Gesamtes Protokol
Guten Morgen, mei-ne Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Mit Bestürzung haben wir die Nachricht aufgenom-men, daß das Parlament von Armenien Ziel eines bru-talen Terroranschlages geworden ist. Eine Gruppe vonTerroristen ist gestern in das Parlament eingedrungenund hat mit automatischen Waffen das Feuer auf Abge-ordnete und Regierungsmitglieder eröffnet. Nach letztenvorliegenden Meldungen starben durch die Kugeln min-destens zehn Menschen, darunter der Parlamentspräsi-dent Karen Demirtschjan und Ministerpräsident WasgenSarkisjan. Weitere 30 Menschen wurden bei dem An-schlag verletzt. Es ist ein unfaßbarer Bruch der elemen-taren Grundlagen politischer Kultur, daß ein Parlament,die Stätte gewaltloser Auseinandersetzung, zum Orteines Blutbades geworden ist. Als Parlamentarier verur-teilen wir den Terroranschlag auf das schärfste und ge-ben unserer Solidarität mit den Abgeordneten des Par-laments von Armenien Ausdruck. Den Angehörigen dergetöteten Parlaments- und Regierungsmitglieder spre-chen wir unser tiefes Mitgefühl aus.Danke schön.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zu derheutigen Tagesordnung. Interfraktionell ist vereinbartworden, die verbundene Tagesordnung um die folgen-den, Ihnen in einer Liste vorliegenden Zusatzpunkte zuerweitern: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSUgemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Ant-worten der Bundesregierung auf die Fragen 22 bis 25 inDrucksache 14/1836: Rente mit 60 und Bündnis für Arbeit
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lötzer, Car-sten Hübner, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der PDS: Zukunftsfähiger Handel und umfas-sende Reform der WTO – Drucksache 14/1834 – 3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Kohärenz von EU-Agrarpolitik und Entwicklungspolitik im Rahmen der WTO-II-Verhandlungen – Drucksache 14/1860 – 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Ditmar Staffelt, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-neten Margareta Wolf , Dr. Uschi Eid, Ulrike Höf-ken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Transparenz, offene Märkte, Fairnessund nachhaltige Entwicklung: Für eine umfassende Wei-terentwicklung des Welthandelssystems – Drucksache14/1861 – 5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung des Düngemittelgesetzes – Druck-sache 14/1857 –b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungen – Drucksache 14/1873 – 6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Hal-tung der Bundesregierung zu Forderungen, das Sofort-programm gegen Jugendarbeitslosigkeit zu streichen 7. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Verarbeitung und Nutzung der zur Durchfüh-rung der Verordnung Nr. 820/97 des Rates erhobe-nen Daten und zur Änderung des Rindfleischetikettie-rungsgesetzes (Verordnung (EG) Nr. 820/97 – Durchfüh-rungsgesetz) – Drucksache 14/1856 – 8. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Förderung der Selbständigkeit – Drucksache 14/1855 – 9. Vereinbarte Debatte zur Entscheidung des US-Senats zumAtomteststoppvertrag 10. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal-tung der Bundesregierung zu einer möglichen Lieferungvon Kampfpanzern an die TürkeiAußerdem wurde vereinbart, die Beratungen zu Ta-gesordnungspunkt 10 – Änderung insolvenzrechtlicherund kreditwesenrechtlicher Vorschriften –, zu Tages-ordnungspunkt 15 – Änderung der Strafprozeßordnung –sowie zu Tagesordnungspunkt 16 – Zwangsarbeiterent-schädigung – abzusetzen.Des weiteren mache ich auf nachträgliche Überwei-sungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 53. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innen-
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ausschuß und Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesenwerden.Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes(Drittes BtMG-Änderungsgesetz – 3. BtMGÄndG)– Drucksache 14/1515 –
Meine Damen und Herren, die europäischen Rechts-räume sind das Ergebnis jahrhundertelanger Entwick-lungen. Sie gehören zum gemeinsamen europäischen
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Kulturgut. Ihre Integration wird alles andere als einfachsein, weil das gewachsene Recht ein wichtiger und zu-gleich ein im Alltag erlebter Identifikationspunkt ist.Das Ziel kann deshalb nicht eine Homogenisierung die-ser vielfältigen Rechtskulturen sein. Wohl aber kann esdas Ziel sein, Inseln des gemeinsamen Rechts zu schaf-fen und diese dort, wo es für erforderlich erachtet wird,auszubauen.Wir haben uns in Tampere, um mit den Worten Ro-mano Prodis, dem neuen Präsidenten der Kommission,zu sprechen, in dieser Frage auf „einen langen Marschder Arbeit“ begeben. Das Projekt des gemeinsamenRechtsraums steht noch am Anfang. Entscheidend istaber, daß jetzt ein konkreter inhaltlicher und zeitlicherRahmenplan vorliegt, wie er sich etwa beim Binnen-markt bewährt hat. Damit kann sich das Ergebnis vonTampere mehr als sehen lassen.
Ein gemeinsamer Rechtsraum muß heißen, daß einBürger der Europäischen Union künftig in jedem Mit-gliedstaat so einfach vor Gericht gehen kann wie in sei-nem Heimatland. Dazu müssen bürokratische Hürdenbeseitigt und die Abläufe vereinfacht und beschleunigtwerden.Zivilrechtliche Urteile werden in der EuropäischenUnion schon heute in der Regel gegenseitig anerkannt.Schwierig für den einzelnen bleibt jedoch die Durchset-zung seines Rechts. Um diesen Mißstand zu beseitigen,soll nun auf deutsche Initiative ein europäischer Voll-streckungstitel eingeführt werden.Im Familienrecht soll eine Angleichung des Kollisi-onsrechts sicherstellen, daß überall in Europa zweifels-frei feststeht, welches nationale Recht zur Anwendungkommt, wenn eine binationale Ehe geschieden wird oderwenn Fragen im Zusammenhang mit dem Sorgerecht zuklären sind. Dies sind Fragen, die auch und gerade imdeutsch-französischen Verhältnis immer wieder einebelastende Rolle spielen.Zum europäischen Rechtsraum muß eine europäi-sche Grundrechtscharta gehören. Der Europäische Ratin Tampere hat sich auf die Modalitäten der Einsetzungdes Gremiums verständigt, das die Grundrechtschartaausarbeiten wird. Dieses Gremium wird sich im Dezem-ber konstituieren und soll bis Ende nächsten Jahreseinen Entwurf vorlegen. Als Beauftragter des Bundes-kanzlers wird ihm der frühere Bundespräsident RomanHerzog angehören. Bundestag und Bundesrat werdenjeweils einen Vertreter entsenden. Ein besonderer Erfolggemeinsamer Anstrengungen von Bundestag und Bun-desregierung ist, daß sich das Gremium seinen Vorsit-zenden selbst wählen wird.Mit dem Vorschlag für die Grundrechtscharta willDeutschland nicht die europäischen Grundrechte neu er-finden. Aber wer durch Organe oder Institutionen derEuropäischen Union in seinen Grundrechten verletztwird – es wird in Zukunft immer wichtiger, eine positiveAntwort auf dieses Problem zu finden; denn wir wollengerade in dieser Säule eine verstärkte Integration, eineverstärkte Vergemeinschaftung haben –, der muß dage-gen wirksamer vorgehen können als bisher. Das Demo-kratiegebot erzwingt es, daß wir eine europäischeGrundrechtscharta ausarbeiten und diese dann Schritt fürSchritt in das Vertragswerk der Europäischen Union im-plementieren.
Die Europäische Union wird eine gemeinsame Asyl-und Migrationspolitik entwickeln. Ihr Kernstück, eingemeinsames Asylsystem, wird garantieren, daß Ver-folgten auch zukünftig Schutz in der Europäischen Uni-on gewährt wird. Dieser Beschluß, zu dem eine Initiati-ve der deutschen, französischen und britischen Innenmi-nister wesentlich beigetragen hat, macht nochmals deut-lich, worum es der Union geht – das wurde von allen,die sich in dieser Diskussion in Tampere gemeldet ha-ben, unterstrichen –, nämlich um den Schutz vonFlüchtlingen und nicht um den Schutz vor Flüchtlingen.Die Europäische Union ist und darf keine abgeschotteteFestung werden.
In der Deutschland besonders betreffenden Frageeiner europäischen Lastenteilung hat sich der Europäi-sche Rat gerade auch auf deutsches Drängen hin für ei-nen solidarischen Ausgleich zwischen den Mitglied-staaten ausgesprochen, der allerdings noch konkretisiertwerden muß und der angesichts der Interessendifferenzauch alles andere als einfach werden wird.Die Europäische Union wird künftig die Bekämpfungder Fluchtursachen – Elend, Not und politische Verfol-gung – zu einem wichtigen Ziel ihrer gemeinsamenAußenpolitik machen. Entsprechende Aktionspläne fürdie wichtigsten Herkunftsländer wurden gebilligt undmüssen jetzt umgesetzt werden. Die Europäische Unionwird zudem eine energischere Integration dauerhaft inder Europäischen Union lebender Ausländer anstreben.In Tampere wurde ferner eine Verbesserung derVerbrechensbekämpfung auf europäischer Ebene ver-einbart. Am 1. Juli hat Europol seine Arbeit aufgenom-Bundesminister Joseph Fischer
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men. Dennoch müssen wir darauf achten, daß dieVerbrechensbekämpfung Schritt hält mit der organisier-ten Kriminalität, die heute mit modernen technischenMitteln über die Grenzen hinweg operiert. Die Polizei-zusammenarbeit in Europa muß so effizient und rei-bungslos funktionieren wie innerhalb eines Staates.Auch deswegen wird übrigens der Grundrechtsschutzsehr wichtig; denn das gehört zu einem innerstaatlichenAusgleich unter demokratischen Bedingungen heuteselbstverständlich dazu. Gemeinsame Ermittlungsdien-ste unter Beteiligung – möglichst Leitung – von Europolsind ein nächster wichtiger Schritt dorthin.Polizei und Justiz müssen auch auf europäischer Ebe-ne parallel miteinander aufgebaut werden. Dies ist eineGrundfrage der Gewaltenteilung. Mit der Einrichtungvon Eurojust als Ergänzung von Europol soll zunächsteine enge Zusammenarbeit der Staatsanwälte erreichtwerden. Auf längere Sicht kann Eurojust die Keimzellefür eine europäische Staatsanwaltschaft werden.Ich komme zum zweiten großen Thema. Auch für dieErweiterung der Union wurden in Tampere auf derGrundlage der jüngsten Fortschrittsberichte der Kom-mission wichtige Weichen gestellt. Für den Europäi-schen Rat in Helsinki zeichnet sich nun in den zentralen,die Erweiterung betreffenden Fragen folgendes Einver-nehmen ab: Die Beitrittsverhandlungen sollen – wievon der Kommission vorgeschlagen – im nächsten Jahrmit allen sechs Ländern der zweiten Gruppe aufgenom-men werden. Zugleich soll bei den Verhandlungen stär-ker als bisher nach den individuellen Fortschritten derBeitrittsländer entlang den objektiven Kriterien differen-ziert werden.Es läßt sich vorhersehen, daß dieser Ansatz zu einerstärkeren Auffächerung des Kandidatenfeldes führenwird als bisher. Nur so ist aber sichergestellt, daß bishe-rige Nachzügler faire Aufholchancen erhalten und daßalle Kandidaten allein nach ihren Verdiensten beurteiltwerden, ohne daß die Kopenhagener Kriterien aufge-weicht werden.Die Europäische Union beabsichtigt, in Helsinki einepolitische Verpflichtung einzugehen, bis zum 1. Januar2003 aufnahmebereit zu sein. Hiermit hat die Bundesre-gierung ihre Initiative für einen Erweiterungszeitplankonkretisieren können. Ein solches Datum wird die Be-rechenbarkeit des Erweiterungsprozesses für die Bei-trittsländer signifikant erhöhen. Sie haben deshalb dasSignal von Tampere einhellig begrüßt.Die Zeit arbeitet nicht unbedingt für die Erweiterung,meine Damen und Herren. Dies zeigt der besorgniserre-gende Rückgang der Zustimmung zum EU-Beitritt ineinigen mittel- und osteuropäischen Ländern. Geradedeshalb ist es so wichtig, daß wir das Momentum nichtverlieren. Die Erweiterungsfragen sind heute aber keinesymbolischen Fragen mehr. Es sind Fragen, die konkre-ter Entscheidungen, die konkreter praktischer Verhand-lungsfortschritte und auch konkreter Vorbereitung in-nerhalb der Europäischen Union bedürfen. Der ersteSchritt, die Agenda 2000, wurde erfolgreich abge-schlossen. Der zweite Schritt, die Regierungskonferenzzu den institutionellen Reformen, soll spätestens mit derfranzösischen Präsidentschaft abgeschlossen werden.Wenn man dann noch das eine Jahr einrechnet, das not-wendig ist, um die entsprechenden Ratifizierungsprozes-se in den Parlamenten durchlaufen zu können, erreichtman das Zieldatum des 1. Januar 2003.Der im nächsten Jahr stattfindenden Regierungskon-ferenz über die institutionellen Reformen – ich habe esschon erwähnt – kommt eine entscheidende Bedeutungfür die Erweiterung und das Funktionieren der künftigenUnion zu. Die „drei Weisen“, angeführt von Richardvon Weizsäcker, haben hierfür gute und wichtige Vor-schläge gemacht. Wir müssen allerdings darauf achten,daß wir die Regierungskonferenz nicht überfrachten;denn sie muß rechtzeitig im kommenden Jahr unter derfranzösischen Präsidentschaft abgeschlossen werden,damit das Zeitziel, die Erweiterungsfähigkeit zum 1. Ja-nuar 2003, erreicht werden kann. Dies wird der Maßstabder Bundesregierung bei den konkreten Festlegungender Inhalte der Regierungskonferenz sein.Ich sage hier ganz offen: Wir halten es für nicht sinn-voll, in die Regierungskonferenz Inhalte hineinzuneh-men, die den Abschluß der Regierungskonferenz letzt-endlich auf eine längere Bank schieben würden. DieBundesregierung wird deshalb Frankreich, unseren eng-sten und wichtigsten Partner, mit allem Nachdruck beiseinen Bemühungen unterstützten, die Regierungskonfe-renz rechtzeitig und mit einem substantiellen Reformpa-ket abzuschließen.Meine Damen und Herren, in Tampere sind auch dieMeinungsbildungen zum Kandidatenstatus der Türkeiweiter angenähert worden. Dies war ebenfalls ein Anlie-gen der Bundesregierung. Ich will hier noch einmal un-terstreichen: Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kön-nen erst dann beginnen, wenn diese – wie die anderenBeitrittskandidaten – die politischen Kriterien von Ko-penhagen erfüllt hat. Dies ist keine Lex Türkei, sonderndies gilt für alle Kandidaten, die sich um Aufnahme indie EU bewerben.
Die Türkei weiß sehr genau – dies zeigt der Brief-wechsel zwischen Bundeskanzler Schröder und Mi-nisterpräsident Ecevit –, wie weit sie hiervon entferntist. Für uns ist entscheidend, daß die Europäische Unionder Türkei eine Perspektive eröffnet, die die Türkei ausder Isolation herausholt und Spannungen abbaut.
Wir können doch trotz aller Kritik heute schon sehen– lesen Sie die Berichte vom heutigen Tage –, daß dasgriechisch-türkische Verhältnis im Zusammenhang mitder neuen Türkei-Politik auf dem Weg zu einer ent-scheidenden Verbesserung ist. Das ist eines der erstenpositiven Resultate dieser neuen Politik, während diedrei Jahre, in denen die Türkei in die Isolation gedrängtwurde, das Gegenteil von konstruktiver und positiverPolitik mit sich gebracht haben. Meine Damen und Her-ren, für uns ist entscheidend, daß die Europäische UnionBundesminister Joseph Fischer
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der Türkei eine Perspektive eröffnet, damit dort Demo-kratie, Menschenrechte, der Schutz von Minderheitenund die inneren Reformen gefördert werden können.Der Europäische Rat in Tampere fiel mit dem Amts-antritt von Javier Solana als Hohem Vertreter für dieAußen- und Sicherheitspolitik zusammen. Dies ist einweiteres wichtiges Datum in diesem Jahr. Mit der Schaf-fung dieses Amts ist eines der ehrgeizigsten und weit-tragendsten Vorhaben der europäischen Politik Wirk-lichkeit geworden. Die Europäische Union gewinnt mitJavier Solana einen zentralen Ansprechpartner nach au-ßen und einen wichtigen Impulsgeber nach innen. Diesist ein echter Schritt nach vorne auf dem Weg zu einergemeinsamen Vertretung europäischer Interessen.Der gemeinsame Brief von Bundeskanzler Schröderund Staatspräsident Chirac hat in Tampere zu einer Fe-stigung der Rolle Solanas im Verhältnis zu Präsident-schaft und Kommission geführt. Dies ist ein weiteresBeispiel dafür, wie eng Deutschland und Frankreich –entgegen einem fälschlichen Eindruck – in allen euro-päischen Fragen zusammenarbeiten. Wir werden unsgemeinsam mit Frankreich weiterhin mit allen Kräftendafür einsetzen, daß Solana sein politisches Gewicht undseine Erfahrungen in seinem neuen Amt voll zum Tra-gen bringen kann, gerade wo es um die Gestaltung einergemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitikgeht.Die Beschlüsse von Tampere stehen in einem engerenZusammenhang, als es auf den ersten Blick scheinenmag. Die Akzeptanz der Beitritte, der Erweiterung, wirdwesentlich davon abhängen, ob die zukünftigen Mit-gliedstaaten in der Justiz- und Innenpolitik an die inTampere vereinbarten Maßnahmen anknüpfen können.Wir müssen vor der Erweiterung bei der Vertiefung, inder Justiz- und Innen- wie in der Außen- und Sicher-heitspolitik soweit wie möglich vorankommen; denn zu25 werden Fortschritte kaum einfacher zu erzielen seinals zu 15.Der Dreiklang von Tampere bei Recht, Erweiterungund Außenpolitik war insofern ein wichtiger und in sichausgewogener Zwischenschritt auf dem Weg zu einererweiterten Politischen Union. Die Chancen, daß in Hel-sinki die nächste wichtige Etappe gemeistert werdenkann, sind deswegen gut. Die Bundesregierung will denErfolg des sogenannten „Erweiterungsgipfels“ von Hel-sinki und wird dafür alles in ihrer Kraft Stehende tun.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun
Kollege Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Werte Kolleginnen und Kollegen! Als ich der Regie-rungserklärung zugehört habe, habe ich mich gefragt:Was will der Außenminister uns mit dieser Regierungs-erklärung eigentlich sagen, was wir nicht schon in denletzten 14 Tagen durch regierungsamtliche Verlautba-rungen zur Kenntnis genommen haben? Was will derDichter uns eigentlich sagen? Wahrscheinlich gar nichts.Er will nur davon ablenken, daß er in dieser Woche eineverheerende Niederlage erlitten hat.
Er ist angeschlagen, und das ist der Grund, weshalb erhier geredet hat.
Herr Außenminister, was haben Sie vor einem gutenJahr – damals noch als Oppositionspolitiker – im Parla-ment nicht alles kritisiert! Aber jetzt merken Sie: Manmuß nicht nur regieren wollen, sondern man muß esauch können. Aber Sie können es offensichtlich nicht.
Dieser Außenminister bringt es tatsächlich fertig, einenStaat wie die Türkei zum offiziellen Beitragskandidatenfür die Europäische Union – immerhin ein Raum derFreiheit, der Sicherheit und des Rechts – zu befördernund ihn zugleich für nicht vertrauenswürdig genug zuhalten, ihm als NATO-Partner einen Testpanzer zu über-senden.
Dieser Widerspruch, Herr Außenminister, ist auch durchnoch soviel diplomatische Finesse Ihrer Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter nicht aufzulösen.Es ist wohl wahr: Die Menschenrechtslage in derTürkei ist zu kritisieren, ebenso die mangelnde demo-kratische Verfaßtheit. Aber gerade deshalb ist die Ent-scheidung für den Beitrittskandidatenstatus so riskantund kann in der Türkei zu einer noch größeren Enttäu-schung führen. Sie spielen ein doppeltes Spiel, und dasweiß die Türkei. Deshalb muß sie mißtrauisch sein obder Ernsthaftigkeit des Beitrittskandidatenstatus und derRüstungskooperation. Ihre Türkei-Politik, Herr Außen-minister, ist jedenfalls nicht nur ohne Konzept, sie istnach dieser Woche nur noch ein Trümmerhaufen.
Sie haben auch Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zu-tiefst geschadet, und zwar nicht nur durch Ihr Verhaltenim Bundessicherheitsrat. Was hat sich Joschka Fischerfrüher bei jedem Rüstungsexport hier aufgeregt! Nochnie hat es ein Außenminister geschafft, innerhalb einesJahres zunächst gegen eine Verschärfung der Export-richtlinien für Kriegswaffen im Bundessicherheitsrat zusein und dann einen Beschluß des gleichen Bundessi-cherheitsrats in Frage zu stellen, solange diese Export-richtlinien nicht verschärft sind.Zu guter Letzt erklärt die Koalition: Wir liefern zwareinen Testpanzer; ob wir aber bereit sind, der TürkeiBundesminister Joseph Fischer
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Panzer zu verkaufen, steht auf einem ganz anderen Blatt.Einladender, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht'snimmer! Der Automann Schröder weiß ja sicherlich, daßman dann, wenn man einen Wagen anbietet, auch bereitsein muß, ihn zu verkaufen. So verspielt man auf jedenFall außenpolitische Glaubwürdigkeit, Herr Außenmi-nister.
Nun war Tampere ein innenpolitischer Gipfel. Dieinsgesamt mageren und enttäuschenden Ergebnisse die-ses Sondergipfels – das sage ich ausdrücklich – sindnicht nur dem Innenminister anzulasten. Die Zeiten, indenen es auf das, was Deutschland sagte, ankam und indenen der deutsch-französische Motor Impulse für dieeuropäische Entwicklung gegeben hat, sind vorbei.
Die Zeiten, in denen Kanzler wie Helmut Kohl undHelmut Schmidt bei ihrer Vision einer immer engerenUnion der Völker Europas ihre Kollegen mitgerissenhaben und sie dafür begeistern konnten, sind ebensovorbei. Sie sind vorbei, seit Rotgrün Deutschland in Eu-ropa repräsentiert.
Es reicht eben nicht, statt einer funktionsfähigen Regie-rung eine regierende Bastelgruppe zu haben.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heutevor einem Desaster in den deutsch-französischen Be-ziehungen. Generationen von Kanzlern und Außenmini-stern haben hierauf besonders geachtet. Mißverständnis-se, Desinteresse und Ärger bestimmen die Beziehungenzwischen Schröder und Jospin.
– Ich wäre vorsichtig, hierüber nur zu lachen. Ich halteIhnen nur einmal vor, was „Die Woche“ gerade ge-schrieben hat: „Die Kernachse Europas steht vor demZusammenbruch.“ Und Ihr ehemaliger BundeskanzlerHelmut Schmidt spricht in der „Zeit“ vom 12. August1999 von einer „gefährlichen Entwicklung“.
Das ist leider die Realität. Angesichts dessen nützt esauch nichts, daß der Außenminister versucht, nach ei-nem Treffen mit seinem französischen Kollegen so zutun, als sei alles wieder im Lot. Die Zeit des Einflusses,die Zeit der Impulse ist leider vorbei. Die Europapolitikdroht unter dieser Regierung zu einem europapolitischenKlein-Klein zu werden. Schade!Selbst auf die Gefahr hin, daß ich mir vom KollegenSchily wieder die erregte Zwischenfrage einhandle, obich bereit sei, zur Kenntnis zu nehmen, daß in a, b, c, d,e, f und g kleine Fortschritte erzielt worden seien, daß inTampere hier und da eine etwas gewagtere Formulie-rung gefunden worden sei und daß die Schröder-Regierung auch nichts dafür könne, daß in Europa allesso kompliziert sei, möchte ich hier feststellen: Viel warja nicht in Tampere, nicht wahr?Zwei konkrete Punkte: Eurojust und Grundrechte-konvent; ansonsten nur Absichtserklärungen und Ar-beitsaufträge, aber keine Vereinbarung für eine gerechteLastenverteilung in der Flüchtlingsfrage, keine Harmo-nisierung der asylrechtlichen Standards, sondern nurnoch Mindestbedingungen, kein europäisches Systemzur Registrierung von Fingerabdrücken, keine europäi-sche Staatsanwaltschaft.
Das Projekt Grundrechtekonvent gehört in meinenAugen zu den positiven Aspekten von Tampere – ichunterstreiche das ausdrücklich –, und meine Fraktionwill in diesem Projekt mitarbeiten. Es stellt eines dergroßen Ziele dar, die wir uns in den letzten Jahren ge-setzt haben. Doch schon beim Thema „burden sharing“konnte keinerlei Einvernehmen mit den Partnern übereine gerechte Lastenverteilung erzielt werden. Mit derimmer proklamierten Berücksichtigung deutscher Inter-essen hat das Ergebnis von Tampere in dieser Frage nunwahrlich nichts zu tun.Es sollte ja ein europäischer Rechtsraum geschaf-fen werden; so hat man vor diesem Gipfel regierungs-amtlich angekündigt. Wir hatten, um noch einmal daranzu erinnern, in den Art. 61 ff. der Amsterdamer VerträgeRegelungen zum Aufbau eines Raumes der Freiheit, derSicherheit und des Rechts eingefügt. Leider ist in Tam-pere nichts Konkretes hinzugekommen. Ich überfliegejetzt einmal mit Ihnen, wenn Sie gestatten, den Text inAbschnitt VI der Schlußfolgerungen von Tampere imBereich der Verben: „würden“, „sollte“, „sollte“, „for-dert“, „sollte“, „würden“, „könnte“, „sollten“, „sollten“,„ersucht“, „sollte“, „sollten“.
Ich kann mir schon richtig vorstellen: Da zittern dieKriminellen Europas, wenn sie das lesen.
Viel Wortgeklingel, aber nichts Konkretes im Bereichder inneren Sicherheit. Es ist gut, daß Europol jetzt sei-ne Arbeit aufgenommen hat. Aber wir dürfen bei demErreichten nicht stehenbleiben. Das muß weiterentwik-kelt werden. Am Ende der Entwicklung – da bin ichganz sicher – muß es so etwas wie ein europäisches FBIgeben. Europol muß operative Befugnisse haben. Esmuß operationell tätig werden, vor allem im Sinne einerKoordinierung und Initiierung von konkreten nationalenund grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen.Das heißt, ausländische Ermittlungskräfte müssensich unter nationaler Leitung aktiv an Ermittlungsmaß-nahmen beteiligen dürfen, an Durchsuchungen, an Be-schlagnahmen, an Auswertungen von Gesprächen imRahmen einer Telefonüberwachung usw. Die deutscheStrafprozeßordnung muß insofern europäisch ergänztund geöffnet werden. Dazu hat es keine nennenswertenDr. Jürgen Rüttgers
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Initiativen unter der deutschen Präsidentschaft gegeben.Eingefahren wurde also die Ernte, die wir gesät haben,ansonsten herrscht Stillstand.
Ein weiteres Thema – der Außenminister hat es ange-sprochen – war die Erweiterung der EuropäischenUnion um die Staaten des östlichen Mitteleuropa, übri-gens ein Punkt, der sehr viel mit innerer Sicherheit zutun hat. Denn die Europäische Union greift mit derOsterweiterung in Regionen ein, die Herkunfts- undTransitländer organisierter Kriminalität und illegalerMigration sind. Ich will die Risiken, die diese Öffnungder Europäischen Union nach Osten für die innereSicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Unionbirgt, nicht überzeichnen. Aber ich finde, wir müssenganz deutlich sagen: Wir werden nicht erwarten können,daß die Beitrittskandidaten die Verpflichtungen, die sichzum Beispiel aus dem Schengener Vertragswerk zurinneren Sicherheit und zur Grenzsicherheit ergeben, ausdem Stand und ohne Hilfestellung erfüllen können.Zu den größten Herausforderungen der Mitgliedstaa-ten gehört es deshalb, die Beitrittskandidaten auf diesemWeg aktiv zu begleiten und zu fördern, ja – das ist einVorschlag, den ich hier heute unterbreite –, sie bereitsjetzt zu beteiligen und einzubeziehen, damit sie dieChance haben, überhaupt dieses Niveau zu erreichen.Die Bundesregierung hat sich während der deutschenPräsidentschaft dieser Aufgabe nicht gestellt. Das Ver-säumte ist wahrscheinlich schwer nachholbar.Aber es gibt natürlich gerade auch in diesem Zusam-menhang wichtige, ja, zentrale Fragen. Wir wollen ander Schwelle zur Erweiterung der Europäischen Unionnicht vergessen, daß die Frage der europäischenFlüchtlingskonzeption nicht gelöst, noch nicht einmalin der Sache angegangen ist. Wir wissen aus unserenDebatten über die Innenpolitik und die Ausländerpolitik,wie wichtig es ist, ein konkretes Integrationskonzept zuerarbeiten, dafür zu sorgen, daß ein Konzept vorliegt,das eben nicht zu ungeordneter Zuwanderung und Über-belastung führt, sondern verhindert, daß bei uns dieIntegrationsbereitschaft sinkt und damit die Integrati-onsbedingungen schwieriger werden. Es kann nicht da-bei bleiben, daß es kein europäisches Flüchtlingskonzeptgibt, das nicht Deutschland den Hauptteil der Lasten undKosten beläßt und zugleich das humanitärste Land derUnion, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, als Ortder Fremdenfeindlichkeit erscheinen läßt.Es hat nennenswerte Fortschritte zu einer europäi-schen Lastenverteilung in bezug auf Flüchtlinge inTampere nicht gegeben. Nun lese ich heute mit großemInteresse, daß der Bundesinnenminister in einem Inter-view an seiner Auffassung festhält, in Deutschland seiendie Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung über-schritten. Ja, dann frage ich: Warum haben Sie in Tam-pere nicht versucht, konkreter weiterzukommen, anstatthier in Deutschland Interviews zu geben, in denen Siedie Zuwanderung beklagen und sagen, die Grenze derBelastbarkeit sei überschritten?
Wahrscheinlich werden wir die Frage auch einmalvon der anderen Seite betrachten müssen. Ich glaube,nach den Erfahrungen von Tampere ist es an der Zeit, zufragen, woran es denn eigentlich liegt, daß Deutschlandin diesem Bereich in Europa sehr, sehr einsam dasteht.Unsere europäischen Partner haben doch nicht in jederHinsicht Unrecht, wenn sie zögern, Deutschland Lastenin der Asyl- und Flüchtlingspolitik abzunehmen. Ist esdenn, werte Kolleginnen und Kollegen, so falsch, wennunsere europäischen Partner sagen: „Wenn Deutschlandden größten Teil aller Asylbewerber und Flüchtlinge derEuropäischen Union abbekommt, dann lockt es offenbarmehr als andere Staaten diese Menschen an? Deutsch-land ist selbst schuld, daß durch sein Sozialhilferecht fürAsylbewerber der größte Teil nach Deutschlandkommt.“
Alle unsere europäischen Partnerländer sind, wie wirwissen, Gott sei Dank, offene westliche Demokratienund Rechtsstaaten. Wenn es trotzdem den überwiegen-den Teil aller nach Europa kommenden Asylbewerbernach Deutschland zieht, dann muß das doch andereGründe haben. Das hat offensichtlich etwas mit unseremLeistungsniveau zu tun.
Wieso eigentlich sollen die anderen Europäer ihr jewei-liges Asylrecht dem deutschen Recht anpassen oderTeile der deutschen Lasten übernehmen? „Burden sha-ring“, Lastenteilung, ist ja für die weniger BelastetenLastenaufbürdung. Nicht das Recht der anderen EU-Partner führt zu Problemen, sondern das deutsche, undnicht die europäischen Partner bringen das europäischeGleichgewicht durcheinander, sondern Deutschland mitseinem überaus großzügigen Asyl- und Sozialrecht.
Müßte man nicht umgekehrt geradezu fordern, daßDeutschland von seinen europäischen Nachbarn lerntund die Sozialleistungen für Asylbewerber endlich demeuropäischen Standard anpaßt? Niemand wird die Art,wie Staaten wie Dänemark oder Österreich, wie Portugaloder Irland, wie Frankreich oder Großbritannien mitFlüchtlingen umgehen, als inhuman bezeichnen. Warumkann Deutschland sich das denn nicht zum Vorbildnehmen? frage ich. Wir müssen uns endlich freimachenvon dem Ansatz, am deutschen Asylrechtswesen müssedie Welt genesen. Ich glaube, das wird noch zu einerschwierigen Debatte führen.Denjenigen, die jetzt auf der linken Seite des HausesZwischenrufe gemacht haben, empfehle ich, das Inter-view des Herrn Bundesinnenministers zu lesen. Wennich das richtig verstanden habe, dann ist er bereit, überdie Leistungen für Asylbewerber nicht nur kontrovers zudiskutieren und sie auf europäisches Niveau herunterzu-fahren, sondern gleichzeitig im Bereich des Asylrechtsauf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention über dieFrage der Grundrechtsabsicherung nachzudenken. Wirsind bereit, diese Diskussion zu führen, weil es zu einerDr. Jürgen Rüttgers
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europäischen Angleichung bei der Belastung mitFlüchtlingen und Asylbewerbern kommen muß.
Meine Damen und Herren, diese Debatte findet ja ineiner Woche statt, in der auch über einen Jahrestag dis-kutiert wird, nämlich über ein Jahr rotgrüne Regierung.Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, daß der Bun-deskanzler auf einer Krisenveranstaltung der SPD amDienstag in Moers gesagt hat:Das ist schon ein ziemlich schwerer Job. Ich fragemich manchmal, warum ich damals am Tor desKanzleramts gerüttelt habe.Richtig, Herr Bundeskanzler! Das fragt sich das deut-sche Volk seit einem Jahr.
Hätten Sie sich das früher gefragt, wäre Deutschlandmanches erspart geblieben.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beim Anhörender Rede des Vorredners drängte sich mir immer wiederdie Frage auf, ob Sie, Herr Kollege Rüttgers, überhauptzur Europapolitik oder Tampere reden wollten.
Nichts zum Amtsantritt von Solana, nur pauschale undneben der Sache liegende Kritik an den großen Fort-schritten beim Aufbau eines gemeinsamen Raumes derFreiheit, der Sicherheit und des Rechts und sonst fastnichts, außer einer erstaunlichen Urheberrechtsbehaup-tung zur Grundrechtscharta. Herr Kollege Rüttgers, den-ken Sie doch bitte einmal in Ruhe darüber nach,
ob es den Interessen unseres Landes dient, wenn Sie– im Gegensatz zur früheren Opposition – die Europa-politik zum Schlachtfeld innenpolitischer Streitereienund landespolitischer Profilierungsversuche machen.
Übrigens zeigt Ihre Sprachkritik an den Formulierungenvon Tampere, daß Sie bis vor kurzem und während allder Jahre der Kohl-Regierung keine europäischen Textegelesen haben können.
In einem Punkt allerdings stimmen wir überein: DerBeschluß des Europäischen Rates zur Erarbeitung einerCharta der Grundrechte ist eines der erfreulichstenErgebnisse von Tampere. Ich will meine Ausführungenauf dieses Thema konzentrieren. Zu den einzelnenSchlußfolgerungen für die europäische Justiz- und In-nenpolitik werden sich die beiden zuständigen Ressort-minister ausführlich äußern. Es ist das Verdienst vonOtto Schily und Herta Däubler-Gmelin und auch vonAußenminister Joschka Fischer, daß Tampere insgesamtein großer Erfolg geworden ist.
Der Beschluß des Europäischen Rats zur Grund-rechtscharta führte die im März 1999 unter deutscherPräsidentschaft verabschiedeten Schlußfolgerungen desKölner Gipfels aus. Dadurch ist ein großer Schritt zurVerwirklichung einer Forderung gelungen, die im Deut-schen Bundestag erstmals im Juni 1995 von der SPD-Fraktion erhoben und ausführlich begründet worden ist.Erfreulicherweise haben sich bereits im Dezember 1995alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dieser For-derung angeschlossen. Wir hatten damals auf die ver-breitete Europamüdigkeit hingewiesen und die Frage ge-stellt, ob nicht eine Vision notwendig sei, mit der wirder Union neue Ausstrahlung geben könnten. Deshalbhaben wir gefordert, dem EU-Vertrag eine Charta euro-päischer Menschen- und Bürgerrechte oder – in unsererdeutschen Terminologie – einen europäischen Grund-rechtskatalog voranzustellen. Damit haben wir versucht,eine Diskussion wiederzubeleben, die es seit Jahren imEuropäischen Parlament immer wieder einmal gegebenhatte. Ich erinnere nur daran, daß das Europäische Par-lament 1984 in seinem Spinelli-Entwurf die Verabschie-dung eines Grundrechtskatalogs gefordert hatte. FünfJahre später verabschiedete das Parlament einen erstenBeschluß eines einheitlichen Grundrechtskatalogs, indem sich Menschenrechte, demokratische und sozialeGrundrechte wiederfinden.Die Geschichte und Theorie der Grundrechte zeigt,daß es sich bei dem nunmehr unwiderruflich eingeleite-ten Prozeß nicht um folgenlose Grundrechtsrhetorikhandelt. Ein Gemeinwesen, das sich ausdrücklich zumSchutz der Grundrechte verpflichtet, gewinnt eine tiefeLegitimation. Nur ein solches Gemeinwesen kann mitSolidarität und Akzeptanz rechnen. Aber vor allem ha-ben Grundrechte eine Konsensfunktion. In ihnen werdengemeinsame Wertvorstellungen zum Ausdruck gebracht.Eine dem Grundrechtsschutz ausdrücklich und sichtbarverpflichtete Europäische Union wird mehr noch als inder Vergangenheit eine Signalwirkung nach außen, aberauch nach innen hinsichtlich der weiteren IntegrationEuropas haben.Vor der erwähnten Bundestagsdebatte hatte ich imFrühjahr 1995 einen vorläufigen Diskussionsentwurfeiner Grundrechtscharta erstellt, der in der Folgezeitzum Thema von Workshops und Diskussionsveranstal-tungen wurde, auf denen ich wertvolle Kritik und vielZustimmung erhalten habe. Aber wir haben darauf ver-zichtet, einen solchen Entwurf im Bundestag einzubrin-gen und zu einer Bundestagsdrucksache zu machen, weilwir den Eindruck vermeiden wollten, daß sich die Deut-schen als Oberlehrer in Fragen der Menschen- und Bür-gerrechte aufspielen wollen. Diesen Eindruck sollten wirtunlichst vermeiden.Dr. Jürgen Rüttgers
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Ich habe keinen Zweifel daran, daß sich das einzuset-zende Gremium auch mit unserem Grundgesetz und denGrundrechtskatalogen der Verfassungen nicht zuletzt derneuen Bundesländer beschäftigen wird. Dieselbe Auf-merksamkeit werden auch die Grundrechtskodifikatio-nen anderer europäischer Mitgliedstaaten finden. So hatetwa Finnland 1995 einen umfangreichen Grundrechts-katalog verabschiedet. Ich nenne als weiteres Beispieldie Verfassung der Republik Portugal von 1992, die in68 Artikeln eine ganze Reihe eindrucksvoll formulierterGrundrechte und Grundpflichten enthält. Der Gedanke,daß es nicht nur Grundrechte, sondern auch mit ihnenkorrespondierende Grundpflichten gibt, bedarf nachmeiner Überzeugung vertiefter Erörterungen. Die prakti-sche Bedeutung erschließt sich jedem ohne weiteres, dersich zum Beispiel für die Einführung eines sozialenGrundrechts auf Arbeit einsetzt.Wir alle wissen, daß die skizzierten Forderungen imAmsterdamer Vertrag, an den wir 1995 eigentlich ge-dacht hatten, nicht realisiert wurden. Es gab lediglicheine gewisse Konkretisierung und Erweiterung des frü-heren Art. F des EU-Vertrags im heutigen Art. 6 desAmsterdamer Vertrags. Von einer Grundrechtschartakonnte noch keine Rede sein. Der Durchbruch – hier ge-bührt Bundeskanzler Gerhard Schröder ein besonderesVerdienst – gelang erst auf dem Kölner Gipfel. Dies istein bleibendes Verdienst der deutschen Präsidentschaft,das auch vom Bundestag vorbehaltlos anerkannt werdenmuß.
Wir haben dann vor wenigen Wochen durch einenBeschluß nach § 93a unserer Geschäftsordnung der Re-gierung für Tampere Aufträge erteilt, die mit der Ver-bindlichkeit nach Art. 23 unserer Verfassung ausgestat-tet waren. Was ist aus diesen Aufträgen geworden?Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auch hier ge-bührt der Bundesregierung uneingeschränktes Lob. Dashätte der Kollege Rüttgers fairerweise auch einmal zumAusdruck bringen können.
Ich gehe auf unseren Beschluß ein. Die Anzahl derMitglieder des nunmehr vorgesehenen Gremiums ent-spricht bis auf einen zusätzlichen Abgeordneten desEuropaparlaments, was wir nur begrüßen können, exaktunseren Vorstellungen. Die von uns gewünschte Beteili-gung der Beitrittskandidaten wird durch den vorgesehe-nen Gedankenaustausch zwischen dem Gremium oderdem Vorsitzenden und den Beitrittsländern sicherge-stellt. Die von uns allen geforderte Transparenz der Be-ratungen ist dadurch gewährleistet, daß die Sitzungendes Gremiums und die in diesen Sitzungen unterbreite-ten Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich sein sol-len. Außerdem ist vorgesehen, daß neben den Beobach-tern der beiden europäischen Gerichte sowie des Euro-parates auch sonstige Gremien, gesellschaftliche Grup-pen oder Sachverständige gehört werden.Am schwierigsten war aber die Durchsetzung unsererForderung, daß das Gremium selbst seinen Vorsitzendenwählen sollte. Mit unserer ergänzenden Forderung, derVorsitz solle während der Ausarbeitung der Charta ineiner Hand bleiben, hatten wir uns gegen einen wech-selnden Vorsitz der jeweiligen Präsidentschaft gewandt.Deshalb ist es nach anfänglichen Schwierigkeiten nochim vorbereitenden allgemeinen Rat äußerst erfreulich,daß sich beim Gipfel im Tampere unsere Forderungdurchgesetzt hat. Das ist von ganz zentraler Bedeutungvor allem auch wegen der außerordentlich weitreichen-den Rechte, die der Vorsitzende erhalten soll. Er sollnämlich bereits dann den Entwurf der Charta dem Euro-päischen Rat im Wege des üblichen Verfahrens zuleiten,wenn er im engen Benehmen mit seinen Stellvertreternzu der Auffassung gelangt, daß der von dem Gremiumausgearbeitete Entwurf für alle Seiten zustimmungsfähigist; ein gewiß ungewöhnliches Verfahren, das die Stel-lung des Vorsitzenden außerordentlich stark macht.Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unserenBeschluß, wonach dem Europäischen Parlament und dennationalen Gesetzgebungsorganen eine hervorragendeBedeutung bei der Ausarbeitung der Grundrechtschartazukomme – ich zitiere aus unserem Beschluß –, „weil essich hierbei um eine Aufgabe der Volksvertretungenhandelt“. Daraus folgt für mich, daß das Gremium, dasaus 46 Parlamentariern und aus 16 weiteren Mitgliedern,also zu etwa drei Vierteln aus Abgeordneten besteht,auch einen Abgeordneten zum Vorsitzenden wählensollte. Nach meiner persönlichen Meinung sollte dies einAbgeordneter des Europäischen Parlaments sein.
Bei aller Freude über das in Tampere Erreichte blei-ben selbstverständlich noch etliche Fragen offen. Ichwill einige nennen.Bei einem kürzlichen Treffen von Abgeordneten derEuropaausschüsse, der nationalen Parlamente der EUund des Europaparlaments wurde von einigen Kollegendie Auffassung vertreten, es reiche doch eigentlich aus,den insbesondere durch die Europäische Menschen-rechtskonvention erreichten Grundrechtsschutz nebstder dazu ergangenen Rechtsprechung der beiden Euro-päischen Gerichtshöfe in einem gut lesbaren Dokumentzusammenzufassen. Zwar habe der Europäische Ge-richtshof festgestellt, daß die EU mangels eigenerRechtspersönlichkeit der Europäischen Menschen-rechtskonvention nicht beitreten könne. Das verhindereaber nicht, daß man diese Konvention gewissermaßen zueinem nur leicht modifizierten EU-Vertragsdokumentmacht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kannnach meiner Auffassung nicht zweifelhaft sein, daß dieKonvention eine wichtige Grundlage der zu erarbeiten-den Charta sein wird, aber sie reicht keineswegs aus.Erstens ist der Grundrechtsschutz der EuropäischenMenschenrechtskonvention lückenhaft. Sie garantiertbeispielsweise nicht die Unantastbarkeit der Menschen-würde oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder diefür eine Kulturgemeinschaft nach meiner Auffassungkonstitutive Kunst- und Forschungsfreiheit oder dasRecht auf Schutz vor politischer Verfolgung oder garDr. Jürgen Meyer
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Grundrechte der sogenannten dritten Generation wie et-wa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.Zweitens. Die Europäische Union kann durch diemehr oder weniger unveränderte Annahme einer Kon-vention des Europarates von 1950 kaum eine un-verwechselbare und eigenständige Legitimation gewin-nen.Drittens. Es geht in der Charta selbstverständlichnicht nur um Menschenrechte, sondern auch um Bürger-rechte der Bürgerinnen und Bürger der EuropäischenUnion. Als Beispiel nenne ich nur das aktive und passi-ve Wahlrecht oder die Freizügigkeit.Eine weitere noch klärungsbedürftige Frage betrifftdie Verbindlichkeit der in der Charta niedergelegtenGrundrechte. Ohne die Öffnung eines Rechtsweges zumEuropäischen Gerichtshof in Luxemburg würde dasganze Unternehmen zunächst Hoffnungen wecken undam Ende in tiefer Enttäuschung enden. Der historischeBeleg dafür ist die Geschichte der Grundrechte derWeimarer Reichsverfassung, die bekanntlich nicht indiesem Sinne einklagbar waren.Zur Verbindlichkeit der Charta gehört selbstver-ständlich auch, daß es nicht eine bloße Resolution wird.Die Charta sollte deshalb zum ersten Teil des EU-Vertrages gemacht werden. Die praktische Folge wäre,daß die europäischen Verträge, wie wir es nennen, ver-fassungskonform, also chartakonform ausgelegt werdenmüssen.In diesem Zusammenhang muß auch die Reichweiteder Grundrechtscharta reflektiert werden. Neben derbereits erwähnten Funktion als Auslegungsinstrumentder europäischen Verträge stellt sich nämlich die Frage,wer in erster Linie durch die Charta als deren Adressatverpflichtet werden soll. Es wird nach meiner Auffas-sung wahrscheinlich hilfreich sein, klarzustellen, daßdies die europäischen Institutionen sind. Mit der Forde-rung, die Bürokratie in Brüssel besser als bisher zu kon-trollieren, findet man jedenfalls auch bei denen, die demUnternehmen Grundrechtscharta skeptisch gegenüber-stehen, nachhaltige Zustimmung.Wer Transparenz fordert, der muß sich auch selbstbemühen, sie herzustellen. Diese Aufforderung richtetsich nicht nur an das einzurichtende Gremium; vielmehrist es auch Sache der Parteien, der Gewerkschaften, derKirchen und der gesellschaftlichen Institutionen, einenöffentlichen Diskussionsprozeß anzustoßen und zu füh-ren. Im Bundestag sollten wir eine überfraktionelle Ge-sprächsrunde einrichten, die allen daran interessiertenAbgeordneten Gelegenheit gibt, ihre Beiträge einzubrin-gen.Nach einem derartigen öffentlichen Diskussions-prozeß könnte es durchaus sinnvoll sein, ein EU-wei-tes Referendum über die Grundrechtscharta durchzufüh-ren.
Damit könnten alle Bürgerinnen und Bürger der Euro-päischen Union zum Ausdruck bringen: Wir sind nichtnur eine Wirtschaftsgemeinschaft; vielmehr sind wir alleBürgerinnen und Bürger einer europäischen Wertege-meinschaft.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem
Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrterHerr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der polnische Präsident hat nach dem Umzug des Par-laments von Bonn nach Berlin in einer Rede in dieserStadt darauf hingewiesen, daß europäische Fortschritteimmer davon abhängig waren, daß in der deutschen In-nenpolitik Geschlossenheit herrschte und daß großeProjekte gemeinsam unterstützt wurden. Er warnte vorder großen Gefahr, Europa falle international zurück,wenn aus Deutschland nicht weiterhin starke Integrati-onsimpulse kämen.Das letzte große Projekt, die Vollendung der Wäh-rungsunion – ein Glanzstück der früheren Regierung ausUnion und F.D.P. –, wurde trotz massiver Warnungenvon Herrn Schröder, Herrn Biedenkopf und Herrn Stoi-ber pünktlich verabschiedet. Am Ende dieses Jahreskann man sagen: Der Euro ist nach innen stabil; er istnach außen auf dem Weg zu einer zweiten Weltwährungneben dem Dollar, und – darin folge ich Herrn Fischer –der Euro als Währungsunion bedarf der Vertiefung undder politischen Integration. Professor Issing, der Chef-volkswirt der Europäischen Zentralbank, und auch dasBundesverfassungsgericht haben immer darauf hinge-wiesen: Ohne weitere Vertiefung, ohne weitere Fort-schritte der politischen Union ist eine Währungsunionauf Dauer nicht legitimiert.
Der Sondergipfel in Tampere war eine Chance zurweiteren Vertiefung, zur Stärkung des dritten Pfeilers.Aber diese muß, unabhängig von Prüfaufträgen, Auffor-derungen und Absichtserklärungen, mit der gleichenDurchschlagskraft vorangetrieben werden wie damalsdie Vollendung des Binnenmarktes und die Währungs-union.
Das Ergebnis ist offen. Meine Kollegin, Frau Leutheus-ser-Schnarrenberger, wird darauf eingehen.Wie steht es sonst um wichtige deutsche Europapro-jekte? Wir erinnern uns an eine sehr gute Rede von Ih-nen, Herr Fischer, im Mai 1999 vor dem Europaparla-ment: Vision von Paneuropa, schnelle Osterweiterung,schnelle Vertiefung, politische Verfassung, politischeUnion als Ziel. Heute hat die Europapolitik der neuenDr. Jürgen Meyer
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Regierung wenig Ergebnisse, wenig Substantielles vor-zuweisen.
Das deutsch-französische Verhältnis ist gestört, auchwenn es immer wieder Treffen von Intellektuellen undKünstlern gibt. Die Hinwendung von Herrn Schröder zuHerrn Blair hat weder uns in Deutschland innere Refor-men noch hat sie England dem Euro-System näher ge-bracht. Sie hat im Grunde nur Mißtrauen in Frankreichgesät, Herr Fischer.
Dies ist auf Dauer für die weitere Integration von gro-ßem Nachteil. Derzeit gibt es kein großes gemeinsamesdeutsch-französisches Projekt, was wir sonst immerhatten. Zuletzt war dies die Währungsunion.
Die Liste der Konflikte wird immer größer. Das beginntin der Agrarpolitik und bei den Verhandlungen in derWTO.
Die Franzosen haben zum ersten Mal nicht unterstützt,daß die deutsche Sprache Verhandlungssprache ist. –Der Rüstungskonzern – im Fernsehen haben wir es er-lebt – war von der Industrie vorbereitet. Herr Schröderund Herr Jospin waren die Notare von wirtschaftlichenVeränderungen in Europa, aber dies war nicht politischvorangetrieben. – In Zukunft wird vom deutsch-französischen Verhältnis gerade auch aus Polen sehr vielmehr erwartet werden.Das andere wichtige Projekt ist die Osterweiterung.Sie hat strategische Bedeutung. Leider ist es unter derdeutschen Präsidentschaft nicht gelungen, entscheidendeVerhandlungserfolge zu erzielen. Das gilt auch für dieFrage des Datums, Herr Fischer, ich habe es immer ge-sagt. Sie nähern sich jetzt der Datumfrage langsam an,aber das Ziel, am 1. Januar 2002 erweiterungsfähig zusein, haben Sie noch nicht erreicht. Das Problem ist, daßder Widerstand in den Reformländern zunimmt. Schau-en Sie sich nur einmal die innenpolitische Situation inPolen an! Ohne Datum wird auch in Deutschland derWiderstand gegen die Osterweiterung zunehmen. DasMenetekel der PDS, die Erfolge von Herrn Haider undvon Herrn Blocher zeigen europaweit, daß wichtige eu-ropäische Integrationsprojekte wie der Euro oder wie derBinnenmarkt mit der Unterstützung der Eliten zu einembestimmten Datum schnell vollendet werden müssen,wenn der Widerstand nicht zunehmen soll. Es wird einegroße Aufgabe der Eliten in Deutschland sein – nichtnur der Politiker, sondern auch der Wissenschaftler, vorallem auch der Industrie –, für die Osterweiterung zuwerben und deutlich zu machen, daß sie im besten stra-tegischen Interesse Deutschlands ist,
daß die Angst vor dem Wettbewerb eben nicht gerecht-fertigt ist, daß die Agrarreform durchgeführt werdenmuß, und zwar nicht wegen Polen, sondern damit dieWesteuropäer in sich wieder handlungsfähiger werdenund mehr Geld für Forschung und Innovation ausgebenkönnen. Darin sehe ich auch eine große Aufgabe allerdemokratischen Parteien. Die Bevölkerung muß daraufvorbereitet werden, daß die Osterweiterung europapoli-tisch geboten und wirtschaftlich sinnvoll ist und daß sieden Menschen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Eu-ropa Sicherheit gibt.
Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren. DasVerhältnis zur Türkei. Herr Fischer, Sie können nichteinerseits den Beitrittsstatus ankündigen und anderer-seits keine Verhandlungen aufnehmen. In der Türkeiwird natürlich registriert, daß jetzt gleichzeitig mit Län-dern wie Bulgarien und Rumänien konkret verhandeltwird, während die Verhandlungen mit der Türkei über-haupt nicht beginnen. Meine Damen und Herren, entwe-der hat man Vertrauen in die innere Entwicklung derTürkei, dann muß man auch zu einer militärischen Zu-sammenarbeit im Rahmen der NATO bereit sein, oderaber man muß generell ehrlicher gegenüber der Türkeisein, sonst führt das Ganze zum jetzigen Zeitpunkt zuweiteren Enttäuschungen.
Ich schließe, indem ich sage: Die Osterweiterung unddie Vollendung der politischen Union bleiben Zielemeiner Fraktion. Je mehr Sie hier erreichen, um so grö-ßer wird unsere Unterstützung sein.Vielen Dank.
Das Wort hat nun dieKollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Rüttgers, ich muß zuallererst auf IhreÄußerungen zur Türkeipolitik des Außenministers rea-gieren. Diese Äußerungen waren wirklich schwer zu er-tragen, lieber Herr Rüttgers; denn in der Vergangenheitwar doch gerade Ihre Türkeipolitik doppelbödig undheuchlerisch. Von Menschenrechten war immer nurdann die Rede, wenn es politisch opportun war. Gleich-zeitig haben die Rüstungsgeschäfte floriert. Es wurdender Türkei ja sogar die alten NVA-Gerätschaften in ei-nem großen Akt der Freundschaft geschenkt, weil dasbilliger war, als diese NVA-Geräte hier zu verschrotten.Das ist heuchlerisch, Herr Rüttgers.
Dr. Helmut Hausmann
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5580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Über 30 Jahre lang wurde der Türkei keine glaub-würdige Beitrittsperspektive eröffnet.
In Luxemburg wurde ihr die rote Karte gezeigt.
– Hören Sie einmal zu! –
Es wurde gerade in Ihren Kreisen, Herr Rüttgers, lautdarüber spekuliert – ich finde das gar nicht so amüsant –,ob ein Land, dessen Bevölkerung in der Mehrheit mos-lemisch ist, überhaupt Platz in der Europäischen Unionhat, ob also die Europäische Union der Hort des christli-chen Abendlandes ist.Ich glaube, die Europäische Union basiert nicht aufder Religion, sie basiert auf Laizismus, auf Demokratie,auf Menschenrechten und auf Rechtsstaatlichkeit. IhrePolitik war heuchlerisch, deswegen Vorsicht mit solchenBemerkungen.
Es geht also darum, verspielten Einfluß zurückzuge-winnen, um in der Türkei wieder eine Dynamik der Ver-änderung hin zu Demokratie und Menschenrechten zuschaffen. Genau das soll der Kandidatenstatus verdeutli-chen. Es geht darum, daß Einfluß zurückgewonnen wird,daß dieser Status Impulse in der Türkei für den Demo-kratisierungsprozeß gibt. Der Kandidatenstatus ist nichtder Beitritt. Der Kandidatenstatus ist keinesfalls derStempel, mit dem die Türkei zur Demokratie erklärtwird. Deswegen besteht kein Widerspruch zu einerrestriktiven Rüstungsexportpolitik. Das war meineAnmerkung, Herr Rüttgers. Ich kann es Ihnen, wennSie einmal nicht telefonieren, auch persönlich erklä-ren.
Als Europaabgeordnete konnte ich viele Jahre langleidvoll erfahren, wie weit Europa von den Menschenweg ist. Spätestens bei den Europawahlen hat sich meinEindruck bestätigt, daß Europa in ziemlich schlechterVerfassung ist. Die Wahlbeteiligung war auf einem histo-rischen Tiefpunkt angekommen. Dabei sind die Europäe-rinnen und Europäer keineswegs demokratiemüde, wie sooft beklagt wird. Ich glaube, das Problem liegt woanders:Die Demokratie in Europa wurde bislang noch gar nichtrichtig geweckt. Die europäische Demokratie schläft, undwenn sie alle fünf Jahre einmal an einem Sonntag auf-wacht, kann man nicht erwarten, daß alle Leute parat ste-hen, um sie jubelnd zu begrüßen.Die Zukunft dieses Europas basiert eben nicht aufdem Wechselkurs des Euro, sondern darauf, daß dieBürgerinnen und Bürger beim Zusammenwachsen Eu-ropas ihre Ideen und ihre Kreativität überhaupt einbrin-gen können. Dafür braucht die Europäische Union schonsehr lange eine regelrechte Demokratieoffensive. Siebraucht ein bürgerrechtliches Fundament, und siebraucht einen verfassungsgebenden Prozeß, der identi-tätsstiftend wirken kann.Die Erweiterung und Vertiefung der EuropäischenUnion sind eben nicht nur eine Frage der Quantität derteilnehmenden Länder, sondern sie sind auch eine Frageder Qualität – der Qualität dessen, was man an Wertenpostuliert und was man den Bürgerinnen und Bürgern anRechten garantiert. Das wird dann dazu beitragen, daßdie Menschen wieder wissen, warum sie dieses Europaüberhaupt wollen sollen.Wann ist ein Gipfel erfolgreich? Ich messe den Erfolgvon Tampere nicht nur daran, ob man in feierlichen Er-klärungen und Reden bzw. in den Präambeln vonSchlußfolgerungen der Verwirklichung des Europas derBürgerinnen und Bürger tatsächlich näherkommt, son-dern auch daran, ob er ganz konkrete Schritte hin zumEuropa der Bürgerinnen und Bürger macht.In Tampere ging es, wie es die Vorredner schon an-gesprochen haben, um die Schaffung eines Raums derFreiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem „dieGrundsätze der Transparenz und der demokratischenKontrolle tragende Elemente sein sollen“ und in dem„ein offener Dialog mit der Bürgergesellschaft über dieZiele und Grundsätze dieses Raums entwickelt werdenmuß, um eine bessere Akzeptanz und mehr Unterstüt-zung seitens der Bürger zu erreichen“. – Die Herausfor-derungen und die Anforderungen sind richtig beschrie-ben. Denn Partizipation, demokratische Teilhabe undDemokratie sind in Europa keine Vision, sondern eineÜberlebensfrage.Der Weg dorthin ist noch sehr weit. Ich glaube, aufGrund wichtiger Entscheidungen in Richtung Demokra-tisierung kann Tampere wirklich Erfolge vermelden. DieGrundrechtscharta zum Beispiel bedeutet ein gemein-sames Bewußtsein von Rechten. Professor Meyer hatsich bei Bundeskanzler Schröder bedankt; lassen Siemich nachdrücklich die Initiative von Joschka Fischer inKöln erwähnen – wir danken also beiden –, die dazubeigetragen hat, daß es zu einem Ja zur Erarbeitungeiner solchen Charta gekommen ist und daß nun inTampere sehr konkrete Strukturen beschlossen wordensind, der Startschuß also gemacht worden ist.Ich habe fünf Wünsche, die bei der konkreten Ausar-beitung dieser Charta verwirklicht werden sollten. Er-stens. Sie muß glasklar, verständlich und einklagbarsein. Sie sollte allen EU-Vertragswerken vorangestelltwerden, und sie sollte die Europäische Menschenrechts-konvention zur Basis haben.Zweitens. Für die Demokratisierung der EU ist es un-erläßlich, daß dem EuGH auch in den eingriffsintensi-ven Bereichen der polizeilichen Kooperation und imAusländer- und Flüchtlingsrecht uneingeschränkt Kon-trollrechte eingeräumt werden. Ich finde es sehr überle-genswert, den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof inden Instanzenweg des Grundrechtsschutzes der EU mitClaudia Roth
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einzubinden, wie es Professor Simitis jüngst vorgeschla-gen hat.Drittens. Die Grundrechte müssen für alle Menschenin der Europäischen Union gelten. Es darf keine Hierar-chisierung in Menschen erster, zweiter und dritter Klas-se geben. Alle Menschen in der Europäischen Unionmüssen gleich sein. Die Unionsbürger sind nicht glei-cher.
Viertens. Die Grundrechtscharta darf den gesell-schaftlichen Entwicklungen nicht hinterherhinken. Siedarf nicht als geschlossenes, statisches Projekt begriffenwerden. Grund- und Menschenrechte sind weiterzuent-wickeln, zum Beispiel in den Bereichen der ökologi-schen Rechte oder der neuen Technologien, wo es keinehinreichenden Schutzinstrumente gibt.Fünftens. Alte Fehler dürfen nicht wiederholt werden:Die Ausarbeitung einer solchen Charta kann nicht nurSache von Regierungsvertretern, Abgeordneten undVerfassungsrichtern sein. Sie muß vielmehr von einerbreiten europäischen Öffentlichkeit geschrieben werden.Sie muß Ergebnis eines großen Diskussions- und – imbesten Sinne des Wortes – Aneignungsprozesses sein.Vorgesehen ist leider lediglich, daß das Erarbeitungs-gremium gesellschaftliche Gruppen oder Sachverständi-ge anhören kann. Die mit diesem Thema befaßten Aus-schüsse im Bundestag waren in ihren Empfehlungenweitergegangen.Lassen Sie mich kurz einige Punkte zur europäischenFlüchtlingspolitik nach Tampere erwähnen. Ende letz-ten Jahres hat der Europäische Rat die sogenannte„Hochrangige Gruppe Asyl und Migration“ eingesetzt,die jetzt Ergebnisse in Form von Aktionsplänen präsen-tiert hat. Der Aktionsplan Irak wurde unter Federfüh-rung des deutschen Auswärtigen Amtes erarbeitet. Erergänzt den letztjährigen Aktionsplan der EU durch be-grüßenswerte Eckpunkte für eine humane Flüchtlings-und Migrationspolitik dadurch, daß Menschenrechte inden Herkunftsländern ebenso gestärkt werden sollen wieDemokratie und Rechtsstaatlichkeit. Konfliktpräventionund Versöhnungsarbeit sollen unterstützt, und die so-ziale und wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder sollgefördert werden. Darin wird eine Politik beschrieben,die an den Fluchtursachen ansetzt, die die Fluchtursa-chen bekämpfen will und die sich auf das individuelleGrundrecht auf Asyl und auf das Prinzip der Schutzge-währung zurückbesinnt.Ich möchte zum Schluß herzlich darum bitten, daßwir uns nicht in ein paar Stunden zurückzulehnen undsagen: Der Gipfel ist vorbei. Wir haben eine gute Euro-padebatte geführt. Zurück zur eigentlichen Politik! Gutist eine Europadebatte nämlich nur dann, wenn wir esschaffen, das auf nationaler Ebene umzusetzen, was wirvon Europa verlangen: eine Renaissance, eine Neuwer-tigkeit der Grundrechte. Europa fängt zu Hause an. Wernämlich von den Rechten aus dem Grundgesetz nichtbegeistert ist, wird sich auch für Grundrechte in Europanicht begeistern lassen.In diesen Zeiten wird häufig von Modernität gespro-chen. Diese Grundrechte sind das Allermodernste, waswir haben. Ohne sie ist Europa nicht zukunftsfähig.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Liebe Kollegin Roth, natürlich teile ich IhreKritik an den Scharfmacherthesen, die Herr Rüttgersheute morgen vorgetragen hat. Sie sind aber gleichzeitigin einem Spagat dem Außenminister zur Seite gesprun-gen, obwohl gerade die grüne Partei bezüglich der erstenLieferung von Leopard-Panzern – nicht zu vergessen diedeutsche Hilfe bei der Herstellung von chemischen Waf-fen – an die Türkei eingeknickt ist. Das ist kein Ruh-mesblatt für diese rotgrüne Bundesregierung.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage zum Einsatzchemischer Waffen in der Türkei ist nachzulesen, woHerr Fischer gelogen hat. Er hat gesagt, daß er von derdeutschen Beteiligung nichts wußte. All das konnte mangestern abend an Hand der Recherchen von „Kennzei-chen D“ verfolgen.Manchmal muß man sich fragen, über welche Konfe-renz wir hier eigentlich diskutieren. Die Konferenz hattesich die Aufgabe gestellt, einen einheitlichen Raum derFreiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäi-schen Union in Angriff zu nehmen. Was hat der Gipfeltatsächlich gebracht?Ich beginne mit dem Beschluß zur Grundrechte-charta. Eine solche Grundrechtecharta ist meines Er-achtens längst überfällig. Deshalb ist es wichtig, daß sieerneut beschlossen wurde. Ich möchte einmal aus der„Süddeutschen Zeitung“ zitieren. Dort hieß es:Solange die EU so konstruiert ist, dass sie, wenn sieBeitrittskandidat wäre, mangels demokratischerVerfasstheit abgelehnt werden müsste, kann manihr guten Gewissens Straf- und Eingriffsrechtenicht geben.Ich komme noch einmal zur Grundrechtecharta, weilich meine, daß es wichtig wäre, eine breite öffentlicheBeteiligung und Mitwirkung gesellschaftlicher Organi-sationen an der Erarbeitung dieser Charta zu erreichen.Wir wollen verhindern, daß am Ende eine feierliche De-klaration herauskommt, wie es beispielsweise noch aufdem Gipfel in Köln geheißen hat. Die EU-Charta derGrundrechte muß vielmehr für alle in der EU lebendenMenschen soziale und politische Grundrechte verbind-lich und einklagbar festschreiben. Sie muß also Be-standteil der EU-Verträge werden. So weit, so gut.Der Schwerpunkt auf dem Gipfel in Tampere war je-doch ein anderer. Im Vordergrund stand die Migra-tions- und Flüchtlingspolitik. Hier dominierte eine re-Claudia Roth
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pressive Politik, nämlich der Ausbau des Repressions-apparates und letztendlich die Verfolgung von Flücht-lingen. In Tampere war es Aufgabe, eine Harmonisie-rung der Flüchtlings- und Migrationspolitik in der EU,wie sie im Amsterdamer Vertrag festgeschrieben ist, inAngriff zu nehmen. Für uns heißt das: Verbesserung derwirtschaftlichen und rechtlichen Situation der Flüchtlin-ge in Europa sowie offene Grenzen für Menschen inNot. Das bedeutet ganz konkret: keine Abschiebungshaftfür Flüchtlinge, Aufhebung des Arbeitsverbots fürFlüchtlinge, Verbesserung der Situation von Kindernund jugendlichen Flüchtlingen, Anerkennung frauenspe-zifischer Fluchtgründe, Anerkennung nichtstaatlicherVerfolgung als Fluchtgrund – also entsprechende Ände-rung des § 51 des Ausländergesetzes.Wie groß der deutsche Handlungsbedarf gerade hierist, zeigt auch die Kritik anderer Länder an der Bundes-republik Deutschland. Die Zeitschrift „Neue JuristischeWochenschrift“ berichtet zum Beispiel, daß das höchstebritische Berufungsgericht am 23. Juli dieses Jahres dieBundesrepublik für Flüchtlinge, die vor nichtstaatlicherVerfolgung fliehen, als kein sicheres Drittland eingestufthat. Wir hoffen, daß die Revision dieses Urteil bestätigt,damit sich die deutsche Bundesregierung endlich Ge-danken über diese Kritik macht.Hat nun Tampere auf irgendeinem Gebiet eine Ver-besserung für Flüchtlinge gebracht? Sicher, denn inTampere wurde beschlossen, die Genfer Flüchtlings-konvention uneingeschränkt und allumfassend anzu-wenden. Man höre und staune! Eine Haltung, dieeigentlich seit Jahren selbstverständlich sein sollte, wirdin Tampere noch einmal durch einen Beschluß bekräf-tigt. Ich habe Ihnen aber schon gestern im Innenaus-schuß gesagt, daß das nicht alles gewesen sein darf.Auf dem praktischen Gebiet der Flüchtlingspolitiksollen nach Tampere nun die Arbeiten an einem Systemder Identifizierung – wir haben es heute schon gehört,Herr Rüttgers – fortgesetzt werden. Dadurch werden ei-nige weitere Verschärfungen vorgenommen. Die Finger-abdrücke der Asylbewerber sollen nämlich jetzt auchüber Europol mit der Datenbank Eurodac erfaßt werden.In Deutschland werden Deutsche dieser erkennungs-dienstlichen Behandlung eigentlich nur dann unterzo-gen, wenn sie für Verbrecher gehalten werden. Dasschürt nach unserer Meinung Rassismus und Fremden-feindlichkeit. Wir lehnen die Anwendung dieser Metho-den im Umgang mit Flüchtlingen entschieden ab.
Ich frage Sie: Warum schaffen Sie eigentlich keineEU-weite Datei gegen Konkursbetrüger, Steuerflücht-linge und Börsenschinder? Nein, solche Systeme – ichwiederhole es – gibt es nur für den Umgang mit Flücht-lingen. Nichts dokumentiert deutlicher, daß Tampere fürdie Flüchtlingspolitik keine Besserung gebracht hat,sondern statt dessen das Konzept der Abschottung derFestung Europa leider weiter Bestand hat. Auch dieweiteren in Tampere beschlossenen Maßnahmen zurFlüchtlingspolitik sind in erster Linie repressiv ausgelegtund dienen der Stärkung der Abschottungspolitik. Ichnenne die stärkere Kontrolle der Außengrenzen durchausgebildete Fachkräfte und den Auftrag an die Kom-mission, Rücknahmeübereinkommen mit Drittländernauszuhandeln, um Flüchtlinge schneller abschieben zukönnen.Bundeskanzler Gerhard Schröder hat im Zusammen-hang mit Tampere erklärt, daß das deutsche Asylrechtbesonders großzügig sei. Ich möchte Sie daran erinnern:Allein in diesem Jahr sind 38 Menschen an der Ostgren-ze zu Tode gekommen. Sie ertranken in der Oder, erfro-ren im Gebirge oder verunglückten irgendwo in Wäldernoder auf Straßen. Wie kann man da von einem großzü-gigen Asylrecht sprechen?
Wie die Situation bei von nichtstaatlicher VerfolgungBetroffenen aussieht, ist in diesen Tagen wieder in Thü-ringen deutlich geworden. Ich möchte Ihnen dazu einBeispiel bringen: Eine in Lettland lebende Frau, die sichum KZ-Überlebende kümmerte, selbst als Kind in einemdeutschen Konzentrationslager überlebte, deren Vatervon den Nazis in Bergen-Belsen ermordet wurde, warnach Deutschland geflohen, weil sie in Lettland vonNeonazis verfolgt wurde. Ihr Asylantrag wurde abge-lehnt, weil keine staatliche Verfolgung erkennbar sei.Diese 57 Jahre alte Frau wäre nächsten Montag gewalt-sam von der Polizei abgeschoben worden, wenn sienicht aus panischer Angst ihre freiwillige Ausreise be-kanntgegeben hätte.Auch in bezug auf die Migrationspolitik sind die Er-gebnisse unbefriedigend. Immerhin wurde in Tamperebeschlossen, die Rechtsstellung von Drittstaatangehöri-gen an die von EU-Bürgerinnen und -Bürgern anzuglei-chen. 30 Jahre und länger leben diese Menschen zumTeil in Europa. Trotzdem hat man sie noch nicht gleich-berechtigt integriert. Wir werden weiterhin dafür kämp-fen, daß diese Menschen wirklich die gleichen Rechteund nicht, wie es heißt, annäherungsweise diese Rechteerhalten. Trotzdem reicht auch hier das Beschlossene beiweitem nicht aus. Wir werden noch viel Arbeit vor unshaben.Daß in der Innen- und Rechtspolitik der EU die re-pressive Seite dominiert, zeigen auch die Beschlüsse zuEuropol. Wie es zu befürchten war, wird Europol weiterausgebaut. Die Behörde soll künftig auch bei Verdachtauf Geldwäsche tätig werden. Bei verschiedenen Straf-vorwürfen sollen gemeinsame Ermittlungsteams unterEinschluß von Europol-Beamten gebildet werden. Sogareine Task-Force der europäischen Polizeichefs soll esgeben. Nebenbei frage ich mich, wer eigentlich derdeutsche Polizeichef ist. Dabei gibt es bis heute keineRechtsschutzlinie für das Schengener Durchführungsab-kommen von 1990. Die EU-Datenschutzrichtlinie von1995 ist noch nicht in das deutsche Recht umgesetztworden.Die Beratung all dieser Punkte wäre auf dem Gipfelvon Tampere eigentlich wichtig gewesen. Wie soll sichkünftig eine EU-Bürgerin oder ein EU-Bürger zur Wehrsetzen, wenn ihre oder seine Daten unberechtigt in denSpeicher von Europol geraten sind? Wo bleibt die par-lamentarische Kontrolle, die gerade die Parteien der jet-zigen Regierungskoalition gemeinsam mit uns und mitUlla Jelpke
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Teilen der F.D.P. in der vergangenen Legislaturperiodeimmer wieder eingefordert haben? Über all diese Punktegab es keine Beschlüsse auf dem Gipfel von Tampere.Wir hoffen, daß die nächsten Konferenzen diese Punkteauf die Tagesordnung setzen.Ich fasse zusammen. Wer sich von Tampere einenFortschritt für die Bürger- und Menschenrechte erhoffthatte, der ist im großen und ganzen enttäuscht worden.Das Demokratiedefizit der EU dauert an. Die Situationvon Flüchtlingen wurde nicht verbessert, sondern ver-schlechtert. Die Abschottungspolitik der EU gegenMenschen, die aus sozialer und politischer Not zu unsfliehen, wurde fortgesetzt. Dieses Ergebnis können undwerden wir nicht akzeptieren. Deswegen haben wir ei-nen Entschließungsantrag vorgelegt, dem Sie hoffentlichzustimmen werden.Danke.
Ich erteile nun derBundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DerGipfel von Tampere war ganz unbestreitbar ein Erfolg:ein Erfolg für Europa und auch für die deutsche Regie-rungspolitik, aber vor allem ein Erfolg für das Europader Bürgerinnen und Bürger und für das Europa desRechts, das wir wollen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich binganz sicher, Sie wären froh, Sie hätten in den vergange-nen 16 Jahren die Ergebnisse der Gipfel von Köln undTampere erzielen können.
Lassen Sie mich gleich eine Bemerkung zu dem ma-chen, was Sie Herr Kollege Rüttgers, gesagt haben. Voninnenpolitisch, nur mit Blick auf das Tagesgeschäftagierenden Politikern kann Europa zwar keinen Dank,aber doch etwas mehr Ernsthaftigkeit erwarten.
Ich bin der Auffassung, daß man peinliche Wortverdre-hungen, mit denen man die Türkei vom Beitrittskandi-daten zum „Beitragskandidaten“ abstempelt, möglichstunterlassen sollte. Man sollte auch nicht – ich zitiere denKollegen Rüttgers nochmals – den „Verlust von Größe“bejammern. Ich war immer der Meinung, daß im Bun-destag parteiübergreifender Konsens darin besteht, daßsich unser Land durch Kooperation und durch guteNachbarschaft in Europa auszeichnen soll.Man sollte auch nicht in dem flapsigen Stil einesJahrmarktredners über Europa sprechen. Wer so mit Eu-ropa und mit den Ergebnissen des Gipfels, den die finni-sche Präsidentschaft ausgerichtet hat, umgeht, der zeigt,daß es ihm nicht um Europa geht. Der praktiziert doch,was der Kollege Rüttgers dann kritisiert, nämlich „teu-tonische Arroganz“, und genau die führt zu Einsamkeitin Europa, Kollege Rüttgers, die wir uns auf keinen Fallleisten können und auch gar nicht leisten wollen, wennes uns mit Europa ernst ist.
Der Gipfel von Tampere – ich sagte es schon – warfür Europa und für die deutsche Politik ein Erfolg, vorallem aber war er ein Erfolg für das Recht und dasRechtsdenken in Europa. Der deutliche Fortschritt indem Bereich der Innen- und Rechtspolitik wird durchden Beschluß des Gipfels von Köln zur Grundrechts-charta, durch die Neuregelung der Voraussetzungen fürdie Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rechts- und In-nenpolitik, die mit dem Amsterdamer Vertrag in Kraftgetreten ist, und durch den Wiener Aktionsplan mar-kiert.Das ist aber nicht alles. Wir haben auch einen Fort-schritt bezüglich der Schaffung eines einheitlichenRechtsraums in Europa erzielt. Wir haben damit eineneue Stufe auf dem Weg zu einem Europa erreicht, dasnicht alleine durch einen gemeinsamen Wirtschaftsraumund eine gemeinsame Währung gekennzeichnet ist, son-dern auch durch eine demokratische und soziale Rechts-ordnung, die wir alle wollen.Gerade deshalb ist das so wichtig, worüber Außenmi-nister Fischer geredet hat und was auch der KollegeMeyer bereits angesprochen hat, nämlich die Entschei-dung, eine Grundrechtecharta nicht nur zu erstellen,sondern sie im Jahre 2000 feierlich zu deklarieren, dasheißt in Kraft zu setzen. Ich füge hinzu: Selbstverständ-lich entspricht es der deutschen Politik und insbesonderedem, was diese Bundesregierung und die Mehrheitdieses Hauses wollen, daß diese Grundrechtecharta alserster Teil den europäischen Verträgen vorangestelltwird.
Das, meine Damen und Herren, bedeutet nämlichdreierlei: Das macht deutlich, daß nicht nur bei uns inDeutschland, gebunden an unsere Verfassung und anunsere Rechtsordnung, sondern eben auch in Europa derMensch im Mittelpunkt steht. Das stärkt zum zweitendas Grundrechtedenken und damit auch die Grund-rechtsbindung in Europa. Darüber hinaus schafft das– das ist gerade jetzt ein ganz wichtiger Punkt – mehrBürgerbewußtsein und damit mehr europäische Identität.Meine Damen und Herren, die Fortschritte im Justiz-bereich, – ich würde den Kollegen Rüttgers gerne bitten,sich etwas mehr mit diesen Fragen zu befassen – sindganz praktisch.
Ulla Jelpke
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– Sie haben es gerade nötig! – Natürlich ist es so, HerrKollege Rüttgers, daß dies alles umgesetzt werden muß.Daß ausgerechnet Sie das kritisieren, habe ich allerdingsnicht verstanden. Wenn Sie hier um der billigen Effektewillen Verben vorlesen, dann haben Sie wahrscheinlichnoch gar nicht erkannt, daß gerade im Bereich der In-nen- und Rechtspolitik Ihre Regierung alles dafür getanhat, jede einzelne nationale Kompetenz so sorgfältig ge-hütet hat, wie ihren Augapfel. Das heißt, die Tendenz,nationale Vorbehalte zu betonen und sie beizubehalten,war ein Kennzeichen Ihrer Politik.
Ich habe das übrigens zum Teil verstanden, weil ichder Meinung bin, daß alles, was im Bereich der Innen-und Rechtspolitik vergemeinschaftet werden soll, undauch die Harmonisierung die strenge Bindung berück-sichtigen muß, die wir aus unserem Rechtsstaatsprinzipund aus der Grundrechtebindung abzuleiten gewohntsind.Aber jetzt, wo es zum erstenmal wirklich gelungenist, nicht nur das Ziel des gemeinsamen europäischenRechtsraums zu beschreiben, sondern auch Schritte zuformulieren, zu kritisieren, das sei alles nur „könnte,wollte und sollte“, und das müsse alles noch umgesetztwerden, zeugt nicht direkt davon, daß Sie es ernst mei-nen mit der Aufgabe, die wir auf dem Weg zu einemeinheitlichen Europa des Rechts noch vor uns haben.
Wir werden diesen Weg gehen. Wir verlassen unsdarauf, daß diejenigen Teile der Opposition, die es ernstmit Europa meinen und die es auch ernst meinen mit ei-ner demokratischen und sozialstaatlichen Rechtsord-nung, uns darin unterstützen.Tampere hat aber auch ganz praktische Fortschrittefür die Bürgerinnen und Bürger gebracht. Ich will, damites überhaupt keinen Zweifel daran gibt, fünf aufzählen.Das fängt damit an, daß die Europäische Kommissionverpflichtet wurde, bessere Informationen über die Justizder jeweiligen Mitgliedstaaten zu erstellen. Man fragtsich wirklich, warum das nicht schon längst passiert ist.Natürlich bedeutet das, daß sich jedes einzelne Landdaran beteiligen muß – jawohl, das ist so – und daß dasalles dann in eine Form gebracht werden muß, die Bür-gerinnen und Bürger einen Nutzen bringt, zum Beispieldann, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat in Ver-kehrsunfälle verwickelt werden, wenn es Familienstrei-tigkeiten über die Grenzen hinweg gibt, wenn sie in ei-nem anderen Mitgliedstaat irgend etwas kaufen und esentweder dort oder dann, wenn sie aus den Ferien zu-rück sind, kaputtgeht, aber natürlich auch dann – auchdas kommt ja vor –, wenn sie in einem anderen StaatOpfer von Straftaten werden. Dann stellen sich die Fra-gen: An wen kann ich mich wenden? Wo bekomme ichHilfe? Wie ist das Justizsystem in den anderen Ländernaufgebaut? Wer hilft mir bei der Durchsetzung meinerberechtigten Ansprüche? Darum geht es bei dem, was inTampere beschlossen worden ist. Und genau hier habenwir eine Menge erreicht. Es steht noch eine Menge voruns. Aber wir kommen auf diesem Weg weiter.Weitere – das ist der zweite Punkt – wichtige prakti-sche Auswirkungen sind beschlossen worden. Es gehtnicht nur um das Wissen über den Umgang mit der Ju-stiz des anderen Staates. Man muß vielmehr auch dienötigen finanziellen Mittel haben, um Zugang zu denGerichten zu bekommen. Ich spreche hier von der Pro-zeßkostenhilfe, die es in Deutschland gibt, aber in ande-ren Ländern bisher nicht. Wir haben erreicht, daß es jetzteinheitliche Mindestregelungen in jedem Land Europasgeben soll. Dies ist schwierig; das wissen wir ganz ge-nau. Hierbei geht es weniger um nationale Vorbehalte,sondern es geht um Geld. Daß es in unserer Zeit schwerist, dies zu erreichen, ist klar. Aber die Verpflichtung istseit Tampere auch Teil des europäischen Rechts. Das istgut.Es geht weiterhin – das ist der dritte Punkt – um dieAnerkennung und die Vollstreckung von Gerichtsur-teilen und anderen Entscheidungen in Zivil- und Straf-sachen. Das klingt gut, ist aber schwer durchzusetzen,was nötig wäre. Wer ein Gerichtsurteil in Frankreich,Finnland oder in Portugal erstritten hat, möchte natür-lich, daß dieses hier bei uns anerkannt wird und auchvollstreckt werden kann. Umgekehrt legen wir ebensogroßen Wert darauf, daß es dann, wenn zum Beispiel einPortugiese einen Deutschen in Portugal verklagt hat,einheitliche Mindeststandards an Verfahrensgarantienund an Rechtsstaatlichkeit gibt und diese auch ein-gehalten werden. Das macht jeden Fortschritt ziemlichkompliziert und schwierig. Aber es ist richtig, die Ziel-vorstellung in den Vordergrund zu rücken. Es ist auchrichtig zu sagen: Wir brauchen dazu Zeit. Die Staatenmüssen hierfür eine ganze Menge an Vorarbeit leisten,ehe wir weiterkommen.Die Einführung eines europäischen Mahnverfah-rens – das ist der vierte Punkt – wird wahrscheinlichsehr viel kurzfristiger gelingen, und für die Geschäfts-welt in ganz Europa erhebliche Fortschritte mit sichbringen. Deswegen, meine Damen und Herren, lassenSie es nicht zu, daß die Bürgerinnen und Bürger meinen,es würde hier nur mit Worten wie „sollen“, „würden“,„können“ geklingelt oder mit kleiner Münze gehandelt.Nein, es geht um ganz praktische Dinge, wenn wir vondem einheitlichen Rechtsraum Europa reden. Wir sind inTampere ein gutes Stück weitergekommen.Das ist auch bei dem fünften Punkt, nämlich der Er-richtung der Zentralstelle Eurojust, so. Sie soll derKriminalitätsbekämpfung dienen. Das ist ganz wichtig;keine Frage. Sie soll der Zusammenarbeit und der Koor-dinierung von Staatsanwaltschaften und Gerichten derverschiedenen Mitgliedstaaten dienen. Dies ist wichtig,weil dadurch Rechtshilfeersuchen, Auslieferungsersu-chen und die Entscheidung von Rechtsfragen in Europakünftig viel schneller gehen.Wir sind der Meinung, daß die justitiellen Netze, diewir heute haben, auf eine gute Weise durch Eurojust er-gänzt werden. Das ist ein Fortschritt. Aber wir meinenauch, daß die Kompetenzen von Eurojust erweitert wer-den können und müssen.
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Hierin sind wir uns mit anderen EU-Mitgliedstaateneinig. Es ist nicht so, daß wir die Einsamen sind. Daswird man nur durch Arroganz. Es gibt hier entsprechen-de Absprachen mit anderen Staaten, die dies auch wol-len und deutlich sagen. Zum Ziel: Wir in Deutschlandhaben als Ausfluß unseres Rechtsstaatsprinzips und derRechtsstaatsbindung in unserem Land die Trias von Po-lizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Das macht einenTeil unseres Rechtsstaats aus. Wir wollen, daß auch Eu-ropa Schritt für Schritt durch diese Ordnung, durch dieseRechtsstaatlichkeit geprägt wird. Dieses Ziel haben wirvor Augen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt nocheinmal darauf zurückkommen, warum dies alles sowichtig ist und warum es auch wichtig ist, daß wir unsmit dem Respekt, den auch ein kleines Land wie Finn-land verdient, Herr Rüttgers, mit Europa und seinenFortschritten befassen. Wir brauchen Europa, weil wireine friedliche, eine freiheitliche und eine wirtschaftlichgute Zukunft für unsere Region wollen. Daran bestehtkein Zweifel. Es geht nicht, daß wir uns dabei auf einEuropa der Wirtschaft, ein Europa der Währung oder einEuropa anderer Politikbereiche begrenzen. Es mußvielmehr ein Europa des Rechts und der Bürgerrechtesein.
Lassen Sie mich deutlich sagen: 1999 ist und war einJahr, in dem wir uns an besonders viele Ereignisse unse-rer Geschichte erinnern, die mit der Bindung von politi-scher Macht an Recht und der Durchsetzung des Rechts-staatsprinzips und der Grundrechte in Staat und Gesell-schaft zu tun haben. Das ist nicht nur das Grundgesetz,das dafür ja die Grundlage geschaffen hat, sondern bei-spielsweise auch die Paulskirchenverfassung von vor150 Jahren.Diese Ereignisse haben unser Rechtsdenken, unserGefühl für Recht und Gerechtigkeit und unsere Rechts-kultur in Deutschland ganz entscheidend geprägt. Wirwollen sie in ein einheitliches Europa mitnehmen, in einEuropa der Bürger und ein Europa des Rechts.
Ich möchte gerne mit den Worten eines jener Großen– Carlo Schmid – schließen, die damals dafür gesorgthaben, daß sich die nationale Entwicklung bei uns in derBundesrepublik Deutschland so glücklich vollziehenkonnte, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten vollzogenhat. Denn Carlo Schmid hat auch zum Thema Europagesagt, was wichtig ist. Er hat zugleich all die Zauderer,die meinen, man könne sich in Details verirren, sichdamit begnügen, billig darüber zu spotten, damit zurOrdnung gerufen.Er hat gesagt:Wir alle irren, wenn wir glauben, wir könnten Eu-ropa schaffen, indem wir es halb schaffen. WennEuropa werden soll, dann muß man aufs Ganze ge-hen, dann muß man Europa zu einer ökonomischen,politischen und konstitutionellen Einheit machen.Carlo Schmid hat auch in diesem Punkt recht. Wir ar-beiten weiter an diesem Ziel, und Tampere war einwichtiger, ein erfolgreicher Schritt.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Manfred Kanther, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine verehrten Damen! Meine Herren! Nach Tampere,nach den G-8-Begegnungen, nach einem Jahr, in demdie deutsche Europapolitik und die europäische Sicher-heitspolitik, was die deutsche Mitwirkung angeht, ganzbesonders wichtig waren, nach einem Jahr Schengen-Präsidentschaft, EU-Präsidentschaft und G-8-Präsident-schaft möchte ich einige Anmerkungen zur europäischenSicherheitspolitik machen – ein Thema, das die Men-schen außerordentlich interessiert, ein Thema, das Sor-gen auslöst, ein Thema, das für die europäische Glaub-würdigkeit, für die Akzeptanz des europäischen Ge-dankens von höchster Bedeutung ist und emotionalvor mancher Frage aus dem Wirtschaftsbereich ran-giert.Herr Außenminister, ich halte Ihnen nicht vor, daß ininternationalen Begegnungen und internationalen Ver-einbarungen Flockigkeiten vorhanden sind, daß es dortPhrasen gibt, daß man einen Dissens zunächst verbirgtund manches auf die lange Bank schiebt. Man muß nurwissen, daß man das getan hat. Das Papier strotzt vondiesen Dingen.Ein Beispiel: Der Europäische Rat betont, wie wich-tig es ist, das Drogenproblem auf umfassende Weise an-zugehen. – Richtig. Aber die dort Versammelten solltensich dem Problem der verheerenden holländischen Dro-genpolitik stellen!
Aber kommt Zeit, kommt Rat. Ich will Sie nicht über-fordern; wir haben es ja auch nicht ändern können. DasProblem besteht jedoch.Deshalb meine erste Forderung: Die Bundesregierungmuß jetzt diese Obersätze, von denen ich nicht vielefalsch finde, mit Leben erfüllen. Sie muß ihnen nachge-hen. Es gibt gute Richtungsweisungen, aber es mußFleisch an den Knochen. Es darf nicht bei den Phrasenbleiben.Ich will noch einen kleinen Punkt herausgreifen: Eu-rodac, das Flüchtlinge betreffende Identifizierungsver-fahren als Erfüllung Dubliner Verpflichtungen, ist of-fenkundig auf dem gleichen Stand wie vor zwei Jahren,als ich es mühsam auf die Birminghamer Agenda imHinblick auf die weiteren Präsidentschaften geboxt ha-be. Es ist noch immer nicht konsentiert; Ziffer 17 weistBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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dies aus. Dranbleiben, selbst an kleinen Dingen, ist alsoalles!Zweite Bemerkung. Wir müssen zur Kenntnis neh-men, daß vieles, was an Phraseologie in der rotgrünenPolitiklandschaft zum Thema Asyl- und Flüchtlingswe-sen jahrelang hier umgegangen ist – die Justizministerinist, wenn es um den Austausch von Verbalinjurien indieser Frage ging, kaum zu überbieten gewesen –, wohlhinter uns liegt. Sei es drum: Sollte es tatsächlich hinteruns liegen, wäre ich darüber froh.Angesichts dessen, was etwa in den Ziffern 23 und 24zur Bedeutsamkeit der Grenzsicherung gesagt wird,fordere ich Sie, Herr Außenminister, auf, sich von derPhrase zu trennen, die da lautet: „Wir wollen keine Fe-stung Europa.“ Das war ein völlig fehlerhafter Begriffaus vergangenen Zeiten, und das will auch überhauptniemand. Aber eine Sicherung der Grenzen von EU-Europa wollen wir ganz entschieden.
Das erwächst einem nicht aus Worten, sondern aus Ta-ten: zum Beispiel aus der Unterstützung der südosteuro-päischen Regierungen hinsichtlich ihrer Justiz- und Po-lizeisysteme. Das kostet Geld, Aus- und Fortbildung undtatkräftige Unterstützung – es ist richtig, Herr Innenmi-nister, daß Sie dies in einem kleinen Punkt in Mazedoni-en gerade getan haben –, und das zeigt, daß diese Bun-desregierung Antworten und nicht nur Obersätze schul-det.Wenn man das Papier liest und die Regierungsmit-glieder, die, wie Frau Däubler-Gmelin, eine Fachver-antwortung haben, dazu reden hört, dann gelangt man zuder Auffassung, daß es keine Richtungsangaben für diedeutsche Politik gibt. Was wird denn jetzt daraus? Istsich Rotgrün darin einig, daß ihre frühere Politik zumThema Asyl, Flucht- und Wanderungsbewegung mit-samt der Reflexe für die innerdeutsche Situation, wasKriminalität und insbesondere organisierte Kriminalitätangeht, falsch war und jedenfalls von Tampere an auchnicht mehr Konsens in EU-Europa ist? Die vereinigtenSozialdemokraten aller europäischen Länder, die sich jaauch in Tampere getroffen haben, soweit sie den natio-nalen Regierungen angehören, sind nicht der Glaubens-meinung, die früheren rotgrünen Absprachen zu diesemThema zugrunde lag. Die Gewährleistung von Grenzsi-cherheit ist ein elementarer Punkt auch für die innenpo-litische Situation in Deutschland.
Ich werfe Ihnen, Herr Schily, nicht vor, daß Sie dasThema „burden sharing“ bislang nicht weiterbringenkonnten, als wir es auch konnten. Es ist nicht verwun-derlich, daß andere europäische Staaten die Tatsache,daß im wesentlichen die Deutschen, die Österreicherund – außerhalb der EU – die Schweizer die Lastenschultern, für einen bequemen Zustand halten. Man mußweiter daran bohren und zugleich dafür sorgen, daß imInland die Konditionen dafür geschaffen werden, daßdie Illegalität nach Kräften gedämpft wird.
Man muß also wirksame innenpolitische Systeme gegenden Asylmißbrauch aufbauen, der ja nach wie vor einzehntausendfacher ist. Ich habe den Eindruck, die Bun-desregierung habe ihren Frieden mit 100 000 Asylbe-werbern pro Jahr gemacht. Man hört gar nichts mehr da-von, wie diesbezüglich die Bemühungen weitergehensollen.Sie fordern in dem Papier mit Recht Anstrengungender südeuropäischen Nachbarn und Bündnis- und EU-Partner. Es taucht die Frage nach der Sicherung der süd-europäischen Seegrenzen auf. Papier ist geduldig; dassieht man auch am Adria-Abkommen zwischen Italienund Griechenland. Wie geht die Bundesregierung vor,um das Papier sachlich zu unterfüttern und daran mitzu-helfen, daß die Seegrenzsicherung besser wird? Ich ver-lasse diesen Punkt und sage nur, daß es hier Vollzugsan-forderungen an die deutsche Politik gibt.Die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen istein höchst wichtiger Punkt, ebenso die Forderung nachgemeinsamen Rechtsvorschriften. Dazu gibt es vieleEinzelfragen: verbessertes Auslieferungsverfahren, ein-fache Überstellungsverfahren, Eilverfahren in der Über-stellung. Ich stelle auch die Frage nach der Vollstrek-kung von Haftbefehlen in Europa, nach der Nutzung vonErkenntnissen aller Polizeien durch alle Polizeien und inallen Strafverfahren, nach europäischen Vollstreckungs-titeln und nach der Verbesserung der Situation von Eu-ropol; bei letzterem geht es um gemeinsame Teams undoperative Kompetenzen.Ziehen wir darunter einen Schlußstrich, gelangen wirzu der Frage an die Bundesregierung und an meinen ge-schätzten Nachfolger im Amte des Innenministers: Wielauten die Zeitpläne und Handlungsabsichten der Bun-desregierung? Haben Sie vor, einen gemeinsamen Ar-beitsstab zwischen Justiz- und Innenministerium zurAbarbeitung des Gipfels von Tampere einzurichten?Haben Sie dafür einen Zeitplan? Werden Sie den Hand-lungsbedarf in gesetzgeberischer, administrativer undfiskalischer Hinsicht erfüllen? Wie halten Sie es mit denHaushaltsfolgen von Tampere, wenn es um die Unter-stützung osteuropäischer Länder beim Aufbau tauglicherJustiz-, Polizei- und Grenzsicherungssysteme geht?Sie fordern verschämt – Ziffer 25 – speziell ausgebil-dete Grenzsicherungseinheiten. Richtig! In manchenLändern gibt es nur drei oder vier, in manchen sogar garkeine derartigen Einheiten. Wie halten wir es mit derEU-Finanzierung? Was war es für eine Mühsal, eineauskömmliche Europol-Finanzierung durchzusetzen!Wo sind jetzt entsprechende Ansätze der Bundesregie-rung in einer langfristigen Planung? – Das sind ent-scheidende Fragen.Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, jetzt noch zweiAspekte, die mir ein besonderes Anliegen sind. Der ersteAspekt: Bevor nicht auf diese Fragen Antwort gegebenist, bevor nicht der Tatsache Rechnung getragen ist, daßwir als Deutsche unter vielen Aspekten mangelnder Si-cherheit in Europa leiden, kann auf diesem Sektor nichtdas Mehrheitsprinzip gelten. Das Festhalten am Ein-stimmigkeitsprinzip in diesem Sektor ist noch auf länge-re Sicht notwendig.Manfred Kanther
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Die zweite Bemerkung: Es darf keinen „Rabatt“ inSicherheitsfragen geben, nur weil das diplomatisch ge-schickt erscheint und das Handeln in anderen Bereichen,etwa ökonomischen Fragen, erleichtert. Es geht nicht,daß man im Bereich der Sicherheit, zum Beispiel in derFrage der Freizügigkeit, Rabatt gewährt, bloß weil dasder Diplomatie dient. Denn die Bürger messen an dieserFrage die Leistungsfähigkeit des EU-Systems.
Eine letzte Bemerkung: Zu Recht stellen die Schluß-ziffern 61 und 62 die Bedeutsamkeit einer konsistentenAußenpolitik für die Sicherheitspolitik fest. Das findeauch ich; das muß ganz undogmatisch festgestellt wer-den. Ich glaube, daß man Grenzsicherheit und Schutzvor illegalen Wanderungsbewegungen – mit all den da-mit verbundenen Nachfolgeerscheinungen im Inland –nicht gewährleisten kann ohne ein schrittweises Mitwir-ken der Türkei als der Drehscheibe vieler dieser Illega-litäten. Auch bei der Einbeziehung von Nicht-EU-Aspiranten sollte man undogmatisch auf die Sicher-heitsphilosophie von Schengen schauen. 1 200 Kilome-ter zu sichernde slowakische Grenze – wenn dieser Bal-kon weiter so nach EU-Europa hineinragt – reduzierensich auf 200 Kilometer, wenn nur noch zur Ukraine hingesichert werden muß.Das sind die praktischen Fragen, um die es geht. Zudiesen praktischen Fragen erwarten wir – wenn auchnicht sämtlich heute – in den nächsten Monaten von Ih-nen nachhaltige Antworten. Wir werden sie bei Ihnenabfragen.Danke.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr KollegeKanther, ich muß mich schon sehr über Ihre Rede wun-dern. Haben Sie sich mit Herrn Rüttgers überhaupt nichtabgesprochen? Herr Rüttgers erzählt uns, daß Tampereein riesiger Flop ist. Nichts sei passiert, nichts sei er-reicht worden. Herr Kanther dagegen verlangt von derBundesregierung die Umsetzung der vielen konkretenBeschlüsse von Tampere. Einer von beiden muß sich ir-ren.
Mit seiner Einschätzung, daß Tampere ein Erfolg warund daß viele konkrete Dinge vereinbart wurden, mußich dem Kollegen Kanther Recht geben, wenn ich ein-mal das Match in Ihrer Fraktion entscheiden darf.Allerdings muß ich sagen: Herr Kanther hat das Pa-pier nicht gelesen.
Denn in vielen Punkten ist die Akzentsetzung nicht sofinster und sinister, wie es in seiner Schreckensrede zumAusdruck kam. Vielmehr sind viele fortschrittliche An-sätze enthalten. Da wird nicht einseitig auf Repression,auf eine Abschottung der Festung Europa gesetzt. Prä-vention bei der Kriminalpolitik wird ausdrücklich alsein wichtiger Ansatz erwähnt – etwas, was unter der al-ten Regierung jahrelang vernachlässigt wurde. DieRechte der Opfer von Menschenhandel werden in denMittelpunkt gerückt, nicht die Frage, wie man dasSchlepperunwesen bekämpft. Wie hilft man den betrof-fenen Menschen und macht sie zu Bündnispartnern, an-statt gegen sie vorzugehen, so daß sie Menschenhändlerund Strafverfolgungsbehörden gegen sich gerichtet se-hen?Bei Ihren langen Ausführungen zur Asylpolitik habeich kein Wort darüber gehört, daß der Europäische Ratdie Bedeutung bekräftigt, die die Union und deren Mit-gliedstaaten der unbedingten Achtung des Rechts aufAsyl beimessen. Es wird ausdrücklich betont, daß mansich auf die uneingeschränkte und allumfassende An-wendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, unddies findet sich auch in den einzelnen Maßnahmen undVereinbarungen.Diese Perspektive haben Sie verschwiegen, weil Siedas Grundrecht auf Asyl auf europäischer wie auf natio-naler Ebene angreifen. Ich finde es bei einer Partei, diedas „C“ im Namen führt, äußerst verwunderlich, daß Ih-nen die Grundrechte von Menschen, die vor Verfolgungflüchten, überhaupt nichts wert sind.
Meine Damen und Herren, Europa befindet sich aufdem richtigen Weg hin zu einem Europa der Bürgerin-nen und Bürger. Die Beschlüsse von Tampere haben er-freulicherweise deutlich gemacht: Eine europaweitekompatible und für die Bürger transparente Rechts-ordnung rückt allmählich näher. Das Europa der Märktekann so endlich zu einem Europa der Bürger werden,und ein Europa der Bürger braucht ein solides Funda-ment der Bürgerrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Hierwar Tampere ein Durchbruch.Meine Fraktion begrüßt es, daß die EU sich nach derSchaffung des Binnenmarktes und der Einführung desEuro nun endlich auch verstärkt der Vereinheitlichungvon Mindeststandards in der Innen- und Rechtspolitikzuwendet. Ich sage bewußt „endlich“; denn die Bürge-rinnen und Bürger erleben sich doch schon länger, ob imBeruf, auf Reisen, über familiäre Beziehungen oder imSport, als Unionsbürger in vielen Lebensbereichen. ImBereich der Justizpolitik ist jedoch die Entwicklung hinzu einer harmonischen europäischen Rechtseinheit inden letzten Jahren, um es vorsichtig zu sagen, etwasschleppend verlaufen – und dies nicht immer zum Vor-teil der Bürgerinnen und Bürger, im Gegenteil.Nicht zuletzt die Wahlbeteiligung bei den letztenEuropawahlen – das wurde auch schon angesprochen –hat gezeigt: Die Bürger haben das Europa, wie es sichjetzt darstellt, nämlich als Europa der Bürokratien, alsEuropa der Konzerne noch nicht in dem Maße ange-Manfred Kanther
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nommen, wie wir es uns wünschen. Akzeptanz schafftman aber nicht nur durch offene Grenzen und durchFreizügigkeit innerhalb der EU für Geldströme und auchfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auchindem man die Bürger von einem anständigen europäi-schen Rechtsschutzsystem überzeugt, einem Rechts-schutz, der den veränderten Realitäten gerecht wird.Das Europa der Bürger und nicht nur der Märkte ist –das hat Tampere ganz deutlich gemacht – nicht nur einEuropa der EU-Bürger. Es ist in dieser Vereinbarungauch die Frage der Drittstaatler ausdrücklich themati-siert worden. Ich bin sehr froh, daß man hier die Per-spektive mit der Annäherung hin zur Gleichberechti-gung auch der Drittstaatler im EU-Raum eröffnet unddeutlich gemacht hat: Europa ist keine Festung. Viel-mehr verpflichten wir uns auf die Genfer Flüchtlings-konvention und nehmen die Menschen auch auf, die vorVerfolgung aus anderen Ländern fliehen. Wir müssendas auf europäischer Ebene besser regeln – aber nicht,um die Menschen hinauszudrängen, sondern um einengleichen Mindeststandard innerhalb der EuropäischenUnion zu schaffen.Wenn wir die Genfer Flüchtlingskonvention so ernstnehmen, wie das in diesem Papier geschieht, dann wirddas auch Auswirkungen auf das deutsche Asylrecht ha-ben müssen.
Unser Fluchtbegriff des politischen Asyls ist viel engerals der Fluchtbegriff, den wir in der Genfer Flüchtlings-konvention vorfinden.
Bündnis 90/Die Grünen haben schon immer eine ver-bindliche und einklagbare Grundrechtscharta alsGrundlage und Maßstab für die Europäisierung derRechts- und Innenpolitik gefordert. Eine europäischeVerfassung schafft Transparenz und Rechtssicherheit,und sie unterstreicht, daß die Bürger Rechtssubjekte desGemeinschaftsrechts sind. Wir freuen uns deshalb auch,daß ausgerechnet unter bundesdeutscher Ratspräsident-schaft in Köln die Weichen hierzu gestellt wurden undjetzt in Tampere die Lokomotive endlich unter Dampfgesetzt wurde. Man hat den Geist von Köln aufgegrif-fen. Die Zusammensetzung der Verfassungskommissionsteht. Es gibt auch Vorhaben mit konkreten Terminen:Ende 2000 soll die Charta verabschiedet werden – einehrgeiziges Ziel. Ich hoffe, wir erreichen es.Eine Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit inner-halb des Gebildes Europäische Union würde zeigen –die Kollegin Jelpke hat es auch schon angesprochen –:So, wie die Europäische Union heute verfaßt ist, würdenwir ihr die Aufnahme in die Europäische Union als Mit-gliedsstaat nicht gestatten. Das, was man von den Bei-trittskandidaten erwartet, muß die Europäische Unionauch ihren eigenen Bürgern im europäischen Recht ge-währen.
Rechtsvereinheitlichung darf es nicht um jedenPreis geben. Sie muß differenziert angegangen werden.Wir müssen aufpassen, daß ein harmonisiertes Rechtauch angemessenen rechtsstaatlichen Ansprüchen ge-nügt. In diesem Zusammenhang möchte ich HeribertPrantl von der „Süddeutschen Zeitung“ zitieren: Bisherist es in der EU so, daß Rechtsstaat, mit 15 multipliziert,nicht mehr, sondern erheblich weniger Rechtsstaat er-gibt. Darin bestand in der Vergangenheit das Problem.Das muß im Rahmen der weiteren Entwicklung auf derGrundlage der EU-Charta anders werden. Vor allem beider Vereinheitlichung sensibler Bereiche wie der inne-ren Sicherheit und der Kriminalitätsbekämpfung ist des-halb ein behutsames Vorgehen geboten. Sicher, nichtdas Verbrechen, sondern seine effektive Verfolgungscheitert häufig an manchen überflüssigen bürokrati-schen Hürden, die in den einzelnen Nationalstaaten be-stehen. Hier ist mehr Kooperation gefragt.Die Erweiterung der Kompetenzen von Europol zurBekämpfung von Geldwäsche und Geldfälschung kannfür eine wirkungsvollere Bekämpfung der grenzüber-schreitenden organisierten Kriminalität absolut erfor-derlich sein. Aber das Handeln von Europol muß wiedas polizeiliche Handeln im Einzelstaat auch jederzeitjuristisch und datenschutzrechtlich überprüfbar sein.
Gleiches gilt auch für die neugeschaffene europäischeStaatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Eurojust.Auch hier ist die Grundrechtscharta von entscheidenderBedeutung. Im Hinblick auf Europol ist es notwendig, inder Grundrechtscharta ein verbrieftes Recht der europäi-schen Bürgerinnen und Bürger auf informationelleSelbstbestimmung zu verankern. Dieses Recht ist beiEuropol gegenwärtig nicht hinreichend durch Kontroll-befugnisse gewährleistet. Die Voraussetzungen dafür,daß Europol zukünftig auch Eingriffsbefugnisse erhält,sind die Abschaffung der heute geltenden Immunitätsre-gelung und die Möglichkeit, den Europäischen Ge-richtshof wie ein nationales Gericht bei ungerechtfer-tigten Eingriffen in die Rechte der Bürgerinnen undBürger anzurufen. Ich wünsche mir ohnehin, daß derEuropäische Gerichtshof bei der Weiterentwicklung desEuroparechts im justiziellen Bereich dieselbe Rollespielen wird wie das Europäische Parlament bei derWeiterentwicklung der Demokratie in Europa.
Das Wort hat nun die
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tampere wardringend notwendig, aber Tampere hat auch Vorläufer.Ohne den Vertrag von Amsterdam hätte es den Gipfel inTampere mit solchen Themen nicht gegeben.
Volker Beck
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Erlauben Sie mir, an Ihre Erinnerung zu appellieren;denn die heutigen Regierungsfraktionen haben sich überden Vertrag von Amsterdam äußerst zurückhaltend,zögerlich und teilweise ablehnend geäußert.
Zur Bewertung des Gipfels von Tampere gehört aberdie Einbeziehung des Vertrags von Amsterdam unver-zichtbar. Sie wird den Blick auf das lenken, was tat-sächlich in den 62 Punkte umfassenden Schlußfolgerun-gen formuliert ist. Einige Passagen der Schlußfolgerun-gen sind mit Art. 61, 62 und 63 des Vertrags von Am-sterdam identisch. Den Vertrag von Amsterdam, dereinen Stufenplan mit einer Frist von fünf Jahren für dieUmsetzung enthält, sollte man sich noch einmal vor Au-gen führen, um sich die notwendigen Grundlagen für dasgegenwärtige Handeln zu vergegenwärtigen.Vor diesem Hintergrund – damit wird das Bild wiederzurechtgerückt – kann man sagen, daß einige der ganzwenigen konkreten Entscheidungen richtig sind.
Das betrifft natürlich die Entscheidung zur Grund-rechtscharta. Die F.D.P. hat die Grundrechtschartaimmer als einen Schritt hin zu einer langfristigen Visioneines zusammenwachsenden Europas und einer europäi-schen Verfassung formuliert und gefordert.Ich finde es gut, daß man sich auch hier im Bundes-tag, der ja leider nur durch einen Abgeordneten in die-sem Gremium vertreten sein wird, fraktionsübergreifendmit diesen Fragen befaßt. Herr Meyer, ich greife gernIhren Vorschlag auf, hier eine fraktionsübergreifendeGruppe zu bilden, in der wir uns beim Einbringen unse-rer eigenen Formulierungsvorschläge austoben können,die aber auch folgenden Zweck erfüllen muß: Wir brau-chen Öffentlichkeit für diese wichtige Frage. Wenn wirBewußtsein für Grundrechte schaffen wollen, dann müs-sen wir dafür begeistern, dann müssen die Bürger inDeutschland erkennen, was wir damit verbinden und wiewir Europa in dieser Hinsicht als Wertegemeinschaftgestalten wollen.Ich denke, das gehört dringend auf die Tagesordnung,denn auch die heutige Debatte verfällt mit Blick auf die-se Schlußfolgerungen immer wieder in Technik, ineurobürokratische Formulierungen und allgemeine Ab-sichtserklärungen und Äußerungen. Das reicht nicht aus,im Gegenteil, das gefährdet die anstehende notwendigeIntegration Europas und gerade das Nahebringen dieserEntwicklung in der Innen- und Justizpolitik in Europa.
Die F.D.P. hat in den letzten Jahren natürlich an vie-len Weichenstellungen bewußt, zielorientiert und initia-tiv mitgewirkt, gerade auch an wichtigen Übereinkom-men in der dritten Säule und gerade auch mit unter-schiedlichen Schwerpunkten.Natürlich ist Europol im Bereich der inneren Sicher-heit und des Vorgehens gegen Kriminalität wichtig undunverzichtbar. Wichtige Weichenstellungen dafür sindmit dem Übereinkommen, das erst in diesem Jahr inKraft getreten ist, vorgenommen worden. Aber es istganz klar: Eine Weiterentwicklung von Europol hin zueinem operativ handelnden Organ Europas muß natür-lich von ganz anderen rechtsstaatlichen, justitiellen undparlamentarischen Kontrollen begleitet werden.
Dazu gibt es gerade in diesem anachronistischen Im-munitätenprotokoll wenigstens einige Verfahrensschrit-te, die deutlich machen, daß man diesen Prozeß sehrwohl eröffnen muß und dazu verpflichtet ist, wenn mandafür eintreten will, daß Europol mehr Befugnisse alsjetzt erhält. Ich glaube, daß es richtig ist, wenn Europolmehr tun kann, aber nur unter diesen unverzichtbarenKonditionen. Weil wir alle wissen, wie schwierig dieMeinungsbildung dazu innerhalb der europäischen Mit-gliedstaaten ist, wäre es auch wichtig zu hören, mit wel-cher Perspektive, mit welchen Forderungen, mit wel-chen konkreten Vorschlägen der Bundesinnenminister indiese Gespräche hineingehen wird.Natürlich ist auch die Grundsatzentscheidung zu Eu-rojust – etwas, was die Bürger überhaupt nicht verste-hen; sie werden fragen, was das denn sei – für die Fach-kenner etwas Richtiges, denn dahinter verbirgt sich end-lich ein stärkeres Zusammenführen europäischer Staats-anwaltschaften, europäischer Richter, also endlich einAusbau der Organe, die zur rechtsstaatlichen Kontrolleberufen sind. Aber man darf sich dabei nicht auf dengleichen Weg begeben, den man in vielen anderen Be-reichen beschreitet, nämlich in Koordinierung, in infor-mationeller Zusammenarbeit, in Austausch von Infor-mationen zu verharren. Vielmehr muß dieser Prozeßletztendlich natürlich in den europäischen Staatsanwaltals Einrichtung, als ein Organ münden, denn nur das er-möglicht uns mit Blick auf Europol und die Zusammen-arbeit der Polizei und der Verwaltungsbehörden einenentsprechenden ersten Schritt der Kontrolle.Natürlich müssen dann weitere Schritte folgen: Na-türlich brauchen wir für ein Europa der Bürger, für einEuropa des Rechtsraums der Freiheit, der Sicherheit ei-nen leichteren und unmittelbareren Zugang der Bürgerzu Gerichten und zum Rechtsschutz. Von daher bestehtfür mich die entscheidende langfristige Aufgabe darin,den Zugang zum Europäischen Gerichtshof zu erleich-tern, die Doppelwegigkeit zwischen Europäischem Ge-richtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte zu verbessern, zu versuchen, Parallelitätenzu vermeiden, und dem Bürger deutlich zu machen, wo-hin er sich unmittelbar zu wenden hat, wenn er sich vonrechtswidrigem Handeln verletzt fühlt.
Vision unserer Arbeit für das Zusammenwachseneiner politischen Europäischen Union muß sein, daßGrundrechte, Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit und Si-cherheit das Entscheidende im ausgehenden 20. Jahr-hundert sein werden. Die F.D.P. wird – gerade in derOpposition – diese von ihr immer vertretenen Grundsät-Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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5590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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ze ganz entscheidend in die Diskussion einbringen. Wirwerden versuchen, anhand konkreter Stadien der Ver-handlungen in Europa diese Grundsätze durchzusetzen.Soweit es im engen Rahmen des Europaausschusses desBundestages möglich ist, werden wir unsere politischenVorschläge formulieren. Da müssen wir überhauptnichts ändern. Im Gegenteil, wir werden gerade, was dieFrage der europäischen Grundrechtscharta angeht, sehrviel lauter werden.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren! Ich empfinde es alseinen erfreulichen Sachverhalt, daß es unter den demo-kratischen Parteien in Deutschland einen lebhaftenWettbewerb um den Einsatz für die europäische Eini-gung gibt. Dieser Wettbewerb ist um so positiver zuwerten, als leider in einigen unserer Nachbarstaatenbesorgniserregende Tendenzen einer Rückkehr zu na-tionalistisch-antieuropäischen Positionen sichtbar wer-den.Im Rahmen eines Wettbewerbs um die beste Europa-politik ist es durchaus legitim, daß die Opposition dieRegierung zu noch mehr europäischem Engagement auf-fordert und Kritik an vermeintlichen Versäumnissen übt.Aber Kritik sollte nicht anmaßend werden. Ich sage dasvor allem deshalb, weil die Kritik, die Sie, Herr KollegeRüttgers, an den Ergebnissen von Tampere üben, sichzugleich gegen die finnische Präsidentschaft und alleübrigen Mitgliedstaaten Europas richtet. Das müssen Siesich einmal vor Augen führen.
Entschuldigen Sie, daß ich folgendes sage: Ich glaubenicht, daß sich irgend jemand in Europa für den Rede-beitrag heute morgen von Herrn Rüttgers interessierenwird.
Falls dennoch jemand in Europa Ihre Rede nachlesensollte – das ist unwahrscheinlich –, wird der fatale Ein-druck entstehen, daß die CDU/CSU ihre beachtenswerteeuropapolitische Kompetenz eingebüßt hat.
Das wäre zu bedauern; denn viele in der CDU/CSUkennen sich besser aus als Sie, Herr Kollege Rüttgers.Der von mir sehr geschätzte Kollege Kanther hat heutemorgen bewiesen, wie man aus der Opposition herauseinen sachlichen Beitrag leisten kann, ohne der Regie-rung zuzujubeln.Herr Kollege Rüttgers, Sie haben einige Dinge ange-sprochen, die ich zurechtrücken will. Sie haben die Be-hauptung aufgestellt, es gebe eine Vereinsamung derBundesregierung auf der europäischen Ebene, und zwarbei denjenigen Feldern, die in Tampere zu bestellen wa-ren. Ich weiß nicht, ob Sie sich über Ihre Äußerungenvergewissert haben. Wir, Frankreich, das VereinigteKönigreich und Deutschland, haben für Tampere eingemeinsames Papier vorgelegt zu einem wichtigenThema, nämlich Asyl-, Migration- und Bürgerkriegs-flüchtlinge. Ist das Ausdruck von Vereinsamung?Ich weiß aus vielen Gesprächen, die ich auf den Kon-ferenzen der Innen- und Justizminister der EuropäischenUnion geführt habe, welches Lob und welche Anerken-nung die Bundesregierung für ihre Staatsangehörig-keitsreform erworben hat. Auch das ist kein Ausdruckvon Vereinsamung, sondern Ausdruck einer gemeinsa-men europäischen Politik, wie sie die Bundesrepublikvertritt – aber in einer modernen und nicht in einerrückwärtsgewandten Form, wie Sie sie vertreten.
Ich komme im Laufe meines Beitrages auf einige The-men zurück, zu denen Sie weitere Unwahrheiten undUnrichtigkeiten vorgetragen haben.Meine Damen und Herren, an der Schwelle zum21. Jahrhundert steht Europa wahrlich vor richtung-weisenden und weitreichenden Entscheidungen, die be-stimmend und gestaltend für unsere Zukunft wirkenwerden. Im Zeitalter der Globalisierung und der von ihrausgehenden Dynamik wird immer deutlicher, daß dernationalstaatliche Rahmen für die Erfüllung der öffent-lichen Aufgaben und die Gestaltung der Zukunft nichtmehr ausreicht. Die Verwirklichung des vereinten Euro-pa, zu der uns bereits das Grundgesetz verpflichtet, istdie notwendige, erfolgreiche und zugleich faszinierendeAntwort auf Umbruch und Wandel in Europa und in dergesamten Welt.Bereits in unserer Koalitionsvereinbarung haben wirdie herausragende Bedeutung der Einbindung Deutsch-lands in die Europäische Union und die Notwendigkeitunterstrichen, den europäischen Integrationsprozeß mitneuen Initiativen voranzutreiben, um der Vertiefung undErweiterung der Europäischen Union neue Impulse zuverleihen.Auch im Bereich der Innenpolitik ist die Bedeutungder europäischen Politik und des europäischen Rechts inden vergangenen 50 Jahren stetig gewachsen und zu ei-nem überragenden Faktor geworden. Die Ergebnisse desEuropäischen Rates in Tampere haben in eindrucksvol-ler Weise unterstrichen, welche erhebliche Intensivie-rung die bisherige innenpolitische Zusammenarbeit derMitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem In-krafttreten des Vertrages von Amsterdam am 1. Mai1999 erfahren hat.Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich habeüberhaupt kein Problem damit, die Verdienste der altenBundesregierung am Zustandekommen des Vertragesvon Amsterdam, dem meine Fraktion ausdrücklich zu-Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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gestimmt hat, anzuerkennen. Die Fairneß sollte es auchgebieten, daß wir nicht alles, was Sie in der alten Regie-rung gemacht haben, einer Kritik unterziehen. Ich habeauch keine Probleme anzuerkennen, daß mein sehrgeschätzter Kollege Kanther wichtige Vorarbeiten zuDingen geleistet hat, die wir während der deutschenPräsidentschaft abschließen konnten.Der Europäische Rat in Tampere hatte das Ziel, demim Amsterdamer Vertrag niedergelegten Arbeitspro-gramm zur Errichtung eines Raumes der Freiheit, derSicherheit und des Rechts innerhalb von fünf Jahren zueinem guten Start zu verhelfen. Dieses Ziel hat er er-reicht. Die in Tampere gefundenen europäischen Lösun-gen für den Bereich der Innenpolitik machen von denneuen Möglichkeiten des Amsterdamer Vertrages um-fassend Gebrauch und stellen, wie bereits AußenministerFischer einleitend dargestellt hat, neben dem Binnen-markt und der einheitlichen europäischen Währung einneues, weitreichendes Integrationsprojekt dar.Die vom Europäischen Rat in den Bereichen Asyl,Migration und Kriminalitätsbekämpfung erteilten Ar-beitsaufträge an die Kommission, den Rat und die Mit-gliedstaaten sind wahrlich wichtige Bestandteile zurVerwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheitund des Rechts in Europa.Mir war besonders daran gelegen, daß wir zu Ergeb-nissen kommen, die den Mehrwert der europäischenZusammenarbeit für die Bürgerinnen und Bürger un-mittelbar erkennbar werden lassen. Angesichts derschwierigen Fragen in den Bereichen Asyl, Migrationund Kriminalitätsbekämpfung muß es unbedingt eineengere Zusammenarbeit in Europa geben.
Mit dem Amsterdamer Vertrag haben wir bereits fürden Bereich Asyl, Migration mit der Vergemeinschaf-tung, das heißt Europäisierung, begonnen, auch wenndies für einen Übergangszeitraum noch in einer be-stimmten Verfahrensweise aufgehoben ist. Diese Mög-lichkeiten müssen wir nun offensiv nutzen. Tampere hatdafür die Richtung vorgegeben.Aus innenpolitischer Sicht möchte ich auf folgendeLeitlinien und Aufträge des Europäischen Rates beson-ders eingehen:Eine der prioritären Maßnahmen ist die Bekämpfungder politischen und wirtschaftlichen Fluchtursachendurch eine starke Verzahnung der Einwanderungspolitikmit anderen Politikfeldern wie der Außen- und Sicher-heitspolitik oder, wie man im europäischen Vokabularsagt, durch einen säulenübergreifenden Ansatz. Dazu hatgerade das Papier von Frankreich, Großbritannien undDeutschland wichtige Vorarbeiten geleistet. Denn wirkommen bei diesem Thema nicht voran, wenn wir nichteine Differenzierung des Problems nach Asylsuchenden,Migranten und Bürgerkriegsflüchtigen erreichen.Der Europäische Rat in Tampere hat die von derHochrangigen Gruppe Asyl und Migration für zunächstfünf Staaten ausgearbeiteten Aktionspläne ausdrücklichbegrüßt und stimmte auch der von der Bundesrepublikgeforderten Verlängerung des Mandats sowie der Aus-arbeitung weiterer Aktionspläne zu. Die Berichte überdie Umsetzung der Aktionspläne soll der EuropäischeRat in Paris im Dezember 2000 entgegennehmen.Das ist der genau richtige Ansatz, ein Ansatz übri-gens, der aus einem holländischen Vorschlag entstandenist. Wir wollen die sogenannten Push- und Pullfaktorenins Auge fassen und darangehen, die Lebensverhältnissein den Herkunftsländern der Menschen, die Beweggrün-de haben, ihr Heimatland zu verlassen, zu verbessernund das Geld lieber dort einzusetzen, als teure Sozial-programme in Deutschland aufzulegen. Auf der anderenSeite wollen wir aber auch dafür sorgen, daß die Pull-faktoren – das sind die Faktoren, die dazu führen, daßdie Menschen nach Deutschland oder in andere Länderkommen – verändert werden. Selbstverständlich schließtdas, Herr Kollege Kanther, die Grenzsicherung und dieVerhinderung illegaler Zuwanderung ein.Weil Herr Rüttgers und leider auch Herr Kanther – indiesem Punkt sind Sie nicht ganz auf dem laufenden –Eurodac angesprochen haben, möchte ich sagen: Es isteine große Leistung der deutschen Präsidentschaft undder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministe-riums, das früher Sie geleitet haben und heute ich leite,daß Eurodac abgeschlossen werden konnte. Es geht jetztnur noch um die Frage der rechtlichen Umsetzung – esgehört in die erste Säule –, die wir während unserer Prä-sidentschaft nicht mehr erreichen konnten. Sie ist aberbereits konsentiert; das war eine schwierige Aufgabe,aber wir haben sie erfolgreich abgeschlossen.Der vorübergehende Schutz für Flüchtlinge ist ent-sprechend der Auffassung der Bundesregierung auchnach den Dokumenten von Tampere weiterhin an denGrundsatz der Solidarität der Mitgliedstaaten gekop-pelt. Das ist die berühmte Frage des Solidarausgleichs.Das ist eine schwierige Frage. Herr Kanther war so fair,zu sagen, daß es auch der alten Bundesregierung nichtgelungen ist, dort zu Vereinbarungen zu kommen. Es istdeshalb eine so schwierige Frage – da soll man sichnichts vormachen –, weil jedes Land in seiner spezifi-schen geographischen Situation mit spezifischen Pro-blemen zu kämpfen hat.Spanien denkt über solche Probleme natürlich ganzanders nach als Deutschland. Deutschland hat seine Pro-bleme; Sie kennen die Hauptherkunftsländer der Men-schen, die nach Deutschland kommen. Spanien hat mitillegaler Zuwanderung aus den nordafrikanischen Staa-ten zu kämpfen. Für Frankreich gilt das gleiche, und Ita-lien ist der Zuwanderung aus dem Balkan und aus Nord-afrika ausgesetzt.Meine Damen und Herren, wir kommen in Europanicht weiter, wenn wir nicht Verständnis für die Proble-me der anderen entwickeln, sondern immer nur Nabel-schau betreiben und unsere eigenen Schwierigkeitenhervorheben.
Dazu gehört auch, Herr Rüttgers, daß wir uns das Ver-hältnis zwischen der Zahl der Zuwanderungen vonFlüchtlingen und der Zahl der Bevölkerung ansehen. DaBundesminister Otto Schily
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werden Sie ganz merkwürdige Entdeckungen machen.Es ist nämlich nicht ganz so, wie Sie es geschildert ha-ben; vielmehr sind auch in anderen Staaten Problemevorhanden.Ich kann im Rahmen meines kurzen Beitrags nichtauf alle Einzelheiten eingehen. Ich wollte nur einigeStichworte zum Bereich der Migrations-, Flüchtlings-und Asylpolitik nennen. Das ist sicher eine Aufgabe, dievor uns steht. Die Kommission hat dabei eine besondereRolle zu spielen.Ich will jetzt einige Sätze zu der mir sehr wichtigenFrage sagen, die die Kriminalitätsbekämpfung betrifft.Hier ist Tampere ein großer Erfolg und ein Schritt nachvorn gewesen; denn in einem Raum, der den Bürgerin-nen und Bürgern mehr Freizügigkeit erlaubt, in dem dieGrenzen ihre Bedeutung verloren haben, hat die Be-kämpfung von Kriminalität einen anderen Rahmen undeinen anderen Ansatz als zuvor. Es war immer die Ideevon Schengen – sie war richtig –, daß wir in der Frageder Kriminalitätsbekämpfung eine Kompensation brau-chen. Deshalb ist das, was auf diesem Gebiet geschiehtund geschehen wird, von großer Bedeutung.Ich glaube, auch hier ist von Herrn Rüttgers völligübersehen worden, was wir an diesem Punkt währendder deutschen Präsidentschaft erreicht haben. Es ist unsnämlich nach schwierigen Vorarbeiten gelungen, daßEuropol seine Arbeit am 1. Juli aufnehmen konnte. Ichhabe keinen Anlaß zu zögern, Herrn Kanther für dieVorarbeiten, die von der alten Bundesregierung zu die-sem Thema geleistet worden sind, meinen Dank zu sa-gen. Das gebietet die Fairneß. Aber Sie sollten umge-kehrt die Fairneß aufbringen zu sagen, daß es ein Erfolgder deutschen Präsidentschaft ist, daß Europol seine Ar-beit aufnehmen konnte.
Herr Kollege Kanther, dazu muß ich eines bemerken:Die Finanzierungsgrundlagen haben wir zustande ge-bracht. Die haben Sie leider nicht erreicht. Das tadle ichnicht; verstehen Sie mich nicht falsch. Aber daß eine Fi-nanzierung gesichert ist, ist uns gelungen.Frau Jelpke, Sie haben gesagt, es gebe einen Infor-mationsaustausch nur über illegale Zuwanderung. Eineillegale Zuwanderung ist übrigens sehr stark mit Krimi-nalität vermischt. Das wissen vielleicht auch Sie.Schleuserbanden sind Schwerkriminelle; damit das klarist. Aber es gibt natürlich auf europäischer Ebene längsteinen Informationsaustausch im Rahmen der Kriminali-tätsbekämpfung. Dazu gehört auch Europol.Wichtig ist, daß wir uns in Tampere mit dem Vor-schlag durchsetzen konnten, eine europäische Polizei-akademie zu errichten. Man sollte die Bedeutung diesesVorhabens nicht unterschätzen. Denn es kommt sehrwesentlich darauf an, daß die europäische Polizei ge-meinsam ausgebildet wird. Wir haben bei der Bekämp-fung der Geldwäsche Fortschritte erreicht. Wir haben er-reicht – das ist sehr zu begrüßen –, daß es in Zukunft ei-ne operative Task Force der europäischen Polizeichefsgeben wird. Es gibt eine Vielzahl von anderen Details,die wir nicht geringschätzen sollten.Sie fahren mit Ihrer Kritik dann am besten, wenn Siekonstruktive Vorschläge machen. Solche Vorschlägesind immer willkommen. Aber Sie sollten das in einergemeinsamen Anstrengung erreichte Ergebnis diesesGipfels – dies war ein Gipfel, der sich zum erstenmalnur der Innen- und Justizpolitik auf europäischer Ebenegewidmet hat – wahrlich nicht geringschätzen, sondernes in seiner Bedeutung anerkennen. Wenn Sie noch ander Regierung wären, würden Sie heute ganz anders vondiesem Pult aus sprechen, als Sie es heute getan haben.Aber daß Sie jetzt so darüber sprechen, liegt daran, daßSie von der Regierung in die Opposition gewechseltsind. Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Ich bin einMensch, der Superlative normalerweise scheut. Aber dieEuropäische Union ist für mich – das ist mein vollerErnst – die größte Erfolgsgeschichte des ausgehendenJahrhunderts.
Deshalb haben wir Grund, dankbar zu sein, daß Europazu einem Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicher-heit geworden ist. Die deutsche Bundesregierung fühltsich der Verantwortung verpflichtet, diesen Raum derFreiheit, des Rechts und der Sicherheit zu erhalten undauszubauen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Herr BundesinnenministerSchily, niemand hat heute bestritten, daß in Tampere ge-rade auch im Bereich der Rechtspolitik eine ganze Reihevon positiven Dingen erreicht worden ist. Sie könnenaber mit noch so viel wortreichen Erklärungen nichtdarüber hinwegtäuschen, daß in dem entscheidenden Be-reich der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen, woSie seit vielen Monaten gebetsmühlenartig die Forde-rung nach einer Quotenregelung nach Lastenteilung und„burden sharing“ vor sich hertragen, kein einziger wirk-licher Fortschritt erreicht worden ist. Der einzige dies-bezügliche Satz in den Schlußfolgerungen, nämlich der,daß über irgendeine Form von Finanzreserve nachge-dacht werden soll, birgt das Risiko, daß möglicherweiseein Fonds eingerichtet wird, in den im wesentlichenDeutschland einzahlt und der zum allergrößten Teil inanderen Ländern ausgezahlt wird. Sie haben in diesemBereich keine Erfolge nach Hause gebracht, und Siesollten wenigstens den Mut haben, dies vor diesem Ho-hen Hause auch zuzugeben.
Meine Damen und Herren, daß der Gipfel von Tam-pere überhaupt möglich war und daß wir heute wieselbstverständlich über eine europäische Innen- undBundesminister Otto Schily
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Rechtspolitik diskutieren, das hat einen ganz entschei-denden Grund: Das hängt mit einer Entscheidung zu-sammen, die vor 15 Jahren von Francois Mitterrand undvon Helmut Kohl herbeigeführt worden ist, nämlich mitder Entscheidung, die europäischen Grenzen zu öffnenund die Grenzkontrollen abzuschaffen. Gerade als Ab-geordneter aus einer Grenzregion, aus dem Saarland,kann ich beurteilen, wie wichtig es für die europäischeIdentität der Menschen ist, daß in einem Zeitraum von15 Jahren Grenzkontrollen, Stacheldraht und Schlag-bäume völlig verschwunden sind. Dieser Prozeß, derSchengen-Prozeß, war der Ausgangspunkt dafür, daßwir heute überhaupt darüber sprechen, wie wir auf euro-päischer Ebene grenzüberschreitende Banden- und Dro-genkriminalität, Schleuserkriminalität und vieles anderewirksam bekämpfen können.Der Beschluß zur Abschaffung der Grenzkontrollenwar historisch genauso wichtig wie die Beschlüsse überdie Einführung des Euro oder des Binnenmarktes.
Natürlich hat nicht die Abschaffung der Grenzkontrollendazu geführt, daß Europa unsicherer geworden ist. Dashat seine Ursache in der Internationalisierung der Kri-minalität durch technischen Fortschritt und Globalisie-rung. Aber der Wegfall der Grenzkontrollen hat uns ge-zwungen, darüber nachzudenken, wie wir die Sicherheitder Bürger in der Europäischen Union effektiv ge-währleisten können.Es geht nicht nur um die Sicherheit vor Kriminalität.Es gehört zu den entscheidenden Errungenschaften desmodernen Rechtsstaats, daß die Bürger nicht nur be-stimmte Rechte haben, sondern diese auch geltend ma-chen und einklagen können, und zwar in einem ange-messenen Zeitraum. Genau dies ist im europäischenBinnenmarkt eben nicht mehr gewährleistet. Wir könnenkeinem Bürger in Europa verständlich machen, warumein Prozeß mit Beteiligten aus Maastricht und Aachen,wo die Entfernung ganze 30 Kilometer beträgt, zwei-bis dreimal so lange dauert wie ein Prozeß mit Beteilig-ten aus Hamburg und München, wo die Entfernung800 Kilometer beträgt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Bitte sehr.
Herr Kollege Altmaier, Sie ha-
ben beklagt, auf dem Gebiet des Solidarausgleichs sei
nichts gelungen. Was die Quotenregelung angeht, ist das
sicherlich richtig. Ist Ihnen aber nicht aufgefallen, daß es
während der Kosovo-Krise gerade durch den Einsatz der
deutschen EU-Präsidentschaft gelungen ist, einen durch-
aus beachtenswerten Lastenausgleich zu erreichen, in-
dem von den insgesamt 94 000 aus Mazedonien evaku-
ierten Kosovo-Flüchtlingen etwa 15 000 nach Deutsch-
land gekommen sind, also rund 80 000 von anderen
Ländern aufgenommen wurden? Können Sie dies aner-
kennen? Ist Ihnen bekannt, daß auch der UNO-
Flüchtlingskommissar die deutsche Bundesregierung
ausdrücklich dafür gelobt hat, daß es auf Grund ihres
Einsatzes gelungen ist, andere Länder zu animieren, be-
achtliche Anstrengungen für die Unterbringung dieser
Flüchtlinge auf sich zu nehmen?
Herr Bundesminister
Schily, ich bin der Auffassung, daß die gesamte Art und
Weise, wie wir den Kosovo-Konflikt bewältigt haben,
eine großartige Leistung der Europäer insgesamt als
auch der NATO ist. Auch daß es bei der Aufnahme von
Bürgerkriegsflüchtlingen aus den Gebieten der ehemali-
gen Republik Jugoslawien gelungen ist, ein Verfahren
zu praktizieren, das den Problemen in etwa angemessen
war, ist eine gemeinsame Leistung der Europäer. Dazu
haben wir Deutsche unseren Beitrag geleistet, und zwar
parteiübergreifend, daß heißt: mit Unterstützung von
CDU und CSU. Genau dies ist anerkannt worden.
Worum es aber geht, Herr Bundesinnenminister, ist
– das haben Sie persönlich eingefordert –, daß wir in der
Europäischen Union zur Kenntnis nehmen müssen, daß
zu einer zusammenwachsenden Union auch das prinzi-
pielle Anerkenntnis gehört, daß die Lasten, die sich aus
solchen Bewegungen ergeben, geteilt werden. Mit Aus-
nahme des vagen Hinweises auf einen eventuellen Fonds
ist in diesem Dokument mit 62 Einzelpunkten leider
Gottes kein einziges Wort dazu zu finden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Alt-
maier, gestatten Sie eine zweite Frage des Abgeordneten
Schily?
Mit Vergnügen.
Herr Kollege Altmaier, ich wi-
derspreche Ihnen nicht: Eine Quotenregelung ist nicht
gelungen. Wahrscheinlich sind die Möglichkeiten auch
nicht allzu groß, dies zu erreichen. Das hat bereits die
alte Bundesregierung feststellen müssen.
Ich möchte mit meiner zweiten Frage vor einem Miß-
verständnis warnen: Ist Ihnen bekannt, daß es gerade die
deutsche Bundesregierung war, die in Tampere verhin-
dert hat, daß es einen Flüchtlingsfonds gibt, weil wir
nicht zu dem Ergebnis kommen wollen, daß es einerseits
keine Quotenregelung gibt und wir die höchste Zahl der
Flüchtlinge aufnehmen, wir gleichzeitig aber in einen
Flüchtlingsfonds das meiste Geld einzahlen?
Das sind allgemein be-kannte Feststellungen, Herr Bundesminister. Das täuschtaber nicht darüber hinweg, daß wir in der eigentlichenFrage, die deutschen Interessen betreffend, nichts er-reicht haben.Nun zwingen Sie mich, auch zu einem Punkt, den icheigentlich nicht ansprechen wollte, Stellung zu nehmen:Peter Altmaier
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5594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Es ist kein Zufall, daß Sie in den entscheidenden Fragender Innenpolitik, im Gegensatz etwa zu Fragen aus demBereich der Rechtspolitik, in Tampere sehr wenig er-reicht haben. Die Unfähigkeit der Bundesregierung, einekohärente Linie etwa im Hinblick auf ein künftiges eu-ropäisches Asylrecht zu formulieren, hängt mit denvöllig unterschiedlichen Auffassungen zwischen SPD,Grünen und ihren diversen Flügeln zusammen. DieseUneinigkeit im Innern macht sie unfähig, nach außeneine kohärente Linie zu verfolgen. Deshalb haben Sie inTampere bei der Durchsetzung Ihrer Interessen keinenErfolg gehabt.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf die Not-wendigkeit zurückkommen, den europäischen Binnen-markt, den wir in wesentlichen Teilen vollendet haben,durch einen europäischen Rechtsraum zu ergänzen.Dieses Vorhaben steckt bislang noch in den Kinder-schuhen. Wir müssen den Nachweis erbringen, daß dieeuropäische Integration nicht nur zu nicht wenigerRechtsschutz führt, sondern tatsächlich auch zu bessererVerbrechensbekämpfung und zu mehr Rechtsgewährungfür die Bürger beiträgt. Um das zu erreichen, brauchenwir nicht alle Bereiche der Innen- und Rechtspolitik ein-heitlich zu regeln, die bisher in die nationale Zuständig-keit fallen. Wir brauchen kein einheitliches europäischesStrafgesetzbuch, wir brauchen kein europäisches BGB.Wir müssen nicht vom Mundraub bis zum Nießbrauchalles über einen Kamm scheren. Wir sollten es auchnicht tun, weil unterschiedliche rechtliche Regelungenauch Ausdruck von unterschiedlichen Mentalitäten, Tra-ditionen und historischen Gegebenheiten sind.
Deshalb sollten wir in diesem Bereich das Subsidia-ritätsprinzip anwenden. Das heißt, es kommt nicht sosehr darauf an, daß wir das Recht selbst vereinheitli-chen, sondern es kommt darauf an, daß wir die Anwen-dung des Rechts vereinheitlichen. Es darf keine Europa-Dividende für Kriminelle und keine europäischen Straf-barkeitslücken geben. Deshalb muß zum Beispiel fest-stehen, welches Land für die Verfolgung von Straftäternzuständig ist. Es muß feststehen, welches Recht ange-wandt wird, und es muß anerkannt werden, daß Doku-mente, die in einem Land ausgestellt werden, auch inanderen Mitgliedstaaten Gültigkeit haben. Leider wur-den, Frau Bundesjustizministerin, bei dem wichtigenVorhaben des europäischen Rechtshilfeübereinkom-mens gerade während der deutschen Präsidentschaftkaum Fortschritte erreicht. Es stand ja auf der Prioritä-tenliste Ihrer Präsidentschaft weit oben, konnte aberbislang leider nicht zum Abschluß geführt werden.Die Bilanz der Bundesregierung im Bereich der euro-päischen Innen- und Rechtspolitik ist – Herr KollegeRüttgers hat es schon gesagt – in der Tat eher ernüch-ternd. Sie haben keine einzige neue Idee, keinerlei Vi-sionen und kein Strukturprinzip in die Debatte einge-führt, das uns in irgendeiner Weise vorangebracht undüber das hinaus geführt hätte, wozu in den Verträgenvon Maastricht und Amsterdam der Grund gelegt wor-den ist oder was Sie bei Amtsantritt in den Schubladender alten Bundesregierung vorgefunden haben.
Der einzige Punkt, den wir vorbehaltlos unterstützenund an dem alle Fraktionen dieses Hauses von Anfang anmitgearbeitet haben, ist die europäische Grundrechts-charta. Wir glauben in der Tat, daß es sich um ein bahn-brechendes Vorhaben für die europäische Einigung han-delt, daß es Sinn macht, unsere gemeinsamen europäi-schen Werte und Überzeugungen in einem herausragen-den Dokument zusammenzufassen, das dann nicht nurfür die Europäische Union Bedeutung hat, sondern weitdarüber hinaus auch international für Menschenrechts-bewegungen, für junge Demokratien, für unterdrückteVölker in Diktaturen ein Beispiel ist, an dem man sich inSachen Menschenrechtsschutz orientieren kann. Freiheit,Demokratie und Menschenrechte sind europäische Erfin-dungen, die sich inzwischen zu einem weltweiten Ex-portschlager entwickelt haben. Wir können mit der euro-päischen Grundrechtscharta dazu beitragen, daß dies sobleibt und in Zukunft noch deutlicher wird.Herr Bundesaußenminister – er ist im Augenblickleider nicht hier –, entscheidend ist nicht so sehr, wieman zu den Panzerlieferungen an die Türkei steht, vondenen Sie ja ganz offensichtlich etwas überrollt wordensind. Es ist aber ein starkes Stück, daß die Menschen-rechtspolitik der rotgrünen Bundesregierung inzwischenoffenbar auf die Ebene von Geheimdiplomatie herabge-sunken ist. Sie trauen sich ja gar nicht mehr, öffentlichPosition zu beziehen, weil der Bundeskanzler bei jederGelegenheit den Eindruck erweckt, daß er derartige Fra-gen nicht als Herzensanliegen, sondern eher als unlieb-sames Hindernis für den Außenhandel betrachtet.Wir begrüßen und unterstützen die europäischeGrundrechtscharta auch deshalb, weil wir glauben, daßsich mit Blick auf die Zusammensetzung des Konvents,der zu ihrer Erarbeitung eingesetzt wurde, für die Euro-päische Union die Möglichkeit bietet, neue Wege zu be-schreiten. Wir haben erreicht – Herr Kollege Meyer, ichmöchte Ihr Engagement in diesem Bereich ausdrücklichpositiv würdigen und hervorheben; wir haben imRechtsausschuß und im Europaausschuß seit vielen Jah-ren gemeinsam für dieses Ziel gekämpft –, daß bei die-sem Konvent insbesondere auch die Parlamente einewichtige Rolle spielen und eben nicht nur die Regierun-gen wie üblicherweise auf Regierungskonferenzen. Überdie Parlamente werden auch die Bürger einbezogen.Dies ist ein neues Element und kann Modell für die zu-künftige Arbeit der Europäischen Union insgesamt sein.Im übrigen werden wir im Zusammenhang mit derAusarbeitung der Grundrechtscharta auch darüber nach-zudenken haben, wie wir in der künftigen EuropäischenUnion die Kompetenzen verteilen.Die Grundrechtscharta, die Regierungskonferenz zuinstitutionellen Reformen, die anstehende Erweiterungder Union sind Themen, die uns unmittelbar zur Frageführen: Wie soll denn die Europäische Union in 10 oder20 Jahren aussehen? Es gibt viele Bürger, die Angst voreinem europäischen Superstaat haben, der alle Entschei-dungen zentral in Brüssel trifft. Andere wollen unver-Peter Altmaier
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hohlen eine Renationalisierung, indem sie die Europäi-sche Union zu einer großen Freihhandelszone machenwollen.Wir wollen weder das eine noch das andere. Deshalbist es notwendig, daß wir uns im Rahmen eines europäi-schen Verfassungsvertrages – dies ist seit langem eineForderung der CDU und wird auch in dem Bericht derHerren Dehaene, Richard von Weizsäcker und Lord Si-mon angeregt – Klarheit darüber verschaffen, was wirauf europäischer Ebene, auf der Ebene der Mitglied-staaten und der Ebene der Bundesländer und Gemeindentun. Ein solches Vorgehen wäre gut für die EuropäischeUnion und auch gut für die Mitgliedstaaten. Ich möchteSie ausdrücklich auffordern, daß Sie Ihren Wider-stand in dieser Frage aufgeben und mit uns gemein-sam auf einen europäischen Verfassungsvertrag hinar-beiten.Der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheitund des Rechts wird kommen – durch den Vertrag vonMaastricht und den Vertrag von Amsterdam sind dieGrundlagen dafür gelegt –, unabhängig davon, wie er-folgreich oder erfolglos die Bundesregierung in den ein-zelnen Bereichen agieren wird.
Wir möchten Ihnen anbieten, daß wir am Zustande-kommen dieses Vertrages gemeinsam arbeiten. Es gibteine Tradition in diesem Haus, daß wir bei allen grund-legenden europäischen Fragen an einem Strang ziehenund daß wir diese Fragen im Konsens behandeln. DiesenKonsens sollten wir auch beim Thema Grundrechts-charta und beim Thema europäische Innen- und Rechts-politik im Interesse unserer Bürger praktizieren.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin istdie Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Tampere hat im Bereich der Migrationspolitikwichtige und richtige Signale ausgesandt.Wichtig ist das Signal, daß sich die Europäische Uni-on um die Integration der dauerhaft und rechtmäßighier lebenden Ausländer bemühen will. Dies ist tatsäch-lich eine gesamteuropäische Aufgabe. Es geht auf Dauernicht an, daß Waren und Dienstleistungen zwar dieeuropäischen Grenzen problemlos überschreiten können,daß dies aber Arbeitnehmern aus Drittstaaten verweigertwird. Warum sollte sich ein türkischer Arbeitnehmer,der zum Beispiel seit 20 Jahren in Deutschland arbeitet,nicht eine Arbeit in Frankreich suchen? Wenn wir amgemeinsamen Haus Europa bauen, sollten wir die Men-schen, die seit Jahren zu uns gehören, nicht als Angehö-rige von Drittstaaten außen vorlassen, sondern in daseuropäische Haus mit hineinnehmen.
Noch wichtiger ist ein zweites Signal. Flüchtlings-politik ist für die Europäische Union Menschenrechts-politik und keine Politik der Abschottung. In diesemZusammenhang gibt es auch hier in Deutschlandnoch sehr viel zu tun. Wir brauchen einheitliche materi-elle Standards im europäischen Asylrecht. Flüchtlingeaus Algerien, Somalia und Afghanistan bekommenin anderen Mitgliedstaaten der Europäischen UnionAsyl, so zum Beispiel in Großbritannien, in Norwe-gen, in Schweden und Österreich, aber auch in derSchweiz.In der Bundesrepublik Deutschland hingegen ist eineAnerkennung dieser Flüchtlingsgruppen so gut wie aus-geschlossen. Sie laufen sogar Gefahr, daß das Asylge-such mit dem für die Betroffenen niederschmetterndenUrteil „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wird. Dasdarf nicht mehr sein!
Dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen ein einheitlichesAsylrecht in Europa. Das, was hier von der PDS als Be-fürchtung geäußert wurde, nämlich daß sich der Stan-dard des Asylrechts dann nach unten bewegen würde,ist, wie ich gerade an diesem Beispiel gezeigt habe,nicht richtig.Die Harmonisierung des Asylrechts ist kein Selbst-zweck. Sie ist ein wichtiger Schritt zu einem Europa derFreiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Eine Harmoni-sierung muß aber auch der Verwirklichung von Men-schenrechten dienen. Eine Harmonisierung darf sichdeshalb nicht in der Regelung von Verfahren und Zu-ständigkeiten erschöpfen, sondern muß auch eine ver-bindliche Vereinbarung über Kriterien für die Anerken-nung von Flüchtlingen beinhalten.Ich begrüße deshalb das klare und völlig uneinge-schränkte Bekenntnis des Europäischen Rates in Tampe-re zur Genfer Flüchtlingskonvention und zu anderenMenschenrechtsübereinkünften. Daß dies nicht selbst-verständlich ist, wissen wir seit Erscheinen des unglück-seligen Strategiepapiers aus Österreich, das eine Zeit-lang in Europa herumgegeistert ist.Die materielle Harmonisierung des Asylrechts bietetzugleich die Chance für dringend erforderliche Verbes-serungen auch in Deutschland. Die Genfer Flüchtlings-konvention und ihre Interpretation durch den HohenFlüchtlingskommissar der Vereinten Nationen bieteneine verbindliche, bewährte und gute Grundlage. Dabeigeht es dann nicht darum, ob die Europäische Union dasdeutsche Asylrecht akzeptiert oder nicht. Vielmehr gehtes um die Frage: Haben wir in Deutschland, geradeauch im europäischen Vergleich, Lücken beim Schutzvon Flüchtlingen? Ich meine, wir haben solche Lücken,und möchte dies anhand von zwei Punkten deutlich ma-chen.Nichtstaatliche Verfolgung muß asylrelevant sein.
Sie muß im Asylverfahren berücksichtigt werden undsollte in vielen Fällen zu einer Anerkennung als Flücht-Peter Altmaier
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5596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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ling führen. Dies ist in Deutschland bislang nicht derFall. Asylanträge von Opfern schwerster Menschen-rechtsverletzungen werden abgewiesen, weil diese – sodie Rechtsprechung bei uns – nicht von staatlichen, son-dern von quasistaatlichen Autoritäten mißhandelt wor-den sind. Deswegen erhalten Schutzsuchende zum Bei-spiel aus Somalia, Afghanistan oder Algerien bei unsin Deutschland kein Asyl. Dies führt im Einzelfall oft zuunerträglichen Ergebnissen. Der Bundesinnenministerhat dies in einem Interview im „Spiegel“ zu Recht alsbizarr bezeichnet.Die mangelnde Berücksichtigung nichtstaatlicherVerfolgung in deutschen Asylverfahren – auch im Zu-sammenhang mit der Verfolgung von Frauen – wirdnoch in diesem Herbst Gegenstand einer Anhörung imMenschenrechtsausschuß des Deutschen Bundestagessein. Ich freue mich auf diese Anhörung; denn wirbrauchen sie, um uns in sorgfältiger Weise auf Grund-lagen zu verständigen, die wir gemeinsam tragen wol-len.Der asylrechtliche Schutz von Kriegsdienstverwei-gerern und Deserteuren, die sich völkerrechtswidrigenHandlungen entziehen wollen, sollte ebenfalls verbessertwerden. Der Europäische Rat hat in einem Gemeinsa-men Standpunkt vom März 1996 zur Auslegung desArt. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention in dieser Rich-tung erfreuliche Zeichen gesetzt. Ich erwarte eine ent-sprechende Verankerung auch in dem Rechtsinstrumentder Europäischen Union zur materiellen Harmonisierungdes Asylrechts. Ich habe sehr bedauert, daß sich dieMitgliedstaaten der Europäischen Union während desKosovokrieges nicht dazu durchringen konnten, Deser-teuren und Kriegsdienstverweigerern aus Jugoslawienein großzügiges Asylangebot zu machen. Ein solchesAngebot hätte helfen können, die jugoslawische Armeeauch ohne Waffeneinsatz zu schwächen.Die Regelungen zur Gewährung vorübergehendenSchutzes dürfen nicht zu einer Aushöhlung des Asyl-rechts führen. Wir alle wissen, daß wir gut beraten sind,wenn wir über ein Institut des vorübergehenden Schut-zes nachdenken. Allerdings, wie gesagt, dürfen wiruns damit nicht auf die schiefe Bahn begeben, die Gen-fer Flüchtlingskonvention oder das Asylrecht auszuhe-beln.Es geht nicht darum, eine Festung Europa zu bauen.Das müssen wir in den wohlhabenden europäischenStaaten immer wieder deutlich machen, und dies hat derBundeskanzler in der Pressekonferenz zu Tampere sehrdeutlich herausgestellt. Es geht darum, ein europäischesAsylrecht zu schaffen, das die menschenrechtliche Tra-dition Europas sichtbar fortführt. Um es auf eine Kurz-formel zu bringen: Schutzsuchende aus Somalia, Algeri-en und Afghanistan sollten in der Europäischen Uniondauerhaften Schutz erhalten, egal, ob sie ihren Asylan-trag in Porto oder in Pankow stellen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
Die Letzten werdendie Ersten sein!Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es gehört zum üblichen Ritual nach Regie-rungskonferenzen wie der, die jetzt in Tampere stattge-funden hat, daß alle Regierungschefs mit ihren Mi-nistern in ihr Land zurückfahren und dort Erklärungenabgeben, wie wichtig dieser Gipfel war, wie erfolgreichdie Beschlüsse waren, daß natürlich die nationalen In-teressen zu nahezu 100 Prozent durchgesetzt wordensind und daß dieser Gipfel insbesondere durch ihrenBeitrag so erfolgreich geworden ist.Die Debatten, die danach in allen nationalen Parla-menten der Europäischen Union stattfinden, laufen im-mer so ab, daß die Regierung diese Erklärung abgibt unddaß versucht wird, die Kritik der Opposition daran alsreine Mäkelei abzutun. So ist das Ritual. Das habe ichvor dem Regierungswechsel als Koalitionsabgeordneterauch jahrelang erlebt.Ich möchte dies in einem Punkt durchbrechen: Ichmöchte feststellen, daß der Regierungsgipfel in Tampereinsgesamt ein wichtiger Gipfel war. Er ist – das ist schonmehrfach gesagt worden – durch den AmsterdamerVertrag angelegt worden. Es gab wichtige zielführendeBeschlüsse. Er hätte in vielen Punkten weiter gehen undkonkreter sein können. Aber es ist normal, daß sich 15Regierungschefs nicht hundertprozentig auf das einigenkönnen, was eine Nation als wichtig und entscheidendansieht. Allerdings möchte ich auch darauf hinweisen,daß viele konkrete Beschlüsse und konkrete Ziele, dieerreicht werden konnten, entscheidend mit der Vorbe-reitungsarbeit der Regierung unter Helmut Kohl zu tunhaben.Ich möchte darauf eingehen, daß dort die Beschlüssedes Amsterdamer Vertrages zu Europol in klarer Form,wie es notwendig war, und in der Hoffnung, daß sie um-gesetzt werden, weitergeschrieben werden. Für mich istbesonders wichtig, daß Europol in die Lage versetztwerden soll, operative Daten von Mitgliedstaaten zu er-halten, die Mitgliedstaaten um Ermittlung ersuchen undgemeinsame Ermittlungsteams einzurichten. Beim Re-gierungsgipfel in Tampere sind die Rechte Europols alszentraler Stelle bei der Prävention, Ermittlung undAnalyse von Straftaten gestärkt worden. Wenn dieseBeschlüsse so, wie es dort vorgegeben worden ist,bald umgesetzt werden, wird die europäische Ver-brechensbekämpfung effizienter gestaltet werden kön-nen. Dies ist ein wichtiges Anliegen der EuropäischenUnion und ihrer Bürger. Wir unterstützten dieses Anlie-gen.
Marieluise Beck
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Allerdings werden wir als Parlamentarier auch daraufachten, daß diese Beschlüsse möglichst bald umgesetztwerden.In einem anderen wesentlichen Bereich der Beschlüs-se von Tampere, nämlich bei der Gewährung von Asylund der Migration Drittstaatsangehöriger, teile ich al-lerdings die Auffassung des Bundesinnenministers nicht.Die Ergebnisse, die dort erzielt worden sind, sind imwesentlichen nur eine Wiederholung dessen, was längstauf der Innen- und Justizministerkonferenz 1995 be-schlossen worden ist. Weiter vorangebracht worden istletztlich nichts. Seit dieser Zeit ist nichts passiert. DieseBeschlüsse sind auch nicht sehr zielführend und relativunkonkret. Selbst bei den Zeiträumen, die für die Um-setzung gesetzt worden sind, weiß man überhaupt nicht,in welchem Rahmen und mit welcher Zielsetzung etwasumgesetzt werden soll.
Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Sie,Herr Bundesinnenminister, angesprochen haben, undzwar ist das die für die Bundesrepublik Deutschlandwirklich entscheidende Frage der gerechten Lastenver-teilung, des sogenannten „burden sharing“. Meine The-se, die ich begründen will, ist: Es gab auf dem Gipfelnicht nur kein Ergebnis im Sinne einer Verbesserung derSituation, sondern die Bundesregierung hat sogar einemErgebnis zugestimmt, das die Situation für Deutschlandletztlich verschlechtern wird. Das ist die Hauptproble-matik in diesem Bereich.Lassen Sie mich das kurz begründen und zunächst einpaar Worte zur Problemanalyse sagen. Seit Beginn derJugoslawien-Krise, also seit ungefähr sechs Jahren, istder überwiegende Teil der Flüchtlinge von dort nachDeutschland gekommen. Nun habe ich eine Statistikvom Mai dieses Jahres hinsichtlich des Kosovo-Konflikts. Aus dieser Statistik ergibt sich, daß die Ver-teilung der Flüchtlinge aus dem Kosovo in der Tat vielbesser für Deutschland ist, aber das Mißverhältnis istnoch immer eklatant. Deutschland hat bis zum Mai fak-tisch knapp 10 000 Flüchtlinge aufgenommen, Frank-reich unter 2 000 und Großbritannien – man höre undstaune – 330. Damit hat Großbritannien weniger als dieHälfte der Flüchtlinge aufgenommen, die ein Land mitwirklich großen Problemen, nämlich Polen, aufgenom-men hat; in Polen waren es 670 Flüchtlinge. Das Miß-verhältnis bei der Verteilung der Flüchtlinge aus Bos-nien-Herzegowina, der Srpska und Kroatien war nochwesentlich größer.Dieses Thema ist also von entscheidender Bedeutung.Nach allgemeinen Schätzungen haben wir noch heute inDeutschland ungefähr 180 000 Flüchtlinge jugoslawi-scher Herkunft. Seriöse Schätzungen gehen davon aus,daß es noch deutlich mehr sind. Das ist auch ein Ko-stenpunkt, der wirklich alles andere als unerheblich ist.In den anderen großen Mitgliedsländern der Europäi-schen Union gibt es gerade einmal ein paar hundert odermaximal ein paar tausend Flüchtlinge, die versorgt wer-den müssen.Weil dieses Problem bekannt ist, ist in Art. 63 2b desAmsterdamer Vertrages festgehalten worden, daß indieser Frage möglichst bald, innerhalb von fünf Jahren,Regelungen für eine „ausgewogene Verteilung der Be-lastung“, wie es dort wörtlich heißt, gefunden werdenmüssen.
– Darauf möchte ich jetzt eingehen und das kurz be-gründen. Dann gehe ich gerne auf Ihre Zwischenfrageein.Wenn wir jetzt lesen, was in Tampere verabschiedetworden ist, müssen wir feststellen, daß das eine Abkehrvon dieser richtigen Zielstellung ist. Da steht nämlichwörtlich:Der Europäische Rat ist der Ansicht, daß geprüftwerden sollte, ob nicht bei massivem Zustrom vonFlüchtlingen zwecks vorübergehender Schutzge-währung irgendeine Form von Finanzreserve be-reitgestellt werden könnte. Die Kommission sollentsprechende Möglichkeiten sondieren.Das Problem ist folgendes: Wir können in der jetzi-gen Situation eigentlich nur hoffen, daß die Kommissionbei ihrer Suche nach irgendeiner Finanzreserve nichtfündig wird. Denn wird sie fündig, läuft das nach demüblichen europäischen Modell so ab: Diese Finanzre-serve wird durch das europäische Finanzierungssystemgespeist. Der Nettosaldo Deutschlands beträgt dort über60 Prozent. Deutschland trägt also im Prinzip die Bela-stung mit dieser Reserve zu über 60 Prozent, bekommtaber nur vielleicht 20 oder 30 Prozent zurück. Das heißt,wenn die Beschlüsse so, wie diese Bundesregierung ih-nen zugestimmt hat, umgesetzt werden, wird es zu einerfinanziellen Mehrbelastung in Deutschland kommen,nicht zu einer Entlastung.
Dies halte ich für problematisch, obwohl ich durchausweiß, wie schwer es ist, in dieser Frage andere Be-schlüsse herbeizuführen.Auch aus Ihrer Koalition sind andere Gesichtspunktebekannt. Herr Kollege Meyer, Sie haben das Problembei der letzten COSAC in Helsinki vorgetragen. Wir ha-ben beide gemerkt, daß wir kein positives Echo bei denanderen Delegationen hatten. Auch Frau Kollegin Rothhat von notwendigen Ausgleichszahlungen der Länder,die wenige oder keine Flüchtlinge aufnehmen, für dieLänder, die viele Flüchtlinge aufnehmen, gesprochen.Dort gibt es eine falsche Weichenstellung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Stüb-
gen, bevor Sie jetzt mit den einzelnen Kolleginnen und
Kollegen in einen Dialog treten, frage ich Sie jetzt, ob
Sie die Frage des Kollegen Schily zulassen.
Ich wollte das ge-
rade tun. Bitte schön.
Herr Kollege Stübgen, weil SieIhren Beitrag in sehr sachlicher Form halten, wollte ichMichael Stübgen
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5598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Ihnen die Frage stellen, ob Sie bei Ihrem Zahlenstudiumauch entdeckt haben, daß andere Länder im Vergleichzur Bundesrepublik sehr viel mehr Flüchtlinge aufge-nommen haben, wenn man zum Beispiel die Zahl derFlüchtlinge aus dem Kosovo ins Verhältnis zur Bevölke-rungszahl setzt. Österreich hat beispielsweise mehrFlüchtlinge aufgenommen als Bayern. Sind Sie mit mireiner Meinung, daß es ein wichtiges Ergebnis einer er-folgreichen Krisenbewältigung war, daß es uns gelungenist, in Europa gemeinsam dafür zu sorgen, daß die ausdem Kosovo vertriebenen Flüchtlinge in erster Linie inden angrenzenden Ländern untergebracht worden sind?Können Sie mir auch zustimmen, daß wir – bei allerKritik hinsichtlich der Quotenregelung, die ich verstehenkann – bei dieser Krise, was die Belastung Deutschlandsangeht, ein sehr viel besseres Ergebnis erreicht haben alsdie damalige Bundesregierung, was Bosnien-Herze-gowina angeht? Ich tadele das nicht; nicht, daß Sie michmißverstehen. Vielleicht war die Situation damals eineandere; ich will da nicht selbstgerecht sein. Aber imVergleich zu der damaligen Situation haben wir einesehr viel bessere Verteilung erreicht.
Herr Kollege, ich
beginne mit der dritten Frage: Hier stimme ich dem, was
Sie gesagt haben, zu.
Zur zweiten Frage: Die von Ihnen angesprochene
Zielsetzung – sie ist von der CDU/CSU immer unter-
stützt worden –, die Flüchtlinge, soweit es geht, im
engeren Raum unterzubringen, ist ebenfalls völlig rich-
tig.
Zur ersten Frage aber noch eine kurze Anmerkung:
Auf Grund der kurzen Redezeit habe ich dieses Problem
nicht genannt. Es gibt in der Europäischen Union in der
Tat Länder, die durch die Aufnahme von Asylbewer-
bern, aber auch von Bürgerkriegsflüchtlingen pro Kopf
etwas stärker belastet sind. Es kommt ja auf den Pro-
Kopf-Vergleich an; man kann von Luxemburg nicht
verlangen, genauso viele Flüchtlinge wie Deutschland
aufzunehmen. Aber mir kommt es in erster Linie – das
kann ich als einfacher Abgeordneter und Oppositions-
politiker vielleicht leichter sagen – auf große Länder der
Europäischen Union an, die nicht Ziel-1-Gebiete sind,
also verhältnismäßig reiche Länder sind, und sich in die-
ser Angelegenheit bislang enorm zurückhalten. Ich habe
die beiden Länder, um die es geht, vorhin schon ge-
nannt.
Deshalb ist die Bundesregierung, wie ich glaube, gut
beraten – wir werden dieses Thema auch noch im Innen-
und im Europaausschuß erörtern –, die Verbündeten dort
zu suchen, wo die Belastungen pro Kopf zum Teil sogar
noch höher als in Deutschland sind. Allerdings wundert
mich, daß Sie bisher nicht erreicht haben, daß diese
Länder mit uns zusammen an diesem Thema arbeiten.
Man sollte versuchen, das noch zu erreichen.
Österreich unterstützt uns seltsamerweise in dieser An-
gelegenheit nicht; zumindest habe ich noch nichts davon
bemerkt. Wie gesagt, es ist wichtig, in dieser Frage Ver-
bündete zu suchen und mit ihnen zusammen offen und
klar die Länder kritisch zu benennen, die sich hier zu-
rückhalten. Sie müssen notfalls auch mit einer Drohku-
lisse dazu geführt werden, ihre solidarischen Pflichten
zu erfüllen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Stüb-
gen, gestatten Sie eine zweite Frage?
Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte, Herr Kollege
Schily.
Herr Kollege Stübgen, ich weiß
nicht, was Sie mit „Drohkulisse“ meinen.
Ich weiß auch nicht, welche
Druckkulisse Sie da aufbauen wollen. Meine Erfahrung
lehrt mich, daß Druckkulissen nicht weiterhelfen.
Ist Ihnen bekannt, daß Österreich ausdrücklich die
Position Deutschlands in der Frage des Solidaraus-
gleichs unterstützt und daß ich mit meinem Kollegen
Schlögl in dieser Frage sehr eng zusammengearbeitet
habe? Ist Ihnen auch bekannt, daß ein Land wie Frank-
reich – Sie wissen, daß die deutsche Bundesregierung
eine besonders enge Zusammenarbeit mit Frankreich
sucht; das findet seinen Ausdruck auch in dem gemein-
sam mit Herrn Kollegen Chevènement erarbeiteten Pa-
pier – mit einem gewissen Recht darauf hinweist, daß es
aus anderen Weltgegenden mit Belastungen versehen ist,
die wir nicht zu tragen haben, und daß es für einen guten
europäischen Geist ausschlaggebend ist, jeweils Ver-
ständnis für die Probleme aufzubringen, die ein anderes
Mitgliedsland in seiner speziellen geographischen Si-
tuation hat?
Ich bin bereit, Ihnenim wesentlichen zuzustimmen; es war ja weniger eineFrage als eine Darstellung. Aber in einem Punkt möchteich konkretisieren, was ich meine und was ich an demErgebnis von Tampere kritisiere. Nach dem Schlußdo-kument des Rates von Tampere – ein anderer Nachweisist nicht erbracht, jedenfalls nicht in der heutigen De-batte; vielleicht kann man das später nachholen – wirdaus der solidarischen Teilung schlimmstenfalls ein Er-gebnis herauskommen, durch das Deutschland wiederüberproportional belastet wird und letztlich offensicht-lich sogar mehr zahlen muß, als wenn es überhauptOtto Schily
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5599
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keinen Ausgleich gäbe. Das halte ich für eine falscheWeichenstellung, und meine dringende Bitte ist, zu ver-suchen, diese falsche Weichenstellung zurückzunehmen.
– Das ist kein völliger Quatsch. Sie sollten sich einmaldas Finanzierungssystem der Europäischen Union ge-nauer anschauen. Möglicherweise haben Sie auch zuge-stimmt oder zustimmen lassen, weil Sie nicht verstandenhaben, worum es im Einzelfall geht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da ichwegen der Zwischenfragen Gelegenheit hatte, wesent-lich länger zu reden, als ich es ursprünglich wollte, be-schränke ich mich jetzt darauf, noch eine kurze Bemer-kung zur Drittstaatsangehörigkeit zu melden. Wir sind uns im Bundestag einig – auch im Europa-ausschuß –, daß die jetzige Situation nicht auf Ewigkeiterhalten bleiben kann. Die Situation ist folgende: Ineinem Mitgliedsland legal lebende Drittstaatsangehörigehaben im Moment nicht einmal Reisefreiheit. Daß dasnach Beseitigung der Schlagbäume an den Grenzennicht aufrechtzuerhalten ist, ist klar. Aber bei dieserProblematik bitte ich künftig zu bedenken: Deutschlandmuß – wenn es zu einer Regelung kommt, wie sie indem Gipfelpapier vorgeschlagen wird, wenn die Rechteder Drittstaatsangehörigen möglichst nah an die Rechteder EU-Bürger angelehnt werden – verhindern, daß eszu einem Sozialtransfer kommt. Dann würden nämlichnicht nur die Niederlassungsfreiheit, das Arbeitsrechtund dergleichen gelten, sondern auch der Zugriff auf dieSozialsysteme wäre voll möglich. Solange die sozialenLeistungsniveaus in der Europäischen Union erheblicheUnterschiede aufweisen, müssen wir dieser Gefahr be-gegnen. Die Zielrichtung ist, wie gesagt, grundsätzlichrichtig. Aber wir müssen aufpassen, daß es hier nicht zueiner zusätzlichen Verschlechterung der finanziellenSituation Deutschlands kommt.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Entschlie-ßungsantrags der Fraktion der PDS auf Drucksache14/1854 vorgeschlagen. An welche Ausschüsse der An-trag überwiesen werden soll, müßten die Geschäftsfüh-rerinnen und Geschäftsführer noch nachreichen, da dieskurzfristig entschieden wurde. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie dieZusatzpunkte 2 bis 4 auf: 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G.Fritz, Wolfgang Börnsen , Hans-Jürgen Doss, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUFür eine umfassende multilaterale Verhandlungs-runde über eine weitere Liberalisierung im Welt-handel– Drucksache 14/1664 –Überweisungsvorschlag:
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Die Bundesregierung hat sich auf dem Gipfel in Kölnbei der Entschuldungsfrage und bei der Erarbeitung ei-ner gemeinsamen EU-Position für die Ministerkonferenzin Seattle nachdrücklich für die ärmsten Entwicklungs-länder eingesetzt und verdient dafür ausdrücklich dieUnterstützung des Deutschen Bundestages.
In Seattle werden wir auch die Grundlagen für eineneue multilaterale Welthandelsrunde festlegen. In man-chen Bereichen sind wir durch vorangegangene Ver-pflichtungen aus dem Marrakesch-Abkommen abernicht mehr frei. Auf der Tagesordnung stehen da zumBeispiel Landwirtschaft sowie Handel und Dienstlei-stungen. Zusätzlich müssen vereinbarungsgemäß zahl-reiche wichtige Abkommen über Anti-Dumping, Streit-schlichtungsverfahren, Importlizenzen, Ursprungsregeln,sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen, technischeHandelshemmnisse und vieles mehr überprüft werden.All dieses hat erhebliche Konsequenzen auch für un-ser Land und seine Arbeitsplätze. Deswegen kann dieWeiterentwicklung der Welthandelsordnung nicht,wie das bei früheren Abkommen vielfach der Fall war,als bloß handelstechnische Abkommen angesehen wer-den – was sie nie waren –, die am besten in den Händender Experten bleiben. Nein, wir, das gesamte deutscheParlament und seine Ausschüsse, müssen uns, anders alsin der Uruguay-Runde, intensiv mit den Vorbereitungenbefassen, und ihre Ergebnisse und die Ausarbeitung desEU-Verhandlungsmandats müssen wir in einen zentralenPunkt unserer parlamentarischen Arbeit verwandeln.
Nach der Ministerkonferenz in Seattle, wenn wirwissen, was genau auf der Tagesordnung stehen wird,wird es an der Zeit sein, sich detailliert mit der Vorbe-reitung eines Verhandlungsmandats der EuropäischenUnion zu befassen. Dies jetzt schon zu tun – ich habedazu in einem Antrag schon viele Details gesehen – er-schiene mir auch verhandlungstaktisch verfrüht. Manmuß nicht schon vor Beginn einer Pokerrunde alle Kar-ten auf den Tisch des Hauses legen.
Gleichwohl muß der Deutsche Bundestag seine Grund-sätze für eine Weiterentwicklung des Welthandelsy-stems definieren und diese dann unserer Regierung fürden Brüsseler Ministerrat und die Konferenz in Seattlemitgeben.Dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß es inWirtschaft und Gesellschaft unseres Landes nicht nurBefürworter einer weiteren Liberalisierung und einesimmer rascheren Strukturwandels gibt, sondern daßviele Menschen in unserem Land – nicht nur diejenigen,die unmittelbar ihre Arbeitsplätze bedroht sehen – mitsteigendem Unbehagen darauf reagieren. Das hat meinesErachtens vier Gründe, über die wir offen reden sollten.Erstens. Es gibt eine weitgehende Unkenntnis in derÖffentlichkeit über die vergangenen Handelsrunden undihre Konsequenzen.Vizepräsidentin Petra Bläss
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5601
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Zweitens. Globalisierung wird in der Öffentlichkeitvielfach als ein unentrinnbares Schicksal begriffen, diewie ein Naturgesetz wirkt. Das ist sie definitiv nicht. DerGlobalisierungsprozeß war ein politisch gewollter Pro-zeß. Er war politisch gestaltbar, und er wird auch in derZukunft politisch gestaltbar sein.Drittens. Ein Problem ist auch, daß der Globalisie-rungsprozeß als Instrument zur Durchsetzung wirt-schaftspolitischer, sozialpolitischer und tarifpolitischerZielsetzungen benutzt wird.Viertens. Der weitgehende Ausschluß der breiten Öf-fentlichkeit von den Verfahrensweisen und vom Inhaltder internationalen Wirtschaftsverhandlungen in derVergangenheit war nicht vertrauensbildend. Das Schick-sal des Multilateralen Abkommens über Investitionen,MAI, der OECD ist ein Beleg dafür, daß Verhandlungenin Geheimkabinetten unter Ausschluß der Öffentlichkeitund der Parlamente schließlich zum Scheitern verurteiltsind.
Deswegen muß die Bundesregierung erstens einegrundlegende Bestandsaufnahme und Analyse der be-stehenden Verträge und Konsequenzen der vergangenenHandelsrunde, der Uruguay-Runde, vornehmen und diebereits vorhandenen Analysen lesbar zusammenfassen –die bisher veröffentlichten dickleibigen Bände helfennormalen Menschen nicht –, um sie einer breiteren Öf-fentlichkeit vorzustellen.Zweitens. Nicht nur der Deutsche Bundestag, sondernauch die interessierte Öffentlichkeit, insbesondere Ge-werkschaften, Wirtschaftsverbände und andere Nichtre-gierungsorganisationen, muß umfassend informiert wer-den. Wir brauchen einen intensiven Dialog, um die Par-tizipation einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu ge-währleisten. Dafür müssen die Transparenz der Welt-handelsorganisation deutlich erhöht und die Beteili-gungsrechte der Nichtregierungsorganisationen deutlichausgebaut werden.Drittens. Wir müssen darauf drängen, daß darauf ver-zichtet wird, Globalisierung als Totschlagargument zumallfälligen Gebrauch zu verwenden. Wer unter Berufungauf den Globalisierungsprozeß Angst macht, muß sichnicht wundern, wenn Abwehrhaltungen und Denkblok-kaden entstehen. Blockaden können wir uns in Zeitenzunehmender weltweiter Interdependenzen und vertief-ter regionaler Integration wirklich nicht mehr leisten.Außerdem kennen der weltweit erhöhte Wettbewerb undder umfassendere und immer schneller verlaufendeStrukturwandel – seien wir ehrlich – auch zukünftignicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Dies mußWiderstände und Bedenken auslösen.Viele dieser Bedenken sind nicht berechtigt, wie ichanfangs schon erklärte; denn wir haben uns im Globali-sierungsprozeß gut behauptet und können dies mit einervernünftigen Wirtschaftspolitik auch weiterhin schaffen.Deswegen ist eine „Politik des stillen Kämmerleins“ erstrecht nicht sinnvoll; vielmehr müssen wir einen Dialogüber unsere zentralen, unmittelbaren Interessen im Hin-blick auf Arbeitsplätze, Branchen, Regionen und Be-dürfnisse der Konsumenten, die wir in der bevorstehen-den Milleniumsrunde vertreten wollen, ebenso führenwie über die Zukunftsfragen des Welthandelssystems,die ja weit über die klassischen Instrumente wie Zölleund Marktzugang hinausgehen. GesellschaftspolitischeWertvorstellungen und Ziele wie Schutz der Umweltund Gesundheit, soziale Gestaltung der Gesellschaft, Si-cherung des Wettbewerbs und kulturelle Vielfalt müssenbei der Gestaltung einer globalen Ökonomie gleichran-gig behandelt werden.
Die Wirtschaft ist nicht das Ziel; sie ist letztlich Die-nerin zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen.Wenn sie das nicht ist, verfehlt sie ihren Zweck. Deswe-gen unterstützen wir Sozialdemokraten die Anstrengun-gen der EU-Kommission, eine umfassende neue Welt-handelsrunde ins Leben zu rufen, die insbesondere eineweitere Ausweitung des Handels zum Nutzen aller Län-der, für mehr Wachstum, Beschäftigung und Wettbe-werb bewirken soll, die aber auch mit einer weltweitennachhaltigen Entwicklung in Einklang stehen sollte.
Wir unterstützen eine Welthandelsrunde, die zu mehrTransparenz, Fairneß und Verläßlichkeit durch die Stär-kung der WTO-Regeln und -Verfahren führt und die si-cherstellt, daß die vorhandenen weltweiten Abkommenüber Umwelt- und Sozialstandards nicht Sonntagspre-digten bleiben, sondern Schritt für Schritt in das Welt-handelssystem integriert werden.
Deswegen begrüßen wir es, daß die neue Bundesre-gierung fest zur Forderung nach einer Arbeitsgruppe„Handel und Kernarbeitsnormen“ steht. Der vorgesternabend in der EU gefundene Kompromiß eines ständigenArbeitsforums zwischen Internationaler Arbeitsorgani-sation und Welthandelsorganisation kann uns nicht sorecht befriedigen. Wichtig ist, daß wir endlich konkreteUmsetzungsschritte von der längst etablierten Arbeits-gruppe „Handel und Umwelt“ verlangt haben.
Nur wenn eine weltweite Liberalisierung eine nach-haltige Entwicklung fördert und die Risiken der Globali-sierung ökologisch und sozial abgefedert werden, wirddie Welthandelsrunde mit einer breiten Unterstützungder Menschen rechnen können. Deswegen war und ist eswichtig, daß die Bundesregierung und die EU erfolg-reich darauf gedrängt haben, die neue Welthandelsrundeunter das Motto besserer Entwicklungsmöglichkeiten fürmöglichst viele Menschen auch in den Entwicklungs-ländern zu stellen.Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wirallerdings parallel zu den Verhandlungen der Welthan-delsrunde auch die Ursachen der permanenten und mas-siven Währungs- und Finanzkrisen angehen, die inden vergangenen Jahren zu enormen Wechselkurs-Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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5602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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schwankungen, zu Abwertungswettläufen und zu einerunglaublichen Verarmung von hunderten MillionenMenschen in Asien, Lateinamerika und Rußland geführthaben und die übrigens durch geringere Wachstumsratenauch die Europäische Union negativ betroffen haben.Nur mit einer neuen Weltfinanzarchitektur, zu der er-ste Schritte auf dem G-7-Gipfel in Köln im Juni diesesJahres gemacht wurden – man kann die Bundesregie-rung nur in ihrem Ziel unterstützen, andere Länder daranzu erinnern, ihre dort eingegangenen Verpflichtungen inden nächsten Jahren auch wirklich umzusetzen –, wer-den wir eine Weiterentwicklung des Welthandelssy-stems im Interesse aller bewirken und die Gefahren vonProtektionismus und Handelskriegen abbauen können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Heinz Riesen-
huber.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! LiebeFrau Skarpelis-Sperk, Sie haben eingangs die Frage ge-stellt: Wo stehen wir eigentlich zwischen Hoffnung undAngst? Ich stelle mit Freuden fest, daß Sie eher auf derSeite der Zuversicht sind. Dies war nicht in allen TeilenIhrer Fraktion immer ganz selbstverständlich. Ichmöchte sagen, wir sind hier in der Tat auf der Seite derZuversicht, denn wir haben im nächsten Jahrhundert ei-gentlich nur zwei Chancen für eine friedliche Ent-wicklung einer wachsenden Menschheit; einerseits dieChance des Aufbaus der Wissensgesellschaft, desWachstums aus Intelligenz, des klugen Umgangs mitbegrenzten Ressourcen und andererseits die Chance derGlobalisierung, des Zusammenwachsens zu einer einzi-gen Welt, in der jeder in der Verantwortung auch für dieanderen steht. Hier hat uns die Entwicklung der vergan-genen Jahre bestätigt, und das ermutigt uns.Die Entwicklungshilfe ist nur sehr begrenzt gewach-sen.
– Ich sage es mit Behutsamkeit und ohne jede Polemik.Die Wirtschaft ist gewachsen, gerade in jungen Län-dern über lange Zeiten mit beachtlichen Raten. Stärkernoch als die Wirtschaft ist der Welthandel gewachsen;stärker als der Welthandel mit Gütern ist der Welthandelmit Dienstleistungen gewachsen. Alles das hat zu einemwachsenden Wohlstand in dieser Welt beigetragen. Dasgilt für die reichen Länder.
– Ich kann hier nur eines nach dem anderen ansprechen,lieber Kollege; Entschuldigung.
Eines Tages bekommt man vielleicht ein kleinesKnopflochmikrophon. Dann bekommen wir eine andereund herzlichere Form der Debatte mit menschlicher Nä-he und größerer Präzision.Ich wiederhole: Das gilt für die reichen Länder. In ei-ner Welt, in der die Zahl der Produkte, die Vielfalt derDienstleistungen immer weiter zunimmt, erwächst dieChance, an dieser Entwicklung teilzuhaben, nur aus demHandel. Das gilt auch für viele Entwicklungsländer,Schwellenländer, die in den vergangenen Jahren zuneh-mend Wohlstand aufgebaut haben. Die Direktinvestitio-nen übersteigen schon längst die Entwicklungshilfe. DerZufluß von Geldern aus OECD-Ländern in Nicht-OECD-Länder hat sich in fünf Jahren verdoppelt. DieChance, Wohlstand über Investitionen aufzubauen undüber Investitionen auch Technologietransfer vorzuneh-men und Verständnis für neue Wirklichkeiten zu gewin-nen, liegt im freien Handel.Natürlich – Frau Skarpelis-Sperk hat zu Recht daraufhingewiesen – gilt dies auch für die ärmsten Länder. Ih-re Hoffnung ist in der Tat die Beteiligung am Welthan-del, und eines der Ziele der WTO-Konferenz ist ja gera-de, daß sie an den Welthandel herangeführt werden, daßman ihnen spezielle Chancen gibt, daß man sie schützt,soweit ihnen daran liegt, und daß sie einen offenerenZugang bekommen als andere.Die WTO-Konferenz in Seattle wird mit einem au-ßerordentlichen Katalog an Vorschlägen einen Aus-schnitt der Entwicklungschancen unserer Welt verhan-deln. In diesem Ausschnitt ist eine Vielfalt einzelnerThemen enthalten. Vor allem aber steht eine Vision da-hinter. Daß die Anträge von Grünen, SPD undCDU/CSU in wichtigen Bereichen übereinstimmen,zeigt nichts anderes als die Faszinationskraft dieser Idee– eine der wenigen Visionen, die von armen und reichenLändern geteilt wird. Es ist die Idee einer Welt, in derdie Völker der Erde aus eigener Tüchtigkeit ihre Zu-kunft aufbauen: in Kooperation und Konkurrenz, mitdem Recht für den Starken, aber in Fairneß gegenüberdem Schwachen, ein Schutz für alle durch das Recht.Es ist die Idee einer Welt, in der die Chance zurNachhaltigkeit deshalb entsteht, weil wir Welthandelnicht nur als ökonomischen Vorgang betrachten; viel-mehr sehen wir durchaus, wo der Welthandel in einengrößeren Zusammenhang einzuordnen ist. Es ist die Ideeeiner Welt, in der die Chance auf Frieden besteht; dennman führt mit seinen Kunden keinen Krieg. Je intensiverder Handel Menschen und Völker verbindet, desto grö-ßer ist die Chance – es ist nicht mehr als eine Chance –auf eine friedliche Welt.Dies sind die Ideen, von denen wir ausgehen, und dieZiele, auf die wir zugehen. Der heilige Thomas sagte: Inden Grundsätzen ist man sich immer einig; schwierigwird es, wenn es um die konkrete Einzelentscheidunggeht.
Natürlich hat er recht.
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5603
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– Verehrte Frau Skarpelis-Sperk, wenn wir hier überThomismus diskutieren wollen, dann stehe ich Ihnen zurVerfügung – aber bitte nicht im Rahmen meiner Rede-zeit.
Wir haben es mit nichts anderem als mit der Konkur-renz um die Erreichung eines Zieles zu tun, zugunstendessen ein jeder etwas dranzugeben hat. In der Span-nung zwischen – durchaus berechtigten – nationalen In-teressen und dem großen Ziel bestand die Schwierigkeitder Vorbereitung. In der Europäischen Gemeinschafthaben wir in dieser Frage weitgehend Übereinstimmung.Es ist eine große Leistung, daß wir weitgehend eine ge-meinsame Verhandlungsposition haben erarbeiten kön-nen.Einige unserer Partner – auch wir selber – habenThemen zurückstellen müssen. Die jetzt von der Kom-mission vorgeschlagene Formulierung zu den Arbeits-normen scheint mir ein realistischer Vorschlag zu sein.Diese Formulierung weicht von dem ab, was die Bun-desregierung ursprünglich im Sinn hatte. Frankreichwollte im audiovisuellen Bereich die Eigenständigkeitder Kulturgüter schützen – ein hohes Ziel. Aber der jet-zige Text weist aus, daß wir alle nicht mehr daran glau-ben, man könne die Kulturgüter durch Protektionismusund Abschottung schützen. Nein, man kann die Kultur-güter fördern und stützen; aber sie müssen sich in eineroffenen Welt im Wettbewerb der Besten bewähren.Wir haben ein gemeinsames Konzept erarbeitet, mitdem wir in die Verhandlungsrunde gehen wollen. DasCharakteristikum dieses Konzepts ist, daß die Gemein-schaft eine umfassende Verhandlungsrunde will – um-fassender, als dies in den anderen Konzepten gefordertwird. Die Verhandlungsrunde muß umfassend sein; dennsämtliche Märkte hängen zusammen, sie stützen und siebedingen einander.Die Gemeinschaft listet in ihrem Papier mehr als einDutzend verschiedene Sachthemen auf. Diese Sachthe-men haben jeweils ihr eigenes spezifisches Gewicht: Esgeht unter anderem um Landwirtschaft. Wir wissen,daß im Beschluß sowohl im Äußeren die Senkung derZölle als auch im Inneren der Abbau von Subventionenfestgelegt ist. Aber wir wissen auch, daß die Landwirt-schaft für uns mehr als eine Güterproduktion ist. Sie ist,wie die Fachleute sagen, multifunktional, das heißt, sieist ein Teil unserer Kulturlandschaft und ein Teil unseresLandes. Es geht darum, den weisen Kompromiß zu fin-den. Für die Entwicklungsländer ist der Zugang zu denAgrarmärkten eine essentielle Angelegenheit, die vielKlugheit und viel Fingerspitzengefühl verlangt.
Wir werden über Dienstleistungen, der schnellst-wachsende Markt, zu reden haben – über Dienstleistun-gen nicht nur als Dienstleistungen. Dienstleistungen öff-nen zusammen mit der jetzt zur Verfügung stehendenHardware erst die Märkte. Es geht also nicht nur um dieFrage des stärkeren Wachstums der Dienstleistungs-märkte. Erst die Tatsache, daß man Dienstleistungen an-bieten kann, öffnet zunehmend die Märkte für Hard-ware, in BOT- und BOOT-Modellen, in maßgeschnei-derten Umweltanlagen unterschiedlichster Bereiche.Beiläufig gesagt: Die Marge bei Dienstleistungen ist we-sentlich höher als die Marge bei Hardware.Investitionen sind die eigentliche Triebkraft für dieEntwicklung der armen Länder, und zwar Investitionenunter Bedingungen, die nicht in 1 600 bilateralen Ab-kommen unterschiedlicher Art, sondern in einem einzi-gen multilateralen System festgelegt werden, so daßgleiches Recht für alle gilt und der Mächtigere nicht aufGrund seiner Machtposition bilaterale Verträge erzwin-gen kann. Es muß ein gemeinsames Konzept für alleentstehen.Wettbewerb und die Senkung der Zölle:Die öffentliche Beschaffung macht in vielen Län-dern fast 15 Prozent der relevanten Märkte aus. Die Zu-gänge zu den einzelnen Bereichen, das geistige Eigen-tum: Wenn wir es nicht schützen, wird es nicht entste-hen, oder es entsteht, geht aber nicht in die Länder, diees brauchen. Der Schutz des geistigen Eigentums istnicht die Abschottung gegenüber denen, die es nochnicht haben, sondern ermöglicht es erst in diesen Län-dern, daß es dort wirksam wird.
Wenn wir hier über die Aufnahme von China in dieWTO sprechen, wird man solche Fragen von vornhereineinbeziehen müssen. China ist nicht das klassische armeEntwicklungsland. China hat ganz andere Strukturen,Funktionen und Möglichkeiten auf den Weltmärkten, sodaß es zu Bedingungen kommt, die eine dauerhafte undfruchtbare Mitgliedschaft ermöglichen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habenur einige der Punkte aufgegriffen, über die wir reden.Dies sind gewaltige Ziele. Der Rahmen von drei Jahren,den wir uns gesetzt haben, ist ein begrenzter Rahmen.Ich hoffe, daß unsere Ziele in dieser Zeit erreichbar seinwerden. Niemand kann das garantieren. Bei diesen ge-waltigen Zielen sollte man – da stimme ich zu – nichtvon vornherein Abstriche machen. Churchill sagt: Setztkeine kleinen Ziele! „They do not have the magic to stirthe people’s mind.“ – Sie haben nicht die Magie, dieHerzen der Menschen zu bewegen. –Dennoch muß man sich in der realen Welt darüber imklaren sein, daß mit dem Weg, den wir vor uns haben,nicht alles und nicht alles zu 100 Prozent erreicht wer-den kann. Wir müssen mit unseren amerikanischenFreunden reden. Ich halte es für eine vorzügliche Sa-che, daß Herr Prodi die Initiative ergriffen hat und jetztdas Gespräch mit Präsident Clinton sucht, um vonMann zu Mann zu klären, was nicht allein auf der Ebeneunserer hervorragenden, tüchtigen und achtenswertenBeamten zu klären ist. Manchmal muß von oben ent-schieden werden. Dies ist eine Idee, die bei manchenRegierungen etwas ungewöhnlich klingt.
Aber daß dies notwendig ist, um Probleme zu lösen,steht außer Streit. Seattle wird wahrscheinlich die letzteDr. Heinz Riesenhuber
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5604 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Möglichkeit sein, mit den USA zu einer gemeinsamenStrategie zu kommen. Danach ist Wahlkampf.Wir haben für diese Agenda auch die Länder derDritten Welt zu gewinnen. Dies ist in keiner Weise tri-vial. Wir haben in der ASEM-Vision-Group mit 25 eu-ropäischen und asiatischen Ländern über das diskutiert,was für unsere gemeinsame Zukunft wichtig sein kann.Das Faszinierende dabei war das feste Vertrauen, die tie-fe Zuversicht dieser Länder in die eigene Tüchtigkeit,sofern man ihnen faire Bedingungen auf den Märkteneinräumt. Aber spürbar war auch das tiefe Mißtrauen,daß die reichen Länder sie mit Protektionismus und un-ter dem Vorwand von Sozialnormen und Arbeitsnormenvon den Märkten fernhalten, daß sie ihnen nicht erlau-ben, sich zu entwickeln.Wir treten nicht für den Welthandel als Wert an sichein. Wir treten genauso für Werte jenseits von Angebotund Nachfrage ein.
– Hören Sie mal; das ist aber eine besonders lustige Be-merkung! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich sie zer-pflücken.
Die opportunistische Politik der derzeitigen Regie-rung mit der Nichtabsehbarkeit dessen, was morgen ge-schieht, ist sicherlich keine Politik, die sich an Grund-sätzen orientiert. Sonst wären diese gelegentlich erkenn-bar.
Wir wünschen ihr allen Erfolg – im Geist der offenenMärkte, im Geist von Wettbewerb und Konkurrenz, imGeist von Kooperation und Partnerschaft und in einemGeist des Rechts, das für alle gleich ist. Schon allein dieExistenz der Schiedsgerichtsbarkeit ist friedensstiftendfür alle, die sich in der WTO versammelt haben, und dassind 135 Nationen.Komplementär dazu gilt ein Zweites: Wir wollen denoffenen Wettbewerb, wir wollen offene Märkte, aberDeutschland muß in diesen Märkten auch bestehen kön-nen. Die zweite Hälfte der Sache ist, daß wir im schärfe-ren Wind des Wettbewerbs überprüfen müssen, was al-les zu geschehen hat, damit wir stark und erfolgreichsein können.Da gelten im Grunde die gleichen Prinzipien wie fürdie Verhandlungen der WTO. Wir wollen natürlich dieZölle senken. Wir wollen in Deutschland aus genau dengleichen grundsätzlichen Überlegungen die Steuern fürUnternehmen und Unternehmer senken. Die aberwitzigeUnterscheidung zwischen Unternehmen und Unterneh-mern – das eine ist gut; der andere wird diskriminiert –ist für das Selbstbewußtsein derer, die wir brauchen,verhängnisvoll.
Wir wollen deregulieren, und wir wollen feste Rah-menbedingungen schaffen. Dabei ist es nicht uneinge-schränkt hilfreich, daß gestern im Ausschuß die Kor-rekturvorschläge zum Korrekturgesetz über dieScheinselbständigkeit in einer neuen Vorlage vorgelegtwurden. Es ist nicht hilfreich, wenn die Probleme der630-Mark-Jobs und der Scheinselbständigkeit über Mo-nate hinweg mit großer Liebe diskutiert werden. DerStaat vollbringt schon eine großartige Leistung, wenn erdie Menschen nicht mehr als nötig bei der Arbeit stört.
Herr Müller, ich glaube, Sie denken genauso: Ob Siees zugeben, ist eine andere Frage. Ob das mit der Regie-rungspolitik übereinstimmt, ist eine weitere Frage.Wir müssen dafür sorgen, die Sache so aufzubauen,daß der Mutige ermutigt und der Tüchtige tüchtiger wirdund der Staat sie nicht bremst.Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren:Ich stimme in herzlichem Einvernehmen mit der derzei-tigen Regierungsfraktion der SPD dem zu, was FrauSkarpelis-Sperk gesagt hat. Wir erwarten von der Regie-rung, daß sie für diese Ideen wirbt. Die Angst ist ein ge-fährlicher Ratgeber. Der Glaube, die Umwelt würdedurch Handel zerstört, ist irreführend, gefährlich undkontraproduktiv. Bevölkerungswachstum und Armutzerstören die Umwelt, während der Handel die Mög-lichkeit gibt, Armut zu überwinden. Das ist die Idee.
Diese Idee aber auch zu zeigen und ihre Strahlkraftsichtbar zu machen ist die Aufgabe der Bundesregie-rung, die sich bisher noch nicht durch besondere Strahl-kraft auszeichnet.Saint-Exupéry sagte: Willst du ein Schiff bauen, dannsammle nicht Nägel und Werkzeug und Holz –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, außer-
dem müssen Sie auf die Uhr sehen.
– ich bitte um
Nachsicht, ich bin sofort fertig –,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es fällt mir schwer,
Sie zu bremsen.
– sondern
sammle Männer, und lehre sie die Sehnsucht nach dem
weiten endlosen Meer. Ein bißchen mehr Faszination,
die die Herzen der Menschen bewegt, Freude an dem,
was wir tun können, ein bißchen weniger Verstrickung
in das Elend der einzelnen bürokratischen Gesetzlich-
keiten, ein bißchen mehr Mut für das, was für ein zuver-
sichtliches Deutschland in der Gemeinschaft der Völker
getan werden kann – das ist das, was dieses Land
braucht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Rie-senhuber, angesichts der Tatsache, daß Sie mir als Prä-Dr. Heinz Riesenhuber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5605
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sidentin eine völlig neue Perspektive eröffnet haben,nämlich im Interesse der Stenographinnen und Steno-graphen aufpassen zu müssen, daß der Redner halbwegsam Pult bleibt, habe ich ausnahmsweise die Augen einStückchen zugedrückt, was die Redezeit betrifft.Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen ist der Kollege Reinhard Loske.
ist noch immer warm ums Herz nach den schönen Wor-ten von Herrn Riesenhuber. Ich habe auch aus Überzeu-gung und Anteilnahme geklatscht. Ich bin wirklich sehrfroh, Herr Riesenhuber, daß wir auf der einen Seite vonder Dämonisierung, daß die Globalisierung die Wurzelallen Übels sei, und auf der anderen Seite von der Ideali-sierung weggekommen sind. Sie klang bei Ihnen, amSchluß jedenfalls, noch etwas an. Auch ich bin im Sinnevon Saint-Exupéry für die große Vision. Aber man solltein diesem Zusammenhang eine Haltung einnehmen, dieso lautet: Zuversicht gepaart mit Gestaltungswillen undRealitätssinn.Realitätssinn ist natürlich wichtig. Die Schere zwi-schen Arm und Reich beispielsweise hat sich in den 90erJahren weiter geöffnet; sie ist nicht kleiner geworden.Auch das ist Realität. Das kann man nicht durch Redenaus der Welt schaffen.Zu denken ist auch an die globale Umweltsituation.Ihr Parteifreund Klaus Töpfer hat hier in Berlin vor we-nigen Wochen auf sehr eindrucksvolle Weise den jüng-sten UNO-Bericht zur Lage der Umwelt in der Weltvorgestellt: Sie hat sich verschlechtert. Das heißt – sowunderbar ich Ihren Vortrag fand und so wunderbar IhreEmphase war –, zum Schluß sind Sie etwas über dasZiel hinausgeschossen. Denn die Realitäten sind etwaskomplexer.Nun zu der Frage, wie Staaten auf die Globalisie-rung reagieren können. Ich möchte, bevor ich auf dieWTO zu sprechen komme, ganz kurz ein paar allgemei-ne Dinge ansprechen. Ich glaube, es gibt drei Wege, alsStaat auf die Globalisierung zu reagieren: erstens mitAbschottung, zweitens mit Anpassung und drittens miteinem gemeinsamen Gestaltungswillen.Was das erste betrifft, sind wir uns, glaube ich, einig:Abschottung ist nicht nur unrealistisch, sondern in denLändern, in denen man dies versucht hat, historischgrandios gescheitert, zum Beispiel in den Entwick-lungsländern, nämlich in den 70er Jahren in Tansaniamit dem Versuch selektiver Abkoppelung usw., – ichwill hier nicht Nordkorea nennen –, ganz zu schweigenvon dem großen Experiment in Osteuropa. Insofernkann das für uns keine realistische Perspektive sein.Dennoch will ich hinzufügen, daß in bestimmten Berei-chen Regionalisierungsstrategien, die mehr auf die Re-gion als auf den Weltmarkt setzen, wichtige Beiträgesind und keineswegs als Abkoppelung vom Weltmarktdenunziert werden sollten.Was das zweite betrifft, die Anpassung an die neuenRealitäten, so ist festzustellen, daß daran kein Weg vor-beiführt. Diese neuen Realitäten sind so, wie sie sind. Esgibt für die Unternehmen eine freie Wahl des Standor-tes. Es gibt den freien Fluß von Waren, Dienstleistun-gen, Informationen und Kapital. Das sind die Realitäten.Wer diese Realitäten ignoriert, der verliert seine Wett-bewerbsfähigkeit und letztlich Wohlstand sowie Ar-beitsplätze. Ich glaube, da besteht zwischen uns über-haupt kein Dissens.Daß man auch in der Politik gewisse Anpassungsre-aktionen an den Tag legen muß, zum Beispiel bei denTarifparteien im Hinblick auf die Gestaltung der Ar-beitswelt sowie allgemein im Hinblick auf den Abbauüberzogener Bürokratie und die Sicherstellung eines lei-stungsfähigen Staates und leistungs- sowie wettbewerbs-fähiger Steuersysteme, ist richtig. Aber die grundsätzli-che Frage lautet: Reicht Anpassung aus?Ich glaube, die dritte Dimension, der Gestaltungs-wille, ist von zentraler Bedeutung und unverzichtbar.Gerade unter ordoliberalen Ökonomen war es völlig un-strittig, daß wir einen Wettbewerbsrahmen, einen Sozi-alrahmen und einen ökologischen Rahmen brauchen.Denn was der Markt kann, ist, Ressourcen effizient zuallozieren. Was er aber definitiv nicht kann, ist, sozialeGerechtigkeit herzustellen oder Umweltstandards zugewährleisten. Das müssen wir Politiker schon selbermachen.
Wenn es so ist, daß sich die Ökonomie globalisiert,also den nationalen bzw. europäischen Handlungsraumverläßt, dann besteht die Aufgabe, den Versuch zu wa-gen, einen globalen Ordnungsrahmen sicherzustellen,der Wettbewerbsregeln, Sozialstandards und Umwelt-standards beinhaltet. Das ist die Aufgabe, die Heraus-forderung, vor der wir stehen.Wenn einem das manchmal als Herkulesaufgabe vor-kommt, so ist an folgendes zu erinnern: In Deutschlandhat es sehr lange gedauert, bis wir vernünftige Wettbe-werbsregeln, einen einigermaßen tragfähigen Sozialstaatund Umweltregeln hatten. Dies hat auch in Europa sehrlange gedauert. Wir sind ständig dabei, diese Dinge zuverbessern. Auch im Weltmaßstab, im Rahmen derWTO und der anderen Systeme, wird es sehr lange dau-ern, bis wir ähnliches erreichen. Aber die Bewältigungdieser Aufgabe – mag es auch eine Herkulesaufgabesein – muß angegangen werden; sonst würden wir vorder Geschichte versagen. Das steht in bester kontinen-taleuropäischer Tradition. Deshalb bin ich froh, daß dieEU in die entsprechenden Verhandlungen mit einer ge-schlossenen Position geht. Wir Grünen unterstützen die-se Position und auch die der Bundesregierung ausdrück-lich.Ich möchte jetzt zu den Verhandlungen im engerenSinne kommen und einige Punkte gesondert heraushe-ben, die uns besonders wichtig sind: Das betrifft erstensdie Öffnung der Märkte auch für die Entwicklungslän-der, zweitens den Umweltschutz, drittens die sozialeDimension, viertens die Verbraucherinteressen – das istganz wichtig; darüber wurde bislang noch gar nicht ge-sprochen – und fünftens und letztens die Gestaltungeiner Wettbewerbsordnung.Dr. Reinhard Loske
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5606 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Zum ersten, zu den Entwicklungsländern. In diesemZusammenhang muß man jenseits der großen Wortefeststellen, daß in unserem Verhalten gewisse Abwei-chungen von diesem großen Ziel zu erkennen sind. Ichnenne das Bananenbeispiel. Weitere Beispiele gibt es imTextilbereich, wo nach wie vor Zölle bestehen, die esden Entwicklungsländern objektiv erschweren, Handelzu treiben. Darauf wird jedoch meine Kollegin Köster-Loßack gleich eingehen.Zweiter Punkt: Umweltschutz. Ich glaube, es ist ganzwichtig, daß wir das bislang völlig unverbunden nebendem Umweltrecht stehende internationale Handelsrechtmit dem Umweltrecht verzahnen müssen. Wenn die bei-den Bereiche nur nebeneinander stehen, dann ist ganzklar, welcher Bereich sich durchsetzt, nämlich das Han-dels- und Wirtschaftsrecht. Die Verzahnung ist also eineganz wichtige Aufgabe.Eine zweite wichtige Aufgabe ist der Abbau ökolo-gisch kontraproduktiver Subventionen, auch der Export-subventionen. Es kann nicht sein, daß wir einerseits vonden Chancen der Entwicklungsländer auf unserenAgrarmärkten reden, andererseits aber Agrarexporte indie Entwicklungsländer subventionieren und damitdie Strukturen in diesen Ländern kaputtmachen. Das istauf gar keinen Fall nachhaltige Politik. Das muß aufhö-ren.Der dritte Punkt in diesem Zusammenhang ist dieLandwirtschaft insgesamt. Ich glaube sehr wohl, daßdie Landwirtschaft eine Sonderrolle einnimmt. Herr Rie-senhuber hat es schon angesprochen: In der Landwirt-schaft geht es eben nicht nur um die Erzeugung vonNahrungsmitteln. Gerade in Europa geht es auch um dieKulturlandschaft. Es gilt, eine vernünftige Balance zwi-schen den Interessen für eine Marktöffnung und den In-teressen des Landschaftsschutzes herzustellen. Das halteich für sehr zentral; denn die Landwirtschaft ist mehr alsnur Nahrungsmittelproduzent.Was die Sozialstandards betrifft, so glaube ich, daßdie Lösung, die sich jetzt abzeichnet, nämlich eine ge-meinsame Arbeitsgruppe von ILO, der InternationalenArbeitsorganisation, und Welthandelsorganisation, zwarnicht besonders weitgehend und anspruchsvoll ist;gleichwohl ist dies ein erster Schritt in die richtigeRichtung. Besser wäre es – das ist bislang auch nochPosition der EU –, in der WTO eine Arbeitsgruppe ein-zurichten.Viertens: Verbraucherinteressen. Das ist ein ganzzentraler Punkt, der nach meinem Gefühl viel zuwenigzur Sprache kam. Wir haben es heute in den Industrie-ländern, aber auch weltweit mit der Situation zu tun, daßdie Verbraucher viel besser informiert sein wollen undviel bewußter sind, was die Kaufentscheidung angeht.Deswegen ist es völlig unakzeptabel, daß man sich bei-spielsweise gegen die Kennzeichnung von genetischveränderten Lebensmitteln sperrt. Ich halte dies für un-möglich.
Der selbstbewußte Verbraucher braucht Informationen.Aufgabe internationaler Vereinbarungen ist es, demVerbraucher diese Informationen zu geben.Ich komme in diesem Zusammenhang zum letztenPunkt. In unserer Gesellschaft gibt es bestimmte Tradi-tionen. Wir wollen kein Hormonfleisch, wir wollen kei-ne Genprodukte, und wir wollen keine Turbokühe. Dasmüssen die Vereinigten Staaten akzeptieren.
Zum Schluß noch ein Wort zu den Interessen derEntwicklungsländer. Wie gesagt, wird meine Kollegingleich ausführlich darauf eingehen. Ich glaube, hierwandern wir auf einem sehr schmalen Grat: Auf dereinen Seite wollen wir, daß ökologische Standards,möglichst auch Sozialstandards in das Handelsregimeeinbezogen werden.
Auf der anderen Seite müssen wir aber zur Kenntnisnehmen, daß sich gerade die Entwicklungsländer mitHänden und Füßen dagegen wehren, und zwar aus derSorge heraus, daß hier einem grünen oder Sozialprotek-tionismus Vorschub geleistet werden soll. Der Schlüsseldafür, dies auf die Agenda setzen zu können und bei denEntwicklungsländern auf Akzeptanz zu stoßen, ist dieGlaubwürdigkeit des eigenen Handelns.
Insofern besteht ein direkter Zusammenhang zwischendem, was wir bei uns tun, und dem, wofür wir interna-tional eintreten.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die anstehende WTO-Konferenz inSeattle muß ein Erfolg werden. Wir brauchen ein klaresSignal. Nur so kommt die notwendige Liberalisierungdes internationalen Handels voran. Wer die Zusammen-hänge kennt, weiß: Teilhabe am Ausbau der internatio-nalen Arbeitsteilung bedeutet Wohlstandsmehrung undChance für alle. Das ist kein Nullsummenspiel, hier ent-steht Zusätzliches.Grundvoraussetzung für einen Erfolg ist, daß die Eu-ropäische Union mit einer starken Stimme spricht. Waswir brauchen, sind klare Linien und Positionen und keinmit einzelstaatlichen Sonderinteressen überfrachtetesVerhandlungsprogramm.Im Gegensatz zu den traditionellen Freihandelsnatio-nen wie Großbritannien und die Niederlande hat dieDr. Rainer Loske
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5607
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grünrote Bundesregierung hier leider eine wenig förder-liche Rolle gespielt. Zwar will sie auf der einen Seitezügig zu Ergebnissen kommen. Auf der anderen Seitewerden von der Bundesregierung aber zahlreiche Einzel-forderungen gestellt. Ich appelliere deshalb an Sie: Las-sen Sie uns lieber in drei Jahren zu konkreten Ergebnis-sen in wenigen wichtigen Punkten kommen und nicht inacht Jahren alles zerreden!
Wir begrüßen ausdrücklich das gemeinsame Ziel derWelthandelsrunde, die Entwicklungsländer beim Frei-handel einzubeziehen.
Dann aber müssen Sie die Belange der Entwicklungs-länder auch tatsächlich berücksichtigen. Es ist wenighilfreich, wenn Sie die Länder der Dritten Welt durchdie Forderung unterschiedlichster Mindeststandards ver-unsichern. Wir dürfen die Entwicklung dieser Ländernicht bremsen, indem wir ihre Wettbewerbsfähigkeitschwächen,
sondern wir müssen auch bereit sein, uns umgekehrt die-sem auf dem Papier gewünschten Wettbewerb zu stel-len.Meine Damen und Herren, die Bundesregierungmöchte trotz der vorgetragenen Bedenken unbedingt dieSozialstandards auf die Agenda der WTO setzen.
Dabei nimmt sie offensichtlich nicht zur Kenntnis, daßes bereits Empfehlungen der OECD – wissen Sie, werschreit, hat immer Unrecht, Frau Kollegin –,
zum Thema Mindeststandards für multinationale Unter-nehmen gibt. Es gibt außerdem verschiedene Konven-tionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.Auch Sie wissen, wie es um die Ratifizierung dieserKonventionen bestellt ist. Wenn bestimmte Länder sol-che Konventionen unterzeichnen, ist das wahrlich keineGarantie dafür, daß die Konventionen von diesen Län-dern auch eingehalten werden.
Wenn umgekehrt Großbritannien oder die Niederlandesolche Konventionen nicht unterzeichnen, bedeutet die-ses nicht, daß in diesen Ländern unzumutbare sozialeZustände herrschen würden.Deshalb frage ich Sie: Welchen Sinn macht es, jetztweitere Runden zu diesem Thema innerhalb der WTOzu installieren, zumal die Bundesregierung für ihr An-liegen nicht einmal innerhalb der Europäischen Unioneine solide Mehrheit hat? Wollen Sie damit vom Versa-gen in der nationalen Politik ablenken? Ist es denn nichtirreal zu meinen, die anderen würden sich unseren über-drehten Standards anschließen, ihre Wettbewerbsvorteileund ihre komparativen Vorteile aufgeben, die sie da-durch haben, daß wir uns in Deutschland nicht bewegenund notwendige Anpassungsprozesse nicht vornehmenwollen? Davon träumen nur Sie.
Das erinnert mich an Aussagen wie „Am deutschenWesen soll die Welt genesen“ bzw. „Der deutscheOberlehrer weiß alles besser; der Rest der Welt hat sichdanach zu richten, strammzustehen – zack, zack – unddie Empfehlung entgegenzunehmen“. So kann man esnicht machen. Die WTO ist zu wichtig, um Placebo-Politik zu betreiben. Sie müssen auch sagen, welchenPreis Sie letztlich zu zahlen bereit sind, damit über in-ternationale Mindeststandards geredet wird. Die Ent-wicklungsländer werden sich natürlich mit Händen undFüßen gegen solche Diskussionen wehren. Wenn siesich doch darauf einlassen, wollen sie dafür entgoltenwerden. Sie müssen dem deutschen Steuerzahler klarsagen, was das kostet. Die Forderung nach Mindeststan-dards darf nicht zu einer bloß symbolischen politischenForderung verkommen. Dazu ist das Thema zu wichtig.
Es muß an der richtigen Stelle und in den richtigenGremien diskutiert werden. In die Welthandelsrundepaßt es nicht.Es wundert mich übrigens sehr, welche NebenrolleSie dem Thema Handel und Wettbewerb zuweisen.Auch internationale Kartelle und Zusammenschlüssesind eine greifbare Bedrohung für den Freihandel.
Wir leben in einer Zeit der internationalen Unterneh-menskonzentrationen. Es entstehen neue Dinosaurier.Im vergangenen Jahr haben weltweit Unternehmen miteinem Wert von 2,1 Billionen Dollar fusioniert. DieserWert liegt sechsmal so hoch wie 1992. Die Tendenzhierbei ist weiter steigend. Die Entwicklung auf denMärkten im Bereich der Automobile, der Versicherun-gen, der Banken, des Öls, der Telekommunikation undder Luftfahrt bestätigen leider die Warnung des schei-denden deutschen Kartellamtspräsidenten Wolf, dersagte, daß die gemeinschaftliche Kontrolle des Welt-marktes durch wenige Konzerne aus seiner Sicht nichtmehr allzufern sei.
Hier muß man gegenhalten und etwas machen.Die Marktmacht, die durch diese grassierende Fusio-nitis gebündelt wird, ist erheblich. Hier entstehen gera-dezu neofeudalistische Strukturen. Deshalb lobe ich diePläne der Vereinigten Staaten und der EuropäischenUnion: Beide wollen einen gemeinsamen Ausschußgründen, der sich künftig regelmäßig um transatlantischeWettbewerbsfragen kümmert.Wir brauchen – nebenbei bemerkt – dringend eineeuropäische Kartellbehörde.
Rainer Brüderle
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5608 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Es ist doch ein Witz, daß für kleinere Zusammenschlüs-se das einigermaßen funktionierende deutsche Kartell-recht gilt. Je größer sie aber sind, desto weniger Kon-trolle darüber existiert, was sich tut und welche Kon-zentrationen ablaufen. Diese Entwicklungsprozesse regi-striert scheinbar weltweit überhaupt niemand. Es fehltein weltweites Regelwerk, in dem die elementarenGrundsätze des Wettbewerbs verbindlich festgeschrie-ben werden.
Hier greifen bilaterale Vereinbarungen zu kurz. Wirbrauchen hier Rechtssicherheit. Die WTO ist die geeig-nete Institution, um ein Problem dieser Art anzugehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Brü-
derle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Loske?
Ja, gerne.
– Wissen Sie, Ihre Bemerkung: „Der schwätzt nur“,
Frau Kollegin, hat Niveau. Gratulation dazu!
gängig zwei Auffassungen: Zum einen gibt es eine gro-
ße Skepsis bis zur Ablehnung von Normen im Bereich
Umwelt und Soziales im Rahmen des WTO-Regimes.
Zum anderen gibt es die Einsicht in die Notwendigkeit,
den Wettbewerb im globalen Maßstab zu ordnen. Meine
Erfahrung im internationalen Bereich ist, daß diese bei-
den Standpunkte sehr wohl zusammenpassen.
Können Sie sich nicht vorstellen, daß beispielsweise
deutsche oder europäische Unternehmen, die weltweit
agieren, Interesse daran haben, daß alle Wettbewerber in
dem Land, in dem sie Investitionen tätigen – zum Bei-
spiel in Südafrika –, auf der Basis der gleichen Normen
agieren? Liegt es nicht sogar im Interesse unserer Wirt-
schaft, daß beispielsweise im Bereich der Umwelt ein-
heitliche Standards sichergestellt werden?
Politik ist immer die
Kunst des Machbaren. Man könnte natürlich auch
10 Jahre lang träumen und nichts zustande bringen, ob-
wohl man relativ schnell zu Entscheidungen gekommen
ist.
– Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, und blöken Sie
nicht in meine Antwort hinein! Wenn Sie eine Frage
stellen, dann bekommen Sie eine passende Antwort.
Der Wunsch ist irreal, der Traum könne sich erfüllen,
daß sich alle in Richtung deutscher Standards bewegen.
Mit diesem Traum werden Sie gar nichts erreichen. An-
statt den Träumen nachzuhängen, ist es deshalb richti-
ger, sich auf Kernpunkte zu konzentrieren, die konsens-
fähig sind und die man umsetzen kann. Ich weiß, in
Deutschland war die Romantik immer populärer als die
Aufklärung. Ich bevorzuge die Aufklärung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Brü-
derle, es gibt den Wunsch des Kollegen Loske nach ei-
ner zweiten Zwischenfrage.
Ja, bitte schön.
Das habe ich vermutet.
Realität hinsichtlich der Probleme, vor denen die Unter-
nehmen stehen, ist komplexer. Deswegen will ich nach-
fragen. Liegt es nicht im Interesse der deutschen Unter-
nehmen, daß weltweit – wenigstens in der Tendenz –
einheitliche Standards gelten? Im anderen Fall wäre es
so, daß beispielsweise diejenigen, die sich nicht an diese
Standards halten, Wettbewerbsvorteile gegenüber denje-
nigen haben, die sich daran halten. Diese Tatsache muß
doch selbst für einen Wirtschaftsliberalen nachvollzieh-
bar sein – oder nicht?
Es liegt im Interesse un-
serer Unternehmen, daß wir mit der Liberalisierung in
den Punkten, die wir umsetzen können, vorankommen.
Es liegt nicht im Interesse der Unternehmen, auf Wolke
sieben zu träumen, aber nichts zu erreichen. Ich weiß,
daß Ihre Politik so angelegt ist. Aber die Welt ist leider
anders, als Sie sie sich sozusagen backen möchten.
– Es ist klar, Herr Ströbele, daß ich Sie nicht zufrieden-
stellen kann. Das können ja nicht einmal Ihre eigenen
Leute, weil Sie in Ihrem eigenen Verein Außenseiter
sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Brü-
derle, es gibt noch einen Wunsch, eine Zwischenfrage
zu stellen.
Ich freue mich darauf.
Herr Kollege Brü-derle, Sie haben vorhin vehement darauf hingewiesen,Rainer Brüderle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5609
(C)
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daß WTO-Verhandlungen für den Steuerzahler Kostenverursachen. Sie haben uns in diesem Zusammenhangaufgefordert, zu sagen, was es kostet, wenn man solcheStandards durchsetzen will. Meine Gegenfrage lautet:Wären Sie auch bereit, dem deutschen Steuerzahler mit-zuteilen, welche Kosten auf ihn zukommen, wenn80 Prozent der Menschheit keine Chance hat, an einernachhaltigen Entwicklung zu partizipieren?
Herr Kollege, gerade weil
ich diesen Menschen eine Chance geben will, bin ich da-
für, Regelungen zu finden, die für diese Länder akzepta-
bel sind. Aber wenn Sie diese Regelungen gemäß deut-
schen Vorstellungen den Entwicklungsländern in Afrika,
deren Bewohner sich in der untersten Einkommenskate-
gorie befinden, überstülpen wollen, dann muß ich sagen,
daß diese Länder dann keine Chance haben, sich zu
entwickeln.
Wir müssen diese Regelungen so dosieren, daß sie am
Take-off der Entwicklungsprozesse teilnehmen können.
Sie aber behindern diese Länder, indem Sie ihnen keinen
Freiraum geben, sondern durch eine Überreglementie-
rung sozusagen Handschellen anlegen. Ich möchte aber,
daß diese Handschellen abgelegt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Brü-
derle, es gibt noch einen letzten Wunsch nach einer
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Büttner.
Das ist erfreulich, weil
ich so ein bißchen länger reden kann.
Herr Kollege Brü-
derle, ich möchte Sie nur folgendes fragen: Sind Ihnen
eigentlich die Arbeitsgesetze der meisten Staaten im
südlichen Afrika bekannt? In diesen Gesetzen sind Min-
deststandards für Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und
Arbeitsschutz geregelt. Halten Sie es nicht für richtig,
daß man diesen Staaten dabei hilft, daß sie im Rahmen
der internationalen Regelungen ihre gesetzlichen Be-
stimmungen einhalten können, anstatt sie aufzufordern,
ihre eigenen Gesetze zu brechen?
Ich weiß nicht, wie Sie zu
der Exegese kommen, ich hätte diese Staaten aufgefor-
dert, ihre Gesetze zu brechen. Ich warne nur: Wer meint,
er könne der ganzen Welt deutsche Vorstellungen über-
stülpen, der wird nichts erreichen. Gerade deshalb sind
wir Deutschen in der Welt so „populär“ und so „angese-
hen“. Wenn nämlich drei Deutsche im Ausland auftre-
ten, gibt es vier Oberlehrer, die jedem erklären, was er
machen muß.
Geben Sie doch den Menschen die Chance, sich selbst
zu entwickeln, und schreiben Sie ihnen nicht alles vor!
Die Vorstellung, man könne alles planerisch steuern, ist
doch letztlich gescheitert.
Deshalb sage ich: Laßt den Ländern die Chance, zu
Wohlstand zu kommen, und meint nicht, ihr wüßtet alles
besser. Vielleicht kennen Sie die Arbeitsgesetzgebung
von Gambia und auch die Realität vor Ort im Detail und
können gelegentlich einmal dazu rezitieren.
Ich will, da es bedauerlicherweise keine weiteren
Fragen gibt,
die mir verbleibende Redezeit nutzen, um darauf hinzu-
weisen, daß die Bundesregierung – Herr Kollege Rie-
senhuber hat es angesprochen – eine Bringschuld nicht
erfüllt hat. Sie hat es nämlich, auch wenn sie Öffentlich-
keitsarbeit sonst sehr gern macht, versäumt, der breiten
Öffentlichkeit die Zusammenhänge zwischen Öffnung
des Handels, Ausbau der Arbeitsteilung, Arbeitsplätzen,
Produktivität und Fortschritt im eigenen Land zu ver-
deutlichen. Das gehört ebenfalls dazu. Sie muß dann
auch erklären, was für einen Sinn eine Bananenmarkt-
ordnung in Europa macht, durch die die Bananen eben
teurer sind und andere Länder keine Chance haben. Sie
muß erklären, welche Zölle sie weiter senken will. Sie
muß erklären, welche Zusammenhänge sie sieht. Sie
muß, wenn sie gegen Dumping vorgehen will, sagen, ob
sie auch die Sonderangebote bei Aldi für Fahrräder ma-
de in China unterbinden will.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnenund Kollegen! Es ist dann jetzt wohl an mir, die Zuver-sicht etwas zu dämpfen und die Büchse der Pandora zuöffnen.Im EU-Mandat wie in den Anträgen von SPD bisCDU/CSU wird eine umfassende Liberalisierungsrundeangestrebt. Sie begründen dieses Mandat mit den Fort-schritten im Welthandel, dem Beitrag zum Wohlstand,zur Entwicklung und der Hebung des Lebensstandards.Jedoch verteilen sich die positiven und die negativenWirkungen sehr ungleich. Es gibt Gewinner, und es gibtVerlierer.Die USA, Japan und die EU haben dabei gewonnen;gerade die ärmsten Entwicklungsländer aber haben ver-loren. Der Einkommensunterschied – darauf hat FrauKollegin Skarpelis-Sperk schon hingewiesen – zwischendem reichsten und ärmsten Fünftel der Weltbevölkerunghat sich seit 1960 mehr als verdoppelt. Für die Urugu-ay-Runde stellte eine OECD-Studie einen Gewinn von213 Milliarden Dollar fest. Davon entfiel ein Drittel aufdie Entwicklungsländer, der größte Teil auf dieSchwellenländer. Die afrikanischen Länder, insbesonde-re die Nahrungsmittelimporteure mit niedrigem Ein-kommen, haben auf Grund des Verlusts von Handelsprä-ferenzen dabei draufgezahlt.Dr. R. Werner Schuster
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5610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Zahlen zur Zunahme des Handels und Exportwach-stums allein sagen wenig über die sozialen Folgen undWirkungen aus, genausowenig über die Akteure unddarüber, wie sich denn die Gewinne und Verluste ver-teilen. Die eindeutigen Gewinner sind die multinationa-len Konzerne. Der Marktanteil der jeweils zehn größtenKonzerne wuchs bis 1998 im Bereich Telekommunika-tion auf 86 Prozent, im Bereich Computer auf 70 Pro-zent. Demgegenüber nimmt die Arbeitslosigkeit vonMexiko bis Magdeburg zu. Gerade die exportintensivenUnternehmen mit einer Außenhandelsabhängigkeit vonmehr als 40 Prozent haben in Deutschland seit 1980massiv Beschäftigung abgebaut. Nicht nur die ungleicheVerteilung des Reichtums zwischen den armen und rei-chen Ländern steigt, sondern auch die ungleiche Ver-teilung innerhalb der Länder.Wenn Sie von der CDU/CSU in Ihrem Antrag dieRegierung zur weiteren Steuerentlastung der Unterneh-men, zur Fortsetzung der Privatisierung und zur Flexibi-lisierung des Arbeitsmarktes aufrufen, um auf die ver-schärfte Konkurrenz durch eine weitere Liberalisierungim Dienstleistungsbereich im Rahmen der WTO-Rundevorzubereiten, dann machen Sie die weiteren Folgen nurallzu deutlich. Ihre Forderungen unterstreichen dieDringlichkeit, daß das Recht jeder Regierung, spezielleDienstleistungen – wie Bildung und Gesundheit – ausder Liberalisierung herauszunehmen, zwingend in einesolche Verhandlung aufgenommen werden müßte. Dasgleiche gilt für Regelungen zur Positivdiskriminierungim öffentlichen Beschaffungswesen. Im EU-Mandatfehlen solche Regelungen.Diese Entwicklungen unterstreichen auch die Dring-lichkeit einer Einigung auf soziale und gewerkschaftli-che Mindeststandards. Das von der EU vorgesehene Fo-rum der WTO mit der ILO trägt kaum zur Lösung bei.Die Stärkung der Verhandlungsmacht von Gewerk-schaften und sozialen Bewegungen, die Sanktionsfähig-keit bei Verletzung von Standards und die Einbindungder UN-Sonderorganisationen halten wir für unverzicht-bar. Es geht um die Menschen, Herr Brüderle, nicht umdie Länder, um die Menschen in Sonderwirtschaftszo-nen, um ihren Schutz, um bessere Arbeitsbedingungenund mehr Rechte. Allerdings setzt das die Unterstützungder Entwicklungsländer bei der Realisierung voraus, undzwar nicht nur durch Entschuldung und Entwicklungs-hilfe, sondern insbesondere auch dadurch, daß IWF undWeltbank Hilfen bei der Umsetzung geben, statt – wiebisher – den Entwicklungsländern die Deregulierung derSozialsysteme aufzuzwingen.
Die umfassende Demokratisierung der WTO isteine zwingende Vorbedingung einer erneuten Verhand-lungsrunde. Die WTO verfügt im Gegensatz zu andereninternationalen Großorganisationen wie zum Beispielder ILO mit dem Streitschlichtungsverfahren über starkeSanktionsmechanismen. Länder, gegen die eine Ent-scheidung getroffen wird, können nicht einmal mehr einVeto einlegen. Wie damit Regulierungen für den Ge-sundheitsschutz außer Kraft gesetzt werden können,machte das Verfahren der USA gegen die EU wegen desImportverbots für Rindfleisch mit Wachstumshormonendeutlich. Trotz formaler Gleichheit sind die Entwick-lungsländer nicht in der Lage, das Streitschlichtungsver-fahren gleichberechtigt zu nutzen. Vergeltungsmaßnah-men von Mali gegen die USA geraten zur Karikatur,während der umgekehrte Vorgang die Lebensgrundlagenvieler Menschen zerstören kann.
Mit den Entscheidungen der WTO werden völker-rechtlich verbindliche Normen geschaffen, die nicht aus-reichend von demokratischen Instanzen gestaltet undkontrolliert werden. Mehr als 20 WTO-Mitglieder habenkeine Vertretung in Genf, sechs nicht einmal in Europa.Eine gleichberechtigte Teilnahme der Entwicklungslän-der an Entscheidungen ist damit bei aller formellenGleichheit ad absurdum geführt.Öffentlichkeit, Parlamente und NGOs müssen in dieEntscheidungen eingebunden werden. Die Einrichtungeiner zweiten Kammer aus Parlamentariern und NGO-Vertretern sowie die zwingende Ratifizierung vonWTO-Verträgen durch die Parlamente wären notwendi-ge Schritte dazu. Eine Verankerung im System der Ver-einten Nationen und ihren Organisationen, die sich mitden politischen und sozialen Menschenrechten beschäf-tigen, halten wir ebenfalls für zwingend.Kolleginnen und Kollegen, das vorgelegte EU-Mandat ist nicht das MAI. Aber wesentliche Fragen so-wohl aus Sicht der Entwicklungsländer als auch derMehrheit der Menschen in den Industrieländern werdendamit nur unzureichend oder gar nicht beantwortet. Inunserem Antrag gehen wir auf die einzelnen Punkte ein.Gerade weil wir für eine politische Gestaltung derGlobalisierung, Kollegin Skarpelis-Sperk, und nicht fürAbschottung oder gegen den Handel sind, fordern wirSie zusammen mit mehr als 1 000 NGOs und vielenEntwicklungsländern auf, keine Verhandlungsrunde,sondern statt dessen mit einer umfassenden Evaluierungder bisherigen Ergebnisse der Liberalisierung für die so-ziale Situation, die Umwelt, die Lage von Frauen undKindern, die Menschen- sowie Arbeitnehmerinnen- undArbeitnehmerrechte und die Entwicklungsperspektivender Länder des Südens und der Reform der WTO zu be-ginnen. Erst diese Ergebnisse als Voraussetzung könnenunserer Meinung nach die Basis einer an sozialer undökologischer Nachhaltigkeit orientierten Reform wer-den.Vielen Dank.
Das Wort hat nunder Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Eines der wichtigsten wirtschaftspolitischenZiele der Bundesregierung ist es, gemeinsam mit unse-ren EU-Partnern eine neue, umfassende Welthandels-runde auf der 3. WTO-Ministerkonferenz in SeattleEnde November/Anfang Dezember einzuleiten. DieUrsula Lötzer
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Bundesregierung hat hierbei, lieber Herr Professor Rie-senhuber, ein völlig klares Konzept, das ebenso klar vonden Regierungsparteien getragen wird. Es gibt dabeiweit weniger Differenzen, als Sie vermuten, sagen wir:weit weniger Differenzen als etwa zwischen Ihnen unddem Rednerpult.
Trotzdem habe ich eben mit Sympathie beobachtet, wieSie entweder auf die Regierungsparteien oder auf denWirtschaftsminister zugegangen sind. Beides fand ichsehr gut. Es zeigt auch, daß wir bei diesem Thema einedeutliche Übereinstimmung in den wesentlichen Punk-ten haben.Die über 50jährige Geschichte von GATT undWTO stellt insgesamt eine der großen Erfolgsgeschich-ten der internationalen Wirtschaftspolitik in diesemJahrhundert dar. Die Zölle der Industriestaaten für Indu-strieerzeugnisse konnten mittlerweile in acht Verhand-lungsrunden von etwa 40 Prozent auf durchschnittlich4 Prozent gesenkt werden. Der Welthandel hat sich –wie schon gesagt worden ist – im gleichen Zeitraum et-wa versiebzehnfacht, die Weltproduktion hat sich ver-vierfacht, und das weltweite Pro-Kopf-Einkommen hatsich immerhin verdoppelt. Wir erwarten von einer neuenRunde frische Impulse für Wirtschaft und Wachstumund damit auch für Arbeitsplätze, insbesondere in unse-rem Land.Wir brauchen die neue Runde auch unter dem Ge-sichtspunkt, hier und da erkennbaren protektionistischenTendenzen durch Multilateralisierung entgegenzuwir-ken. Schließlich stellt sich in Zeiten zunehmender Glo-balisierung und internationaler Arbeitsteilung immermehr die Frage nach der Kohärenz der Handelspolitikmit anderen Bereichen der Politik wie Investitionen,Wettbewerb, Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucher-schutzpolitik, Arbeitsnormen und Sozialstandards.
Hier bedarf es deshalb neuer Regeln zum Zusammen-spiel dieser verschiedenen Politikbereiche.Dies alles zeigt, daß eine neue WTO-Runde nachVorstellungen der Bundesregierung eine Vielzahl vonThemen umfassen muß. Ich freue mich ausdrücklich,daß – wie zum Beispiel in Ihrer Rede, Herr ProfessorRiesenhuber, deutlich wurde – die CDU/CSU mit derBundesregierung hinsichtlich der Chancen und Notwen-digkeiten sowie der Gestaltung einer neuen Welthan-delsrunde grundsätzlich übereinstimmt. So stimme ichauch Frau Skarpelis-Sperk und Herrn Riesenhuber aus-drücklich in dem Punkt zu, daß wohl ausschließlich einebreitangelegte Runde mit einer Paketlösung zu allenThemen nach möglichst nur dreijähriger Verhandlungs-dauer zu einem ausgewogenen Ergebnis für alle Teil-nehmer führen wird.Schließlich soll die neue Runde auch dazu führen, dieEntwicklungsländer stärker in die Weltwirtschaft unddas weltweite Handelssystem zu integrieren.
Die Entwicklungsländer konnten zwar in den letzten30 Jahren ihren Anteil an den weltweiten Ausfuhren umfast 50 Prozent erhöhen, die Wirtschaftsleistung bliebjedoch von Region zu Region unterschiedlich, so daß dieBekämpfung der Armut unverändert eine der großenweltpolitischen Aufgaben bleibt.
Mitunter heißt es, eine umfassende Runde komme fürdie Entwicklungsländer zu früh; sie hätten noch nichtausreichend die Ergebnisse der vorausgegangenen Uru-guay-Runde „verdaut“. Dazu sage ich: Die Vorteile derHandelsliberalisierung sind nicht nur auf die Industrie-länder beschränkt, sondern auch die Entwicklungsländerwerden davon profitieren. Aber wir müssen ihnen natür-lich dabei helfen, die Ergebnisse der Uruguay-Rundeumzusetzen und die Vorteile der Handelsliberalisierungtatsächlich zu nutzen. Dies geht nicht allein mit Mittelnder Handelspolitik; hier müssen auch entwicklungspoli-tische Maßnahmen greifen. Der Ausbau des WTO-Regelwerkes kann im übrigen gerade den vielleichtschwächeren Partnern auf der internationalen BühneRechtssicherheit und damit Stärke geben.Um welche Themen und Sektoren handelt es sich beider neuen Runde im einzelnen? Ich will sechs Bereichenennen. Es sind, Herr Brüderle, doch ein paar mehr,denn die WTO ist etwas mehr als die Organisation einesWinzerfestes.
Erstens. Noch in der Uruguay-Runde sind neue Libe-ralisierungsverhandlungen zu Agrar- und Dienstleistun-gen ab dem 1. Januar 2000 beschlossen worden. Bei denAgrarverhandlungen wird es darum gehen, notwendi-ge Reformen im Weltagrarhandel mit den defensivenInteressen der EU in Einklang zu bringen. Ich nenne hiernur die Stichworte Verteidigung der multifunktionalenRolle der Landwirtschaft, Schutz der Gesundheit vonMensch und Tier, Pflanzen- und Umweltschutz, Nah-rungsmittelsicherheit sowie Verbraucherschutz. Nachden Erfahrungen der Uruguay-Runde muß man keinProphet sein, um beim Agrarthema schwierige Ver-handlungen für die EU vorauszusehen.
Bei den Dienstleistungsverhandlungen streben wir einhöheres Verpflichtungsniveau sämtlicher WTO-Länder,insbesondere unserer wichtigsten Drittlandspartner, an.Sämtliche Dienstleistungssektoren sind ausnahmslos indie Verhandlungen einzubeziehen, wobei ihren Beson-derheiten allerdings Rechnung getragen werden muß.Zweitens. Auf unser Interesse an einer umfassendenSenkung der Industriezölle habe ich bereits hingewiesen.Drittens. Neben dem Zollabbau ist für uns auch derAbbau von nichttarifären Handelshemmnissen von ganzerheblicher Bedeutung.Bundesminister Dr. Werner Müller
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Viertens nenne ich nur als Stichwort unser Interessean der weiteren Öffnung der öffentlichen Beschaf-fungsmärkte.Fünftens. Die sogenannten neuen WTO-Themenwerden in der nächsten Runde eine wichtige, wenn nichtsogar die zentrale Rolle spielen:Zunächst ist das Thema „Handel und Umwelt“ zunennen. Handel und Umweltpolitik sollten einander imHinblick auf eine nachhaltige Entwicklung ergänzen.Dieser Aspekt sollte sich in allen Verhandlungsberei-chen niederschlagen.Bei der Behandlung des Investitionsthemas in derWTO müssen wir die Erfahrungen aus den gescheitertenVerhandlungen über ein multilaterales Investitionsab-kommen in der OECD berücksichtigen. Mit der zuneh-menden globalen Verflechtung zwischen Handel undInvestitionen wird die Notwendigkeit der Ausarbeitungeines multilateralen Regelwerkes für einen Marktzugangbei Investitionen und insbesondere deren Schutz immerdringender.Zum Thema „Handel und Wettbewerb“ streben wireine WTO-Rahmenvereinbarung über multilateraleWettbewerbsregeln zur Ausgestaltung durch die WTO-Mitgliedstaaten an. Es geht also ausdrücklich nicht dar-um, die WTO als supranationale Kartellbehörde zu kon-stituieren, wie es in Ihrem Vortrag, Herr Brüderle, alsForderung anklang.
Die Bundesregierung mißt den sozialen Aspektendes internationalen Handels hohe Bedeutung bei.
Dank des klaren Festhaltens an dieser Position kann ichnunmehr feststellen, daß die EU einvernehmlich – HerrBrüderle, ich wiederhole: einvernehmlich – die Ein-richtung eines Ständigen Arbeitsforums der WTO ge-meinsam mit der Internationalen Arbeitsorganisation,ILO, anstrebt, in dem das Verhältnis zwischen Handel,Handelsliberalisierung, Arbeitnehmergrundrechten undEntwicklung näher untersucht und über die Zusammen-hänge verhandelt wird.
An diesem Dialog sollen auch wichtige gesellschaftspo-litische Gruppen wie Gewerkschaften und Arbeitgeber-vertreter beteiligt werden.
Sechstens. Für die bessere Integration der Entwick-lungsländer in das Welthandelssystem wird es entschei-dend auf einen verbesserten Marktzugang für Produkteder Entwicklungsländer in den Industrieländern ankom-men,
was im Einzelfall für die Industrieländer auch durchausschmerzhaft sein kann. Zu allererst sollten alle Indu-strieländer und möglichst auch fortgeschrittene Ent-wicklungsländer schon in Seattle eine Zusage an die amwenigsten entwickelten Staaten geben, ab dem Jahre2003 zollfreien Zugang für im wesentlichen alle Pro-dukte zu gewähren. Dies ist eine Initiative, für derenUnterstützung die EU schon seit einiger Zeit bei denWTO-Partnern wirbt. Diese Initiative kann wichtige Hil-festellung für die ärmsten Entwicklungsländer bietenund ist ein Beweis, daß es uns mit der stärkeren Einbe-ziehung dieser Länder in das Welthandelssystem ernstist. Außerdem treten wir für eine spezielle, besser mitanderen internationalen Organisationen koordiniertehandelsbezogene technische Hilfe sowie für eine Ver-feinerung der die Entwicklungsländer begünstigendenWTO-Sonderregeln ein.Unsere zugegebenermaßen ehrgeizigen Erwartungenan die neue Runde werden auch von den EU-Partnerngeteilt, in dieser Breite allerdings nicht von allen WTO-Partnern.
Die Entwicklungsländer äußern starke Vorbehalte gegenThemen wie Sozialstandards, Umwelt und Investitionen,hinter deren Wunsch zur Einbeziehung in die Runde sieprotektionistische Absichten der Industrieländer vermu-ten.Insgesamt stehen wir in Seattle vor außergewöhnlichschwierigen Beratungen. Auch die EU-Kommission hatinzwischen vor allzu hohen Erwartungen gewarnt. Wirwerden daher noch erhebliche Überzeugungsarbeit ins-besondere bei den Entwicklungsländern leisten müssen,damit es in Seattle gelingt, das Momentum weiterer um-fassender Marktöffnung sowie zur Stärkung und Erwei-terung der WTO-Regeln über das Jahr 2000 hinaus zuerhalten.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Erich Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Als der ehemaligeEU-Kommissar Leon Brittan vor drei Jahren eine neueWelthandelsrunde forderte, da stand er alleine, da habendas alle weit von sich gewiesen. Jetzt stehen wir dochvor einer neuen Runde. Es geht also nicht nur um dieAbarbeitung der aus der Uruguay-Runde übriggeblie-benen Punkte. In Seattle soll endlich die Entscheidungdarüber fallen, was auf die Tagesordnung kommt undwas nicht.Die Europäische Union – Minister Müller hat das ge-rade vorgestellt – hat sich vorgestern auf einen Vor-schlag für den Ministerrat geeinigt. Diese Position, HerrBrüderle, finde ich nicht so abartig, wie Sie sie darge-Bundesminister Dr. Werner Müller
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stellt haben. Im Vergleich zu dem, was nach den Dis-kussionen der letzten Jahre zu befürchten war, halte ichdas sogar für eine sehr vernünftige und an der Sacheorientierte Position. Sie dient dazu, sich mit den anderenauseinanderzusetzen. Denn es wird nicht alles das aufdie Tagesordnung kommen, was in Europa formuliertworden ist.Ja, wir sind für eine umfassende Runde. Wir sindauch für weitere Liberalisierung, weil wir der Überzeu-gung sind, daß sich dieser Weg als richtig erwiesen hat.Diesen Antrag, in dem wir uns für eine neue Liberalisie-rungsrunde aussprechen, haben wir gestellt, Frau Skar-pelis-Sperk, weil wir wollten, daß der Deutsche Bun-destag über die Vorbereitung dieser Konferenz diskutie-ren kann. Das haben wir erreicht, und das hat dazu ge-führt, daß auch andere Position bezogen haben. Das fin-den wir sehr gut; denn wir brauchen für diesen Prozeßmehr Öffentlichkeit, als das in der Vergangenheit derFall war.Das MAI ist mehrfach angesprochen worden. Ichglaube, daß die bisherigen Erfahrungen, die gezeigthaben, daß es im heutigen Kommunikationszeitalter soetwas wie eine internationale Öffentlichkeit gibt, in dieÜberlegungen einbezogen werden müssen und deshalbkeine fertigen Ergebnisse präsentiert werden können,sondern bereits auf dem Weg dorthin Information undDiskussion nötig sind. Der richtige Platz dafür ist hier –bei aller Anerkennung der Bemühungen, gesellschaftli-che Gruppen einzubeziehen und Kommunikationsfelderaufzubauen, die bereits im Vorfeld einen Teil derWiderstände auflösen oder zumindest in vernünftigeBahnen lenken.Die öffentliche Auseinandersetzung in den letztenJahren war von großem Mißtrauen geprägt. Weil das sowar, freut mich der Antrag der Koalitionsfraktionen. Mitihm war so nicht zu rechnen, hat doch die SPD noch imvergangenen Jahr mit der Angst vor den Folgen derGlobalisierung und der Liberalisierung des HandelsWahlkampf gemacht und auf Ängste spekuliert, die inder Bevölkerung natürlich vorhanden sind, weil – daraufist zu Recht hingewiesen worden – die Zusammenhängenoch nicht richtig dargestellt worden sind.
Weil Sie sich jetzt dafür aussprechen, stehen Sie stär-ker als in der Vergangenheit in der Pflicht, dafür zu sor-gen, daß erklärt wird, warum die Veränderungen in derWeltwirtschaft Anpassungsleistungen auch von unsverlangen. Ich wünsche mir nur, daß Sie aus dieser Er-kenntnis, die in dem Antrag deutlich wird, jetzt die Kon-sequenzen ziehen und auch dafür sorgen, daß die nöti-gen Reformen in Deutschland durchgeführt werden, dieden Standort Deutschland in diesem schärfer werdendenWettbewerb verbessern.
Bis jetzt haben Sie ja nur Dinge rückgängig gemacht,verzögert, verhindert und haben andere Dinge angekün-digt, die vielleicht kommen werden.Meine Damen und Herren, es muß verantwortlicheWege geben, das internationale Regelwerk transparent,fair und wirksam weiterzuentwickeln. Dieses Regelwerkmuß akzeptiert sein. Deshalb muß man auch darüberbreit diskutieren. Es muß auch andere Instrumentegeben, mit denen man die Wirklichkeit in dieser Weltein wenig erfassen kann. Die Finanzkrise in Asien warsicher nicht das Ergebnis der Liberalisierung der Fi-nanzmärkte.
– Moment. – Es wäre schon hilfreich gewesen, wennman in der Lage gewesen wäre, durch entsprechende In-dikatoren vorweg festzustellen, wer denn welchen Ver-änderungsbedarf hat, damit der Betreffende dann mitdieser Situation besser fertig geworden wäre. Es ist ebenerst durch diese Krise offengelegt worden, daß es „goodgovernance“ in diesen Ländern nicht gibt,
daß die Finanzarchitektur dort nicht stimmt, daß dasBankensystem dort nicht stimmt. Deshalb meine ich,daß man sich auch beim Fortgang der Diskussion in derWTO über Veränderungen solche Gedanken machenmuß und daß wir integriert denken müssen. Das heißtaber nicht, daß man alles und jedes in der WTO auchregeln kann und muß.Insgesamt hat die Liberalisierung einen entschei-denden Beitrag dazu geleistet, daß es in der WeltWohlstand gab und Entwicklung stattfand. Richtig istaber auch – das ist hier mehrfach betont worden –: Dasist nicht überall in gleichem Maße geschehen. Vielmehrgibt es Verlierer, und gibt es Gewinner, und es gibt auchin bezug auf die Direktinvestitionen, deren Höhe, wieschon richtig gesagt worden ist, mittlerweile die Ent-wicklungshilfe überschreitet und die die eigentlichenImpulse für die wirtschaftliche Entwicklung sind, großeUnterschiede, und zwar reicht das von Null bis zu einerwirklich erkennbaren positiven Entwicklung. Ich glaube,daß wir deshalb gut daran tun, das, was die Entwick-lungsländer in den letzten Wochen an vielen Stellendeutlich gemacht haben, ernst zu nehmen, nämlich daßes einen Fortschritt in der Liberalisierung nicht gibt,wenn ihre Interessen nicht besser als in der Vergangen-heit berücksichtigt werden.Da gibt es schlicht und einfach einige Dinge, die dieIndustrieländer und auch wir zur Kenntnis nehmen müs-sen. Wir müssen auch hier in unserem Land die Anpas-sungen und Strukturveränderungen vertreten, die bei unsnötig sind, damit wir das gewährleisten können. Damittun sich manche sehr schwer. Der Hintergrund ist: AlleAnforderungen hinsichtlich Sozialstandards und Um-weltstandards werden doch von den Entwicklungslän-dern nicht pauschal abgelehnt.
Sie sind doch selbst daran interessiert, daß es eine zu-kunftsfähige Entwicklung gibt. Aber der pakistanischeErich G. Fritz
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5614 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Wirtschaftsminister sagte neulich: „Pakistan ist ein ar-mes Land; wir wollen keine Kinderarbeit; wir wollen ei-ne intakte Umwelt, aber ihr müßt uns die Chancen ge-ben, daß wir unsere Produkte verkaufen können, damitKaufkraft entsteht und die Mittel für Gesundheit, Erzie-hung und die Entwicklung unseres Landes vorhan-den sind. Dann werden wir uns auch den Standards nä-hern.“
– Da hat sich in der Zwischenzeit ein bißchen geändert.Das ändert nichts an der grundsätzlichen Tatsache unddaran, daß das ein Beispiel für viele andere Entwick-lungsländer ist.Wenn Sie ein anderes Beispiel haben wollen, dannnenne ich den Namen Tofail Ahmed, dem Sie ja vonseiner ganzen Biographie und politischen Geschichte hernicht unterstellen wollen, daß er etwas gegen Menschen-rechte hat. Er sagt im Prinzip genau das gleiche und trittdafür ein, daß diese Probleme jetzt stärker berücksichtigtwerden. Deshalb bin ich sehr wohl der Meinung, daßman mit gutem Recht sagen kann: Wir müssen uns inder nächsten Runde auch einmal anschauen: Welche in-ternationalen Regelwerke gibt es in bezug auf die dreiSäulen von Nachhaltigkeit, nämlich Umwelt, Sozialesund Ökonomie? Wir müssen aber auch danach fragen:Wie finden wir Instrumente, um Kohärenz herzustellen,ohne die Welthandelsorganisation jetzt zum Allheilmit-tel zu erklären? Das kann sie nämlich nicht sein. Wennsie nämlich hinsichtlich ihrer Ausgestaltung beliebigwird, dann wirkt sie nicht mehr. Wir haben da, glaubeich, einen ganz gesunden Ansatz.Herr Kollege Loske, ich finde, man muß einfach ver-nünftig mit diesen Fragen umgehen. Sie haben dazu jaeingangs einige vernünftige Bemerkungen gemacht. Dasheißt auch, zu akzeptieren, daß wir mit einigen Schrit-ten, die seit Rio gemacht wurden, nicht zufrieden waren.Aber man muß auch akzeptieren, daß Handelssanktionenals Mittel für die Durchsetzung der Rio-Beschlüsse si-cherlich niemandem nützen werden. Deshalb müssen dieAuseinandersetzungen über die Themen innerhalb derWTO-Runde so geführt werden, wie es Frau YolandaKakobadse, die equadorianische Umweltministerin,formuliert hat: Wir müssen alles in allen Organisationendenken, aber wir müssen alles getrennt bearbeiten. Wirmüssen hinterher sehen, wie die einzelnen Ergebnissezusammenpassen. Dies ist der richtige Weg.Die neue WTO-Runde, in deren Rahmen nicht nurdie alten Tagesordnungspunkte aufgegriffen werden,sondern auch das, was Herr Minister Müller gerade dar-gestellt hat – das muß nicht wiederholt werden –, bietetuns ausgesprochen gute Chancen, auch in Zukunft einer-seits unsere wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen – vor-ausgesetzt, wir sind bereit, unsere Hausaufgaben zu ma-chen – und andererseits einen wesentlichen Beitrag dazuzu leisten, daß auch andere bessere Chancen zur Nut-zung ihrer wirtschaftlichen Interessen erhalten. Deshalbunterstützen wir ausdrücklich den Ansatz, die Interessender ärmsten Länder innerhalb der WTO-Runde in denVordergrund zu stellen und ihnen Chancen auf einenMarktzugang zu eröffnen. Ohne solche Chancen helfenalle WTO-Regelungen nichts.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wortder Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bünd-nis 90/Die Grünen.
Kollegen! Die in Seattle beginnende Welthandelsrundehat sich zum Ziel gesetzt, durch eine stärkere Liberali-sierung den Wohlstand aller Menschen zu fördern. Da-von sollen insbesondere die Entwicklungsländer profi-tieren; denn es ist unbestritten, daß die bisherigen Re-gelungen und deren Umsetzung vor allem den Indu-strieländern und zum Teil auch den Schwellenländernzugute gekommen sind. Wir müssen zur Kenntnis neh-men, daß eine Öffnung der Märkte nicht automatisch zusteigendem Wohlstand für alle führt.
Wir müssen vielmehr die Handels- und Wirtschafts-beziehungen politisch gestalten, wenn soziale und öko-logische Fortschritte im Sinne aller Beteiligten erzieltwerden sollen. Die WTO muß Regelungen festlegen, dieuns und auch die Menschen in den Entwicklungsländerninsbesondere vor einem ungezügelten Umweltverbrauchund den fatalen Auswirkungen von Sozialdumpingschützen. Gleichzeitig gilt es, den Ländern des SüdensEntwicklungschancen zu eröffnen. Hier scheint im Vor-feld ein Gegensatz zu bestehen; denn die Entwicklungs-länder fürchten – auf Grund ihrer bisherigen Erfahrun-gen auch nicht zu Unrecht –, daß hinter dem Wunschnach einer stärkeren Berücksichtigung von Umwelt- undSozialstandards protektionistische Bestrebungen der In-dustrieländer stehen könnten.Die Lösung dieses Problems besteht weder darin,diese Bedenken einfach vom Tisch zu wischen, nochdarin, auf die Einbeziehung von Umwelt- und Sozial-normen in die internationalen Handelsbeziehungen zuverzichten. Eine saubere Umwelt ist nicht nur ein Anlie-gen der Menschen in den Industrieländern. Der Schutzvor elementarer Ausbeutung ist vor allem in den soge-nannten Entwicklungsländern – egal, in welchem Ent-wicklungsstadium sie sich befinden – dringend notwen-dig.
Die EU wird Zugeständnisse machen müssen, geradedann, wenn sie die für uns wichtigen Beschlüsse überdie Themen „Handel und Umwelt“ und „Handel undSozialstandards“ erzielen möchte. Es wird nicht ausrei-chen, die Notwendigkeit der Einbeziehung multilateralerUmweltabkommen und der ILO-Kernstandards mit demInteresse aller Menschen global zu begründen. Die Indu-strieländer müssen zeigen, daß sie bereit sind, ihrenErich G. Fritz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5615
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Wohlstand langfristig mit den Menschen im Süden zuteilen.
Deshalb müssen die Märkte gerade für die Produkteder Entwicklungsländer geöffnet werden, die diese Län-der im Moment überhaupt exportieren können, also vor-rangig im Agrar- und Textilbereich. Dies ist der richti-ge Zusammenhang von Chancen durch Liberalisierungund notwendigen Regulierungen. Deren Gestaltung istdie zentrale politische Aufgabe in Seattle. Die Ver-handlungen über den Handel mit landwirtschaftlichenProdukten wurden schon im Rahmen der Uruguay-Runde fest vereinbart. Vor allem die Entwicklungslän-der drängen auf stärkere Zugeständnisse insbesondereder EU. Natürlich ist es so, daß nicht alle Entwick-lungsländer identische Interessen haben. Die nahrungs-mittelexportierenden Länder haben selbstverständlichein viel größeres Interesse an Liberalisierungen imAgrarhandel als diejenigen, die auf Nahrungsmittelim-porte angewiesen sind.Dennoch: Exportsubventionen und geschlosseneMärkte im Norden führen nicht nur zur Verringerungvon Exportchancen der Entwicklungsländer, sondernauch zu Marktverzerrungen auf den internen Märktender Entwicklungsländer, auch in den Ländern, die nachwie vor auf die Einfuhr von Lebensmitteln angewiesensind. Oft wird gerade die Existenzgrundlage von Klein-bauern durch subventionierte Produkte gefährdet.Wir alle kennen die Auswirkungen der Rindfleisch-exporte aus der EU insbesondere nach West- und Süd-afrika. Deswegen müssen wir die Exportsubventionenweiter abbauen
und außerdem die „blue box“ auf ihre Entwicklungsver-träglichkeit hin prüfen sowie die „green box“ erweitern.Mit der Verabschiedung der Agenda 2000 hat sichdie EU in die richtige Richtung bewegt, wenn auch nochnicht ausreichend. Vor allem die Maßnahmen, die in dersogenannten „blue box“, also produktgebundene direkteZahlungen und Marktpreisstützungen, zusammengefaßtsind, müssen weiter reduziert werden. Zu begrüßen istder EU-Vorschlag, daß alle Industrieländer in der WTONullzollsätze für die Exporterzeugnisse aus den am we-nigsten entwickelten Ländern ab 2003 anwenden sollen.
Neben diesen Liberalisierungsschritten bedarf es abervor allem regulierender Maßnahmen zur Ernährungssi-cherung. Die Entwicklungsländer müssen selbst in dieLage versetzt werden, dafür notwendige Maßnahmen zuergreifen. Wir sollten gerade nicht eine undifferenzierteLiberalisierung fördern, sondern vorrangig Maßnahmenergreifen, die allen Menschen das Überleben sichern.Die Einführung einer „bread box“ stellt hier ein geeig-netes Mittel dar. Diese enthält genau definierte Pro-gramme im Grundnahrungsmittelbereich, die der Ernäh-rungssicherung und Hungerbekämpfung dienen.Im Vorfeld der WTO-Verhandlungen gibt es unter-schiedliche Sichtweisen bei Entwicklungs-, Agrar-,Umwelt- und Wirtschaftspolitikern. Entscheidend fürdie Akzeptanz der Seattle-Runde wird sein, daß es zueinem fairen Ausgleich zwischen den Interessen derEntwicklungsländer, den Verbraucherinteressen undauch den Interessen der europäischen Landwirtschaftkommt.Eine zentrale Forderung in unserem Antrag beziehtsich auf die Verhandlungsmacht bzw. -ohnmacht derEntwicklungsländer bei den WTO-Verhandlungen. Wirwollen dafür sorgen, daß diese Länder wirksame Mit-sprache-, Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten inder WTO bekommen. So können regionale Kooperatio-nen der Entwicklungsländer in diesem Bereich gefördertund kann bei der Rechtsberatung und -durchsetzungUnterstützung gewährt werden. Es wäre auch sinnvoll,wenn Deutschland überlegte, sich der Initiative andererLänder anzuschließen, ein unabhängiges Institut fürWTO-Recht mitzutragen.In diesem Zusammenhang finde ich es ausgesprochenwichtig, daß das Bundesministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung etwa 4 Millionen DMfür Qualifizierungsmaßnahmen bereitstellt. Dieser Wegsollte weitergegangen werden.Diskutieren wir also hier nicht nur über die Interes-sen, die die Entwicklungsländer haben, sondern sorgenwir dafür, daß sie diese Interessen selbst formulierenund vertreten können!Ich danke Ihnen.
Jetzt hat der Kollege
Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu-erst meiner Fraktion danke schön sagen, daß sie mirnoch ein paar Minuten Zeit gegeben hat, damit ich zudem sehr schwierigen Bereich der Agrarfragen dochnoch einige Worte sagen kann.Die Fragen der Agrarwirtschaft, die sich in Fortset-zung der Uruguay-Runde stellen, sind natürlich sehrkonkret zu fassen. Hier geht es um sehr konkrete Aus-wirkungen, unter anderem auf unsere Landwirtschaftund die vor- und nachgelagerten Bereiche. Die Agrar-diskussion wird sich im Spannungsfeld zwischen denCairnsländern, den USA, Europa, aber auch den Ent-wicklungsländern abzeichnen. Das ist der Bogen, derhier zur Diskussion steht. In diesem Spannungsfeld le-gen wir natürlich sehr großen Wert darauf, daß das EU-Agrarmodell nicht unter die Räder kommt, daß das EU-Agrarmodell erhalten bleibt, weil es vielfältige Aufga-ben erfüllt.Man muß einfach sagen: Es geht nicht nur um dieProduktion von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, son-dern auch – weit darüber hinaus – um den vor- undDr. Angelika Köster-Loßack
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nachgelagerten wirtschaftlichen Bereich. Es geht um diePflege der Kulturlandschaft, und es geht um eine nach-haltige Bewirtschaftung.
Eine nachhaltige Bewirtschaftung praktiziert eben nichtden Raubbau an der Natur, wie es in vielen Teilen derErde, übrigens auch in Nordamerika, leider Gottes derFall ist. Wir betreiben in Europa eine nachhaltige Agrar-bewirtschaftung.Zur Agenda 2000 muß man klar und deutlich sagen –sie hat die Voraussetzungen für die WTO-Runde schaf-fen sollen –, daß einiges versäumt worden ist. Ich spre-che zum Beispiel den Milchsektor an. Er wurde nichtgeregelt; vielmehr wurde seine Regelung ins Jahr 2005verschoben. Wenn es darum geht, die aufgehäuftenÜberschüsse bei Milch und Rindfleisch auf den Welt-märkten absetzen zu müssen, dann kommen wir auto-matisch in eine sehr schwierige Diskussion. Das wirddas Thema Nummer eins in den WTO-Verhandlungensein, bei denen die europäische Landwirtschaft unterDruck kommen wird. Wir werden erklären müssen, wases für einen Sinn macht, Nahrungsmittel zu produzieren,die auf dem europäischen Markt nicht absetzbar sind,die gelagert werden müssen und letztendlich mit Steuer-geldern in die Dritte Welt exportiert werden, wo sie zumTeil verheerenden Schaden anrichten. Dieser Schaden istfinanzpolitisch, agrarpolitisch, aber auch entwicklungs-politisch nicht zu verantworten. Er ist erst recht sonicht weiter zu finanzieren. Auf die hiermit verbunde-nen Fragen hat die Agenda 2000 keine Antwort gege-ben.Bei aller Kritik an der europäischen Agrarpolitikmuß man auch sehen, daß mehr Länder im Glashaus sit-zen, zum Beispiel die USA. Sie verstehen es, in einervorzüglichen Art und Weise die Förderung ihrer Agrar-sektoren, ihrer Landwirte in vielerlei Programmen zuverstecken. Wenn es darauf ankommt, dann schieben dieUSA 13 Milliarden über den Tisch und leisten zusätzli-che Hilfe – was in Europa überhaupt nicht denkbar ist.Wir haben gesetzlich klar fixierte Regelungen überdie Abläufe, die für jeden leicht erkennbar und somit –ob unserer Politik – auch leicht einklagbar sind. DiePolitik der Amerikaner in dieser Frage ist ausgesprochenverwaschen; deshalb kommt sie etwas eleganter über dieDiskussion hinweg. Herr Minister Müller, die Aufgabeder Europäer wird es sein, dafür zu sorgen, daß eine kla-re Diskussion zum Beispiel über die Förderregelungenin den USA geführt wird. Wir dürfen uns in diesemPunkt nicht über den Tisch ziehen lassen.
Ich hätte mir selbstverständlich gewünscht, daß wirim Hormonstreit mit den USA einen Schritt weiterge-kommen wären und daß endlich einmal die schon langein Aussicht gestellten Gutachten auf dem Tisch liegen,damit wir, wissenschaftlich begründet, wissen, ob diesesHormonfleisch Nachteile für die menschliche Gesund-heit bringt. Ich habe die Sorge, daß dieser Streit dieWTO-Verhandlungen zusätzlich belastet. Deshalb richteich von hier aus die Aufforderung an die Kommission,möglichst schnell einen wissenschaftlich begründetenBericht vorzulegen.
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Herr Kollege.
Ziel der WTO-Runde muß
es sein, daß bei einer weiteren Liberalisierung weder die
Entwicklungsländer noch das europäische Agrarmodell,
das heißt die europäische Landwirtschaft, unter die Rä-
der kommen dürfen. Es muß hart gehandelt und hart
verhandelt werden; denn – ich habe das schon eingangs
gesagt – es sind Maßstäbe anzulegen, die man verteidi-
gen muß und die für unsere Einkommen in der Land-
wirtschaft ausschlaggebend sind.
Herr Kollege, Sie
müssen zum Schluß kommen.
Lassen Sie mich noch
einen Satz sagen.
Einen Satz, aber
bitte keinen ganzen Gedanken mehr.
Wie hart die Verhandlun-
gen sein werden, zeigt sich daran, daß Kommissar Lamy
bereits gesagt hat: Die Europäer werden im Agarbereich
nachgeben müssen. Er stellt ein Nachgeben also schon
in Aussicht. Ich wünsche uns allen ein gutes Standing.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun
der Kollege Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitungder dritten WTO-Ministerkonferenz – dies ist heute inverschiedenen Debattenbeiträgen deutlich geworden –hat die Bundesregierung, hat aber auch die EuropäischeUnion eine führende Rolle übernommen. Ich denke, diesist eine Erwähnung wert, weil sich dies auch deutlichdagegen abgrenzt, wie ernst diese Dinge in früheren Jah-ren von früheren Regierungen genommen worden sind.Ich möchte ausdrücklich das gute Zusammenspielzwischen der Europäischen Kommission und der finni-schen Ratspräsidentschaft erwähnen, die über mehrereMonate hinweg an einer gemeinsamen Position der Eu-ropäischen Union gearbeitet haben. Die Union hat sichalso intensiv auf die neue WTO-Runde vorbereitet. Siehat damit auch ihrer gestiegenen Verantwortung nichtnur in Europa, sondern in der gesamten Welt Rechnunggetragen.Ulrich Heinrich
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Die Stärke der Europäischen Union als großer Han-delsmacht liegt vor allen Dingen in der gemeinsamenInteressenvertretung ihrer 15 Mitgliedstaaten. Diese ha-ben es verstanden, ihre Interessen noch stärker zu bün-deln als in der Vergangenheit. Nun müssen sie sie aucherfolgreich nach außen vertreten.
All das garantiert natürlich noch nicht, daß die vonuns nun gemeinsam festgelegten Ziele in den WTO-Verhandlungen auch tatsächlich erreicht werden können.Auch dies ist von verschiedenen Rednern bereits ange-deutet worden. In den wenigen Wochen bis Seattle wirdes deswegen darauf ankommen, daß in Vorgesprächenmit anderen nichteuropäischen WTO-Mitgliedern An-nährungsprozesse organisiert werden, insbesondere mitden Entwicklungsländern, aber zum Beispiel natürlichauch mit der Weltwirtschaftsmacht Nummer 1, denUSA.Wie wichtig Vorgespräche sind, zeigt das gesternzwischen dem amerikanischen Präsidenten Bill Clintonund dem Präsidenten der Europäischen Kommission,Romano Prodi, geführte Gespräch, in dem offensichtlicheine erste Annäherung in unterschiedlichsten Positionenerreicht werden konnte. Dies heißt natürlich noch nicht,daß dies von seiten der USA auch zu einer gemeinsamenPosition wird. Wir alle kennen die komplexen Zusam-menhänge und insbesondere auch den Einfluß des Kon-gresses.Besondere Bedeutung – dies ist hier ebenfalls mehr-fach gelobt worden – hat die Europäische Kommissionden Entwicklungsländern beigemessen. In diesem Zu-sammenhang ist heute eine ganze Reihe von Zielen ge-nannt und diskutiert worden. Ich will sie nicht im ein-zelnen wiederholen. Klar ist: Die WTO-Konferenz wirdnur dann zu einem erfolgreichen Abschluß gelangen,wenn sich alle Teilnehmerländer in den Ergebnissenwiederfinden. Das bedeutet, daß sich die Interessen derEntwicklungsländer auch in den Ergebnissen von Seattleund auch in der Tagesordnung der Millenniumsrundewiederfinden müssen.Wer sich mit der Materie beschäftigt hat, wird wis-sen, daß es sich hierbei um einen langwierigen undschrittweise zu vollziehenden Prozeß des gegenseitigenGebens und Nehmens handelt wird. Insofern, Herr Brü-derle, ist es eine unzulässige Verfälschung – keine Ver-einfachung, sondern eine Verfälschung –, wenn Sie da-von sprechen, daß es nicht im Interesse der Entwick-lungsländer liege, schrittweise zu einer Übernahme vonmodernen Arbeits- und Sozialnormen zu kommen.
Es geht nämlich nicht nur um Länder, es geht auch umMenschen.
Komparative Vorteile sind, wenn sie dazu dienen, Men-schen auszubeuten, keine Vorteile, die zu unterstützensind. Im übrigen ist aber klar – ich glaube, ich habe daseben auch deutlich gemacht –, daß wir den Entwick-lungsländern selbstverständlich die Chance geben müs-sen, an den Märkten teilzunehmen und teilzuhaben.Dann wird auch dort die Bereitschaft wachsen, sich aufdas Thema Arbeits- und Sozialstandards einzulassen.
Im übrigen hat man gemerkt, Herr Brüderle, daß IhreRede schon etwas abgelagert war. Sie müßten wissen,daß es inzwischen – seit vorgestern nämlich – eine ge-meinsame Position in der Europäischen Union gibt.
Es ist klar, daß es ein Arbeitsforum geben soll. Das wirdjedenfalls der Vorschlag sein, den die EU mit nachSeattle nehmen wird. Es wird ein Arbeitsforum vonWTO und ILO geben. Ich denke, das ist ein Erfolg die-ser Bundesregierung; die deutsche Handschrift ist ein-deutig zu erkennen. Der Begriff des Arbeitsforums – umdas deutlich zu machen –, auf den sich die Union geei-nigt hat, dokumentiert Ziel- und Ergebnisorientiertheit.Meine Damen und Herren, klar ist in diesem Zusam-menhang, daß den Entwicklungsländern Marktzugangund Marktöffnung angeboten werden müssen. Ich habedas schon angedeutet: Nur so werden sie ihrerseits einenschrittweisen Annäherungsprozeß an westliche Arbeits-und Sozialstandards vollziehen.Das am Dienstag dieser Woche in Lausanne stattge-fundene Vorbereitungstreffen für die WTO-Konferenzhat im übrigen deutlich werden lassen, daß es weltweitnatürlich noch erhebliche Meinungsverschiedenheitenzwischen den unterschiedlichen Handelsnationen gibt,und zwar insbesondere in bezug auf die Frage derMillenniumsrunde.Bislang hat sich insbesondere die Regierung der USAauf einige wenige Themenbereiche beschränkt, die ihrerAnsicht nach im November/Dezember in Seattle Aus-sicht auf Erfolg haben. Das Interesse der USA ist natür-lich doppelt motiviert: Einerseits stehen sie als Gastge-berland unter einem gewissen Erfolgsdruck, andererseitswerfen die im nächsten Jahr stattfindenden Präsident-schaftswahlen ihre Schatten voraus. Aber diese ameri-kanische Interessenlage gibt natürlich anderen, die amVerhandlungstisch sitzen, entsprechende Verhandlungs-spielräume.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit. Sie überziehen bereits seit
40 Sekunden.
Aber Sie rechnen mir
nicht die Zeit von anderen Fraktionen an?
Nein.
Insofern will ich deutlichmachen, daß es wichtig ist, daß wir, gerade weil die In-Rolf Hempelmann
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teressenlage auch der anderen so deutlich ist, an demPrinzip des „single undertaking“ festhalten. Das Prinzip„Nichts ist beschlossen, bevor nicht alles beschlossenist“ muß gelten. Nur so kann sichergestellt werden, daßdie Konferenz am Ende ein Erfolg wird.Ich wollte noch das eine oder andere hinzufügen undwundere mich ein bißchen, daß die Zeit schon um ist.
Sie können das doch
sehen, Sie müssen nur hinschauen.
Ich verzichte deswegen
auf das, was ich mir sonst noch vorgenommen habe.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Göhner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, diese
Debatte und auch die Anträge der Regierungskoalition
wie der CDU/CSU weisen in den Grundzügen zur Welt-
handelspolitik eine erfreuliche und beachtliche Gemein-
samkeit auf. Die im Entwurf formulierte Position der
Europäischen Union für das Verhandlungsmandat von
Seattle findet auch unsere Zustimmung, das will ich hier
ausdrücklich festhalten.
Ich will mich aber mit den unterschiedlichen, sagen
wir: Akzenten beschäftigen, die in dieser Debatte eine
Rolle gespielt haben, insbesondere im Zusammenhang
mit der Frage der Umwelt- und Sozialstandards. Ich
glaube nämlich, daß diese Debatte ein Stück illusionär
ist und einige Unehrlichkeiten beinhaltet. Aus unserer
Sicht, aus europäischer Sicht, unter dem Gesichtspunkt
wirtschaftlicher Interessen ist natürlich die Schaffung
etwaiger Umwelt- und Sozialstandards als Bestandteil
des WTO-Regimes eine feine Sache; denn solche Stan-
dards werden meilenweit unter dem EU-Level bleiben.
Aber der Grat zum Protektionismus gegenüber sol-
chen Bestrebungen ist sehr schmal. Das muß man be-
denken. Die WTO wird – Kollege Hempelmann, Sie ha-
ben das vorhin im gleichen Atemzug mit Marktöffnung
und Arbeits- und Sozialstandards genannt – die mit die-
ser Verhandlungsrunde beabsichtigte notwendige Öff-
nung vor allem hinsichtlich der Entwicklungs- und
Schwellenländer nicht vornehmen können, wenn sie sich
gleichzeitig als eine Art Weltgesetzgeber für Umwelt-
und Sozialstandards aufschwingen würde. Das wird
nicht klappen.
Unter dem Vorwand, weltweit mehr für Umwelt und
Soziales tun zu wollen, lassen sich eben auch sehr leicht
protektionistische Neigungen fördern. Ich bin etwas
skeptisch, wenn ich höre, wer diese Forderungen er-
hebt.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-
Sperk?
Gerne.
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Herr Kollege
Göhner, darf ich Sie darüber informieren, daß die Inter-
nationale Arbeitsorganisation bei der Forderung nach
Kernarbeitsnormen mittlerweile nur mehr einen Kernbe-
stand verlangt, der unter anderem ein Verbot der Arbeit
von Kindern unter zehn Jahren sowie ein Verbot der Ar-
beit von älteren Kindern, soweit sie nicht mit einer Aus-
bildung verbunden werden kann, das Verbot der Lohn-
sklaverei und das Verbot der gewalttätigen Unterdrük-
kung von Gewerkschaften enthält? Wenn wir diese drei
zentralen Punkte als selbstverständliche Grundnormen
der Menschen in eine Welthandelsordnung einbringen
wollen, dann ist zu fragen, was daran Protektionismus
ist. Sind das, zum Beispiel das Verbot der Lohnsklave-
rei, nicht selbstverständliche Werte, die immer und
überall durchgesetzt werden sollten?
Frau Kollegin,ich kann Ihre Fragen mit Ja beantworten und Ihnen aus-drücklich zustimmen. Deshalb stimme ich auch der Po-sition der EU zu – Sie offensichtlich nicht –, die dieseDinge jetzt nicht zum Bestandteil des WTO-Regelwerksmachen will, sondern die darüber in einem Arbeitsforum– so heißt das jetzt – mit der ILO einen Dialog führenwill und die Zuständigkeit sowohl für die Normenset-zung als auch für die Durchsetzung bei der ILO beläßt.Dafür trete ich ein; das halte ich für richtig. Ich glaubenämlich, daß die jetzt gefundene EU-Position ein guterKompromiß ist. Die Bundesregierung hat ihre vorherigePosition aufgegeben. Das war vernünftig.Der beste Beitrag, den die WTO gerade in Ent-wicklungs- und Schwellenländern zur Schaffung vonUmwelt- und Sozialstandards leisten kann, besteht darin,eine Marktöffnung für diese Länder zu ermöglichen.
Nur wenn diese Länder die Chance haben, sich ökono-misch nachhaltig zu entwickeln, werden sie ihre sozialenund ökologischen Standards verbessern. Ich wiederhole:Ich unterstütze deshalb die gemeinsame EU-Position,wie sie als Entwurf vorliegt. Minister Müller hat soebenerklärt, daß die Bundesregierung diese Position ebenfallsunterstützen wird.Im Antrag der Regierungsfraktionen ist die Rede da-von, daß man im Rahmen der Schaffung von Umwelt-standards in den WTO-Regelwerken zum BeispielRücknahmeverpflichtungen verankern sollte. Ich willdies jetzt nicht ins Lächerliche ziehen; aber Sie glaubenRolf Hempelmann
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doch nicht im Ernst, daß es tatsächlich WTO-Regelngeben könnte, die unseren Pfand- bzw. Rücknahme-regelungen, unserem dualen System oder unserer Ver-packungsordnung ähnlich wären.
Das wäre völlig überzogen. Das ist die Illusion einesWeltgesetzgebers, die Sie nicht verbreiten sollten.
Für die nächste WTO-Runde muß es ein breites The-menspektrum geben. Darin sind wir uns alle einig. Das,was dort verhandelt werden soll, muß paketfähig wer-den. Rolf Langhammer hat in der heutigen Ausgabe des„Handelsblattes“ zu Recht geschrieben, daß die Welt-handelsordnung vor Überfrachtung geschützt werdenmuß. Dies muß gerade im Interesse der Länder aus demBereich der Entwicklungs- und Schwellenländer ge-schehen, die nach einem Marktzugang fragen und dieden Vorwurf artikuliert haben, daß es zu viele Marktbar-rieren gibt.Wir müssen ein Stückchen mehr verinnerlichen, daßdie Bundesrepublik Deutschland in Seattle nicht amVerhandlungstisch sitzt, sondern daß die EU-Kommis-sion bzw. die EU Partner der WTO ist.
Wir haben in Form des EU-Binnenmarktes ein be-sonderes Beispiel dafür gesetzt, wie man durch Markt-öffnung, durch die Abschaffung von Zöllen, die Beseiti-gung von nichttarifären Handelshemmnissen und durchdie Schaffung gemeinsamer Rechtsgrundlagen für Inve-stitionen und – Herr Brüderle hat völlig recht – fürWettbewerb erfolgreiche Ansätze für Wachstum undBeschäftigung entwickeln kann. Das haben wir inner-halb der Europäischen Union umgesetzt. Dies war eingroßartiges Programm im Hinblick auf Wachstum undauf eine nachhaltige ökologische Entwicklung.Um ähnliche Ziele geht es primär bei dieser WTO-Runde. Wir brauchen dazu eine umfassende Agenda.Das vorrangige Ziel der weiteren Liberalisierung desWelthandels ist, Märkte zu öffnen und Hindernisse so-wie Bremsklötze im Hinblick auf den Marktzugang zubeseitigen. Noch immer gibt es in wichtigen Produktbe-reichen – auch in Industrieländern – Zölle bis zu einerHöhe von 20 Prozent. Es gibt große Entwicklungs- undSchwellenländer, die Zölle von durchschnittlich bis zu39 Prozent haben.Der Marktzugang wird häufig durch nichttarifäreHandelshemmnisse behindert, insbesondere bei techni-schen Standards und Normen. Diese Hindernisse sindauszuräumen. Das aber geht nicht durch eine separierteBehandlung von Teilmärkten, wie es offenbar in denUSA geschieht, sondern nur, indem man Industriegüter,Dienstleistungen und Agrarprodukte, den Welthandelinsgesamt, zum Gegenstand der Agenda macht. Ich den-ke aber, daß man nach dem Gespräch zwischen Prodiund Clinton zuversichtlich sein kann, daß es gelingt, fürSeattle eine gemeinsame Tagesordnung, eine paketfä-hige Agenda zustande zu bringen.Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Land-wirtschaft sagen. Der Kollege Heinrich hat völlig recht:Das ist ein besonders wichtiger und aus europäischerSicht problematischer Bereich. Ich verstehe die Sorgender europäischen Landwirtschaft, insbesondere der deut-schen Landwirtschaft nach dem Kahlschlag, wie er inden letzten Monaten durch die steuer- und sozialpoliti-schen Vorschläge der Bundesregierung auch gegenwettbewerbsfähige Betriebe betrieben wurde. Ich kanndeshalb nachvollziehen, wenn diesem Projekt bei dernächsten WTO-Runde große Skepsis entgegengebrachtwird.Ich glaube aber, daß die Interessenunterschiede zwi-schen den USA und der EU überschätzt werden. Auch inSachen Landwirtschaft gibt es gemeinsame Interessen.Es ist ja nicht so, als hätten die USA für ihre Landwirt-schaft kein Subventionssystem. Im Gegenteil, quantita-tiv übertrifft es das der EU gewaltig.Meiner Ansicht nach ist das, was in der Verhand-lungsposition der EU zum Ausdruck kommt, richtig: DieLandwirtschaft ist multifunktional. Auch in Zukunftmuß eine flächendeckende Landwirtschaft möglich sein.Flächenbezogene Unterstützungsleistungen – diese gibtes in verkappter Form auch in den USA – müssen dahererhalten bleiben.Der Veränderungsdruck auf den europäischenAgrarmarkt durch die von uns allen gewünschte und be-triebene Erweiterung der Europäischen Union wird vielgravierender sein als der Veränderungsdruck, der sichaus der WTO-Runde ergibt. Bei der WTO-Runde wirdman die EU-Erweiterung mit im Blick haben müssen,damit nach dem Kahlschlag, den Sie als Koalition gegendie Landwirtschaft in Angriff genommen haben, wett-bewerbsfähigen, zukunftsträchtigen, gut strukturiertenBetrieben bei uns nicht jede Chance genommen wird.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Daß die nächste WTO-Runde schwierig wird, ist nicht erst in der heutigen De-batte deutlich geworden. Nur, eines muß klar sein – dassage ich insbesondere an die Adresse der Kollegen Göh-ner und Heinrich –: Eine Verhandlungsgrundlage istvorhanden, nämlich die Agenda 2000, die für die euro-päischen Mitgliedstaaten hilfreiche Wege in die richtigeRichtung vorgegeben hat. Wir haben mit dem Antragauf Drucksache 14/1860 bewußt einen wichtigen Aspektdieses gesamten Bereiches herausgegriffen, nämlich dieKohärenzproblematik, insbesondere bezogen auf das bisheute schwierige Verhältnis von EU-Agrarpolitik undEntwicklungspolitik, bilateral oder multilateral veran-kert.Wenn jetzt der „Rat Landwirtschaft“ auf EU-Ebenedarauf hinweist, daß die Europäische Union vorgeschla-Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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gen hat, daß die in Seattle tagenden WTO-Minister dieVerpflichtung – ich zitiere – „eingehen sollen, späte-stens am Ende der neuen Verhandlungsrunde für im we-sentlichen alle Erzeugnisse, die von den am wenigstenentwickelten Länder ausgeführt werden, einen abgabe-freien Marktzugang sicherzustellen“, dann ist das bereitsein Erfolg auch der deutschen Verhandlungsführung aufEU-Ebene, insbesondere des Ministers Funke und derMinisterin Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Maßnahmen derEntwicklungszusammenarbeit zur Steigerung der Agrar-produktion in den genannten Ländern und auch die imRahmen der Strukturanpassung geforderte Ausweitungder Exporte werden daher eher zum Erfolg führen als inder Vergangenheit. Dies gilt im Zusammenhang mit derFestlegung des Agrarteils in der Agenda 2000 wegen derPreisgestaltung auch für die europäischen Landwirte.Das ist meiner Ansicht nach ebenfalls ein Erfolg für dieFestlegung der Verhandlungsposition mit Blick auf dieKonferenz in Seattle. Dabei wurden und werden aberauch nicht die Anliegen – das will ich deutlich sagen –der deutschen und europäischen Landwirte vergessen,die im Zuge der Umsetzung des Agrarteils der Agenda2000 unter anderem wegen der Neugestaltung der Prei-se, die sich am Weltmarktniveau orientieren sollen, neueChancen für ihre Produkte mit sehr hohem Qualitäts-standard bekommen.Es geht also, liebe Kolleginnen und Kollegen, immerauch um ein faires Ausloten der jeweiligen Interessen.Dabei muß man sich bemühen, politische Maßnahmenund Programme so zu gestalten, daß positive Entwick-lungen in einem Bereich nicht durch Maßnahmen in an-deren Bereichen behindert werden. Ein Problem ist undbleibt dabei die Subventionierung von EU-Exportenin Entwicklungsländer, durch die es zu Marktstörun-gen und zur Schwächung der dortigen Produzentenkommt. Auch hier hat der deutsche Beitrag zur Gestal-tung der Agenda 2000 den richtigen Weg vorgezeichnet.
Im Gegensatz zur immer wieder geäußerten Einschät-zung sage ich, daß sich das Ergebnis sehen lassen kann,auch wenn noch, Kollege Heinrich, Regelungsbedarf beider Umsetzung hier in Europa und bei den Verhandlun-gen in Seattle besteht.Besonders wichtig ist mir in der jetzigen Situation derHinweis, daß die Bundesregierung darauf hinwirkensoll, die sozialen und ökologischen Standards bei denVerhandlungen verstärkt zum Thema zu machen. Mansollte hier doch nicht so tun, als ob es das nicht schon inder Vergangenheit bei anderen internationalen Organi-sationen auf UNO-Ebene gegeben hat. Das ist nicht neu.Für die Verhandlungen muß auf jeden Fall noch ein kla-rer Auftrag für die Verhandlungsführer formuliert wer-den.Konkret heißt das – wir haben das in dem von mirgenannten Antrag auch so formuliert –: Die Grundlagenfür die Beschlüsse mit einer Beschreibung ihrer Auswir-kungen sind in zwei gesonderten Arbeitsgruppen „Han-del und Sozialnormen“ und „Handel und Umwelt“ zuberaten. Dabei – auch das ist Bestandteil unserer Vor-stellungen – muß die besondere Bedeutung der Kohä-renz durchgängig Gegenstand der Erläuterungen sein.Die WTO-Verhandlungen müssen auch immer denAspekt der Ernährungssicherung, der Entwicklungsver-träglichkeit und der Nachhaltigkeit zum Gegenstand ha-ben. Dabei geht es – Frau Kollegin Köster-Loßack hatschon darauf hingewiesen – um die richtige Einordnungder Blue-box-Maßnahmen und die nachhaltige Unter-stützung der Green-box-Maßnahmen. Es wird sehr dar-auf ankommen, welcher Stellenwert diesem Bereich beiden Verhandlungen eingeräumt wird und daß das ThemaHandel im Zusammenhang mit den Strukturanpassungs-programmen nicht allein in den Vordergrund gestelltwird. Dies geschieht leider immer wieder.
Das Ziel der Ernährungssicherung muß neben demSchutz des Lebens und der Gesundheit als weiteresschützenswertes Rechtsgut aufgenommen werden.Ferner wird es darum gehen, daß die WTO durch ihreRegeln und ihre Schiedsgerichtsverfahren garantiert, daßdie möglichen Zielkonflikte zwischen Handel und bei-spielsweise Ernährungssicherung, Umwelt, Verbrau-cherschutz, Regionalentwicklung oder ländlicher Be-schäftigung angemessen berücksichtigt werden. Bei ei-ner Güterabwägung genießt dabei der Handel nicht au-tomatisch Vorrang. Es geht um eine klare Regelung desVerhältnisses von WTO-Regeln und internationalen Ab-kommen. Die Ergebnisse der neuen WTO-Runde müs-sen dazu führen, daß faire Partnerschaft im Rahmen glo-balisierter Märkte entstehen kann. Wer will, daß die we-niger entwickelten Staaten stärkere Partner werden, mußihnen mehr Chancen zur Entwicklung und zur Beteili-gung am Weltmarkt einräumen.
Handel und Entwicklungszusammenarbeit sind insbe-sondere im Bereich der Agrar- und Ernährungswirt-schaft zwei Seiten einer Medaille. Wir haben entspre-chende Vorstellungen und Forderungen entwickelt.Wenn die in Aussicht stehende weitere Liberalisierungdie Nahrungsmittelsicherung für die Ärmsten der Weltbe- oder sogar verhindert und keine Maßnahmen imSinne einer Food-security-Box ergriffen werden, dannspaltet man die Welt noch mehr. Auch darauf wurdeheute mehrfach hingewiesen.
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Herr Kollege.
Der Forderungskatalogunseres Antrages zur Kohärenz konkretisiert die Forde-rungen des Antrages zur Weiterentwicklung des Welt-handelssystems unter diesem Aspekt und führt sie unterden anderen angesprochenen speziellen Aspekten wei-ter.Herzlichen Dank.
Reinhold Hemker
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Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünenzu einer umfassenden Weiterentwicklung des Welthan-delssystems auf Drucksache 14/1861. Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-nommen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf Drucksachen 14/1664, 14/1834 und 14/1860 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17a bis 17i sowieZusatzpunkt 5 auf:17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 18. Mai 1999 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und dem Staat Ku-wait zur Vermeidung der Doppelbesteuerungauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen und zur Belebung derwirtschaftlichen Beziehungen– Drucksache 14/1841 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
– Drucksache 14/1830 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung der Statistiken der Schiffahrt unddes Güterverkehrs– Drucksache 14/1829 –Überweisungsvorschlag:
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver-einbarung vom 19. Mai 1998 zwischen der Re-gierung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung des Fürstentums Liechtensteinüber das Verwaltungsverfahren bei der An-meldung neuer Stoffe– Drucksache 14/1710 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Win-fried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysiund der Fraktion der PDSBau- und Betriebsordnung für Regionale Ei-senbahnstrecken– Drucksache 14/998 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HartmutKoschyk, Christian Schmidt , Karl La-mers, Peter Hintze und der Fraktion der CDU/CSUVersöhnung durch Ächtung von Vertreibung– Drucksache 14/1311 –Überweisungsvorschlag:
Margrit Wetzel, Hans-Günter Bruckmann, Dr.Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten AlbertSchmidt , Kerstin Müller (Köln),Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbot des Mitführens von Radar- und La-serwarngeräten in Kraftfahrzeugen– Drucksache 14/1351 –Überweisungsvorschlag:
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zurErhöhung der Nutzungsentgelte– Drucksache 14/1718 -Überweisungsvorschlag:
gierungBericht über die Wirkungen der Nutzungsent-geltverordnung sowie zu notwendigen Ände-rungen– Drucksache 14/1479 -Überweisungsvorschlag:
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desDüngemittelgesetzes– Drucksache 14/1857 –Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weiterentwicklung der deutsch-tschechischenBeziehungen– Drucksache 14/1873 –Überweisungsvorschlag:
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Vor diesem Hintergrund sehe ich es als eine besondereEhre an, heute zum Jahresabschlußbericht 1998 spre-chen zu dürfen.Das Petitionsrecht ist eines der wichtigsten verfas-sungsrechtlich verankerten Rechte der Menschen in un-serem Land. Auch im Jahre 1998 machten viele Bürge-rinnen und Bürger unseres Landes hiervon Gebrauch.Die große Bedeutung dieses Rechts liegt im direktenKontakt der Bürgerinnen und Bürger mit einem parla-mentarischen Gremium. Was die Menschen über Peti-tionen an uns Volksvertreter herantragen, hat einen be-sonders hohen Stellenwert.Die knapp 17 000 Eingaben im Jahre 1998 zeigensehr deutlich, daß die Sorgen und Nöte der Menschennicht weniger geworden sind. Sie zeigen aber auch, daßdie Menschen trotz der häufig proklamierten Politikver-drossenheit beachtliches Vertrauen und immer wiederHoffnung in die Politik setzen, bei der Bewältigung derSorgen und Nöte Unterstützung zu finden.Die alte Bundesregierung hat die Arbeit des Petiti-onsausschusses – so meine ich – nicht immer so positivunterstützt, wie man es eigentlich hätte erwarten müs-sen. Die Bürgerinnen und Bürger haben es wohl genausogesehen; denn in den drei Monaten vor der Bundestags-wahl ging die Zahl der Eingaben drastisch zurück. Diesist aber auch ein deutliches Zeichen dafür, daß die Er-wartungshaltung der Menschen in diesem Land gegen-über der neuen Regierung groß ist und sie sich von ihrdie Veränderungen versprechen, zu denen die alte Re-gierung nicht fähig war. Das ist eine hohe Erwartungs-haltung.Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß in der relativkurzen Zeit seit der Regierungsübernahme schon Ver-besserungen spürbar geworden sind.
Signifikant ist zum Beispiel, daß, wenn wir einen Regie-rungsvertreter laden, die Auskünfte doch schon eine an-dere Qualität haben.
– Das muß nicht sein.Bevor ich auf den vorliegenden Bericht zu sprechenkomme, möchte ich den fleißigen und zuverlässigenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußsekre-tariats meinen besonderen Dank sagen.
Sie bewältigten, wie es in den gesamten zurückliegen-den 50 Jahren der Petitionsgeschichte im DeutschenBundestag der Fall war, 1998 nicht nur die enorme Zahlvon Neueingaben, sondern auch die zahlreichen Nach-träge.Abschließend konnten wir im letzten Jahr 21 237 Pe-titionen behandeln. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter des Sekretariats leisteten umfangreiche Vorarbeit undhalfen auch jederzeit sehr geduldig, Sonderwünsche derBerichterstattterinnen und Berichterstatter nach zusätzli-chen Stellungnahmen und anderen Recherchen für dieVorbereitung der Beschlußempfehlungen zu erfüllen.Herzlichen Dank dafür auch im Namen meiner Kolle-ginnen und Kollegen!In diesen Dank schließe ich auch unsere Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter ein, die an dieser Stelle aucheinmal genannt werden müssen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
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Interessant ist die Verteilung der Petitionen auf dieeinzelnen Ministerien. Auf das Bundesministerium fürArbeit und Sozialordnung entfiel mit 5 292 Petitionendie größte Zahl der Eingaben. Hieran wird deutlich, daßdie sozialen Belange das Problem Nummer eins sind.Kein anderes Ressort erreichte annähernd eine so hoheAnzahl von Eingaben.Auffällig bleibt neun Jahre nach der Wende die unter-schiedliche Verteilung der Petitionen auf die einzelnenBundesländer. Aus dem Freistaat Bayern kamen mit Ab-stand die wenigsten Eingaben, nämlich nur 114 pro eineMillion Einwohner.
– Warten Sie doch zu Ende ab!Im Vergleich dazu wurden in Thüringen 467 Petitio-nen, bezogen auf dieselbe Bevölkerungszahl, gezählt.
Durch die zahlreichen Eingaben zeigen die Bürgeraus den neuen Ländern einerseits, wie groß und breitgestreut die Probleme in diesen Regionen immer nochsind. Andererseits sind dies auch deutliche Rufe an dieBundesebene nach mehr und vor allem effektiverer Un-terstützung bei der Lösung dieser Probleme, den die alteBundesregierung unserer Auffassung nach nicht ernstgenug genommen hat.Der Historiker Fritz Stern hat anläßlich seiner Aus-zeichnung mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deut-schen Buchhandels gesagt:Die innere Wiedervereinigung ist Vorbedingung fürpolitische Stabilität in Deutschland. Es darf in die-sem Land keine Bürger zweiter Klasse geben.Diese mahnenden Worte sollten wir sehr beherzigen.Vorreiter beim Gebrauch des Petitionsrechts ist undbleibt Berlin mit 468 Eingaben pro eine Million Berli-ner. Es bleibt nun spannend zu beobachten, ob sich hier-an durch den Umzug des Parlaments und der Regierungnach Berlin etwas ändern wird.
– Das ist durchaus möglich.Viele Anfragen aus den neuen Ländern beziehen sichnach wie vor auf Grundstücks- und Liegenschaftsan-gelegenheiten. So ging im November 1997 die Bitte ei-nes Ehepaares aus Mecklenburg-Vorpommern beimAusschuß ein, in der das Ehepaar schildert, daß es 1975eine Arbeit in einer LPG aufgenommen und hier eineMietwohnung in einem Doppelhaus erhalten habe. DieFamilie freute sich, als sie 1990 die Wohnung und dazuauch Grund und Boden von eben dieser LPG erwerbenkonnte. Erst nach dem Kauf erhielt die Familie die Flur-stückskarte vom Katasteramt und mußte jetzt leiderfeststellen, daß sie das Nachbargrundstück erworbenhatte.Diese Tatsache zeigt, wie schwierig die erstenSchritte in der Nachwendezeit waren. Auf diesem Ge-biet ist auch heute noch nicht alles aufgearbeitet.Die Petenten baten den Ausschuß, auf die Bundesan-stalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben einzu-wirken, um einen Grundstückstausch zu ermöglichen.Dem Anliegen konnte entsprochen werden. Ich denke,es ist sehr erfreulich, wenn solch ein Mißgeschick ausder Welt geschaffen werden kann und dem Petenten ge-holfen wird.
Sehr häufig erreichen uns immer noch Petitionen zumVertriebenenzuwendungsgesetz. Ein Petent, geborenin Schlesien, beschwerte sich beispielsweise über dieStichtagsregelung dieses Gesetzes. Der Petent hatte bis1989 in der ehemaligen DDR gelebt und wurde einenMonat vor dem Fall der Mauer ausgebürgert. Da derStichtag in dem Gesetz aber der 3. Oktober 1990 ist undder Vertriebene laut Gesetz bis zu diesem Zeitpunkt inder ehemaligen DDR gewohnt haben muß, wurde ihmmitgeteilt, daß er keinen Anspruch auf die einmaligeZuwendung in Höhe von 4 000 DM habe. In den Augendes Petenten liegt hier eine große Ungerechtigkeit vor.Er fühlte sich quasi doppelt vertrieben und vom Gesetz-geber benachteiligt. Eine Gesetzesänderung konntedem Petenten nicht in Aussicht gestellt werden, aber diePetition wurde dem Bundesministerium der Finan-zen zugeleitet, um in künftige Überlegungen mit ein-bezogen werden zu können. Außerdem wurden die ein-zelnen Fraktionen von dieser Petition in Kenntnis ge-setzt.Ich erwähne dies, weil wir mit den Unzulänglichkei-ten von Stichtagsregelungen immer wieder konfrontiertwerden. Dies muß für uns aber auch Anlaß sein, dieGründe dafür den Bürgerinnen und Bürgern besser zuverdeutlichen.Für die Mitglieder des Ausschusses bedeutet die Be-arbeitung von Petitionen – gestatten Sie mir diese Be-merkung – viel beharrliche und intensive Arbeit; in allerStille, oft nach 22 Uhr. Die Ausschußsitzungen beginnenoft mittwochs 7.30 Uhr. Nun sind wir alle auch noch inanderen Fachausschüssen tätig. Die Sitzungen des Peti-tionsausschusses werden so anberaumt, daß sie nicht mitanderen Terminen kollidieren können. Leider nimmtaber die Unsitte wieder zu, daß sich Arbeitsgruppen undAusschüsse nicht an diese Übereinkunft halten undebenfalls Beratungen mittwochs um 8 Uhr anberaumen.Ich denke, hier könnte wieder einmal Ordnung einkeh-ren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche, daßdie Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auch inZukunft vom Petitionsrecht zahlreich Gebrauch machen,denn darin ist nicht nur Kritik an bestehenden Verhält-nissen zu sehen; es ist vielmehr der direkte Kontakt deseinzelnen Menschen in unserem Land zum Gesetzgeber.Christel Deichmann
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Es ist für uns eine Chance zur Kommunikation und zurVeränderung.Vielen Dank.
Ich erteile dem
Kollegen Hubert Deittert, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir unter-halten uns heute über den Jahresbericht 1998 des Peti-tionsausschusses des Bundestages. Gestern haben wir ineiner eindrucksvollen Feier Rückblick auf 50 Jahre desBestehens dieses Ausschusses genommen. Ich denke,uns allen ist bei dieser Feier die Bedeutung dieses Aus-schusses noch einmal vor Augen geführt worden. DieserAusschuß ist das Bindeglied zwischen den Bürgern imLande, dem Parlament und der Regierung. Ich denke,man muß sehr großen Wert darauf legen, diese Verbin-dung zu pflegen.In den fünf Jahrzehnten, die vergangen sind, habendie Mitglieder des Petitionsausschusses und die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes einenunvorstellbaren Berg an Akten und persönlichen Schick-salen bewegt. Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes herz-lich für die gewissenhafte Zuarbeit danken!
Für mich selbst ist die Arbeit im Petitionsausschußein ganz wichtiger Bestandteil meiner parlamentarischenArbeit; denn hier ist eine schnelle Rückkoppelung dergesetzgeberischen Entscheidungen mit den Auswirkun-gen im Lande gegeben. Ich war langjährig Kommunal-politiker und 20 Jahre Bürgermeister. Da ist es so, daßeine Entscheidung, die den Bürger belastet, am drittenTag wieder auf dem Schreibtisch liegt. Ähnlich ist es imPetitionsausschuß. Die Rückkoppelung funktioniert her-vorragend.Ich denke, daß gerade der Petitionsausschuß mithel-fen kann, da ein Stück Vertrauen in die Politik zurück-zugewinnen, wo es verlorengegangen ist. Auch da seheich für mich eine wichtige Aufgabe.Aber zurück zu unserem Jahresbericht. Nach unseremGrundgesetz hat jeder Bürger das Recht, sich mit Anre-gungen und Beschwerden an den Deutschen Bundestagzu wenden. In den letzten Jahren haben im Schnitt etwa20 000 Bürger von diesem Recht Gebrauch gemacht. Esist erfreulich, festzustellen, daß es sich dabei nicht im-mer nur um persönliche Probleme handelt, sondern daßdurchaus auch Anregungen für Gesetzesänderungenim allgemeinen Interesse gegeben werden. Das ist einsehr positives Zeichen: Neben der Politikverdrossenheitgibt es eine große Zahl von Frauen und Männern, die be-reit sind, konstruktiv mitzudenken und Anregungen zugeben.Nun zur Herkunft der einzelnen Petitionen. Es istin der Tat so – wie auch Frau Kollegin Deichmann an-gedeutet hat –, daß überproportional viele Petitionen ausden neuen Bundesländern kommen. Das ist nach dengewaltigen Umbrüchen, die im Zuge der deutschen Ein-heit vollzogen werden mußten, verständlich. Ich willaber auf Einzelheiten nicht eingehen. Das wird meineKollegin Frau Katherina Reiche im weiteren Verlauf derDebatte übernehmen.Interessant ist allerdings die unterschiedliche regio-nale Verteilung in den alten Bundesländern. Dazumöchte ich folgende Beispiele anführen: Im FreistaatBayern gibt es 114 Petitionen pro 1 Million Einwohner,in Nordrhein-Westfalen sind es 177 Eingaben pro 1 Mil-lion Einwohner. Mich würde es reizen, einmal nachzu-forschen, ob die politische Farbe der jeweiligen Landes-regierung Einfluß auf Zufriedenheit oder Unzufrieden-heit der Bürger in dem betreffenden Bundesland hat.
Die von mir genannten Beispiele lassen das jedenfallsvermuten.Die Petitionen selbst betreffen im Grunde alle Le-bensbereiche der Bevölkerung. Einen besonderenSchwerpunkt nehmen hier die Bereiche der Sozialversi-cherung ein, insbesondere Krankenversicherung undRentenversicherung. Diese Tatsache verwundert nicht;denn wir haben hier ein außerordentlich kompliziertesRechtsystem, das nicht für jeden Bürger auf den erstenBlick nachvollziehbar ist. Es ist vor allem so, daß derBürger in manchen Fällen, auch wenn sie nach denBuchstaben des Gesetzes korrekt abgewickelt sind, dieEntscheidung nicht nachvollziehen kann. Hier liegt eineAufgabe des Petitionsausschusses. Es gilt hier, nachzu-forschen, ob im Laufe des Verfahrens wirklich irgendwoein Fehler gemacht worden ist oder ob es möglicherwei-se einen Ermessensspielraum gibt, den man zugunstendes Petenten nutzen kann.Ich denke, da geht es den Kolleginnen und Kollegengenau wie mir: Wenn man jemandem konkret helfenkann, dann ist das ein tolles Erfolgserlebnis, das dafürentschädigt, daß man morgens um halb acht mit denAusschußsitzungen beginnen muß.Meine Damen und Herren, im Bereich Sozialversi-cherung gibt es natürlich auch eine Reihe von Bitten umGesetzesänderungen, denen der Ausschuß aber nur inwenigen Fällen entsprechen kann.Mein persönlicher Schwerpunkt in der Arbeit des Pe-titionsausschusses liegt in den Bereichen Verkehr undLandwirtschaft. Ich stelle zwei kurze Beispiele dar, zu-nächst eines zum Bereich Verkehr.Der Lärmschutz beschäftigt uns sehr häufig. So hateine Bürgerinitiative in ihrer Eingabe zusätzlichenLärmschutz an der Autobahn A 1 begehrt. Die Rechts-lage verlangt allerdings, daß beim Lärmschutz auf denZeitpunkt der Planfeststellung abgestellt wird. Die A 1wurde 1981 gebaut; damals fuhren auf ihr pro Tag39 000 Kraftfahrzeuge. Die Prognose für 1990 war57 000. Allerdings fuhren in diesem Jahr dort tatsächlichChristel Deichmann
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schon 64 000, und im zweiten Quartal 1997 sage undschreibe 73 430 Fahrzeuge.Der Bürger hat in diesem Fall keinen Rechtsanspruchauf eine Anpassung des Lärmschutzes. Wir haben diesePetition der Regierung zur Erwägung überwiesen. DerVerkehrsminister vertritt aber die Auffassung, hier be-stehe kein Anspruch. Damit sind wir nicht einverstan-den. Wir werden daher das Problem weiter verfolgen.Auch bei knapper Kassenlage müssen diese Lebensbe-reiche der Menschen gesehen werden.Meine Damen und Herren, aus dem Bereich Land-wirtschaft ebenfalls ein kurzes Beispiel: Im vergange-nen Jahr hat sich ein großer Teil der Petitionen aufdie Themen Tierschutz und Tiertransporte bezogen. Beidiesen Themen ist erfreulicherweise eine wesentlicheVerbesserung erfolgt, vor allem beim Thema Tiertrans-portzeiten. Hier sollte man unserem ehemaligen Land-wirtschaftsminister Borchert für seine Initiativen imRahmen des Europäischen Ministerrates herzlich dan-ken.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aller Frak-tionen für die Zusammenarbeit im Petitionsausschuß. Indiesem Ausschuß ist es möglich, eine sachliche Diskus-sion über Parteigrenzen hinweg zu führen und nach derfür den Petenten besten Lösung zu suchen. An dieserStelle möchte ich aber auch ein kritisches Wort an dieVertreter der Regierungskoalition anfügen. Ich bitte Sie,in den Bereichen Asyl- und Aufenthaltsrecht denAsylkompromiß aus der 12. Wahlperiode als geltendesRecht zu respektieren. Es kann nicht angehen, daß mansich im Ausschuß als guten Menschen darstellt und danndie Ausführenden in Regierung und Verwaltung mit denProblemen sitzen läßt; denn diese haben überhaupt keineandere Möglichkeit, als nach Recht und Gesetz zu ent-scheiden.
Ich fordere Sie auf, sich entweder an das geltende Rechtzu halten oder aber mit der neuen Mehrheit, die Sie hierhaben, die Gesetze zu ändern. Dann können Sie natür-lich auch im Ausschuß die entsprechenden Beschlüssefassen.Bei dem, was ich eben sagte, mache ich allerdingseinen kleinen Unterschied zwischen den beiden Koali-tionsfraktionen, denn die SPD ist auf einem guten Wege,sich an die Wirklichkeit heranzutasten, während dieGrünen damit noch erhebliche Probleme haben.
Wenn Sie den Mut dazu haben und in der Lage sind, imBundestag und im Bundesrat die entsprechende Mehr-heit zu organisieren, dann ändern Sie die Gesetze. Dasjedenfalls wäre ein Gebot der Ehrlichkeit.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichkomme zum Schluß und danke abschließend den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstesherzlich für ihre gewissenhafte Zuarbeit. Trotz mancherMeinungsverschiedenheiten bedanke ich mich auch beimeinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderenFraktionen. Ich freue mich auf eine weitere Zusammen-arbeit und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem
Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Wir können in diesemJahr – meine beiden Vorredner haben darauf hinge-wiesen – auf 50 Jahre Tätigkeit des Petitionsausschusseszurückschauen. Ich denke, daß man diese 50 Jahre alsErfolgsgeschichte bezeichnen kann. Diesen Erfolg ha-ben wir gestern abend in einer Veranstaltung entspre-chend gewürdigt. Im Namen der F.D.P.-Bundestags-fraktion möchte auch ich mich bei Frau ProfessorDr. Süssmuth und Herrn Dr. Vogel für die hervorragen-den Festreden bedanken.In diesen Dank beziehe ich auch den Bundestagsprä-sidenten ein, der gestern noch einmal die besondere Be-deutung des Petitionsausschusses beschrieben und denMitgliedern des Petitionsausschusses ausdrücklich seineUnterstützung zugesagt hat. Von daher hätte ich mir ge-wünscht, daß der Herr Bundestagspräsident bis zumSchluß der Veranstaltung hätte bleiben können, um nochdie Dankesworte der Frau Vorsitzenden zu hören.Meine Damen und Herren, das Petitionsrecht hat inDeutschland eine lange Tradition. Schon im Preußen des18. Jahrhunderts gab es ein Eingaberecht. 1848 wurdedann durch die Nationalversammlung in der Frankfur-ter Paulskirche die Basis für das heute geltende Peti-tionsrecht geschaffen. Rund 100 Jahre später wurde ihmschließlich der Rang eines Grundrechts eingeräumt,nachdem dieses Recht Jahre zuvor von den Nationalso-zialisten abgeschafft wurde.Hier ist schon der besondere Status des Petitions-rechts vorgetragen worden: Das Petitionsrecht habenalle Menschen in Deutschland, auch Ausländer, Min-derjährige und Strafgefangene. Wie wichtig dieses Rechtfür die Bürger ist, zeigt die aufgeführte große Anzahlder Eingaben in den letzten 50 Jahren: mehr als 4 Mil-lionen Petitionen. Diese große Anzahl bestätigt sichauch für das letzte Jahr, für 1998. Insgesamt gingen fast17 000 Petitionen beim Ausschuß ein.Meine beiden Vorredner haben schon auf den hohenAnteil – 40 Prozent – von Eingaben aus den östlichenBundesländern hingewiesen. Dies freut mich ganz be-sonders, weil wir daran sehen, daß gerade die mit großenProblemen belasteten ostdeutschen Mitbürger auchweiterhin viel Engagement zeigen, um unser Landvoranzubringen.Die Menge der Eingaben verdeutlicht auch, daß einegroße Anzahl unserer Mitbürger – entgegen dem allge-meinen Trend der Politikverdrossenheit – auf diesemHubert Deittert
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Weg ihre Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Politikwahrnehmen und so unser Land mitgestalten wollen.Das Petitionsrecht ist daher ein empfehlenswertes undgutes Instrumentarium für unsere Bürgergesellschaft, diewir Liberalen wollen.Zu den schon genannten fast 17 000 Eingaben kamennoch einmal 13 000 Nachträge der Petenten, von denendie meisten Erläuterungen oder Klarstellungen waren.Es hat mehr als 8 000 Stellungnahmen der Regierunggegeben. Mehr als 3 000 Schreiben von Behörden undAbgeordneten wurden verarbeitet. Nahezu 70 000 Briefeverließen 1998 den Petitionsausschuß. Dies alles zu be-arbeiten war möglich, weil 80 Mitarbeiter des Aus-schußdienstes – ich sage: nur 80 Mitarbeiter – diese Ar-beit vorbereitet und koordiniert haben. Auch ich möchteden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuß-dienstes im Namen der F.D.P.-Fraktion für diese Arbeitherzlich danken.
In diesen Dank möchte ich auch die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter in unseren Büros mit einbeziehen, dieuns eine Menge Arbeit abnehmen.
Auf den Bereich Arbeit und Soziales entfielen mitfast 40 Prozent wieder die meisten Eingaben. Eine großeAnzahl von Petitionen hier setzte sich mit der geplantenschrittweisen Absenkung des Rentenniveaus auseinan-der. Vor dem Hintergrund der jetzt von der Bundesregie-rung geplanten Abkopplung der Renten von Lohn- undGehaltserhöhungen zwingen diese Zahlen zum Nach-denken. Ich fordere die Bundesregierung auf, von die-sem Vorhaben Abstand zu nehmen.
Ein nennenswerter Rückgang ist im Geschäftsbereichdes Gesundheitsministeriums zu verzeichnen. Ein er-heblicher Anteil der Eingaben betraf die Verbesserungendes Nichtraucherschutzes, wobei oft ein generellesRauchverbot am Arbeitsplatz gefordert wurde. Wir ha-ben gerade gestern gehört, daß es bereits – wenn ich dasrichtig in Erinnerung habe – 1952 eine ähnliche Eingabegab. Allerdings wurde damals, im Jahr 1952, diese Peti-tion unter der Rubrik „Kuriositäten“ abgelegt. Ich denke,auch hieran zeigt sich, wie sich die Einstellung der Be-völkerung zu diesem Thema verändert hat.Auch im Geschäftsbereich des Bundesministeriumsder Verteidigung gingen die Eingaben im Jahr 1998 ge-genüber dem Vorjahr zurück. Schwerpunktmäßig wur-den hier, wie in der Vergangenheit, auch Eingaben vonSoldaten und zivilen Mitarbeitern zu Personalproblemengemacht. Viele Wehrpflichtige schrieben den Petitions-ausschuß zu Fragen der Einberufung zum Grundwehr-dienst an, um ihre Ausbildung in Betrieben und Univer-sitäten mit der Ableistung ihres Grundwehrdienstesnicht kollidieren zu lassen. Wir haben auch Petitionen indiesem Bereich gehabt, in denen um eine vollständigeBefreiung vom Wehrdienst gebeten wurde, weil die Be-treffenden nach großen Bemühungen endlich einen Ar-beitsplatz gefunden oder es geschafft hatten, ein eigenesUnternehmen aufzubauen. Aber auch Besoldung undVersorgung waren Gegenstand verschiedener Einga-ben.Es gingen auch Eingaben zum Thema „Frauen inder Bundeswehr“ ein, ein Thema, das gerade in diesenTagen durch die Klage einer Frau vor dem EuGH wiederan Aktualität gewinnt.
Die Frau hatte sich für den Dienst in den Streitkräftenbeworben, wurde aber nur wegen ihres Geschlechts ab-gelehnt.
Im Frühjahr wird die Entscheidung des EuGH im Fallder deutschen Klägerin gefällt.
Die Chancen für die Klägerin stehen gut, nachdem sichder Generalanwalt beim EuGH in ihrem Sinne geäußerthat. Diesem Votum stimmt die F.D.P.-Bundestags-fraktion ausdrücklich zu.
Es ist nicht nachvollziehbar, daß Frauen einerseitsbei Polizei, beim Bundesgrenzschutz und in zivilenWachdiensten Dienst an und mit der Waffe tun dürfen,dieses ihnen aber in der Bundeswehr nicht gestattet seinsoll.
Wenn Frauen freiwillig Dienst an und mit der Waffeleisten wollen, dann soll ihnen das nicht verwehrt blei-ben. Es paßt einfach nicht mehr in unsere Zeit, Frauenderart zu bevormunden, zumal Deutschland heute unterder Mehrheit der NATO-Staaten das Schlußlicht bei derÖffnung der Streitkräfte für freiwillige weibliche Be-werber bildet. Ich verweise bei dieser Gelegenheit nocheinmal auf den von der F.D.P.-Bundestagsfraktion ein-gereichten Gesetzentwurf zur Klarstellung des Art. 12ades Grundgesetzes und hoffe insbesondere, daß dieFraktionen von CDU/CSU und SPD der Grundgesetz-änderung zustimmen werden,
so wie Sie das ja zum Teil auch schon in der Öffentlich-keit angekündigt haben. Herr Kollege, ich freue michdann auf Ihre Unterstützung, so daß wir dann hier eineMehrheit für unseren Antrag bekommen.
Ich will eine Petition noch besonders erwähnen: EinWehrdienstleistender bat um eine Versetzung an einenheimatnahen Standort, weil seine Mutter schwer anKrebs erkrankt war und daher der täglichen Hilfe in derVerrichtung einfachster Tätigkeiten bedurfte. Der Vaterwar beruflich so stark eingebunden, daß er diese HilfeGünther Friedrich Nolting
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nicht übernehmen konnte. Die Versetzung des jungenMannes wurde mit der Begründung abgelehnt, daß seinepersönliche Situation für eine Versetzung nicht ausrei-che. Auf Drängen des Petitionsausschusses ist er dannletztlich doch an einen heimatnahen Standort versetztworden. Diese Petition stellt meines Erachtens ein gutesBeispiel für die vielen Fälle dar, in denen der Petitions-ausschuß im Einzelfall fraktionsübergreifend – ich beto-ne ausdrücklich: fraktionsübergreifend – dem Bürgerhelfen konnte.Der Petitionsausschuß befindet sich nach wie vor ander wichtigen Nahtstelle zwischen der korrekten An-wendung unserer Gesetze durch Behörden und andereInstitutionen einerseits und den Einzelfällen anderer-seits, die leider nicht immer alle vom Gesetzgeber be-rücksichtigt werden können.Den Kollegen und Kolleginnen, die in der Vergan-genheit diese Arbeit geleistet haben – gleich aus welcherFraktion; auch das betone ich noch einmal –, möchte ichnamens der F.D.P.-Bundestagsfraktion danken. Nachden ersten 50 Jahren erfolgreicher Arbeit wünsche ichauch allen zukünftigen Mitgliedern und Mitarbeitern desAusschusses immer eine glückliche Hand – und dies imInteresse der Petenten.Vielen Dank.
Jetzt erteile ich dasWort dem Kollegen Helmut Wilhelm, Bündnis 90/DieGrünen.Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen! Unabhängig von den jeweiligen politi-schen Mehrheiten nutzt eine enorm große Zahl der Bür-gerinnen und Bürger das Petitionsrecht seit nunmehr 50Jahren. Von Atombombe bis Zahnplombe: Auch 1998wurden über 16 000 Bitten und Beschwerden aus allenPolitik- und Lebensbereichen an den Petitionsausschußherangetragen.Der vorliegende Jahresbericht fällt zusammen mitdem 50jährigen Jubiläum des Petitionsausschussesdes Bundestags. Aber ist das nicht ein merkwürdiges Ju-biläum, das wir feiern? Wir feiern eine Institution, diesich mit dem befaßt, was nicht funktioniert, was falschist oder was besser funktionieren könnte, eine Instituti-on, bei der sich die Bürger beschweren und an die siesich wenden, weil sie sich ärgern oder weil etwas un-gerecht ist. Sie ärgern, beklagen und beschweren sichseit nunmehr 50 Jahren über die Behörden sowie überden Staat und seine Gesetze. 50 Jahre Ärger, Wut undEnttäuschung! Wäre dies nicht eher ein Grund zur Trau-er und Verdrossenheit? – Nein!
– Dann ist es ja gut. – Nein, die vielen Eingaben sindtatsächlich ein Vertrauensbeweis für unser Parlamentund unsere Demokratie.
Das Petitionsrecht ist ein „Lichtstrahl in den Grauzo-nen des Rechtsstaats und des demokratischen Systems“,so der Rechtsgelehrte Schefold. Ein Grund zu ernsterSorge wäre es vielmehr, wenn sich die Bürger nicht mitihren Problemen und Verbesserungsvorschlägen an ihreVolksvertretung wenden würden. Die große Zahl derEingaben beweist, daß sie dem Parlament, dem demo-raktischen System, die Lösung ihrer individuellen Pro-bleme zutrauen. Die große Zahl der Bitten zur Gesetz-gebung belegt auch, daß viele Bürgerinnen und Bürgerengagiert bereit sind, bei der Gestaltung unseres Ge-meinwesens aktiv und mit guten Vorschlägen mitzuwir-ken.Auch der Jahresbericht 1998 läßt den Willen zur Mit-sprache erkennen. Mit 6 186 Petitionen haben die Bür-ger auf die Gesetzgebung des Bundes Einfluß zu neh-men versucht. Das Petitionsrecht ermöglicht Bürgerin-nen und Bürgern, die Politik zu verändern.„Mit Petitionen Politik verändern“, so lautet auch derTitel des pünktlich zum 50jährigen Jubiläum des Petiti-onsausschusses von der Vereinigung zur Förderung desPetitionsrechts in der Demokratie herausgegebenenHandbuchs zur Geschichte, Gegenwart, Praxis und Zu-kunft des Petitionsrechts. In dieser Bremer Initiative ha-ben sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammen-geschlossen, die sich nach ihren eigenen Erfahrungen alsPetenten das Ziel gesetzt haben, Ansehen und Achtungdes Petitionsrechts in Parlament und Gesellschaft zuvergrößern. Seit 1986 ist die Vereinigung ein kritischer,kompetenter und überparteilicher Begleiter unserer Ar-beit. Ich bin sicher, daß sie auch diese Debatte mitArgusaugen verfolgen wird und uns mit ihrer konstruk-tiven Kritik auch weiterhin auf Trab halten wird. Ichmöchte mich bei dieser Vereinigung für ihr außeror-dentlich fruchtbares Wirken ausdrücklich bedanken. Mitihrer Arbeit erweist sie unserer Demokratie einen großenDienst. Mit ihrem Buch hat sie dem Parlament ein Ge-schenk gemacht.An dieser Stelle möchte ich einige Punkte aufgreifen,die die Vereinigung zum diesjährigen Jahresbericht kri-tisch angemerkt hat: Der Jahresbericht 1998 sei spätvorgelegt worden, nämlich erst Ende 1999. In der Tatsollte der Jahresbericht in Zukunft wieder zeitnah vor-gelegt werden. Die bearbeiteten Petitionen wären dannnoch frisch im Bewußtsein der Abgeordneten, und dieparlamentarische Umsetzung der Beschlüsse könnte aufGrund der Aktualität besser nachvollzogen werden.Die Vereinigung wünscht sich ferner eine informati-vere und pointiertere Darstellung und Präsentation desJahresberichts. Auch ich bin der Meinung, daß die Prä-sentation des Jahresberichts ein Musterbeispiel dafür ist,wie man mit großer Sorgfalt und Mühe sein Licht unterden Scheffel stellen kann. In einer Welt, in der sichGünther Friedrich Nolting
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Realität über Medien vermittelt, verstecken wir unseregute Arbeit in trockenen Drucksachen.Der Bundestag leistet im Petitionsausschuß viel guteArbeit für den Bürger. Das sollte der Bürger meines Er-achtens aber auch angemessen zur Kenntnis nehmenkönnen. Bescheidenheit ist eine Zier, aber die erfolgrei-che Bürgerarbeit in bürgerunfreundlicher Weise zu prä-sentieren ist nicht ganz klug. Darum sollte die Bundes-tagsverwaltung tatsächlich über Mittel und Wege nach-denken, wie das Beschwerdebuch der Nation bürger-freundlicher und lesbarer gestaltet werden kann. Dieskann selbstverständlich der ohnedies bis zur Halskrausein Arbeit steckende Ausschußdienst des Petitionsaus-schusses – auch von mir recht herzlichen Dank – alleinnicht leisten; da braucht es professionelle Unterstützung.Darüber hinaus beklagt die Vereinigung, daß die Be-schlüsse „Fraktionen zur Kenntnis“ oder „als Material“in der Regel ins Leere laufen, weil sie die Bundesregie-rung zu nichts verpflichteten. So pessimistisch sehe ichdas allerdings keineswegs.Bei den Materialbeschlüssen ist die Bundesregierungimmerhin gehalten zu berichten, in welcher Weise siemit diesem Beschluß umgegangen ist. Für unsere Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen kann ich zumindest sagen,daß wir für die Beschlüsse „Fraktionen zur Kenntnis“ein internes Wiedervorlagesystem haben und regelmäßigabfragen, ob und was in der Angelegenheit unternom-men worden ist.
Was die Umsetzung der Beschlüsse zur Berücksichti-gung und Erwägung angeht, hat die Frau Vorsitzendebei der Pressekonferenz darauf hingewiesen, daß diebisherige Bilanz der neuen Bundesregierung zu Beginnder 14. Wahlperiode positiv auffalle. Kritisch angemerktwird von der Bremer Initiative, der Petitionsausschußmache zu wenig von seinen weitreichenden Ermitt-lungsbefugnissen Gebrauch: lediglich 7 Anhörungenvon Regierungsvertretern, 2 Ortstermine und 1 Akten-einsichtnahme. Ich glaube, daß wir im nächsten Be-richtszeitraum die Zahl der Anhörungen von Regie-rungsvertretern weit übertreffen werden. Ich möchte da-bei ausdrücklich darauf hinweisen, daß dieses Verlan-gen, einen Regierungsvertreter vor den Ausschuß zu la-den, nicht allein ein Anliegen der Oppositionsfraktionenist. In der laufenden Legislaturperiode waren und sind esgerade die Abgeordneten der Regierungsfraktionen, dieihre eigene Regierung in die Pflicht nehmen, wenn derEindruck entsteht, daß dem Anliegen der Bürger und desPetitionsausschusses nicht oder nur unzureichend Rech-nung getragen wird.Wenn die Regierung einem Beschluß des Petitions-ausschusses nicht folgen will, sind wir sehr empfindlichund über die Fraktionsgrenzen hinweg einig.
Das sei auch als Warnung an die hier sitzenden Regie-rungsvertreter ausgesprochen.
Mein Fraktionskollege und Staatsminister im Aus-wärtigen Amt Ludger Volmer kann wahrscheinlichschon ein Lied davon singen, wie hartnäckig wir seinkönnen.
Insgesamt stellt aber auch die Vereinigung dem Jah-resbericht 1998 und der Arbeit unseres Ausschusses eingutes Zeugnis aus. Der Jahresbericht ist – ich zitiere –„ein spannendes, lesenswertes, in der Öffentlichkeit undder Presse zu gering beachtetes Dokument“.Besonders hervorgehoben wird die gelungene Wie-dergabe petitionsrechtlicher Reformbestrebungen. Diesbezieht sich auch auf die Debatte zu den reform-orientierten petitionsrechtlichen Gesetzentwürfen meinerFraktion aus der letzten Legislaturperiode. Ich meine,unsere Vorschläge von damals für ein bürgerfreundli-cheres und moderneres Petitionsrecht sind eine guteGrundlage zur weiteren Diskussion auch in dieser Le-gislaturperiode.Der Jahresbericht des Petitionsausschusses ist ein„Leitfaden für besseres Regieren“, wie die Zeitung „DieWoche“ formulierte. Deshalb sollte sich auch unsereRegierung diesen Bericht gut ansehen, denn als letzterJahresbericht, dessen Tätigkeitszeitraum zum größtenTeil noch vor den Bundestagswahlen lag, dokumentierter auch die Sorgen und Wünsche der Bürger vor derWahl, und in ihm finden sich daher viele Gründe, war-um sie eine neue Bundesregierung wollten.So bietet der Jahresbericht 1998 reichlich Material fürdas Parlament und die neue Regierung, wie eine besserePolitik im Sinne der Bürgerinnen und Bürger aussehenkann. So freuen wir uns besonders über die Beispiele, indenen Eingaben an den Petitionsausschuß schon jetzt zukonkreten Formulierungen in Gesetzesvorlagen der neu-en Bundesregierung geführt haben. Ein Beispiel dafür istder Gesetzentwurf, der es den Opfern der nationalsozia-listischen Verfolgung, die Anspruch auf Krankenversor-gung aus Bundesmitteln haben, ermöglicht, sich auchnoch nachträglich von der Versicherungspflicht befreienzu lassen. Der Gesetzentwurf schließt mit dem Satz:„Dies entspricht einem Anliegen des Petitionsausschus-ses.“ Man sieht: Petitionen sind der Stoff, aus dem dieGesetze sind.
Der Jahresbericht 1998 hat der Bundesregierung unddem Parlament weitere noch nicht gelöste Hausaufgabenmitgegeben. Ich nenne die zahlreichen Eingaben zumThema frauenspezifischer Fluchtgründe im Asylverfah-ren. Der Ausschuß hält weitere Anstrengungen für er-forderlich, um Opfer von geschlechtsspezifischen Ver-folgungen besser zu schützen.Der Ausschuß rühmt sich, in den meisten Fällenfraktionsübergreifend und einvernehmlich um die bestenLösungen zu ringen. Aber es gibt offensichtlich auchUnterschiede im Verständnis der Arbeit des Petitions-ausschusses. Ein Kollege der CDU hat uns, den Abge-ordneten von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, auf derHelmut Wilhelm
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Pressekonferenz zur Übergabe des Jahresberichtes denVorwurf der – ich zitiere – „ideologischen Großherzig-keit“ gemacht. Herr Kollege Deittert hat es gerade soähnlich formuliert. Ich bin gewiß kein Ideologe – aberwenn, dann möchte ich ein Verfechter der Großherzig-keit sein.
Kommen Sie bitte
zum Schluß, Herr Kollege Wilhelm.
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja.
Großherzigkeit ist allemal besser als rein politische
oder juristische Enge. Großherzigkeit zu üben ist doch
gerade die Funktion des Petitionsausschusses: An wen
sonst sollten sich die Bürger wenden, wenn alle Rechts-
mittel erschöpft sind und dennoch keine Lösung des
Problems gegeben ist? Die Bürger wenden sich dann an
uns, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Im Petitionsausschuß sind wir keine Richter. Als
ehemaliger Richter kenne ich den Unterschied wohl.
Wir sollen dort nicht Recht sprechen oder über Bürger
richten. Im Gegenteil, wenn sich ein Bürger an den Peti-
tionsausschuß wendet, dann erwartet er Hilfe und Unter-
stützung, und die sollten wir ihm geben.
Ich erteile der Kol-
legin Heidemarie Lüth, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und liebe Kollegen! Ich bedanke mich ganzausdrücklich dafür, daß ich als Vorsitzende des Petiti-onsausschusses schon an dieser Stelle und nicht eventu-ell als letzte sprechen darf.
Zum Jahresbericht 1998 sagte Kollege Wilhelm eben:recht verspätet. Auch die Bremer Initiative nennt es so.Wir haben den heutigen Tag ganz bewußt gewählt, undwir sind dankbar, daß die Debatte heute wirklich statt-finden kann, weil wir von dem Glanz des gestrigenAbends ein bißchen in den Saal dieses Parlamentsge-bäudes scheinen lassen wollten. Wir meinen, daß diesesScheinen im Parlament für den Petitionsausschuß einegute Angelegenheit ist. 50 Jahre sind immerhin einschönes Alter. Soziologisch gesehen, ist der Petitions-ausschuß eigentlich eine junge Alte.
Das ist er tatsächlich. Kompetent, kämpferisch undideenreich setzen sich die bisher mehr als 400 Mitglie-der dieses Ausschusses seit 1949 für Belange der Peten-tinnen und Petenten ein. Die Ergebnisse der Arbeit derAusschußmitglieder des Jahres 1998 sind Grundlagedieses Jahresberichtes.Die Gesamtzahl der behandelten Petitionen betrug21 237 – eine Arbeitsleistung, die von den Abgeordne-ten nicht allein zu bewältigen war und auch niemals al-lein zu bewältigen ist. Daher gilt mein Dank auch ganzbesonders den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß-dienst, die mit größtem Engagement, mit viel solidemWissen und mit vielfältigen Ideen diese unsere Leistun-gen, die wir hier darstellen können, überhaupt erst mög-lich gemacht haben.
5 292 Petitionen gingen zum Bereich Arbeit undSozialordnung ein – ein Signal zum Nachdenken überdie Wirkung der von uns beschlossenen Gesetze. Ichdarf daran erinnern: Es handelte sich um das Rentenre-formgesetz, das für 1999 beschlossen war. Es handeltsich um die Regelung des Wachstums- und Beschäfti-gungsgesetzes, das Frauen ein höheres Renteneintritts-alter bescherte und gleichzeitig die Altersrente für lang-jährig Versicherte und Arbeitslose entsprechend anhob.Es brachte Schwierigkeiten für die Erwerbsunfähigkeits-rentner.1 300 Eingaben aus den neuen Ländern betrafen dasRenten-Überleitungsgesetz und Überführungslücken.Diese Eingaben will ich nicht unerwähnt lassen. Einigedavon wurden jetzt durch die Möglichkeit auf Grund desBundesverfassungsgerichtsurteils verändert.1 938 Petitionen betrafen den Geschäftsbereich desBMI. Auch dies möchte ich ganz besonders hervorhe-ben. Im vergangenen Jahr wandten sich recht viele Pe-tentinnen und Petenten – abgelehnte Asylbewerber ausdem Kosovo –, noch bevor wir im Bundestag über diedortigen Ereignisse gestritten haben, an den Ausschuß,und zwar mit dem Signal, daß sie einen Asylantrag ge-stellt haben und auf Grund der bestehenden Lage Asylhaben wollen. Des weiteren wandten sich Flüchtlingeaus Bosnien-Herzegowina an uns, aber auch Eingabenaus dem Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts, der Ein-bürgerung und der doppelten Staatsbürgerschaft er-reichten den Ausschuß. Nicht zu vergessen: Viele, dienoch die Möglichkeit haben wollen, über das Vertriebe-nengesetz als Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedleranerkannt zu werden und nach Deutschland zu kommen,wenden sich an uns.Was signalisieren eigentlich diese schlichten Zahlen?Petentinnen und Petenten wenden sich häufig schonwährend der politischen Debatten zu Gesetzesverfahrenan den Petitionsausschuß. Nicht nur die mit den Themenbefaßten Fachausschüsse und die Fraktionen, sondernalle Abgeordneten des Hohen Hauses erhalten Kenntnisdavon, wenn Petitionen als Material oder den Fraktionenzur Kenntnis überwiesen worden sind. Im vergangenenJahr lautete der Beschluß 412mal „Material“ und 47mal„den Fraktionen zur Kenntnis“. Wie ernst nehmen wirdiese Überweisungen, und wie ernst nehmen wir damitHelmut Wilhelm
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eigentlich auch die Beschlüsse des Bundestages? Wieoft wird in den Fachausschüssen tatsächlich über dieüberwiesene Petition so sachlich und so intensiv beraten,wie wir es im Petitionsausschuß tun? „Den Fraktionenzur Kenntnis“ ist eigentlich ein ungeheuer hohes Votum,weil hierdurch dem Gesetzgeber etwas direkt zur Kennt-nis gebracht wird. Für meine Fraktion gibt es da – ichdarf schlicht sagen – entscheidende Reserven. Aber beiIhnen ist das sicherlich alles ganz anders, wenn die Peti-tionen zu Ihnen in die Fraktionen kommen.Aus den Anträgen kann jedenfalls in den seltenstenFällen abgelesen werden, daß eine Petition Grundlageeiner parlamentarischen Initiative ist. Dennoch gab esim vergangenen Jahr 3 588 Legislativpetitionen zuFragen der Verwaltung, 2 645 zu Finanzfragen undüber 1 000 zur Sozialversicherung und weiteren Fra-gen.Wir sind also schon längst nicht mehr der Kummer-kasten der Nation. Vielmehr machen selbstbewußte,politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger sachlichvon ihrem verfassungsmäßig verbrieften Recht Ge-brauch. Sie wollen sich ganz bewußt in Politik einmi-schen. Hier jedenfalls gibt es keine Politikverdrossen-heit. Sie erfassen ihr Recht auf Petitionen als Bindegliedzwischen Bürgerinnen und Bürgern und dem Bundestagals direkte Teilhabe an Politik.Wenn sich Politik daran orientieren soll, wie dieMenschen heute leben wollen, dann ist die Kenntnis vondem, was Menschen im Wege der Petition an den Bun-destag herantragen, für uns von besonderer Bedeutung.Im vergangenen Jahr hat der Bundestag auf Empfehlungdes Petitionsausschusses achtmal zur Berücksichtigungund 61mal zur Erwägung überwiesen. Angesichts über21 000 behandelter Petitionen werden Sie sicherlichauch sehen, daß wir mit den höchsten Voten sehr spar-sam umgegangen sind. Um so erstaunlicher ist es nachwie vor für mich, daß keiner dieser Berücksichtigungs-beschlüsse und nur 20 Erwägungsbeschlüsse verwirk-licht wurden.Machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen auf derdamaligen Regierungsbank, aber auch Sie, die Sie heutehier sitzen, sich auch einmal klar, wie schwer es unsfällt, wenn wir einem Petenten oder einer Petentin gera-de den Beschluß „zur Erwägung überwiesen“ übermit-telt haben, sechs Wochen später sagen zu müssen: DieRegierung will diesen Beschluß des Bundestages abernicht umsetzen. Diese Petentinnen und Petenten habendann erst einmal die Nase voll.Daß die Ladung eines Ministers oder eines Staatsse-kretärs im Einzelfall hilfreich sein kann, zeigen die An-hörungen, die wir in den letzten Jahren durchgeführt ha-ben.Ungeachtet der Tatsache, daß Beschlüsse des Petiti-onsausschusses rechtlich keine Bindung entfalten, achtetder Petitionsausschuß im Interesse einer gedeihlichenZusammenarbeit mit der Volksvertretung darauf, daß dieBundesregierung alle ihr gebotenen Mittel und Mög-lichkeiten ausschöpft, um den ihr zur Berücksichtigungoder zur Erwägung überwiesenen Petitionen nachzu-kommen. Petitionen sind und bleiben eben Gradmesserdafür, wie sich gesetzliche Regelungen im Leben derBürgerinnen und Bürger auswirken.Es ist schon mehrfach betont worden, daß die Bürge-rinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern inweit größerem Maße an den Petitionsausschuß schreibenals die aus den alten Bundesländern. Ich darf nur daraufverweisen, daß das so ist. Ich meine aber auch, daß dievielen Petitionen, die die Bürgerinnen und Bürger an unssenden – ähnlich hat es Herr Nolting gesagt –, ein wirk-licher Vertrauensbeweis in die Demokratie sind. VieleZuschriften aus den neuen Bundesländern enthalten ge-nauso wie die aus den alten Bundesländern Vorschlägezu Gesetzesänderungen.
Petitionswesen meint aber auch Kontrolle über dieExekutive, im Parlament konkret durch die Opposition.Die Koalitionsfraktionen verstehen sich eher als Unter-stützer der Regierung oder auch als deren Verteidiger.Zwar wird der Vorsitz des Ausschusses meist aus denReihen der Opposition besetzt, aber in den einzelnenAngelegenheiten bemühen sich alle Ausschußmitglieder– für diese kollegiale Zusammenarbeit möchte ich michan dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen desAusschusses ganz herzlich bedanken – in der Regel umKonsens und lassen so eher das in der Verfassung ange-legte Spannungsfeld zwischen Volksvertretung undBundesregierung und weniger das zwischen Oppositionund Koalition erkennen.Die Festredner des gestrigen Abends haben mich per-sönlich in dem Bemühen um mehr Transparenz in derArbeit, mehr Öffentlichkeit und stärkeres Bemühen, mitden Petenten in direkten Kontakt zu treten, bestärkt.Direktes Hören und Sehen sind wichtig, und unsere Be-fugnisrechte geben uns dazu grundsätzlich die Möglich-keit. Eine monatliche Sprechstunde, die ich als Vorsit-zende ab November in Berlin anbiete, kann eine solcheMöglichkeit sein. Sie und ich brauchen ja nicht – wievor 1 200 Jahren Harun al Raschid – verkleidet durchdie Bundesrepublik zu laufen, wenn wir Fehler in derVerwaltung, Lücken in den Gesetzen oder irgendeineNot innerhalb des Volkes entdecken wollen; denn diePetentinnen und Petenten kommen mit ihren Anliegenzum Glück ganz bewußt zu uns.Es ist kontraproduktiv, daß die Zahl der Ausschuß-mitglieder auf 29 herabgesetzt wurde. Ich bin mir über-haupt nicht sicher, ob sich diejenigen, die das beschlos-sen haben, darüber im klaren waren, daß das heißt, etwa1 000 Berichterstattungen zusätzlich auf diese 29 Mit-glieder aufteilen zu müssen.Ich komme zum Schluß. Im Berichtszeitraum gab eseinen durch die Bundestagswahl begründeten Wechselim Ausschußvorsitz. Bis November 1998 stand dieKollegin Nickels dem Ausschuß als Vorsitzende vor. Ichdarf Ihnen, liebe Kollegin Nickels, für Ihre Arbeit, fürIhren Mut, in der Umsetzung keinen Schwierigkeitenaus dem Weg zu gehen, und für Ihre Ideen danken, mitdenen Sie den Ausschuß geleitet haben. Es ist schwer,das Amt nach Ihnen zu bekleiden.
Heidemarie Lüth
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5632 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Ich gebe das Wort
nunmehr der Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Für viele Menschen, die noch keinePetition an den Ausschuß gerichtet haben, ist die Arbeitdes Petitionsausschusses so etwas wie eine Black box.Was darin geschieht, ist für sie nicht nachvollziehbar.Deshalb will ich wie einige Vorrednerinnen und Vor-redner an konkreten Beispielen die Vielfalt der Eingabenund deren mögliche politische Umsetzung kurz skizzie-ren. Ich finde es schade – vielleicht macht es der Raum,vielleicht macht es die Anwesenheit des Publikums aus,wir sind ja hier wie im Schaufenster –, daß hier auf ein-mal ein anderes Klima und eine andere Art des Um-gangs miteinander als sonst vorherrschen.Wir haben über 90 Prozent einstimmige Beschlüsse,wir hebeln keine Gesetze aus, sondern wir achten sie.Wir loten nur die Spielräume, die wir haben, aus undversuchen, Einzelschicksale zu sehen und Problemlö-sungen anzubieten. Daher möchte ich auf das zurück-kommen, was wir eigentlich tun: Kärrnerarbeit im Ver-borgenen. Sonst tagen wir nämlich in einem abgeschie-denen dunkelblauen Raum. Vielleicht macht es das aus,daß wir miteinander normal umgehen. Vielleicht vertra-gen wir das Schaufenster nicht.
– Ja, das stimmt, Herr Nolting.Da ich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauenund Jugend angehöre, will ich ein paar diesbezüglicheBeispiele nennen: 1998 gab es in diesem Bereich 201Petitionen. Die Anliegen der Bürgerinnen und Bürgerbezogen sich in überwiegender Weise auf Gleichstel-lungsfragen, auf die Seniorenpolitik sowie auf Fragender Kinder- und Jugendhilfe. Man sieht, daß diese 201Petitionen nicht die Mehrheit der Petitionen darstellten,aber auch da haben wir versucht, zu helfen.Mehrere Eingaben in diesem Bereich betrafen dieFörderung des sozialen Ehrenamtes. Es wurde gefor-dert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so auszuge-stalten, daß die Ausübung eines Ehrenamtes möglich ist.Dabei ging es vor allem um Verbesserungen im Hin-blick auf die berufliche Freistellung, um das Ehrenamtausüben zu können, und um den Ersatz der damit ver-bundenen Aufwendungen. Die neue Bundesregierungund auch die Fraktion der SPD hat diese Anregung be-reits aufgegriffen, indem unter anderem der bisher be-günstigte Personenkreis erweitert wird und die bishersteuerbefreite sogenannte Übungsleiterpauschale von200 DM in eine steuerbefreite Ehrenamtsförderung vonmonatlich 300 DM umgewandelt wird.
Da uns der Bericht von 1998 vorliegt, muß ich dazudoch einen kleinen Schlenker machen: Die Vorgänger-regierung und die Kollegen von der CDU/CSU und derF.D.P. loben jetzt immer das Ehrenamt. Sie hätteneigentlich Zeit genug gehabt, etwas zu tun und nicht nurSonntagsreden zu halten.
Weil aber nichts getan worden ist, müssen wir jetztberechtigte Forderungen umsetzen.
– Ich bin gleich wieder freundlich. Beruhigen Sie sich!Ein weiterer Fall, den ich hier erwähnen möchte, be-trifft eine Petentin, die sich im Frühjahr 1998 an denAusschuß mit der Bitte wandte, ihr nach Ende ihres Er-ziehungsurlaubes im Herbst 1998 bei der Suche nacheiner Teilzeitbeschäftigung zu helfen. Sie war mit zweiKindern und wegen hoher Mietkosten auf eine Teilzeit-beschäftigung angewiesen. Der Angestellten wurde vonihrem bisherigen Arbeitgeber mitgeteilt, daß die dort zuerledigende Tätigkeit von einer Teilzeitbeschäftigtennicht zu bewältigen sei. Bemühungen bei anderenDienststellen waren ebenso erfolglos.Der Petitionsausschuß – da sieht man, welchen Er-messensspielraum er hat – konnte hier schnell und unbü-rokratisch helfen. Das zunächst bestehende Hindernis,die Aussage des Arbeitgebers, die zu erledigende Arbeitkönne von einer Teilzeitbeschäftigten nicht geschafftwerden, konnte durch die Genehmigung der Besetzungdes Arbeitsplatzes mit einer weiteren Teilzeitkraft aus-geräumt werden. Der Petitionsausschuß konnte dafürsorgen, daß die Petentin an ihrem bisherigen Arbeits-platz weiterbeschäftigt wird.An diesem Fall wird sehr deutlich, welche HürdenFrauen nach wie vor überwinden müssen, wenn sie Fa-milie und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen wollen.Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist deshalb daszentrale Anliegen im Ausschuß für Familie, Senioren,Frauen und Jugend und vor allem auch das unserer Mi-nisterin, die dies in dem Aktionsprogramm „Frau undBeruf – Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ nieder-gelegt hat. – Es freut mich sehr, daß wir hier gemeinsamsehr schnell und unbürokratisch helfen konnten.Häufig konnten und können wir im Einzelfall aufGrund der Gesetzeslage nicht helfen. Es bedurfte undbedarf vieler Eingaben von Bürgern, bis bei den zustän-digen Stellen die Notwendigkeit zum Handeln gesehenwird. So war es auch bei den Petitionen, die den Pro-blemkreis Lärmschutz an bestehenden Schienenwe-gen betrafen. Viele Bürgerinitiativen haben Petitionengeschrieben. Die Betroffenen haben darunter gelittenund wurden krank. Die berechtigten Wünsche nachSchutz ihrer Gesundheit wurden von den zuständigenStellen jedesmal mit dem Hinweis zurückgewiesen, daßes für Lärmsanierung keine Rechtsgrundlage und keineHaushaltsmittel gebe und daß man der Deutschen BahnAG als selbständiger Aktiengesellschaft außerdem nichtvorschreiben könne, Lärmschutzmaßnahmen zu treffen.Die Mitglieder des Petitionsausschusses haben dieseAuffassung nicht geteilt und die Petitionen an das da-
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malige Bundesministerium für Verkehr und das Bun-desministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit überwiesen. Das Ziel war, durch entsprechendeInterpretation vorhandener oder auch durch Schaffungneuer Rechtsnormen das Eisenbahn-Bundesamt in dieLage zu versetzen, die Deutsche Bahn AG dazu anzu-halten, Lärmschutz, wo immer im Interesse der Bürgernötig, zu installieren.Von wegen „keine Bundesmittel“! Die neue Bundes-regierung hat noch im Bundeshaushalt 1999 den Titel„Maßnahmen zur Lärmsanierung an bestehenden Schie-nenwegen der Eisenbahnen des Bundes“ eingerichtetund für dieses Jahr mit 100 Millionen DM dotiert.
Es werden also bereits Lärmschutzwände gebaut.Weiterhin erstellt die DB AG derzeit ein Lärmbela-stungskataster, das als wichtige Entscheidungsgrundlagefür die Frage, ob ein Härtefall vorliegt, dienen soll. Hierbrachte das Handeln nach der Devise „Steter Tropfenhöhlt den Stein“ den Erfolg. Die Leute haben also solange „gebimst“, bis endlich gehandelt wurde.
Viele Petitionen betreffen nicht ganz konkrete, per-sönliche Anliegen einzelner Bürgerinnen und Bürger.Auch allgemeine oder ethische Fragen sind Gegenstandder Eingaben.Ich komme zu einem nächsten Beispiel. Nach Be-kanntwerden des erfolgreichen Klonens eines Schafs inSchottland befürchteten viele Menschen, daß damit dererste Schritt in Richtung Klonen des Menschen getansei. Die Petenten forderten ein klares und lückenlosesVerbot der Klonierung von Menschen. Die Bundesre-gierung bekräftigte damals in ihrer Stellungnahme, daßKlonierung in Deutschland verboten sei, jedoch stetsMißbrauchs- und Umgehungsmöglichkeiten verhindertwerden müßten, um Unklarheiten gar nicht erst auf-kommen zu lassen.Der Petitionsausschuß begrüßte die Haltung der Bun-desregierung – da ist wieder das Versöhnliche – und vorallem das Engagement der Petenten für ein weltweitesVerbot der Klonierung von Menschen. Die im Grundge-setz verankerte Würde des Menschen – das war uns sehrwichtig – muß auch im Rahmen moderner Reproduk-tionstechnologien unbedingt gewährleistet sein. EinMensch darf nicht wie ein technisches Produkt herge-stellt werden. Durch die Zuweisung bestimmter Erban-lagen werden an den Klon Erwartungen gestellt, die dieSelbstbestimmung und die freie Entfaltung des Men-schen einschränken.Wir hielten es für wichtig, daß diese Petition im wei-teren Meinungsbildungsprozeß beachtet wird, und habendeshalb empfohlen, sie der Bundesregierung als Materialzu überweisen und den Fraktionen des Deutschen Bun-destages zur Kenntnis zu geben. Ich denke, daß es imAugenblick gärt, daß etwas daraus entsteht. Es ist nochnichts spruchreif. Aber wie ich meine Fraktion und auchandere Kollegen kenne, wird sich daraus etwas entwik-keln.Ich möchte noch einige Anmerkungen aus Sicht einesPetitionsausschußmitglieds machen, das erst in dieserLegislaturperiode in dieses Gremium gekommen ist. DieArbeitsweise und den Umgang der Parlamentarier undParlamentarierinnen in diesem Ausschuß empfinde ichals fair, an der Sache und an den Menschen orientiert.Hätten die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit,diese demokratische Praxis zu erleben, wäre viel getan,um das Negativbild von Politikern zu korrigieren.
Ich bedanke mich an dieser Stelle bei meinen Kolle-ginnen und Kollegen und bei der Frau Vorsitzenden
– ich hätte keine Probleme gehabt, Sie vorzulassen – fürdie gute Zusammenarbeit und spreche auch den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes fürdie geleistete Arbeit meinen Dank aus.Zum Schluß möchte ich den Petentinnen und Peten-ten für ihre Geduld danken; denn die sorgfältige Bear-beitung der Eingaben beansprucht oft viel Zeit. Dankauch dafür, daß sie Verständnis haben, daß wir trotzgroßer Anstrengungen für ihre Anliegen nicht immer diegewünschten Lösungen finden können!Danke schön.
Das Wort hat nun-
mehr die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich möchte meinen Ausfüh-rungen über die Tätigkeit des Petitionsausschusses desDeutschen Bundestages im Jahr 1998 zwei persönlicheBemerkungen voranstellen.Zunächst ist es mir ein Bedürfnis, den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes meinenherzlichen Dank für die kollegiale Zusammenarbeit aus-zusprechen. Die professionelle Arbeitsweise des Aus-schußdienstes hat mir als einer jungen Abgeordnetenden Einstieg in die nicht immer einfache Materie sehrerleichtert.Zweitens will ich eine Lanze für die Reputation desAusschusses brechen. Es gibt immer wieder die eineoder andere Stimme, die dem Petitionsausschuß einenicht ganz so hohe Bedeutung beimißt. Dementspre-chend schätzen diese Stimmen auch die Mitgliedschaftvon Abgeordneten in diesem Gremium als gering ein.Auch ich habe solche Stimmen vernommen. Nach einemJahr Arbeit im Petitionsausschuß kann ich sagen, daßdiese Beurteilung nicht zutrifft.Marlene Rupprecht
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Die aktive Beteiligung der Menschen am politischenGeschehen ist Grundvoraussetzung für eine funktionie-rende Demokratie. Den Mitgliedern des Ausschusseskommt dabei die verantwortungsvolle Aufgabe zu, dieseBeteiligung nicht zu einer hohlen Hülse verkommen zulassen; dies wäre der Fall, wenn die Bürger den Ein-druck gewönnen, ihre Anliegen würden nicht ernst ge-nommen oder gar inkompetent bearbeitet werden. DieserEindruck darf auf keinen Fall entstehen. Wir müssen be-greifen, daß der Petitionsausschuß eine doppelte Chancebietet: eine Chance für den Bürger, direkt mit dem Par-lament zu kommunizieren und gegebenenfalls Hilfe zuerlangen, und eine Chance für das Parlament, eine di-rekte und praxisnahe Rückkopplung über seine Gesetz-gebung zu bekommen.Ein Jahresbericht ist immer eine Sternstunde für Sta-tistiker. Auch der Jahresbericht des Petitionsausschussesgibt reichlich Gelegenheit für die Betrachtung zahlen-mäßiger Verhältnisse und Veränderungen. Für mich alsAbgeordnete aus den neuen Ländern sticht dabei eineZahl ganz besonders hervor: Bei einer sinkenden Ge-samtzahl von Petitionen erhöht sich der eh schon großeprozentuale Anteil von Petitionen aus den neuen Län-dern in diesem Jahr auf über 30 Prozent.Worin liegt es begründet, daß sich besonders vieleBürger aus den neuen Ländern an den Petitionsausschußwenden? Vermutlich gibt es dafür eine ganze Reihe vonGründen, und viele von ihnen sind positiv zu bewerten.Nach Jahrzehnten staatlicher Willkür und Allmachtnehmen viele Menschen aus der ehemaligen DDR ihrRecht wahr, Entscheidungen zu hinterfragen und über-prüfen zu lassen. Viele wollen mit ihren Vorschlägen dieDemokratie aktiv mitgestalten und suchen auf diesemWeg einen Dialog mit der Politik. Manche Gründe spie-geln auch die Zeichen der Zeit wider: Auch im Jahre 9der deutschen Einheit müssen wir uns weiterhin für diematerielle Angleichung der Lebensverhältnisse in denneuen Ländern einsetzen. Es ist nicht in allen Bereichenso, wie wir es uns wünschen. Häufig steckt der Teufelbei der Herstellung der inneren Einheit im Detail. DieAnrufung des Petitionsausschusses konnte hier in denletzten Jahren in vielen Fällen Abhilfe schaffen.Es gibt aber auch Gründe dafür, die mich ärgern undnicht sein müßten: Der Prozentsatz der Eingaben, diedurch Auskunft und Verweisung erledigt werden, liegtbei über 30 Prozent. Die Eingaben aus den neuen Län-dern haben daran einen nicht unerheblichen Anteil. Ausdiesen Eingaben läßt sich häufig eine Unkenntnis derpolitischen, wirtschaftlichen und administrativen Struk-turen unseres Staates ableiten. Dies bestätigt meine Auf-fassung, daß der politischen Bildung in den neuen Län-dern noch sehr viel mehr Bedeutung beigemessen undmehr Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden müs-sen. Wir müssen gemeinsam Wege finden, politischeBildung allen Generationen in Ostdeutschland besser zuvermitteln und die Bürger erfolgreich zu motivieren,politische Bildung auch anzunehmen. Vielleicht würdesich eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit des Aus-schusses positiv auswirken. Der Ausschuß sollte offenbekunden, wenn er helfen konnte, die Lage eines Peten-ten zu verbessern. – Dies wären für mich wichtigeSchlußfolgerungen aus der statistischen Betrachtung desJahresberichtes.Auf der inhaltlichen Ebene möchte ich aus der ost-deutschen Perspektive zwei Vorgänge ganz besondersbeleuchten: Der Ausschuß hat im vergangenen Jahr miteiner Empfehlung einen wichtigen Beitrag zu Rechts-staatlichkeit und Gerechtigkeit in den neuen Länderngeleistet. Er hat sich klar für die Verlängerung der Ver-jährungsfristen für mittelschwere DDR-Regierungs-kriminalität ausgesprochen. Die Petenten hatten mitdem Hinweis auf eine angebliche Unterwerfung derDDR durch die Bundesrepublik ein sogenanntes Straf-verfolgungsbeendigungsgesetz gefordert. Dies wäre einfatales Signal gewesen und hätte den Rechtsfrieden inden neuen Ländern gefährdet.In einem anderen Fall ging es um Schäden, die aufden von der Westgruppe der russischen Streitkräftegenutzten Flächen entstanden sind. Viele Bürger er-hielten ihre Grundstücke zurück, allerdings durch Muni-tion verseucht. Den Geschädigten wurde eine Frist vondrei Monaten eingeräumt, um Schadenersatz für dieRäumungskosten zu beantragen. Das Problem des Pe-tenten war es aber nun, daß er gar nicht wußte, daß seinGrundstück mit Munition verseucht war. Als er dannvon dem Zustand erfuhr, hätte er entweder die Räu-mungskosten selber tragen oder das Grundstück zueinem sehr geringen Preis an die Stadt veräußern müs-sen. Der Ausschuß empfahl, dem Betroffenen an Stelleeiner objektiven eine subjektive Frist einzuräumen, dienicht mit dem Zeitpunkt der Rückgabe, sondern mit demZeitpunkt der Kenntnis der Schäden beginnt. Der Petentbekam eine neue Frist zugesprochen. Ich finde, daß mitdieser Empfehlung die besondere Lage derjenigen Men-schen berücksichtigt wurde, deren Grund und Bodenwährend des kalten Krieges von den damaligen Sowjet-streitkräften genutzt wurde.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zumSchluß noch eine Bemerkung. Innerhalb des Berichts-zeitraumes hat es einen Regierungswechsel gegeben.Früher haben die Kollegen, die heute der Regierungsko-alition angehören, die Ministerien und insbesondere dasAuswärtige Amt hart kritisiert und mehr Menschlichkeitgerade in Fragen von Visa-Anträgen und Familienzu-sammenführungen angemahnt. Es überrascht mich des-halb, daß derselbe Personenkreis, der nunmehr in denRessorts die Verantwortung trägt, von seiner damaligenKritik offenbar nichts mehr wissen will. Ging es damalsetwa nicht um die Sache, sondern nur um bloße Pole-mik?
Auch wenn in wenigen Einzelfällen Eingaben zumSchmunzeln angeregt haben – es ging etwa einmal umdie Frage, ob ein Gericht entscheiden kann, ob ReheMais verzehren können oder nicht –, so war doch dieArbeit des Petitionsausschusses im vergangenen Jahrund in den vorhergehenden Jahren wichtig und erfolg-reich. Ich freue mich auf das nächste Jahr.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Katherina Reiche
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Frau Kollegin Rei-
che, Sie haben zwar Ihre Rede gerade beendet, aber
vielleicht gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von
Frau Jutta Müller.
Ich wäre Ihnen sehr
dankbar, wenn wir uns nach der Debatte unterhalten
könnten.
Ich gebe also nun-
mehr der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der
Bundesministerin für Gesundheit, Christa Nickels,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, das Wort.
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Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Frau Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Das 50jährige Jubiläum des Petitionsausschusseshaben wir gestern gefeiert. In der heutigen Zeit ist dasPetitionsrecht für uns ein ganz selbstverständlichesRecht, das Bürgerinnen und Bürger sehr intensiv undungezwungen in Anspruch nehmen. Die Zahlen wurdenja schon genannt: Innerhalb von 50 Jahren gab es 4,5Millionen Petitionen.Für mich ist es wichtig, daran zu erinnern, daß diesesPetitionsrecht als Bestandteil der demokratischen Teil-habe ein erkämpftes Freiheitsrecht ist. Im Kampf umeine freiheitliche Verfassung im 19. Jahrhundert standendie Forderungen der Bürgerinnen und Bürger für dasfreie Petitionsrecht gleichberechtigt neben der Forde-rung nach Versammlungs-, Vereinigungs- und Presse-freiheit.Das Petitionsrecht wurde in Deutschland von Anfangan eben nicht nur zum Vorbringen individueller Wün-sche oder von Sorgen und Beschwerden genutzt. Eshatte immer schon eine politisch gestalterische Dimen-sion. Es drückt damit den Willen aus, etwas politischaktiv zu gestalten. Die Bürger waren von Anfang an sehrdavon überzeugt, daß es ihr gutes Recht ist, sich an derparlamentarischen Willensbildung und an der Gestaltungder Gesellschaft zu beteiligen. In dem Willen, ein bür-gerliches Freiheitsrecht wirklich in Anspruch zu neh-men, liegt das eigentliche Geheimnis des Erfolges desPetitionsrechts. Für das Recht, sich mit Petitionen in dieeigenen Angelegenheiten einmischen zu können, sinddie Menschen damals auf die Barrikaden gegangen.Wenn den Menschen die Gelegenheit gegeben wird, sichkreativ in die Gestaltung ihres Gemeinwesens einzumi-schen, dann packen sie diese – sonst viel zu seltene –Gelegenheit auch heute noch energisch beim Schopf.Es ist schon auf folgenden Punkt hingewiesen wor-den: Die hohe Zahl der Eingaben ist ein Vertrauensbe-weis der Bürgerinnen und Bürger an das Parlament. Die-se Tatsache kann man nicht hoch genug einschätzen ineiner Zeit, in der immer wieder von Politikverdrossen-heit die Rede ist. Das Vertrauen in die demokratischenVerfahren und vor allem der Wille zur Mitgestaltunggehören zu den wichtigsten Grundlagen und Ressourcenunseres Landes. Damit dürfen wir ebenso wenig Raub-bau treiben wie mit den natürlichen Lebensgrundlagen.Der Mensch braucht saubere Luft und sauberes Wasserzum Leben. Eine demokratische Gesellschaft braucht –ebenso unabdingbar – Menschen, die sich einmischen,mitdenken, auf Mängel hinweisen und Verbesserungs-vorschläge machen. Das ist ein wesentlicher Beitrag, un-sere Zivilgesellschaft auf Dauer zu erhalten und weiter-zuentwickeln.
Für mich ist diese Debatte zum Jahresbericht 1998nicht nur wegen der gestrigen Feierstunde interessant,die in allen Debattenbeiträgen erwähnt wird. Sie hat fürmich auch eine ganz persönliche Dimension. Ich bin inder vierten Legislaturperiode Mitglied des Parlamentesund war 12 Jahre – Bernd Reuter gehörte die ganze Zeitebenfalls dazu – mit Leib und Seele, mit Kopf undVerstand Mitglied des Petitionsausschusses.
Ich war vier Jahre lang Vorsitzende dieses Ausschusses.Wir wissen alle, daß die Arbeit im Petitionsausschuß einmühsames Bohren dicker Bretter im Interesse der betrof-fenen und engagierten Menschen ist. Wir haben oft er-lebt, daß es manchmal 10 Jahre dauerte, bis sich imParlament etwas Grundsätzliches bewegte. Ich erinnerean die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Dazugab es vor vier bis fünf Jahren 1,5 Millionen Unter-schriften von Menschen, die eine Änderung wollten.Man sieht in vielen Bereichen deutlich, daß es zwar lan-ge dauern kann, daß sich aber letztendlich etwas grund-legend positiv verändert, was in den Entscheidungen desParlaments dann seinen Niederschlag findet.Als ich ins Gesundheitsministerium kam und dannmeinen Antrittsbesuch bei den Abteilungen machte, saßda ein Beamter, der mich mit funkelnden Augen an-guckte und sagte: Sie sind jetzt die neue PSt. Sie habenuns früher immer die vielen Petitionen geschickt, dieuns so viel Arbeit gemacht haben. Ich war der Beamte,der sie bearbeiten mußte. Jetzt sind Sie diejenige, die Siemit mir zusammen beantworten und zurückschickenmuß.Dann habe ich ihm gesagt: Das ist mir schon klar. Esfreut mich sehr, daß Sie sich gleich vorgestellt haben.Wir werden das jetzt intensiv und engagiert angehen. Ichhoffe, daß wir mit viel Kreativität viel für die Betroffe-nen erreichen können.Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage,daß es auf der Regierungsseite genauso ein Bohren dik-ker Bretter ist, daß man dort aber erfreulich viel leistenkann. Ich will einmal einige Sachen nennen, für die wirlange gekämpft haben.Sie alle kennen den furchtbar tragischen Fall einesehemaligen NS-Opfers, das im KZ gesessen hat. Sienicken alle. Wir haben fünf Jahre lang daran gearbeitet.Wir haben im Rahmen der Strukturreform eine Rege-lung getroffen, durch die wir hoffen, diesen Menschenhelfen zu können. Es kann nämlich nicht sein, daß Opfer
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aufgrund einer rechtlichen Besserstellung hinterher imGrunde genommen weniger Geld erhalten.Wir haben zur Entlastung chronisch Kranker im letz-ten Jahr über das Solidaritätsstärkungsgesetz entschei-dende Maßnahmen ergriffen, die gerade jetzt wirken.Die Leute haben den entsprechenden Nachweis erbracht,so daß Leistungen für sie jetzt fast vollständig zuzah-lungsfrei sind. Das ist für viele Alte und Kranke, die nureine kleine Rente haben, eine ganz erhebliche Verbesse-rung.
Ich könnte eine ganze Reihe von Beispielen aufzäh-len. Ich werde auch die Anregung, die, glaube ich, Sie,Frau Reichard, gegeben haben, aufgreifen und einmaldas, was wir positiv erledigen konnten, auflisten und Ih-nen zur Verfügung stellen. Ich glaube, es ist wichtig,daß die Ministerien dies tun.Natürlich gibt es auch hochrangige Überweisungen,bei denen es lange dauert. In einem Fall habe ich alsVorsitzende noch einen Vorschlag unterschrieben undbin jetzt diejenige, die das beantworten muß. LeiderGottes muß ich einen negativen Bescheid geben.
Aber Sie können sicher sein, daß ich mich hier sehr en-gagiert einsetze; das tut unser ganzes Haus. Sie könnenauch sicher sein, daß Sie immer ein offenes Ohr finden.Sie können mich selbstverständlich gern morgens in denAusschuß einladen, wenn wir das zu diskutieren haben.Ich setze auf eine gute Zusammenarbeit und freue michsehr, Frau Vorsitzende Lüth, daß Sie in der kurzen Zeitschon feststellen konnten, daß von den hochrangigenBeschlüssen, die in dieser Legislaturperiode gefaßt wor-den sind, 50 Prozent umgesetzt worden sind. In der ver-gangenen Legislaturperiode waren es lediglich 10 Pro-zent. Über diese Veränderung freue ich mich; das steckeich mir gerne ans Revers. Ich hoffe, daß wir das haltenkönnen. Vielen Dank für Ihre Arbeit!
Es spricht nun der
Kollege Aribert Wolf, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Rund 17 000 Einga-ben gingen beim Petitionsausschuß des Deutschen Bun-destages im Jahre 1998 ein. Mehr als 21 000 Petitionenwurden 1998 vom Petitionsausschuß abschließend be-handelt. Die Zahlen sind heute bereits genannt worden.Ich meine, diese Daten machen deutlich – hinter jederdieser Eingaben steht ein persönliches Schicksal –, daßwir keine neuen Institutionen, Bürgerbeauftragte oderähnliches brauchen, um Bürgeranliegen unmittelbar andas Parlament bzw. an den Gesetzgeber heranzutragen.Hier funktioniert unsere Demokratie. Darauf können wiralle miteinander ein wenig stolz sein. Bei den Diskus-sionen draußen wird das ja nicht immer so dargestellt,wie es im Plenarsaal des Deutschen Bundestages ge-schieht.Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern des Ausschußdienstes ganz herzlich bedan-ken; denn vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter des Deutschen Bundestages haben dafür gesorgt, daßdas wichtigste plebiszitäre Element in unserer repräsen-tativen Demokratie nicht nur auf dem Papier steht, son-dern Sitzungswoche für Sitzungswoche mit Leben er-füllt wird. Für diese fachliche Arbeit ein herzlichesDankeschön!Als neues Mitglied im Bundestag und auch im Petiti-onsausschuß will ich aber nicht nur eine Jubelarie undein Loblied anstimmen und deutlich machen, wie wich-tig uns allen im Bundestag die Arbeit des Petitionsaus-schusses ist. Das klingt in Feierstunden und Debattenwie dieser immer ganz gut. Die gelebte Wirklichkeit imDeutschen Bundestag und auch die Zusammenarbeit mitder Bundesregierung sieht allerdings ein bißchen andersaus.So habe ich bei Beginn der 14. Legislaturperiode zu-nächst festgestellt, daß die Mitgliedschaft im Petitions-ausschuß nicht gerade zu den begehrtesten Ausschuß-mitgliedschaften gehört. Er hielt sich in allen Fraktionenin sehr überschaubaren Grenzen, wenn ich auch zubilli-gen muß, daß es einige wenige Mitglieder dieses Hausesgibt, die sich sehr nachdrücklich für ihre Mitgliedschaftim Petitionsausschuß stark gemacht haben. Viel Arbeitund wenig Öffentlichkeit – das zeichnet die Tätigkeit indiesem Ausschuß aus. Um so mehr gebührt fraktions-übergreifend all den Kolleginnen und Kollegen Dankund Anerkennung, die allesamt – so habe ich es jeden-falls erlebt – ihre Arbeit im Petitionsausschuß mit gro-ßem Einsatz, Engagement und Fleiß machen. VielenDank!
Wo den Bürger der Schuh am häufigsten drückt, woaber vielleicht auch die Regelungsdichte des Staates amhöchsten ist, zeigen die Rekordhalter unter den Ressorts,die von Eingaben an den Petitionsausschuß betroffensind. Einsamer Spitzenreiter ist das Bundesarbeitsmini-sterium mit über 5000 Petitionen oder 38 Prozent derEingaben. Es folgen das Innenministerium mit 1900 Pe-titionen, das Finanzministerium mit 1800 Petitionen, dasGesundheitsministerium mit 1200 Petitionen und das Ju-stizministerium mit 1100 Petitionen. Alle anderen Res-sorts sind weit abgeschlagen.Werden die Anliegen im Petitionsausschuß beraten,gibt es stets ein intensives Ringen um fraktionsüber-greifende Voten. Wir haben überwiegend einstimmigeBeschlüsse gefaßt. Das gelingt nicht immer, muß aberauch – so meine ich – nicht sein. Wir sind gewählt wor-den, damit wir im Parlament unterschiedliche Stand-punkte einbringen. Es macht gerade den Kern der De-mokratie und des Parlamentarismus aus, daß diese Un-terschiede zum Ausdruck kommen.
Parl. Staatssekretärin Christa Nickels
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Es ist immer wieder die Bereitschaft zu spüren, dieAnliegen der Bürger als berechtigt anzusehen und ihnenHilfe und Unterstützung zu gewähren. Wenn es um dasWohl des einzelnen und um die Herstellung von Ge-rechtigkeit, um das anzuwendende Recht geht, dann darfder Bürger nicht das Gefühl haben, er sei einer undurch-sichtigen Schreibtischherrschaft ausgesetzt, die sich derparlamentarischen Kontrolle völlig entziehe. Hier kön-nen wir beruhigt feststellen, daß diese Einsicht auf allenSeiten des Hauses, zumindest im Petitionsausschuß,vorhanden ist.Aber hier gilt es auch, Kritik anzubringen. Denn wasgibt es eigentlich für ein parlamentarisches GremiumSchlimmeres, als bei den betroffenen Bürgerinnen undBürgern hohe Erwartungen zu wecken, obgleich vonvornherein klar ist, daß diese Erwartungen nicht erfülltwerden können? Auch das habe ich im Petitionsaus-schuß immer wieder erlebt. Diese Kritik richtet sichvorwiegend an die Vertreter der rotgrünen Regierungs-koalition.Gerade bei den Beschlüssen im Sozialbereich habenwir immer wieder erleben müssen, wie Sie auch imPetitionsausschuß dem Motto Ihrer sonstigen Regie-rungsarbeit treu bleiben: viel versprechen und wenighalten. Ich rede hier nicht von den acht Petitionen, dieder Ausschuß der Bundesregierung 1998 zur Berück-sichtigung überwiesen hat und von denen die Bundesre-gierung bis heute keine einzige positiv erledigt hat. Ichrede auch nicht von den 61 zur Erwägung überwiesenenPetitionen, von denen die Bundesregierung bisher nur 20positiv erledigt hat. Ich rede vielmehr von einer ganzenReihe von Bürgeranliegen und -wünschen im Bereichdes Rentenrechts, der Kranken- und Pflegeversicherungsowie des Asyl- und Ausländerrechts – um nur einigeBeispiele zu nennen –, die Sie, also Rotgrün, zwar imPetitionsausschuß unterstützt haben, von denen wir aberhier im Deutschen Bundestag, wenn es darum geht, daßSie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit entsprechendeGesetze auf den Weg bringen, nichts sehen.
– Es ist doch so! Da können Sie gern „Na, na!“ rufen.Bei der sozialen Schieflage Ihrer Rentenkürzungenund Ihrer Gesundheitsreform, angesichts Ihrer Plünde-rung der Rücklagen der Pflegeversicherung und dessen,was Sie den Menschen hier zumuten, müßten Sieeigentlich auch im Petitionsausschuß die einzelnen Bür-geranliegen ablehnen.
Aber Sie tun es nicht, meine Damen und Herren. Sie be-ruhigen damit Ihr schlechtes Gewissen und überweisendiese Wünsche immer wieder an die Regierungsfraktio-nen, obwohl Sie wissen, daß eh nichts dabei heraus-kommt.Ich denke – um es konkret zu machen – zum Beispieldaran, daß wir im Petitionsausschuß alle dafür eingetre-ten sind, die Leistungen der Pflegeversicherung fürDemenzkranke zu verbessern. Dies gilt auch für denStellenschlüssel in Pflegeheimen. Aber wie wollen Siediese Voten erfüllen, wenn Sie mit Ihrem rotgrünenSparpaket künftig Jahr für Jahr der Pflegeversicherung500 Millionen DM entziehen?
Wenn Ihr Kanzler schon bei den Schwächsten sparenwill, sollten Sie entweder die Courage haben, Ihr rotgrü-nes Sparpaket wegen seiner sozialen Schieflage im Bun-destag und in Ihrer Fraktion zu stoppen, oder zumindestden Mut aufbringen, den Menschen in Einzelfällen imPetitionsausschuß zu sagen, daß Sie bei diesem Brioni-Kanzler keine Chance auf Verwirklichung sehen.
Auch beim Asylverfahren sind es immer wieder dieGrünen, die glauben, den Petitionsausschuß zu einer ArtSuperrevisionsinstanz machen zu können. Das ist derfalsche Weg! Ich kann Ihnen sagen, daß ich stolz daraufbin, daß Bayern mit 114 Eingaben pro 1 Million Ein-wohner am wenigsten Petitionen hat. Dies zeigt, daß dieBayerische Staatsregierung die Gesetze in unserem Landvernünftig umsetzt und die Bürger deswegen wenigAnlaß sehen, sich an den Petitionsausschuß des Deut-schen Bundestags zu wenden.
Die bürgerfreundlichste Politik ist diejenige, die dazubeiträgt, daß überhaupt keine Petitionen eingereichtwerden.Ich bedanke mich.
Wenn ich, Frau
Kollegin Nickels, Ihr Verhalten richtig interpretiere,
melden Sie sich, da Ihre Frage nicht zugelassen worden
ist, zu einer Kurzintervention. – Ich gebe Ihnen das
Wort.
Wir sind uns, glaube ich, alle darüber klar, daß es imBereich der Pflege der dementen und verwirrten altenMenschen noch Nachhol- und Nachbesserungsbedarfgibt. Das ist bekannt, seit die Pflegeversicherung eta-bliert ist, das hat die alte Bundesregierung in vielen Be-reichen sehr umgetrieben.Es ist zweitens bekannt, daß in diesem Bereich Hast,Leichtsinn und Leichtfertigkeit nichts zu suchen haben.Denn wenn man hier mit leichter Hand oder womöglichmit falschen Zahlenschätzungen vorgeht – ich beziehemich hier auf einen Gesetzentwurf, der Anfang diesesJahres von Bayern und Baden-Württemberg im Bundes-rat eingebracht worden ist und der von Rücklagen inder Pflegeversicherung von über 12,3 Milliarden DMausgeht, obwohl klar ist, daß wir nur 9,3 Milliarden DMhaben –, vertragen das weder die betroffenen pflegebe-dürftigen Menschen noch diejenigen, die in der Pflegeihr Bestes leisten.Aribert Wolf
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Das heißt, es ist richtig, daß hier unter Einbeziehungallen Sachverstandes intensiv geprüft werden muß, wound wie man hier zur Verbesserung gerade der Pflegeder Dementen beitragen kann. Sie wissen, Herr Wolf,daß das Gesundheitsministerium in Zusammenarbeit mitden anderen Häusern darüber intensive Gespräche führtund zahlreiche Fachrunden einberufen hat. Allerdingsmuß man sich auf die seriösen und soliden Zahlen be-schränken und darf den Leuten nicht etwas vorgaukeln,was die Zahlen nicht hergeben: weder bei der Höhe derRücklagen, die in dem Bundesratsentwurf falsch ein-geschätzt worden ist, noch auf der Ausgabenseite, woman viel zu ungenau ausgerechnet hat, was das Ganzekostet.Jetzt komme ich zur Sparleistung: Es ist für uns alsGesundheitsministerium schmerzlich, daß wir in derPflegeversicherung jedes Jahr in der Größenordnungvon ungefähr 300 bis 400 Millionen DM zur Sparlei-stung beitragen müssen. Unser Haus hat alles getan, umdas im Rahmen zu halten. Ich möchte daran erinnern,daß Herr Seehofer seinerzeit ganz andere Zahlenopera-tionen vorhatte, um den Anstieg der Lohnnebenkosteneinzudämmen. Da ging es um mehrere Milliarden DM,die von der Opposition damals mit Mühe und Not abge-wehrt werden konnten. Die Zahl, die jetzt im Sparpaketenthalten ist, führt nicht dazu, daß die Reserven geplün-dert werden. Die Reserven werden im Schnitt nie unter 8Milliarden DM liegen und in einigen Jahren wieder suk-zessive steigen. Das enthebt uns aber nicht der Mühe –wir werden das auch tun –, intensiv zu versuchen, dieSituation der Pflege der Dementen solide und langfristigzu verbessern. Da werden Sie von dieser Regierung indieser Legislaturperiode noch einiges hören. Allerdingswerden wir keine Schnellschüsse machen. Das ist die-sem Bereich absolut abträglich; das darf man nicht ma-chen.
Der Kollege Wolf
möchte erwidern. Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, Sie
werden mir trotzdem recht geben müssen, daß es die
rotgrüne Bundesregierung ist, die die angesparten Spar-
groschen der Bedürftigsten der Bedürftigen Jahr für Jahr
um 500 Millionen DM plündert,
indem sie die Bemessungsgrundlage für die Zahlungen
von Beiträgen an die Pflegeversicherung bei Arbeitslo-
sen entsprechend senkt, und daß es schon heute so ist,
daß die Pflegeversicherung auf der Einnahmen- und
Ausgabenseite eine leicht negative Bilanz hat. Das heißt,
wenn Sie 500 Millionen DM wegnehmen, plündern Sie
die Rücklage der Pflegeversicherung, die sich heute – da
gebe ich Ihnen recht – auf rund 9 Milliarden DM be-
läuft. Wenn Sie das Geld in den Haushalt und die Sanie-
rung der Staatsfinanzen stecken, dann gilt ein altes
Wort, das Franz Josef Strauß einmal in diesem Plenum –
damals noch in Bonn – gesagt hat, nämlich daß eher ein
Hund einen Wurstvorrat anlegt, als daß eine rote Regie-
rung – damals war es noch keine rotgrüne Regierung –
eine Sparrücklage unangetastet läßt.
Ich empfinde es als beschämend – das muß ich wirk-
lich sagen –, wenn ich miterlebe, was Sie den Menschen
im Wahlkampf versprochen haben und was Sie im Petiti-
onsausschuß immer wieder an Beschlüssen fassen. Bei
Ihnen gibt es einen Widerspruch zwischen Ihren Lippen-
bekenntnissen und der Tatsache, daß Sie die notwendi-
gen Finanzmittel nicht zusammenhalten können. Von
Horst Seehofer und Norbert Blüm ist die Pflegeversiche-
rung als Versicherung ausgestaltet und eben nicht steuer-
finanziert worden. Sie aber wollen jetzt mit einem Trick
den Pflegebedürftigen das Geld wegnehmen und in den
allgemeinen Haushalt transferieren. Das werden wir kri-
tisieren, auch wenn Sie noch so viel aufschreien und Ra-
batz machen; denn diese Mittel fehlen den Schwächsten
der Schwachen in unserer Gesellschaft. Wir werden Ih-
nen das nicht widerspruchslos durchgehen lassen.
Ich gebe nun der
Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetztschwierig, angemessen und ernsthaft zur Arbeit des Pe-titionsausschusses zurückzukommen.
Aber Ihnen schenke ich nachher auch noch aus, HerrWolf. Ich komme noch zu Ihnen.Auch ich möchte hier zunächst meiner Freude dar-über Ausdruck geben, daß nach der gestrigen würdigenFeier zum 50jährigen Bestehen des Petitionsausschus-ses heute erneut das besondere Augenmerk des Parla-ments und auch der Bevölkerung – Herr Präsident, er-lauben Sie mir, daß ich in diesem Zusammenhang dieBesuchergruppen besonders begrüße – auf den Petiti-onsausschuß gelenkt wird.
– Nein, ich habe keine Besuchergruppe. Mir ist aber jedeBesuchergruppe der Kolleginnen und Kollegen genau-soviel wert.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch fürdie Oktober-Ausgabe von „Blickpunkt Bundestag“ be-danken, in der getitelt wurde: „50 Jahre Petitionsaus-schuß – Frühaufsteher für die Bürgerrechte“. Das sindChrista Nickels
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wir gerne, und wir werden uns dieser Arbeit auch wei-terhin mit großem Engagement zuwenden.
Wegen des besonderen Ereignisses des 50jährigenJubiläums möchte ich weitere Dankesworte anbringen:zunächst an unsere stellvertretende AusschußvorsitzendeJutta Müller, die mit ihren treffenden Analysen so man-che Argumentation der Kollegen auf der Gegenseite imObleutegespräch und im Ausschuß zum Guten brechenund wenden kann, zum anderen an unseren Arbeitsgrup-penvorsitzenden Bernd Reuter, für den dasselbe gilt undder darüber hinaus manchmal die Koralle lachen läßt.
– Das verstehen nur Insider.Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen zurLinken und zur Rechten, die Sie als Abgeordnete im Pe-titionsausschuß und somit in Ombudsmanfunktion fürdie Bürgerinnen und Bürger tätig sind. Herzlichen Dankdem Ausschußdienst und unseren Referenten, ohne diedas Mammutprogramm des Petitionsausschusses nichtzu bewältigen wäre.Nun zu unserer Arbeit: Das Recht der Bürgerinnenund Bürger, nicht nur durch Wahlen, durch Mitarbeit inden Parteien und durch Kontakt zu den örtlichen Abge-ordneten Einfluß zu nehmen und ihre Anliegen vorzu-bringen, sondern auch durch das Recht, sich mit einerpersönlichen Eingabe direkt an das Parlament zu wen-den, wird von vielen Menschen anerkannt und in An-spruch genommen. Daß diese Inanspruchnahme im Be-richtszeitraum 1998, also in einem Bundestagswahljahr,um, wie der Bericht ausweist, mehr als 15 Prozent zu-rückgegangen ist, liegt an der besonderen Beobach-tungsgabe und Erwartungshaltung der Bürgerinnen undBürger, die sich von einer alten Regierung nicht mehrviel und von einer neuen Regierung sicherlich nicht al-les, aber dennoch notwendige Veränderungen verspre-chen.Und Recht haben die Bürgerinnen und Bürger;
denn nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 konn-ten viele Petitionen insbesondere im Bereich Arbeit-nehmerrechte, etwa bei der Lohnfortzahlung im Krank-heitsfall und bei der Reduzierung der Zuzahlungen beiArzneimitteln und Kuren, positiv erledigt werden.
Eine hohe Eingabedichte gab es im Bereich der Pfle-geversicherung. Die Entwicklung der Pflegeversiche-rung ist eine fortwährende Aufgabe und braucht nichtIhre Polemik, Herr Kollege Wolf. Ich danke der Parla-mentarischen Staatssekretärin Nickels für die Darlegungder Notwendigkeit – die wir alle sehen –, gerade im Be-reich der Demenzkranken weiterzuhelfen.
Das ist eine fortwährende Aufgabe, und ich setze großeHoffnung in diese Regierung, daß sie das erledigt, wasdie alte Regierung nicht geschafft hat.Notwendige Veränderungen im Bereich der Pflege-versicherung werden aber auch durch die Petitionen her-beigeführt: Die Petenten stellen uns die schwierige Si-tuation, in der sie sich als Pflegende oder Pflegebedürf-tige befinden, dar – das ist ganz wichtig für unsere Ar-beit –, und diese Anliegen transportieren wir natürlichweiter an den Gesundheitsausschuß.So konnte es auf Grund von Petitionseingaben auchzu einer Verbesserung der Akzeptanz der Pflegepflicht-einsätze kommen. Dem Wunsch von Petenten, auf diePflegepflichteinsätze ganz zu verzichten, da diese alsKontrolle verstanden werden, konnte mit dem Argumentbegegnet werden, daß gerade diese Pflichteinsätze Defi-zite in der häuslichen Pflege aufzeigen und Hilfestellungleisten können. Die Beibehaltung der Pflegepflichtein-sätze bei Kostenübernahme durch die Pflegeversiche-rung – dafür haben wir uns entschieden – dient insge-samt der Fortentwicklung der Pflegeversicherung imSinne der Petenten.Eine weitere Vielzahl von Eingaben betrifft den Be-reich der Rentenversicherung. In dem Fall einer Or-densfrau, die 50 Jahre als Krankenschwester tätig warund dann aus ihrem Orden ausgetreten ist, konnte eineNachversicherung erreicht werden. Dagegen konntenwir wegen einer Gesetzesgrundlage aus dem Jahre 1996,nämlich des Wachstums- und Beschäftigungsförde-rungsgesetzes, vielen Petitionen nicht abhelfen. DasWachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vonFreitag, den 13. September 1996 – einem SchwarzenFreitag, den ich, 600 Petenten und Hunderttausende vonBürgerinnen und Bürger nicht vergessen werden –,führte dazu, daß bei der Rentenberechnung ganz gravie-rende Einschnitte verankert wurden, die zu drastisch re-duzierten Rentenansprüchen geführt haben.
Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat mich am13. September 1996 aufgeregt, das hat mich bei jederPetition aufgeregt, und das regt mich noch heute auf.Denn es ist ein eklatanter Mißstand: Je kleiner die Ren-te, um so drastischer die Auswirkung. Das ist christlich-soziale Politik!
Die entsprechende Begründung des Ministeriumslautete damals, daß mit der Neuregelung Wachstum undBeschäftigung gefördert und die Dynamik der Wirt-schaft gestärkt werden sollten. 600 Petenten und Hun-derttausende von Bürgerinnen und Bürgern sehen dasanders – ich auch. Diese Rentenentscheidung zu Lastender Kleinrentnerinnen und -rentner konnte vom Petiti-onsausschuß nicht mehr korrigiert werden. Sie zeigt uns,liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktio-nen, für unsere weitere politische Arbeit die dringendeNotwendigkeit einer sozialen Grundsicherung auf, umdurch eine moderne Sozial- und Rentenpolitik zäheHeidemarie Wright
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Kämpfe um unterschiedliche Leistungsansprüche imAlter unnötig zu machen.Hohe Erwartungen werden an uns im Bereich derAusländer- und Asylpolitik gestellt. Herr Deittert, wirhaben unsere Voten nicht vergessen. Ist Herr Deittertnoch da?
Ich weiß nicht, ob
Sie mich ansprechen wollten, verehrte Frau Kollegin.
Das wäre einmal etwas Neues hier im Parlament. Ich
finde das ganz schön. Ich darf nur leider nicht antwor-
ten.
Ich hätte mich auch ge-
wundert, wenn Herr Deittert nicht mehr dagewesen
wäre. Aber Frau Reiche zum Beispiel, die erst anpran-
gert und dann nicht zuhört, was wir zu diesem Bereich
zu sagen haben, ist nicht mehr da.
Ich war beim Asyl- und Ausländerrecht. In Nord und
Süd, in großen Kirchengemeinden und selbst in klei-
nen bayerischen Kommunen kümmern sich Bürgerinnen
und Bürger um Menschen, die seit langen Jahren
ihre Nachbarn sind, deren Kinder miteinander zur
Schule gehen, die aber seit Jahren nicht wissen, wo sie
hingehören, wo man ihnen Zuflucht und Bleibe gewährt.
Ich spreche hier von der ungelösten Situation der Alt-
fälle.
Mangels positiver Abklärung in der Innenminister-
konferenz kam es bislang nicht zu größeren Handlungs-
spielräumen. Die Festlegung in der Koalitionsverein-
barung vom Oktober 1998 – ich zitiere: „Wir wollen
gemeinsam mit den Ländern eine einmalige Altfallre-
gelung erreichen“ – wurde zur unüberwindbaren Hürde
und somit auch zum Knebel für die Entscheidungen im
Petitionsausschuß. Ich meine, daß der Druck für eine
humanitäre Altfallregelung aus dem Petitionsausschuß
endlich auch zu einem positiven Handeln der Innenmini-
sterkonferenz führen muß. Langjährig und integriert hier
lebenden Flüchtlingen ein dauerndes Aufenthaltsrecht zu
gewähren entlastet nicht nur den Petitionsausschuß, son-
dern Gerichte, Verwaltungen, Flüchtlingsorganisationen
und engagierte Bürgerinnen und Bürger in der ganzen
Republik. Ich weiß: Der Druck der Betroffenen, der
Druck einer engagierten Bevölkerung und der Druck aus
dem Petitionsausschuß werden hier nicht nachlassen.
Wir sind im Petitionsausschuß das Bohren dicker Bretter
gewohnt; wir werden hier weiterbohren und dem In-
nenminister und der Innenministerkonferenz unsere
Voten nicht ersparen.
Mein Appell zum Schluß: So wie die Arbeit im Peti-
tionsausschuß oft die Interessen derer, die im Dunkeln
stehen, behandelt, wollen wir, nicht nur heute, Licht ins
Dunkle bringen.
Wir wollen unser Licht, das Licht derer, die im Peti-
tionsausschuß tätig sind, nicht unter den Scheffel stellen.
Insbesondere wollen wir Mißstände beleuchten, deren
Beseitigung unsere gesamte Parlamentsarbeit in einem
guten Licht erscheinen lassen wird.
Ich danke sehr.
Es spricht nun derKollege Axel Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.Axel E. Fischer (CDU/CSU): HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kol-legin Wright, Sie haben eben kritisiert, daß die KolleginReiche nicht da ist. Ich muß Ihnen sagen: Wenn einejunge Mutter geht, um ihr Kind zu stillen, finde ich dasgut.
Wenn Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf alseines Ihrer Ziele hochhalten, dann sollten Sie so etwasakzeptieren.
– Ich sage es Ihnen hiermit: Sie ist weggegangen, um ihrKind zu stillen. Damit dürfte das geklärt sein. Ich denke,wenn Sie die Kollegin Reiche öffentlich kritisieren,sollte man das hier auch öffentlich klarstellen.
Seit nunmehr einem Jahr arbeite ich im Petitionsaus-schuß des Deutschen Bundestags mit. Der Grund, war-um ich mich für diesen Ausschuß entschieden habe, war,daß ich bürgernah arbeiten will. Ich kann wohl sagen– das kam in den Reden sowohl der Regierungsfraktio-nen als auch der Oppositionsfraktionen so zum Aus-druck –: Wir alle fühlen uns im Petitionsausschuß alsAnwälte der Belange der Bürger. Wir wollen mithelfen,bürokratische Hemmnisse zu überwinden und – bei be-rechtigten Beschwerden – den Bürgern zum Erfolg zuverhelfen. Dazu gibt es auch allen Grund. Denn in demjahrzehntelang gewachsenen Dickicht aus Gesetzen,Verordnungen und Verwaltungsvorschriften bleibt esnun einmal nicht aus, daß verschiedene Gesetze im Er-gebnis im Einzelfall vom Gesetzgeber nicht gewollteWirkungen zeigen. Diesen steht der einzelne Bürgerteilweise hilflos gegenüber. Leider viel zu oft sieht ersich einer Bürokratiemaschinerie ausgesetzt, die ihm beider Lösung seiner Probleme nicht hilft.Auf der anderen Seite sind die eingehenden Petitio-nen auch ein guter Gradmesser für die Stimmung in derBevölkerung. Warum, glauben Sie eigentlich, kommendie meisten Petitionen aus dem Bereich Arbeit und So-ziales und von denen wiederum viele aus dem BereichHeidemarie Wright
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der Alterssicherung? Der Kollege Wolf ist darauf schonausführlich eingegangen.
– Sie auch, ja.Die Petitionen zeigen uns allen die Bereiche auf, indenen der Gesetzgeber und die Bundesregierung drin-gend Handlungsbedarf haben. Schauen Sie sich die heu-tige Demonstration der Rentner an, die nur ein paarMeter von hier stattfindet. Da sehen Sie, was Sie ange-richtet haben.
Genauso verhält es sich auch im Bereich der friedlichenNutzung der Kernenergie, einem Bereich, in dem wirmehrere Eingaben zu behandeln hatten. Dabei standenSicherheitsfragen immer im Vordergrund. Hier zeigtsich deutlich Handlungsbedarf, vor allem auf der Seiteder Bundesregierung.
Herr Kollege Fi-scher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der KolleginLüth?Axel E. Fischer (CDU/CSU): Ichbin gerade mitten in einem Gedanken; danach. Ich erinnere mich an die Petition einer Grundschul-klasse. Sie wollte defekte Kernkraftwerke abschaltenlassen. Hier konnte der Petitionsausschuß dem Anliegender jungen Petenten weitgehend entsprechen. Wir habendiese Petition der Bundesregierung und dem Bundes-umweltminister zugeleitet. Weil in Deutschland keinedefekten Kernkraftwerke betrieben werden, sollte diesePetition bei zukünftigen internationalen Verhandlungenund Vereinbarungen in die Erwägungen der Bundesre-gierung einbezogen werden. Zu meinem großen Bedau-ern konnten die Vertreter der Bundesregierung bei ihremBesuch in der Ukraine im Sommer dieses Jahres demnicht Rechnung tragen. Statt – wie ursprünglich vorge-sehen – eine Abschaltung des Kernkraftwerks inTschernobyl herbeizuführen, kam der Bundeskanzlermit leeren Händen zurück.
Er hat dort absolut versagt.Es ist darüber hinaus bezeichnend, daß die Handlun-gen der Bundesregierung in diesem Fall nicht vom Geistder Petenten getragen wurden. Im Gegenteil: Die Bun-desregierung betreibt weiterhin eine unfruchtbare, ideo-logiegeprägte Ausstiegsdebatte, mit der das Ziel verfolgtwird, die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzu-schalten. Das in Deutschland vorhandene Know-howwird für nichts und wieder nichts leichtfertig verspielt.Ganz offensichtlich kümmern sich Ideologen weder umKlimaprobleme noch um die Sicherheitsbelange der Be-völkerung.Die industrielle Führerschaft, die im Zeichen derGlobalisierung die wichtigste Voraussetzung für eineflorierende Volkswirtschaft ist und hochproduktive so-wie zukunftsfähige Arbeitsplätze sichert, soll offen-sichtlich auf dem Altar technikfeindlicher 68er geopfertwerden. Real existierende Probleme werden dadurchnicht gelöst. Lieber betreibt die Bundesregierung ideo-logische Spielchen und nutzt die Hilflosigkeit der Men-schen aus, deren Mehrzahl nicht in der Lage ist, beste-hende Risiken im Bereich der Kernkraft abzuschätzen.
Andere Petitionen wurden leider schon von der rot-grünen Ausschußmehrheit abgelehnt. Zum Beispiel for-derte ein Petent die Entlassung von Bundesumweltmini-ster Trittin. Er hatte begründet – hören Sie zu; hier kön-nen Sie noch etwas lernen! –, daß die Art und Weise, inder der Bundesumweltminister den Ausstieg aus derKernenergie vorantreibe, gegen dessen Amtseid versto-ße. Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe würdenvernichtet. Humankapital in Gestalt des Wissens Tau-sender deutscher Physiker werde entwertet. Ohne in denWillensbildungsprozeß der Bundesregierung eingreifenzu wollen, muß ich feststellen, daß mir die Argumentedieses Petenten eingeleuchtet haben.
Die aktuelle Ausstiegsdiskussion, die wir derzeit haut-nah erleben, bestätigt genau die Argumente des Peten-ten. Leider folgte die rotgrüne Ausschußmehrheit diesenArgumenten nicht und legte die Petition ad acta. Dieszeigt für mich nicht zuletzt auch die politischen Grenzenauf, die trotz weitgehender Einigkeit in Sachfragen dieAusschußarbeit erschweren.Eine weitere Beobachtung hat mich sehr nachdenk-lich gemacht: Mittlerweile erreichen uns vermehrt Peti-tionen, in denen Bürger für Umgehungsstraßen kämp-fen. Überlastete Straßenabschnitte führen zu unnötigemLärm, zu Abgasbelastungen, Erschütterungen und wei-teren Einschränkungen. Letzter Ausweg ist für vieleBürger heute offenbar die Petition. Gleichzeitig seheich, daß viele deutsche Kommunen, die nach eigenemBekunden finanziell stark gebeutelt sind, MillionenD-Mark für den Rückbau von Straßen, die Aufstellungvon Blumenkübeln und für andere verkehrsbeschrän-kende Maßnahmen ausgeben. Straßen sollen jedoch alsVerkehrswege verbinden und das Mobilitätsbedürfnisder Bürger unterstützen.
Ich kann deshalb nur hoffen, daß die Bundesregierungwie die betroffenen Kommunalparlamente schleunigstihre Ideologie und ihre beschränkende Politik aufgebenund zu einer bürgerfreundlichen Politik zurückkehren, inderen Rahmen das Erziehungsanliegen einzelner hinterdas Gemeinwohl zurücktritt. In diesem Sinne hoffe ichauf eine weiterhin konstruktive Arbeit im Petitionsaus-schuß. Ich danke dem Ausschußdienst sowie allen Kol-leginnen und Kollegen. Ich wünsche dem Petitionsaus-Axel E. Fischer
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schuß auch für die nächsten Jahre, daß die Regierungden Petitionen Rechnung trägt.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Kollegin Heidemarie
Lüth.
Ich möchte zu Ihrer Rede,
Herr Kollege Fischer, drei kurze Anmerkungen machen.
Ich kann verstehen, daß Sie in der Opposition Ihre
Redezeit nutzen wollen, um zu zeigen, wie die neue Re-
gierung arbeitet. Aber wir sollten auch den Jahresbericht
1998 debattieren. 1998 war die neue Koalition erst drei
Monate in der Pflicht.
Die Beschlüsse, von denen wir hier sprechen – so-
wohl die Erwägungs- wie die Berücksichtigungsbe-
schlüsse –, gingen alle an die alte, also an die von Ihren
Parteien gestellte Regierung.
Auch wenn wir diesen Bericht des Petitionsausschus-
ses ganz im Gegensatz zu unseren sonstigen Gepflogen-
heiten erst etwas später behandeln – wir haben alle
schon begründet, warum wir das heute tun –, ist es,
glaube ich, nicht gerade glücklich und auch nicht im In-
teresse der Petentinnen und Petenten, die sich im ver-
gangenen Jahr an uns gewandt haben, heute schon auf
Petitionen dieses Jahres hinzuweisen und darauf, wie
heute die Mehrheiten sind.
Ein dritter Gedanke, mit dem ich Ihnen, Herr Kollege
Fischer, wirklich sehr beipflichten möchte. Es ist tat-
sächlich so, daß dieser Ausschuß von einer sehr hohen
Konstruktivität getragen ist. Ich weiß es ganz besonders
zu schätzen, daß auch die Kolleginnen und Kollegen aus
der Regierungskoalition, obwohl sie die Mehrheit haben,
um Konsens ringen, damit wir bestimmte Dinge dann in
Gemeinsamkeit entscheiden können. Ich finde es auch
ganz normal, daß Parlamentarierinnen und Parlamenta-
rier der Regierungsfraktionen im Ausschuß eine andere
Meinung vertreten können als die, die bei Erwägungs-
oder Berücksichtigungsbeschlüssen durch die Regierung
zum Tragen kommt.
Aber darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden
wir im kommenden Jahr diskutieren. Im Moment kann
diese Regierung jedenfalls immerhin noch sagen, daß
sie Erwägungs- und Berücksichtigungsbeschlüsse in
hohem Maße erfüllt hat, ganz im Gegensatz zum Jahr
1998.
Zu einer Erwide-
rung hat Herr Kollege Fischer das Wort.
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Lie-
be Kollegin Lüth, Sie haben einige Dinge angesprochen.
Ich bin neu im Bundestag. Aber wir haben über die Pe-
titionen des Jahres 1998 gesprochen. Diese Petitionen,
die ich auf dem Tisch hatte, wurden teilweise auch
schon 1998 im Petitionsausschuß und im Bundestag ver-
abschiedet, weil wir immerhin von Oktober bis Dezem-
ber Zeit hatten. Deshalb denke ich, daß es, wenn man
hier über die Arbeit des Petitionausschusses berichtet,
schon interessant ist, einzelne Punkte herauszugreifen
und auch einmal auszuführen, zu welchen Sachverhalten
unterschiedliche Meinungen bestehen. Das ist genauso
interessant oder sogar noch interessanter als die Punkte,
bei denen wir alle einer Meinung sind.
Gerade wenn man aktuelle politische Themen an-
spricht, ist es doch auch wichtig zu zeigen, daß es viele
Bürgerinnen und Bürger gibt, die mit der Arbeit der jet-
zigen Bundesregierung unzufrieden sind. Dieser Aufga-
be bin ich nachgekommen, und ich denke, das ist so
auch in Ordnung.
Als letztem Redner
in dieser Debatte erteile ich nunmehr dem Kollegen
Dieter Dzewas von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Bundes-tagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! MitHerrn Deittert im Rücken, der mir ja sonst gegenüber-sitzt, kann eigentlich nichts schiefgehen. Leider verfügeich nicht wie Herr Kollege Nolting über prophetischeGaben, mit Hilfe derer er in der Lage ist, aus dem Jah-resbericht 1998 Schlüsse auf das Zukunftsprogramm desJahres 2000 im Bereich des Rentenrechts zu ziehen. Ichverfüge über diese Gabe, wie gesagt, nicht;
ich hoffe aber trotzdem, daß meine Mitarbeit im Petiti-onsausschuß nicht darunter leidet.
Ich habe in diesem Ausschuß die wohltuende Erfah-rung gemacht, daß man sich über Parteigrenzen hinwegAxel E. Fischer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5643
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sachlich an den Anliegen von Petentinnen und Petentenorientiert. Redebeiträge wie die des Kollegen Wolf unddes Kollegen Fischer sind dort glücklicherweise eineAusnahme.
Eine lebendige Demokratie ist darauf angewiesen,daß Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Mög-lichkeit haben, in sehr persönlicher Form auf Gesetzge-bungsverfahren Einfluß zu nehmen. Petitionen sind invielen Fällen der letzte Ausweg, aus den Mühlen büro-kratischer Zwänge herauszukommen. Eine unverständli-che, manchmal sogar unsinnige Rechtsprechung läßtmanchen verzweifeln – da ich selbst lange Jahre in einerBehörde gearbeitet habe, weiß ich, wovon ich spreche –,wenn es darum geht, manchen EDV-Bescheid zu lesenund ihn dann auch noch zu verstehen.
Jeder, der sich in einem solchen Dschungel einmal ver-fangen hat, macht die Erfahrung festgefahrener Büro-kratie und von Paragraphenreiterei.Die 50jährige erfolgreiche Arbeit des Petitionsaus-schusses ist heute schon mehrfach erwähnt worden, undsie ist in großen Teilen ein Verdienst der Ausschußmit-arbeiterinnen und -mitarbeiter – das möchte ich an die-ser Stelle doch noch einmal betonen –, denn sie haben indiesen fünf Jahrzehnten unermüdlich Aktenberge bear-beitet, damit wir sachgerechte Entscheidungen treffenkonnten.
Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern, aber auch all den Kolleginnen und Kolle-gen im Ausschuß danken, die immer wieder durch Be-harrlichkeit so manch dickes Brett durchbohrt haben.Ich möchte jetzt die Gelegenheit ergreifen, das eineoder andere Brett direkt vorzustellen. Ich möchte allge-mein vorausschicken: Manches eigenverantwortlicheHandeln und mehr Sachverstand in der Behörde hättenuns viel Arbeit und damit auch Geld und Kosten erspa-ren können.Es ging zum Beispiel um den Koch eines Altenpfle-geheims, der mit der gesamten HeimbewohnerschaftOpfer einer solchen bürokratischen Entscheidung zuwerden drohte. Er sollte zu einer Wehrübung einberufenwerden genau zu einem Zeitpunkt, als dieses Heim mitseinen Bewohnerinnen und Bewohnern, mit Personalund Angehörigen eine Urlaubsreise machen wollte. Al-les war geplant, alles war gebucht; nur das Kreiswehrer-satzamt war nicht bereit, dem Antrag auf Unabkömm-lichkeit dieses Mitarbeiters Rechnung zu tragen. Erstnach Intervention des Petitionsausschusses war ein Ein-sehen und ein Einlenken möglich.Nicht viel anders verlief die Erfahrung eines Schä-fers, der aus Existenzgründen keinen Wehrdienst leistenwollte und konnte und statt dessen einen Einsatz im Be-reich des Katastrophen- und Brandschutzes in Erwägunggezogen hatte. Dummerweise hatte er die dafür notwen-dige Bewerbungsfrist, die ihm nicht bekannt war, ver-säumt. Daraufhin hat er den Petitionsausschuß in einerwirklich existentiellen Frage um Hilfe gebeten. Die Be-mühungen des Petenten, eine angemessene Ersatzkraftzu beschaffen, blieben erfolglos. Angelernte Kräftekonnten den Betrieb nicht führen. Auch an dieser Stelleist es gelungen, durch gemeinsames Engagement einEinlenken des Kreiswehrersatzamtes zu erreichen.Letztendlich wurde der Einberufungsbescheid sogaraufgehoben.Wie im ersten Fall stellt sich allerdings die Frage,warum und nach welchen Kriterien Behörden Abwä-gungsentscheidungen treffen. Manchmal wäre aus mei-ner Sicht ein gesunder Schuß Menschenverstand sinn-voller, als Akten und Paragraphen zu wälzen.
Ich möchte jetzt eine Petition vorstellen, die sicher-lich etwas zum Schmunzeln Anlaß gibt. Ich tue das abernicht deshalb, weil ich mich selbst einmal an der Geigeversucht habe. Frau Professor Süssmuth hat diese Peti-tion schon gestern einmal kurz vorgestellt. Es ging umeinen Studenten, der nach einem Stipendiumaufenthaltin den USA mit dem Ziel nach Deutschland zurückge-kehrt ist, mit einer sehr wertvollen Geige – sie hatteeinen Wert von 250 000 DM – eine CD-Aufnahme zumachen. Die Zollbehörden wollten von ihm eine Ein-fuhrabgabe von 37 000 DM, die er nicht hatte. Daherdrohte die Versteigerung der Geige. Glücklicherweisehat er sofort den Petitionsausschuß angerufen. Wirkonnten erreichen, daß diese Angelegenheit im BMF mitDringlichkeit behandelt wurde. Dann stellte sich heraus– das ist das Interessante an dieser Stelle –, daß esdurchaus möglich gewesen wäre, die Geige nachträglichfür die beabsichtigte Verwendung beim Zoll anzumel-den. Warum die Zollbehörden auf diese Möglichkeitallerdings nicht vorher hingewiesen haben, wird wohlein ewiges Rätsel bleiben.
Ebenfalls aus dem Zuständigkeitsbereich desFinanzministeriums kommt eine andere Petition – dassollte uns alle interessieren –: Es ging nach Ausführun-gen des Petenten darum, daß ihm seine EC-Karte ge-stohlen wurde und daß er insgesamt mehr als 8 000 DMauf seinem Konto vermißte. Die persönliche Identitäts-nummer war nach eigenen Angaben niemandem mitge-teilt worden; aber das betroffene Kreditinstitut weigertesich, entsprechenden Ersatz zu leisten. Da es sich um einzivilrechtliches Problem handelte, konnten wir leidernicht direkt für den Petenten tätig werden. Wir habenihm aber geraten, sich mit einem Rechtsbeistand vor Ge-richt zu bemühen, den Schadenersatz zu realisieren.Bei vielen eingehenden Petitionen von Bürgerinnenund Bürgern ist offensichtlich immer wieder die Illusionvorhanden, wir könnten auf Banken und Sparkassen di-rekten Einfluß nehmen. Das können wir aber nicht. Wirkönnen lediglich prüfen, ob das Bundesaufsichts-amt für das Kreditwesen seine Pflicht erfüllt hat odernicht.Dieter Dzewas
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Dennoch war diese Petition für uns sehr wichtig, dasie exemplarisch gezeigt hat, wie notwendig ein sicheresVerschlüsselungsverfahren für diese persönlichen Iden-titätsnummern ist. Wir haben aus diesem Grunde demBundesaufsichtsamt für das Kreditwesen die Petition alsMaterial mit dem Ziel überwiesen, daß zukünftig dieSchwachstellen in diesem Verschlüsselungsverfah-ren genau beobachtet und, wenn möglich, behoben wer-den.Ich möchte als letztes eine Petition aus dem Zustän-digkeitsbereich des Arbeitsministeriums schildern, diesicherlich ebenfalls etwas Anlaß zum Schmunzeln gibt.Dies trägt vielleicht zu einem etwas versöhnlicherenAusklang der Debatte bei. Diese Petition betraf das all-jährliche Sternsingen – auch Frau Professor Dr. Süss-muth hat es gestern angedeutet –, bei dem Kinder ka-tholischen Glaubens am Dreikönigstag Gelder für kari-tative Zwecke sammeln. Der Petent beschwerte sichüber dieses Vorgehen, da er hierin eine Verletzung desJugendarbeitsschutzgesetzes sah.
Statt dessen plädierte er für Sammelmethoden, die an-sonsten auch für humanitäre Zwecke angewandt werden.– Hier erlauben Sie mir bitte eine kurze Zwischenbe-merkung: Dabei ist manche Methode, die mir persönlichsehr zuwider ist.Der Ausschuß prüfte das Anliegen und kam zu fol-gendem Ergebnis: Die Bewertung, ob Sternsingen Kin-derarbeit ist, hänge zum einen von der Prüfung arbeits-schutzrechtlicher Kriterien ab, zum anderen aber ebenauch von dem im Grundgesetz verbrieften Recht derkirchlichen Selbstbestimmung. Demnach darf staatlichesRecht die Religionsausübung – hierzu gehören auchsolche karitativen Veranstaltungen – nicht einschränken.Das heißt, daß Kinder und Jugendliche selbstverständ-lich bei solchen karitativen Tätigkeiten nicht behindertwerden sollen. Auf der anderen Seite sind Gesundheits-vorschriften immer einzuhalten.Deshalb aus unserer Sicht: Sternsingen ist keine Kin-derarbeit. Deshalb konnten wir dieser Petition nicht ab-helfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Beispiele zei-gen, daß die Bezeichnung „Kummerkasten der Nation“tatsächlich nur die passive Seite unserer Petitionsarbeitbeschreibt. Die andere Seite wird von der Ausschußar-beit repräsentiert, in der wir bei Problemen konsequentnachhaken und uns eben nicht mit Fensterreden überdiese oder jene Angelegenheit aufhalten. Dabei geht esum die konkreten Anliegen der Petentinnen und Peten-ten und darum, auf der Grundlage von erkannten Miß-ständen Korrekturen an der Gesetzgebung anzubringen.Ich hoffe, daß wir in dieser Hinsicht auch zukünftig ent-sprechend zusammenarbeiten können. Denn zusammenmit den Petitionsausschüssen der Länder – diese sindübrigens in ihrer Qualität sehr unterschiedlich; aber dasmöchte ich jetzt nicht politisch werten – und des Euro-päischen Parlamentes ist es tatsächlich häufig gelungen,sinnvolle Korrekturen an Gesetzesvorhaben vorzuneh-men. In diesem Sinne, denke ich, können wir auch inZukunft effektiv und gut zusammenarbeiten und unshoffentlich auch bei der Diskussion des Jahresberichts1999 auf die konkreten Fakten aus dem Bericht bezie-hen.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die
Aussprache.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Forderun-
gen, das Sofortprogramm gegen Jugend-
arbeitslosigkeit zu streichen
Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kollegin-nen und Kollegen! Die Christunion hat gefordert, dasProgramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitzu streichen. Hätte das irgendein ahnungsloser Hinter-bänkler der CDU oder CSU getan, dann hätte man dar-über hinweggehen können. Dann hätte man sagen kön-nen: Schwamm drüber; da weiß jemand offensichtlichnicht, worüber er redet. Aber es war nicht irgend je-mand, der diesen Unsinn gefordert hat; vielmehr hat diesder CDU-Parteivorsitzende und Vorsitzende derCDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag im„Stern“ zum besten gegeben.
Ausgerechnet dieses so überaus erfolgreiche Pro-gramm steht also ganz oben auf der Streichliste vonCDU und CSU, ein Programm, in das bis Ende Septem-ber rund 188 000 Jugendliche eingetreten sind. VierFünftel von diesen Jugendlichen waren vorher arbeits-los. Das sind junge Menschen, die in ihrem Leben nochnie einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hatten. Vielesind dabei, die Angst hatten, keine Chance zu bekom-men, die Angst hatten, nie mehr einen Platz in unsererGesellschaft zu finden. Nehmen Sie das doch bitte ein-mal zur Kenntnis!Ich weiß ja, daß Sie alles, was wir tun, grundsätzlichmiesmachen und niedermachen wollen. Aber nehmenSie doch bitte zumindest die Fakten zur Kenntnis!Nehmen Sie zumindest die Erfolgsbilanz zur Kennt-nis, die Bernhard Jagoda, der Präsident der Bundesan-stalt für Arbeit, erst in der vergangenen Woche gezogenhat!
Dieter Dzewas
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5645
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Das ist kein Sozialdemokrat; das ist ein Christdemokrat.Aber die Christdemokraten in diesem Parlament sind mitFakten offenbar nicht zu beeindrucken. Das Ganze hat offensichtlich System. Ihnen geht esnicht um Fakten. Ihnen geht es nur darum, jeden Erfolgkaputtzumachen. Erst hat Herr Schäuble das Programmim vergangenen Februar als „Programm, um Jugendli-che ohne Beschäftigung ruhigzustellen“ verhöhnt. Jetztdenunziert er das Programm als „völlig ineffektiv“ undverlangt seine Streichung. Herr Dr. Schäuble hat nichtetwa irgendein Detail des Programms kritisiert; er hatauch keine konstruktiven Verbesserungsvorschläge ge-macht. Er will es ganz einfach kaputtmachen. Darausspricht eisige Kälte, daraus spricht der unerträgliche Zy-nismus eines Mannes, der offenbar nur ein einziges Zielverfolgt:
jede, aber auch jede Leistung der Bundesregierung inden Dreck zu ziehen, ganz egal, worum es geht. Dabeiist ihm jedes Mittel recht. Da werden alle Register gezo-gen. Mit parlamentarischer Opposition hat das nichts zutun.
Die Jugendarbeitslosigkeit, die wir mit diesem Pro-gramm bekämpfen, ist eine der schlimmsten Hinterlas-senschaften Ihrer Regierungszeit.
Das ist der eine Skandal. Der andere, vielleicht nochschlimmere Skandal besteht darin, daß Sie sogar aus derOpposition heraus die Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit torpedieren wollen. Das ist einfach unerträglich.
Ich erwarte ja gar nicht, daß jemand von Ihnen uns öf-fentlich lobt; aber ich hatte schon erwartet, ich hatteschon gehofft, daß jemand aus Ihren Reihen aufstehenwürde, um zu sagen: Nein, in dieser speziellen Frage hatmein Fraktions- und Parteivorsitzender Schäuble nichtrecht. Aber keiner von Ihnen ist aufgestanden, und kei-ner von Ihnen hat das gesagt. Wo ist denn die famoseCDA des Herrn Pfarrer Eppelmann?
Es geht mir nicht nur um parlamentarische Fairneß.Es geht bei einer solchen Frage auch um Wahrhaftigkeitund Ehrlichkeit. Es müßte doch wirklich unser gemein-sames Anliegen sein, die jungen Leute von der Straße zuholen. Uns allen steht doch die geschichtliche Erfahrungvor Augen, und wir wissen alle, was aus einer Jugendwerden kann, die keine Perspektive mehr für sich sieht.Wir in Deutschland wissen doch, welche Folgen das ha-ben kann. Ich meine, zumindest wir hier sollten das allewissen.Ich habe einmal geglaubt, es würde in diesem Parla-ment einen parteiübergreifenden Konsens geben, wennes um so existentielle Probleme geht.
Ich habe einmal geglaubt, die katholische Soziallehrewürde in der Union noch irgendeine Rolle spielen. Ichhabe einmal geglaubt, es gäbe noch ein paar Ziele, diewir gemeinsam verfolgen und aus dem Parteienstreit he-raushalten könnten. Offenbar habe ich mich da ge-täuscht, und das finde ich ziemlich bedrückend.
Aber eines kann ich Ihnen versichern: Wir lassen unsvon solch primitiven und unverschämten Behauptungennicht irritieren. Wir machen im Interesse der Jugendli-chen in unserem Land weiter.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Hermann Kues.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was hat WolfgangSchäuble wirklich gesagt? Er hat gesagt, das 2 Milliar-den DM teure Programm sei zwar teuer, aber völlig un-effektiv, und deswegen könnten die 2 Milliarden DM fürein solches Programm im Prinzip eingespart werden. Ichsage ausdrücklich: Er hat mit seiner Aussage vollkom-men recht.
Je länger das Programm dauert und je mehr Jubelge-sänge zu den angeblichen Erfolgen angestimmt werden,desto mehr wird deutlich, daß das Sonderprogramm derBundesregierung nichts anderes als eine teure Mogel-packung zur Bereinigung der Arbeitslosenstatistik ist.Sie fördern im Endeffekt „Maßnahmekarrieren“, Sieholen die Jugendlichen aus der Realität, und das ist vomAnsatz her grundfalsch.
Der Grund ist völlig klar: Ihnen geht es nicht in ersterLinie um die Jugendlichen. Nein, Ihnen geht es um Er-folgsmeldungen, koste es, was es wolle.
Die Jubelgesänge haben schon im Januar begonnen,und sie nehmen kein Ende. Jetzt schauen wir uns einmalIris Gleicke
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5646 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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die Zahlen an. Die Bundesanstalt für Arbeit verweigertder Öffentlichkeit diese Zahlen
– ich nenne sie Ihnen –, sie verweigert sie aus gutemGrunde. Sie tut das, weil die Bilanz dieses Programmsverheerend ist. Rund 82 000 Jugendliche haben inzwi-schen das Programm verlassen, davon sind gerade ein-mal 9 500 in reguläre Ausbildungsverhältnisse gekom-men.Darüber hinaus haben lediglich 3 000 Jugendliche ei-ne Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufge-nommen. Wenn Sie die Zahlen addieren, dann kommenSie zu dem Ergebnis, daß rund 12 500 Jugendliche dasProgramm erfolgreich absolviert haben. Das sind geradeeinmal 15 Prozent der gesamten Teilnehmer.
Dagegen sind 25 500 ehemalige Teilnehmer des Pro-gramms schon heute wieder arbeitslos. In der betreffen-den Statistik heißt es bei 33 000 Absolventen, derVerbleib sei unbekannt, bzw. es steht dort: sonstigerVerbleib. Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, daß auchdiese Jugendlichen nach Abschluß der Teilnahme andiesem Programm wieder auf der Straße stehen.Wenn ich jetzt alle Zahlen addiere, dann komme ichzu dem Ergebnis, daß bei fast 60 000 von 82 000 Ju-gendlichen, also etwa bei drei Viertel der Jugendlichen,das Programm ein Mißerfolg gewesen ist. Das sind dieTatsachen und Fakten.
Jetzt nenne ich Ihnen den finanziellen Aufwand: Fürjeden Jugendlichen, der durch dieses Programm in re-guläre Arbeit oder Ausbildung gekommen ist, sind rund160 000 DM ausgegeben worden.
Sie können allein damit die Beitragszahler zur Arbeits-losenversicherung um 0,1 Prozentpunkte entlasten. Siewürden damit die Lohnnebenkosten senken.
Ich glaube, daß Sie irgendwann merken werden, daßman die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht allein mitGeld lösen kann. Es müssen Strukturen verändert wer-den, und es müssen Anreize geschaffen werden.
Es gibt nach wie vor keine Kuh, die im Himmel gefüttertund auf Erden gemolken wird. Die haben auch Sie nochnicht erfunden.
Die Kritik ist erst recht begründet, wenn Sie sich an-schauen, wer im einzelnen von diesem Programm profi-tiert. Walter Riester hat kürzlich die SPD-Fraktion dar-über informiert.
– Die entsprechenden Unterlagen werden ja mittlerweilebundesweit herumgeschickt; auch ich habe sie erhalten.– Da hat er geäußert, es sollten diejenigen motiviertwerden, die aus einem schwierigen sozialen Umfeldkämen, die keinen Schulabschluß hätten usw. Wenn Siesich diese Zielgruppen genauer ansehen, dann stellen Siefest: Der Anteil der benachteiligten Jugendlichen, die andiesem Programm teilnehmen, beträgt nicht einmal20 Prozent. Das sind die Fakten. Dagegen können fast83 Prozent der Teilnehmer einen Schulabschluß vorwei-sen; davon 38 Prozent sogar einen höheren, das heißtdas Abitur oder die mittlere Reife.
Solche Jugendliche nehmen also am Programm für be-nachteiligte Jugendliche teil. Wenn Sie sagen, das Pro-gramm wende sich an benachteiligte Jugendliche, dannstreuen Sie der Öffentlichkeit Sand in die Augen.
– Frau Kollegin, zur katholischen Soziallehre gehört eingewisses Maß an Wahrhaftigkeit. Man muß sich dazumit den Fakten auseinanderzusetzen. Das tun Sie abernicht.
Die Maßnahmen dieses Programms sind teuer. Sieverschaffen einer Minderheit hochsubventionierte Vor-teile, und sie helfen den Betroffenen im Endeffekt über-haupt nicht weiter. Statt teuere Programme aufzulegen,sollten Sie sich um die jugendlichen Problemgruppenkümmern.
Bei Ihnen ist eben alles Schau. Alles richtet sich nachMediengesichtspunkten. Die Zeche zahlt der Beitrags-zahler, und das wissen Sie ganz genau.
Ich gebe dem Kol-
legen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte KolleginnenDr. Hermann Kues
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5647
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und Kollegen! Herr Kollege Kues, entweder haben SieZahlen vorliegen, oder Sie haben keine Zahlen vorlie-gen.
Aber man kann nicht erst sagen, es würden keine Zahlenveröffentlicht, und dann auf Zahlen herumreiten.
– Vielleicht können Sie uns noch einmal erklären, woherSie diese Zahlen haben. Wahrscheinlich haben Sie sichdie ausgedacht.Die Bundesregierung bzw. die Koalition hat keinProgramm für benachteiligte Jugendliche namens JUMPaufgelegt. Wir haben das Programm JUMP, das Pro-gramm „Jugend mit Perspektive“, vielmehr aufgelegt,um erwerbslosen Jugendlichen zu helfen.
Sie sollten berücksichtigen, daß der Arbeitsmarkt mitt-lerweile sehr eng geworden ist. Daß mittlerweile auchSchülerinnen und Schüler mit Abitur und mittlerer Reifean diesem Programm teilnehmen, zeigt doch wohl, wiees momentan auf dem Arbeitsmarkt aussieht. Deshalbkönnen Sie uns nicht unterstellen, wir würden billigenPopulismus betreiben.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 180 000junge Menschen sind im Sofortprogramm oder haben esdurchlaufen. 28 000 Jugendliche haben einen außerbe-trieblichen Ausbildungsplatz gefunden. Die Resonanzauf das Programm ist höher, als wir es beim Inkrafttre-ten des Programms erwartet haben. JUMP ist für uns,aber nicht nur für uns – auch Herr Jagoda hat dies in ei-ner Pressemitteilung, die Ihnen vorliegt, gesagt – ein Er-folg, und zwar auf der ganzen Linie, auch wenn wir esan der einen oder anderen Stelle verbessern wollen.
JUMP ist auch deshalb ein deutlicher Erfolg, weil esein erster guter Schritt ist, um die Jugenderwerbslosig-keit zurückzudrängen, sogar so weit, daß wir trotz mehrSchulabgängerinnen und Schulabgängern – 19 000 indiesem Sommer – erstmals die Erwerbslosenquote unterdie des Vorjahres drücken konnten.
Entscheidend wird sein, wie viele junge Frauen undMänner dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt integriertwerden können.
– Das ist entscheidend, und wir sind bereits auf demWeg. – Dazu reicht es natürlich nicht, wenn der Staatalleine handelt. Es müssen auch betriebliche Aus-bildungsplätze bereitgestellt werden. Junge Leute brau-chen eine wirkliche Perspektive, einen zukunftsfähigenJob.Machen wir uns nichts vor: Die strukturellen Proble-me auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt bestehennach wie vor. JUMP hat aber für eine spürbare Ent-lastung gesorgt. Dies alleine wird jedoch nicht ausrei-chen.Wer sich aber jetzt hinstellt, wie Sie von der CDU,und sagt: „Alles Quatsch, was brauchen wir Programme,sparen wir doch lieber das Geld“, der hat wirklich To-maten auf den Augen,
wenn er sich in dieser Republik die Realität für die jun-gen Leute, die wir verbessern wollen, anguckt.Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein,wie die Jugenderwerbslosigkeit am effektivsten be-kämpft wird. Man kann aber nicht der Auffassung sein,man könne Jugendliche ins arbeitsmarktpolitische Nir-wana entlassen, wie Sie von der CDU es tun wollen.
Was die alte Bundesregierung unter der Bekämpfungder Jugenderwerbslosigkeit verstanden hat, ist uns hin-länglich bekannt: das Prinzip Hoffnung als tragende ar-beitsmarktpolitische Säule,
ein verpatztes „Bündnis für Arbeit“
und einen konzeptionslosen Maßnahmensalat – etwaswenig, um berufliche Perspektiven zu bieten! Mit uns isteine Hände-in-den-Schoß-Politik nicht drin. Die rotgrü-ne Koalition wird sich weiter für die jungen Menscheneinsetzen.
Wir wollen, daß das Programm in die nächste Rundegeht; es wird JUMP II geben.
Natürlich werden wir – ich spreche hier für meineFraktion – Verbesserungsvorschläge machen. Für Bünd-nis 90/Die Grünen steht schon jetzt fest, daß wir einestärkere Ausrichtung der Maßnahmen für junge Frauensowie für Migranten und Migrantinnen benötigen.
Auch die BA sieht dies so. Von daher glaube ich, daßwir entsprechende Veränderungen vornehmen können.Christian Simmert
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5648 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Arbeits- und Sozialämter, Schulen, Betriebe und Ju-gendämter sind aufgefordert, das Bewußtsein jungerFrauen für ihre Wahlmöglichkeit in der gesamten Paletteder Berufsbilder zu öffnen. Junge Frauen müssen in die-sem Programm eine Stärkung erfahren. Dies gilt in be-sonderem Maße für die Berufsberatung. Zielgerichtete,kombinierte Förderinstrumente für junge Migrantinnenmüssen in JUMP II fester Bestandteil der Förderungwerden.Darüber hinaus flankiert die Bundesregierung ihr En-gagement gegen Jugenderwerbslosigkeit – hören Siejetzt zu! – mit einem weiteren Programm, nämlich mitdem Programm für benachteiligte Jugendliche in sozia-len Brennpunkten.Wenn etwa 1 Million Unternehmen ausbilden kön-nen, dies aber nur gut die Hälfte wirklich macht, dannmuß etwas getan werden. Es kann nicht sein, daß derStaat durch ein Programm dafür sorgt, daß die Jugend-erwerbslosigkeit zurückgedrängt wird, und die Arbeit-geber das Sofortprogramm als wenig hilfreich kritisie-ren, obwohl es doch letztendlich an ihnen hängt, Ausbil-dungsplätze in ausreichendem Maße zur Verfügung zustellen.
Ich komme zum Schluß. Die rotgrüne Koalition wirdauch in Zukunft die beruflichen Perspektiven jungerMenschen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Die-ser Herausforderung wird das Sofortprogramm der Bun-desregierung gerecht. Mit dieser Verantwortung werdenwir nicht so fahrlässig umgehen wie Sie von der Oppo-sition. Wir werden weiterhin daran arbeiten, den Ju-gendlichen eine Perspektive zu geben. Sowohl die Bun-desregierung als auch die Koalitionsfraktionen sindernsthaft darum bemüht.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich freue mich immer,wenn ich an dieses Rednerpult treten kann,
weil offenkundig die Meinungen, die die Liberalen indiesem Hause vertreten, Sie genau da treffen, wo es wehtut und Sie Ihre Fehler machen.
Ich habe aber Verständnis für diese Bundesregierung.Ich habe Verständnis dafür, daß die Redner der Koaliti-on dieses Sofortprogramm zum Abbau der Jugendar-beitslosigkeit als großen Erfolg bezeichnen. Ich habeVerständnis dafür, daß der Bundesarbeitsminister unddie Bundesbildungsministerin das tun. Ich kann Ihnenauch sagen, warum das so ist.Erstens. Es ist das einzige konkrete Ergebnis – ob gutoder schlecht, sei dahingestellt –, das bisher aus dem„Bündnis für Arbeit“ herausgekommen ist.
Zweitens. Bei dem ganzen Murks, den Sie machen,und den Mißerfolgen, die Sie haben, müssen Sie dochgeradezu jeden kleinen Teilerfolg wie eine Monstranzvor sich hertragen.
– Angenehm, Niebel.Dennoch haben wir zu keinem einzigen Zeitpunkt derDiskussion gefordert, dieses Programm zu streichen.Wir haben immer nur auf die Fehler dieses Programmshingewiesen und wollten dazu beitragen – das werdenwir auch in Zukunft tun –, dieses Programm effektiverzu machen, weil wir wissen, daß es Jugendliche gibt, dieohne Förderung und ohne Unterstützung niemals an-sprechbar sein werden. Es ist eigentlich das einzig Posi-tive dieses Programms,
daß es sich auch an Jugendliche wendet, die ihre Aus-bildung abgebrochen oder schwierige Ausbildungsbio-graphien haben. Das verbessert mit Sicherheit die indi-viduellen Chancen dieser Jugendlichen. Es muß aber dieFrage erlaubt sein, inwieweit Kosten und Nutzen in ei-ner vernünftigen Relation stehen. Diese ist in diesemFall nicht gegeben.
– Selbstverständlich geht es um Jugendliche, aber wennich Geld für Jugendliche einsetze, liebe Kollegin, dannsollte es vorzugsweise so eingesetzt werden, daß damitdie Effekte erzielt werden, die der Gesetzgeber beab-sichtigt hat.Sie werden nur dann Erfolge auf dem Ausbildungs-markt erreichen und Arbeits- und Ausbildungsplätze zurVerfügung stellen können, wenn Sie die Rahmenbedin-gungen für die Betriebe verbessern und sie überhaupterst einmal in die Lage versetzen, Ausbildungsplätze zurVerfügung zu stellen. Die Betriebe haben schon das Ihregetan, die Verbände und Gewerkschaften haben zwardas Ganze engagiert begleitet, aber sie werden auch inZukunft nicht in der Lage sein, Ausbildungsplätze zurVerfügung zu stellen. Das Herbstgutachten der sechsführenden Wirtschaftsforschungsinstitute sagt, daß esimmer noch fundamentale Probleme in der Wirtschaftund damit auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt gibt,Christian Simmert
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5649
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und fordert einen Kurswechsel Ihrer Steuer- und Fi-nanzpolitik.Die Masse aller Maßnahmen dieses Programmes sindQualifizierungs-, Bewerbungstrainings- und ähnlicheMaßnahmen. Die wenigsten Maßnahmen zielen tatsäch-lich auf ein Einmünden in den ersten Arbeitsmarkt oderin den Ausbildungsmarkt. Sie haben die eine oder ande-re Qualifikation – die Zahl 28 000 wurde vorhin genannt– im überbetrieblichen Bereich ermöglicht. Wenn aberdieses Instrument sintflutartig genutzt wird, gefährdenSie das duale Bildungssystem.Sie haben viele wirklich gravierende Fehlentwicklun-gen im Rahmen dieses Programms bisher nicht abge-stellt. So sind mir – ich habe das der StaatssekretärinNiehuis, die jetzt leider nicht mehr da ist, konkret nach-gewiesen – Fälle jugendlicher Aussiedler bekanntge-worden, die aus Deutschkursen, die aus dem Garantie-fonds der Bundesregierung finanziert wurden, unter An-drohung des Wegfalls der Leistungen zum Lebensunter-halt herausgeholt wurden, um an Betriebspraktika imRahmen dieses Sofortprogrammes teilzunehmen. Eskann doch wohl nicht der Sinn des Ganzen gewesensein, nur um die Quote zu erreichen, Leute ohne Sprach-kenntnisse aus einer Maßnahme herauszulösen und ineine Maßnahme einmünden zu lassen, die kurze Zeitspäter beendet ist. Hinterher haben diese Leute dannkeine Chance auf dem Ausbildungsmarkt.Die Studie des Bildungsministeriums, die kürzlichbekannt gemacht worden ist, stellt fest, daß 11,6 Prozentaller Jugendlichen unter 26 Jahren keinen Berufsab-schluß haben. Fehlende Schul- und Berufsausbildung istheutzutage immer noch der bei weitem überwiegendeGrund für Erwerbslosigkeit.
– Warten Sie noch einen Moment ab, Kollegin Nahles. –65 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluß habenhinterher auch keinen Berufsabschluß. Jeder dritte Ju-gendliche ohne Schulabschluß bemüht sich nach eigenenAngaben nicht um einen Ausbildungsplatz. 12,3 Prozenttreten die Ausbildung nicht an und 35,9 Prozent dieserJugendlichen brechen die Ausbildung ab.Wenn sich aber nun herausstellt, daß der Kern desProblems in der fehlenden Schulausbildung liegt, dannmöchte ich darum bitten, auch die Länder in die Ver-antwortung zu nehmen. Wir müssen uns dann Gedankendarüber machen, wie die Schulausbildung, für die Ver-treter der großen Parteien, die in diesem Hause vertretensind, federführend verantwortlich sind, verbessert wer-den kann, damit hinterher eine erfolgversprechendeMöglichkeit zur beruflichen Ausbildung eröffnet werdenkann.187 900 Jugendliche sind nach Auskunft der Bundes-anstalt für Arbeit durch dieses Programm gefördert wor-den. Man könnte daher meinen, all diese Jugendlichenseien in eine Ausbildung gegangen. Das ist aber nichtder Fall. Die wenigsten dieser Jugendlichen sind in einebetriebliche Ausbildung oder in den Arbeitsmarkt ein-getreten. Die Masse der Maßnahmen beinhaltet nämlichKurzlehrgänge, Bewerbungstraining und Betriebsprakti-ka. Hinterher haben die Jugendlichen aber keinen Deutmehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt.Wenn Sie Gelder zur Verfügung stellen wollen, dannsollten Sie sich bemühen, diese Maßnahmen, die wirbisher auf kommunaler Ebene, auf Länder- und auch aufBundesebene schon immer gehabt haben, besser zu ko-ordinieren und zu vernetzen. In diesem Bereich könnenSie Mittel bündeln, zielgerichtet einsetzen und damitden jungen Menschen tatsächlich helfen.Vielen Dank.
Für die PDS-
Fraktion spricht die Kollegin Sabine Jünger.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich gebe es ehrlich zu: Ich bin schonein wenig erstaunt über die Aufsetzung dieser AktuellenStunde. Das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendar-beitslosigkeit wird nicht erst in den letzten 14 Tagenmassiv kritisiert. Auch der Kollege Schäuble ist in die-sem Zusammenhang schon sehr früh recht deutlich ge-worden. Der Grund muß also woanders liegen. Viel-leicht sollte lediglich die von der PDS beantragte Aktu-elle Stunde zum Thema „Testpanzer für die Türkei“weggedrückt werden.
Wir alle wissen, daß der Regierungskoalition zur Zeitvon allen möglichen Seiten ein recht kalter Wind insGesicht bläst: Proteste von verschiedensten Berufs- undBevölkerungsgruppen gegen die unsoziale Sparpolitik,dazu interne Koalitionsstreitereien am laufenden Band.Ein wenig Eigenlob, ein wenig Sich-gegenseitig-auf-die-Schulter-Klopfen kommt da für die eigene Moral undfür die Öffentlichkeit wahrscheinlich ganz gelegen. Wasalso liegt näher als eine Aktuelle Stunde zum JUMP-Programm, dem vermeintlichen Aushängeschild der rot-grünen Regierung?
Es ist bekannt, daß auch wir das Sofortprogrammzum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit in seiner Durch-führung kritisieren. Für viele der geförderten Jugendli-chen brachte das JUMP-Programm lediglich kurzfristigeTrainingsmaßnahmen oder eine weitere Etappe in derMaßnahmenkarriere. Jugendliche werden durch befri-stete Maßnahmen nur zeitweilig von der Straße geholt.Oder es wurden gut qualifizierte und damit eigentlichgut vermittelbare Jugendliche in Maßnahmen des So-fortprogramms untergebracht. Entgegen der ursprüng-lich guten Absicht wurden auch im JUMP-Programmwieder Jugendliche aus Familien von Migrantinnen undMigranten, Mädchen und junge Frauen oder schlechterqualifizierte Jugendliche benachteiligt; dabei solltendoch gerade diese unterstützt werden.
Dirk Niebel
Metadaten/Kopzeile:
5650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Das Ziel, die Hälfte der Maßnahmen Mädchen zugutekommen zu lassen, ist deutlich verfehlt worden. Bei denLohnkostenzuschüssen und bei den Qualifizierungs-ABMs wurde nicht einmal ein Anteil von einem DrittelMädchen erreicht. Selbst die Verantwortlichen in derBundesanstalt für Arbeit mußten einräumen, daß spe-zielle Maßnahmen für Mädchen schlichtweg fehlen.Durch das Sofortprogramm sind zwar Jobs – viele da-von befristet –, nicht aber wahre Zukunftsperspektivenfür Jugendliche geschaffen worden. Noch immer sindfast eine halbe Million Jugendliche arbeitslos gemel-det.Die Forderung der Christdemokratinnen und Christ-demokraten, die Mittel für das JUMP-Programm imnächsten Jahr einzusparen, finde ich in diesem Zusam-menhang allerdings hochgradig peinlich. Als dieCDU/CSU-Fraktion noch an der Regierung beteiligtwar, hat sie das Problem der Jugendarbeitslosigkeit –und nicht nur dieses – schlicht und ergreifend ignoriertoder ausgesessen, frei nach dem Motto: Augen zu unddurch. Bis heute ist mir kein konstruktiver Vorschlag derCDU/CSU bekannt, der sich ernsthaft mit dieser Pro-blematik auseinandersetzt und der Jugendlichen auchnur Ansätze einer Perspektive bietet.Trotz aller Kritik: Wir begrüßen es, daß auch imnächsten Jahr wieder 2 Milliarden DM zur Bekämpfungder Jugendarbeitslosigkeit bereitgestellt werden. Dasheißt aber nicht, daß man nicht kritisieren darf. Wir er-warten allerdings, daß die Fehlentwicklungen des So-fortprogramms nicht in das nächste Jahr mitgenommenwerden.
– Ob das bei Ihnen immer so logisch ist, weiß ich nicht.– Darüber hinaus müssen endlich strukturelle Verände-rungen politisch angegangen werden, die über laue Ver-sprechungen und Absichtserklärungen im „Bündnis fürArbeit“ hinausgehen.Über die Hälfte der ausbildungsberechtigten Betriebebildet nicht aus und schiebt damit eine so zentrale Auf-gabe wie Ausbildung und Qualifikation der Jugend aufandere Betriebe, in zunehmendem Maße aber auch aufden Staat ab. Die Tendenz zur außerbetrieblichen undzur staatlich finanzierten Ausbildung wird durch das So-fortprogramm letztendlich sogar noch gestützt. An die-ser Stelle liegt aus unserer Sicht die strukturelle Fehl-entwicklung.Wir fordern, statt dessen die Wirtschaft in die Ver-antwortung zu nehmen und eine Ausbildungsplatzabga-be für nicht ausbildende Betriebe einzuführen. Eine ge-setzlich geregelte Umlagefinanzierung würde zu einerSteigerung des Ausbildungsplatzangebotes und zur Ent-lastung der Staatskasse führen.
Dann könnten zum Beispiel die 2 Milliarden DM desSofortprogramms gegen Jugendarbeitslosigkeit einge-setzt werden, um die Jugendlichen nach der Ausbildungzu beschäftigen, also um feste Stellen für arbeitslose Ju-gendliche zu fördern oder im öffentlichen Sektor festeStellen zu schaffen. In Frankreich schafft man sogarbeides.
Das Wort für dieBundesregierung hat die Bundesministerin für Bildungund Forschung, Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ziel des Sofortprogrammswar es, 100 000 Jugendliche in Ausbildung, Qualifizie-rung und Beschäftigung zu bekommen. Es ist kein Be-nachteiligtenprogramm, sondern es ist ein Programm,das genau dieses Ziel hat. Dieses Ziel ist bei weitemübertroffen worden.
Meine Herren von der Opposition, ich habe mich beiIhren Beiträgen die ganze Zeit gefragt
– bisher haben nur die Herren geredet –, wo denneigentlich Ihre Alternative bleibt
– Sie haben keine einzige Alternative genannt –, dieAlternative angesichts der Erblast, die wir von Ihnenübernommen haben, von weit mehr als einer halbenMillion jugendlichen Arbeitslosen.
– Das ist die Erblast, die wir von Ihnen übernommenhaben. Das ist das Ergebnis Ihrer jahrelangen Untätig-keit.
Nach der bisherigen Debatte am heutigen Tage – ichhoffe, daß sich das noch ändert – kann ich nur zu derSchlußfolgerung kommen, daß Ihre Alternative darinbesteht, daß die Jugendlichen arbeitslos bleiben. Dasmuß ich einmal so hart formulieren.
Offenkundig ist Ihnen das lieber, als 2 Milliarden DMdafür einzusetzen.
Sabine Jünger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5651
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Uns geht es darum, etwas für die Menschen zu tun.Junge Menschen sind nicht nur eine ökonomische Re-chengröße,
sondern das sind unsere Kinder, die eine Zukunft habensollen, die in dieser Gesellschaft etwas leisten wollenund die etwas zu ihrer Zukunft beitragen wollen.
Dafür müssen diese jungen Menschen ausgebildet wer-den. Dazu müssen Sie auch die Chance auf einen Ein-stieg oder einen Wiedereinstieg in das Berufsleben ha-ben. Das sind die Zielsetzungen, die wir mit dem Pro-gramm verfolgen.
Wir haben mit diesem Programm viel mehr Men-schen erreicht, als wir gedacht haben. Wir haben über770 000 Jugendliche überhaupt erst einmal motiviert.Sie haben auf die Zahlen teilweise hingewiesen. VieleJugendliche tauchten in der offiziellen Arbeitslosenstati-stik überhaupt nicht mehr auf, weil sie völlig resignierthatten und dachten: Ich habe keine Chance mehr. DieseJugendlichen haben wir dadurch wieder motiviert. Wirhaben sie erreicht. Deshalb ist der Name des Programmsrichtig. Die Jugendlichen sind gesprungen. Das ist fürmich der wichtigste Erfolg dieses Programms.
Von den 770 000 Jugendlichen haben über 460 000Jugendliche ein Angebot für Ausbildung, für Beschäfti-gung erhalten. Es gab 188 000 Eintritte in das Pro-gramm. All das belegt, daß die Initiative weit über dasProgramm hinaus einen nachhaltigen Motivationsschubbei den Jugendlichen ausgelöst hat.
– Das ist schlichtweg falsch. Ich werde Ihnen das nochim Detail deutlich machen.Im Ausbildungsteil des Programms läßt sich mit we-nigen Beispielen belegen, daß damit nicht nur quantita-tive, sondern auch qualitative Fortschritte zur Verbesse-rung der Ausbildungsplatzsituation bewirkt worden sind.
Wir haben mit dem Programm 260 regionale Projektezur Mobilisierung zusätzlicher betrieblicher Lehrstellenangestoßen und gefördert. Diese regionalen Projektebleiben bestehen. Wir haben damit eine Struktur ge-schaffen, die auch in künftigen Jahren eine wichtigeRolle spielen wird. 6 449 neue betriebliche Ausbil-dungsplätze, vor allem in kleineren Betrieben, sind be-reits geschaffen worden. Diese Aktion kommt jetzt erstrichtig in Fahrt und wird in den nächsten Jahren nocherheblich verstärkt werden.Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitungdieser Projekte zeigen, daß es im Zusammenhang mitdiesem Programm eine Fülle von innovativen Ansätzengegeben hat. Diese Ansätze werden exemplarisch do-kumentiert, ausgewertet und für einen systematischenüberregionalen Erfahrungsaustausch aufbereitet. WennSie mit Fachleuten aus der beruflichen Bildung und ausden Arbeitsämtern reden, hören Sie immer: Genau dieshat uns bisher gefehlt. – Das ist von Ihnen in all den Jah-ren nicht geleistet worden.
Diese Erfahrungen werden im übrigen auch für alleAktivitäten genutzt, die nicht im Zusammenhang mitdiesem Programm stehen. Wir wissen nun einfach bes-ser, wie wir Jugendliche erreichen und vermitteln kön-nen. Diese haben außerdem Auswirkungen auf die gene-relle Tätigkeit der Arbeitsämter, aber auch für die Orga-nisationen und Unternehmen, die sich hier engagieren.Fast 20 000 Jugendliche wurden mit neuartigen Trai-ningsprogrammen gezielt an berufsausbildende oder be-rufsvorbereitende Maßnahmen herangeführt. Jetzt sageich Ihnen ganz klar: Ich kann überhaupt nicht verstehen,daß diese Trainingsmaßnahmen diskreditiert werden.
Angesichts dessen, daß Sie es in all den Jahren nichthinbekommen haben, einen vernünftigen Weg für dieJugendlichen vorzubereiten, die nicht von vornhereinwissen, was sie machen sollen, die in ihrer Region aufden ersten Blick nichts finden, was für sie interessant istund machbar erscheint,
halte ich es für einen großen Erfolg, daß wir – in ande-ren europäischen Ländern ist das im übrigen auch schonmit erheblichem Erfolg gemacht worden – einen Wegentwickelt haben. Ihre Behauptung, daß die Jugendli-chen aus der Trainingsmaßnahme in die Arbeitslosigkeitgehen, ist schlichtweg falsch.
Sie gehen aus der Trainingsmaßnahme entweder in dieBerufstätigkeit, in Ausbildung oder Qualifikation.
– Ich habe die Zahlen gerade genannt.In der außerbetrieblichen Ausbildung im Rahmen desProgramms befinden sich zur Zeit gut 23 000 Jugendli-che. Die Ausbildung dieser Jugendlichen wird bis zumEnde durchgeführt, wenn sie nicht in der Zwischenzeiteinen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten. Auchhierzu kann ich nur sagen: Wenn ein Jugendlicher prak-tisch aus der Maßnahme ausscheidet, weil er einen be-trieblichen Ausbildungsplatz findet, ist mir das sehrBundesministerin Edelgard Bulmahn
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recht. Das ist für mich kein Argument dafür, daß dasProgramm nicht funktioniert.
– Doch, das ist er. Sie machen genau diese notwendigeDifferenzierung nicht, Herr Niebel.
Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dann tunSie das. Dann kann ich darauf eingehen.
Deshalb sage ich noch einmal deutlich: Unser Ziel istes, daß diese Jugendlichen in erster Linie einen betrieb-lichen Ausbildungsplatz erhalten. Nur dann, wenn dasnicht gelingt, sollen sie einen außerbetrieblichen Ausbil-dungsplatz erhalten. Das ist unsere Politik.Knapp 4 000 Jugendliche machen zur Zeit ein bis zuzwölf Monate dauerndes sozialversicherungspflichtigesbetriebliches Praktikum mit berufsvorbereitender Quali-fizierung. Das sind Jugendliche, die dadurch häufig zumerstenmal eine realistische Chance haben, endlich inAusbildung oder Beschäftigung zu kommen.
Mich berührt es schon, wenn ich Jugendliche erlebe –das habe ich in den vergangenen Monaten sehr häufig –,die 21, 22 oder 23 Jahre alt sind und sagen: „Ich bin inden letzten Jahren immer hinten heruntergefallen.“ Dar-unter waren Jugendliche, bei denen ich mich auch ge-fragt habe, wieso diese eigentlich keinen Ausbildungs-platz bekommen, weil sie zum Beispiel einen durchausguten Realschulabschluß hatten. Wenn ich konkretnachgefragt habe, habe ich festgestellt, daß dies häufigJugendliche waren, die bei der Auswahl immer auf demzweiten oder dritten Platz gelandet sind. Nun kann ichmich doch nicht hier hinstellen und sagen: Die sindüberqualifiziert. Was hilft denn das zum Beispiel demMädchen in Mecklenburg-Vorpommern?
Soll ich sagen: Es tut mir leid, da können wir nichts tun?Ich finde, das geht nicht. Deshalb bitte ich darum, sichhierbei etwas sorgfältiger, differenzierter und verant-wortungsvoller zu verhalten.
Unsere Vereinbarungen und Verabredungen imBündnis haben wesentlich zu dieser Situation beigetra-gen. Das Bündnis ist unser zweites Standbein. Da mußich Ihnen einmal deutlich sagen: Wir haben im Bündnis,gerade in der beruflichen Ausbildung, in den vergange-nen Monaten erheblich mehr erreicht als Sie in den gan-zen Jahren zuvor.
Das betrifft sowohl die Zahl der Ausbildungsplätze alsauch die Vereinbarungen für eine Neuordnung und Mo-dernisierung von Berufen sowie die Förderung und Aus-bildung von benachteiligten Berufen, im übrigen unterEinbeziehung der Länder. Das hat die alte Bundesregie-rung nie geschafft. Ich habe die Länder einbezogen. Sienehmen daran teil und sind von daher mit in der Ver-antwortung. Dies ist notwendig.
Last, not least: Konstruktive Kritik am Sofortpro-gramm ist nicht nur willkommen, sondern von uns auchimmer wieder erbeten worden. Wir werden sie bei derNeugestaltung und der Fortführung des Sofortprogram-mes im nächsten Jahr berücksichtigen. Denn es gibtganz klar einige Punkte, bei denen man etwas bessermachen kann. Es ist in Ordnung, wenn man das kriti-siert. Aber diffuse Meckerei mit dem Ziel, eine erfolg-reiche Aktion ungeachtet der Fakten und ohne jedeRücksicht auf die Jugendlichen zu diskreditieren unddamit letztendlich eine politische Debatte auf dem Rük-ken der Jugendlichen zu führen, die kein positives Er-gebnis bringt, ist für mich keine konstruktive Kritik,sondern destruktiv.
Da machen wir nicht mit. Das verunsichert nämlich diebetroffenen Jugendlichen, und das verunglimpft unddemotiviert die Menschen, die sich vor Ort in den Ar-beitsämtern, in den Betrieben und in den Organisationenengagiert und motiviert dafür eingesetzt haben.Vielen Dank.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Klaus Hofbauer.
Herr Präsident! Mei-ne sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die rotgrü-ne Bundesregierung ist angetreten, die Arbeitslosigkeitim allgemeinen und die Jugendarbeitslosigkeit im be-sonderen deutlich abzubauen.
Wie Herr Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungs-erklärung ausgeführt hat, wollte er sich an der Lösungdieses Problems messen lassen. Heute, ein Jahr nach-dem die rotgrüne Bundesregierung in die Verantwor-tung genommen wurde, ist festzustellen, daß diesesBundesministerin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5653
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wichtige Ziel, dieses Versprechen deutlich verfehltwurde.
Wir stellen fest, daß die rotgrüne Meßlatte zwar sehrhoch gehängt wurde, die Regierung beim Sprungversuchjedoch eingeknickt ist.
Sie ist ganz einfach unten durchgekrochen, und zwar zuLasten auch der jugendlichen Arbeitslosen, die bisherweitgehend feststellen mußten, daß den großen Wortennicht genügend richtige Taten gefolgt sind.
Die Arbeitslosigkeit ist gegenüber September letztenJahres gleichgeblieben, und bei den Jugendlichen ist ei-ne deutliche Verbesserung nicht festzustellen. Das sinddie Fakten. Ein Ziel der Bundesregierung war es, mit einem So-fortprogramm „100 000 Jugendliche so schnell wiemöglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen“.Das Ziel war nicht, sie in Trainingsmaßnahmen zu brin-gen.
Es geht darum, die Jugendlichen in eine betrieblicheAusbildung im Rahmen des dualen Systems zu bringenbzw. ihnen eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt zu er-möglichen.Ich darf auch feststellen, daß die richtigen Zahlenbisher nicht auf den Tisch gelegt worden sind bzw. daßdie Zahl von 15 Prozent von Herrn Kues nicht widerlegtworden ist.
Auf diese Zahl von 15 Prozent geht weder die Bundes-regierung noch diese Regierungskoalition ein. Deswe-gen sage ich: Dieses Programm ist im großen und gan-zen zu einem Flop geworden.
Die Bundesregierung nennt stets nur die Zahl derTeilnehmer an Sofortprogrammen, die dort eingestiegensind bzw. sich angemeldet haben, aber nicht die Zahl derJugendlichen, die anschließend in Arbeit gekommensind. Auf diese Weise gaukelt man den Menschen inDeutschland etwas vor. Mit einem hohen finanziellenAufwand ist wenig erreicht worden.Meine Damen und Herren, negativ sind auch die Ar-beitsbeschaffungsmaßnahmen mit Qualifizierungsanteilzu bewerten.
Sie erfreuen sich deshalb so großer Beliebtheit, weil dieTeilnehmer dort mehr Geld als in normalen Ausbil-dungsstellen erhalten. Damit erweist man den jungenMenschen einen Bärendienst.
Das teure 100 000-Job-Programm taugt nur begrenztfür die duale Berufsausbildung, da vor allem betriebs-ferne Lehrgänge gefördert werden. Die CDU/CSU-Fraktion fordert eine offene und ehrliche Bilanz diesesProgramms. Eine Glorifizierung dieser Initiative hilftden jungen Menschen unseres Landes nicht. Wir müssendas Programm einer kritischen Überprüfung unterzie-hen. Wir sind bereit, positive Elemente zu unterstützen.Im übrigen sind solche Initiativen bereits von der altenBundesregierung ergriffen worden. Dort, wo die Maß-nahmen richtig eingesetzt waren, und zwar auch, FrauMinisterin, in Zusammenarbeit mit den Ländern – zumBeispiel ist die Jugendarbeitslosigkeit in Bayern relativgering –, sind Erfolge erreicht worden.
Im Interesse unserer jungen Menschen müssen weite-re zielgerichtete, auf Tiefen- und Breitenwirkung aus-gelegte Initiativen ergriffen werden, um die Ausbil-dungssituation zukunftsorientiert zu verbessern. Diesbeginnt bei der schulischen Ausbildung und endet beimehrlichen Beratungsgespräch mit jungen Menschen, indem auch darauf hingewiesen wird, daß nicht jeder ei-nen Ausbildungsplatz für seinen Traumberuf bekommenkann. Wir müssen vermeiden, unseren Jugendlichen denEindruck zu vermitteln, daß der Staat mit vielen Steuer-geldern nahezu alles möglich machen kann.Eines ist klar – erlauben Sie mir auch diese Bemer-kung –: Trotz des 100 000-Job-Programms zeigen diejungen Menschen in Deutschland offensichtlich keinVertrauen in diese Bundesregierung. Bei den Land-tags- und Kommunalwahlen haben sie dies mit demStimmzettel zum Ausdruck gebracht. Sie sind der rot-grünen Koalition in Scharen davongelaufen. Dies solltedie Koalition nachdenklich stimmen. Diese Bundesre-gierung kann jungen Menschen keine Perspektive auf-zeigen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gebe ich der Kollegin Ekin De-
ligöz das Wort.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber HerrHofbauer, wenn Sie hier schon irgendwelche Behaup-tungen aufstellen, dann sollten Sie sie auch belegenkönnen. Ich hingegen kann Ihnen mit einer Pressemit-teilung der Bundesanstalt für Arbeit belegen, daß dieLehrstellenlücke in Deutschland tatsächlich kleiner ge-Klaus Hofbauer
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worden ist und daß dies ausschließlich dem Sofortpro-gramm der Bundesregierung zu verdanken ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Arbeit ist nicht nurBeschäftigung. Eine Arbeit zu haben steht in unsererGesellschaft nicht nur für die finanzielle Absicherung,sondern ist auch mit dem Status der Erwerbstätigkeitverbunden. Eine Stelle zu haben bedeutet Verantwor-tung zu übernehmen, bedeutet Teilhabe am gesellschaft-lichen Leben, bedeutet persönliche Entwicklungs- undEntfaltungsmöglichkeiten. Wenn wir wollen, daß geradejunge Menschen soziale Verantwortung übernehmenund einen positiven Beitrag für die Zukunft dieser Ge-sellschaft erbringen, dann müssen wir ihnen dafür dieGrundvoraussetzungen ermöglichen: Qualifizierung undeine gute Ausbildung.
Die allermeisten Jugendlichen unter 25 Jahren habenin der Tat eine Beschäftigung, sei es in Form von Aus-bildung oder von Schule oder einer Stelle im Betrieb.Aber dennoch beträgt die Arbeitslosigkeitsquote bei Ju-gendlichen knapp 10 Prozent. Vorhin haben Sie vorlautdazwischengerufen, dieses Programm sei eine Katastro-phe. Was ist denn die größere Katastrophe, zuzugucken,die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun odertatsächlich aktiv zu werden und sich der Verantwortungzu stellen?
Sie kritisieren, daß auch gut qualifizierte Realschülerund Gymnasiasten an dem Programm teilnehmen. Daßsie aber an diesem Programm teilnehmen, ist doch nichtein Zeichen dafür, daß das Programm falsch ist. Es istvielmehr Beleg dafür, daß die Situation auf dem Lehr-stellenmarkt unbefriedigend ist.
In Anbetracht dieser Tatsache unterscheiden wir in Sa-chen Jugenderwerbslosigkeit nicht zwischen sozial Be-nachteiligten, Hauptschülern, Realschülern und Gymna-siasten, sondern wir stellen uns der Gesamtverantwor-tung und nehmen die Situation für alle Jugendlichengleichermaßen ernst.
Die neue Bundesregierung hat in der Tat nicht sehrlange gezögert, sondern gleich mit einem Sofortpro-gramm wichtige Maßnahmen in Gang gesetzt, um sichdieser Verantwortung zu stellen. Das Ergebnis kann sichdurchaus sehen lassen: Mit dem Programm sind außer-betriebliche Lehrstellen geschaffen worden, und insge-samt sind mehr als 100 000 Jugendliche in Maßnahmendes Programms, was die Chance auf Eingliederung inden regulären Arbeitsmarkt tatsächlich nachhaltig ver-bessert. Die von den Arbeitsämtern nachgezählten Ab-lehnungen und die vorzeitigen Abbrüche, die Sie soschön aufzählen, hatten vielfach sehr, sehr gute Gründe,wie zum Beispiel den Beginn einer schulischen Ausbil-dung, die geglückte Aufnahme eines Studiums oder dieFestanstellung in einem Betrieb.
Noch nie war ein Programm in dieser Beziehung so fle-xibel in der Gestaltung und zugleich so ergebnisorien-tiert in den Richtlinien. Noch nie sprach ein Programmso viele Jugendliche an. Selbst die Jugendzeitschrift„Bravo“
hat uns bestätigt, daß diese Öffentlichkeitskampagne ei-nen wichtigen Bewußtseinsprozeß in Gang gesetzt hat.
Aber wenn Sie schon unbedingt über dieses Pro-gramm sprechen wollen, dann sollten wir diese Debattehier nutzen, um uns vor allem bei den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern der Arbeitsämter vor Ort zu be-danken,
die voller Engagement und Kreativität ans Werk gegan-gen sind, um die Jugendarbeitslosigkeit tatsächlich ab-zubauen. Sie haben noch nicht einmal das mühsameKlinkenputzen bei Unternehmen gescheut.
Es ist enorm, was diese Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter aus ihrem Handlungsspielraum gemacht und was sieauf die Beine gestellt haben. Schon allein deshalb müs-sen wir dieses Programm fortsetzen.
„Chancengleichheit“ ist ein Begriff, den wir in derRegierung ernst nehmen. Dafür tun wir einiges. Sie,meine Damen und Herren von der Opposition, solltenausnahmsweise einmal die Parteitaktik hintanstellen unduns unterstützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt die
Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Das Programm zur Be-kämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Ausbildungs-not, JUMP, ist schon deswegen ein Erfolg, weil endlichEkin Deligöz
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Schluß ist mit dem Totschweigen der Jugendarbeits-losigkeit in diesem Land.
Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit in einem Jahr um6,9 Prozent gesenkt. Eine solche Bilanz hatten Sie in16 Jahren nicht aufzuweisen, meine Herren von der Op-position.
Wenn Sie, Herr Kues, Herr Schäuble und wie Sie alleheißen,
von einer „teuren Luftnummer“ sprechen, dann will ichIhnen sagen: Eine bessere Möglichkeit, in junge Leutezu investieren, kann ich mir für diese 2 Milliarden DMüberhaupt nicht vorstellen.
Herr Kues, gehen Sie mit mir einmal in ein x-beliebiges Arbeitsamt in einem x-beliebigen BerlinerBezirk! Dort sollten wir uns einmal mit einer JUMP-Klasse, in der junge Leute sitzen, die 30, 40 Bewerbun-gen ohne Erfolg abgeschickt haben, treffen. Denen kön-nen Sie dann einmal sagen: Leute, ihr sitzt hier in einerLuftnummer. – Ich würde gerne einmal hören, was diejungen Leute dazu sagen. Das ist doch lächerlich, HerrKues.
Herr Jork, ich habe gehört, Sie sind der Bildungs-experte der Union. Ist Herr Jork noch da?
– Da ist er ja. Das ist ja beruhigend. – Es ist schon sehrbemerkenswert, wenn Sie das Programm dadurch diffa-mieren – auch Herr Schäuble hat dies getan –, daß Siesagen: Junge Leute lassen gut bezahlte Ausbildungs-stellen sausen, um möglichst schnell in dieses Jugendar-beitslosigkeitsprogramm hineinzukommen.Ich will Ihnen einmal die Realität schildern: 27 800junge Leute bekommen über drei Jahre hinweg pro Mo-nat 500 DM, um im Rahmen einer außerbetrieblichenMaßnahme ihre Ausbildung zu absolvieren. Die machendas, obwohl sie zu einem guten Teil schon über 20 sindund sie, wenn es tolle Möglichkeiten gäbe, weitaus mehrGeld verdienen könnten – von Schwarzarbeit will ichgar nicht reden. Warum sitzen diese Leute da für 500DM? Weil sie das als Chance begreifen. Also hören Siemit solchen Diffamierungen auf! Das ist unverschämt.
Es ist nicht der Erfolg der Bundesregierung, der hierim Mittelpunkt steht. Erfolg haben wir vor allem deswe-gen, weil uns die jungen Leute im wahrsten Sinne desWortes die Bude eingerannt haben. Das ist die Wahrheit.
Ich will Ihnen das an Hand von Zahlen deutlich machen.Wir haben allein auf der Hotline 226 000 Anrufe gehabt.Wir haben 188 000 Leute in Maßnahmen bekommen.Aber wir haben auch Leute erreicht – –
– Das kann ich Ihnen erzählen: die Bundesanstalt fürArbeit und die Landesarbeitsämter in der Vereinbarungmit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialord-nung.
– Wissen Sie was, Herr Kues? Sie haben lange geschla-fen. 16 Jahre lang nichts gemacht und jetzt frech wieOskar – so etwas habe ich gern.
Toll ist nicht nur, daß die jungen Leute motiviertwerden, sondern auch, daß es in den Arbeitsämtern zueiner Anstrengung gekommen ist, wie wir sie inDeutschland noch nie hatten. Wir haben es tatsächlichgeschafft, in den Arbeitsämtern neue Methoden anzu-wenden. Wir haben Streetworker eingesetzt.
Wir haben Internetcafés eingerichtet. Wir haben Call-center beauftragt. Das hat dazu geführt, daß die Arbeits-ämter auch über 30 000 junge Leute erreicht haben, dienicht einmal mehr in der Arbeitslosenstatistik Ihrer Re-gierung aufgetaucht sind. Das müssen Sie sich einmalklarmachen.
Ihre Kritik trifft uns nicht.
Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder dieWirtschaft stellt genügend Ausbildungs- und Arbeits-plätze zur Verfügung – Sie sollten Ihre rhetorischen Fä-higkeiten einmal dafür einsetzen, daß das gelingt;
das ist nämlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht derFall –, oder wir machen ein Programm, weil wir alsAndrea Nahles
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5656 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Politiker unsere Hausaufgaben machen müssen undnicht einfach nichts tun können.
Da hat sich diese Bundesregierung anders entschieden,als Sie es 16 Jahre vorgemacht haben: Wir tun etwas.
Sie haben heute noch die Möglichkeit, Ihre ernstzu-nehmenden Einwände gewinnbringend einzusetzen. Wirveranstalten landesweit regionale Ausbildungskonferen-zen, bei denen es darum geht, eine Nachvermittlungsak-tion hinzubekommen.
Da können Sie dann – hoffentlich positiv – mitmachen.Denn Ihre Nörgelei bringt keinen Jugendlichen in Arbeitund Ausbildung.
Als letztes appelliere ich an alle Jugendlichen: Meldeteuch bitte, wenn ihr noch eine Ausbildungsstelle odereinen Arbeitsplatz sucht! Meldet euch jetzt, damit wirjetzt noch Anstrengungen für euch unternehmen kön-nen!An die Unternehmer, die die betrieblichen Ausbil-dungsplätze zur Verfügung stellen: Wenn wir es nichtim guten schaffen, dann müssen wir andere Saiten auf-ziehen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Nahles, Sie werden mit „andere Saitenaufziehen“ und solchen Kraftausdrücken keinen einzi-gen Handwerksmeister dazu bringen, einen zusätzlichenAusbildungsplatz anzubieten.
Ich glaube, es wäre für die Debatte heute gut, wennwir einmal etwas ruhiger und sachlicher über diese Fra-ge redeten. Es ist doch überhaupt nicht so, daß unsereZielsetzung eine andere wäre. Wir müssen junge Leutequalifizieren und wieder in Arbeit bringen.Es ist doch auch so, daß es einzelne Teile des Pro-gramms schon früher gegeben hat. Auch unter Arbeits-minister Norbert Blüm hat es Maßnahmen für Arbeitund Qualifizierung von Jugendlichen gegeben, weil essinnvoll ist, junge Leute zu qualifizieren, damit sie Ar-beit und Ausbildung bekommen. Viele Teile Ihres Pro-grammes sind überhaupt nichts Neues, sondern Instru-mente, die wir in der Arbeitsmarktpolitik seit Jahr undTag einsetzen.
Neu ist, daß ein Programm – dies hat die heutigeAktuelle Stunde, wie ich finde, sehr deutlich gezeigt –für eine einzigartige PR-Kampagne zugunsten der neuenRegierung herhalten muß, auch deswegen herhaltenmuß, weil in vielen anderen Bereichen nichts gelaufenist.
Wenn ein Programm 2 Milliarden DM kostet – dies istim übrigen fünfmal soviel wie das, was Sie der Pflege-versicherung durch Ihre Spargesetze wegnehmen –,dann haben wir als Parlamentarier doch die Pflicht, zufragen, was mit diesem Geld geschieht.
Wird dieses Geld sinnvoll und effektiv eingesetzt? Er-reichen Sie mit diesen Mitteln das Maximum dessen,was man erreichen kann? Oder könnte man den gleichenEffekt mit weniger Geld erzielen?
Könnte man mit diesem Geld noch mehr Menschen hel-fen, in Arbeit und Ausbildung zu kommen?
Wir haben in einigen Bereichen Zweifel, die auch be-sprochen werden müssen. Das Programm beinhaltet –ohne Frage – viele Kurzzeit- und Trainingsmaßnahmen.Die Zahl der Teilnehmer, die Sie mit diesen Maßnahmenerreichen, läßt sich vielleicht gut verkaufen. Aber es istunser gutes Recht, nach dem Sinn dieser Maßnahmen zufragen, wenn von 32 100 Menschen, die sich in diesenMaßnahmen befanden, nur 220 – diese Zahl ist be-kannt – einen regulären Ausbildungsplatz erhalten ha-ben. Angesichts dieser Zahlen müssen wir fragen, ob esnicht besser gewesen wäre, die Maßnahmen anders aus-zurichten und andere Schwerpunkte im Programm zusetzen.
Andrea Nahles
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5657
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Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Vor einigenWochen habe ich einen brandenburgischen Wahlkreisbesucht und dort viele Gespräche geführt. Ein Hand-werksmeister kam auf mich zu und berichtete: Ich mußnoch Schulden abzahlen, weil ich meinen Betrieb erstvor einigen Jahren gegründet habe. Mir fällt es sehrschwer, lukrative Aufträge zu bekommen. Wenn manmir einen kleinen Zuschuß gäbe, würde ich durchauseinen weiteren Lehrling einstellen. Warum unterstützenSie nicht solche Maßnahmen? Wenn Sie das täten, dannmüßte nicht mehr der Staat den Handwerksmeisterfinanzieren, der einen Jugendlichen ausbildet.
Mit der Unterstützung der oben beschriebenen Maß-nahme könnte man dafür sorgen, daß sich die Ausbil-dung nahe an der Wirklichkeit des zukünftigen Arbeits-platzes orientiert. Machen Sie ein bißchen wenigerSozialarbeit! Sorgen Sie lieber ein bißchen mehr für dieUnterstützung der Handwerksmeister!
Es hat mich auch sehr nachdenklich gestimmt, als ichgelesen habe, daß 53 Prozent der Bewerber um einenAusbildungsplatz mittlere und höhere Schulabschlüssehaben. Der Kollege Kues hat darauf hingewiesen.Es ist unverständlich, daß zwei Drittel der Mittel imWesten und nur ein Drittel der Mittel im Osten ausgege-ben werden, obwohl wir alle wissen, daß die Problemeim Osten größer sind, weil die dortigen Strukturen nochnicht so gut entwickelt sind wie im Westen. Im übrigentragen Sie die Verantwortung dafür, daß es im Ostenkeinen Mittelstand gibt. Sie haben keinen Mittelstandzugelassen.
Ihre Partei ist die Mittelstandsvernichtungspartei inDeutschland! Das sollten Sie wissen.
Man muß die Schwerpunkte auf dem Jugendarbeits-markt dort setzen, wo sie katastrophal sind. Die Ent-scheidung, zwei Drittel der Gelder im Westen, wo es gutläuft, und nur ein Drittel der Gelder im Osten aus-zugeben, paßt nicht zu den Verhältnissen.Frau Bildungsministerin, Sie haben so engagiert ge-redet.
Sorgen Sie dafür, daß auf der Kultusministerkonferenzentsprechende Maßnahmen getroffen werden. Ich weiß,daß dies sehr schwer zu erreichen ist; denn die Kultus-ministerkonferenz ist nicht gerade die innovativste Ver-anstaltung. Der Vatikan ist im Vergleich zur Kulturmi-nisterkonferenz neumodisch. Wenn nicht bald bessereMöglichkeiten zur Förderung derjenigen im allgemein-bildenden Schulwesen, die sich mit den neuen Anforde-rungen sehr schwertun, entwickelt werden, dann kannder Bund auf Dauer nicht die Reparaturkosten bezahlen,die durch eine falsche Schulpolitik der Länder entstehen.
Weil wir es mit den Menschen gut meinen und weil wirden jungen Leuten die Erfahrung ersparen möchten, vonder Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, fordere ichSie auf: Lassen Sie die Polemik beiseite! Lassen Sie unsgemeinsam überlegen, wie die Maßnahmen des Pro-gramms zielgenauer ausgerichtet werden können, umdas zu erreichen, was wir gemeinsam erreichen wollen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium
für Arbeit und Sozialordnung Gerd Andres.
G
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Karl-Josef Laumann, du hast in deiner Rede Unwahrheitenund Fakten miteinander vermischt und alles so verdreht,wie du es brauchst. Der Handwerksmeister aus Bran-denburg bekommt das, was er benötigt. Er wird unter-stützt.
Ich finde es schlimm, daß hier eine solche Debattegeführt und damit ein falscher Eindruck erweckt wird.Ich beobachte ja Herrn Kues die ganze Zeit,
der ständig seine 15 Prozent anbringt. Sie diffamierenein Programm, und Sie diffamieren wissentlich die jun-gen Leute, die in diesem Programm stecken. Das tun Siewissentlich.
Ich will Ihnen etwas Einfaches sagen. Der Ausgangs-punkt für dieses Programm im Herbst des vergangenenJahres waren 428 000 junge Menschen, die arbeitsloswaren. Gleichzeitig waren den Arbeitsämtern noch35 000 unvermittelte Bewerber um Ausbildungsplätzegemeldet.Herr Kues, ich sage es Ihnen jetzt noch einmal; ichkann es Ihnen auch aufschreiben: Wir machen hier keinBenachteiligtenprogramm,
Karl-Josef Laumann
Metadaten/Kopzeile:
5658 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
(C)
sondern wir haben ein Programm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Nehmen Sie das bitteeinmal zur Kenntnis!
Ein Element dieses Programms ist auf ganz besondereZielgruppen ausgerichtet. Zu diesen Zielgruppen sageich Ihnen gleich noch etwas.
Ich sage Ihnen hier ganz deutlich: Wenn solche Leutewie der hessische Ministerpräsident das Sofortprogrammkritisieren, als Ganzes in Frage stellen und es alsTäuschungsaktion gegenüber jungen Menschen dif-famieren, so wie er das in einem Interview in der „Säch-sischen Zeitung“ vom 15. September 1999 gemachthat, dann ist das zusammen mit Äußerungen vonHerrn Schäuble und anderen, die ich aneinanderreihenkönnte, exakt ein Beleg dafür, daß Sie hier eine für mei-ne Begriffe üble Doppelstrategie fahren. Sie sagen:„Über bestimmte Punkte können wir reden“, aber Vor-schläge kommen von Ihnen keine. Herr Laumann sagtdas auch,
und der Herr von der F.D.P., der sowieso immer redetund nicht lernfähig ist, macht das auch so.Ich sage Ihnen hier: Dieses Programm der Bundesre-gierung ist ein voller Erfolg. Da beißt die Maus über-haupt keinen Faden ab.
Ich frage Sie einmal, wie Sie zu Ihren Ergebnissenkommen, wenn Sie zur Kenntnis nehmen müssen, daßEnde September dieses Jahres immerhin noch 108 000junge Menschen in Maßnahmen des Programms einbe-zogen waren.
Wie kommen Sie denn dazu, hier Ergebnisse mitteilenzu können? Jetzt sage ich Ihnen einmal ein paar einfachePositionen.
– Passen Sie mal auf; ich nenne Ihnen ein paar einfachePositionen. Hören Sie auf. – Herr Hofbauer hat ge-sagt: Man muß mal mit den Leuten ordentliche Bera-tungsgespräche führen. Herr Hofbauer, ich sage Ihnendas zum Mitschreiben. Nehmen Sie einen Kugelschrei-ber, damit Sie es beim nächsten Mal nicht vergessen ha-ben.
– Ja, doch, doch. Wissen Sie was? Der Punkt ist, daßman sich das durchlesen und anschauen muß, was manin seinem Fachausschuß an Informationen schriftlicherArt erhält. Dann kann man sich hier nicht hinstellen undsolche Positionen in Einzelheiten vertreten.
10,6 Prozent der jungen Leute – das sind 19 900 Per-sonen – sind in Beratungsmaßnahmen. Da wird genaudas gemacht, was Sie angemahnt haben. Man setzt sichmit dem Beratungssuchenden hin und fragt ihn: WelcheAnsprüche hast du? Was möchtest du lernen? Paßt dasüberhaupt zu deinen Bildungsabschlüssen? Paßt das zudem, was hier zur Verfügung steht? – Es wird also ge-nau das getan, was Sie angemahnt haben.Jetzt nenne ich eine andere Zahl – die können Sieauch weiter diffamieren –: 32 400 junge Leute sind inQualifizierungs-ABM. Die Alternative dazu wäre, daßsie arbeitslos sind.
– Doch! – Und das Dilemma ist, daß viele dieser jungenLeute – deswegen auch Qualifizierungs-ABM – schoneinmal eine Ausbildung absolviert hatten, aber zwi-schenzeitlich arbeitslos waren. Wir müssen nun Mög-lichkeiten und Chancen nutzen, um ihre Beschäftigungs-fähigkeit zu verbessern. Das ist übrigens etwas, was Ih-nen bei den beschäftigungspolitischen Leitlinien ausBrüssel wiederbegegnet. Das ist im übrigen etwas, was –völlig richtig gesagt – Herr Blüm auch gemacht hat, wasaber jetzt von Ihnen systematisch diffamiert wird. Dashalte ich für zynisch und schlimm gegenüber den jungenLeuten.
Nun nenne ich Ihnen den nächsten Punkt.
– Nein, ich will gar nichts. Ich buchstabiere Ihnen dasjetzt hier durch. – Es gab Ende September 23 800 Ar-beitsverhältnisse mit Lohnkostenzuschüssen im erstenArbeitsmarkt.
Soll ich es noch einmal sagen, sozusagen zum Mit-schreiben? Der spannende Punkt ist ein ganz einfacher.
– Nein, ich bin nicht übermütig.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5659
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Was ich schlimm finde, ist, wie zynisch mit diesemThema und dieser Situation umgegangen wird.
Ich könnte Ihnen weitere Zahlen vortragen.Es wurde von den Abbrechern geredet. Es handeltsich hierbei um eine ganz spannende Angelegenheit. Inder Tat, es gibt Abbrecher. Wir haben Berichte geliefert,in denen dargestellt wird, warum abgebrochen wird. Esgibt sogar Berichte darüber, warum das Angebot nichtangenommen wird. Wenn die Arbeitsverwaltung einemjungen Menschen etwas anbietet und er sagt: „PassenSie einmal auf, das macht keinen Sinn, ich habe eineEinberufung und muß in zwei Monaten zur Bundes-wehr“, dann wird er in der Arbeitsverwaltung als Ableh-ner geführt. Wenn ein junger Mensch sagt: „Hören Sieeinmal zu, ich habe mich um einen Studienplatz bewor-ben; ich mache das nicht“, dann wird er ebenfalls alsAblehner geführt, ohne daß die Gründe dafür differen-ziert dargestellt werden.Herr Kues, ich kann Ihnen eines sagen: Ich war heuteüber die Mittagszeit mit Herrn Jagoda im Haushaltsaus-schuß. Da hat das Programm eine große Rolle gespielt.Bernhard Jagoda, den man nicht verdächtigen kann,Mitglied der SPD oder der Grünen zu sein oder dieserganz schlimmen Koalition nahezustehen, hat auf eineMenge von Fragen außerordentlich gut geantwortet unddas Programm verteidigt. Er hat dargestellt, daß da, woleichtfertig abgelehnt wird, Sperrzeiten verhängt wer-den. Das machen wir relativ konsequent.Ich sage Ihnen eines: Die Bundesregierung hat be-schlossen, das Programm konsequent fortzusetzen. Siekönnen schreien, soviel Sie wollen – wir werden es um-setzen. Dazu haben wir die Mehrheit.
Wir bieten an, daß wir darüber Punkt für Punkt – dasIAB wird eine Auswertung vorlegen – im Ausschuß re-den. Da können Sie all Ihre Verbesserungsvorschlägemachen, auf die ich schon sehr gespannt bin. Aber wirwerden das Programm fortsetzen, weil es den jungenMenschen und ihrer Beschäftigungsfähigkeit in diesemLande dient und für sie ganz wichtig ist.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Dr. Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die jetzt lau-fende Aktuelle Stunde hat die SPD beantragt, um überdas Sofortprogramm zu diskutieren. Da dieses Pro-gramm keiner streichen will, steht die Frage im Raum,warum es erneut diskutiert werden soll, obwohl wir essowohl in Plenum und Ausschuß als auch an anderenStellen wiederholt beraten haben. Wir haben es kritisiert,gelobt und getadelt. Wir haben Verbesserungsvorschlä-ge unterbreitet. Frau Ministerin, wir haben auch Alter-nativen formuliert. Auch der Kollege Staatssekretär An-dres darf das zur Kenntnis nehmen. Für mich stellt sichdie Frage, welche Gründe hinter diesem SPD-Wunschstehen.Variante eins: Angesichts der sich täglich wandeln-den Aussagen zu Absichten der Bundesregierung und zuSchwerpunkten in der Arbeit der Bundesregierung wol-len die Bildungspolitiker der SPD mahnen, hier nicht zustreichen. Dazu dient die Methode „gezieltes Mißver-ständnis“. Frau Nahles, Sie haben diese Methode ange-wandt; denn ich habe von etwas ganz anderem als demgesprochen, was Sie in Ihrem Beitrag behandelt haben.
Diese Selbstermahnung würde glaubhafter, wenn sie mitSelbstoptimierung verbunden wäre. Vorschläge dafürliegen vor.Variante zwei: Es soll von der bereits selbst beschlos-senen Streichung der Förderung der Ausbildungsberaterund der Lehrstellenwerber – das ist im Haushalt desBundesministeriums für Wirtschaft vorgekommen – ab-gelenkt werden; schließlich war die Streichung dort eineFehlentscheidung.
– Richtig, die waren erfolgreich. – Dies könnte durchkonstruktive Zusammenarbeit korrigiert werden. Entwe-der gibt es diese konstruktive Zusammenarbeit zwischenden Ministerien der Bundesregierung nicht, oder dieFörderung ist gar nicht gewollt.Variante drei: Die SPD ist selbst unsicher, wie esweitergehen soll. Wenn das so ist, dann kann ich nur sa-gen: Schauen Sie unsere Vorschläge und unsere Alter-nativen an! Nehmen Sie uns ernst!
– Das sage ich Ihnen gerne. Auch Sie waren teilweisedabei, als wir sie dargestellt haben.Variante vier: Die SPD will das Sofortprogramm alsbesondere Spitzenleistung der Öffentlichkeit darstellen.
Genau das hat die Ministerin in ihrer Rede gemacht. Eshandelt sich aber nicht nur um eine Frage hohen materi-ellen Einsatzes. Die Ministerin erklärte am 5. Oktober ineiner Presseerklärung unter anderem, es gebe noch eini-ges zu tun. Sie hat recht. Eigentlich in diesem Sinne ha-ben wir im Ausschuß diskutiert. Da hat uns der Staats-sekretär Catenhusen übrigens sehr wohl gesagt, daß wirgemeinsam über Vorschläge diskutieren werden.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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Was soll diese Aktuelle Stunde also?Wir waren uns eigentlich einig, daß Bewertungskrite-rien für Maßnahmen im Bereich der Berufsbildung undder Lehrstellen folgende Punkte betreffen: Erstens: DieLehrlinge haben Anspruch auf eine hochqualitativeAusbildung. Zweitens: Sie müssen praxisnah in Betrie-ben ausgebildet werden. Drittens: Sie müssen eineChance auf einen Dauerarbeitsplatz haben.
An dieser Stelle muß ich etwas ergänzen – dies istwichtig und kam aus meiner Sicht bisher in allen Dis-kussionen zu knapp weg –: Die Maßnahmen müssennachhaltig sein. Das, was wir hier konstruieren, darfkein Wahl-Strohfeuer sein.
Ich habe hierbei bewußt im Hinterkopf, daß jemandeinmal von „Wahl-ABM“ gesprochen hat. Ich sehe Par-allelen zu den Wahlen in diesem Jahr: Es ist nicht auf-gegangen.Des weiteren ist aus meiner Sicht die Spezifik derneuen Bundesländer in viel höherem Maße zu berück-sichtigen. In der Argumentation sind verschiedene Fra-gen völlig durcheinandergebracht worden. Ich kannnicht für die Frage, was Leute machen, die einen mittle-ren Abschluß haben, einen Fall in Schwerin anführen,wenn die Wirtschaft gar nicht vorhanden ist.
Nach diesen Maßstäben ist das Sofortprogramm zubewerten, Frau Schmidt. Ich nenne einige Kritikpunkte.Das Programm ist nicht effektiv, da 53 Prozent deröffentlich finanzierten außerbetrieblichen Lehrstellenvon Jugendlichen besetzt werden, die einen mittlerenund höheren Abschluß haben. Hier geht es eben um dieDifferenzen zwischen Ost und West. Im Westen, in denalten Bundesländern, kann man mit ihnen durchaus freieLehrstellen besetzen.Das Programm ist nicht effektiv, da die Teilnehmerder Qualifizierungs-ABM – Frau Nahles, vielleicht hö-ren Sie einmal zu; darum ging es – 80 Prozent des Ta-riflohnes als Arbeitsentgelt erhalten. Dies liegt deutlichüber den Ausbildungsvergütungen und ist eher ein An-reiz, die Lehre abzubrechen.
Das Programm ist nicht effektiv, weil etwa ein DrittelKurzläufer sind. Wir wissen aus den Zahlen, daß dasProgramm für viele nach drei Monaten beendet ist. Esist eben nicht nachhaltig.Das Programm ist nicht ausreichend, weil strukturelleProbleme des Ausbildungsstellenmarktes nicht gelöstwerden. Ich denke an das Leistungsvermögen der Be-werber und an den Bedarf in der Wirtschaft sowie an dieMöglichkeiten der Betriebe. Die echten Problemfällewerden unzureichend getroffen. Dies sind, wie Sie selbstangeben, etwas weniger als 10 000. Die Kriterien sindnicht ausreichend erfüllt.Es wurde nach den Alternativen gefragt. Ich wünschemir – auch das haben wir schon gesagt – zukunftsfähigeBerufsbilder, die Strukturreform, die gezielte Förderungvon Handwerk und Mittelstand, Konzepte zur Förderungund Motivierung der Jugendlichen und vor allem einekonzertierte Aktion.
Es wäre schön, wenn dies einigermaßen liefe.Abschließend eine Bitte: Sorgen Sie für eine Neu-auflage des Programms und dafür, daß die Beteiligtenmit seriösen Maßnahmen nachhaltig gefördert werden!Sorgen Sie dafür, daß unsere Steuergelder sinnvoll undeffektiv genutzt werden! Darum geht es.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich auf ei-ne Bemerkung des Herrn Dr. Jork bezüglich der Aktu-ellen Stunde eingehen. Sie wissen sehr wohl, daß dieseAktuelle Stunde nicht wegen JUMP, also nicht wegendes Sofortprogramms für 100 000 Jugendliche, beantragtwurde, sondern weil es Äußerungen Ihres Fraktionsvor-sitzenden gab, die darauf abzielten, dieses Programm zustreichen. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Ich muß schon sagen: Ich bin verblüfft, besser gesagt:betroffen von dem, was man in den letzten Wochen allesüber das erfolgreiche Sofortprogramm gegen Jugendar-beitslosigkeit hören mußte. Da redet Kollege Kues vonder CDU/CSU-Fraktion von einer „teuren Mogelpak-kung“, sein Fraktionskollege Jork laut „Handelsblatt“vom 7. Oktober von einer „teuren Luftnummer“, und amgleichen Ort schlägt BDA-Präsident Dieter Hundt am20. Oktober in die gleiche Kerbe. Ich hätte gerne dieseStimmen gehört, als vor einem guten Jahr die HerrenKohl, Waigel, Schäuble, Gerhardt und Co. kurz vor derBundestagswahl mit dem Füllhorn viel Geld für ineffi-ziente Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die sogenanntenWahlarbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ausgeschüttet ha-ben.
Doch die Bürgerinnen und Bürger waren nicht sodumm, wie Sie sich das erhofft hatten. Sie merkten, daßes sich bei diesen Aktivitäten nicht um durchdachteDr.-Ing. Rainer Jork
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Maßnahmen mit Perspektiven handelte, sondern daß dasgrundsätzlich wertvolle Instrument der ABM zumWahlkampfinstrument degradiert wurde.
Uns Politikern wird häufig vorgeworfen, wir lebtenso abgehoben, daß wir nicht mehr wüßten, welche Sor-gen die Menschen umtreiben. Wenn ich mir einigeKommentare zum Sofortprogramm anschaue, muß ichsagen: Für einige Politiker und Verbandsfunktionäre giltdies – leider – wirklich.
Ist Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herrenvon der Opposition, bei Ihren Gesprächen in den Wahl-kreisen noch nicht aufgefallen, wie die Sorge um einenAusbildungs- oder Arbeitsplatz die Menschen umtreibt?Nicht nur die direkt betroffenen Jugendlichen, auch de-ren Eltern, Geschwister, Freunde und Großeltern leidendarunter.
Sie haben uns über 400 000 arbeitslose Jugendlichehinterlassen und beschweren sich nun, daß wir tatkräftigdarangegangen sind, den Jugendlichen eine Perspektivezu geben.
– Perspektiven zu geben ist nie Quatsch. Das sage ichnur am Rande. –
Das kann man nicht nur dreist, sondern auch unver-schämt nennen.Daß es bei einem Programm dieser Größenordnungan einigen Stellen auch unbeabsichtigte und ungewollteAuswirkungen gibt, halte ich für normal. Die Erfahrun-gen des ersten Jahres werden selbstverständlich in diePlanungen des Programms für das nächste Jahr einge-hen. Konstruktive Vorschläge nehmen wir übrigens gernentgegen.
Staatssekretär Andres hat Ihnen eindrucksvolle Zah-len über den Erfolg des Jugendprogramms vorgelegt; dawill ich, von einer Ausnahme abgesehen, vom Präsentie-ren von Zahlen Abstand nehmen.
Ihre Argumente – so nennen Sie Ihre Ausführungen –gegen das Sofortprogramm stehen zudem auf sehrtönernen Füßen. Ich möchte hier aus Zeitgründen nurauf ein Beispiel eingehen: Es ist wahr, daß knapp 60 000Jugendliche das Angebot des Sofortprogramms abge-lehnt haben. Diese zugegebenermaßen relativ hohe Zahlder Ablehnungen als Ausdruck der Verweigerung zuinterpretieren ist schlichtweg falsch.
Denn darin ist auch die Zahl all derer enthalten, die sichdoch noch zu einem Studium entschlossen haben, zurBundeswehr einberufen wurden oder durch Eigeninitia-tive einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz gefunden ha-ben.Für 4 400 Jugendliche, die Arbeitslosengeld oder Ar-beitslosenhilfe bezogen haben, wurden wegen unbe-gründeter Ablehnung oder unbegründeten Abbruchs vonMaßnahmen Sperrzeiten verhängt. Bei 12 800 Jugendli-chen, die Sozialhilfe bezogen, erfolgte aus den gleichenGründen eine Meldung an das Sozialamt. Damit redu-ziert sich die Zahl der sogenannten Verweigerer auf einViertel der soeben genannten Zahl. Daß durch diesesProgramm entdeckte Unwillige Sanktionen hinnehmenmußten, hätte eigentlich, wenn man Ihre sonstige Rheto-rik berücksichtigt, eher Zustimmung hervorrufen müs-sen.Als Wirtschaftspolitiker meiner Fraktion möchte ichnoch folgendes grundsätzlich feststellen: Für uns Sozi-aldemokraten ist es ein vorrangiges Ziel, daß die ausbil-dungswilligen Jugendlichen eine betriebliche Ausbil-dung erhalten.
Es kann und darf nicht zu einem Dauerzustand werden,daß der Staat permanent bzw. in zunehmendem Maßeaußerbetriebliche Ausbildungsplätze finanzieren muß.
Im „Bündnis für Arbeit“ hat sich die Wirtschaft ver-pflichtet, den demographisch bedingten Zuwachs derNachfrage nach Ausbildungsplätzen durch zusätzlichebetriebliche Ausbildungsstellen abzudecken und darüberhinaus mindestens 10 000 weitere Ausbildungsplätze zuschaffen. Dies ist ein großer Erfolg des von Bundes-kanzler Schröder initiierten „Bündnisses für Arbeit“.
Wir werden die Wirtschaft an ihren Taten messen.Wir Sozialdemokraten haben kein Interesse an einerunnötigen Regulierung der Wirtschaft. Im Unterschiedzu Teilen der Opposition lehnen wir Vorschriften für dieWirtschaft aber auch nicht ab, wenn sie im Interesse desGemeinwohls notwendig sind und die Wirtschaft ihrergesellschaftlichen Verpflichtung, die ja auch von ihrselber immer wieder betont wird, nicht nachkommt.
Auf unsere augenblickliche Debatte bezogen heißtdas, daß wir keine Ausbildungsplatzabgabe wollen.
Sollte aber die Wirtschaft auf Dauer nicht in der Lageoder nicht willens sein, genügend Ausbildungsplätze be-reitzustellen, wird eine derartige Abgabe,
Engelbert Wistuba
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wie immer sie dann heißt und aussieht, nicht zu vermei-den sein.
Schließlich kann den Steuerzahlern nicht dauerhaft zu-gemutet werden, für die Versäumnisse der Wirtschaftaufkommen zu müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie
müssen leider zum Schluß kommen. Wir befinden uns in
der Aktuellen Stunde.
Ich bin sofort fertig.
Ich betone noch einmal: Wir wollen keine Ausbil-
dungsplatzabgabe, aber die Wirtschaft muß ihrer Ver-
antwortung gerecht werden. Da offensichtlich ist, daß es
im nächsten Jahr ohne ein Sofortprogramm wieder einen
Mangel an Ausbildungsplätzen gäbe, werden wir unser
erfolgreiches Sofortprogramm im nächsten Jahr fort-
setzen. Dies schulden wir einfach der jungen Genera-
tion.
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
So kann man die
Präsidentin auch austricksen.
Das Wort hat der Kollege Hans Forster, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Thema beherrschtunsere Arbeit in den Wahlkreisen: die Arbeitslosigkeit,die verzweifelte, oft vergebliche Suche junger Menschennach Ausbildungsplätzen. Über 200 000 Anrufe bei derHotline der Bundesanstalt für Arbeit sind ein eindeutigerBeleg für das außerordentliche Interesse an Ausbil-dungsplätzen und für die großen Probleme, einen sol-chen zu finden.Das Sofortprogramm der Bundesregierung gegenJugendarbeitslosigkeit zeigt: Wir finden uns nicht damitab, daß in Deutschland Hunderttausende von jungenMenschen schon zu Beginn ihres Berufslebens aufs Ab-stellgleis geschoben werden.
Die Arbeitsämter ziehen durchweg positive Bilanzen.Allein das in meinem Wahlkreis ansässige ArbeitsamtEmden hat 511 bislang unversorgten Jugendlichen Aus-bildungsplätze und Qualifizierungschancen gegeben.Viele Teilnehmer von JUMP waren vorher nicht einmalbeim Arbeitsamt registriert, weil sie schon jede Hoff-nung aufgegeben hatten. Die Zusage der Bundesregie-rung, das Sofortprogramm auch im kommenden Jahrwieder aufzulegen, wird vor Ort von den arbeitslosenJugendlichen, ihren Familien und den Fachleuten derArbeitsämter ausdrücklich begrüßt.
Es gibt auch im nächsten Jahr einen dringenden Bedarf.Ich möchte einen weiteren positiven Aspekt hervor-heben: Die Vorgaben des Sofortprogramms haben zu ei-ner engen Vernetzung von Arbeitsamt, Maßnahmenträ-gern und Jugendsozialhilfe geführt. Das ermöglicht eineintensive und individuelle Unterstützung der Jugendli-chen. Das Sofortprogramm eröffnet darüber hinaus vie-len ausländischen Jugendlichen in Deutschland zusätzli-che Integrationschancen.Junge Ausländer, besonders Mädchen, haben – selbstmit guten Noten – große Probleme, eine Lehrstelle zufinden.
Ausländische Jugendliche sind überproportional häufigohne Berufsabschluß. Blieben gemäß dem letzten Be-rufsbildungsbericht 8,1 Prozent der deutschen Jugendli-chen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, waren esbei den ausländischen Jugendlichen 32,7 Prozent.Auch diesen Menschen gibt das Sofortprogrammneue Perspektiven. 24 400 ausländische Jugendlichewurden bisher erreicht. Das sind 13 Prozent der Maß-nahmenteilnehmer. Damit bietet das Sofortprogrammfür ausländische Jugendliche eine Integrationschance,die über die Möglichkeiten des dualen Ausbildungssy-stems hinausgeht.
Die breite Palette von Maßnahmen, die im Sofortpro-gramm angeboten werden, und die Möglichkeit, Maß-nahmen zu verbinden, zum Beispiel Trainingsmaßnah-men und eine anschließende außerbetriebliche Ausbil-dung, gerade das kommt den ausländischen Jugendli-chen zugute.Einen innovativen Aspekt sehe ich in Art. 11 des So-fortprogramms: Er schafft die Handhabe, junge Men-schen anzusprechen, die durch die bisherige Praxis nichterreicht wurden. Diese Jugendlichen werden durch dieEinrichtung von niedrigschwelligen und sogenanntenaufsuchenden Maßnahmen einbezogen. Viele konntenso motiviert werden, Qualifikationsangebote anzuneh-men. Es geht uns darum, allen Jugendlichen einen Aus-bildungsabschluß zu ermöglichen. Nur so kann sozialeAusgrenzung verhindert werden.Nichts von alledem ist in den Verlautbarungen derVertreter der CDU/CSU und der Arbeitgeberverbändezu finden. Die alten Regierungsparteien haben tatenloszugesehen, wie der Verdrängungswettbewerb um Aus-bildungsstellen immer härter wurde. Die Jugendlichenmit Haupt- oder Sonderschulabschluß oder Jugendlicheohne Schulabschluß drohten in diesem Wettbewerb alsVerlierer auf der Strecke zu bleiben. Diese jungen Men-schen gewannen den Eindruck, daß man sie nichtbraucht. Viele von ihnen hatten nach etlichen vergebli-chen Anläufen die Suche nach einer Lehrstelle resigniertEngelbert Wistuba
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5663
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aufgegeben. Allen Fakten zum Trotz bestreitet die Op-position die Notwendigkeit, diesen Jugendlichen eineaktive Unterstützung auf dem Weg in die Arbeitsgesell-schaft zu geben.
– Wie gesagt, wir sehen das anders.Mit dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig-keit hat die Bundesregierung ein klares Zeichen gesetzt.Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat für uns aller-höchste Priorität. JUMP hat dazu beigetragen, daß in un-serer Gesellschaft ein neues Bewußtsein entstanden ist.Es wäre unverantwortlich, das Projekt zu stoppen bzw.es nicht weiterzuführen.
Eine qualifizierte Ausbildung ist die wichtigste Investi-tion gegen Jugendarbeitslosigkeit und für die Zukunftder jungen Menschen. Wir werden unser erfolgreichesProgramm fortsetzen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Forster,
dies war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bun-
destages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dieses Hauses möchte ich Ihnen dazu gratulieren
und Ihnen als Präsidentin ein Kompliment aussprechen:
Sie haben Ihre Redezeit nicht voll ausgenutzt.
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der
Kollege Heinz Schmitt, ebenfalls SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben in dieser Aktuellen Stunde sehr viel über das So-fortprogramm der Bundesregierung zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit gehört. Es steht fest – ich sage eshier noch einmal abschließend –: Das Programm JUMPist ein voller Erfolg, vor allen Dingen für die jungenMenschen in diesem Lande.
Ihre Kritik widerspricht allen Erfahrungen, die meineFraktionskolleginnen und -kollegen und ich in den Ar-beitsämtern vor Ort gesammelt haben.
Sie sollten einmal mit den Mitarbeiterinnen und Mitar-beitern in den Arbeitsämtern reden. Reden Sie docheinmal mit den Fachleuten! Sie müssen sich mit eigenenAugen davon überzeugen, mit welch hoher Motivationdort gearbeitet wird, mit welchem Engagement das Pro-gramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit um-gesetzt wurde.
Die Arbeitsämter haben nämlich endlich die benötigtenInstrumente in der Hand, um mehr Jugendlichen eineechte Chance für eine ordentliche Berufsausbildung zubieten.
Natürlich muß das Programm JUMP in einzelnenPunkten auf seine Wirksamkeit und auf mögliche Ver-besserungen hin überprüft werden; das ist selbstver-ständlich.Kommen wir aber einmal zur Kritik der Arbeitgeber.Wenn ich die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitzugrunde lege, resultiert das Mehrangebot von 25 000Lehrstellen zum 30. September dieses Jahres in ersterLinie aus dem Sofortprogramm der Bundesregierung. ImAugenblick sehe ich noch nichts von den zugesagten16 000 Lehrstellen, deren Schaffung die Arbeitgeber im„Bündnis für Arbeit und Ausbildung“ versprochen ha-ben. Wie es aussieht, haben wir hier das alte Problem:Noch immer bilden zuwenig Betriebe aus, um dem tat-sächlichen Bedarf an Lehrstellen gerecht zu werden. Daist und bleibt die Arbeitgeberseite in der Bringschuld. Esbleiben aber noch einige Wochen, um diese Bilanz zuverbessern.Wenn Sie von der CDU/CSU kritisieren – das warheute mehrfach zu hören –, zuwenig Jugendliche hättennach Teilnahme an einer Maßnahme tatsächlich einenArbeits- oder einen Ausbildungsplatz besetzt, dann un-terschlagen Sie die Vielschichtigkeit dieses Sofortpro-gramms.
Sehr viele Jugendliche haben in den letzten Monatenan berufsvorbereitenden Trainingsmaßnahmen teilge-nommen. Die Arbeitgeber haben sich doch immer be-klagt, daß es den Ausbildungsplatzsuchenden teilweisean der grundlegenden Qualifikation für eine Lehrstellefehle. Deshalb gibt es diese Trainingsmaßnahmen. Daßnicht alle Jugendlichen, die an einer solchen Ausbil-dungs- oder Berufsvorbereitung teilgenommen haben,direkt eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz vermitteltbekommen, ist doch klar. Wir sorgen aber mit diesenMaßnahmen dafür, daß diese Jugendlichen in Zukunftbessere Chancen bei der Vermittlung eines Ausbildungs-oder Arbeitsplatzes haben.Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-sition, diese Anstrengungen kann man nicht pauschal alsüberflüssig oder gar als Mißerfolg abtun; das ist nur Po-lemik. Auch die Arbeitgeberverbände sollten sich ange-sichts dieser Fakten etwas zurückhalten, was ihre Kritikam Sofortprogramm angeht.
Wenn der Vorsitzende der größten Oppositionsparteiin einem Interview davon spricht, daß das Geld, das wirHans Forster
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5664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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für die Jugendlichen ausgeben, verschwendet sei, ist dasschon ein starkes Stück.
Die Probleme jugendlicher Arbeitsloser scheinen dem-nach nicht vorrangige Sorge von Herrn Schäuble undseiner Partei zu sein.Für unsere Regierung jedenfalls ist es lohnenswert,auch in Zukunft um jeden Ausbildungsplatz zu kämpfen.Wir werden dies weiterhin tun. Ich bin sicher, daß dieJugendlichen spüren, daß u n s ihr Schicksal nichtgleichgültig ist.
Meine Damen und Herren von der Opposition, neh-men Sie es einfach zur Kenntnis: Das Sofortprogrammder Bundesregierung ist ein großer Erfolg. Wir werdendieses Programm fortsetzen. Den Arbeitgebern lege ichsehr nahe: Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die Aus-bildung noch ein wenig ernster! Dann, aber nur dannkönnen wir in Zukunft auf Programme wie JUMP ver-zichten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
entwicklung der Altersteilzeit
– Drucksache 14/1831 –
Überweisungsvorschlag:
Die Bundesregierung will dieses bewährte Instrumentnun ausbauen und weiterentwickeln. Unser Grundge-danke dabei ist: Altersteilzeit muß gefördert werden,damit möglichst viele Arbeitslose eine neue Chance er-halten, und Hemmnisse, die bei der Altersteilzeit nochbestehen, müssen abgebaut werden. Dann werden nochmehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als bisherAltersteilzeit nutzen.Bei der Weiterentwicklung der Altersteilzeit wollenwir die bisherigen Erfahrungen mit diesem Instrumentaufgreifen. Ursprünglicher Geburtshelfer der Altersteil-zeit war ja die Idee, den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern einen gleitenden Übergang vom Arbeitslebenin den Ruhestand zu ermöglichen und gleichzeitig diefreigewordenen Stellen jeweils mit einem Arbeitslosenwiederzubesetzen. An dieser Idee wollen wir weiterfesthalten. Allerdings haben uns die Partner im „Bünd-nis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“klargemacht, daß es derzeit noch rechtliche Hemmnissegibt, die dazu führen, daß Altersteilzeit noch nicht imgewünschten Ausmaß angenommen wird. Dies ist derAnsatzpunkt für unser Gesetz.Dabei gelten weiterhin zwei Voraussetzungen: Er-stens dürfen unsere sozialen Sicherungssysteme finanzi-ell nicht über Gebühr belastet werden. Zweitens kann eseine Förderung auch in Zukunft nur dann geben, wenndurch Altersteilzeit neue Beschäftigung geschaffen wird.Altersteilzeit hat nur dann einen Sinn, wenn Arbeits-losen eine Beschäftigungsperspektive eröffnet wird.Darüber sind wir uns mit den Sozialpartnern einig. Beimletzten Spitzengespräch innerhalb des „Bündnisses fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ im Julidieses Jahres sind wir in diesen Punkten zu konkretenErgebnissen gekommen. Bundesregierung, Arbeitgeberund Gewerkschaften haben gemeinsam beschlossen, dieAltersteilzeit auf der Basis dieser Grundvoraussetzungenweiterzuentwickeln.Eine kurze Zwischenbemerkung an den Abgeordne-ten Niebel: Einen Tagesordnungspunkt weiter müssenSie sich wieder mit einem Ergebnis des „Bündnisses fürArbeit“ auseinandersetzen. Schauen Sie sich Ihre Redeaus der Aktuellen Stunde noch einmal an; vielleichtmüssen Sie da noch etwas korrigieren.Ein wichtiger Punkt des neuen Gesetzes ist es, daßwir den Anwendungsbereich der Altersteilzeit auf Teil-zeitbeschäftigte erweitern. Auch sie können künftigvorzeitig in den Ruhestand gleiten. Damit reagieren wirauf die Wünsche von vielen Teilzeitbeschäftigten, die inihrer Mehrzahl noch immer Frauen sind. Wir berück-sichtigen all jene, die das Instrument der Altersteilzeitbisher nicht nutzen konnten. Nach unserer Vorstellungsollen Teilzeitbeschäftigte genauso wie Vollzeitbe-schäftigte ihre bisherige Arbeitszeit halbieren. Aller-dings dürfen sie nicht nur geringfügig beschäftigt, son-dern müssen auch nach der Verminderung ihrer Arbeits-zeit voll versicherungspflichtig sein. Damit werden Teil-zeitbeschäftigte Vollzeitbeschäftigten gleichgestellt. DasPotential derjenigen, die früher aus dem Erwerbslebenausscheiden können, wird größer. Zugleich fördern wirdamit den Anreiz, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeitereinzustellen. Diese Neuregelung entspricht gerade denWünschen von vielen teilzeitbeschäftigten älteren Frau-en, die zur Zeit noch nicht von der Altersteilzeit profitie-ren können.Heinz Schmitt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5665
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(D)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kommezu einem weiteren wichtigen Punkt unseres Gesetzes.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vereinfachen wirdas geltende Recht. Insbesondere erleichtern wir dieWiederbesetzung einer Stelle. Darauf kommt esschließlich an. Die Wiederbesetzung ist nämlich diewichtigste Voraussetzung, um Altersteilzeit durch dasArbeitsamt zu fördern. Bisher gibt es kein Problem beider Förderung, wenn ein Arbeitsloser oder ein neu Aus-gebildeter unmittelbar für den ausscheidenden Beschäf-tigten eingestellt wird. Allerdings ist dieser Fall in derPraxis eher selten. Deshalb müssen bisher umfangreicheWiederbesetzungsketten nachgewiesen werden. Das istfür die Betriebe mit einem erheblichen Aufwand ver-bunden.Diesen Nachweis bei Wiederbesetzung wollen wirnun erleichtern, zumindest innerhalb eines Unterneh-mens. So müssen in Zukunft nicht mehr alle Gliedereiner Kette nachgewiesen werden, die bei der Umset-zung zwischen den in Altersteilzeit gehenden Mitarbei-tern und den neu eingestellten Mitarbeitern eine Rollespielen. Künftig genügt es, wenn für einen Mitarbeiter,der in Altersteilzeit geht, ein anderer Mitarbeiter in des-sen Aufgabenbereich nachrückt. Allerdings muß im sel-ben Funktionsbereich des Unternehmens, also zum Bei-spiel in der Produktion oder im Vertrieb, ein neuer Mit-arbeiter eingestellt werden. Diese Erleichterung ist ohneGesetzesänderung möglich und hilft allen Unternehmen.
Für kleine und mittlere Unternehmen mit bis zu 50Arbeitnehmern bauen wir die Bürokratie noch weiter ab.Für diese Betriebe gilt in aller Regel, daß sie beim Aus-scheiden eines Mitarbeiters in Altersteilzeit ersatzweiseeinen Arbeitslosen einstellen. Der Nachweis der Wie-derbesetzung wird hier vom Gesetzgeber einfach unter-stellt. Wir fördern diese Unternehmen außerdem auchdann, wenn sie für einen Nutzer von Altersteilzeit einenAuszubildenden einstellen. Diese Regelung galt bishernur für Unternehmen mit bis zu 20 Arbeitnehmern.Es gibt darüber hinaus noch andere Verbesserungenund Vereinfachungen. So werden die Verfahren, umAltersteilzeit zu beantragen und genehmigen zu lassen,wesentlich erleichtert. Das beseitigt unnötigen Verwal-tungsaufwand und schafft Planungssicherheit bei derAnwendung des Rechts.
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir der weiterenEntwicklung der Altersteilzeit einen wichtigen Impulsgeben. Schon jetzt ist die Altersteilzeit ein fester Bau-stein der Personalpolitik in den Unternehmen. Das be-weisen nicht zuletzt die bereits existierenden über300 Tarifverträge zur Altersteilzeit in fast sämtlichenBereichen von Wirtschaft und Verwaltung.Wir haben ein sehr massives Interesse daran, daß die-ses Instrument künftig mehr genutzt wird. Wir wün-schen uns, daß nach den gesetzlichen Verbesserungenund Erleichterungen die Tarifvertragsparteien von die-sem Instrument noch mehr Gebrauch machen. Natürlichlassen sich zur Zeit keine seriösen Prognosen erstellen,inwieweit Altersteilzeit zukünftig von den Beschäftigtenals attraktiv empfunden wird. Dies ist auch eine Frageder materiellen Ausgestaltung. Hier sind nicht zuletztdie Tarifpartner gefordert, den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern Angebote zu machen.Sicher ist allerdings, daß wir mit dem Gesetzentwurfdie Ausgangsbedingungen erheblich verbessern, unterdenen Altersteilzeit in höherem Maße als bisher genutztwerden kann. Deshalb gibt es Grund zur Zuversicht, daßdas verbesserte Gesetz in der Praxis angenommen wird.Daher hoffe ich, daß unser Gesetzentwurf in diesemHause eine breite Zustimmung erfährt. Wir befinden unsin der ersten Lesung und werden in den Ausschußbera-tungen die einzelnen Regelungen ausführlich erörternund diskutieren.
Es ist daher nicht notwendig, daß ich jetzt noch längerüber die Altersteilzeit spreche.Ich bitte also herzlich um Unterstützung. Dieser ver-nünftige Gesetzentwurf sollte eine breite parlamentari-sche Mehrheit finden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Hans-Peter Fried-
rich.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist – derStaatssekretär hat dies ausgeführt – die Verbreiterungder Anwendungsmöglichkeiten aus dem sogenanntenAltersteilzeitgesetz. Wenn man dieses Gesetz von 1996für einen richtigen Politikansatz hält, dann macht esdurchaus Sinn, beispielsweise die Teilzeitbeschäftigungeinzubeziehen. Ich betone allerdings die Einschränkung:wenn man dieses Gesetz für einen richtigen Politikan-satz hält.
– Liebe Frau Kollegin Dückert, ich möchte darum bit-ten, daß wir darüber ernsthaft diskutieren.
Die Zielrichtung war – der Staatssekretär hat es dar-gestellt –, einen gleitenden Übergang in den Ruhestandaus dem Erwerbsleben heraus zu ermöglichen. Ich haltedas für ein wichtiges und richtiges Ziel, vor allem fürMenschen, die schon lange im Arbeitsprozeß sind unddie es beim Älterwerden einfach verdient haben, daß sieum einige Arbeitsstunden entlastet werden.Das zweite Ziel war, aus arbeitsmarktpolitischenGründen ältere Arbeitnehmer durch jüngere zu ersetzen.Parl. Staatssekretär Gerd Andres
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5666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Über dieses Ziel kann und muß man meines Erachtensdiskutieren.Drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes stellen wirallerdings fest, daß beide Ziele eigentlich nicht erreichtworden sind. Das Gesetz ist überwiegend von derGroßindustrie genutzt worden, die ältere Arbeitnehmer,anstatt sie in den Unternehmen zu qualifizieren und ent-sprechend ihren Erfahrungen einzusetzen, mit von derGemeinschaft finanzierten Instrumenten abgeschobenhat. In einem Großunternehmen läßt sich – Stichwort:Wiederbesetzungskette – nicht genau nachvollziehen,wo welcher jüngere Arbeitnehmer tatsächlich als Ersatzfür einen älteren eingestellt worden ist. Es gibt genügendMöglichkeiten, das entsprechend hinzubiegen. Die Al-tersteilzeit ist also als willkommene Möglichkeit genutztworden, Ältere auf Kosten der Allgemeinheit abzuschie-ben. Wenn man dies für richtig hält, dann macht es na-türlich Sinn, wenn man jetzt auch dem Mittelstand dieseMitnahmemöglichkeiten stärker eröffnet.Das zweite Ziel, nämlich das des gleitenden Über-gangs in den Ruhestand, ist nicht erreicht worden, weil– darauf deutet alles hin – überwiegend die verblockteVariante gewählt worden ist, das heißt, die Menschenzweieinhalb Jahre früher in Rente gegangen sind, als eseigentlich vorgesehen war. Darin liegen im Grunde zweifalsche Signale, die das Gesetz aussendet. Das ist einmaldas falsche Signal, daß man Arbeitnehmer mit 55 Jahrenzum alten Eisen erklärt, und zwar unabhängig davon,welche Beschäftigung sie ausüben. Man braucht sicheigentlich nicht zu wundern, wenn dann umgekehrt beiden Arbeitgebern die Vorstellung aufkommt, manbräuchte jemanden, der Ende Vierzig ist, nicht mehr zuqualifizieren, weil er wenige Jahre später, nämlich mit55 Jahren, ohnehin zum sozialrechtlichen Auslaufmodellerklärt wird.Wir werfen vielen Personalchefs in den Unternehmenvor, sie hätten älteren Arbeitnehmern gegenüber eine zunegative Grundeinstellung; dieser Vorwurf ist immerwieder zu hören. Ich denke, daß die Sozialpolitik aufGrund dieser Wertungen daran nicht ganz unschuldigist.Es wird der Eindruck erweckt, daß es sich nicht mehrlohnt, in diese Arbeitnehmer zu investieren. Umgekehrtwird bei den Arbeitnehmern die Einstellung gefördert,es sei völlig normal, zweieinhalb Jahre früher in Rentezu gehen, und die Sozialgemeinschaft könne sich dasauch leisten.
Ich denke daher, daß wir eine Diskussion über eine neuePhilosophie führen müssen, die sich schlicht an denGrundrechenarten orientiert.
Unser Problem ist, daß das Verhältnis von Beitrags-zahlern zu Leistungsbeziehern immer dramatischerwird. Immer weniger Beitragszahler – sei es in der Ge-sundheitspolitik, sei es in der Rentenpolitik oder bei derArbeitslosenversicherung – müssen immer mehr Lei-stungsbezieher finanzieren. Dieser Entwicklung kannman nicht dadurch begegnen, daß man ältere Beitrags-zahler gegen jüngere auswechselt; denn selbst wenn diesfunktionieren würde, wäre es nur ein Nullsummenspiel.Man hätte nicht mehr Beitragszahler und nicht wenigerLeute, die nicht beschäftigt sind.Vielmehr kommt es darauf an, die Zahl der Beitrags-zahler zu erhöhen. Im Klartext heißt das: Die rotgrüneBundesregierung kann sich um die Aufgabe, für mehrWachstum, mehr Investitionen und damit für mehr Ar-beitsplätze zu sorgen, nicht durch einen Austausch vonArbeitnehmern herummogeln, sondern sie muß die Inve-stitionsbedingungen verbessern.
Die Schröder-Uhr in der „Wirtschaftswoche“ zeigt –wenn Sie die Erkenntnis brauchen, sollten Sie da nach-schauen –,
daß die rotgrüne Regierung dabei völlig versagt hat.Im übrigen geht auch die Rente mit 60 in die gleichefalsche Grundrichtung, wie sie die Gewerkschaften mitder Idee der Arbeitszeitverkürzung verfolgen. Das Um-verteilen von Arbeit bringt schon deswegen nichts, weilwir in Deutschland eine strukturelle Arbeitslosigkeithaben. Wenn Sie einen guten Facharbeiter frühzeitignach Hause schicken, dann brauchen Sie als Ersatz wie-der einen guten Facharbeiter. Leider ist es so, daß wir invielen Branchen und Betrieben schon heute einen Man-gel an solchen Fachkräften haben.Wenn Sie Sozialbeitragsstabilität haben wollen, danngibt es nur zwei Möglichkeiten: Leistungsreduzierungoder mehr Beitragszahler. Das ist die einfache Grund-wahrheit. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Lei-stungsempfängern kann nur durch neue Arbeitsplätzeund dadurch verbessert werden, daß man den Beitrags-zahlern ehrlich sagt, daß in Zukunft eine längere statteiner kürzeren Lebensarbeitszeit erforderlich ist, jeden-falls bei denen, die weniger als 45 Beitragsjahre aufzu-weisen haben.Noch wichtiger und angesichts der auf uns zukom-menden längeren Lebensarbeitszeiten das richtige Zielist es – das habe ich am Anfang gesagt –, einem Arbeit-nehmer, der 55 oder 60 Jahre alt ist, zu ermöglichen, daßer vielleicht ein oder zwei Stunden am Tag weniger ar-beitet. Denn dem, der 40 Jahre lang in der Mühle ma-locht hat, muß man einfach die Möglichkeit geben,vielleicht nur noch sechs Stunden am Tag oder nur vierTage in der Woche zu arbeiten. Der physische und psy-chische Druck in unserer Arbeitswelt ist in den letztenJahren in unglaublicher Weise gewachsen. Hauptgrunddafür ist übrigens die falsche Tarifpolitik, die durch Ar-beitszeitverkürzung die Arbeit teurer gemacht und dieden Produktivitäts- und Leistungsdruck permanent zuLasten der Menschen erhöht hat.
Dr. Hans-Peter Friedrich
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Eine echte Altersteilzeit wird möglich, sinnvoll undfinanzierbar, Herr Gilges, wenn die Arbeitnehmer injungen Jahren eine Mehrarbeit erbringen, die sie dannim Alter zur Absenkung der Stundenbelastung nutzenkönnen. Ich denke, diesen Ansatz sollte man diskutieren.So hat etwa der Zentralverband des Deutschen Hand-werks vorgeschlagen, eine sogenannte Vorsorgearbeitin Form von Mehrarbeit zu leisten und den Gegenwertder angesammelten Mehrarbeit in Pensionsfonds oder inandere Formen der betrieblichen Altersvorsorge zu inve-stieren. Aus diesen Mitteln kann dann später die Stun-denverkürzung finanziert werden.Natürlich weiß ich, daß das eine Lösung für jungeLeute ist, die heute 25 Jahre alt sind, aber nicht für die-jenigen, die heute 55 Jahre alt sind, denn diese könnennicht die Uhr zurückdrehen und die entsprechendeMehrarbeit erbringen. Deswegen muß man darüber dis-kutieren, wie man eine stundenweise Arbeitsentlastungder älteren Menschen über Beiträge, über Beteiligungder Arbeitgeber oder auch über eine Eigenbeteiligungder Betroffenen finanzieren kann. Ich würde mir wirk-lich wünschen, daß die Tarifpartner mutiger an diese Sa-che herangehen. Vielleicht ist dies durchaus eine Mög-lichkeit für Gewerkschaften, mit solch modernem Den-ken auch wieder junge Leute für die Gewerkschaftsar-beit zu interessieren.Lassen Sie mich zum Gesetzentwurf zurückkommen.Ich denke – der Herr Staatssekretär hat das auch richtiggesagt –, daß in diesen Gesetzentwurf vieles aufgenom-men worden ist, was an Problemen und Verkomplizie-rungen beklagt worden ist. Insofern liegt in diesem Ge-setzentwurf durchaus eine gut gemeinte Fortentwick-lung. Ich will nicht schon in der ersten Lesung sagen:Wir lehnen diesen Gesetzentwurf von vornherein ab.Aber wir sollten dann, wenn wir diesen Gesetzentwurfin den Ausschüssen diskutieren, die Chance nutzen, übereine neue Grundphilosophie in dieser Frage nachzuden-ken. Wir brauchen eine Neuorientierung der Politik imHinblick auf ältere Arbeitnehmer. Wir brauchen diesauch deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen,weil es gesamtwirtschaftlich falsch ist, auf die Kenntnis-se und Erfahrungen von langjährigen Mitarbeitern zuverzichten, nur weil sie gerade nicht das neueste Com-puterprogramm kennen.
Ich fordere Sie deswegen auf, den falschen Weg einerUmverteilung der Arbeit nicht länger zu beschreiten. Ichweiß, daß dies nicht populär ist, aber ich denke, das istehrlich und fair auch gegenüber einer jungen Generati-on, die am Schluß alles bezahlen muß.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Dr.
Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-ber Herr Friedrich, ich muß gleich damit beginnen, Ih-nen noch einmal zu sagen, daß einer der falschen Wege,nämlich die extensive Ausdehnung des Vorruhestandes,ganz klar auf Ihr Konto geht.
Wenn wir hier wirklich eine offene Debatte führen wol-len, dann sagen Sie das doch dazu.Meine Damen und Herren, wir haben hier einen Vor-schlag des Bündnisses für Arbeit vorgelegt bekommen,der zwei Veränderungen des gültigen Altersteilzeitge-setzes beinhaltet. Es geht um zwei wichtige zentralePunkte. Der erste Punkt ist, daß nun auch Teilzeitbe-schäftigte in die Altersteilzeit gehen können. Die Rege-lung wird für Teilzeitbeschäftigte geöffnet. Der zweitePunkt ist die Lockerung der Wiederbesetzungskette, ge-rade für kleine und mittlere Unternehmen.
Die Öffnung der Altersteilzeit für Teilzeitbeschäftig-te ist besonders für Frauen ein außerordentlich wichtigerPunkt.
Gerade Frauen, die bei der bisherigen Regelung ausge-schlossen waren – übrigens auch bei vielen anderen Re-gelungen ausgeschlossen sind, beispielsweise den Vor-ruhestandsregelungen –, weil sie vornehmlich in Teilzeitarbeiten, können jetzt in den Genuß der Altersteilzeitkommen. Wir dürfen dabei nicht übersehen, daß fürFrauen sicherlich auch weiterhin eine besondere Pro-blematik darin liegt, daß ihr Nettolohneinkommen imDurchschnitt unter dem Nettolohneinkommen der Män-ner liegt. Da auch dieses Modell mit geringen Lohnein-bußen verbunden sein muß, stellt es für Frauen nochimmer eine größere Barriere dar. Trotzdem glaube ich,daß wir es erreichen können, daß auch Frauen in Al-tersteilzeit gehen können.Der zweite Punkt war die Lockerung der Wiederbe-setzungskette. Es besteht das Ziel, durch Verwaltungs-vereinfachung, quasi durch Entschlackung, zu erreichen,daß das Gesetz in kleinen und mittleren Betrieben besseraufgenommen wird. Wir werden die Wirkung in derPraxis abwarten müssen. Wir werden abwarten müssen,ob die Wiederbesetzung durch diese Lockerung tatsäch-lich sichergestellt werden kann. Alle Anzeichen, beson-ders die Rückmeldungen aus den kleinen und mittlerenBetrieben, lassen erwarten, daß dies möglich sein wird.Wir werden die Reaktionen jedoch erst ruhig auswertenmüssen.Im ganzen ist das Altersteilzeitgesetz – das wird so-gar von der Opposition bemerkt – von der Intention undder Idee her ein vernünftiges Gesetz, weil es älterenMenschen die Möglichkeit gibt, sich in den letzten Jah-ren des Erwerbslebens durch Arbeitszeitverkürzung Er-leichterung zu verschaffen. Das ist ein sehr humanerAnsatz. Er ist aber auch beschäftigungspolitisch sinn-Dr. Hans-Peter Friedrich
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voll, jedenfalls dann, wenn die Wiederbesetzung sicher-gestellt wird und wenn wir Wege finden, die tatsächlicheIntention der Altersteilzeit, nämlich eine echte Al-tersteilzeit durchzusetzen, umzusetzen.
Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen.Die wichtige Idee ist, daß hier Ansätze für neueMöglichkeiten gegeben sind, eine lebensphasenübergrei-fende Gesamtkonzeption der Arbeitszeitgestaltung si-cherzustellen. Diese brauchen wir, und Altersteilzeitkann dafür ein Element sein. Wir können es zu diesemZweck auch weiterentwickeln.Das Ziel ist die Integration in den Arbeitsmarkt undnicht das Aussteuern von Älteren. Die Älteren sollendie Möglichkeit haben, länger im Betrieb zu bleiben.Deswegen wird es nötig sein – darauf spielte ich geradean –, die echte Altersteilzeit und nicht die Blockbil-dung voranzubringen, und zwar auch deshalb, weilwir auf Dauer dahin kommen müssen, die extensiveAusnutzung des Vorruhestandes zurückzudrängen, zuwelcher die Blockbildung in der Altersteilzeit ein Bau-stein war.Die Tatsache, daß heute in den westdeutschen Län-dern das durchschnittliche Renteneintrittsalter für Män-ner bei 57 Jahren liegt, ist langfristig hochproblematisch,zum einen für die Rentenkassen – das ist völlig klar –,zum anderen, aber auch für den Arbeitsmarkt, und zwardeshalb, weil wir auf Grund von demographischen Ent-wicklungen zukünftig mit größeren Qualifikationspro-blemen zu tun haben werden, wenn die Älteren so frühaus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Deswegen wird esnotwendig sein, mittelfristig den Vorruhestand abzubau-en.
Es ist notwendig, vernünftige gleitende Maßnahmen– die Altersteilzeit ist ein solches gleitendes Modell – zufinden, um eine Kultur der Altersarbeit zu entwickelnund nicht eine Kultur des frühzeitigen Aussteuerns.Dieser Umstieg muß an Strategien des lebenslangenLernens, an Strategien der betriebsnahen Arbeitsmarkt-politik, also an verbesserten Möglichkeiten zur echtenAltersteilzeit, und an flexiblen Modellen der Umvertei-lung der Arbeit über den gesamten Erwerbszyklus ge-koppelt sein. Das sind entscheidende Elemente für eineArbeitsmarktpolitik, die auf Integration setzt. Däne-mark hat uns dafür schon vernünftige Wege aufgezeigt;dort werden beispielsweise für Ältere ab 45 gerade inkleinen und mittleren Betrieben besondere Förderungenfür Qualifikation und Fortbildung zur Verfügung ge-stellt.Meine Damen und Herren, das bedeutet, daß wir diePerspektive verändern müssen. Wir müssen auf Integra-tion und nicht auf vorzeitigen Ruhestand setzen, undzwar auch deshalb, weil im nächsten Jahrtausend dasalte Modell der Vollzeiterwerbstätigkeit nicht mehr zumTragen kommen wird. Das, was bislang ohnehin mehrfür Männer galt, wird zunehmend durch im Laufe derLebenszeit mehrfach unterbrochene Erwerbsphasen er-setzt werden. Deswegen müssen wir uns ganz im Ge-gensatz zu dem, was Sie, Herr Friedrich, vorgetragenhaben,
mit einer Umverteilung von Arbeitszeit, die dann sehrunterschiedliche Elemente aufweisen wird, auseinander-setzen. Die Altersteilzeit ist eines dieser Elemente.Ich habe gestern hier einen anderen Vorschlag unter-breitet und angeregt, auch im „Bündnis für Arbeit“ dar-über nachzudenken, dann, wenn Tariffonds gegründetwerden, diese für alle aufzumachen, beispielsweise auchfür Modelle des Job-sharing, damit wir die Reduzierungvon Arbeitszeit unterstützen können, sofern neue Ar-beitnehmer nachrücken. Modelle, in denen bei derWahl von Teilzeitarbeit das adäquate Nachrücken vonneuen Arbeitnehmern öffentlich gefördert wird, wärenein Schritt hin zu einer neuen Arbeitsmarktpolitik, dieübrigens im Metallbezirk Hannover schon praktiziertwird.Die Altersteilzeit können wir in eine vergleichbareRichtung weiterentwickeln. Diese Debatte müssen wirlangfristig führen. Die Altersteilzeit kann ein Einstieg inneue Wege der Arbeitsmarktpolitik sein. Die heutigePraxis – ich sprach es eben schon einmal an – entsprichtan manchen Stellen nicht der Intention der Altersteilzeit,weil in den Betrieben immer mehr Blockbildungen statt-gefunden haben und die Altersteilzeit letzten Endes zueiner Form des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben mit 57geführt hat.
Deswegen plädieren wir für eine durchaus variableModellierung. Dabei wäre zu überprüfen, ob nicht füreine Übergangszeit von fünf Jahren echte Altersteilzeitstärker als Blockbildung gefördert werden kann, um zuerreichen, daß die Altersteilzeit gerade in mittleren undkleineren Betrieben in der Funktion unterstützt wird,einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu Wegezu bringen.Der zweite Anknüpfungspunkt für eine Zukunftsde-batte über Altersteilzeit ist für uns, daß die einschlägigenRegelungen für Jüngere geöffnet werden sollten. Würdeman die Altersgrenze von 55 abschaffen, wäre es nachmeiner Vorstellung durchaus möglich, ein Teilzeitar-beitsmodell allen Generationen zu eröffnen. Würde dieTeilzeitarbeit an die jetzigen Regelungen des Altersteil-zeitgesetzes sowie an verschärfte Wiederbesetzungsbe-dingungen gebunden, könnte dies dazu führen, daß Mo-delle einer über alle Generationen verteilten variablenArbeitszeit unterstützt werden. Diesen Weg müssen wirin Zukunft wählen, da diese Modelle einen hohen Refi-nanzierungsgrad haben werden und auf die Integrationder Erwerbslosen, nicht aber auf die Ausgliederung derälteren Arbeitnehmer setzen.Meine Damen und Herren, der Einstieg zur Suchenach neuen Lösungen ist gerade im „Bündnis für Ar-beit“ sehr gut möglich. Wir sollten uns die Erfahrungen,die wir in der Vergangenheit gemacht haben, sehr genauDr. Thea Dückert
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anschauen, um zukunftsfähige Modelle im Bereich einerflexiblen Arbeitszeitgestaltung zu finden.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier im Hauswürde, so glaube ich, behaupten, Altersteilzeit an sichsei eine schlechte Sache. Der Gedanke ist ja auch ganzreizvoll, hat seinen Charme: Ältere Arbeitnehmer ar-beiten etwas weniger, damit jüngere einen Einstiegin das Berufsleben erhalten und nicht dem Arbeitsamtund damit der Solidargemeinschaft auf der Tasche lie-gen.
So weit, so gut! Diesen Ansatz jetzt weiterzuentwickelnscheint entsprechend durchaus löblich und ist sicherlichauch gut gemeint. Doch es zeigt sich, daß „gut gemeint“auch hier das Gegenteil von gut ist. Es ist wie beim Be-ton – Sie kennen das aus der Werbung –: Es kommt dar-auf an, was man daraus macht.In der Vergangenheit hat sich gezeigt, StaatssekretärAndres – die Kollegin Dückert hat das mit ihren durch-aus kritischen Anmerkungen ja auch eingeräumt –, daßvon diesen Regelungen in nicht unerheblichem Maßeeben nicht arbeitslose junge Menschen profitiert haben,sondern die Unternehmen, insbesondere Großunterneh-men, ihre internen Strukturprobleme zu Lasten der Bun-desanstalt für Arbeit gelöst haben.
Ich nehme hier ein Mitglied der Bundesregierungzum Kronzeugen. Herr Minister Müller hat unlängst imFernsehen erklärt: Bezogen auf alle Frühverrentungen– dazu gehört die Altersteilzeit ja wohl – sei das Ver-hältnis 7:1, das heißt, auf sieben vorzeitig in den Ruhe-stand entlassene Arbeitnehmer kommt eine Neueinstel-lung. Angesichts dessen stellt sich in der Tat die Fragenach der Effizienz. Ich kann mir – ich sage dies, weil Sie hier so stolzwaren auf die Ergebnisse des „Bündnisses für Arbeit“ –den Konsens im „Bündnis für Arbeit“, in dem der Mit-telstand ja nur am Rande eine Rolle spielt, sehr gut pla-stisch vorstellen. Für mich steht jedenfalls fest: Von demhier vorgelegten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung derAltersteilzeit wird der Mittelstand – wie auch bisher beider Altersteilzeit – allenfalls am Rande profitieren. Pro-fitieren werden erneut die großen Unternehmen, die mitihren großen Personalabteilungen in der Lage sind, die-ses bürokratische Gesetz zu handhaben. Für den Hand-werksmeister mit seinen fünf oder zehn Beschäftigten,der mit Bürokratie ohnehin genug um die Ohren hat, istdas nämlich schlichtweg nicht durchschaubar. Daherwird er niemanden aus seinem Unternehmen in die Al-tersteilzeit schicken.
– Das heißt ganz konkret, Frau Kollegin Rennebach, daßdurch die komplexen Regelungen der Altersteilzeit diekleinen Unternehmen – und damit die meisten Arbeit-nehmer in Deutschland – ausgeschlossen sind. Sie wis-sen ja hoffentlich noch – ich habe es in diesem Hausejedenfalls oft genug gesagt –, daß der Mittelstand, alsomittelständisches Handwerk, freie Berufe, Dienstlei-stungen, kleinflächiger Einzelhandel, das Gros der Ar-beitsplätze in Deutschland stellt.
– Das ist ja das Problem, Herr Kollege Niebel. Die imMittelstand beschäftigten Arbeitnehmer dürfen dann zuallem Überfluß über ihre Sozialversicherungsbeiträgeund Steuern auch noch die Umstrukturierung der Groß-unternehmen durch Altersteilzeit bezahlen.
Wir in der Politik neigen dazu, manchmal ein bißchenzu theoretisch zu diskutieren.
Deswegen ist, so glaube ich, wichtig: Selbst wenn alldies zu überwinden wäre, besteht für den Handwerkerimmer noch das Problem, daß er den neu einzustellen-den qualifizierten jungen Arbeitnehmer auf dem Ar-beitsmarkt nicht findet. Es ist eben ein Unterschied, obDaimler oder Ford jemanden für das Band einstellenwollen oder ob es um eine qualifizierte handwerklicheTätigkeit in einem kleinen mittelständischen Unterneh-men geht.Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Diegrundsätzliche Idee, die hinter der Altersteilzeit steht, istgut. Deswegen haben wir diese Möglichkeit vor dreiJahren eröffnet. Wir müssen die Regelung jetzt kritischhinterfragen. Das müssen wir bei der Überarbeitung lei-sten. Den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf – die Um-setzung, die Sie hier präsentieren – halte ich für verfehlt.Ich kann nur noch einmal sagen: Wenn Ihnen daranliegt, daß die Beschäftigten in kleinen und mittlerenUnternehmen in Altersteilzeit gehen, dann müssen Sie –gerne mit uns gemeinsam – die Gesetze so machen, daßsie die Chefs dieser Unternehmen auch handhaben kön-nen. Sie müssen von der Vorstellung herunterkommen– ich werde sie manchmal nicht los, auch bei Ihren Vor-trägen, Herr Staatssekretär Andres –, daß alle Arbeit-nehmer tätig sind in Unternehmen mit 10 000 Beschäf-tigten, mit einem freigestellten europäischen Betriebs-rat, mit allen Möglichkeiten der Mitbestimmung undeinem Verbindungsbüro der IG Metall direkt neben derKantine. Nicht alle Arbeitnehmer arbeiten in Wolfs-burg.
Dr. Thea Dückert
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5670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Die Realität in den arbeitsplatzschaffenden mittelständi-schen Unternehmen ist viel einfacher, persönlicher,kleiner und überschaubarer, als Sie sich das vielleichtvorstellen.
Nebenbei: Die Tatsache, daß Sie vorsehen, die Wie-derbesetzung des durch die Altersteilzeit frei werdendenArbeitsplatzes in der Regel nicht mehr mit der Nach-weispflicht zu belegen, ist zugegebenermaßen eine Ver-waltungsvereinfachung; sie öffnet aber auch dem Miß-brauch die Türe. Hier gibt es zweifellos – das muß mansehen – ein Dilemma. Das sollten wir bei unseren weite-ren Beratungen im Auge behalten.Dann ist da noch die sicher gutgemeinte Neurege-lung, nach der auch die Teilzeitbeschäftigten in den Ge-nuß der Altersteilzeit kommen sollen – eine Altersteil-teilzeit gewissermaßen. Auch das wird im Mittelstandnicht wirken. Es wird noch viel weniger wirken als diebisherige Regelung. Daimler-Chrysler kann vielleichteine Viertelstelle oder eine Sechstelstelle – auch das isttheoretisch denkbar – noch produktiv einsetzen. Aberder Fliesenleger Schulze – oder soll ich sagen: der Flie-senleger Gilges? – hätte damit sicherlich Probleme. Fürihn macht das keinen Sinn mehr, sofern er angesichtsder Bürokratie überhaupt mit dem Gesetz zurecht-kommt.
Das heißt für mich: Auch damit wird der Mittelstand be-nachteiligt; auch damit werden große Unternehmenbevorzugt – immer unter der Prämisse, daß derje-nige, der in Altersteilzeit geht, noch produktiv im Be-trieb tätig sein will und tätig sein kann und das Ganzenicht am Ende doch nur eine Art vorgezogener Ruhe-stand ist.Meine Damen und Herren, um es zusammenzufas-sen: Mit dem Entwurf in der jetzt vorliegenden Fassungkann ich mich nicht anfreunden. Er ist zu bürokra-tisch. Er benachteiligt den Mittelstand und die Beschäf-tigten im Mittelstand. Er bevorzugt die großen Unter-nehmen.Frau Kollegin Rennebach, wir sind zur konstruktivenBeratung bereit. Wir werden im Ausschuß konkret sehenkönnen, ob wir uns – mit den Erfahrungen der bisheri-gen Regelung und dem Ziel, das Sie verfolgen, vorAugen – auf einen gemeinsamen Nenner einigen kön-nen. Derzeit ist unsere Stellungnahme jedenfalls kritischund eher ablehnend.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Reinhard Göhner,
CDU/CSU, das Wort.
Kollege Kolb,
Sie haben die alte Vorruhestandsregelung, die wir als
Koalition seinerzeit gemeinsam beschlossen haben und
wegen der Fehlentwicklungen wieder außer Kraft ge-
setzt haben, zu Recht kritisch beleuchtet.
– Sie waren auch nicht gegen diese Regelung. Nun las-
sen Sie das einmal!
Ich wollte allerdings darauf hinweisen, daß die von
Ihnen zu Recht in Erinnerung gebrachte geringe Wie-
dereinstellungsquote von 1 : 7 für diese alte Vorruhe-
standsregelung in der Tat galt, aber nicht für die von
CDU/CSU und F.D.P. gemeinsam, Herr Kollege Kolb,
eingeführte Altersteilzeitregelung. Geförderte Altersteil-
zeit, also die Altersteilzeit, die allein sich finanziell zu
Lasten der Versichertengemeinschaft auswirken kann,
hat eine Wiederbesetzungsquote von 1 : 1, weil eine
Förderung durch die Solidargemeinschaft nur bei Wie-
dereinstellung stattfindet. Deshalb rechnet Sie sich für
die Solidargemeinschaft. Ich meine deshalb nach wie
vor, daß die von uns eingeführte Altersteilzeit richtig
war.
Wie ist es nun mit diesem Gesetzentwurf? Sie haben
völlig zu Recht den kritischen Punkt der Handhabbarkeit
für den Mittelstand angesprochen. Diese ist – das muß
man einräumen – bei dem noch bestehenden Altersteil-
zeitgesetz für kleinere Betriebe schwierig. Aber deshalb
will dieser Gesetzentwurf Erleichterungen bringen. Ich
bitte Sie, einfach noch einmal zu überdenken, ob dieser
Vorschlag, der gerade in diesem Punkt sehr stark auf
den Zentralverband des Deutschen Handwerks zurück-
geht, der natürlich vor allem mittelständische Betriebe
berücksichtigt, mit den hier vorgesehenen Erleichterun-
gen für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten nicht
insoweit einen Konstruktionsfehler beseitigt, den – das
muß man kritisch einräumen – wir selbst bei der Verab-
schiedung des Gesetzes damals begangen haben.
Ich möchte Sie deshalb dazu veranlassen, noch ein-
mal zu überprüfen, ob nicht gerade die von Ihnen ge-
nannten Gesichtspunkte – die Möglichkeit, bei der Wie-
dereinstellung für einen in das flexible Ausscheiden
überwechselnden Arbeitnehmer auch einen Auszubil-
denden zu berücksichtigen, und die Entlastung im
Nachweisverfahren – für die mittelständischen Betriebe
ein Anlaß sein könnte, diesem Gesetzentwurf etwas
positiver entgegenzutreten. Nicht alles, was diese Bun-
desregierung macht, ist schlecht – dies für meine Begrif-
fe jedenfalls nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung,
Herr Kollege Dr. Kolb.
Herr Kollege Göhner,ich habe nur eine Äußerung des Wirtschaftsministers,Dr. Heinrich L. Kolb
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5671
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Herrn Müller, von vor wenigen Tagen wiedergegeben.Ich weiß nicht, ob er nicht zur Differenzierung fähigwar. Er hat in der Fernsehsendung jedenfalls nicht zwi-schen alten und neuen Regelungen unterschieden. Er hatauf Grund seiner Berufspraxis festgestellt, daß die Quotebei 1 zu 7 liege. Wenn der Bundeswirtschaftsminister soetwas behauptet, dann muß ich es erst einmal hinnehmenund zur Diskussion stellen.Wir haben – ich bin durchaus bereit, das zuzugeben –versucht, die Regelung zu verbessern und wasserdichterzu machen. Sie fordern: Die Quote muß heute bei 1 zu 1liegen. Ich erwidere Ihnen: Ja, formal stimmt das. Aberwir alle wissen, Papier ist geduldig, und die Personal-abteilungen großer Unternehmen sind leistungsfähig.Aber man sollte die kritische Frage stellen dürfen, wiees konkret aussieht, bevor man in Beratungen über Ver-änderungen des Gesetzes eintritt.
– Herr Kollege Ströbele, ich weiß nicht, wieviel Phanta-sie Sie haben. Aber das Leben ist voller Überraschun-gen.Ich möchte nur dem Eindruck entgegentreten, den derKollege Göhner mit seiner sicherlich gutgemeintenKurzintervention erweckt hat, nämlich es gebe über-haupt keine Probleme. Die Realität sieht ein bißchen an-ders aus. Vielleicht liegt die Quote irgendwo zwischen1 zu 1 und 1 zu 7. Reden wir einfach darüber! Schauenwir uns das Ganze kritisch an! Versuchen wir, gemein-sam eine neue und bessere Lösung zu finden!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat jetzt die Kollegin Monika Balt.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! In dem vorliegenden Ge-setzentwurf sind die bisherigen Erfahrungen mit der Al-tersteilzeit eingeflossen. Es bietet sich an, zu diesen Er-fahrungen resümierend etwas zu sagen. Durch das Al-tersteilzeitgesetz von 1996 wurde die bis dahin geltendePraxis der Frühverrentung abgelöst. Dies hatte die PDSbegrüßt. Aber man muß auch deutlich darauf hinweisen:Das bis dato geltende Altersteilzeitgesetz hat sich als einsehr großer Flop erwiesen. Bis Ende August 1999 wur-den nur 35 186 Anträge auf Altersteilzeit gestellt, vondenen 29 433 bewilligt wurden. Selbst dann, wenn mandie 40 900 zusätzlichen Anträge auf Vorentscheidungenmitrechnet, bleibt die Bilanz mehr als mau.Die CDU-geführte Bundesregierung erwartete durchdie Förderung der Altersteilzeit und die sich anschlie-ßende Rente ab 1998 gut 150 000 Beschäftigte in Al-tersteilzeit. Davon kann bei weitem nicht die Rede sein.Sie ging ferner davon aus, daß für rund 60 000 Men-schen Arbeitslosigkeit vermieden werden kann. Auchdieses Ziel ist nicht erreicht worden.Neben dem Bundeswirtschaftsminister bestätigteauch Franz Ruland, daß nur jeder siebte freiwerdendeArbeitsplatz wieder besetzt worden ist. Zwar ist die Al-tersteilzeit bis Ende August 1999 in mehr als 300 Tarif-verträgen verankert gewesen, in deren Geltungsbereichimmerhin rund 12,5 Millionen Menschen fallen. Aber esgibt augenscheinlich dringenden Handlungsbedarf; denndas bisherige Altersteilzeitgesetz ist offenkundig unge-eignet, die Arbeit in nennenswerten Größenordnungenanders zu verteilen und Arbeitslosen eine Chance aufeinen Job zu verschaffen.
Angaben darüber, wie viele Menschen zusätzlich diesich durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Al-tersteilzeit bietende Möglichkeit wahrnehmen werdenund wie hoch die Zahl derer voraussichtlich sein wird,die dadurch wieder einen Arbeits- oder Ausbildungs-platz bekommen, werden erst gar nicht gemacht. Vieleder vorgeschlagenen Neuregelungen sind Verbesserun-gen und werden vermutlich dazu beitragen, daß das Ge-setz mehr genutzt wird. Außerdem sind einige Vereinfa-chungen und Präzisierungen, die die Durchführung er-leichtern, vorgesehen.So weit, so gut. Aber es gibt einen dicken Pferdefußim Gesetzentwurf. Wenn es künftig kleinen und mittel-ständischen Unternehmen mit bis zu 50 Arbeitnehmernermöglicht wird, Fördergelder auch dann zu erhalten,wenn sie für einen in Altersteilzeit gegangenen Be-schäftigten einen Auszubildenden ohne die Garantieder Weiterbeschäftigung nach der Ausbildung einstel-len, dann heißt das, daß nicht notwendigerweise ein Ar-beitsplatz geschaffen wird.Das ist schlecht, denn ohne Berufserfahrung nach derAusbildung wird es für die Betroffenen schwer, in an-gemessener Zeit eine Beschäftigung zu finden, und ohneAnsprüche aus der Arbeitslosenversicherung, zum Bei-spiel auf Arbeitslosengeld, ist die Gefahr, in die ergän-zende Sozialhilfe zu rutschen, sehr groß. Deshalb mußdie Bedingung im Gesetz verankert werden, daß nur dieUnternehmen die Förderung erhalten, die die entspre-chenden Auszubildenden nach ihrer Ausbildung minde-stens ein Jahr weiterbeschäftigen.
Nach den bisherigen Erfahrungen werden aber auchdie Verbesserungen der Altersteilzeit nicht in nennens-wertem Umfang dafür sorgen, daß Ältere in den wohl-verdienten Ruhestand gehen und dafür jüngere Arbeits-lose einen Arbeitsplatz erhalten.Die Rente mit 60 scheint ein neuerlicher Versuch,die Arbeitslosen zu verstecken. Die Folge wird eine Zu-nahme der auf den Löhnen lastenden Abgaben sein, dieden Faktor Arbeit verteuert und die Zahl der Arbeits-plätze verringert. Das angestrebte Tariffondsmodell istein übler Taschenspielertrick, mit dem zum anderen dieJungen zweifach hinters Licht geführt werden. Das Gan-ze ist eine verkappte Beitragserhöhung und begründetzudem keinen Leistungsanspruch der Beitragszahler. Füreine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ist espolitisch mehr als verantwortungslos, zehntausende,wenn nicht gar hunderttausende Arbeitsplätze einfach„wegzuriestern“.Dr. Heinrich L. Kolb
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5672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Notwendig wäre, daß die Finanzierung der Rente mit60 nicht zu Lasten der Lohnzuwächse bei den abhängigBeschäftigten geht und daß sie die Kaufkraft von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht beschnei-det. Zudem ist es aber auch nicht hinnehmbar, wennviele erhöhte Beiträge dafür bezahlen, daß nur einige inden Genuß dieser Regelung kommen. Von daher ergibteine Beschränkung auf nur fünf Jahre überhaupt keinenSinn.Die meisten Frauen hätten von einer solchen Rege-lung auch nicht viel. Wegen der Erziehungsjahre undfamiliärer Pflichten haben sie oft weniger Beitragsjahreund würden leer ausgehen. Nein, die Rente mit 60 mußschon für alle Frauen und alle Männer möglich sein, diedas wollen, und zwar ohne Abschläge.
Wer mit dem sogenannten Sparpaket die Rentenver-sicherung allein durch die niedrigen Beiträge für Ar-beitslose um 4,5 Milliarden DM bringt und nicht bereitist, Besserverdienende und Bestverdienende wie unsAbgeordnete, Minister, Freiberufler, Beamte und Selb-ständige in die gesetzliche Rentenversicherung einzube-ziehen, der sollte mit dem Ruf, das sei nicht zu finanzie-ren, sehr vorsichtig sein.
In dem uns vorliegenden Gesetzentwurf zur Al-tersteilzeit werden weder die Entgeltzuschüsse erhöhtnoch die daraus resultierenden Rentenabschläge vermin-dert. Es wird immer deutlicher: Ohne Beteiligung undEinbeziehung aller politischen Kräfte einschließlich derPDS sowie der Sozialverbände ist diese Bundesregie-rung nicht imstande, die Probleme der Massenarbeitslo-sigkeit und der Rentenpolitik zu lösen.– Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, gestatten Sie mir, bevor ich der Kollegin
Rennebach das Wort erteile, eine Anmerkung.
Aus dem mir soeben zugeleiteten Stenographischen
Protokoll der vorangegangenen Aktuellen Stunde geht
hervor, daß der Kollege Dr. Peter Ramsauer gegenüber
der Kollegin Andrea Nahles einen tatsächlich unparla-
mentarischen Zuruf gemacht hat.
Ich weise den Ausdruck „Sie unverschämtes Ding“
entschieden zurück. Er entspricht nicht der Kultur des
politischen Umgangs, die wir eigentlich in unserem
Hohen Hause haben.
Ich erteile jetzt der Kollegin Renate Rennebach von
der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehrverehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich hatte während der Debatte doch einigeZweifel. Der Kollege Staatssekretär Gerd Andres hatsehr ausführlich die Vereinbarungen der Tarifvertrags-parteien, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, undder Regierung erklärt. Es war sehr einleuchtend. Danachwar mir überhaupt nicht mehr klar, wieso Herr Friedrichplötzlich das Gesetz von 1996 nicht mehr für richtighält, obwohl es das Gesetz der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition war.
Er will sich jetzt plötzlich für die Verbesserung der Si-tuation älterer Arbeitnehmer einsetzen. Das hätten wiruns in diesem Hause 16 Jahre lang gewünscht.Herr Kolb sagt: Was gut gemeint ist, hat irgend etwasmit Beton zu tun. Darf ich Sie jetzt als Vertreter derBetonfraktion bezeichnen? Ich finde das alles ganzfurchtbar.
Er bezeichnet einen Entwurf, der einen wirklich bü-rokratischen Entwurf ablöst, als bürokratisch. Er zitierteinen Wirtschaftsminister, der den alten und nicht denneuen Gesetzentwurf meint, und muß von einem Ver-treter der CDU/CSU, einem Arbeitgeber, korrigiert wer-den. Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe diese Dis-kussion nicht mehr.
Ich möchte betonen: Wir reden über einen Gesetz-entwurf, der im „Bündnis für Arbeit“ entstanden ist. Wirreden über einen Entwurf zur Altersteilzeit. Auch Al-tersteilzeit hat nichts mit Frühverrentung zu tun, HerrKolb. Auch da war ich wieder irritiert.
– Sie wissen, von welchem Gesetz Herr Müller geredethat. – Es geht um eine notwendige Anpassung für dengleitenden Übergang in den Ruhestand. Es geht um Ar-beitsplätze, damit um die Zukunft von jungen Menschenund im besonderen von Frauen. Es geht nicht zuletzt umVerbesserungen eines Gesetzes, das in seinem jetzigenZustand enorme Probleme in der Praxis bereitet. Es istbürokratisch und unwirksam.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Altersteilzeit istnotwendig, weil er einem richtigen Grundsatz folgt und– das ist entscheidend – die Bedingungen so verändert,daß die Umsetzung sichtbare Vorteile für den Arbeits-markt, für Beschäftigte, für Betriebe und nicht zuletztfür fertige Auszubildende bringen wird. Auch das ist einProblem, mit dem Sie jahrelang nichts anzufangenwußten.Erlauben Sie mir dazu eine kurze Vorbemerkung. Ichmöchte feststellen, daß sich Bundesregierung, Gewerk-Monika Balt
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schaften und Arbeitgeber im „Bündnis für Arbeit“ in derFrage der Altersteilzeit geeinigt haben. Das ist ein Er-folg. Deswegen betone ich es. Es handelt sich um einenErfolg, den Sie nicht wegdiskutieren können, verehrteDamen und Herren von der Opposition. Da können Siereden, wie Sie möchten.Es ist ein Erfolg, und zwar in doppelter Hinsicht: er-stens weil sich die Tarifpartner mit der Regierung daraufverständigt haben, die Regelung zur Altersteilzeit ineinem ersten Schritt zu verbessern; zweitens, weil Eini-gung darüber besteht, die Fragen nach weiteren Wegenfür den Übergang in den Ruhestand auch zukünftig imKonsens zu lösen.
Hier liegt der offensichtliche Unterschied zur alten Bun-desregierung, die – wir erinnern uns – das „Bündnis fürArbeit“ platzen ließ.
Herr Kolb hat eine weitere Bemerkung gemacht. Ermeinte, das gelte alles nur für die Großunternehmen.
Warum haben wir den Kreis der betroffenen Betriebe –bisher waren es bei Ihnen Betriebe mit 20 Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern, – auf Betriebe mit 50 Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern erweitert? Wir ha-ben dies getan, um dem Mittelstand eine Chance zu ge-ben, auch diese Regelung in Anspruch zu nehmen.
Auch die von uns auf den Weg gebrachten Enthemmnis-se dienen nur dazu, dem Mittelstand zu helfen. Überle-gen Sie in Zukunft doch bitte einmal, wovon Sie reden,und diffamieren Sie nicht aufs Geratewohl!
Liebe Opposition, Sie sollten endlich einmal aufhö-ren, Ihren eigenen Presseerklärungen zu glauben. In die-sem Zusammenhang schließe ich mich den Worten mei-nes Kollegen Gerd Andres an: Diesem Gesetzentwurfkann man nur zustimmen. Ich hoffe auf fröhliche undkonstruktive Diskussionen in den Ausschüssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in der
Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege
Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wennwir heute über Altersteilzeit reden, dann müssen wir unsbewußt sein, daß dieser Bereich mit dem Thema „Rentemit 60“ verbunden ist. Wir müssen dennoch eine diffe-renzierte Bewertung vornehmen. Ich möchte meinenheutigen Beitrag dazu nutzen, ein paar Fragen aufzuwer-fen, die wir in der Ausschußberatung behandeln sollten.Herr Staatssekretär, so viel Zeit, wie Sie gesagt haben,ist ja nicht; denn es handelt sich wieder um ein Gesetz,das relativ spät eingebracht wird und daher sehr zügigdurch den Ausschuß muß. Gestatten Sie mir also, daßich meinen heutigen Beitrag nutze, um ein paar Fragenaufzuwerfen, die aus unserer Sicht gestellt werden müs-sen. Ich finde gut, daß auch Frau Dückert einen Teil die-ser Probleme so sieht. Es ist vielleicht eine Möglichkeit,parallel vorzugehen: den Gesetzentwurf im Ausschuß zuberaten und die mit dem Gesetzentwurf mittelfristig ver-bundenen Fragen im Blick zu behalten.Wir sprechen über die Schnittstellen zwischen Ar-beitslosigkeit, Eintritt in das Erwerbsleben, für die diedraußen sind, und Ausscheiden aus dem Arbeitslebenund Renteneintritt für die, die herausgehen, und wirsprechen darüber, wie man dies möglichst so organisiert,daß immer dann, wenn jemand ausscheidet, auch jemandneu eintritt. Das ist eigentlich die klassische Version, diewir erreichen wollen.Wir debattieren das heute nicht unter dem Gesichts-punkt der Rente mit 60. Dazu will ich nicht mehr sagen,als daß dies wirklich nicht finanzierbar ist. Da haben wirunsere Erfahrungen mit anderen Modellen. Wir debattie-ren über die Fortentwicklung der Altersteilzeit. Werüber Fortentwicklung und über das Gesetz debattiert,das die jetzige Regierung einbringt, der muß auch fest-stellen, daß es in diesem Bereich schon etwas gibt, näm-lich das Altersteilzeitgesetz von 1996. Ich sage auchganz deutlich – vielleicht erschrecken Sie sich dabei,meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen–: Idee und Gesetz über die Altersteilzeit sind Kinderder Union. Wenn Sie es noch deutlicher haben wollen:Der Vater dieser Idee ist Norbert Blüm.
Die CDU hat sich bereits in ihren Stuttgarter Leitsät-zen von 1985 sehr stark für die Flexibilisierung ausge-sprochen und konsequent gehandelt.
Wir haben das neue Arbeitszeitrecht des Jahres 1994und damit eine flexible und individuelle Arbeitszeitge-staltung ermöglicht.
Ich weiß nicht mehr, wie Sie sich damals verhalten ha-ben, kann es mir aber denken. – Die Tarifpartner ent-scheiden über die konkrete Ausgestaltung.Wir haben aber auch Erfahrungen mit der Frühver-rentung, mit den damit verbundenen hohen Kosten undRenate Rennebach
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auch mit dem Ausnutzen solcher Möglichkeiten durchGroßunternehmen vor allem auf Kosten der Allgemein-heit gesammelt und haben daraus Konsequenzen gezo-gen. Auch 1996 hat es ein „Bündnis für Arbeit“ gege-ben. Das ist auch nichts Neues.
– Nein, nein, Herr Gilges. Das wiederum lasse ich mirnicht von Ihnen kaputtmachen.
Dieses „Bündnis für Arbeit“ hat genau diesen Bereichmit der Förderung des gleitenden Übergangs in den Ru-hestand vereinbart, und wir haben das im August 1996umgesetzt. Das Gesetz ist auch von uns weiterentwickeltund verbessert worden, und zwar zuletzt 1998 durch dasGesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Ar-beitszeitregelungen. Hierdurch wurde die Anwendungdes Altersteilzeitgesetzes erleichtert und dessen Anwen-dungsbereich zeitlich gestreckt.Meine Damen und Herren, wenn wir einmal Bilanzziehen, was bisher passiert ist, so können wir auf derGrundlage des von der CDU-geführten Bundesregierunggeschaffenen Altersteilzeitgesetzes festhalten: Das Mo-dell der Altersteilzeit wird von den Tarifparteien gutangenommen. Das belegen mehr als 330 Tarifverträge,die mittlerweile den gleitenden Ausstieg aus dem Ar-beitsleben regeln. Ich will das einmal festhalten; das isteine schwierige Diskussion; lassen Sie uns doch einmaldifferenzieren – –
– Ich komme gleich zu Ihnen, damit Sie diese Fragenauch noch mitbekommen.Mit dem Erfolg des Modells steigen allerdings auchdie Kosten der Bundesanstalt für Arbeit. Ich will einpaar Zahlen, die mir bekannt sind, nennen. – Im Aus-schuß müssen wir auch einmal darüber reden, ein paarZahlen genannt zu bekommen. –
– Ich weiß, es ist schwierig, aber das fordern wir ein. Siewollen ja auch eine gewisse Zustimmung erhalten. Des-halb muß man über diese Dinge offen und ehrlich mit-einander reden.In der ersten Jahreshälfte 1999 gab es 85 MillionenDM Zuschüsse.
Inzwischen habe ich eine neue Quelle. Darin heißt es,bis August 1999 seien es 130 Millionen DM gewesen.
– Deshalb will ich ja auch an die Quelle heran, die eswissen muß, und bitte die Bundesregierung darum, dieseQuellen freizugeben, damit wir im Ausschuß wirklicheinmal darüber diskutieren können. – Im Jahre 1997 wa-ren es nur 16 Millionen DM.Wie viele Personen diese Maßnahmen letztlich inAnspruch nehmen können, ist offen. Ich bin nicht sokeck zu sagen, dies seien die 1,5 Millionen, bei denenwir über Rente mit 60 reden; in der Theorie schon, aberin der Praxis wird dies nicht der Fall sein. Es liegt alsonahe, meine Damen und Herren, bei diesem Ansatz undbei diesem Ergebnis darüber nachzudenken – das tun Sieja mit dem heutigen Gesetzentwurf –, ob man das, waswir als Basis geschaffen haben, was Norbert Blüm ein-geführt hat, fortentwickeln kann. Wir müssen damit dieFrage verbinden, ob man nicht parallel auch Bereichesehen muß, die möglicherweise aus dem Blick geraten,wenn wir uns nur darauf konzentrieren, wie wir denAusgleich zwischen denen, denen wir es ermöglichen, inRente zu kommen, und denen, die neue Arbeitsplätzebesetzen, also denen, die draußen stehen, schaffen. Wirmüssen auch stärker den Blick für die Frage öffnen, wiees mittel- und langfristig hinsichtlich der älteren Arbeits-losen sein wird, ob wir es uns auf Dauer erlauben kön-nen, immer nur den Weg und die Brücke in die Verren-tung zu sehen, oder ob wir uns nicht zumindest parallelauch Gedanken über eine stärkere Integration ältererArbeitnehmer in den Arbeitsmarkt machen müssen.
– Nein, das ist zu wenig. Wir müssen ein bißchen mehrtun.Meine Damen und Herren, wir möchten wirklich einegenaue Kostenanalyse vornehmen. Nur die Fragen zustellen, wie das bisher gestiegen ist und wie sich dasweiterhin kostenmäßig entwickeln wird, ist zu wenig. Inder Gesetzesvorlage wird gesagt, daß die zu erwartendeverstärkte Nutzung von Altersteilzeit zu einem nichtquantifizierbaren Mehraufwand führt. Daneben wird ge-sagt, daß es einen nicht quantifizierbaren Minderauf-wand bei im Entwurf vorgesehenen Vereinfachungengibt. Darüber, daß das von den Größenordnungen hermöglicherweise etwas auseinanderläuft, müssen wir abernoch reden.Auch über die Frage – Herr Kolb hat sie angespro-chen –, in welchem Umfang die Maßnahmen genutztwerden und wer in den Genuß solcher Regelungenkommt, müssen wir reden. Ich habe auch hier die Bittean die Bundesregierung, Zahlen darüber vorzulegen, wiedas bisher beim Mittelstand und den Großunternehmenwar. Welche Erwartungen vorhanden sind, wird ein ent-scheidender Aspekt der Beratungen sein, denn wir müs-sen zu mehr Gerechtigkeit zwischen großen, kleinen undmittleren Unternehmen kommen.Der Arbeitsmarkteffekt ist schon mehrfach ange-sprochen worden. Hier müssen wir fragen, ob er sicher-gestellt ist und ob Einstellungen von Arbeitslosen auchin dem Umfang erfolgen, in dem ältere Arbeitnehmer inAltersteilzeit gehen. Es gibt generelle Daten – das istauch von Wirtschaftsminister Müller erwähnt worden –,die davon ausgehen, daß es ein Verhältnis von 7 : 1 gibt.Für sieben ausscheidende ältere Arbeitnehmer erfolgtlediglich eine Einstellung. Es gibt eine zweite Variante:Im günstigsten Fall ist das Verhältnis 3 : 1.Wolfgang Meckelburg
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Wenn diese Daten stimmen, heißt das, daß Arbeits-plätze abgebaut werden. Unser Ziel muß aber die 1 : 1-Regelung sein, die wir in diesem Bereich sicherlichdurchsetzen können. Wir müssen uns nur darüber klarsein: Selbst dann, wenn ein Verhältnis 1 : 1, – ein ältererArbeitnehmer scheidet aus, und ein Arbeitsloser steigtein – erreicht wird, schafft dieses Instrument keine neu-en Arbeitsplätze. Das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaf-fen, besteht trotzdem. Das kann daher nicht die einzigeRegelung bleiben.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil er inden nächsten Jahren unsere Debatte entscheidend prägenwird. Wir müssen grundsätzlich stärker darüber diskutie-ren und vielleicht auch der Frage mehr Beachtungschenken, wie wir das Problem der Arbeitslosigkeit älte-rer Arbeitnehmer und der schwierigeren Vermittelbar-keit von älteren Arbeitslosen prinzipiell angehen wer-den. Lösen wir das Problem allein dadurch, daß wirimmer mehr Brücken und immer breitere Wege in dieRente schaffen, oder führen wir zumindest eine offenereund intensivere Diskussion darüber, wie ältere Arbeits-lose in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt inte-griert und dafür qualifiziert werden, wie sie wieder inArbeit gebracht werden bzw. von drohender Arbeitslo-sigkeit verschont werden können?Ich erspare mir aus Zeitgründen, die Zahlen zu nen-nen. Denn es ist schon erklärbar, daß wir zur Zeit großeProbleme mit der Arbeitslosigkeit älterer Menschen ha-ben. Betrachten Sie die Gruppen der 55- bis 65-jährigenim Fünfjahresrhythmus, dann stellen Sie fest, daß sie imBereich der Langzeitarbeitslosigkeit deutlich über demDurchschnitt liegen. Das ist ein Problem, das wir aufDauer nicht nur durch neue Wege in die Altersteilzeitlösen dürfen. Statt dessen müssen wir wegen der demo-graphischen Entwicklung darüber nachdenken, wie wirältere Arbeitnehmer mittelfristig stärker in den Arbeits-prozeß einbinden können; denn die Daten sagen unseindeutig, daß wir zukünftig immer mehr ältere und im-mer weniger jüngere Arbeitnehmer haben werden. Jemehr berufserfahrene und qualifizierte Ältere wir aus-scheiden lassen, um so mehr Probleme werden wir zueinem gewissen Zeitpunkt bekommen, weil wir nichtmehr genügend Menschen mit Erfahrung im Berufsle-ben haben. Das ist ein Punkt, über den man, so bitte ich,wirklich nachdenken sollte. Wenn das auf der Basis er-folgt, daß das Instrument der Altersteilzeit in der ge-genwärtigen Situation der hohen Arbeitslosigkeit geradevon Älteren flexibilisiert und weiterentwickelt wird,dann ist das ein gangbarer Weg. Ich habe aber die Bitte,daß wir die anderen von mir aufgeworfenen Fragen da-bei nicht vergessen.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1831 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:
7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Nor-
bert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Beschleunigung von Strafverfahren
– Drucksache 14/1714 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die einbringende Rede für die Fraktion der
CDU/CSU hält der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ver-ehrte Frau Ministerin, die CDU/CSU will dazu beitra-gen, der Regierung ein wenig Arbeit abzunehmen, damitsie nicht, wie zum Teil in der Vergangenheit geschehen,unausgegorene Gesetze durch die Ausschüsse und denBundestag peitschen muß.
Deswegen legen wir heute den Entwurf eines Gesetzeszur Beschleunigung von Strafverfahren, eines Strafver-fahrensbeschleunigungsgesetzes, vor, das sich weitge-hend auf die Grundlage des Gesetzentwurfes des Bun-desrates vom 1. März 1996 stützt, das seinerzeit schongut ausgearbeitet war und heute durch die Streichung ei-niger entbehrlicher Teile und einige wenige Ergänzun-gen noch verbessert wurde.Wir folgen damit auch diesmal den Wünschen derLänder, die auf der 70. Konferenz der Justizministerin-nen und Justizminister vom 7. bis 9. Juli 1999 im schö-nen Baden-Baden festgestellt haben, daß die Strafjustizbei stetig steigendem Geschäftsanfall ohne Möglichkeitzur weiteren Personalvermehrung ihre Aufgaben künftignur wird bewältigen können, wenn sie durch gesetzgebe-rische Maßnahmen nachhaltig entlastet wird. Dies erfor-dert auch und vor allem eine Straffung des Strafver-fahrens, die insbesondere durch die Reform derRechtsmittel in Strafsachen erzielt werden kann. DieseFeststellung wurde mit dem Stimmenergebnis 16 : 0, dasheißt einstimmig, beschlossen.Nun plant, wie wir erfahren haben, die Bundesregie-rung, verschiedene Gremien einzusetzen, um eine solcheReform vorzubereiten. Dies ist eine unseres Erachtensüberflüssige Maßnahme, da dies nach der Vorarbeitdurch den Bundesrat, also die Länder, und ergänzt durchdie der Experten unserer Fraktion nicht mehr nötig zusein scheint. Wir laden die Bundesregierung und die Re-gierungsparteien zu einem fruchtbaren Dialog über denWolfgang Meckelburg
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5676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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vorliegenden Gesetzentwurf ein. Nichts ist so gut, daß esnicht verbessert werden könnte; aber Arbeitskreise brau-chen wir für diese Änderungen nicht mehr.Ich will nicht auf Details eingehen, aber einige we-sentliche Punkte ansprechen: Wir haben eine kleine Än-derung im Strafgesetzbuch vorgeschlagen, indem dieVerurteilung eines Ausländers leichter durchgeführtwerden kann, wenn innerhalb angemessener Frist dieAuslieferung nicht beantragt worden ist.Die etwas umständliche Fassung des § 25 StPO inbezug auf die Ablehnung eines Richters haben wir kurzund bündig gefaßt, damit durch diese Ablehnung keineunnötigen Verzögerungen innerhalb eines langfristigenVerfahrens eintreten. Ergänzt wird diese Vorschriftdurch eine kleine Änderung von § 26 StPO durch Ver-mehrung der richterlichen Entscheidungsbefugnis imHinblick auf die Ablehnung.§ 59 StPO wird im Grunde genommen nur der Praxisangepaßt, weil schon heute die Vereidigung nach derVernehmung die Ausnahme und nicht die Regel ist undbei Unterlassen nun nicht mehr begründet werden muß.Auch die Ergänzung, daß die Durchsuchung von Papie-ren des Betroffenen auf Weisung durch Hilfsbeamte derStaatsanwaltschaft durchgeführt werden kann, ist ledig-lich eine Vereinfachung.Bei der Frage der Verteidigerbestellung wird derStaatsanwaltschaft eine bessere Stellung zugedacht.Auch die Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153 und 154StPO mit ihren Unterabteilungen, zum Beispiel Aus-landsstraftaten, werden entsprechend den Vorschlägendes Bundesrates und damit der Länder verbessert, umVerfahren beschleunigt beenden zu können.Um unnötige Wiederholungen von Hauptverhandlun-gen zu vermeiden, wurde die Unterbrechungsfrist ver-längert und die Möglichkeit, eine Unterbrechung derHauptverhandlung bereits nach sechs Monaten – stattnach zwölf Monaten – zu wiederholen, eingeräumt.Ebenso soll eine Verzögerung durch Erkrankung desAngeklagten bzw. einzelner Mitglieder des Gerichtskeine völlige Neuverhandlung erfordern.Die Ablehnung eines Beweisantrages soll durch dieEinfügung „nach der freien Würdigung des Gerichts“erleichtert werden, um eine Prozeßverschleppung zuverhindern. Die Änderung des § 251 StPO, die ein er-leichtertes Verlesen von Protokollen ermöglicht, dientunter anderem dem Zeugenschutz.Durch die Verlesung von polizeilichen Feststellun-gen, Gutachten und Sachverständigenausarbeitungenwerden die Strafverfolgungsbehörden nachhaltig entla-stet und wird der Unsitte, zum Beispiel die den Unfallaufnehmenden Polizeibeamten zu zweit zu laden und siedamit einen halben oder gar ganzen Tag dem Dienst zuentziehen, ein Ende bereitet. Davon ausgenommen sindVernehmungsprotokolle, soweit sie nicht bereits nachanderen Vorschriften verlesungsfähig sind.Die Berufungsmöglichkeiten sollen insoweit einge-schränkt werden: Die Annahmeberufung wird auf Ver-urteilungen bis zu 30 Tagessätzen – einschließlich Fahr-verbot und Entziehung der Fahrerlaubnis bis zu neunMonaten – angehoben. Bei amtsgerichtlichen Verurtei-lungen soll das Wahlrechtsmittel eingeführt werden, dasheißt: entweder Berufung oder Revision. Im Bereich derAnnahmeberufung wird die Sprungrevision ausge-schlossen. Diese Einschränkung erscheint vertretbar undkönnte zu erheblichen Entlastungen führen.Die Justiz soll weiterhin von erheblichem Formulie-rungs- und Schreibaufwand entlastet werden, soll mög-lichst in großem Umfang von der Abfassung von ge-kürzten Urteilen Gebrauch machen. Dazu dient auch,daß das Ziel der Berufung angegeben wird und die Beru-fung begründet werden muß.
Auch die Beschränkung von Rechtsmitteln für denNebenkläger, außer im Fall des Freispruchs, erscheintgerechtfertigt, Herr Ströbele, weil Strafmaß und Straf-höhe Sache des Staates sein sollen. Dabei wird von demGrundgedanken ausgegangen, daß der Nebenkläger imersten Verfahren genügend Möglichkeiten zur Einwir-kung auf den Gang des Verfahrens hat.Die Erstreckung der Möglichkeit des Strafbefehls aufalle Gerichtszüge erscheint folgerichtig und zweckmä-ßig, da es gegebenenfalls auch in größeren Verfahrensinnvoll erscheint, bei Mitangeklagten von diesem Ver-fahren Gebrauch zu machen.Der Zusatz in § 418 Abs. 1 StPO „Zwischen demEingang des Antrags bei Gericht und dem Beginn derHauptverhandlung sollen nicht mehr als sechs Wochenliegen“ soll nachdrücklich den Willen des Gesetzgebersdeutlich machen, möglichst oft im beschleunigten Ver-fahren zu entscheiden und die Hauptverhandlung zügiganzuberaumen.Auch die Änderungen im Jugendgerichtsgesetz die-nen der Beschleunigung, ohne auf die Besonderheitendes Jugendgerichtsverfahrens zu verzichten. Folgerichtigist bei Einführung des § 59 Abs. 1 StPO der § 49 des Ju-gendgerichtsgesetzes überflüssig.Um auch bei Jugendlichen das beschleunigte Verfah-ren durchführen zu können, ist es notwendig, den Ju-gendlichen bei Nichterscheinen vorführen zu lassen undgegebenenfalls Haftbefehl anzuordnen. Richtigerweisewird das vereinfachte Jugendverfahren im Gesetzent-wurf auch auf Heranwachsende ausgedehnt, wenn nochdas Jugendstrafrecht Anwendung finden soll. Es ist auchsinnvoll, ein gemeinsames Verfahren gegen Jugendlicheund Heranwachsende bei gleichem oder ähnlichem Tat-vorwurf durchzuführen.Bei allen Gesetzesvorschlägen ist berücksichtigt, daßder Rechtsschutz des Angeklagten oder der Angeklagtenoder Beschuldigten ausreichend gegeben ist und dieRechte der ordentlichen Verteidigung nicht einge-schränkt werden. Damit geben wir den Länderjustizver-waltungen die Möglichkeit an die Hand, die Verfahrenzu beschleunigen, was nicht nur im Interesse desRechtsstaates, sondern auch im Interesse der Beschul-digten, oder Angeklagten, aber auch der anderen Verfah-rensbeteiligten, zum Beispiel der Zeugen und Gutachter,Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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liegt. Damit eröffnen wir die Möglichkeit einer deutli-chen Arbeitsentlastung, die auch vom Kostenstandpunkther notwendig und zu begrüßen ist.Meine Damen und Herren vom Rechtsausschuß, FrauMinisterin, hoffentlich werden wir in fruchtbaren Be-richterstattergesprächen zu einer schnellen Lösung undVerabschiedung kommen und müssen nicht auf einegroße Reform warten.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Es mutet schon etwas merk-würdig an, wenn Sie, meine Damen und Herren von derCDU/CSU, heute einen Gesetzentwurf aufgreifen, derdas Parlament bereits in der letzten Legislaturperiodebeschäftigt hat und der trotz Ihrer damaligen Koali-tionsmehrheit im Bundestag nicht abschließend beratenworden ist, geschweige denn beschlossen wurde. Dadieser Gesetzentwurf neben manchem Erörterungswür-digen – dies sei eingeräumt – auch Eingriffe in einrechtsstaatliches Strafverfahren beinhaltet, die wir nichtfür sinnvoll und vertretbar halten, waren wir auch nichttraurig darüber, daß der damalige Entwurf der Diskonti-nuität anheimfiel.Es ist noch nicht einmal zwei Jahre her, daß gegenwichtige Teile dieses Entwurfes in einer hochkompe-tenten Sachverständigenrunde des Rechtsausschussesschwere Bedenken vorgebracht worden sind.
Wir halten es daher nicht gerade für sinnvoll, diesenEntwurf, den Sie, nur geringfügig verändert, wieder ein-bringen, nochmals zur Grundlage intensiver Beratungenzu machen.Damit befinden wir uns im übrigen in Übereinstim-mung mit einem im Juni gefaßten Beschluß der Justiz-ministerkonferenz. Die Justizministerinnen und Justiz-minister haben sich darauf verständigt, zunächst keineweiteren gesetzgeberischen Maßnahmen über den Bun-desrat einzuleiten, sondern die Beratung der nachgründlicher Vorbereitung von der Bundesregierung undder Frau Justizministerin vorzulegenden Vorschläge ent-sprechend zu begleiten. Im Rahmen dieser Beratungenkönnen dann auch die Reformvorschläge mit einge-bracht werden, die damals als sinnvoll und erörterungs-würdig angesehen wurden. Dies gilt für manche forma-len Erleichterungen und Entbürokratisierungsvorschlä-ge, die im Entwurf des Bundesrates enthalten waren.Das gilt in gleicher Weise für die vorgeschlagene Er-weiterung der Einstellungsmöglichkeiten durch Ge-richt und Staatsanwaltschaften. Ich warne aber vor Illu-sionen: Bereits heute werden die bestehenden Einstel-lungsmöglichkeiten in der Praxis sinnvoll und auch rechtgroßzügig genutzt, so daß ich mir von weiteren Erleich-terungen nur äußerst begrenzte zusätzliche Entlastungs-effekte verspreche.Sicherlich sind die bisherigen Regelungen zur Un-terbrechung der Hauptverhandlung einer kritischenÜberprüfung mit dem Ziel zu unterziehen, handhabbare-re Regelungen für die Praxis zu finden. VernünftigeUnterbrechungsregelungen sind sicherlich von erhebli-cher praktischer Bedeutung für die Strafrechtspflege.Wir sollten dabei aber nicht außer acht lassen, daß diebisherigen – zugegebenermaßen recht strengen – Rege-lungen auch dem rechtsstaatlichen Prinzip der Konzen-tration des Verfahrens Rechnung tragen und dienen sol-len.Gegen die zentralen Vorschläge Ihres Gesetzentwur-fes haben wir allerdings erhebliche Bedenken, geradeauch aus rechtsstaatlicher Sicht. Dabei sollten wir unsdarüber einig sein, daß die Ausgestaltung des Strafver-fahrensrechtes auch in seinen Details – denken wir zumBeispiel an das Beweisantragsrecht oder das Rechtsmit-telverfahren – von kaum zu überschätzender rechtsstaat-licher Relevanz ist. Deshalb sind wir gut beraten, wennwir alle Eingriffe in das gewachsene rechtsstaatlicheStrafverfahrensrecht nur mit größter Behutsamkeit vor-nehmen. Straf- und Strafverfahrensrecht vertragen esnicht, ständig in Frage gestellt und geändert zu werden.Ruhe und Kontinuität müssen gerade in hektischen Zei-ten beim Herangehen an rechtsstaatlich gewachsenesStraf- und Strafverfahrensrecht gewahrt werden.
Lassen Sie mich nunmehr einige meines Erachtensrecht bedenkliche Vorschläge aus Ihrem Entwurf auf-greifen, die auch schon in der erwähnten Sachverständi-genanhörung von kompetenter Seite heftig kritisiertworden sind.Es spricht manches dafür, die Regelvereidigung imHauptverfahren abzuschaffen, zumal diese Regelungmittlerweile ohnehin aus durchaus berechtigten Gründenzur Ausnahme geworden ist. Auf keinen Fall darf aberdie Abschaffung der Regelvereidigung im Hauptverfah-ren mit einer Erweiterung der Vereidigungsmöglichkei-ten im Vorverfahren einhergehen. Liest man dazu dieBegründung Ihres Gesetzentwurfes, wird man hellhörig.Dort heißt es wörtlich:Damit können künftig Zeugen im vorbereitendenVerfahren häufiger vereidigt werden als in derHauptverhandlung. Dies ist jedoch vielfach im In-teresse der Verfahrenssicherung geboten und ge-währleistet zudem eine zügige und straffe Durch-führung der Hauptverhandlung.Wer in dieser fast militärischen Sprache von einerHauptverhandlung in einem Strafprozeß spricht, der hatoffensichtlich wenig Ahnung, worum es hierbei geht.
Sollen etwa die Zeugen im Vorverfahren möglichstweitgehend durch Vereidigung festgelegt werden, damitsie später in der Hauptverhandlung an ihre zuvor ge-machte Aussage gebunden sind? Mit einer derartigenDr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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5678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Regelung, die letztlich zu einer erheblichen Entwertungder Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung führt,können und werden wir uns keinesfalls einverstandenerklären. Sie wären gut beraten, Ihren Vorschlag nocheinmal gründlich zu überdenken.Schon nach der geltenden Rechtslage kann ein Be-weisantrag dann abgelehnt werden, wenn er zumZwecke der Prozeßverschleppung gestellt wird. DieGerichte, die bisher bei der Anwendung dieser Vor-schrift begreiflicherweise zurückhaltend sind, sollenjetzt durch eine neue Formulierung, wonach die Prozeß-verschleppungsabsicht nur – wie es heißt – „nach derfreien Würdigung des Gerichts“ vorliegen muß, ermun-tert werden, doch öfter als bislang Beweisanträge derVerteidigung abzulehnen. Nach meinen bisherigen Er-fahrungen glaube ich nicht, daß diese von Ihnen ge-wollte Ermunterung funktionieren würde. Ich wehremich aber auch grundsätzlich gegen diese Absicht undbitte Sie, doch folgendes zu bedenken: Das Beweisan-tragsrecht der Verteidigung hat den alleinigen Sinn, dasGericht zu Beweiserhebungen zu veranlassen, die dasGericht selbst nicht für sinnvoll, nicht für zielführendund deshalb letztlich für prozeßverschleppend hält.Denn: Hielte das Gericht die Beweiserhebung selbst fürsinnvoll, würde es nach dem Amtsermittlungsgrundsatzdiese Beweise schon selbst oder wenigstens auf Anre-gung der Verfahrensbeteiligten erheben. Das Beweisan-tragsrecht ist aber ein essentielles, wenn nicht gar daswichtigste Verteidigungsrecht des Angeklagten und sei-nes Verteidigers. Wir sollten es dem Angeklagten nurdann absprechen, wenn eindeutig belegt ist, daß es nurzum Zwecke der Prozeßverschleppung genutzt wird.
Ich habe auch große Zweifel, ob Strafprozesse da-durch beschleunigt werden können, daß man bewährteRechtsmittel abschafft. Wir alle wissen, daß es einerrechtsstaatlichen Rechtspflege gut bekommt, wennmöglichst alle Entscheidungen von Gerichten durch eineweitere Instanz überprüft werden können. Aus meinereigenen Erfahrung weiß ich, daß der blaue Himmel übererstinstanzlichen Entscheidungen die Qualität derRechtsfindung nicht gerade verbessert, sondern erhebli-che Gefahren in sich trägt.Wir sollten daher vorsichtig sein, wenn wir Rechts-mittel einschränken oder abschaffen. Dies gilt für alleStrafsachen – egal, welche Strafe auch immer droht. DieVerhängung einer Strafe, auch wenn sie gering ist, istniemals eine Bagatelle und wird von den Betroffenenauch nicht als Bagatelle empfunden. Die weitaus größteZahl der Angeklagten kommt nur einmal im Leben unteranderem wegen Alltagsverfehlungen, vor allem im Stra-ßenverkehr, mit den Gerichten in Berührung. Oftmalshaben diese Verkehrsstrafverfahren, bei denen sehr häu-fig die Fahrerlaubnis auf dem Spiel steht, erheblicheAuswirkungen auf den weiteren Lebens- und Berufswegder Betroffenen, auch wenn die Geldstrafen vergleichs-weise niedrig sind. Wir sollten uns daher davor hüten,den von diesen Verfahren Betroffenen nur ein rechts-staatlich amputiertes Strafverfahren zur Verfügung zustellen.Wir haben schon immer Bedenken gegen die bereitsim Bundesratsentwurf vorgesehenen erweiterten An-wendungsmöglichkeiten für das Strafbefehlsverfahrenvorgetragen, insbesondere auch außerhalb des Zustän-digkeitsbereichs der Amtsgerichte. Es ist vorhersehbar,daß insbesondere Beschuldigte im Bereich der Umwelt-,Steuer- und sonstiger Wirtschaftskriminalität aus einererweiterten Anwendung des Strafbefehlsverfahrens ih-ren Nutzen ziehen würden. Die möglichen Verfahrens-absprachen werden vor allem Beschuldigte nutzen kön-nen, denen die entsprechenden Ressourcen und Mittelzur Verfügung stehen. Der Gerechtigkeit im Strafverfah-ren wäre dies nicht gerade dienlich.Der Entwurf schlägt außerdem eine Einschränkungder Rechtsmittelbefugnis der Nebenkläger vor, die nurnoch im Falle des Freispruchs des Täters ein Rechts-mittel haben sollen. Auch dies halten wir nicht für rich-tig. Zu Recht haben wir alle inzwischen im Bereich desOpferschutzes eine höhere Sensibilität als in früherenZeiten, in denen Opfer lediglich als Zeugen im Strafpro-zeß auszusagen hatten. Ich glaube, daß wir uns alle Fall-konstellationen vorstellen können, in denen Opfer vonStraftaten ein durchaus berechtigtes Interesse daran ha-ben können, Rechtsmittel gegen ein Strafurteil einzule-gen. Wir sollten diesem legitimen und berechtigten In-teresse auch bei der Rechtsmittelbefugnis Rechnung tra-gen.Lassen Sie mich als Fazit festhalten: Wir können andiesem Gesetzentwurf nichts entdecken, was wir imVorgriff auf die zu erwartenden Vorschläge der Bundes-regierung vorwegnehmen sollten. Verfahrensbeschleu-nigung durch Abbau von Verteidigungsrechten unddurch Einschränkung von Rechtsmitteln für ganz be-stimmte Strafverfahren ist für uns kein sinnvoller undrichtiger Weg, das Strafverfahrensrecht rechtsstaatlichvertretbar zu modernisieren. Wir müssen bei allen Re-formmaßnahmen auch darauf achten, daß alle Verfah-rensbeteiligten und insbesondere auch die einem Straf-verfahren ausgesetzten Betroffenen ihre legitimenRechte tatsächlich ausüben können. Diesem Anliegenwerden Ihre Vorschläge ganz überwiegend nicht ge-recht.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Beschleunigung von Strafver-fahren ist ein wichtiges Ziel in der Rechtspolitik, insbe-sondere deshalb, weil wir wissen, daß die Strafe einenachhaltige Wirkung auf den Täter und damit letztend-lich auch eine bessere Wirkung auf die Opfer von Straf-taten hat, wenn die Strafe der Tat sehr schnell folgt. EinTäter, der sehr schnell spürt, daß es eine Reaktion aufseine Tat gibt, wird sehr viel intensiver darüber nach-Hermann Bachmeier
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denken, ob er erneut Straftaten begeht, wodurch Men-schen Opfer seiner Taten werden.
Wer geglaubt hat, daß die Vorschläge, über die wirheute abend diskutieren, hilfreich sind, der wird bei ei-ner fachlichen Prüfung feststellen, daß es eigentlichwieder ein Herumdoktern ist, also etwas, was wir über-haupt nicht brauchen;
was wir brauchen, ist eine Reform aus einem Guß, wennwir wirklich zu Verbesserungen kommen wollen.Trotz dieser kritischen Bemerkungen will ich andeu-ten, daß wir uns in dem einen oder anderen Bereichdurchaus Änderungen vorstellen können. Das ist zumTeil bereits angesprochen worden. So gibt es in derStrafprozeßordnung immer noch die Verpflichtung, ei-nen Zeugen in der Hauptverhandlung zu vereidigen,obwohl das, wie wir alle wissen, eigentlich nicht mehrgeschieht, ohne daß dadurch ein Nachteil für die Wahr-heitsfindung einträte. Wenn das ohnehin schon Praxisist, dann darf und muß darüber diskutiert werden, obman die entsprechende strafprozessuale Vorschrift derWirklichkeit anpaßt. Das ist ein Beispiel für das, wor-über man sicherlich reden kann.Auf der anderen Seite ist für uns als F.D.P. der Op-ferschutz, eine klarere Wahrnehmung der Interessen desOpfers ganz besonders wichtig.
Ich muß sagen, da haben wir in der letzten Legislaturpe-riode in der alten Koalition ganz erhebliche Fortschritteerzielt. Ich glaube, daß sich inzwischen ein Mentalitäts-wandel dergestalt vollzieht, daß im Mittelpunkt derÜberlegungen im Strafrecht das Opfer stehen muß.
Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktionsieht zum Beispiel Beschränkungen der Rechtsmittel desNebenklägers, also auch des Opfers einer Straftat, vor.Das scheint uns genau der falsche Weg zu sein.
Wir brauchen nicht weniger Rechte für das Opfer, son-dern eindeutig mehr Rechte für das Opfer. Deshalb wer-den wir alle Überlegungen, die in Richtung Reduzierungdes Opferschutzes gehen, mit Sicherheit ablehnen.Ich glaube, wir sind in dieser Legislaturperiode auf-gerufen, zu einer Verbesserung, insbesondere zu einerBeschleunigung von Strafverfahren zukommen. Es gibtkonkrete Beispiele dafür, daß die Umsetzung von Über-legungen wirklich Früchte getragen hat. So hat zum Bei-spiel die Förderung des beschleunigten Verfahrens, diewir unter unserem Kollegen Schmidt-Jortzig als Bun-desjustizminister erreicht haben, in Stuttgart dazu ge-führt, daß der dortige, von der F.D.P. gestellte Justizmi-nister Goll dafür gesorgt hat, daß es nach den Kurden-krawallen in Stuttgart – dort wurden im Gegensatz zuHamburg damals die Personalien festgestellt – möglichwar, diese Gewalttäter im beschleunigten Verfahren in-nerhalb kürzester Zeit rechtskräftig zu verurteilen unddamit ein klares Signal für die Rechtsordnung in unse-rem Land zu setzen.
– Es war vom Gesetzgeber genau dafür gedacht, HerrKollege Danckert. Wenn Sie sich die Materialien an-schauen, dann werden Sie feststellen, daß wir unter an-derem an solche Verfahren gedacht haben.Ich wiederhole: Alle in diesen Verfahren verhängtenUrteile sind rechtskräftig geworden. Das macht deutlich,daß sie offensichtlich auch aus Sicht der Angeklagten –und dann Verurteilten – in einer rechtsstaatlichen Weiseergangen sind. Das ist der richtige Weg. Diesen Wegwollen wir als F.D.P. beschreiten, wobei wir das Opferim Mittelpunkt unserer Interessen sehen.
Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen.
Kollegen! So sehr viele scheinen hinter diesem Gesetz-entwurf nicht mehr zu stehen. Und von der CDU/CSU-Fraktion sitzen auch nicht mehr so besonders viele da-hinter. Ich weiß nicht, ob das in der letzten Legislaturpe-riode anders gewesen ist.Die erste Frage, die sich stellt, wenn man zum sound-sovielten Mal einen Gesetzentwurf vorlegt, um Strafver-fahren zu beschleunigen, ist doch die: Ist das überhaupterforderlich? Gibt es da Handlungsbedarf? Müssen dieHauptverhandlungen von Strafverfahren beschleunigtwerden, damit die Beschuldigten, die Angeklagtenschneller abgeurteilt werden können, oder hat das ganzandere Ursachen?Sie behaupten, die Strafverfahren dauerten zu lange.Die Justizministerin hat im August zwei Untersuchun-gen vorgelegt, aus denen sich ergibt, daß die Strafver-fahren in den letzten zehn Jahren überhaupt nicht längergeworden sind. Da ist auch mit einer Fehlmeldung auf-geräumt worden. Denn durch die Presse wird häufigvermittelt, es seien die bösen Rechtsanwälte, die Straf-verteidiger, die die Strafverfahren durch völlig überflüs-sige und unsinnige Anträge in der Hauptverhandlungverzögern würden, nur weil sie mehr Geld verdienenoder den Prozeß verzögern wollten.In insgesamt nur 1,7 Prozent der Fälle hat das Vertei-digerverhalten Auswirkungen auf die Dauer vonHauptverhandlungen gehabt. Das ist wirklich äußerstwenig. Es muß also ganz andere Gründe geben. DieGründe dafür, warum Verfahren oft so lange dauern,sind nicht in den Hauptverhandlungen zu suchen. Sieliegen vielmehr in den langen Vorverfahren bei derJörg van Essen
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Staatsanwaltschaft und der Polizei, betreffen also dieZeit zwischen dem Fassen eines Beschuldigten und demZeitpunkt, in dem er vor Gericht gestellt wird.Mehr als 80 Prozent der Fälle, die in erster Instanzvor dem Landgericht stattfinden, bei denen es sich alsoum schwierige Verfahren handelt, werden in ein bis dreiTagen abgehandelt. Die Hauptverhandlungen dauern in30 bis 40 Prozent dieser Fälle einen Tag und in denweiteren zirka 40 Prozent bis zu drei Tagen. All das,was die Medien berichten, ist einfach nicht richtig. Manbraucht hier nicht nachzubessern.Man darf vor allen Dingen nicht mit der Begründung,die Strafverfahren beschleunigen zu wollen, die Rechteder Angeklagten und Beschuldigten verkürzen. Daskann in sehr vielen Fällen dazu führen, daß ungerechteUrteile gefällt werden. Unsere Gesetze, insbesondereunsere Strafprozeßordnung, sind nicht dazu da, Staats-anwälten, Richtern oder Verteidigern die Möglichkeit zuverschaffen, sich gegenseitig zu ärgern, sondern sie die-nen dazu – ich weiß, wovon ich rede; ich bin in sehrvielen dieser langen Strafverfahren tätig gewesen –, dieRechte der Angeklagten zu sichern. Diese formalenRechte sind dazu da, den Angeklagten die Möglichkeitzu verschaffen, selbst oder durch ihren Verteidiger dar-auf hinzuwirken, daß ihre Rechte nicht verkürzt werden.Wenn ich mir diesen Gesetzentwurf ansehe, stelle ichfest – der Kollege Bachmaier hat darauf hingewiesen –,daß Sie in Zukunft verhindern wollen, daß ein Richterauch noch nach dem letzten Wort des Angeklagten ab-gelehnt werden kann. Das ist eine theoretische Möglich-keit, die vielleicht alle zehn Jahre einmal zum Tragenkommt. Das heißt, selbst dann, wenn Sie diese Vor-schrift in die StPO einfügen würden, würden Sie damitnichts erreichen, würden Sie in den nächsten zehn Jah-ren in keinem Verfahren eine Verkürzung erreichen.Nehmen Sie ein anderes zentrales Recht, auf das hin-gewiesen worden ist: Ein Angeklagter bzw. sein Vertei-diger kann auf den Gang der Hauptverhandlung im we-sentlichen nur dadurch einwirken, daß er Beweisanträgestellt, also sagt, er habe noch einen Zeugen, ein Papier,eine Filmaufnahme oder einen Sachverständigen; nachdessen Anhörung bzw. Ansicht sehe die Sachlage ganzanders aus, dann sei klar, daß der Angeklagte mit derSache nichts zu tun habe oder sich der Sachverhalt ganzanders darstelle. Genau das wollen Sie erschweren bzw.verhindern. Sie wollen den Richtern – es geht in Ge-richtssälen häufig sehr kontrovers zu – die Möglichkeitverschaffen, allein nach ihrem Ermessen einem Beweis-antrag nicht stattzugeben, wenn sie meinen, daß der Be-weisantrag nur zur Prozeßverschleppung gestellt wordensei. Wenn ein Richter das allein nach seinem Ermessenentscheiden kann, hat das zur Folge – das kann nur einJurist wissen –, daß die revisionsrechtliche Überprüfungdurch die nächste Instanz so gut wie unmöglich ist.Auch für weitere Punkte Ihres Vorschlages gilt: VieleVorschläge sind völlig ungeeignet. Wenn Sie zum Bei-spiel die Fristen, in denen Strafverfahren ausgesetzt oderunterbrochen werden können, verkürzen wollen, dientdas nicht der Beschleunigung der Verfahren, aber esverkürzt die Rechte der Angeklagten.Deshalb sage ich: Für uns Bündnisgrüne ist der Ge-setzentwurf, so wie er hier vorliegt, überflüssig. Er istungeeignet, weil er die Rechte der Angeklagten und Be-schuldigten verkürzt. Deshalb ist er sogar doppelt über-flüssig, deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.Wir können darüber beraten und sehen, ob das eine oderandere in eine andere Reform übergeleitet werden kann.So jedoch darf der Gesetzentwurf nicht verabschiedetwerden.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Evelyn Kenzler von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Beschleunigungs-grundsatz wird zu Recht als eine Maxime des Strafver-fahrens angesehen, denn eine zeitnahe Hauptverhand-lung führt zu einer qualitativen Verbesserung der Straf-rechtspflege. Die präventiven Momente des Strafrechtskönnen dadurch besser zur Geltung gebracht werden alsbei einem großen zeitlichen Abstand zwischen derStraftat und der Verhandlung. Es gab in der Vergangen-heit bekanntlich mehrere Versuche, durch eine Vielzahlvon Justizentlastungsgesetzen die Verfahrensdauer zuverkürzen. Gezeigt hat sich jedoch, daß nur punktuelleÄnderungen zu kurz greifen.Mit dem vorliegenden Entwurf will die CDU/CSU-Fraktion offenbar durch eine Vielzahl kleiner Änderun-gen große Wirkung erzielen. Einige der Vorschläge,zum Beispiel die Abschaffung der Regelvereidigung inder Hauptverhandlung oder Vereinfachungen im Er-mittlungsverfahren, können Entlastungseffekte bewir-ken. Bei anderen Regelungen wie Eingriffen in dasRecht der Richterablehnung oder in das formelle Be-weisantragsrecht habe ich jedoch auf Grund der Unbe-stimmtheit und der Einschränkung von Verfahrensrech-ten erhebliche Bedenken, weil die Gefahr besteht, daßsich einzelne Richter, beispielsweise wegen ihrer per-manenten Arbeitsüberlastung, zu einer sachwidrigextensiven Auslegung verleiten lassen könnten. Auchbei der Einschränkung des Begründungszwangs von ge-richtlichen Entscheidungen plädiere ich sehr für Vor-sicht. Denn wo Begründungen fehlen oder unzureichendsind, wird es der Entscheidung auch an Überzeugungs-kraft mangeln und ein unsicherer Rechtsfrieden besten-falls kraft Autorität, jedoch nicht kraft rechtsstaatlicherArgumente eintreten. Wegen dieser methodischen undinhaltlichen Bedenken können wir dem vorliegendenEntwurf nicht zustimmen.Für wichtig und notwendig halte ich Änderungen imRechtsmittelbereich. Die vorgeschlagenen Änderungenreichen jedoch nicht aus und sind zum Teil rechtsstaat-lich bedenklich. Darauf hat bereits der Kollege Bach-maier ausführlich hingewiesen. Es geht vielmehr um einstimmiges Konzept der Funktionsdifferenzierung undder Straffung der Instanzen. Der bisherige Instanzenzughat in der Vergangenheit gerade auf Grund der ZeitdauerHans-Christian Ströbele
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bis zur Rechtskraft eines Urteils immer wieder für Kritikgesorgt.Ich erwarte daher mit Spannung das von der Bun-desjustizministerin angekündigte Reformmodell. Be-kanntlich liegt seit Sommer dieses Jahres ein ausführli-ches Gutachten über die Dauer von Strafverfahren vor.Dieses Gutachten hat meines Erachtens sehr deutlichgemacht, daß die Rechtsmittelfrage in eine grundlegendeReform des Verfahrens – von der Einleitung polizeili-cher Ermittlungen bis zu einer rechtskräftigen Entschei-dung – eingebettet werden muß. Die größten zeitlichenReserven liegen nämlich in der Regel nicht im Haupt-verfahren und auch nicht in der Hauptverhandlung, son-dern im Ermittlungsverfahren.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1714 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L.
Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht
– Drucksache 14/1335 –
Überweisungsvorschlag:
Nichtsdestotrotz müssen wir uns mit der Frage der Ab-schaffung der Arbeitserlaubnispflicht zwingend be-schäftigen. Denn die Arbeitserlaubnispflicht hat sich zueinem Arbeitsverhinderungsrecht verändert.Wir verfolgen mit unserem Antrag fünf Ziele: Wirwollen die Schwarzarbeit vermindern, die Besetzung of-fener Stellen erleichtern oder zumindest beschleunigen,die öffentlichen Haushalte entlasten, die Verwaltungvereinfachen und nicht zuletzt die Menschenrechte derbetroffenen Personen stärken.
Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen – auchaus meinem Erleben als ehemaliger Arbeitsvermittler –kurz das Verfahren, wie eine Arbeitserlaubnis erteiltwird. Hinterher werden Sie mir zustimmen müssen, daßdieses Verfahren zumindest hinterfragt werden muß.Ein Ausländer, der sich legal in diesem Land aufhält– es geht also nicht um Touristen oder um illegal Einge-reiste –, läuft durch die Gegend, weil er den ganzen Taglang nichts zu tun hat. Er findet einen Arbeitgeber, dereinen Arbeitsplatz zu besetzen hat. Er würde diesen Ar-beitsplatz gern annehmen, und die beiden werden sicheinig. Dann sagt der Arbeitgeber allerdings: Du mußtnoch zum Arbeitsamt gehen, du brauchst eine Arbeits-erlaubnis.Nun geht der arme Mensch zum Arbeitsamt und sagt,er habe einen Arbeitsplatz gefunden – von diesem Ar-beitsplatz hat der Arbeitsvermittler vielleicht noch garnichts gewußt –, und bittet um eine Arbeitserlaubnis.Daraufhin sagt der Arbeitsvermittler: So geht das nicht,wir müssen erst einmal einen Vermittlungsauftrag ha-ben, weil wir mindestens vier Wochen lang prüfen müs-sen, ob es nicht eventuell bevorrechtigte Arbeitnehmergibt. Der Arbeitsvermittler ruft den Arbeitgeber an underklärt ihm, er brauche einen Vermittlungsauftrag. DerArbeitgeber fragt natürlich, wozu ein Vermittlungsauf-trag nötig sei, da er jemanden für diesen Arbeitsplatzhabe. Er stellt dann aber ziemlich schnell fest, daß derArbeitserlaubnisantrag wegen fehlender Mitwirkung ab-gelehnt werden würde, wenn er diesen Standpunkt wei-ter verträte, woraufhin er den Vermittlungsauftrag er-teilt.Gesetzt den Fall, es handelt sich um eine Stelle alsSpülhilfe oder als Lagerhelfer, wird es bei der gegebe-nen Arbeitsmarktsituation einige Bewerber im Computerdes Arbeitsamtes geben, die diese Tätigkeit theoretischausüben könnten. Der Arbeitsvermittler macht Vor-schläge und schickt in der Prüffrist, die, wie gesagt,mindestens vier Wochen läuft, 10, 20, 40, 50 bevorrech-tigte Bewerber zu dem Arbeitgeber, Bewerber, die dieseTätigkeit vielleicht gar nicht ausüben wollen, sondernnur hingehen, weil sie hingehen müssen und Angst umihren Leistungsbezug haben. Der Arbeitgeber wird na-türlich mit der Besichtigung dieser Personen beschäftigt;guckt er sie sich nicht ordentlich an, kommt er seinerMitwirkungspflicht nicht nach, und der Arbeitserlaub-nisantrag wird abgelehnt.Wenn bis dahin alle Beteiligten keinen Fehler ge-macht haben, kann der Arbeitsvermittler nach frühestensvier Wochen sagen, aus arbeitsmarktlicher Sicht bestehekeine Veranlassung, die Arbeitserlaubnis abzulehnen.Danach geht das Ganze seinen verwaltungstechnischenVerfahrensgang, was natürlich auch noch einige Zeit inAnspruch nimmt, bis dann dieser arme Ausländer seinenDr. Evelyn Kenzler
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Arbeitsplatz bei dem Arbeitgeber, falls er diesen für ihnso lange freigehalten hat, einnehmen kann.Bei diesem Verfahren, meine Damen und Herren,können Sie sich gut vorstellen, daß sich in nicht ganzwenigen Fällen der Arbeitgeber und der Arbeitsu-chende tief in die Augen schauen und andere Wege fin-den, wie sie miteinander ins Geschäft kommen, was zurFolge hat, daß sich der Ausländer, da er sich legal in un-serem Land aufhält und irgendeinen Leistungsanspruchan irgendeine öffentliche Kasse hat – sei es nach demAsylbewerberleistungsgesetz, sei es nach irgendeineranderen Regelung –, als Schwarzarbeiter dort nicht ab-meldet. Das heißt, er zahlt nicht nur keine Steuern undkeine Sozialabgaben, sondern bezieht auch selbstver-ständlich weiterhin Sozialleistungen. Das könnten wirmit der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht verhin-dern.
Wir könnten auch verhindern, wenn wir die Arbeits-erlaubnispflicht endlich abschafften, weil sie anachroni-stisch ist, daß Arbeitsplätze nicht oder nicht zeitgerechtbesetzt werden. Wir könnten verhindern, daß allein beider Bundesanstalt für Arbeit im Kernbereich der Er-teilung von Arbeitserlaubnissen 685 Beschäftigte mitdieser Aufgabe zu tun haben, wobei die Arbeitsvermitt-ler, die das gesamte Verfahren der Arbeitsmarktprüfungdurchführen, noch nicht mitgezählt sind. Wir könntenverhindern, daß diese Menschen unnötig absorbiert undvon ihrer eigentlichen Aufgabe abgehalten werden. Wirkönnten verhindern, daß bei diesem abstrusen Verfah-ren, das übrigens auch bei der Verlängerung von Ar-beitserlaubnissen gilt, also in bestehende Beschäfti-gungsverhältnisse eingreift, das Verhältnis zwischenArbeitsvermittler und Arbeitgeber so sehr geschädigtwird, daß der Arbeitgeber vielleicht gar keine Lust mehrhat, die Bundesanstalt irgendwann noch einmal einzu-schalten. Wir könnten verhindern, daß Menschen, die indiesem Land arbeiten wollen und können, gezwungenwerden, am Tropf der Sozialkassen zu hängen. Wirkönnten schließlich dafür sorgen, daß diese Menschen ineinem Land, in dem sie sich legal aufhalten dürfen, fürdie Dauer ihres legalen Aufenthaltes ein Stück mehrMenschlichkeit verspüren. Wir könnten mit einem ein-zigen Antrag fünf wichtige Ziele erreichen.Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, daßdie Bundesregierung einen Arbeitskreis eingerichtet hat,der sich mit der Frage der Arbeitserlaubnis fürFlüchtlinge beschäftigt. Ich fordere Sie auf, Kollegin-nen und Kollegen von der Koalition, springen Sie überIhren Schatten, beschäftigen Sie sich nicht nur mit ei-nem Segment, gehen Sie den ganzen Weg und sorgenSie dafür, daß zum Beispiel der Familiennachzügler, derhier vier Jahre lang Sozialhilfe beziehen darf, auch ar-beiten kann. Heute darf er es nicht. In Amerika darf mansofort arbeiten, bekommt aber vier Jahre lang keine So-zialleistungen. Das ist vernünftiger.
Lassen Sie den Menschen, wenn sie hierher kommen,die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen. Keinem ein-zigen Deutschen – seien wir ehrlich – wird dadurch derArbeitsplatz weggenommen. Wenn wir die Kollegen inden Arbeitsämtern einmal zur Seite nehmen und mit ih-nen unter vier Augen sprechen, dann wird deutlich, daßdas ein Stammtischgerücht ist. Ein anderes Stammtisch-gerücht würde dadurch auch beseitigt: Die Ausländerschaffet ja nix, aber Geld krieget se. Nein: Se dürfet nixschaffe!
Das bekommen wir auch weg. Deswegen hoffe ich aufeine sehr breite Unterstützung über alle Fraktionsgren-zen in diesem Haus, weil das wirklich eine sinnvolle Sa-che ist.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Olaf Scholz von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Ich glaube, daß es zu der Frage, die wir hierzu diskutieren haben, zwei Zugänge gibt. Der eine Zu-gang ist, daß man über Integrationspolitik diskutiert, derandere ist, daß man über Arbeitsmarktpolitik spricht.Der Zugang, den die F.D.P. gewählt hat, ist eine be-stimmte Vorstellung vom Arbeitsmarkt. Das ist in derTat nichts, was mit der Situation von Ausländern in un-serem Lande zu tun hat.Diese arbeitsmarktliche Sicht hat auch dazu geführt,daß Sie ganz verquere Ansichten in diesen Antrag hi-neingeschrieben
haben und deshalb zu sehr eigenwilligen Ansichten ge-kommen sind. Wenn man sich das einmal anguckt, wasSie hier schreiben, dann merkt man: Sie verbrämen dasin dem Antrag, den Sie geschrieben haben, nicht. Esheißt gleich zu Anfang:Die Abschaffung ist weiterhin eine effektive Maß-nahme zur Deregulierung des Arbeitsmarktes.
Dort ist sie die liebe Göttin der F.D.P.: die heilige Dere-gulierung. Das macht den eigentlichen Sinn und Inhaltdieses Antrages aus. Ich glaube, daß das der Grund ist,warum man mit dem Vorgehen, das Sie hier vorschla-gen, nicht zurechtkommen kann und warum es abzu-lehnen ist.
Wenn man sich im übrigen anschaut, was Sie unsüber deutsche Arbeitslose mitteilen, dann ist das sehrDirk Niebel
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interessant. Es heißt hier, die Deutschen oder inländi-schen Arbeitskräfte seien nicht geeignet, weil sie zu we-nig motiviert oder zu wenig qualifiziert seien, weil dieArbeit zu geringe intellektuelle Ansprüche erfülle, zuhohe körperliche Belastungen mit sich bringe,
der Lohn auf die Sozialleistungen angerechnet werdeoder es keinen angemessenen Abstand zwischen Lohnund Sozialleistungen gebe.Das sind sehr deutliche Aussagen und Vorstellungenüber den Arbeitsmarkt, die Sie hier vorbringen. Das sindAussagen, die man bewerten muß, weil dadurch nämlichdeutlich wird, worum es Ihnen hier geht: Sie wollen eineweitere Möglichkeit schaffen, Einfluß auf das Lohn- undGehaltsgefüge in unserem Lande, auf die Möglichkeitenund Arbeitsbedingungen in unserem Lande zu nehmen,
und das reiht sich letztendlich in die Sachen ein, die Siein diesem Lande mit Ihrer Politik schon immer gemachthaben.
Herr
Kollege Scholz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Herr Kollege Scholz, ich bin
über Ihre bisherigen Ausführungen ein bißchen ent-
täuscht. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, weil ich diesen
Antrag selbst geschrieben habe –
– nun warten Sie einmal, wie es weitergeht –, wenn Sie
mir in diesem Antrag die Passagen, auf die Sie sich be-
ziehen, zeigen könnten, in denen nämlich steht, daß
Nichtdeutsche geringer entlohnt werden sollen als Deut-
sche.
Ich habe Ihnen die Passage, umdie es geht, gerade vorgelesen und halte es im Sinne ei-nes zügigen Ablaufs für hilfreich, daß ich es nicht wie-derhole. Da Sie den Antrag selbst geschrieben haben,können Sie es selber nachschauen. Es ist der vierte Ab-satz in Ihrer Begründung.
Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was Siehier an arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen haben,und will durchaus darauf hinweisen, daß sich das, washier geschieht, in eine längere Tradition einreiht. Wirhaben mit den Werkvertragsarbeitsverhältnissen eineSituation in diesem Lande, die nicht unproblematisch istund bei der uns schon aufgefallen ist, daß der eine oderandere sie nicht aus den einen oder anderen hehren Er-wägungen gefördert hat, etwa um die neuen osteuropäi-schen Demokratien zu unterstützen, sondern daß es dar-um ging, Einfluß auf das Lohn- und Gehaltsgefüge einerganz konkreten Branche zu nehmen, nämlich der Bauin-dustrie.Wenn man sich heute die Wirtschaft in diesem Be-reich anschaut, dann wird man feststellen, daß das, wasdamals unternommen worden ist, erfolgreich war. Es istgelungen, einen ganz substantiellen Arbeitsmarkt mitAusländern und Deutschen, gewissermaßen Inländern,zu zerstören, viele arbeitslos zu machen. Sie müssengleichzeitig mit ansehen, daß die auf diese Weise demArbeitsmarkt zugeführten Werkvertragsarbeitskräfteauf den Baustellen tätig sind. Dies ist meistens nichtalleine der Fall, denn um diese ganze Struktur herumgruppiert sich doch ein ganz erhebliches Maß anSchwarzarbeit.Ähnlich kann man auch einen anderen Fall betrach-ten, nämlich die Diskussion über das Entsendegesetz.Diese Diskussion ist wichtig gewesen. Uns ging esdarum, sicherzustellen, daß derjenige, der hier im Landearbeitet, gleich welcher Nationalität er ist, Löhne be-kommt, die hierzulande erforderlich und üblich sind.Diesen Gesetzen haben Sie nie etwas abgewinnenkönnen, schon gar nicht den Neuregelungen, die wirjetzt zustande gebracht haben und die, wie erste Berichtezeigen, sehr wohl positive Wirkungen auf die Arbeits-marktsituation am Bau haben. Auch in diesem Fall ha-ben Sie das Ausländerrecht und die Möglichkeiten, diedort bestehen, benutzt, um auf die ArbeitsmarktsituationEinfluß zu nehmen. Es hat Sie nichts motiviert, was inirgendeiner Weise mit Integration zusammenhängt.Vielmehr haben Sie eine ganz klare Vorstellung davon,was auf dem Arbeitsmarkt in diesem Lande geschehensoll.Deshalb ist es mir wichtig, einmal darauf hinzuwei-sen, daß die Überlegungen, die Sie anstellen, keines-wegs ausländerfreundlich sind. Denn die Hauptbetroffe-nen einer vollständig ungeregelten Lösung in diesemBereich sind Ausländer, die hierzulande leben, die zwarüber geringe Qualifikationen verfügen, die aber bereitsind, Arbeit mit geringen Löhnen in bestimmtem Rah-men nachzufragen und die sehr wohl auf dem Arbeits-markt vermittelbar sind. Diesen verschaffen Sie durcheine unkluge Politik in solchen Fragen im Regelfall einezusätzliche Konkurrenz. Ihre Vermittelbarkeit auf demArbeitsmarkt wird eingeschränkt.Insofern kann man Ihren Vorschlag keineswegs unterAusländerfreundlichkeit oder Integration verbuchen.Das ist mein eigentliches Argument: Der F.D.P.-Antragist eigentlich ein Antrag zur Veränderung des deut-Olaf Scholz
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schen Arbeitsmarktes und kein Antrag zur Integrationvon Ausländern.
Wie weit Sie gehen wollen, kann man am Ende IhresAntrages sehen,
wo der Antrag – übrigens fachlich abweichend von dem,was Sie am Anfang schreiben – besagt: Alle Ausländer,die sich nicht als Touristen oder illegal in Deutschlandaufhalten, sollen arbeitserlaubnisfrei gestellt werden.Man darf sich, egal wie man zu diesen Fragen eingestelltist, nicht die Vorstellung machen, daß das keine Aus-wirkung auf das hätte, was in unserem Lande geschieht.Denn dadurch würde ein ganz gewaltiger Zuwande-rungsdruck, ein Interesse an den verschiedenen Mög-lichkeiten, Zuwanderung zu organisieren, sich hierzu-lande aufzuhalten und auf den Arbeitsmarkt zu gelan-gen, entstehen. Auch dabei ist Ihre Absicht sehr deut-lich.
Herr
Kollege Scholz, erlauben Sie eine weitere Zwischenfra-
ge des Kollegen Niebel?
Eine weitere Zwischenfrage,
bitte.
Bundestagsabgeordneter, Frau
Kollegin.
Herr Kollege Scholz, Sie haben eben eines der Ar-
gumente genannt, die immer wieder gegen die Abschaf-
fung der Arbeitserlaubnispflicht vorgebracht werden,
nämlich eine eventuelle Erhöhung der Sogwirkung, nach
Deutschland zu kommen und hier zu arbeiten. Würden
Sie mir zustimmen, daß für jemanden, der sich in wirt-
schaftlicher Not befindet und der nach Deutschland
kommen wollte, schon die Leistungen nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz ein Anreiz sein könnten, und
würden Sie mir weiter zustimmen, daß dieses Gesetz,
das eine Zuwanderung verhindern sollte, das offenkun-
dig nicht geschafft hat?
Es gibt sicherlich den einen oderanderen, der wegen Leistungen, die er hier bekommenkann, hierher kommt. Darüber macht sich niemand et-was vor. Viele, die sich hierzulande aufhalten und Asylbeantragen, kommen aber deshalb, weil sie dafür einenguten Grund haben. Das darf in den Diskussionen nieuntergehen. Insofern gibt es sehr unterschiedliche Moti-ve.Aber es ist ganz offensichtlich, daß es Folgen fürZuwanderungsinteressen hat, wenn jemand sich hier alsAsylbewerber aufhalten kann und relativ schnell die Be-rechtigung bekommt, hier einer Arbeit nachzugehen.Darüber muß man sich nichts vormachen. Das sprichtsich überall herum. Ein ehrlicher, ernster und integrati-onsorientierter Ausländerpolitiker würde deshalb Vor-schläge dieser Art nicht entwickeln.
Ich will deshalb sagen, worum es uns geht. Uns gehtes eben nicht darum – was den Inhalt des F.D.P.-Antrages ausmacht –, den Versuch einer weiteren Ver-änderung der Lohnstrukturen auf dem deutschen Ar-beitsmarkt zu machen.
Uns geht es darum, Integrationsbemühungen zu fördern.In der Tat sind die gegenwärtigen Regelungen – dienicht wir erfunden haben, um das hinzuzufügen – nichtin jeder Hinsicht dazu geeignet. Ganz offensichtlich be-stehen viele bürokratische Hemmnisse, die nicht nötigsind. Offenkundig ist es so: Man muß ganz unterschied-liche Zeiten abwarten, bis man sich auf dem deutschenArbeitsmarkt bewegen kann.Aus diesem Grunde muß es darum gehen, hier zu ei-ner Rationalität zu kommen und eine Lösung voranzu-bringen, die beides erfüllt: einerseits keine zusätzlichenVeränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt darzu-stellen und andererseits denjenigen, die sich dauerhafthier in Deutschland aufhalten und von denen wir wissen,daß sie sich trotz eventuell ungesicherten Aufenthalts-status über längere Zeit hier aufhalten werden, einfacherdie Möglichkeit zu geben, am deutschen Arbeitsmarktteilzunehmen.
An einer solchen Lösung, die integrationsorientiert undnicht arbeitsmarktorientiert ist, arbeiten wir, und darüberdenken wir nach.
Aber diese Arbeit verlangt sorgfältige Überlegungen.Eine solche Lösung kann man nicht so einfach machen.Abschließend möchte ich zusammenfassen: Der An-trag der F.D.P. hat mit Ausländerpolitik und mit Inte-gration nichts zu tun. Mit dem Antrag soll bezwecktwerden, daß Einfluß auf den deutschen Arbeitsmarktgenommen werden kann. Dies lehnen wir ab. Deshalbwerden wir auch Ihren Antrag ablehnen.
Olaf Scholz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5685
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Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Heinz
Schemken von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem Antrag „Ab-schaffung der Arbeitserlaubnispflicht“ spricht dieF.D.P.-Fraktion einen Konflikt an, mit dem wir lebenund – davon bin ich fest überzeugt – auch noch lange le-ben müssen. Auf der einen Seite gibt es eine große Zahlvon Arbeitslosen, die saisonbereinigt – ich möchte hiernicht eine Diskussion über den Arbeitsmarkt entfachen –sogar steigt. Auf der anderen Seite gibt es Asylbewer-ber, Kriegsflüchtlinge und Bürgerkriegsflüchtlinge, diesicherlich auch gerne einen Arbeitsplatz einnehmenmöchten. Vor Ort bitten uns Unternehmer, Handwerker,Händler und die Gastronomen ständig: Helft uns bei ei-ner Genehmigung. Auf der anderen Seite ist es so, daßvon der großen Zahl der Arbeitslosen auch welche ver-mittelt werden sollen. Auf diesen Konflikt möchte ichhinweisen. Zu diesem Konflikt – so sehe ich es wenig-stens – ist festzustellen, daß der Frust bei den Unter-nehmern groß ist. Diese sagen: Ich habe hier eine Frauund einen Mann an der Maschine beschäftigt, die guteArbeit leisten. Diese Arbeitskräfte kann ich nicht erset-zen, und die Arbeitsverwaltung schickt niemanden.Deshalb wird – ich sage dies ausdrücklich – oft auf qua-lifizierte arbeitssuchende Asylbewerber und Flüchtlingezurückgegriffen. Ich sehe das nicht nur unter Lohnge-sichtspunkten.
– Ja, ich sage das hier.Vor Ort wenden sich die Betroffenen – verständli-cherweise – mit der Bitte an einen – diese Erfahrungwird jeder in seinem Wahlkreis gemacht haben –: Hel-fen Sie mir doch! Ja, ich möchte arbeiten! Die Unter-nehmer sagen dagegen: Ich habe eine gute Arbeitskraft,die ich nicht einfach durch einen anderen Arbeitslosenersetzen kann, weil dieser möglicherweise nicht dieselbeLeistung bringt. Das sind zwei legale Interessen,
die hier aufeinandertreffen. Die Situation vor Ort istnicht einfach. Ich sage ausdrücklich: Das, was zusam-mengehört, müßte auch zusammenkommen. Aber das istnicht so. Der eine hat bereits Arbeit. Der Chef ist mitihm zufrieden und möchte mit ihm weiter zusammen-arbeiten. Beide haben ihre legitimen Interessen. Dasstimmt. Aber es gibt auch noch das große Heer der ar-beitslosen Deutschen, EU-Bürger und der lange hier an-sässigen ausländischen Mitbürger. Zur Zeit kann dieserKonflikt zwischen den Interessen, die hier aufeinander-prallen, nicht einfach gelöst werden, auch nicht durchden Antrag der F.D.P.-Fraktion, Herr Niebel, so nett undlieb er auch formuliert ist. Ich gehe davon aus, daß Sieauch auf die Initiative des Flüchtlingsrats von NRW Be-zug genommen haben. Vor diesem Hintergrund könnteman ja darüber reden.
Schon über 1,2 Millionen Menschen haben inDeutschland schon einen Arbeitsplatz gefunden, sei esüber Saisonarbeit, über Zeit- oder Werkverträge. Die-se müssen wir in einem Arbeitsmarkt verkraften, der oh-nehin durch die hohe Arbeitslosigkeit unter Druck steht.– Ich will das Thema einmal darstellen. Insofern lassenSie sich das doch gefallen, wenn ich argumentiere.Die Zahl derer, um die es in diesem Konflikt geht, istwirklich gering; sie liegt weit unter 100 000, weit dar-unter. Diese Zahl bezieht sich auf die in dem Verfahrenbeschiedenen Anträge; das Verfahren sehe ich im übri-gen auch so wie Sie. Wir brauchen nicht in diesem MaßeArbeitskräfte von außen, solange wir Menschen von in-nen, wie ich soeben dargestellt habe, in Arbeit zu brin-gen haben.Vorrang hat die Vermittlung der Arbeitslosen. Eswäre natürlich zu wünschen – das sage ich hier aller-dings auch –, daß die Arbeitslosen, damit es nicht zudem Frust von Arbeitgebern, von Handwerkern, von Ga-stronomen und anderen kommt, die ihnen angeboteneArbeit auch annehmen. Ich sage das ausdrücklich: Daswäre sehr gut. Das wäre für die Betroffenen gut, das wä-re auch für die Unternehmen gut. Dadurch würde näm-lich dieser Konflikt nicht so hervortreten.Diese Zusammenhänge kann man dem Bürger drau-ßen kaum erklären; ich sage das ausdrücklich. Auf dereinen Seite steht die große Zahl der vorhandenen Ar-beitslosen, auf der anderen Seite plagen wir uns hierdamit herum, weitere Menschen in den Arbeitsmarkteinzuführen. Da fragen auch die Bürger draußen – HerrNiebel, Sie haben es soeben für die andere Seite gesagt –,ob wir das eigentlich nicht regeln. Sie fragen: RegelnSie nicht, daß die, die jetzt schon über lange Zeit ar-beitslos sind, dann, wenn sie einen Arbeitsplatz ange-boten bekommen, diesen auch annehmen?
Dies ist auch ein Thema.Deswegen sage ich: Angesichts der Logik und ange-sichts der vier Millionen Arbeitslosen, die wir nach wievor in der Bundesrepublik Deutschland haben, bleibt unsaugenblicklich keine andere Wahl – man kann über Mo-difizierungen sprechen –, als dieses Gesetz und dieseRegelung, auch wenn wir sie uns vor Ort auch immerwieder genauer anschauen müssen, nämlich die Arbeits-erlaubnispflicht, beizubehalten. Ich kann deshalb, HerrNiebel, für die CDU/CSU-Fraktion sagen, daß wir die-sem Antrag so nicht folgen können.
– Ja. – Herr Präsident, Sie gestatten das, weil das HerrGilges war. Herr Gilges, wir machen so etwas gründli-cher. Das wollte ich Ihnen auch einmal sagen. Die Men-schen draußen sprechen nämlich gerade auf diesem Fel-de eine sehr einfache Sprache, und es wäre bedauerlich,Herr Gilges, wenn ich die Sprache hier in Ihrem Beisein
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5686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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übernehmen würde. Das tue ich nicht. Ich wollte das,was ich sagte, begründen.Schönen Dank.
Alsnächste Rednerin hat die Kollegin Marieluise Beckvon der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Im deutschen Arbeitsgenehmigungsrecht spiegelt sichsehr genau die Geschichte der Zuwanderung nachDeutschland wider: von der gezielten Anwerbung aus-ländischer Arbeitnehmer zum Anwerbestopp, von denAusnahmen zum Anwerbestopp bis hin zu den Werk-vertragsabkommen, von der Zulassung von Saisonarbeitzu den Regelungen des Asylkompromisses.Dieses historisch gewachsene Recht ist entsprechenddifferenziert, und das heißt zugleich auch, es ist unüber-sichtlich. Unter der alten Bundesregierung und mit IhrerBeteiligung, meine Damen und Herren von der F.D.P.,wurde das Arbeitsgenehmigungsrecht eine Wissenschaftfür sich, die nicht nur die betroffenen Ausländer, son-dern auch die durchschnittlichen mittelständischen Un-ternehmer überfordert. Die Unübersichtlichkeit und dieUnsicherheit bei den Arbeitgebern führt immer wiederdazu, daß auch Ausländer, denen der deutsche Arbeits-markt an sich offensteht, nicht eingestellt werden. Sowirkt das Recht in der Tat oft diskriminierend.Vor diesem Hintergrund hat der Vorschlag derF.D.P., das Arbeitsgenehmigungsrecht einfach abzu-schaffen, durchaus einen gewissen Charme.
Dies würde zumindest einen beträchtlichen Abbau anBürokratie bedeuten. Aber man kann diesen Vorschlagnicht ohne den gleichfalls von der F.D.P. eingebrachtenEntwurf für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz le-sen.
Dieser Gesetzentwurf, der ja wesentlich unverstellter ar-gumentiert als der Antrag, der uns heute vorliegt, hatseine Tücken.Die Liberalen können das Arbeitsgenehmigungsrechtnämlich nur so freiweg abschaffen, weil sie den Zugangzum deutschen Arbeitsmarkt sehr rigide über die Quotie-rung von Zuwanderung regeln wollen. Sie tun dies aufeine Art und Weise, die nun ganz und gar nicht mehrliberal, geschweige denn sozial ist.
Über die Quoten wollen sie die wirtschaftlichen Interes-sen der Bundesrepublik mit den humanitären Ver-pflichtungen und der Verpflichtung zum Schutz der Fa-milie verrechnet wissen. Diesen Weg gehen wir nichtmit.Richtig bleibt die Einsicht, daß im Arbeitsgenehmi-gungsrecht etwas passieren muß. Dabei können wir unsnicht so einfach über die aktuelle Situation auf dem Ar-beitsmarkt hinwegsetzen. Wir können nicht einfach dieGrenzen öffnen und jeden, der Arbeit sucht, ins Landbitten. Das hieße, die Augen vor den Realitäten des Ar-beitsmarktes zu verschließen.Aber – dieses Aber möchte ich sehr groß geschriebenwissen – wir müssen bei einer Revision des Arbeitsge-nehmigungsrechtes die Idee der Integration in denMittelpunkt rücken; wir müssen diese Idee zum zentra-len Kriterium auch im Arbeitsgenehmigungsrecht ma-chen.Der größte Teil der in Deutschland beschäftigtenAusländer hat schon jetzt einen unbeschränkten Zugangzum Arbeitsmarkt: Neben Unionsbürgern sind dies vorallem Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus, dieschon lange hier leben, und Jugendliche, die hier einenSchulabschluß oder eine Ausbildung gemacht haben. Essind aber auch Menschen, die nach der Genfer Flücht-lingskonvention als Flüchtlinge gelten, Asylberechtigte,und es sind Ehegatten, die zu Deutschen nachziehen. Beiall diesen Menschen geht man richtigerweise davon aus,daß, wer langfristig hier lebt, auch hier arbeiten könnensoll.Es gibt jedoch Gruppen, die gezielt außen vor gehal-ten werden. Es geht vor allem um Asylbewerber, um ge-duldete Flüchtlinge und um Flüchtlinge aus Bürger-kriegsregionen wie dem Kosovo. Für diese Gruppen istder Arbeitsmarktzugang im Arbeitsgenehmigungsrechtgleich mehrfach beschränkt: erstens durch Wartefristen,zweitens durch den Grundsatz der Nachrangigkeit unddrittens durch den globalen Arbeitsmarktvorbehalt, derden Arbeitsverwaltungen die Möglichkeit eröffnet, aufGrund von Arbeitsmarktdaten die Schotten dichtzuma-chen. Hier reicht das Motto „doppelt genäht hält besser“offensichtlich nicht aus.Hinzu kommt der sogenannte Clever-Erlaß von1997, benannt nach einem Abteilungsleiter im BMA.Diese Weisung an die Arbeitsverwaltung, die noch im-mer in Kraft ist, verwehrt seit Mai 1997 allen neu einrei-senden Asylbewerbern und Geduldeten jeglichen Zu-gang zum Arbeitsmarkt. Sie wirkt in der Tat wie einZwang zur Sozialhilfe und läuft damit nicht nur denZielen des Asylkompromisses von 1993 zuwider. Sienimmt Menschen, die aus den unterschiedlichsten Grün-den nicht in ihre Heimatländer zurückkehren kön-nen, jegliche Möglichkeit der eigenständigen Unter-haltsicherung und damit jegliche Perspektive. Hier be-darf es kurzfristig einer Korrektur, die wir vornehmenwerden.Wir brauchen ein geändertes Arbeitsgenehmigungs-recht als Teil einer Integrationspolitik; denn ohne einenZugang zum Arbeitsmarkt ist Integration nicht zu errei-Heinz Schemken
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5687
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chen. Dies werden wir von der Koalition in den nächstenMonaten angehen.Schönen Dank.
Die
Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion hat ihre Re-
de zu Protokoll gegeben.*) Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1335 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Wolfgang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim
Schmidt , Günter Baumann, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetzes
– Drucksache 14/544 –
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes
– Drucksache 14/1517 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Cornelia Pieper, Dr. Karlheinz Gutt-
macher, Joachim Günther , weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der F.D.P. ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes
– Drucksache 14/1540 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 14/1876 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wieland Sorge
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
*) Anlage 3
Als erster Redner hat der Kollege Wolfgang Dehnel
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Auch im verkehrspolitischenBereich hat das Versagen der jetzigen BundesregierungMethode. Sie hat schlicht vergessen, daß das Ver-kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zum Jahres-ende ausläuft.
Wie können Sie sonst den Bürgern und uns in diesemHaus erklären, daß erst jetzt, sechs Monate nach demEinbringen des CDU/CSU-Entwurfs und nach heftigenAuseinandersetzungen mit dem grünen Regierungspart-ner, ein völlig unzureichender Gesetzentwurf des Bun-desrats zur Gesetzesverlängerung vorgelegt wird? DerAufbau Ost und die schnelle Verbesserung der Infra-struktur haben doch angeblich höchste Priorität. Ange-sichts dieses Vorgehens bezüglich der Verlängerung desvon der Regierung unter Helmut Kohl und derCDU/CSU-Fraktion 1991 beschlossenen Gesetzes zurBeschleunigung der Verkehrsplanungen in den neuenBundesländern wird offenbar, daß unser IC-Tempo beider Entwicklung der Infrastruktur in den neuen Bundes-ländern einem Bummelzugtempo weichen soll.
Anders gesagt: Die Verkehrsinfrastruktur soll einerBimmelbahn mit viel Geläute gleichen, aber von Stationzu Station im Schneckentempo vorankommen.
Genauso ist es, Herr Kollege Grund.Mit uns in der CDU/CSU-Fraktion ist dies nicht zumachen. Ich will Ihnen dazu auch eine sehr sachlicheBegründung geben.Erstens. Von der Wiedervereinigung bis 1998 hat dieBundesregierung insgesamt rund 165 Milliarden DM indie Verkehrsinfrastruktur Deutschlands investiert,davon rund 72 Milliarden DM in die neuen Bundeslän-der. Das sind 43 Prozent der Investitionen in die Zukunftder neuen Bundesländer.
5 200 Kilometer Schiene sowie 173 000 KilometerStraßen wurden um-, neu- oder ausgebaut. Etwa 400Kilometer Autobahnen wurden erweitert bzw. neugebautund 23 Ortsumgehungen fertiggestellt. Nie zuvor ist inso kurzer Zeit die Infrastruktur einer ganzen Region ineinem solchen Umfang modernisiert worden. DiesesTempo war nur mit der gesetzlichen Grundlage für einebeschleunigte Planung möglich.Der zweite Punkt, warum die CDU/CSU-Fraktionden Bundesratsvorschlag zur Verlängerung des Gesetzesum weitere 10 Jahre Laufzeit unterstützt, ist die eindeu-tige Beschlußlage aller Landesregierungen und desMarieluise Beck
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5688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Bundesrates, dort auch mit Unterstützung der SPD-geführten Länder. Deshalb haben wir unseren eigenenAntrag für erledigt erklärt. Wir wollten sozusagen eineBrücke für SPD und Grüne bauen. Aber Sie gehenwahrscheinlich lieber durch die Täler von Wahlnieder-lagen als über derartige Brücken. Dies spricht seine ei-gene Sprache. Sowohl die SPD-Fraktion als auch dieFraktion der Grünen fallen also mit ihrem Vorschlag,um drei Jahre zu verlängern, den Landesregierungen inden neuen Bundesländern in den Rücken. Ich finde, dasist ein ganz schäbiges Verhalten.
Damit Sie nicht denken, daß dies billige Polemik ist,werde ich Ihnen vorlesen, was eine Zeitung heute dazuvon einigen Ministern schreibt. Es sind Ihre Minister,Minister SPD-geführter Länder:Ins gleiche Horn stieß Hartmut Meyer, SPD-Verkehrsminister von Brandenburg: „Drei Jahresind zu kurz. Das führt dazu, daß eine Vielzahl vonwichtigen Infrastrukturprojekten ohne die Be-schleunigungsinstrumente nicht zeitgerecht reali-siert werden können. Die drastische Verringerungder Investmittel des Bundes für die nächsten Jahreverschärft das Problem.“ Je länger das Gesetz inden neuen Ländern gelte, um so langfristiger könnedie Bedarfsplanung wichtiger Verkehrsinfrastruk-turprojekte sichergestellt werden. Rolf Eggert,Meyers … und Amtskollege aus Schwerin, er-gänzte: „Das ist zu kurz, da die Mehrzahl der Orts-umgehungen noch nicht linienbestimmt ist“.Der CDU-Minister aus Thüringen – Herr Sorge, hö-ren Sie zu; er ist zwar von unserer CDU, aber er sagt dasgleiche – sagt, daß er absolut für eine zehnjährige Ver-längerung eintrete. Das ist die Stimmung in den Län-dern, und Sie haben das einfach so gekippt. Dieser Zei-tungsartikel von heute liegt auf der Linie dessen, was ichfür meinen Redebeitrag zuvor schon vorbereitet hatte.Drittens. Der vom Bundesministerium für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen nach langer Verzögerungund vielen Versprechungen nun endlich vorgelegte In-vestitionsplan für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmensieht einen Großteil dieser Maßnahmen erst nach demJahre 2002 vor. Aus den Regierungspapieren geht dem-nach eindeutig hervor, daß der Angleichungsprozeß derPlanungen für die Verkehrsinfrastruktur in den neuenBundesländern noch mindestens zehn Jahre dauern wird.Genau diesem auch von Verkehrsexperten der Länderund der Verbände geteilten Standpunkt wird der vonSachsen eingebrachte Bundesratsentwurf gerecht.Meine Damen und Herren, wem schadet also dasTauziehen um eine Nichtverlängerung, wie sie die Grü-nen sowie die PDS wollen – letztere spricht gar von„kannibalischen“ Verkehrsprojekten; so gestern im Aus-schuß geschehen –,
und um eine zehnjährige Verlängerung, wie es der Bun-desrat, vernünftige SPD-Politiker und die CDU/CSU-Fraktion wollen?Es schadet der weiteren Infrastrukturentwicklung inden neuen Bundesländern. Die Quittung für das Quer-stellen geben die Bürger in Ostdeutschland bei allenWahlen seit 1994. Die Grünen sind als Verhinderer einermodernen und umweltfreundlichen Infrastruktur längsterkannt und werden als Partei praktisch kaum nochwahrgenommen. Die PDS hat sich vor Ort derartige Äu-ßerungen gegen den Aufbau Ost und eine moderne In-frastruktur bisher nicht geleistet. Es ist also an der Zeit,dieses Verhalten in der Öffentlichkeit und in den Medi-en aufzuzeigen.
Meine Damen und Herren, vor 10 Jahren startete dieBundesregierung einen gewaltigen Aufholprozeß zurBeseitigung der katastrophalen Hinterlassenschaft aus40 Jahren SED-Diktatur. Gerade in der Verkehrsinfra-struktur waren besonders große Schäden entstanden. Esbegann 1989/90 nicht mit Verkehrsprojekten „DeutscheEinheit“, es begann mit 168 Grenzübergangsstellen aufrund 480 Kilometern Grenze zwischen Ost und West.Wer hat das nicht noch alles in Erinnerung? Man mußdas an einem Tag wie heute in Erinnerung rufen.Die Begeisterung und die Euphorie der Menschenüber die nahe Einheit Deutschlands kannte im bildlichenund menschlichen Sinne wirklich keine Grenzen mehr.Diese Szenen der Freude und das Aufatmen der ein-gesperrten Menschen kommen mir nun wieder in denSinn, wenn ich an die folgenden Jahre des unglaubli-chen Aufschwungs gerade bei der Verkehrsinfrastrukturdenke.Noch haben wir aber im Osten Deutschlands einengewaltigen Rückstand an Ortsumgehungen, Autobahn-anbindungen und Vernetzungen der Großstädte gegen-über den alten Bundesländern. Ob dieser weiterhin soschnell aufgeholt werden kann, liegt an der Entschei-dung für eine längerfristige Planungsbeschleunigung, ander Bereitstellung genügender Mittel und an der Bereit-schaft dafür, dies mit ganzem Herzen zu wollen und die-se Maßnahmen nicht nur mit dem Attribut „höchstePriorität“ zu kennzeichnen, sondern auch voranzutrei-ben.Beides kann man leider auf Grund der enormenHaushaltskürzungen im Verkehrsbereich – vor allemSachsen ist hier betroffen – und auf Grund des heutigenhalbherzigen Vorschlags zur Verlängerung der Geltungdes Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes derBundesregierung nicht erkennen.
In diese Herzlosigkeit muß man leider auch den Satzin einem Ministerbrief aus Nordrhein-Westfalen einord-nen, der wörtlich lautet:Es ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Privilegie-rung der neuen Länder und der VerkehrsprojekteDeutsche Einheit, an denen NRW in keinem einzi-gen Fall trotz seiner Bedeutung für Ost-West-Verkehre partizipiert, in Frage zu stellen ist.Wolfgang Dehnel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5689
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Für mich ist das nicht nur unrichtig dargestellt,
wenn ich vor allem an die Millionen Lkw denke, die vonWestfirmen kommen und im Osten anliefern, dann istdiese Äußerung nicht nur herzlos, sondern skandalös. –Das ist ein Minister aus Nordrhein-Westfalen.
– Er ist von der SPD, man muß das schon sagen. Das istja bekannt.
Ich kann Ihnen das auch zeigen, ich habe das wortwört-lich vor mir liegen, aber der Name spielt keine Rolle.
Ich hoffe und wünsche nur, daß die großartigen Lei-stungen im Zusammenhang mit der Deutschen Einheitnicht durch solche unsinnigen Aussagen in den Schattengestellt werden. Dazu rufe ich alle Kolleginnen undKollegen in diesem Haus auf.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wieland Sor-
ge, SPD.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Lieber Herr Dehnel, wennman Sie so hört, dann hat man den Eindruck, als ob abheute im Hinblick auf die Entwicklung der Verkehrsin-frastruktur im Osten das Licht ausgeht.
Ich möchte zu Beginn auf einige von Ihnen genanntePunkte kurz eingehen, ehe ich mich dem eigentlichenThema zuwende. Ihrer Beurteilung des Landes Nord-rhein-Westfalen zum Schluß Ihrer Rede kann ich entge-gensetzen, daß Herr Teufel einen Brief an Herrn Münte-fering geschrieben hat, in dem gestanden hat, daß dieBevorzugung des Ostens aufhören müsse und daß manendlich dazu übergehen müßte, wieder an die Westlän-der zu denken. Ähnlich hat sich Herr Stoiber geäußert.Was sollen also diese Tränen über die Herzlosigkeit vonSPD-Landesministern?In einem sind wir uns doch alle einig, nämlich darin,daß die Verkehrsinfrastruktur im Osten noch unbedingtverbessert werden muß.
Ich habe mit Vertretern aller neuen Bundesländer ge-sprochen und einmal ganz ernsthaft folgende Frage ge-stellt: Glauben Sie wirklich, daß wir das Verkehrswege-planungsbeschleunigungsgesetz noch zehn Jahre benöti-gen? Oder ist es, wenn wir die Projekte jetzt beschleu-nigt angehen, nicht möglich, das gesetzte Ziel in einerkürzeren Frist zu schaffen?
Eine Schiffahrtsdirektion beispielsweise hat gesagt: Miteiner Verlängerung der Geltung dieses Gesetzes um dreiJahre können wir leben. Andere Einrichtungen habensich dazu ähnlich geäußert. Ich könnte Ministerpräsi-denten nennen – das will ich jetzt aber nicht tun –, mitdenen ich gesprochen habe und die gesagt haben: Wirsehen in einer dreijährigen Verlängerung eine Chance.Am Ende werden wir sehen, ob es notwendig ist, einerweiteren Verlängerung zuzustimmen.
Das Hauptziel des wiedervereinigten Deutschlandsbestand darin, die Lebensverhältnisse im Osten soschnell wie möglich denen des Westens anzugleichen.Dies galt – ähnlich wie in anderen Bereichen – auch fürdas Gebiet der Verkehrsinfrastruktur. Um dieses Ziel zuerreichen, wurde 1991 das Verkehrswegeplanungsbe-schleunigungsgesetz erlassen. Die Planungsdauern fürGroßprojekte des Bundes wurden damit erheblich ver-kürzt. Die damalige Bundesregierung ging davon aus,daß eine zeitliche Befristung bis Ende 1999 ausreichenwürde.Die entscheidende Frage lautet jetzt: Ist das Ziel einerAngleichung der Verkehrsinfrastruktur an das Ni-veau im Westen schon erreicht? Hier die klare Antwort:Nein. Trotz großer Fortschritte bei der Realisierung derinsgesamt 17 Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, trotzder Wiederherstellung und Erweiterung bestehenderStraßen- und Schienenverbindungen sind die Verkehrs-wege im Osten dem Bedarf noch längst nicht gewach-sen.Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ursachen sindzum einen die völlig desolate Situation der Verkehrsin-frastruktur im Osten kurz nach der Wende, zum weiterendie fehlenden personellen und institutionellen Kräfte, dienotwendig gewesen wären, um die Umsetzung der Re-gelungen schnell voranzutreiben und zum anderen dieRechtsunsicherheit, die durch die ungelösten Eigentums-fragen immer wieder auftauchte. Es fehlte den Personen,die in den zuständigen Stellen plötzlich neu eingestelltworden sind, an Erfahrung. Es fehlten eine Reihe vonrechtlichen Grundlagen, die erst geschaffen werdenmußten, um dieses Beschleunigungsgesetz überhauptzur Anwendung zu bringen.Die zweite Frage lautet nun: Hat sich das Beschleuni-gungsgesetz in den letzten acht Jahren, in denen es zurAnwendung kam, bewährt? Hier muß ich klar sagen: Ja.Ich will dabei nicht verschweigen, daß die Fraktion derSPD seinerzeit Bedenken gegen dieses Gesetz angemel-det hatte, hauptsächlich deswegen, weil der Klageweggegen geplante Projekte auf nur eine Instanz, nämlichdas Bundesverwaltungsgericht, beschränkt wurde.
Wolfgang Dehnel
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5690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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In der Praxis hat sich aber gezeigt, daß die Einbezie-hung des Bürgerwillens in den Planungsgang durchdieses Gesetz nicht beschränkt oder gar ausgehebeltwurde. Ich selbst habe an einzelnen solcher Veran-staltungen teilgenommen und habe immer wiedergestaunt, wie sich die Bürger eingebracht haben. Ichkenne einige Beispielsfälle, in denen der jeweilige Bür-germeister es fertiggebracht hat, die Strecken noch ein-mal zu verändern. Die Planungsdauer der Verkehrspro-jekte konnte dadurch aber erheblich gesenkt werden, sodaß wir den heutigen Planungs- und Ausbaustand ohnediese Sonderregelung mit Sicherheit nicht erreicht hät-ten.Wir sind deshalb dafür, die Geltungsdauer des Geset-zes zu verlängern. Wir wollen aber keine unbefristeteVerlängerung, wie es die CDU/CSU-Fraktion fordert;denn es geht hier um eine Sonderregelung, nicht um eineallgemeine Verlängerung im Planungsrecht. Wir wollenauch keine Ausdehnung dieser Regelung auf das ge-samte Bundesgebiet, wie es die Kollegen von der F.D.P.vorgeschlagen haben; denn ein Großteil der Regelungendes Beschleunigungsgesetzes wurde bereits 1993 durchdas Planungsvereinfachungsgesetz für das gesamte Bun-desgebiet übernommen.Wir wollen eine vernünftige und maßvolle Verlänge-rung der Geltungsdauer des Gesetzes. Eine Begrenzungder Gültigkeitsdauer ist notwendig, um so früh wiemöglich zu einer bundeseinheitlichen gesetzlichen Re-gelung zurückzukommen und nicht auf Dauer unglei-ches Recht in Ost und West zu etablieren.
Den Ländern muß dabei ein bedarfsgerechter Zeitraumzur Verfügung gestellt werden, um die Planungsmaß-nahmen voranzutreiben.Aus diesen Gründen stimmen wir dem Gesetzentwurfdes Bundesrates zwar grundsätzlich zu, halten aber eineVerlängerung der Geltung dieser Ausnahmeregelung umdrei Jahre für ausreichend. Ob danach eine weitere Ver-längerung notwendig ist – dazu haben wir gestern einenBeschluß gefaßt –, entscheidet sich, wenn ein Jahr vorAblauf der Verlängerung der Bericht vorliegt, aus demdies klar hervorgehen soll. Die SPD hat signalisiert, daßsie bereit ist, einer weiteren Verlängerung zuzustimmen,wenn dies notwendig erscheint.
Lieber Herr Dehnel, Sie haben gesagt, daß die Ver-kehrsinfrastruktur im Rahmen des Investitionspro-gramms durch die Verlängerung der Geltungsdauer umdrei Jahre gefährdet sei. Alle Projekte, die im Investiti-onsprogramm für die Zeit von 1999 bis 2002 enthaltensind, sind bereits vom Gesetz erfaßt. Diesen Projektenkann also überhaupt nichts mehr passieren.
– Ich komme gleich darauf zu sprechen. – Wir habendoch festgelegt, daß die Projekte bereits mit Antragstel-lung auf Linienbestimmung, auf Planfeststellung oderPlangenehmigung automatisch von diesem Gesetz erfaßtwerden.Nun zu Ihrem Zuruf, Herr Dehnel, „2002“. Wir hat-ten vor Inkrafttreten dieses Gesetzes eine ungünstigeSituation – ich habe sie schon geschildert –: Viele Vor-aussetzungen, um dieses Gesetz schnell in die Praxisumzusetzen, waren nicht gegeben. Heute, acht Jahrenach Inkrafttreten dieses Gesetzes, sind die Vorausset-zungen natürlich viel besser. Heute haben wir Juristen,die in der Lage sind, einen solchen Vertrag auch be-standsrechtlich zu prüfen und einzubringen. Heute habenwir eine Verwaltung, die in der Lage ist, auch kurzfristigdie Genehmigung zu erteilen – natürlich nicht unterAusschluß der Bestimmungen, die dafür notwendig sind.Heute haben wir natürlich auch größere Planungsbüros,so daß diese Aufgabe gelöst werden kann.Wir wollen noch eines erreichen, Herr Dehnel, näm-lich daß sich die Länder ganz intensiv dieser Aufgabewidmen. Wenn sie davon überzeugt sind, daß die Pro-jekte in der nächsten Zeit schnell umgesetzt werdenkönnen, dann wollen wir die Länder etwas unter Drucksetzen, indem wir sie, wenn die Kapazität nicht aus-reicht, um die restlichen Projekte aufzunehmen, zwingenwollen, das Personal aufzustocken, die technischen Ka-pazitäten zu erweitern und in den Verwaltungen nochintensiver zu arbeiten.
– Richtig, ich kann natürlich bestätigen, daß die Leute inden einzelnen Ämtern vor allen Dingen am Anfang, alses für sie ganz schwierig war und sie völlig verunsichertwaren, oft keine Entscheidung fällten, weil sie Angsthatten, entlassen zu werden. Es handelte sich bei ihnensozusagen um Neueinstellungen, und jeder Fehler, derihnen hätte nachgewiesen werden können, hätte dieMöglichkeit eröffnet, sie zu entlassen. Aus dem Grundewaren sie bei Entscheidungen sehr zögerlich.In diesem Bereich hat man aber sehr viel gelernt, undman muß den Leuten heute ein Kompliment machen, ge-rade da die Voraussetzungen jetzt viel besser sind.Überlegen Sie einmal: Es mußten Planungen für die 17beschlossenen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ mitüber 2 000 Kilometer Schienen- und Straßenstrecken er-stellt werden. Es steckt doch eine wahnsinnig umfang-reiche Arbeit dahinter. Heute, nach acht Jahren, kannman sagen, daß die Hauptplanungen durchgeführt wur-den. Es ist richtig, jetzt noch die ausstehenden Ortsum-gehungen und Anbindungen von Autobahnen – Sie er-wähnten es ja – in Angriff zu nehmen. Wir sind derMeinung, daß das mit den uns heute zur Verfügung ste-henden Mitteln in drei Jahren zu schaffen ist.Wir wollen doch die Trennung der beiden Teile nichtzementieren, sondern die Einheit herbeiführen.
Deshalb wollen wir so schnell wie möglich, daß gleichesRecht in Gesamtdeutschland gilt. Damit werden natür-Wieland Sorge
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5691
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lich die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Lebens-verhältnisse in den beiden ehemaligen Teilen Deutsch-lands einheitlich zu gestalten.Ich danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Karlheinz Gutt-
macher von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast auf den
Tag genau vor zehn Jahren wurden die Voraussetzungen
für ein einheitliches Deutschland geschaffen. Die DDR
hatte uns damals eine desolate Infrastruktur hinterlassen.
Diejenigen, die die damalige Zeit erlebt haben, wissen,
wie beschwerlich es war, mit dem Trabant oder dem
Wartburg über die damaligen DDR-Fernverkehrsstraßen
zu fahren. Vor diesem Hintergrund ist es um so beein-
druckender, zu sehen, welche Leistungen beim Aufbau
des Straßen-, Schienen- und Wasserstraßennetzes in den
neuen Bundesländern bisher erbracht worden sind.
Darüber hinaus haben alle neuen Bundesländer ent-
weder ihren Flughafen ausgebaut oder neu gebaut. Der
zügige, wenn auch kostenaufwendige Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur war und wird auch in Zukunft der
Schlüssel zum Aufbau einer leistungsstarken Wirtschaft
sein. Neben hohen materiellen Aufwendungen war es
das Verdienst der früheren Bundesregierung, für den
Aufbau der Infrastruktur Sonderregelungen zu erlassen,
die den Ablauf der vereinigungsbedingten Verkehrswe-
geplanung erleichterten. So wurden durch das bereits
1991 auf den Weg gebrachte Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetz strenge Fristen für Behörden vor-
gegeben, vereinfachte Verfahren für die Enteignung bei
ungeklärten Eigentumsverhältnissen festgelegt sowie die
gerichtliche Überprüfung von Planungsbeschlüssen auf
eine Instanz beschränkt.
Die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des
Bundesverwaltungsgerichts für die Anfechtungsklagen
gegen Planfeststellungsbeschlüsse oder Planungsgeneh-
migungen führt zweifellos zur Verkehrswegeplanungs-
beschleunigung. Gerade diese prozessuale Vereinfa-
chung könnte für die verschiedenen noch anstehenden
Projekte – hier erinnere ich an den Ausbau des Flugha-
fens Berlin-Schönefeld – von großer Bedeutung sein.
In den neuen Bundesländern gibt es derzeitig 180 be-
kannte Verkehrsprojekte, bei denen die Anmeldung des
Planfeststellungsverfahrens bereits erfolgt oder erst nach
dem Auslaufen des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetzes Ende dieses Jahres erfolgt. Um den wei-
teren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mittels der neu-
en Verkehrsprojekte zu beschleunigen und um die guten
Erfahrungen, die in den letzten acht Jahren gesammelt
worden sind, zu nutzen, spricht sich die F.D.P.-
Bundestagsfraktion für eine weitere Verlängerung der
Geltung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsge-
setzes um zehn Jahre aus.
Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestag
ein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeit
verlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsge-
setzes einen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Auf-
schluß über die nach diesem Gesetz geplanten Ver-
kehrsprojekte und die beschleunigenden Effekte auf
Grund dieses Gesetz gibt.
Danke.
Alsnächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnenund Kollegen! Warum hat die Regierung Helmut Kohl1991 das Beschleunigungsgesetz eigentlich befristet?
– Hören sie einmal zu, Herr Fischer! – Sie hat diesesGesetz befristet, weil es eine ganze Reihe von Sonder-regelungen beinhaltet, die die Beteiligungsrechte undauch die persönlichen Rechte im Bereich des Eigen-tumsschutzes sowie die Wahrnehmung von Rechts-wegen faktisch zumindest verkürzt oder einschränkt.Ich will Ihnen diese Beschränkungen ganz konkretnennen: Die erste Beschränkung ist, daß es nur nocheine Instanz für Anfechtungsklagen gegen Planfeststel-lungsbeschlüsse gibt. Die zweite Beschränkung umfaßtdie Sonderregelung für ungeklärte Eigentumsverhältnis-se, und die dritte Beschränkung die gesetzliche Anord-nung der Sofortvollziehung für Planfeststellungsbe-schlüsse. Diese Beschränkungen haben den Charaktervon Sonderregelungen, der uns immer dazu veranlaßthat, gegen diese Regelungen mit großen politischen Be-denken zu argumentieren. Diese Bedenken waren auchder früheren Regierung offenbar nicht ganz fremd, sonsthätte sie das Gesetz nicht befristet.Nun liegen die Gesetzentwürfe von CDU/CSU undF.D.P. auf dem Tisch des Hauses. Der Gesetzentwurfder CDU/CSU sieht vor, eine unbefristete Verlängerung,also eine unbefristete Geltungsdauer dieses Beschleuni-gungsgesetzes, einzuführen. Man muß sich dies einmalvor Augen führen: Der Charakter der Sonderrechte, dendie alte Regierung noch erkannt hat und der für sie An-laß war, eine Befristung einzuführen, wird nun nichtmehr zur Kenntnis genommen. Die Partei, die sich – üb-rigens mit einem gewissen Recht – als Partei der Einheitbezeichnen kann, will in Sachen Verkehrswegeplanungoffenbar für immer und ewig ein geteiltes Rechtsgebietin Deutschland haben. Das ist geradezu absurd.
Wieland Sorge
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5692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Die F.D.P. setzt mit ihrem Gesetzentwurf aber nocheins drauf. Die ehemaligen Liberalen, die früher einmalfür Bürgerrechte und Beteiligungsrechte standen, wollennicht nur die Verlängerung der Gültigkeitsdauer desGesetzes um weitere 10 Jahre, sondern sogar die Aus-dehnung des Geltungsbereiches auf das gesamte Bun-desgebiet. Das muß man sich einmal vorstellen: Die Be-schleunigung der Verkehrswegeplanung, die damalsausdrücklich mit der Zusammenführung höchst unglei-cher Lebensverhältnisse und Verkehrsverhältnisse be-gründet wurde, wird nun umgekehrt, also geradezu aufden Kopf gestellt, als ob die Verhältnisse des Westensan die Verhältnisse des Ostens angeglichen werdenmüßten. Was sollte sonst die Begründung sein?
Eine materielle Begründung sucht man im F.D.P.-Gesetzentwurf vergeblich. Das ist Billige-Jakob-Politiknach dem Motto: Wir setzen noch eins drauf. Wer bietetmehr?
Warum aber befristet die Bundesregierung jetzt dieVerlängerung dieses Gesetzes auf drei Jahre? Herr Kol-lege Sorge hat dies ja schon plausibel begründet. Ichwill noch einmal die aus unserer Sicht wichtigsten dreiGründe in Erinnerung rufen:Erstens. Eine Befristung auf nur drei Jahre ist ein Si-gnal, sich eben nicht zehn Jahre oder gar länger Zeit zulassen, um die noch nicht auf den Weg gebrachten Maß-nahmen endlich auf den Weg zu bringen, sondern jetztunverzüglich die so beschleunigsbedürftigen Projektetatsächlich zu beschleunigen und wirklich mit den Pla-nungen anzufangen. Der Beginn der Planungen ist fürdie Geltungsdauer entscheidend. Ein Projekt, das imRahmen der Geltungsdauer dieses Gesetzes auf den Weggebracht worden ist, genießt die Regelungen dieses Ge-setzes bis zur Fertigstellung. Das heißt, faktisch geht esnicht um drei Jahre, sondern um einen wesentlich größe-ren Zeitraum.Der zweite Grund ist, daß wir den Charakter derSonderregelung ernst nehmen und dieses gespalteneRechtsgebiet nicht auf immer und ewig in Deutschlandzementiert haben wollen. Vielmehr wollen wir eine Ver-einheitlichung der Rechte im Sinne einer Zusammenfüh-rung der Rechtsverhältnisse herstellen.Dritter Grund. Wir wollen damit deutlich machen,daß das Planungsvereinfachungsgesetz, das seit 1993gilt und einige Elemente dieses Beschleunigungsgeset-zes bundesweit in Kraft gesetzt hat und das nicht befri-stet ist, ausreicht, um künftig im gesamten Rechtsgebietder Bundesrepublik Deutschland für ein adäquates Pla-nungs- und Verwirklichungstempo zu sorgen.
Letzter Punkt, der deutlich macht, daß Ihre Aufre-gung ziemlich künstlich ist. Sie waren doch diejenigen –ich komme zum Anfang meiner Ausführungen zurück –,die 1991 geglaubt haben, man müsse, wenn man schonetwas macht, was verfassungsrechtlich bedenklich ist,dies befristen. Wir tun das jetzt auch, tun also genaudasselbe, was Sie damals getan haben. Wir setzen aller-dings eine andere Frist, weil wir nicht mehr 1991schreiben, sondern 1999.Wenn denn künftige Generationen der Auffassungsein sollten – der Kollege Sorge hat das angesprochen –,daß in drei Jahren wieder darüber diskutiert werdenmuß, ob die Befristung ausreichend ist, so ist es demParlament unbenommen, eine neue Entscheidung zutreffen.Wir tragen den Entscheidungsvorschlag der Bundes-regierung mit, obwohl uns das aus persönlichen, politi-schen und rechtlichen Gründen sehr schwerfällt. Aberwir stehen dazu und halten die jetzt vorgeschlagene Re-gelung für ausreichend und angemessen.
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat das Wort der
Kollege Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um ehrlichzu sein: Ich halte die Debatte um dieses Gesetz für eingewolltes großes Mißverständnis, wobei auf die Gut-gläubigkeit der Ossi-Bürger und die Profitwütigkeit vonWessi-Baukonzernen spekuliert wird.
Gleichzeitig wird – wie gerade gesagt wurde – die Ver-fassungsmäßigkeit der Gesetzgebung über alle Maßenstrapaziert. Dazu drei Argumente.Erstens. Aus verfassungsrechtlicher Sicht handelt essich um ein ausgesprochenes Sondergesetz. Es schafftein Sonderrecht für einen Sonderraum, nämlich dieneuen Länder. Unter anderem gibt es wie gerade ausge-führt wurde, falls Bürger rechtliche Schritte gegen eineTrasse unternehmen wollen, nur eine einzige erste undletzte Instanz.Dieses Gesetz wurde mit dem Vorliegen einer beson-deren Situation, nämlich der fehlenden Verkehrsinfra-struktur bzw. deren mangelhafter Qualität in den neuenLändern begründet. Das Bundesverfassungsgericht hatsich mit der Rechtmäßigkeit dieses Sondergesetzes be-faßt und dabei explizit entschieden, dies sei nur für einebegrenzte Zeit hinnehmbar.Es ist nicht einzusehen, weshalb die Geltungsdauereines Gesetzes, das ursprünglich fünf Jahre Bestand ha-ben sollte, nach zehn Jahren erneut verlängert werdensoll, nach einem gestern vorgelegten Antrag derCDU/CSU sogar auf unbefristete Zeit, zumal nachdiesem Gesetz alle begonnenen Verkehrswege, HerrKollege Sorge, und alle vorliegenden Planungen für denVerkehrswegebau vollendet werden können, also auchdann, wenn das Gesetz ausläuft.Albert Schmidt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5693
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Zweitens. 1991 argumentierten Grüne, Umweltver-bände und Teile der SPD gegen dieses Gesetz. DerBUND nannte das Ganze – vielleicht war das überzogen– ein „Ermächtigungsgesetz gegen Mensch und Natur“.Zu Recht wiesen die Grünen damals auf den groteskenTatbestand hin, daß selbst eine Klage beim Bundesver-fassungsgericht keine aufschiebende Wirkung habe, daßwährend des Verfahrens trotz Klage weitergebaut wer-den könne und am Ende gelte: Operation gelungen, Pati-ent tot. Was sollte sich an dieser Sachlage, an diesenArgumenten bis heute geändert haben außer der Tatsa-che, daß in den vergangenen zehn Jahren einige tau-schend Kilometer neue Straßen gebaut wurden, aber sogut wie keine Schienen in den neuen Ländern?Drittens. Bei dem Gesetz geht es nicht um mehr Ver-kehrswege und schon gar nicht um mehr Arbeitsplätze.Es geht ausschließlich um schnellere Planung durch Re-duktion von Bürgerbeteiligung.Kollege Dehnel, ich habe nicht von einer Kannibali-sierung von Projekten gesprochen, sondern von einerKannibalisierung des Planungsrechts. Das sagt dieF.D.P. überall, das gleiche die CDU/CSU immerfort undSPD und Grüne bis zur Abwahl dieser Regierung wahr-scheinlich auch.Die Planungszeiten entscheiden nur darüber, ob etwasgründlich geplant wird und ob dabei die Interessen vonMensch und Natur gewahrt bleiben. Der Umfang dessen,was gebaut wird, wird an anderer Stelle festgelegt, näm-lich im Investitionsetat für Straße, Schiene, Binnen-schiffahrt und Luftverkehr. Hier – das wurde gesagt –weisen die Begehrlichkeiten in eine andere Richtung.Die Westländer klagen nun, daß zu viele Mittel genOsten flössen und das wieder mehr im Westen gebautwerden solle. Siehe dazu die Aussage des Kollegen Sor-ge zu Teufel und Stoiber und deren unchristliche Eigen-liebe in den einheimischen Beton.
Herr
Kollege Wolf, kommen Sie bitte zum Schluß.
Das Ganze ist ein großes
Mißverständnis. Es verhält sich so wie im Film „Jour de
Fête“, „Schützenfest“, von Jacques Tati: Der wahnwit-
zig radelnde Briefträger brüllt: „Rapide, rapide!“, also
„Schnell, schnell!“. Er liefert aber deswegen nicht mehr
Post und keine höheren Rentenbescheide aus, sondern er
stürzt in die Gosse und verpaßt ab und zu den richtigen
Briefkasten. Deshalb glaube ich, daß wir das Gesetz in
jeder Art der Verlängerung ablehnen sollten.
Der
Kollege Helmut Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen
hat um eine Kurzintervention gebeten. Ich bitte aller-
dings, die fortgeschrittene Zeit zu beachten. Bitte schön,
Herr Wilhelm.
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ich gehe selbstverständlich davon aus, daß
wir alle hier auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.
Allerdings fällt mir schon auf, daß von seiten der F.D.P.
und der CDU die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht hinreichend beachtet wird. Das Bun-
desverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen –
wenn auch nicht im Tenor, so doch inzidenter – erklärt,
daß es sich hierbei angesichts der Folgen der deutschen
Einheit und der Notwendigkeit der Herstellung gleich-
artiger Lebensverhältnisse nur um ein Ausnahmerecht
handeln könne.
Daß die F.D.P. dem Ganzen noch eines draufsetzt
und noch nicht einmal verfassungsrechtliche Bedenken
bekommt, nicht nur den Rechtsweg auf eine Instanz zu
verkürzen, sondern nur noch ein einziges Gericht, näm-
lich das Bundesverwaltungsgericht in Berlin, für ganz
Deutschland, von Flensburg bis Berchtesgaden, von
Freiburg bis Stralsund, für zuständig zu erklären, ver-
wundert mich sehr. Meine Damen und Herren von der
F.D.P., die Idee ist ausbaufähig: nur noch ein Sozialge-
richt, nur noch ein Finanzgericht, nur noch ein Zivilge-
richt für Deutschland. Machen wir weiter so. Ob sich
das noch Rechtsstaat nennt, weiß ich nicht.
Ichschließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Ab-stimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Ge-setzentwurf zur Änderung des Verkehrswegeplanungs-beschleunigungsgesetzes, Drucksachen 14/1517 und14/1876 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Bei Zustimmung der SPD-Fraktion und der gro-ßen Mehrheit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen istder Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Gegenstim-mung der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion undder PDS-Fraktion –
– Bitte? – Gegenstimmen. –
– bei einigen Zustimmungen aus der F.D.P.-Fraktion,wenn ich das richtig gesehen habe, angenommen.Ich komme damit zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist die Lage wieder geklärt.Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung bei Zustimmungder Fraktion der SPD und der großen Mehrheit vonBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU, F.D.P. und PDS bei zwei Enthaltungen ausder Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Dr. Winfried Wolf
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5694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des Ver-kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf Druck-sache 14/1540. Der Ausschuß für Verkehr, Bau- undWohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/1876unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasseüber den Gesetzentwurf der F.D.P. auf Drucksache14/1540 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetz-entwurf bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und einigerKollegen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen alleranderen Fraktionen und der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen zu dem Gesetzentwurf derFraktion der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswe-geplanungsbeschleunigungsgesetzes. Der Ausschuß emp-fiehlt auf Drucksache 14/1876 unter Nr. 3, den Gesetz-entwurf auf Drucksache 14/544 für erledigt zu erklären.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieserBeschlußempfehlung einstimmig Folge geleistet wor-den.Der Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-sen empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlußempfehlungauf Drucksache 14/1876 die Annahme einer Entschlie-ßung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann istdieser Beschlußempfehlung bei Enthaltung der PDS-Fraktion sowie zweier Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionenzugestimmt worden.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11a und 11bauf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weitererAbgeordneter und der Fraktion der PDSBesteuerung von Luxusgegenständen– Drucksachen 14/27, 14/1613 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Barbara Höll b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Fraktion der PDSWiedererhebung der Vermögensteuer– Drucksachen 14/11, 14/1614 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Barbara HöllIch weise darauf hin, daß wir im Anschluß an dieAussprache eine namentliche Abstimmung durchführenwerden. Ich denke, die PDS bleibt bei ihrer Forderungnach namentlicher Abstimmung.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei diePDS fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höllvon der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde beraten wirheute in zweiter und dritter Lesung einen Antrag derPDS zur Vermögensbesteuerung. Wir demokratischenSozialistinnen und Sozialisten schlagen vor, daß derDeutsche Bundestag die Bundesregierung auffordernmöge, einen Gesetzesvorschlag zur Wiedererhebung derVermögensteuer auf reformierter Bemessungsgrundlagevorzulegen.Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben einJahr nach dem Regierungswechsel das Recht, zu erfah-ren, wie ernst es der rotgrünen Regierungskoalition mitder Umsetzung ihrer eigenen Wahlaussagen ist.Die SPD formulierte wie folgt:Im Sinne eines gerechten Lastenausgleichs werdenwir dafür sorgen, daß auch die sehr großen Privat-vermögen wieder einen gerechten Beitrag leisten,um Bildung und andere öffentliche Dienstleistun-gen finanzieren zu können.
Ihr Koalitionspartner war da sogar noch etwas genau-er: Sie wollten die Vermögensteuer in Höhe von 1 Pro-zent wieder einführen. Vermögen bis zu 400 000 DMsollten steuerfrei bleiben.Politikerinnen und Politiker sind in der Pflicht, deut-lich zu machen, wie jeder und jede einzelne von ihnengewillt ist, diese ihre Wahlversprechen tatsächlich ein-zulösen. Aus diesem Grund hat die PDS für heute abendeine namentliche Abstimmung beantragt.Ich weiß natürlich, daß Sie im Koalitionsvertrag ver-einbart haben, eine Sachverständigenkommission einzu-berufen, die die Grundlage für eine wirtschaftlich undsteuerpolitisch sinnvolle Vermögensbesteuerung schaf-fen sollte. Diese Kommission arbeitet, leider jedoch oh-ne Zeitvorgabe.Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mußten aller-dings im Laufe des letzten Jahres schmerzhaft erfahren,daß sowohl der Bundeskanzler als auch Herr Eichelganz genau zu wissen scheinen, wo sie einsparen könnenund dabei der Masse der Bevölkerung neue Massen auf-bürden können, ob das durch die Ökosteuer war oder obes die Abkoppelung der Rentenentwicklung von derNettolohnentwicklung ist. Arbeitslose sollen allein imnächsten Jahr mit rund 7 Milliarden DM zur Konsolidie-rung des Bundeshaushalts beitragen. Dies war und bleibtsozial ungerecht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5695
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Wir möchten heute von Ihnen wissen, ob Sie über-haupt noch gewillt sind, nun endlich auch die wirklichVermögenden zur Finanzierung des Gemeinwesens he-ranzuziehen. Herr Schröder disqualifizierte die Diskus-sion um die Vermögensbesteuerung als eine Diskussionum Symbole, und Herr Metzger von den Grünen hält dieVermögensteuer inzwischen für ideologischen Quatsch.In einer Situation, in der die Bundesrepublik auf einemSchuldenberg von 2,1 Billionen DM, also 2 100 Milliar-den DM, sitzt, wird sehenden Auges auf eine Einnah-mequelle verzichtet.Dies ist konsequent: konsequent sozial ungerecht unddie Fortführung eines eingeschlagenen Weges; denn be-reits mit der Veränderung der Einkommensteuer zum1. Januar 2000 werden die Bezieher großer Einkommensogar überproportional entlastet. Durch die Absenkungdes Spitzensteuersatzes von 53 auf 51 Prozent gehen deröffentlichen Hand etwa 2 Milliarden DM verloren,durch die weitere Absenkung im nächsten Schritt sogarnoch einmal 2,5 Milliarden DM.Sagen Sie heute klipp und klar, ob Sie bereit sind, dieungerechte Lastenverteilung zwischen den wirklichReichen und den Millionen Menschen mit kleinen undmittleren Einkommen zu korrigieren. Verweisen Sienicht auf den Leitantrag des SPD-Parteitages im De-zember; denn die vorgeschlagene schwammige Formu-lierung ist eine bloße Wiederholung des, wie sich heutezeigt, unverbindlichen Wahlprogramms. Genau ein Jahrnach der Regierungsübernahme erwartet die Bevölke-rung eine klare Position und konkrete Vorschläge, aberkeine Feigenblätter.Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille.Der letzten Erhebung – solche Erhebungen sind jetzt jaleider nicht mehr möglich – konnte man entnehmen, daß1995 1 Prozent derjenigen Menschen, die zur Vermö-gensbesteuerung veranlagt waren, über 28 Prozent desGesamtvermögens, nämlich über knapp 300 MilliardenDM, verfügten. 1995 gab es mehr als 155 000 Vermö-gensmillionäre; ihre Zahl erhöhte sich innerhalb von dreiJahren um 18 Prozent. 296 Haushalte in der Bundes-republik verfügen jeweils über ein Vermögen von über100 Millionen DM. Allerdings stieg auch die Zahl derSozialhilfeberechtigten in den letzten Jahren rasant an.Beides hängt zusammen: Je ärmer ein Großteil der Be-völkerung wird, desto mächtiger und reicher wird einesehr kleine Gruppe.Als wir vor Jahren hier über die Aussetzung derVermögensteuer diskutiert haben, haben Sie noch davongeredet, daß der Wegfall durch die Erbschaftsbesteue-rung aufgefangen werden sollte. Aber das war weit ge-fehlt. Schaut man sich die realen Zahlen an, so stelltman fest, daß das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer1997 4,06 Milliarden DM und 1998 4,8 Milliarden DMbetrug, also bei weitem nicht die fehlenden 6,7 Mil-liarden DM, die die Vermögensteuer noch 1992 er-brachte.
Frau
Kollegin Höll, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum Schluß.
Der öffentlichen Armut steht ein immenser privater
Reichtum gegenüber: Die privaten Geldvermögen
werden auf über 5 000 Milliarden DM geschätzt.
Während die Belastung aus der Lohnsteuer und aus
Sozialabgaben stetig stieg, wurden die Empfänger
von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und
Vermögen systematisch entlastet.
Das stammt aus dem Wahlprogramm der Grünen.
Genau das ist das Problem: Es geht weder um einen
Neidkomplex noch um einen Selbstzweck. Es geht um
eine gerechte Lastenverteilung, um das Verfassungsge-
bot des Ausgleichs sozialer Gegensätze sowie darum,
wirklich Vermögende gleichermaßen und gerecht an der
Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen.
Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heuteüber zwei PDS-Anträge zu debattieren. Der erste be-zieht sich auf den Vorschlag, einen dritten Mehr-wertsteuersatz für sogenannte Luxusgegenstände einzu-führen. Dazu möchte ich ein paar kurze Bemerkungenmachen.Wie Sie dem Bericht des Ausschusses entnehmenkönnen, haben die Koalitionsfraktionen diesen Antragvor allem aus einem Grunde abgelehnt, weil es nämlichnahezu unmöglich ist, abzugrenzen: Was sind normaleGüter? Was sind Luxusgüter?Frau Kollegin Höll, vielleicht ist das aus der Sicht derPDS ein bißchen anders, weil es eventuell eine nostalgi-sche Erinnerung an das gibt, was jederzeit einigermaßenverläßlich in der „Kaufhalle“ zu bekommen war undwas es nur im „Exquisit“-Laden, vielleicht auch nur im„Intershop“ gab, das aber auch nicht immer ganz ver-läßlich.
Ich zähle einmal ein paar Beispiele auf: Pulverkaffee,Taschenrechner oder, was besonders schwierig war,Südfrüchte.
Oder es gab manchmal das große Problem, daß der eineoder andere Wandfliesen haben wollte. Ein ganz großesProblem waren übrigens Weckgummis. Weckgummisgab es weder in den „Exquisit“-Läden noch im „Inter-shop“. Das war ein ausgesprochener Luxusgegenstand.Insofern war das schwierig. Dafür gab es darauf aberkeinen zusätzlichen Umsatzsteuersatz in einstigen klarenZeiten.
Dr. Barbara Höll
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5696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999
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Herr
Kollege Spiller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Gerne.
Bitte
schön, Herr Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe nur die eine Frage,
ob Ihnen außerhalb des Kabarett-Programms bekannt ist,
daß der Finanzgerichtshof in München, als wir noch eine
Vermögensteuer hatten, Luxus ausreichend definiert hat,
so daß es sehr wohl eine Grundlage gibt, festzustellen,
wo Luxus beginnt und was nicht darunter fällt.
Ich weiß nicht, ob Sie sich
mit Ihrem Antrag näher befaßt haben. Wir haben jeden-
falls in der Debatte im Ausschuß festgestellt: Auch der
antragstellenden Fraktion fiel es ausgesprochen schwer,
auf konkrete Fragen konkret zu antworten, wie man das
abgrenzt. Ich glaube, wir sollten uns diesem Thema
nicht weiter widmen.
Das andere Thema, die Vermögensteuer, ist ein zu
ernstes Thema, um daraus einen Schaufensterantrag zu
machen.
Auch da darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten,
in den Bericht des Ausschusses zu schauen. Wir haben
als Koalitionsfraktionen sehr ernsthaft darauf hingewie-
sen, daß das Thema Vermögensbesteuerung nicht von
einem korrekten Verfahren zur Bewertung des Vermö-
gens zu trennen ist.
Deswegen wird völlig zu Recht in dem Bericht dar-
gelegt, daß wir für eine saubere Behandlung im Deut-
schen Bundestag bei der Gesetzgebung zunächst einmal
eine deutliche Klärung brauchen: Wie gehen wir mit den
Vorgaben des Verfassungsgerichtes um?
Ich erinnere daran: Das Bundesverfassungsgericht
hat 1995 in seinem Urteil die Anwendung der bestehen-
den Vermögensteuer nicht deswegen außer Kraft ge-
setzt, weil es die Besteuerung von Vermögen für falsch
erachtet hat, sondern weil die Ungleichbehandlung zwi-
schen Grundvermögen und Geldvermögen ein solches
Ausmaß angenommen hatte, daß der Gleichheitsgrund-
satz des Grundgesetzes nach Auffassung des Bundesver-
fassungsgerichtes verletzt war. Das war eine sehr ein-
deutige Begründung des Bundesverfassungsgerichtes.
Vielleicht erlauben Sie mir, daß ich ein paar Sätze aus
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Ju-
ni 1995 zitiere: Die Vermögensteuer belastet einheits-
wertgebundenes Vermögen und nicht einheitswertge-
bundenes Vermögen unterschiedlich. Die Einheitswerte
für Immobilien waren zuletzt mit dem Stichtag 1. Januar
1964 in der alten Bundesrepublik ermittelt worden. Für
Ostdeutschland sind die Einheitswerte, wenn sie über-
haupt existierten, auf Bewertungen in den 30er Jahren
zurückzuführen. Daß eine solche Ungleichbehandlung
nicht tragbar ist, leuchtet jedem ein.
Herr
Kollege Spiller, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Gysi?
Ich möchte jetzt gerne im
Zusammenhang vortragen.
Gut.
Keine Zwischenfrage.
Meine Damen und Herren,ich möchte auch daran erinnern, daß der Grundsatz, daßdas Vermögen ein Maßstab für wirtschaftliche Lei-stungsfähigkeit und für Wirtschaftskraft ist und deswe-gen auch ein Maßstab für eine Besteuerung nach derLeistungsfähigkeit sein kann, davon überhaupt nicht be-rührt wird.
Im Gegenteil, es ist geradezu eine Tradition Europas,nicht nur Deutschlands, daß Vermögen zur Finanzierungvon öffentlichen Aufgaben herangezogen wird.Ich darf mit Ihrer Erlaubnis aus der Ausgabe „UnsereSteuern von A – Z“ aus dem Jahre 1995 zitieren. Wennman diese Broschüre aufschlägt, blickt einem zunächstein sehr freundlich dreinschauender damaliger Bundes-finanzminister Dr. Theo Waigel entgegen. In dieser Bro-schüre vom Bundesfinanzministerium aus dem Jahre1995 heißt es zum Stichwort „Vermögensteuer“:Die fortlaufende Erhebung einer Vermögensteuerträgt dem Gedanken Rechnung, daß Vermögen alssolches eine zusätzliche Besteuerung rechtfertigt,und zwar nicht nur wegen der laufenden Vermö-genserträge, sondern weil bereits das Vorhanden-sein von Vermögen eine eigene zusätzliche Lei-stungsfähigkeit begründet. ... Insgesamt führt dieszu einer besonderen steuerlichen Leistungsfähig-keit, deren zusätzliche Besteuerung auch aus sozial-und gesellschaftspolitischen Gründen gerechtfertigtund notwendig erscheint.Das schrieb Bundesfinanzminister Waigel 1995.
Im übrigen, Frau Kollegin Frick, ist das keine neueErfindung.
Vermögensbesteuerung gab es in Deutschland unterWilhelm II., unter dem Liberalen Gustav Stresemann,unter Konrad Adenauer, unter Ludwig Erhard und auch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 63. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Oktober 1999 5697
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bis 1997 unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Bloß habenSie damals nichts getan, um diese verfassungswidrigeUngleichbehandlung von Grundvermögen und Geld-vermögen aufzuheben.
Nur eine faire, gleiche Bewertung von Vermögen bietetdie Grundlage für eine Besteuerung von Vermögen nachdem Grundsatz „Besteuerung nach der Leistungsfä-higkeit“.Ich will zum Stichwort „Besteuerung nach der Lei-stungsfähigkeit“ noch auf eines mit besonderer Deut-lichkeit hinweisen: Diese Koalition war es, die bei derEinkommensbesteuerung endlich wieder den Grundsatzin Kraft gesetzt hat, daß starke Schultern mehr zu tragenhaben als schwache.
Denn das, was in den vergangenen 16 Jahren Praxis war,war die Durchlöcherung dieses guten alten Prinzips imtatsächlichen Leben dadurch, daß es eine ganze Reihevon Schlupflöchern gab, die es bestverdienenden Bür-gern erlaubte, sich vor dem Finanzamt armzurechnen.
Dies haben wir beseitigt.
Wir haben zugleich dafür gesorgt, daß bei der laufen-den Besteuerung des Einkommens nicht nur, wie Sie,Herr Kollege Hauser, es auch jetzt mit dem CSU-Vorschlag tun, über die Spitzensteuersätze geredet wird.
Dabei vernachlässigen Sie, Herr Kollege Hauser, daßunter Ihrer Regierung die höchste Spitzenbelastung beiArbeitnehmern mit einem Einkommen in der Nähe derBeitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung – al-so bei einem Durchschnittseinkommen – lag, weil beiIhnen von jeden zusätzlich verdienten 100 DM mehr alsdie Hälfte an Abgaben und Steuern abgezogen wurden.Das, was wir mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999,2000 und 2002 erreicht haben, möchte ich an ein paarBeispielen, die der Kollege Fritz Schösser kürzlich inseiner Anfrage an die Bundesregierung aufgelistet hat,illustrieren. In der Antwort der Bundesregierung heißtes: Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von55 000 DM brutto – fast zwei Drittel aller Arbeitnehmerbeziehen Einkommen bis zu dieser Höhe – beträgt dieEntlastung in der Endstufe der Steuerreform – also imJahr 2002 – gegenüber 1998 für eine Familie mit zweiKindern rund 2 800 DM.
Dies entspricht einer Ermäßigung von 56 Prozent imVergleich zur Steuerschuld von 1998.Alleinstehende ohne Kinder werden im Jahre 2002bei gleichem Einkommen um rund 13 Prozent wenigerbelastet. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ge-ringerem Einkommen werden prozentual noch deutlichhöher entlastet. Ich möchte bekräftigen, daß dies eingroßer Erfolg ist, den wir nicht verstecken müssen.
Die Entlastung war überfällig. Wir haben sie gegen hef-tigsten Widerstand auch von Ihrer Seite durchgesetzt.
– Manches muß man denen zweimal in der Woche sa-gen; denn ihre Fraktionskollegen im Finanzausschußhaben beispielsweise sehr schnell vergessen, daß sieselbst vor zwei Jahren die Schließung von Steuer-schlupflöchern gefordert haben. Heute erleben wir, daßSie bei fast jeder konkreten Gesetzesregelung sagen:Dies ist kein Steuerschlupfloch! Es muß bestehenblei-ben!
Ich komme zum Schluß. Die SPD-Fraktion ist stolzdarauf, daß sie dem Gedanken der Steuergerechtigkeitin der Praxis wieder zum Durchbruch verholfen hat.
Wir nehmen nach wie vor das Prinzip ernst, daß dasVermögen ein Maßstab für wirtschaftliche Leistungsfä-higkeit ist. Ich möchte hinzufügen: Natürlich versteht essich von selbst, daß Freibetragsgrenzen zeitnah festge-legt werden müssen und daß sich in ihnen auch die Le-benswirklichkeit widerspiegeln muß, insbesondere inden Regelungen, die das selbstgenutzte Wohneigentumbetreffen. Daß das Prinzip, Vermögen als Maßstab fürwirtschaftliche Leistungsfähigkeit heranzuziehen, beider Besteuerung nicht einfach vergessen worden ist, istvoll gerechtfertigt.Ich danke Ihnen.
Ich er-
teile nun dem Kollegen Gregor Gysi das Wort für eine
Kurzintervention. Ich weise darauf hin, daß dies auf
Grund der fortgeschrittenen Zeit die letzte Kurzinter-
vention ist, die ich heute abend zulasse.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Der KollegeSpiller hat behauptet, unser Antrag sei ein Schaufenster-antrag. Bevor ein Antrag eingebracht werde, müßten dieVerfassungsgrundsätze sehr genau geprüft werden. Ichdarf darauf hinweisen, daß wir die Bundesregierung inunserem Antrag lediglich aufgefordert haben, einen Ge-setzentwurf vorzulegen. Ich nehme an, der KollegeSpiller traut der Bundesregierung zu, die verfassungs-rechtliche Frage zu klären, bevor sie einen Gesetzent-Jörg-Otto Spiller
Metadaten/Kopzeile:
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wurf vorlegt. Insofern spräche die gesamte Begründung,die Sie abgegeben haben, dafür, daß Sie zustimmen.Wenn Sie dennoch nein sagen, dann müssen Sie ir-gendwann einmal klar bekennen, ob Sie nun dafür oderdagegen sind. Wenn Sie in Wirklichkeit dagegen sind,dann waren die Gefechte, die Sie im vorigen Jahr ge-gen die anderen Parteien geführt haben, Polemik. WennSie dafür sind, dann müssen Sie heute auch dafür stim-men.
Herr
Spiller, bitte schön.
Herr Kollege Gysi, Sie
überschätzen die Bedeutung Ihres Antrages.
Das, was Sie in diesen Antrag hineingeschrieben ha-
ben, war die schlichte Aufforderung, daß innerhalb we-
niger Monate ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt werden
soll. Sie wissen ganz genau, daß die entscheidende Frage
die einer ordentlichen Bewertung der Verfassungs-
mäßigkeit ist und daß eine Prüfung dieser Frage nicht so
nebenbei zu machen ist. Deshalb darf ich, weil Sie da-
nach gefragt haben, noch einmal bekräftigen. Wir wer-
den dabei bleiben, Ihrem Antrag nicht zuzustimmen.
Wir lehnen ihn ab.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter HerrPräsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Indiesen Wochen erleben wir Steuerchaos, keine Steuerge-rechtigkeit, Herr Spiller, und wir erleben vor allem inder Wirtschafts- und Finanzpolitik durch die Regie-rungskoalition einen einmaligen Zickzackkurs.
Fast jeden Tag gibt es neue Steuererhöhungsvor-schläge. Inzwischen gibt es für die deutschen Steuer-zahler einen Horrorkatalog mit immer neuen Folter-werkzeugen.
Herr Spiller, Sie reden hier von Schaufensteranträgen,führen einen Eiertanz vor und fressen geradezu Kreide.Ich frage Sie: Kennen Sie die Vorschläge der Kollegenaus Ihrer Fraktion? Wissen Sie eigentlich, was sie allesankündigen? – Ich sage es Ihnen: Wiedererhebung derVermögensteuer, Erhebung einer Vermögensabgabe,Erhöhung der Erbschaftsteuer durch Verschärfung derBewertungsmethoden.
Halbierung des Sparerfreibetrags und Aufhebung desBankgeheimnisses, Abschaffung des Ehegattensplit-tings, Erhöhung der Ökosteuer,
Ertragsbesteuerung von Kapitallebensversicherungen,Verschärfungen der Afa-Tabellen und der Abgabenord-nung, Belastungsprobe der Wirtschaft durch Scheinge-winnbesteuerung mit den berüchtigten Gegenfinanzie-rungen, Einschränkung der Verlustverrechnung, Ab-schaffung der Ansparabschreibung für den Mittelstand,Abschaffung des halben durchschnittlichen Steuersatzesbei Betriebsveräußerungen, unbegrenzte Rückwirkungdes Wertaufholungsgebotes, Abschaffung des Schuld-zinsenabzuges und so weiter und so weiter.
Meine Damen und Herren, das ist Steuermartyriumnach linker Ideologie zu Lasten der Verbraucher und derWirtschaft, was Sie hier betreiben!
Verunsicherung, Verschlechterung der Steuermoralund Investitionsattentismus sind die Folgen. Nichts istfür unsere Arbeitsplätze so schädlich wie diese rotgrüneSteuerideologie, für Bürger, Betriebe und Arbeitsloseein Schaden ohne Ende, meine Damen und Herren. EineBelastungsprobe der Wirtschaft, nicht Wiedereinführungdes Prinzips starker Schultern, sondern Belastungsprobeder Arbeitsplätze – das ist die Wirklichkeit in der Steuer-politik dieses Landes.
Meine Damen und Herren, mir scheint, es geht Ihnenüberhaupt nicht um die Senkung der Arbeitslosigkeit,sondern um eine ideologische Korrektur der Verteilung.Die Konsequenzen sind Wachstumseinbruch, steigendestrukturelle Arbeitslosigkeit, über 500 000 weniger Er-werbstätige innerhalb eines Jahres und zunehmendeHaushaltslücken.Das ist die falsche Auffassung von sozialer Gerech-tigkeit. Sozial ist vor allem, was Arbeitsplätze schafft.Nur ein Mitbürger, der Arbeit hat und etwas erwirt-schaftet, kann dauerhaft Solidarität mit den wirklich Be-dürftigen üben. Deshalb wäre eine Wiedereinführungder Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögens-abgabe oder die Erhöhung der Erbschaftsteuer ein ab-soluter Irrweg für Deutschland.
Es wäre ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm durchweniger Direktinvestitionen, eine leistungsminderndeDoppelbelastung des schon einmal versteuerten Ein-kommens, eine Substanzbesteuerung auch in ertrags-schwachen Jahren, ein neuer Weg zu mehr Steuerbüro-kratie und auch ein neuer Anschlag auf die Steuermoral,Dr. Gregor Gysi
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weil die Vermögensteuerbelastung 1996 ja schon einmalauf die Erbschaftsteuer aufgeschlagen wurde. Es wäreletzten Endes ein völlig falsches Signal, das nicht mehrsoziale Gerechtigkeit schafft, sondern nur Belastungenfür Investitionen und Beschäftigung.Rotgrün ist in der Finanz- und Steuerpolitik auf ei-nem grundsätzlich falschen Kurs: Orientierungslosig-keit, Widersprüchlichkeit und Inkompetenz.
Dazu kommt Ihre innere Zerrissenheit in der Steuerpoli-tik. Eine Schlagzeile in der „FAZ“ von heute: „Grünelehnen Eichels Unternehmensteuerpläne ab“. Was mutenSie uns überhaupt noch zu? Sie versuchen, jede neueSteuerart einzuführen. Kaum haben Sie ein Konzept an-gekündigt, nehmen Sie das alles am nächsten Tag zu-rück. Ich kann Ihnen nur sagen: Damit nehmen Sie Ver-unsicherung und Arbeitsplatzverlust in Kauf.Wir brauchen eine breite und echte Entlastung –wohlgemerkt – aller Steuerzahler; wohlgemerkt: allerSteuerzahler.
Wir brauchen keine verfassungswidrige Vermögensbe-steuerung, keine verfassungswidrige Spreizung zwi-schen Einkommen- und Körperschaftsteuersatz, keineTeilung zwischen „guten Unternehmern“ und „bösenUnternehmern“. Das ist die schädliche Fortsetzung IhrerSteuerideologie. Wir brauchen eine substantielle Sen-kung der Steuersätze mit einem Niedrigsatzsteuertarifund einer wirklichen Nettoentlastung von über30 Milliarden DM.
Das wird einen deutlichen Wachstums- und Beschäf-tigungsschub auslösen. Die Umverteilungspolitik unddie Buchhaltermethode von Herrn Eichel bieten in die-sem Sinne keine Zukunftsperspektive für unser Landund auch überhaupt keine Zukunftsperspektive für dieArbeitslosen in diesem Land.Die SPD ist anscheinend bereit, ihre Politik danachauszurichten, ihre an die PDS verlorenen Wähler zu-rückzugewinnen. Herr Spiller hat um diese ganze Sachegewissermaßen einen Eiertanz veranstaltet. Ich bin si-cher, er will die Vermögensabgabe, die Wiedererhebungder Vermögensteuer oder die Erhöhung der Erbschaft-steuer nicht mit dem Sparpaket verbinden. Diese Steuer-erhöhungen werden die Bürger im Jahr 2000 präsentiertbekommen. Ich kann deutlich sagen: Man ist bereit, bisan die Grenzen der Verfassung und darüber hinaus zugehen.In steuerlichen Fragen scheint die SPD-Fraktion denSchutz des Bürgers vor dem Zugriff des Staates, den dieVerfassung garantiert, nicht sehr ernst zu nehmen. DieErhebung einer einmaligen Vermögensabgabe ist nachMeinung vieler Experten verfassungsfraglich. Nahezukeine der Voraussetzungen für eine solche Abgabe ge-nügt den verfassungsrechtlich strengen Anforderungen.Weder liegt eine existenzbedrohende finanzielle Notlagevor, noch soll das Aufkommen gruppenspezifisch ver-wendet werden.Da die Vermögensabgabe von ihrer Ausgestaltungher zudem wie eine Vermögensteuer konzipiert werdensoll, wird der Eindruck erweckt, daß sich die Bundesre-gierung die Gesetzgebungskompetenz erschleicht; dennbei der Wiedererhebung der Vermögensteuer wäre dieZustimmung des Bundesrates erforderlich. Um das zuumgehen, setzen Sie auf eine Vermögensabgabe. AufGrund des letzten Wahldebakels haben Sie im Bundesratkeine Mehrheit. Deswegen wollen Sie allein über dieErhebung einer Vermögensabgabe entscheiden, so wieSie jetzt das Sparpaket auseinandernehmen, um Dingedurchzusetzen, die letzten Endes nicht durchzusetzensind und die unseren Bürgern schaden.Die Bemühungen um die Erhöhung der Vermögens-besteuerung über die Erbschaftsteuer durch eine Ände-rung der Bewertungsmethoden ist ebenfalls ein General-angriff auf die notwendige Generationenbrücke. Andereeuropäische Länder haben zum Teil erbschaftsteuer-freundliche Regelungen eingeführt. Insbesondere in denUSA und in Japan überlegt man sich, die Erbschaftsteu-er völlig abzuschaffen. Großbritannien hat eine weitge-hende Regelung für die Generationenbrücke eingeführt.Bei uns will die Regierungskoalition jetzt eine Erb-schaftsteuererhöhung durch die Hintertür einführen. DieGrundstücksneubewertungskommission soll es geradezurichten. Das leistungsbezogene Ertragswertverfahrensoll durch das Sachwertverfahren ersetzt werden. DasPrinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeitwird durch die Abschaffung der Ertragswertmethode ge-radezu mit Füßen getreten. Durch das geplante Sach-wertverfahren soll das automationsgerechte sogenannteBerliner Verfahren eingeführt werden, das nur ein neuesAbkassiermodell bedeutet und das große Einfallstor fürneue Steuererhöhungen darstellt.
Wir, meine Damen und Herren, müssen den Bürgerndraußen sagen, was Sie in Wirklichkeit planen, nämlicheine Bewertungsgrundlage nach dem Sachwertverfah-ren, weg vom Ertragswert, weg von der Besteuerungnach der Leistungsfähigkeit, hin zu einer Bewertung füreine Erhöhung der Grundsteuer, der Grunderwerbsteuer,der Erbschaftsteuer, der Vermögensbesteuerung insge-samt. Dies steht bei uns ins Haus, und davor müssen wirkräftig warnen, weil das zu Lasten der Arbeitsplätze inDeutschland geht!
Meine Damen und Herren, das Vorgehen der Regie-rungskoalition ist entlarvend. Man macht es leise undheimlich in einer Kommission, hinter verschlossenenTüren. Es soll Kasse gemacht werden, und man will aufder anderen Seite der Emotionalisierung von Wähler-schichten dienen. Zur Befriedigung der Neidgefühle –das ist das besonders Verwerfliche daran – werden vonIhnen, von der SPD, Arbeitsplatzverluste in Kauf ge-nommen.
Hans Michelbach
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Die Neiddiskussion, nur um nach den Wahlverlustenwieder auf neuen Stimmenfang zu gehen, schadet demGemeinwohl in Deutschland. Ihre Partei hat schon ein-mal durch eine Blockade bei der Steuerpolitik dem Ge-meinwohl in Deutschland geschadet. Das gleiche ma-chen Sie jetzt wieder. Gegen die ökonomische Vernunftwollen Sie eine stärkere Vermögensbesteuerung, einestärkere Belastung der Arbeitsplätze in Deutschland ein-führen. Eine solche Politik müssen wir ablehnen, meineDamen und Herren. Ich darf Ihnen sagen: Neid ist undbleibt der Ausdruck von politischer Unfähigkeit. Das istdie Situation, die Sie zu verantworten haben!
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, vor der namentlichen Ab-
stimmung liegen mir noch zwei Wortmeldungen vor. Ich
bitte, den Rednern wenigstens soweit zu folgen, daß die-
se ihr eigenes Wort verstehen können.
Der Kollege Müller vom Bündnis 90/Die Grünen ist
der nächste Redner. Bitte schön.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Michelbach, Sie und Gemeinwohl – ich
glaube, das verträgt sich schlecht.
Aber ich will der Aufzählung am Anfang Ihrer Rede
noch einiges hinzufügen. Denn Sie haben einige Steu-
ern, die wir planen, vergessen. Ich erwähne die Steuer
auf Weißwurst. Ich erwähne die Steuer auf Bier. Ich er-
wähne die Steuer auf süßen Senf. Und wir nehmen auch
noch eine Steuer auf Lederhosen und Dirndl. Davon
können wir Ihnen einiges sagen.
Mir fällt sicherlich noch mehr für Sie ein. Ich würde
gerne auch eine Steuer auf LWS und Herrn Sauter erhe-
ben,
eine Steuer auf dumme, unsoziale Vorschläge wie den
Ihres Fraktionskollegen Protzner, einen Monat Arbeits-
losengeld zu streichen. Ich erinnere an den Vorschlag
aus Ihren Reihen, 20 DM für jeden Krankenhausbesuch
zu erheben. Ich erinnere an die Empfehlung, doch Koali-
tionen mit einem Rassisten von der österreichischen
FPÖ zu bilden. Auch darauf können wir eine Steuer er-
heben. Und ich erinnere an Ihren Vorschlag, doch bitte
schön eine Steuerreform durchzuführen, und zwar mit
50 Milliarden DM – nein, was sage ich? –, mit 60, 70,
80 Milliarden DM Nettoentlastung. Auch darauf können
wir eine Steuer erheben.
Wenn wir nun zu einer etwas ernsthafteren Debatte
kommen, dann können wir uns darüber unterhalten, daß
es sich die PDS mit ihrem Antrag etwas einfach macht.
Denn, liebe Kollegin Höll, Sie haben sich nicht die Mü-
he gemacht, über die Instrumente zu reden. Sie haben
sich hingestellt und gesagt: Liebe Bundesregierung, ma-
che einmal! – Ich muß leider sagen, daß es für das par-
lamentarische Verfahren etwas einfach ist, wenn Sie
nicht zwischen einer privaten und einer betrieblichen
Vermögensteuer unterscheiden, wenn Sie sich nicht die
Mühe machen zu entscheiden, ob wir tatsächlich in die
Substanzbesteuerung hineingehen, und zu fragen, ob
dies sinnvoll oder ob dies nicht sinnvoll ist.
Ich glaube, daß Sie es sich ein wenig einfach machen,
indem Sie nicht unterscheiden, ob eine Vermögensab-
gabe verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist. Ein-
fach nur zu sagen, wir geben das Problem der Instru-
mentendebatte an die Bundesregierung ab, kann nicht
richtig sein, das ist etwas dürftig.
Herr
Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Gerne.
Herr Kollege Müller,könnten Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, daß wir vonIhnen wissen möchten, ob Sie sich auf eine Diskussionüber die Vermögensbesteuerung einlassen? Wir könnendann, wenn wir das eindeutige Votum dafür haben, wel-ches in den letzten Wochen durch verschiedenste Äuße-rungen aus den beiden Regierungsfraktionen argbestritten wurde, sehr gern in die konkrete Diskussioneinsteigen.Könnte es sein, daß Sie selbst nicht ganz logisch ar-gumentieren, wenn Sie meinen, jetzt noch einmal dieVerfassungsmäßigkeit überprüfen zu müssen? Ich darfSie doch daran erinnern, daß in der vergangenen Legis-laturperiode sowohl die SPD als auch die Grünen einenGesetzentwurf zur Neuregelung der Vermögensbesteue-rung vorlegten. Da dies nach dem Urteil des Bundesver-fassungsgerichts geschah, nehme ich an, daß Sie bereitsdamals die Verfassungsmäßigkeit überprüft haben.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sehr geehrte Kollegin Höll, ich sehe ein,daß meine Stimme etwas angeschlagen ist; vielleichtwar ich auch nicht deutlich genug. Die Vermögensteuerist verfassungsgemäß, keine Frage. Die Frage ist, ob siepolitisch und ökonomisch sinnvoll ist. Darüber streitenwir. Die von Ihnen präferierte Form hin zu einer priva-ten Vermögensteuer ist nicht sinnvoll, so die Aus-schußberatungen. Bei der Vermögensabgabe habe ichdarauf hingewiesen, daß ich hier erhebliche verfassungs-rechtliche Zweifel habe, ob diese möglich, sinnvoll undrechtlich zulässig ist.Hans Michelbach
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Ich möchte aber auch etwas zu den Alternativen sa-gen. Der Kollege Spiller hat zu Recht darauf hingewie-sen, daß wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigthaben, zu einer Besteuerung nach dem Prinzip der Lei-stungsfähigkeit zurückzukehren. Unsere Einkommen-steuerreform ist nicht im Sande verlaufen wie die deralten Koalition, die sozial ungerecht und unverant-wortlich war und eine höhere Mehrwertsteuer bedeu-tet hätte. Wir haben unsere Einkommensteuerreformrealisiert, die untere Einkommen und Familien entlastetund Steuerschlupflöcher schließt. Das ist die richtigePolitik.
Ich möchte aber auch an den Koalitionsvertrag an-knüpfen, in dem wir uns auf eine sinnvolle Vermögens-besteuerung geeinigt haben. Ich finde sehr wohl, daß wirim kommenden Jahr eine Debatte darüber führen müs-sen, was dafür die sinnvollen Instrumente sind. Ichmöchte an dieser Stelle nur zwei nennen. Das eine ist dieFrage der Kapitalertragsbesteuerung, zu der der Kol-lege Merz von der CDU vor ungefähr vier Wochen ei-nen sehr viel konstruktiveren Redebeitrag gehalten hatals der Kollege Hauser vor fünf Minuten. Auch derKollege Merz hat darauf hingewiesen, daß ein Problembei der Besteuerung von Arbeitseinkünften und Kapital-einkünften besteht und wir im Hohen Hause bei SPD,Grünen und mindestens der CDU Handlungsbedarf se-hen.Das zweite ist ein Instrument, zu dem Bündnis 90/DieGrünen bereits in der letzten Legislaturperiode einenGesetzentwurf vorgelegt haben: Ich meine das Stif-tungsgesetz. Ich glaube, es ist sehr klug, darüber nach-zudenken, welche Anreize wir geben könnten, um pri-vates Vermögen in gemeinnützige Zwecke fließen zulassen, und wie wir sowohl zivilrechtlich als auch steu-errechtlich vorgehen könnten, um Vermögen für ökolo-gische, kulturelle und wissenschaftliche Zwecke zu mo-bilisieren.Die jetzige Koalition wird im Gegensatz zur altenKoalition, die sich das zwar vorgenommen, aber in denletzten vier Jahren nicht gebacken bekommen hat, indieser Legislaturperiode das Stiftungsgesetz reformierenund damit viel mehr für die Gemeinnützigkeit und dasGemeinwohl in Deutschland tun, als Sie das in denletzten vier Jahren getan haben.Vielen Dank.
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die
Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P., das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte noch um
Aufmerksamkeit für diese vier Minuten.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Es wird Sie nicht verwundern, daß ich imNamen der F.D.P.-Fraktion beide Anträge der PDS ab-lehne, und zwar eindeutig.
Ich nehme an, daß meine Begründung mit dem Verhal-ten meiner Fraktion in Einklang zu bringen ist, HerrSpiller. Denn wo Kollege Gysi recht hat, hat er recht.Sie haben mit all dem, was Sie in Ihrer Redezeit vonzwölfeinhalb Minuten gesagt haben, ein glühendes Plä-doyer für die Vermögensteuer gehalten. Am Ende habenSie dann zur großen Überraschung gesagt: Wir stimmendem Antrag der PDS nicht zu. – Ein solches Verhaltenpaßt schlicht und einfach nicht.
Alles das, was wir von Ihnen gehört haben, paßt auchnicht zu Ihrer Politik. Ich habe leider keine so lange Re-dezeit wie Herr Michelbach. Deshalb kann ich nicht aufall das Widersinnige eingehen, was aus Ihrer Fraktion zuhören ist. Aber nach all dem, was Sie gesagt haben,müßten Sie heute eigentlich den Anträgen der PDS mitwehenden Fahnen zustimmen. Denn es ist ja alles klar.Herr Müller, zu Ihnen ist zu sagen: Der erste Teil Ih-rer Rede war sehr satirisch aufgezogen. Vielleicht ist Ih-nen ja aufgefallen, daß das außer Ihnen keiner hier lustigfand. Denn Ihre Phantasie, was alles zu Besteuerungsge-genständen gemacht werden kann, ist leider eher er-schreckend.
Wenn man die Finanz- und Steuerpolitik der Koalitionbeobachtet, dann ist Ihre Phantasie von der Realität garnicht soweit entfernt. Deshalb bleibt einem das Lachentatsächlich im Halse stecken.
Zur Luxussteuer brauche ich nicht viel zu sagen.Das meiste ist schon gesagt worden. Hier gibt es in aller-erster Linie Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Einfüh-rung einer neuen Steuer lehnen wir im übrigen ab.Zur Vermögensteuer: Herr Spiller, was bei Ihnen vorallem gefehlt hat, war ein Hinweis auf den Halbtei-lungsgrundsatz.
Sie haben nur etwas zur Bewertung gesagt. Der Halb-teilungsgrundsatz besagt aber: Die Besteuerung darf inder Summe nur in die Nähe einer hälftigen Teilung zwi-schen öffentlicher und privater Hand kommen. Den ha-ben Sie völlig unter den Tisch fallen lassen. In derNichtbeachtung dieses Grundsatzes liegt aber das haupt-sächliche verfassungsrechtliche Problem. Dies werdenSie auch mit einer realitätsnäheren Bewertung der Im-mobilien, so wie Sie sie planen, nicht erreichen.Dies haben wir im übrigen in der Vergangenheit nichthinbekommen. Dies war mit ein Grund für die Abschaf-fung der Vermögensteuer. Das war doch kein böserWille, sondern zeigt, wie schwer es ist, Immobilien zeit-Klaus Wolfgang Müller
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nah immer wieder richtig zu bewerten. Schon allein des-halb müssen wir von der Vermögensteuer wegkommen.
Nun zur Begründung der PDS zur Einführung einerVermögensteuer: Da Sie gebetsmühlenartig wiederholen– diese Forderung ist auch im Leitantrag für den SPD-Bundesparteitag enthalten –, daß auch große Vermögenendlich einmal zur Finanzierung des Gemeinwohls her-angezogen werden sollten, muß ich feststellen, daß diesdoch geschieht. Es wird immer wieder vergessen, daßErträge aus Vermögen – seien es Kapitalerträge oderMiet- bzw. Pachterlöse – der Einkommensteuer unter-liegen, und zwar nach einem progressiven Tarif, wonachdie starken Schultern wahrhaftig wesentlich mehr tragenmüssen als die schwachen. Tun Sie doch bitte nicht im-mer so, als ob es bei uns eine Belastung stärkererSchultern nicht gäbe!
Bei uns werden die Erträge aus Vermögen sehr wohleiner Besteuerung unterzogen. So wie Sie argumentie-ren, hört sich das immer so an, als ob Vermögen imHinblick auf die Besteuerung überhaupt keine Rollespielten. Das stimmt nicht.Das Bundesverfassungsgericht hat im übrigen daraufhingewiesen, daß die Vermögensbesteuerung als Sub-stanzbesteuerung nicht wirklich in die Substanz desVermögens eingreifen darf. Auch dazu kam von Ihnenkein Wort. Nur aus den sogenannten Sollerträgen darfdie Vermögensteuer erhoben werden. Das ist nicht nurbei den Sollerträgen so, sondern auch bei den tatsächli-chen Erträgen aus der Einkommensteuer.Insofern haben wir im derzeit geltenden Steuerrechtjede Möglichkeit, auch die Vermögenden zu einer ge-rechten progressiven Besteuerung heranzuziehen. Des-halb lehnen wir beide vorliegenden Anträge ab.Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zur Besteuerung von Luxusgegenständen, Drucksa-
che 14/1613. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/27 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim-
men der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS-
Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zur Wiedererhebung der Vermögensteuer, Drucksa-
che 14/1614. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/11 abzulehnen. Ich weise noch einmal
ausdrücklich darauf hin: Wir stimmen über die Be-
schlußempfehlung des Finanzausschusses, diesen Antrag
abzulehnen, ab. Wer also der Beschlußempfehlung zu-
stimmen will, muß mit Ja stimmen.
Die Fraktion der PDS hat namentliche Abstimmung
beantragt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle
Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge-
geben? – Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekanntgegeben.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Verarbeitung
und Nutzung der zur Durchführung der Ver-
ordnung Nr. 820/97 des Rates erhobenen
Daten und zur Änderung des Rindfleischeti-
– Drucksache 14/1856 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
– Das ist eine freudige Nachricht. – Insofern darf ich Ih-
nen mitteilen, daß die Redner aller Fraktionen ihre Re-
den zu Protokoll geben.*)
Ich schließe damit die Aussprache. Eine Liste der
Redner gebe ich ebenfalls zu Protokoll.
Interfraktionell ist eine Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 14/1856 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vereinbart. Gibt es an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ih-
nen morgen bekanntgegeben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 29. Oktober 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.