo
es möglich ist, korrigiert.

In Ost und West ist es gerade jetzt notwendig, für ge-
genseitiges Verständnis und Vertrauen zu werben.
Vor einiger Zeit las ich in einer Emnid-Umfrage, dass
schon etwa 93 Prozent der Ostdeutschen zumindest ein-
mal dienstlich, privat oder touristisch in den westlichen
Bundesländern waren. Umgekehrt liegt die Zahl erst et-
wa bei circa 50 Prozent. Fast 30 Millionen unserer west-
deutschen Mitbürger haben sich also bisher wenig bzw.
gar nicht persönlich mit dieser nationalen Aufgabe ver-
traut gemacht. Ihre Informationen beziehen sie aus den

Medien, die leider häufig selektiv und oberflächlich be-
richten. Einmal gesehen ist besser als hundertmal gehört.

Gerade die touristische Entwicklung in den neuen
Bundesländern ist eine einzigartige Erfolgsstory, die
auch in Zukunft noch über große Potenziale verfügt. Für
die Entwicklung der ländlichen Räume und die Zurück-
führung der Frauenarbeitslosigkeit bergen der Touris-
mus und der Dienstleistungsbereich in den neuen Bun-
desländern enorme Reserven.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zur Verkehrsinfrastruktur ist festzustellen, dass wir
1991 ein Infrastrukturnetz vorgefunden haben, das in
den letzten 50 Jahren nur sehr dürftig instand gehalten
wurde. Dass dieser Bereich nicht über Nacht in Ordnung
gebracht werden kann, dürfte sogar Ihnen von der PDS
einleuchten.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nein!)

Dennoch sind seit 1990 mehr als 76 Milliarden DM in
Sicherheit, Modernisierung, Erweiterung und den Neu-
bau der Verkehrsinfrastruktur geflossen.

Im Entschließungsantrag fordert die PDS mehr Inves-
titionen im Verkehrsbereich. Gleichzeitig lehnen ihre
Abgeordneten aber wichtige Verkehrsprojekte ab, wie
beispielsweise den Bau der A 17 in Sachsen oder das
Zukunftsprojekt Transrapid zwischen Berlin und Ham-
burg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Auch hier zeigt sich die verlogene Politik der PDS. Ei-
nen konstruktiven und ganzheitlichen Politikansatz kann
man bei der PDS auch zehn Jahre nach der deutschen
Einheit weiterhin nicht erkennen.

Dennoch möchte ich einen Appell an die rot-grüne
Bundesregierung richten: Kommen Sie ohne Wenn und
Aber auf den Pfad der Investitionen zurück. Beenden Sie
Ihre Sparpolitik im Verkehrsbereich der mitteldeutschen
Länder! Diese eignen sich nicht zum Sparschwein der
Nation.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die schnelle Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur ist
wirkliche Zukunftspolitik für Ostdeutschland, Deutsch-
land und Europa.

Zur weiteren Bilanz der letzten zehn Jahre gehört
auch der Bereich des Gesundheitswesens. Kureinrich-
tungen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Behinder-
ten- und Sozialstationen sind durch gewaltige Investitio-
nen in kurzer Zeit auf den Stand gebracht worden, der
manchmal sogar über den westlichen Standards liegt.
Den PDS-Antragstellern rate ich: Besuchen Sie diese
Einrichtungen. Setzen Sie die Brille der Ideologie und
Propaganda ab und die Brille der Realität auf! Dann sind
wir bereit, mit Ihnen ernsthaft über diese Themen zu
diskutieren.

Der vorliegende Entschließungsantrag der CDU/
CSU-Fraktion ist ein nachhaltiger und konstruktiver

Klaus Brähmig






(A)



(B)



(C)



(D)


Beitrag, den Aufbau Ost voranzutreiben. Dieser muss
wie bis September 1998 wieder ernsthaft zur Chefsache
gemacht werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409322900
Der Kollege Werner
Schulz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sei-
nen Redebeitrag zu Protokoll gegeben.*) Damit erteile
ich dem Kollegen Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion, das
Wort.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1409323000
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen
morgen den zehnten Jahrestag der ersten freien Wahlen
zur Volkskammer der DDR. Ich meine schon, dass dies
ein guter Anlass ist, einmal eine Generalinventur zu ma-
chen und natürlich auch den Blick nach vorn zu richten.
Wie weit sind wir beim Aufbau Ost gekommen? Wo
liegen die Erfolge? Wo liegen noch die Defizite?

Die PDS hat dazu eine Große – vor allen Dingen aber
auch eine lange – Anfrage gestellt. Die Konsequenzen,
die sie daraus ableitend in ihrem Entschließungsantrag
fordert, können wir allerdings nicht nachvollziehen. Die
F.D.P. lehnt den Antrag deshalb ab – nicht weil er von
der PDS kommt, sondern weil wir nicht zur Planwirt-
schaft zurückkehren wollen. Dieser Feldversuch ist be-
kanntlich gescheitert.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die klagende PDS-Feststellung, die SPD setze auf die

bereits unter der Kohl-Regierung gescheiterte Politik,
über den Marktmechanismus zum Erfolg kommen zu
wollen, ist falsch. Wenn die Bundesregierung doch nur
auf den Mechanismus des Marktes setzen würde, dann
hätte sie nämlich längst strukturelle Veränderungen vo-
ranbringen und die entsprechenden Rahmenbedingungen
für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen müs-
sen, wie das zum Beispiel Holland und Schweden er-
folgreich getan haben.

Die F.D.P. jedenfalls will zurück zu einer wirklich
konsequenten sozialen Marktwirtschaft, denn wir haben
schon eine halbe Planwirtschaft. Das ist so.
Was heißt soziale Marktwirtschaft? – Das bedeutet fai-
ren Wettbewerb. Dazu gehören auch gleiche Startchan-
cen. Wenn jemand wie die neuen Bundesländer eine
schlechte Ausgangsbasis hat, ist es nur fair, dass man
ihm einen vollen Ausgleich gewährt und nicht bei der
Hälfte aufhört.


(Beifall bei der F.D.P.)

Aber statt eine Nettoentlastung zu gewähren, die schon
zu unserer Zeit überfällig war – das muss man fairerwei-
se sagen –, hat die rot-grüne Regierung das Handwerk
______
*) Anlage 5

und den Mittelstand mit dem so genannten Steuerentlas-
tungsgesetz zusätzlich belastet.


(Beifall bei der F.D.P.)

Natürlich tut das den ostdeutschen Betrieben, die nur
über geringes Eigenkapital verfügen, besonders weh.

Das so genannte Ökosteuergesetz hat eine ähnliche
Wirkung. Höhere Spritpreise sollen dafür sorgen, dass
weniger gefahren wird. Das ist völlig realitätsfremd. Die
meisten Autofahrer sind auf ihr Auto angewiesen, um
zur Arbeit zu kommen oder um Kunden zu besuchen.
Das gilt in verstärktem Maße für die neuen Bundeslän-
der mit ihren zahlreichen leider noch notwendigen
Westpendlern. Auch die Transportunternehmen sind in
Gefahr. Die Nachteile, die sie gegenüber ihren ausländi-
schen Konkurrenten haben, verschärfen sich durch die
Ökosteuer deutlich.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der [CDU/CSU])


Wenn der Gewinn gegen null geht und man wie die ost-
deutschen Spediteure über wenig Kapital verfügt, kann
man beim besten Willen nicht mehr in eine umwelt-
freundliche Fahrzeugtechnik investieren. Sie haben si-
cherlich auch die Briefe erhalten; das ist nachgerechnet
worden.

Die geplante Unternehmensteuerreform ist eben-
falls für den noch nicht stabilisierten Mittelstand in Ost-
deutschland eine besondere Härte. Statt die kleinen und
mittleren Betriebe, also diejenigen, die die Arbeitsplätze
bringen, zuerst zu entlasten, können ausgerechnet die
großen ab 2001 mit einer Senkung der Körperschafts-
teuer auf 37 Prozent rechnen. Der Spitzensteuersatz der
Einkommensteuer für Personengesellschaften, also die
kleinen und mittleren Unternehmen, soll nur auf
45 Prozent sinken, und das erst ab 2005. Wir brauchen
jetzt Arbeitsplätze.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das Argument, man könne für die Körperschaftsteuer

„optieren“ – was das schon für ein Wort ist! –, können
Sie vergessen. Heißer Tipp: Nehmen Sie unser Steuer-
gesetz! Oskar passt ja nicht mehr auf, Oskar Lafontaine
ist ja weg.


(Beifall bei der F.D.P.)

Weil wir gerade bei F.D.P.-Modellen und Hilfe für

Benachteiligte sind: Damit der Aufbau Ost den neuen
notwendigen Schub erhält, prüfen Sie doch einmal unse-
ren alten, trotzdem noch richtigen Vorschlag einer Nied-
rigsteuer für benachteiligte Regionen, wenn Sie sie
schon nicht in ganz Deutschland einführen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Um bei den strukturschwachen Regionen zu bleiben,

was unser gemeinsames Hauptproblem ist: Der Inno-
Regio-Wettbewerb war eine gute Idee von Ihnen. Das ist
so. Hier möchte ich nur dringend darum bitten, dass
auch diejenigen, die nicht zu den Wettbewerbssiegern
gehört haben, noch eine Chance bekommen.

Klaus Brähmig






(A)



(B)



(C)



(D)


Da wir bei neuen Wegen sind, komme ich zum
Bündnis für Arbeit: Warum baut man hier von vorn-
herein unsinnige Tabus auf? Es ist doch ganz klar, dass
hierbei die Lohnentwicklung und die Lehrlingsentgelte
nicht ausgeblendet werden können, denn wichtig ist,
dass diese Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze entste-
hen. Warum, Herr Staatsminister Schwanitz, sprechen
Sie nicht in der Arbeitsgruppe Aufbau Ost über Öff-
nungsklauseln in Tarifverträgen? Wir brauchen eindeu-
tig Betriebsvereinbarungen, um Arbeitsplätze zu schaf-
fen und zu erhalten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Noch etwas muss ich fragen: Wo bleibt das Stabilisie-
rungskonzept für den ostdeutschen Braunkohleverstro-
mer Veag? – Ist der Wirtschaftsminister da? – Nein. Die
Bundesregierung hat die Moderatorenrolle übernommen.
Jetzt kann sie den Prozess nicht einfach so laufen lassen.
Das wäre der sichere Tod der Veag, die an sich gute
Chancen hat, ein guter Wettbewerber zu werden, wenn
sie denn die Durststrecke von fünf Jahren übersteht.

Es muss beim Ausbau Ost endlich gehandelt werden.
Das heißt, die Bundesregierung braucht nur ihre Ver-
sprechungen einzuhalten und wahr zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409323100
Ich erteile Kollegen
Dr. Peter Eckardt, SPD-Fraktion, das Wort.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Redet dazu nicht einmal Herr Schwanitz?)



Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1409323200
Herr Schwanitz muss ja
nicht zu allem reden.

Die Große Anfrage der PDS wird von manchen miss-
braucht, um auf die Sächsische Schweiz hinzuweisen
oder über die Ökosteuer zu meckern. Ich versuche mich
auf die Große Anfrage zu konzentrieren.

Ich habe Verständnis, dass die PDS-Kolleginnen und
-Kollegen versuchen, sich als alleinige Vertreterinnen
und Vertreter Ostdeutschlands zu definieren


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dafür haben Sie Verständnis?)


und sich über die Vertretung vermuteter Interessen der
Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder öffentlich
darzustellen.

Der Text der Großen Anfrage zeigt aber: Es geht der
PDS offensichtlich ausschließlich um die eigene Profi-
lierung und nicht um den ernsthaften Versuch, die in der
Tat vorhandenen Probleme der neuen Länder zu bewäl-
tigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zu den 133 Fragen der Großen Anfrage „Zur Entwick-
lung und zur Situation in Ostdeutschland“ hat die PDS
schon die Antworten bereit, noch ehe sie von der Regie-
rung überhaupt beantwortet wurden.

Die Einschätzung der Fragesteller der Großen Anfra-
ge scheint klar zu sein: Die ehemalige DDR sei ein Land
mit hoher sozialer Sicherheit gewesen.


(Zuruf von der PDS: Richtig!)

– An dieser Stelle habe ich eigentlich Beifall von der

PDS erwartet. Ihren Bürgern seien ab 1990 altbundes-
deutsche Strukturen übergestülpt worden. Danach sei es
im Osten wesentlich schlechter geworden. Persönliche
Freiheiten, ein reichhaltiges Warenangebot und Reise-
möglichkeiten gebe es zwar jetzt, dafür sei aber eine ei-
genständige wirtschaftliche und soziale Erneuerung
Ostdeutschlands verhindert worden. Mein Gedächtnis
täuscht mich nicht: Gerade diese Entwicklung hat die
Mehrheit der Bevölkerung in der ehemaligen DDR Ende
der 80er-Jahre im Gegensatz zur PDS gewollt. Dort war
damals weder eine wirtschaftliche und soziale Basis
noch eine Mehrheit für die von der PDS in der Anfrage
gewünschten Experimente zu finden.

Auch mit Zehnjahresprogrammen zur Förderung von
Arbeit und Ausbildung lässt sich das Tempo der Verän-
derungen im Jahr 2000 nicht mehr erreichen. Sie würde
zwar Unverbesserlichen Sicherheit vorgaukeln, aber
keine konkreten Erfolge erzielen. Dazu passt natürlich
auch die Ideologie dieser Großen Anfrage, wenn die
PDS die Politik der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung von
1990 bis 1998 mit den ehrlichen Bemühungen der neuen
Regierung, in der Entwicklung der neuen Länder Illusi-
onen und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, poli-
tisch gleichsetzt.

Wer die Bemühungen von Rolf Schwanitz seit 1998
verfolgt hat, muss feststellen: Im Kanzleramt wird jetzt
endlich weniger Public Relations und mehr konkrete
Arbeit


(Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Da kann man wirklich nur lachen!)


– da kann man nur lachen? – mithilfe besserer Analysen
und wirkungsvollerer Programme gemacht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese politischen Aktivitäten werden den weiteren wirt-
schaftlichen Aufbau stabilisieren und den weiteren Er-
folg sicherstellen.

Die Entwicklung in Ostdeutschland ist noch nicht am
Ziel angekommen; denn die neuen Länder sind nicht
homogen entwickelt, wenn man zum Beispiel die
Grenzgebiete zu Polen und Tschechien mit den ehemali-
gen Grenzgebieten zur alten Bundesrepublik vergleicht.
Es gibt auch keine homogene wirtschaftliche Entwick-
lung in den neuen Ländern und keine einheitliche Ge-
sellschaft. Sie hat es auch vor 1990 nicht gegeben. Aber
die Hierarchien haben sich im Gegensatz zur PDS-
Meinung nach 1990 eher abgeflacht und gleichen immer
mehr der westdeutschen Struktur.

Ich habe als Abgeordneter von 1990 bis 1994, der
sein ganzes bisheriges Leben nahe an der innerdeutschen
Grenze gewohnt hat, als Bürger von 1994 bis 1998 und
jetzt wieder als Abgeordneter die Entwicklung in den

Jürgen Türk






(A)



(B)



(C)



(D)


neuen Ländern zwar nicht von innen, aber aus der Nähe
gut beobachten können. Die Nähe zur ehemaligen Gren-
ze ist für einen Westdeutschen ein guter Seismograph
für die Beurteilung der deutschen Befindlichkeit auf
beiden Seiten.

Als ich am 22. November 1989 zum ersten Mal im
heutigen Sachsen-Anhalt war, sah ich mit bloßem Auge:
In der ehemaligen DDR gab es nicht nur einige Fehl-
entwicklungen oder Verwerfungen; vielmehr war ihr
Fundament brüchig. Fast alles war zerstört und morsch.
Es mussten eben nicht nur Fenster ausgewechselt und
eine neue Heizungsanlagen installiert werden. In Qued-
linburg gab es 1989 mehr Trümmer als zerstörte Häuser
im Jahre 1945 in anderen Kleinstädten. Die Zustände in
den Kasernen der NVA und der Westtruppen, in den
Feierabendheimen und in den Häusern zur Unterbrin-
gung von Behinderten waren für mich ein Schock mit
bleibender Wirkung.

Trotz berechtigter Kritik an Fehlern und Fehlentwick-
lungen in Ostdeutschland kann man aber 1999 feststel-
len:

Wenn ich heute über die ehemalige Grenze nach
Sachsen-Anhalt fahre, kann ich von dem Zerrbild, das
hinter den Fragen der Großen Anfrage steht, fast nichts
mehr sehen. Fortschritte halten sich mit Mängeln, die
ausschließlich vor der Wende – nicht nach der Wende –
entstanden sind, die Waage.

1990 gab es nach meiner festen Überzeugung keine
Basis für eine experimentelle gesellschaftliche Umorien-
tierung, von der Westdeutschland hätte lernen können.
Die Feststellung der PDS, man müsse heute von einem
neoliberalen Offenbarungseid der westdeutschen Politik
sprechen, geht an den Erfolgen dieser Politik, die es
zweifellos gegeben hat, haarscharf vorbei.


(Unruhe)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409323300
Herr Kollege, ich
darf Sie einen Augenblick unterbrechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns hat
einmal kurz vor einer namentlichen Abstimmung gere-
det. Das ist für den Redner sehr schwierig. Ich bitte um
ein bisschen Fairness. Hören Sie dem Redner zu! Er hat
etwas Interessantes oder – aus anderer Sicht – nicht Inte-
ressantes zu berichten. Ich bin der Auffassung, wir soll-
ten zuhören, auch im Hinblick darauf, dass noch eine
weitere Kollegin sprechen wird. Ich bitte Sie herzlich
um ein bisschen Freundschaft gegenüber demjenigen,
der redet.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Herr Kollege, Sie haben das Wort.


Dr. Peter Eckardt (SPD):
Rede ID: ID1409323400
Danke schön. Ich bitte,
das vor allem auf meine Kollegin Katherina Reiche, die
nach mir sprechen wird, auszudehnen.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Was? Da kommt noch eine?)


– Ja, natürlich. Ich denke, eine Solidarität mit Personen
muss erlaubt sein. Diese kommt auch aus Überzeugung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lediglich fünf Fragen beschäftigen sich mit Bildung

und Wissenschaft als einem wichtigen Thema für die
neuen Länder. Im Gegensatz zu dem, was die Große An-
frage unterstellt, ist Tatsache: Die Dichte an Forschung
und Entwicklung ist in Ost und West gleich geworden,
die Wissenschaftler-Eingliederungs-Programme haben
bei den Leistungsbereiten ihren Zweck erfüllt, innovati-
ve Forschungsprojekte sind finanziell gut ausgestattet
und gerade diese Bundesregierung versucht, Frauen
stärker in Berufsausbildung und Wissenschaft ein-
zubeziehen.

Fakt ist aber auch: Die Qualifizierung und Aufstiegs-
chancen von Frauen sind landesweit leider unbefriedi-
gend, nicht nur in Ostdeutschland. Ich vermisse jeden
Hinweis auf die erfolgreiche Arbeit von wissenschaftli-
chen Gesellschaften und anderen wissenschaftlichen In-
stitutionen in Ostdeutschland. Ich vermisse auch einen
positiven Hinweis auf das Programm gegen Jugendar-
beitslosigkeit. Natürlich wären betriebliche Ausbil-
dungsplätze besser, aber als Alternative bliebe nur der
Weg in die Arbeitslosigkeit.

Zusammengefasst: Eine eigenständige wirtschaftli-
che, soziale und politische Erneuerung Ostdeutschlands
wird es nur zusammen mit den alten Bundesländern ge-
ben. Und sie wird stattfinden, langsam und mit Geduld.
Wir werden daran arbeiten.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409323500
Zum Abschluss der
Aussprache erteile ich der Kollegin Katherina Reiche
das Wort und wiederhole meine Bitte, ihr doch zuzuhö-
ren.


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1409323600
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Anlass der heutigen Debatte
zur Situation in den neuen Ländern ist eine Große An-
frage der Fraktion der PDS. Der überwiegende Teil der
Debatte beschäftigt sich mit der Antwort der Bundesre-
gierung. Diese Antwort ist überwiegend zutreffend, aber
eine emotionslose Beschreibung der Situation. Es ent-
steht der Eindruck, dass der Erfolg des Aufbau Ost in
Metern verlegter Telefonleitungen zu messen sei.

Bei aller notwendigen Diskussion über die Antwort
der Bundesregierung – wir haben dazu auch einen Ent-
schließungsantrag eingebracht – dürfen die Fragen der
PDS, ihre Formulierungen und die darin enthaltenen
Tendenzen heute nicht unerwähnt bleiben. Die PDS hat
versucht, die Große Anfrage auf fast alle Lebensberei-
che der neuen Länder auszurichten. Die PDS hat in der
Tat eine große Detailfreude an den Tag gelegt. Mir fal-
len aber auch die bewussten Auslassungen und Verkür-
zungen auf.

Dr. Peter Eckardt






(A)



(B)



(C)



(D)


Welche Fragen hat die PDS nicht gestellt? Meine
Damen und Herren von der PDS: Wo ist Ihre Frage nach
dem Zustand der historisch wertvollen Stadtteile von
Potsdam oder Görlitz, die dem Verfall preisgegeben wa-
ren?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wo ist Ihre Frage nach der Lebenssituation der älteren
Generation und nach deren so erheblich verbesserter
wirtschaftlicher Lage? Wo ist die Frage nach der heuti-
gen Situation der Kriegsopfer und Kriegswitwen, für die
es im DDR-Rentensystem nicht einmal Platz gab?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich vermisse Ihre Fragen zum Quantensprung in den so-
zialen Standards und in der Gesundheitsversorgung. Sie
hätten einmal nach der Anzahl der Dialyseautomaten
oder der medizinisch-technischer Geräte fragen sollen.
Warum haben Sie nicht nach der Entwicklung eines
ökologischen Bewusstseins in den neuen Ländern ge-
fragt, da Umweltschutz in der DDR doch ein Tabuthema
war?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren von der PDS, ich will Ih-
nen nicht unterstellen, dass Sie diese Fragen aus Ver-
gesslichkeit nicht gestellt haben. Sie wollten sie nicht
stellen! Sie wollten die letzten zehn Jahre des Trans-
formationsprozesses als einen großen Misserfolg dar-
stellen, gepaart mit einem gebetsmühlenartig aufgebau-
ten Mythos der Enteignung des ostdeutschen Volksei-
gentums. Dabei kann man ohne Übertreibung von einem
Transformationswunder sprechen. Sie wollen zehn Jahre
Ausbau und Aufbau der neuen Länder schlechter ausse-
hen lassen, als sie es verdient haben. Warum machen Sie
das?

Erstens, weil dieses Schüren von Unzufriedenheit und
Zukunftsängsten ihr politisches Überleben sichert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Zweitens, weil Ihren Chefideologen bis auf den heutigen
Tag der Systemwechsel vom Staatssozialismus zur sozi-
alen Marktwirtschaft ein Dorn im Auge ist. Sie haben
dadurch nämlich Ihre Allmacht verloren.


(Beifall bei der Ich zitiere aus der Großen Anfrage der PDS: Indem den neuen Bundesländern altbundesdeutsche Strukturen übergestülpt wurden, gingen auch die Möglichkeiten einer eigenständigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erneuerung Ostdeutschlands verloren. Diesen Satz muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Hier ist es wieder, das müde Klischee vom westlichen Imperialismus, ja vom kapitalistischen Besatzer. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sehr richtig!)


Was erhoffen Sie sich davon? Sie fördern damit eine
Survival-Mentalität gemäß dem Motto: Wir haben den
Sozialismusversuch überstanden, jetzt werden wir auch
den Kapitalismus überleben. So schaffen Sie gezielt Dis-
tanz zur Demokratie, wo Engagement und Partizipation
für eine bürgerliche Gesellschaft gefordert wären. Umso
verlogener finde ich deshalb die Krokodilstränen der
PDS, die sie in ihrer Anfrage über die mangelnde Ak-
zeptanz der parlamentarischen Demokratie in den neuen
Ländern vergießt. Sie schürt diese Attitüde und lebt von
ihr; das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich hatte heute Morgen Besuch von einer Gruppe
amerikanischer Studenten, die kurz davor auch mit Ver-
tretern der PDS zusammengekommen waren. Die PDS-
Vertreter hatten sich den Studenten als „Partei des Os-
tens“ vorgestellt. Meine Damen und Herren von der
PDS, das sind Sie nicht.


(Zuruf von der PDS: Sicher sind wir das!)

Wenn dem so wäre, würden Sie nicht krampfhaft versu-
chen, durch das Aufsammeln versprengter K-Gruppler
und verschreckter Fundigrünen im Westen Fuß zu fas-
sen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ihnen geht es darum, durch Ihr großes, aber schrump-
fendes Potenzial im Osten Einfluss auf die Bundespoli-
tik zu gewinnen. Gelänge Ihnen dies, bekämen wir, was
man in Ihrem heutigen Entschließungsantrag lesen kann:
eine Rückkehr zur Planwirtschaft, diesmal basierend auf
Zehnjahresplänen. Die Anknüpfung an sozialistische
Zeiten wird dort sogar noch deutlicher als bei der immer
wieder vom stellvertretenden Ministerpräsidenten von
Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Holter, geforderten
„Systemopposition“.

Wenn ich die Qualität der Fragen und Antworten
der Großen Anfrage vergleiche, wird für mich offen-
sichtlich, wer sich, wenn auch ungenügend, um den
Aufbau Ost bemüht und wer nur sein ideologisches
Spielchen treibt. Meine Damen und Herren von der
SPD, es ist mir deswegen unerklärlich, dass Sie in zwei
ostdeutschen Ländern mit der PDS kooperieren. Dies
bleibt für mich ein unerträglicher Zustand. Das haben
die Menschen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-
Vorpommern nicht verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Zusammenarbeit belegt Ihre Unfähigkeit zu einer
grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der PDS. Sie
ist verwandtschaftlicher Anpassung gewichen.

Sicherlich ist bei der Betrachtung der wirtschaftlichen
Situation in den neuen Ländern ein Vergleich mit den
alten Ländern statthaft und konstruktiv. Das Bild von
der sich öffnenden Schere bei der wirtschaftlichen Ent-
wicklung mahnt zum Handeln. Sorgen bereitet mir na-
türlich die dünne Kapitaldecke der meisten ostdeutschen
Unternehmen, die ein Reagieren bei kritischen Situatio-

Katherina Reiche






(A)



(B)



(C)



(D)


nen schwierig macht. Ich finde es auch unverständlich,
dass es zehn Jahre nach der Wende Produkte aus den
neuen Ländern immer noch schwer haben, auf die Listen
westdeutscher Handelsketten zu gelangen, obwohl sie
bezüglich Qualität und Preis der westdeutschen Konkur-
renz nicht nachstehen. Ich weigere mich jedoch, den Er-
folg der letzten zehn Jahre nur an westdeutschen Daten
zu messen.

Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wie die
Menschen vor zehn Jahren in Ostdeutschland gelebt ha-
ben. Die Produktivität lag bei einem Drittel des Westni-
veaus, heute liegt sie bei rund 60 Prozent. Der Maschi-
nenpark der Industrie war verschlissen, heute ist er mo-
derner als im Westen. Über Telekommunikation und
Verkehrswege wurde bereits gesprochen. Ermutigend ist
auch der Vergleich mit den Staaten Osteuropas.

Kurz gesagt: Gemessen an der Ausgangslage ist der
Aufbauprozess in den neuen Ländern eine Erfolgsge-
schichte ohne Beispiel. Außerdem bin ich davon über-
zeugt, dass der immense wirtschaftliche, gesellschaftli-
che und soziale Umbruch, den die Menschen in den
neuen Ländern in den vergangenen Jahren erlebt und
auch gestaltet haben, ihnen bei den anstehenden Trans-
formationsprozessen im Zusammenhang mit der Globa-
lisierung durchaus hilfreich sein werden. Dies wird sich
in Zukunft als ein „Vorteil Ost“ erweisen.

Wir sind uns allen im Klaren, dass die Erfolgsge-
schichte Aufbau Ost nicht ohne Probleme abgelaufen ist.
Es gab Fehlentwicklungen, Sackgassen und Umwege.
Eine orientalische Weisheit besagt: Der Weg entsteht
beim Gehen. Der Aufbau Ost wird auch in Zukunft noch
überraschende Entwicklungen parat haben. Die Politik
fährt deshalb am besten, wenn sie bestimmte Gesetzmä-
ßigkeiten der Ökonomie respektiert. Die Bundesregie-
rung glaubt oft, diese aushebeln oder ungestraft ignorie-
ren zu können. Der vergebliche Versuch, dies zu tun und
dabei letztlich immer wieder auf den Staat als ökonomi-
schen Gestalter zurückzugreifen, hat die alte Bundesre-
publik schon in den 70-er Jahren zurückgeworfen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich in der
Wirtschaftspolitik auf die Verbesserung der Rahmenbe-
dingungen zu beschränken. Dazu gehört eine Steuerre-
form, die diesen Namen verdient und im Osten für neue
Impulse auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Der Siebenpunkte-
plan unseres Antrages weist dafür den Weg. Stimmen
Sie für Ihn!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409323700
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa-
che 14/2930. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-

trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-
che 14/2921. Die Fraktion der PDS verlangt namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.

Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.


(Unterbrechung von 19.54 bis 20.00 Uhr)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1409323800
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich habe das von den Schriftführern und Schriftführe-
rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den Entschließungsantrag der PDS zur Gro-
ßen Anfrage zur Entwicklung und zur Situation in Ost-
deutschland auf Drucksache 14/2921 bekannt zu geben.
Abgegebene Stimmen 549. Mit Ja haben gestimmt 30,
mit Nein haben gestimmt 519, Enthaltungen keine.*) Die
Abstimmungsliste lag bei Redaktionsschluss noch nicht
vor. Sie wird als Ablage zum Stenographischen Bericht
der 94. Sitzung abgedruckt. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 22. März 2000, 13 Uhr ein.

Morgen findet, wie Sie wissen, um 9 Uhr die Sonder-
veranstaltung des Deutschen Bundestages aus Anlass
des 10. Jahrestages der freien Wahlen zur Volkskammer
der DDR statt.

Die Sitzung ist geschlossen.